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German Pages 644 Year 2001
Ansgar M. Cordie Raum und Zeit des Vaganten
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
19 (253)
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001
Raum und Zeit des Vaganten Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts
von
Ansgar M. Cordie
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York
2001
Die Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Gedruckt mit Unterstützung der Universität Bonn.
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Cordie, Ansgar M.: Raum und Zeit des Vaganten : Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts / von Ansgar M. Cordie. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 19 = (253)) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-11-017011-6
ISSN 0946-9419 © Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Hubert & Co., Göttingen Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Dieses Buch gehört Sylvia und Lydia.
Inhalt
Raum und Zeit des Vaganten? Erkundigungen über das Untersuchungsgebiet Literatur der Frühen Neuzeit: Entdeckung einer terra incognita 1 - Frage nach dem Schelmen und dem Schelmenroman 4 - Fiktive Nachfrage beim Schelmen persönlich 9 Schelmenroman als Aneignung der Welt 14 - Weg des Schelmen und Orte der Handlung 18 - Raum im Schelmenroman: Chorographie und Geographie 20 - Zeit im Schelmenroman: Chronologie, Timing, Projektion 26 Historische Einstiege: dichte Beschreibung sozialer Räume 28 - Anekdote und epochaler Trend 31
Enteignung des Schelmen: Zentralistische Perspektive und stillgestellte Zeit in Albertinus' Landtstörtzer Gusman Die Vaganten kommen und stiften Unordnung: Politisches Projekt und poetische Vorausprojektion
37
Historischer Einstieg: spanische Truppen in Bayern 37 - Perspektivenwechsel: Gemälde spanischer Truppen 39 - Gotteshaus und Taverne: Sinnstiftung und -Unterwanderung 41 - Kriegsunternehmer und Mangel Wirtschaft 43 Gusman kommt nach Bayern: vorweggenommene Realität 45 - Historische Rekonstruktion vom Extrem her 47 - Historischer Ort des Autors 50
Im barocken Handlungsraum: Gusmans Weg durch den kompilatorischen Baukomplex des Textes Text und Vorlagen: Buch als Triptychon 55 - Blick hinter die Fassaden der Residenz 59 - Alemánkomplex bei Albertinus 62 - Vier Fassungen der Contento-Geschichte 69 Marti-Komplex bei Albertinus 76 - Kaysersberg-Komplex bei Albertinus 80 - Dialektik des Pilgerideals 88
55
Vili
Inhalt
Von den Höhen zentralistischer Ideallandschaft in die Niederungen pikaresker Empirie: Gusmans Weg durch das deutsche Sprachgebiet
94
Raum bei Montaigne, Botero und Albertinus 94 - Gusman im Kloster: Szenario als Rekonstruktion 98 - Gusman im Tiroler Bergwerk: Lob des Eigennutzen 102 - Gusman bei den Komödianten: burleskes theatrum mundi 106 - Deutschland als Landschaftstableau 113 - Bayern als konstruierte Ideallandschaft 117 - Umgestaltung des Lebensraums zur Sakrallandschaft 122 - Ertrag der Reise und Erträge der Analyse 125
Vor die Kirche, ins Wirtshaus und aus dem Haus: Gusmans Weg und die Konkurrenz der Chronotopoi
128
Kirchenportal als Gelegenheit für den Schelmen 128 - Gelegenheit als machiavellistische Verhaltensform 130 - Raumgestus der Fassade 133 Wirtshaus als Lernfeld des Schelmen 139 - Multiperspektivisches Erzählen bei Alemán 141 - Verengte Perspektive bei Albertinus 145 - Wirtshaus als historisches Konfliktfeld 148 Haushalt als politisches und poetisches Modell 154 - Haushälterische Handlungsform bei Alberti und Albertinus 158 - Staatshaushalt und pikareske Problematik 162 - Unterm Strich: Haushaltssperre und verpaßte Gelegenheit 165
Die Ordnung steht und fällt mit den Schelmen: Geometrie der Gewalt und Poetik des Vorkriegs
172
Ausgrenzung und Selbstbehauptung des Schelmen 172 - Instrumentelle Allegorie als Poetik des Vorkriegs 174
Sturm im Stundenglas: Unruhe und Hemmung in Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks Schiffe verschwinden und ein Buch erscheint: Ökonomische Lebenspraxis und allegorische Zeichenpraxis
177
Risiko und Versicherung in Johann Schuttes Briefen 177 - Rhetorik der Verstellung bei Schulte 180 - Glückstadt: historischer Ort des Fortuna-Emblems 183 - Schiffahrtsallegorie: Semantik der tradierten Bedeutungen 192 - Seesturm bei Gryphius: Semantik der Darstellung 198 - Schiff als Artefakt: Semantik des Dargestellten 201
Im Dickicht der Städte: Tychander macht seine ersten Schritte zur Unzeit und verliert den festen Boden unter den Füßen Literatur und Ökonomie: Unzeitigkeit und Unmäßigkeit 208 - Exemplarische Fälle: Dialektik des Exemplarischen 211 - Tychander und Dolosette: Tausch als Kampf um Macht 214 - Tychanders Bankrott: Schätzung eines Menschen in Geld 220 - Filander: Handel zwischen Konkurrenz und Kooperation 223
208
Inhalt
Die erzählte Landstraße und die Perspektive des Schelmen: Tychander lernt, die Zeichen der Zeit zu deuten und die Gunst der Stunde zu nutzen
IX
228
Perspektivenwechsel als Zugang zur Realität 228 - Asiatische Banise: begrenzte Hindernisse, Motivation von hinten 230 - Lazarillo: Zeit als Medium der Erfahrung 234 Pikareske als subversiver und komplementärer Diskurs 239 - Schelmenzunft als Spiegel der Gesamtgesellschaft 242
Die Mechanik des Geschehens im Inneren des Gehäuses: Eine Vorgeschichte wird verspätet nachgeholt und ein Uhrwerk ist zum richtigen Zeitpunkt zur Hand
245
Literatur als Kritik der instrumentellen Vernunft 245- Androfila, Lukrander, Simo: allegorische Muster 250 - Räderuhr und Lebensblüte 259 Exkurs: Kronos als mythologisches Modell der saturnischen Zeit 261 Unruhe und Hemmung: Eigenzeit und Kontrolle 270 - Pikaresker Realismus und Ideal der Beständigkeit 273 - Vergiltravestie: Fatum und further voices 276 - Saturn als Nachtseite der Fortuna 280
Vor den Kulissen von Schauergeschichte und Schäferroman: Tychander profitiert vom locus terribilis und ruiniert sich am locus amoenus
284
Locus terribilis: Naturbeherrschung und innerweltliche Askese 284 - Dämonie des Geldes 290 Grenzen des locus amoenus 293 - Arkadien als Konfliktfeld literarischer Travestien 296 - Idyll und Außenwelt: Ungleichzeitigkeit 298 - Geburt der Pikareske aus dem Geiste der Travestie 301
Die Projektion des Idealromans und die Projekte des Unternehmers: Tychander versucht sein Glück in Übersee und erlebt einen aufhaltsamen Aufstieg
304
Reisebericht und Roman: Erwartung und Erfahrung 304 - Schiffbruch: Zeichenpraxis und Oberlebenspraxis 308 - Semantik der Eroberung: fiktives Afrika 312 - Abessinienlegende und Staatsroman 316 - Zesen und Dürer: Beständigkeit und Verschlossenheit 322 - Der Schelm als König: Realitätsverlust als Selbstverlust 328 - Burlesker Schiffbruch: Parodie des Idealromans 332 - Verdrängte Realität hinter den Versionen 334
Ein Unternehmen erreicht den Hafen und ein Buch verschwindet aus den Bücherschränken: Muße der Lektüre und Unruhe des Lebens Rückschau auf den Reiseweg 337 - Schiffbruch mit Zuschauer: Fiktion des ruhigen Hafens 341
337
χ
Inhalt
Umstrittene Grenze: Fortschritt und Beharrung in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch Im Grenzgebiet: Der historische Ort des Autors und der Zeit-Raum des Romans
344
Grimmelshausen zwischen allen Fronten 344 - Lebensweg und Zeitgeschichte 349 Grenzen der Erzählung und Konturen der Romanform 354 - Eingrenzung der Untersuchungsgebiete 358
Weltrand und Horizont: Simplicius und die Rückfrage nach der Ursprungswelt
361
Romananfang: rekonstruierter Ursprung 361 - Limes der Erkenntnis: bornierter Horizont 364 - Wissenshorizont als Zeichengrenze 368 - Außenperspektive: Kultur als Naturbeherrschung 370 Voraussetzungen des Ursprungs: Geschichte und Erzählung 374 - Historischer Raum und Textlandschaft 377 - Besitzergreifung als Zerstörung des locus amoenus 380 Rückfrage als Revision der Geschichte 382
Offener Erwartungshorizont und geschlossener Erfahrungsraum: Simplicius, die Ruine Gelnhausen und die Festung Hanau
386
Menschenleere Landschaft als historischer Raum 386 - Ruine Gelnhausen: Allegorie, emblematisierendes Bewußtsein 388 - Festung Hanau: Landschaft als Sperrgebiet 393 - Hanauer Wachstube: grenzziehendes Denken 396 - Lazarus: Grenze als inneres Gesetz der Festung 400 - Groteske Landkarte: Auflösung der Substanz 404 - Festung Hanau: Geometrie als Verhaltensnorm 411 - Grenzposten von Hanau: innerer Widerspruch 414
Experimentelle Grenzüberschreitung und Grenzen der Utopie: Simplicius, die Expedition zum Mummelsee und die Gratwanderung zwischen den Welten
418
Simplicius als Wanderer zwischen den Welten 418 - Vorläufige Berichte über den Mummelsee 421 - Knan und Simplicius: Epoché und Experiment 425 - Grenzübertritt: Konstruktion des Möglichen 430 - Schöne Landschaft: Utopie der geretteten Substanz 432 - Orientierungsverlust: Sauerbrunnen als Probierstein 436 - Vertrautes Gelände: erfahrene Welt 439
Diesseits und jenseits der Grenze: Das Erzählen als Positionsbestimmung und Grenzüberschreitung Erzählen als Revision der Lebenszeit 443 - Gedächtnis als Schauplatz der Welt 445 Mooskopf: Betrachter als Teil der Welt 447 - Weltbezug und Selbstreflexion des Grenzgängers 450
443
Inhalt
XI
Heimliche Schelmerei: Verschlossene Räume und vertauschbare Lebenszeit in Beers Corylo Verbannung aus dem Gesichtskreis: Verheimlichte Romane und mythische Räume des Erzählens
453
Welt des Autors und Welt der Romane 454 - Bahr in Weißenfels: Anonymität des Autors 456 - Beer und Regensburg: Erzählen als Fluchtraum 458 - Beer und Oberösterreich: Exilierung aus dem Erzählten 462 Mythos: mythische Gegenwart, epische Vergangenheit 463 - Mythische Wir-Strukturen und pikareske Ich-Aussage 466 - Mythenerzählung: Durchbrechung mythischer Strukturen 469
Schloß und Stundenschlag: Das Ganze Haus und Corylos Platz darin
473
Graben zwischen Ich und Wir 473 - Ganzes Haus als sozialer Raum 475 - Uhr als Metapher der Gesellschaft 477 - Komplexe Handlung: Nische des Schelmen 482 - Syntax des Erzählens: Gleichzeitigkeit und Komplexität 485 - Corylo als verborgener Beobachter 487 - Heimlichkeit und Wissensvorsprung 490 - Vorgeschichte als ordnungsstiftender Mythos 491 - Gegenmythos: Dynamik des Handelns und Erzählens 494 Wiederholung und Variation: Unwägbarkeit des Handelns 497 - Mythos: Macht der Vergangenheit über die Gegenwart 499 - Mythos und Geschichte: umkehrbar 501 Uhr als mythischer Mechanismus: Macht der Wiederholung 504 - Verschwinden des Schelmen im Räderwerk der Vertauschbarkeit 506
Straße des Landfahrers und Seitenwege des Erzählens: Corylos Suche nach einem Platz in der eigenen Geschichte
509
Zeit des Helden und Zeit der Parallelerzählungen 509 - Sorels Histoire comique: Raum und Zeit des Subjekts 514 - Riemers Politischer Roman: Herrschaft über Raum und Zeit 519 - Pikareske Perspektive: reale Hindernisse, ungewisse Zukunft 520 - Pikaresker Kaufmannsroman: Kooperation und Konkurrenz 523 Periander: Spiegel für Corylos Bedeutungslosigkeit 526 - Peter: Verstellung und Verschwinden 530 - Schreiber/Rittmeister: Ordnung zeitweilig 531 Brutus: Mensch als Vehikel, Raum als Vakuum 533 - Diskurs: Disposition über Raum und Zeit 536 - Landkarte als Emblem der Vertauschbarkeit 538
Rückzug aus dem Blickfeld: Verschwinden des Schelmen und Erscheinen des Gegenüber Orte des Herkunftsmythos: Schloß, Wald, Straße, Papier 542 - Herkunftsversionen: Erzählen als Ausdruck der Ambivalenz 544 - Reuters Schelmuifsky: Darstellung des Weltverlusts 546 - Anerkenntnis des Fremden: Ethik der Vorläufigkeit 547 - Ästhetik der Zeitweiligkeit: Zeit des Kalenders 549 Mythos: Macht der Wiederholung und Dynamik der Variation 551 - Verschwinden des Erzählers, äußerliche Verknüpfung 552 - Versicherung des Ich im Gegenüber 554
542
XII
Inhalt
Raum und Zeit des Vaganten: Rückblick vom Schlußpunkt aus Columbus und der epochale Trend 556 - Albertinus: Vernichtung des Schelmen 560 Dürer: Verkleidung des Schelmen 564 - Grimmelshausen: Vervielfältigung des Schelmen 568 - Beer: Verschwinden des Schelmen 573
Literatur
578
Texte 578 - Bibliographische Zugänge 591 - Zum Schelmenroman 592 - Zu Albertinus 595 - Zu Dürer 597 - Zu Grimmelshausen 597 - Zu Beer 602 - Zur Frühen Neuzeit 604 - Zur Geschichte, Theorie und Ästhetik von Raum und Zeit 615 - Zur theoretischen Grundlegung der Arbeit 621
Personen- und Anonymenregister
625
Raum und Zeit des Vaganten? Erkundigungen über das Untersuchungsgebiet
segelt auf neuen Routen und stößt auf Neuland, auf eine 'Neue Welt'. Oder: GUTENBERG bringt mit seinen beweglichen Lettern die literarische Produktion in Bewegung und entfesselt die 'GurENBERG-Galaxis'. Mit diesen Entdeckungen endet, der allgemeinen Anschauung nach, das europäische Mittelalter. 'Frühe Neuzeit' wird genannt, was sich da anschickt, sich selbst und die Welt zu entdecken. Menschen der Frühen Neuzeit waren, so scheinen die epochalen Texte der CERVANTES, MONTAIGNE und SHAKESPEARE zu bestätigen, unablässig auf Reisen in ferne Länder und verbreiteten ihre Erfahrungen in einer wachsenden Zahl von Druckerzeugnissen. Offenbar verlangte die fortschreitende Aneignung der Welt nach neuen literarischen Ausdrucksformen, etwa dem Reisebericht und der Autobiographie, in denen ein welterfahrenes Ich einen selbstbewußten Blick auf den bereisten Raum und die eigene Lebenszeit wirft.1 Die Literatur der Frühen Neuzeit orientiert sich, glaubt man dem rasch entworfenen Epochenbild, an einer neuen Wirklichkeitserfahrung, in der wachsende soziale und räumliche Mobilität zu gesteigerter Unabhängigkeit der einzelnen Menschen führte. Gegen dieses Szenario mahnt ein Großteil der neueren Forschung zur Vorsicht. Nicht neue Welten und neue Erfahrungen hätten neue Ideen und eine neue Literatur erzwungen, im Gegenteil habe das theoretische Denken den Horizont für die Entdeckungen vorgegeben. Vor COLUMBUS hätten bereits die Amerikafahrer des Kopfes1 virtuelle Reisen unternommen, und die Genesis der kopernikanischen Welt sei kein Werk der Beobachter und Praktiker, sondern der Theoretiker gewesen, die Spielräume des Denkens im Prozeß der theoretischen Neugierde genutzt hätten. Bereits der mittelalterliche NominaCOLUMBUS
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2
Dieses Epochenbild entwirft etwa INGRID SCHŒWEK, "Das Ferment der Praxis, Volkssprachliche pragmatische Prosa": ROBERT WEIMANN (Hg.), Realismus in der Renaissance, Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa, Berlin / Weimar (Aufbau) 1977, 183-245. Zur Zitation in dieser Arbeit: Buchtitel und Zitate werden kursiv wiedergegeben. Auf eine Wiedergabe des Wechsels von Fraktur in Antiqua in alten Texten wird verzichtet; Ligaturen werden bis auf "&" aus technischen Gründen aufgelöst Vgl. MARTIN BURCKARDT, Metamorphosen von Raum und Zeit, Frankftirt (Campus) 1 9 9 4 , 158/159.
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Erkundigungen über das Untersuchungsgebiet
lismus habe Antizipationen einer künftigen Grenzüberschreitung ermöglicht.3 Literatur, so läßt sich verkürzend formulieren, sei nicht Produkt der Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit eine literarische Konstruktion. Die firühneuzeitliche Konstruktion der Wirklichkeit im Medium der Literatur ist nicht notwendig als Umbruch und Neuanfang dem Mittelalter gegenüber zu denken. Eine Fülle heutiger Forschungsbeiträge geht von einer bruchlosen Kontinuität zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit aus. Nicht einmal die Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt kann Anspruch auf eine epochemachende Bedeutung erheben, da sie nicht die Folge neuen Denkens, sondern traditioneller Vorstellungen gewesen sei. C O L U M B U S habe die neuentdeckten Länder nicht wirklich wahrgenommen, sondern den literarischen Wunschort des locus amoenus und die literarische Wunschzeit des Goldenen Zeitalters auf das unbekannte Terrain projiziert." Eine finalistische Interpretationsstrategie habe den Entdecker der Neuen Welt dazu gebracht, lediglich das wahrzunehmen, was er bereits zu wissen glaubte, denn konkrete Erfahrung habe in seinem Weltbild die Funktion, eine Wahrheit zu belegen, die man bereits besitztCOLUMBUS sei ausgezogen, um die bekannte Welt [...] zu entdekken, keine 'Neue Welt'. Wo keine Überraschungen zu erwarten seien, könne auch nichts Neues in den Blick kommen: Die erfolgreichste Reise wäre demnach in gewissem Sinne jene, auf der man so gut wie gar nichts lernt, auf der die meisten Zeichen bestätigen, was man ohnehin schon weiß. 6 Doch ließ sich die neue Erfahrung nicht auf die Bestätigung des Bekannten festlegen. Die didaktische Literatur der Frühen Neuzeit reagierte abwehrend auf die verunsichernden Fakten und hielt ihre Leser an, das zu ignorieren, dessen Neuartigkeit nicht mehr zu leugnen war. So befindet der Humanist J O H A N N E S C O C H L A E U S 1510, die neuentdeckte zona incognita trage zur Kenntnis der Kosmographie und Geschichte [...] nichts oder nur wenig bei und sei für die Geographen nicht von Interesse.1 Nicht der Entdeckung des 3
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7
Vgl. HANS BLUMENBERG, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von 'Die Legitimität der Neuzeit' dritter Teil, Frankfurt am Main (SuhrkampTb. Wissenschaft 24) 1973; ders., Die Genesis der kopernikanisehen Welt. 3 Bände. Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 352) 21989, hier vor allem Band 1, wo über die Eröffnung der Möglichkeit eines Kopernikus reflektiert wird. Vgl. FRAUKE GEWECKE, Wie die neue Welt in die alte kam, München/Stuttgart (Deutscher Taschenbuch Verlag / Klett-Cotta) 1992,67. TZVETAN TODOROV, Die Eroberung Amerikas, Das Problem des Anderen, deutsch von WILFRIED BÖHRINGER, Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp 1 2 1 3 ) 1 9 8 5 , 2 6 . Vgl. STEPHEN GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer, Die Erfindung des Fremden, Reisende und Entdecker, deutsch von ROBIN CACKETT, Berlin (Wagenbach) 1 9 9 4 , 1 3 8 Ziziert bei GEWECKE, Wie die neue Welt in die alte kam 1 3 6 / 1 3 7 . Vgl. auch WOLFGANG NEUBER, Fremde Welt im europäischen Horizont, Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit = Philologische Studien und Quellen 1 2 1 , Berlin (Schmidt) 1 9 9 1 . KLAUS THEWELEIT, Pocahontas in Wonderland, Shakespeare on Tour, Indian Song, Frankfurt am Main/Basel (Stroemfeld/Roter Stern) 1999, liest die Geschichte der Eroberung Amerikas als Mediengeschichte.
Literatur der Frühen Neuzeit: Entdeckung einer terra incognita
3
Neuen, sondern der Bestätigung eines festliegenden Erwartungshorizontes diente offenbar auch die Methodik der Reisekunst, die ars apodemica, die im 17. Jahrhundert junge Bildungsreisende auf fremde Länder vorbereiten sollte. Der künftige Reisende wurde mit Vorgaben ausgestattet und das zu bereisende Gebiet im voraus in einen festgelegten Rahmen gefaßt, der nicht durch neue Erfahrungen überschritten, sondern durch passende Informationen gefüllt werden sollte. Wiederholung des Bekannten, nicht Entdeckung des Neuen, war das Ziel der Reise, so daß mancher Reisende nicht seine eigenen Erfahrungen notierte, sondern die Berichte anderer kopierte.8 Wo dem Reisenden Gefahren durch das Unbekannte drohten, war Vorsicht geboten. Deshalb wurde der Weg von Verbotstafeln eingegrenzt und von moralischen Exempeln vorgezeichnet. Genauer betrachtet, scheint die Vorsicht, zu der die Forschung im Umgang mit der firühneuzeitlichen Literatur rät, ein getreues Abbild dieser Literatur selbst zu sein. Und gerade das legt wiederum eine gewisse Vorsicht der Forschung gegenüber nahe. Denn auch heute werden neue Erfahrungen damit verhindert, daß auf Bekanntes und Vertrautes verwiesen wird. Bekannt und vertraut aber ist die Literatur der Frühen Neuzeit dem heutigen Leser nicht. Er sieht sich vielmehr einer terra incognita gegenüber, wenn er sich auf die Entdeckungsreise in die Bestände unserer Bibliotheken begibt. Doch namentlich die germanistische Barockforschung, die diese literarische Landmasse in den letzten Jahrzehnten gründlich vermessen und kartographiert hat, 9 bremst
die Entdeckerfreude und bescheidet den heutigen Leser, hier seien keine neuen Funde zu machen. Das Epochenbild, das speziell für das 17. Jahrhundert entworfen wird, erweckt den Eindruck eines Stillstandes, an dem die Umwälzungen des Entdeckerzeitalters anscheinend spurlos vorübergegangen sind.10 Die Forschung sieht die Barockliteratur vorwiegend geprägt von Traditionen ' '
10
Vgl. GUILLAUME VAN GEMERT, "Christian Κηοπ von Rosenroth unterwegs, Reisen im 17. Jahrhundert": Morgen-Glantz 5 (1995) 11-38. Vgl. HARALD STEINHAGEN, "Einleitung": HORST ALBERT GLASER / HARALD STEINHAGEN (Hgg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Band 3: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock 1572-1740, Reinbek (Rowohlt Taschenbuch 6252) 1985, 9-17, hier 9. Das hindert nicht, einen bislang nicht entdeckten Subkontinent frühneuzeitlicher Literatur zu annoncieren, der freilich ganz in die moraldidaktische Tendenz der jüngeren Forschung paßt. Vgl. RALF GEORG BOONER, Die Bezähmung der Zunge, Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation in der frühen Neuzeit = Frühe Neuzeit 31, Tübingen (Niemeyer) 1997, XII. Den Eindruck des Stillstandes reflektiert bereits - aus französischer Perspektive hinsichtlich einer klassischen Epoche im 17. Jahrhundert - PAUL HAZARD, Die Krise des europäischen Geistes, La Crise de la Concience Européenne 1680 - 1715, deutsch von HARRIET WEGENER, Hamburg (Hofimann & Campe) 1939. Doch sieht HAZARD (34/35) Europa auch im 17. Jahrhundert unermüdlich damit beschäftigt, die Welt zu entdecken und neue Schlüsse aus diesen Entdeckungen zu ziehen. Die Produktion der Reiseliteratur, die bis zum Überfluß anschwelle, ist ihm Paradigma f&r das sukzessive Erreichen einer kritischen Masse, die am Ende des 17. Jahrhunderts zur Revolution der Ideen ßhrt. Im 17. Jahrhundert, in seiner Entwicklung von der Beharrung zur Bewegung, sieht HAZARD die politischen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts begründet
4
Erkundigungen über das
Untersuchungsgebiet
und epochenspezifischen Konstanten, sie nehme nicht die Wirklichkeit in den Blick, sondern stelle ihr ein religiös-außerweltliches Weltbild entgegen." Es gebe nichts Neues unter der Sonne, lautet ihre leitende Maxime. Gibt es also nichts Neues in den alten Texten? Dieses Buch möchte für ein Teilgebiet der frühneuzeitlichen Literatur das Gegenteil erweisen. Im Schelmenroman, so lautet die Ausgangsvermutung, müßten sich Spuren der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Wirklichkeit finden, weil sich hier ein Ich zu Wort meldet und über das - freilich fiktive - eigene Leben Auskunft gibt. Dabei ist der Naivität genauso zu mißtrauen, die im Lebenslauf des Schelmen die umstandslose Abbildung der zeitgenössischen Wirklichkeit sieht, wie dem traditionalistischen Denkverbot, das eine Aneignung neuer Erfahrungen durch die Literatur der Frühen Neuzeit von vornherein ausschließt. Für den Augenblick wird hier lediglich vorausgesetzt, daß der Schelmenroman, der auf der Wirklichkeit des Berichteten beharrt, das Problem von Literatur und Wirklichkeit aufwirft und damit den Blick auf neue Horizonte lenken könnte. Wie die Reisenden der Frühen Neuzeit mit einer Fülle fremder Vorgaben und eigener Voraussetzungen ausgestattet waren, bevor sie einen Fuß auf das unbekannte Terrain gesetzt hatten, beginnt auch meine Erkundung des Schelmenromans mit Vermutungen und Annahmen über ihren Gegenstand. Was also ist ein Schelmenroman?'2 Die erste Frage nach dem Gegenstand So kann denn ein Roman zum Repräsentanten einer gänzlich homogenen Epoche werden, da die Unterschiede zwischen den einzelnen Werken im letzten unerheblich seien. U R S HERZOG etwa stellt fest, Grimmelshausens 'Simplicissimus' sei der deutsche Barockroman schlechthin [...]. Er sei einerseits Schelmenroman und Repräsentant des niederen Roman, andrerseits aber hebt er diese Form auch auf in einem Mafie und an einem Punkt, daß diese literarischen Gattungsgrenzen hinfällig werden. Wenn eine christliche, im letzten theologische Intention den meisten Romanen des 17. Jahrhunderts gemeinsam ist [...], dann kann gesagt werden, daß Grimmelshausens 'Simplicissimus' fir diesen Roman insgesamt stellvertretend sei. URS HERZOO, Der deutsche Roman des 17. Jahrhunderts, Eine Einflhrung = Sprache und Literatur 98, Stuttgart (Kohlhammer) 1976, 34. Der große Ausnahmetext wird zum Repräsentanten unzähliger, im Prinzip gleichartiger Texte, zum Exemplar unter vielen. Zur Auseinandersetzung mit dieser Tendenz der Forschung vgl. HARALD STEINHAGEN, Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, Historisch-ästhetische Studien zum Trauerspiel des Andreas Gryphius = Studien zur deutschen Literatur 51, Tübingen (Niemeyer) 1977, 9-12; ANDREAS MERZHAUSER, "Die Ausnahme als Regelfall, Ein Kommentar zu Stefan Trappens Grimmelshausen und die menippeische Satire nebst methodologischen Bemerkungen zum Stand der Forschung": Zeitschriftßr Germanistik, N.F. 1 (1996) 92-99. Einen Oberblick über die Forschung zum Schelmenroman verschaffen die folgenden Sammelbände: HELMUT HEIDENREICH (Hg.), Pikarische Welt, Schriften zum europäischen Schelmenroman = Wege der Forschung 163, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1969; CHRISTINE J. WITHBOURN (Hg.), Knaves and Swindlers, Essays on the Picaresque Novel in Europe, London/ New York / Toronto (Oxford University Press) 1974; GUSTAVO PELLÓN / Luis J RODRIGUEZ (Hgg.), Upstarts, Wanderers or Swindlers, Anatomy of the Picaro, Amsterdam (Rodopi) 1986;GERHART HOFFMEISTER (Hg.), Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext, Rezeption, Interpretation, Bibliographie = Chloe 5 , Amsterdam (Rodopi) 1987; ITALO MICHELE BATTAFARANO /
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Frage nach dem Schelmen und dem Schelmenroman
zieht sofort die zweite nach sich, denn das Genre scheint sich durch die Hauptfigur zu erklären, die ihm den Namen gibt. Was ist demnach ein Schelm? Wer gegen alle Regeln guter Literaturwissenschaft in einem Sachwörterbuch Klärung suchte, bevor er sich mit den Gegenständen selbst vertraut gemacht hätte, sähe sich enttäuscht. Denn dort wird das Problem lediglich verschoben und auf die spanische Gestalt des picaro verwiesen, der mit den Begriffen Schelm und Landstörzer gleichgesetzt wird.13 Liegt aber die Heimat des Schelmenromans in Spanien, dann ist von der Selbstversicherung der Romanistik über den spanischen picaro eine Anregung zu erhoffen, wie dem Phänomen im deutschen Sprachraum beizukommen wäre. Eine erste Annäherung könnte über das Wort picaro erfolgen. Der lexikographischen Studie von J. COROMINAS ist zu entnehmen, daß es sich um eine Wortschöpfung der Frühen Neuzeit handelt.14 Als Erstbeleg erscheint 1525 die Verbindung picaro de cozina ('Küchenjunge'), 1545 gefolgt von dem pejorativen Gebrauch für einen Kerl von üblem Lebenswandel. Wenn das Wort bestimmte Berufsgruppen bezeichnet oder als ehrenrührige Herabsetzung gebraucht wird, dann ist dies nicht von den sozialen Verhältnissen im Spanien der Frühen Neuzeit zu trennen. Lassen sich die Gegenstände zunächst nicht von den Bezeichnungen trennen, durch die sie in den Blick kommen, so sind umgekehrt die Wörter nicht von den Sachen zu scheiden, für die sie verwendet werden und die ihren Gebrauch bestimmen. Das Wort picaro erscheint in Kleiderordnungen,
die eine Tracht für den picaro vorschreiben, um den pika-
resken Korbträger oder Laufburschen davon abzuhalten, in fremde Häuser einzudringen und dort unerkannt sein Unwesen zu treiben. Ein ganzes System
sozialer Regeln bestimmt den Gebrauch eines Wortes, das Stellung und Verhalten von Personen fixiert. Doch wird mit diesen Regeln schon abweichendes Verhalten vorausgesetzt. Ein Wort wie picaro legt die Grenzen konformen Verhaltens fest, damit Abweichungen als Regelverstoß geahndet werden können. Der wechselnde Gebrauch des Wortes markiert die unklare Position des picaro. In seiner Randposition zwischen einer ehrbaren Tätigkeit und unehrlicher Bereicherung wird die zeitgenössische Wirklichkeit faßbar, die von (Hgg.), II picaro nella cultura europea, Gardolo di Trento (Luigi Reverdito) (Hgg.): Der deutsche und der spanische Schelmenroman - La novela picaresca española, Madrid (Universidad Complutense, Facultad de Filología/Ediciones del Orto) 1995. Zwei Forschungsberichte führen durch die Forschungsgeschichte: GERHART HOFFMEISTER, "Grimmelshausens Simplicissimus und der spanisch-deutsche Schelmenroman. Beobachtungen zum Forschungsstand": Daphnis 5 ( 1 9 7 6 ) 2 7 5 - 2 9 4 ; ELLEN TURNER GUTIÉRREZ, The Reception of the Picaresque in the French, English, and German Traditions = Currents in Comparative Romance Languages and Literatures 18, New York (Lang) 1 9 9 5 . Darüberhinaus liegen zwei Einführungen in das Thema vor: JORGEN JACOBS, D E R deutsche Schelmenroman, München/Zürich (Artemis Einführungen 5 ) 1 9 8 3 ; MATTHIAS BAUER, Der Schelmenroman, Stuttgart/ Weimar (Sammlung Metzler 282) 1994. Vgl. GERO VON WILPERT, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart (Kröners Taschenausgabe 2 3 1 ) PIETRO TARAVACCI
1 9 8 9 ; MARGIT RADERS, MARIA LUISA SCHILLING
13
s.v. Schelmenroman. "Das Wort picaro": HEIDENREICH, Pikarische Welt 2 5 5 - 2 6 6 , hier
"1979,727/728, "
J . COROMINAS,
255.
6
Erkundigungen
über das
Untersuchungsgebiet
sozialen Umwälzungen wie von Disziplinierungsversuchen geprägt ist. Dieser Befund erlaubt es, die pikaresken Romane mit dem Vorverständnis zu konfrontieren, das durch die Bezeichnimg picaro offenbar beim zeitgenössischen Leser hervorgerufen wurde. Der Verschränkung von Wörtern und Sachen, die durch die sozialen Bedingungen des Wortgebrauchs bestimmt ist, scheint auch MATTHIAS BAUER auf der Spur zu sein, wenn er in seinem Realienband zum Schelmenroman das deutsche Wort Schelm in den Horizont der frühneuzeitlichen Alltagskultur und ihrer Rechtspraktiken einholt. Das Schelmschelten, so ist mit Rückgriff auf JACOB GRIMMS Deutsche Rechtsalterthümer zu erfahren, brachte einem wortbrüchigen, betrügerischen oder meineidigen Mann den öffentlichen Ehrverlust ein. Auch hier hätte man es mit der sozialen Ausgrenzung von abweichendem Verhalten durch die Bezeichnung als Schelm zu tun. Der Schelm ist wie der picaro ein öffentlich Gebrandmarkter, der auf Mißtrauen stößt. BAUER zieht den Schluß: Infolgedessen ist jede literarische Figur, die als Schelm bezeichnet wird, ebenfalls als ehrlos oder unehrlich anzusehen und mit Argwohn zu behandelnd BAUER hätte auf einen frühneuzeitlichen Text zurückgreifen können, der den Begriff des Schelmen in den Mittelpunkt stellt. In THOMAS MURNERS Schelmenzunft von 1513 wird nämlich die schelmische Haupteigenschaft, Betrug und Verleumdung durch valschen mund und falsche / böse / öde zungen, in moraldidaktischer Absicht auf verschiedene Stände der Gesellschaft ausgedehnt.16 Das Schelmentum wird hier als gestörte Kommunikation verstanden, gegen die ein Rückgriff auf verläßliche, sprichwörtliche Redensarten helfen soll. So wird der Leser über die verschiedenen Schelmentypen aufgeklärt, die leeres Stroh dreschen, im Dreck wühlen, den Braten riechen, anderen Läuse in den Pelz setzen, zwischen den Stühlen sitzen und damit einiges auf dem Kerbholz haben.17 Diese Redensarten sind jedoch selbst wieder trügerisch, sie müssen erläutert und präzisiert werden. Offenbar läßt sich der sprachlichen Falschmünzerei kaum beikommen, da der Schelm sich selbst einer Haltet-den-Dieb-Taktik bedient und mit Vorliebe jemand anderen einen Schelmen schilt.18 Ist also auch MURNER, der die Schelmen schilt, ein Schelm? Die Zwielichtigkeit der Schelmenrevue deutet auf ein 15
BAUER, Der Schelmenroman 2 5 / 2 6 . Ahnlich argumentiert - mit Rückgriff auf das GRiMMSche Wörterbuch - JOHANNES ROSKOTHEN, Hermetische Pikareske, Beiträge zu einer Poetik des Schelmenromans = Europäische Hochschulschriflen I, 1358, Frankfurt am Main (Lang) 1992, 32/33.
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Vgl. THOMAS MURNER, Schelmenzunffl Antzaigung alles Weltleuffigen mütwillens / schalckaiten/ vnd bübereyen diser zeit Durch den hochgeleerten herren Doctor Thomam murner von Straßburg / schimpflichen erdichtet / vnd zu Franckfurt an dem Män mit ernstlichem ßrnemen geprediget. Nachdruck der Ausgabe Augsburg 1513 = Schriften zur deutschen Literatur ßr die Görresgesellschaft 3 , hg. von GUNTHER MÜLLER, Augsburg /Köln (Filser) 1 9 2 6 , Vorred, a ij v. Ich nenne hier die moderne Version der jeweiligen Sprichwörter, um einen Eindruck von der Geläufigkeit der Stereotypen zu geben. Zur Moraldidaxe der Rede vgl. BOGNER, Die Bezähmung der Zunge. Vgl. MURNER, Schelmenzunffl, Vorred, a iij v.
Frage nach dem Schelmen und dem Schelmenroman
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Mißtrauen aller gegen alle, fiir das die Schelmenfigur ein Symptom ist. Diesem Mißtrauen soll dadurch begegnet werden, daß die üblen Schelmen als solche entlarvt und gebranntmarkt werden, um die ehrlichen Leute eindeutig von den unehrlichen unterscheiden zu können. Ein frühneuzeitliches Lesepublikum, das sich in den gesellschaftlichen Schranken von Ehrlichkeit und Unehrlichkeit bewegt, hätte die Bezeichnimg Schelm auf dem Titelblatt eines Romans als eindeutige Rezeptionsteuerung verstanden und die Titelfigur von vornherein fiir unehrlich und unglaubwürdig gehalten. Nun erscheint aber auf den Titelblättern jener Romane der Frühen Neuzeit, die wir Schelmenromane zu nennen uns angewöhnt haben, die Bezeichnung Schelm überhaupt nicht. Dort wird der spanische picaro mit dem deutschen Landtstörtzer gleichgesetzt oder der Held mit dem Titel des ErtzLandstreichers oder mit dem eines Vaganten bedacht.19 Dabei ist das Wort Schelm dem Sprachgebrauch der Texte durchaus nicht fremd. Etwa im Simplicissimus Teutsch finden sich eine Reihe von Belegen, die das Wort in den Zusammenhang mit unehrlichen Berufen, Verleumdung, Verräterei, Wucher, Diebstahl und sogar Mord bringen20 oder die Opfer dieser Verhaltensweisen als arme Schelmen21 bezeichnen. Doch wird meines Wissens nur an einer einzigen Stelle der Titelheld selbst als Schelm bezeichnet, wenn die Meuder (Pflegemutter) des Spessarthofes den unmündigen Knaben mit unflätigen Ausdrücken bedenkt.22 Ein Grund für die Fehlanzeige ist gewiß darin zu finden, daß es sich um eine Ich-Erzählung handelt und niemand sich selbst als Schelm bezeichnen würde. Doch ist auf jeden Fall festzuhalten, daß das Wort Schelm in der Frühen Neuzeit nicht als Übersetzung des spanischen Wortes picaro fungierte. Für die Zeitgenossen wurde in der ersten Eindeutschung eines spanischen pikaresken Romans die Gleichsetzung des picaro mit dem Landtstörtzer nahegelegt. Mit dieser Bezeichnung und ihren Varianten Landstreicher, Landfahrer und Vagant23 wurde der Akzent auf die NichtSeßhaftigkeit eines So etwa auf den Titelblättern dreier Romane, die in dieser Arbeit besprochen werden: Der Landtstörtzer: Gusman von Alfarche oder Picaro genannt [...]. 1615. Der Abentheurliche SIMPLICISSIMUS Teutsch / Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten / genant Melchior Sternfels von Fuchshaim [...]. 1669. Die vollkommene Comische Geschieht Des CORYLO Das ist: Die absonderliche und denckwürdige Beschreibung Eines ErtzLandstreichers Coryli [...]. 1679. Vgl. < H A N S JACOB CHRISTOFFEL VON> GRIMMELSHAUSEN, Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi, hg. von ROLF TAROT, Tübingen 2 (Niemeyer) 1984, zu Verleugnen, Verleumdung und Verrat: Buch III, Kapitel 2, Seite 206, Zeile 4; III, 6, 218, 19; IV, 15, 336, 26; IV, 25, 363, 27; zu Mördern, Wucherern, Dieben, Ehebrechern, Huren, Buben und Kupplern: III, 4, 212, 11; III, 7, 223, 10; III, 18, 264, 2. Vgl. GRIMMELSHAUSEN, Simplicissimus Teutsch 1,4, 18, 34; IV, 23, 359, 15/16; V, 6, 393,24/25. Vgl. GRIMMELSHAUSEN, Simplicissimus Teutsch I, 8, 25, 25. Vgl. zum Begriff des Vaganten oder Vagierers das Liber vagatorum, in dem verschiedene Spielarten landfahrender Betrüger in warnender Absicht vorgestellt werden. "Liber vagatorum. Der Bettler Orden": HEINER BOEHNKE/ROLF JOHANNSMEIER, Das Buch der Vaganten - Spieler, Hu-
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sozialen Außenseiters gelegt, was dem Handlungsverlauf der meisten Erzählungen zumindest nahekommt. Im Gebrauch dieser Worte läßt sich das Moment der Unehrlichkeit an den betrügerischen Praktiken festmachen, mit denen das landfahrende Volk seinen Lebensunterhalt bestritt: Bettelei unter Vortäuschung von Behinderungen oder der Verkauf von wirkungslosen Arzneimitteln. In dieser Rolle des landfahrenden Quacksalbers ist auch der Held des Simplicissimus Teutsch anzutreffen. Doch mahnt gerade hier der Sprachgebrauch zur Vorsicht gegen die Identifikation des Romanhelden mit der Vagantenrolle. Wenn es heißt, ich verkleidete mich wie ein Landfahrer / der Salben feilhat,24 so ist durch die demonstrative Verkleidung ausgesagt, daß der Rollenträger mit dem Kostüm nicht identisch ist. Simplicius ist kein Landfahrer, sondern verhält und kleidet sich nur zeitweise wie ein wandernder Quacksalber. Die Identität der Romanhelden erschöpft sich nicht in der Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe, die mit den Wörtern Landtstörtzer, Landstreicher, Landfahrer und Vagant bezeichnet wird. Die Protagonisten sind vielmehr Personen aus eigenem Recht. Offenbar wirft die Verschränkung der Wörter und Sachen Probleme auf, wenn die Wörter aus der Alltagssprache in die literarische Fiktion wandern. Diese Fiktion stellt die Eindeutigkeit in Frage, auf der gesellschaftliche Regeln und kulturelle Praktiken beruhen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit bildet den Horizont, in dem der Schelmroman entsteht. Doch entzieht sich der Held des Romans voreiligen Festlegungen. Mit Recht wird deshalb in der Literaturwissenschaft die unhistorische Bezeichnung Schelm beibehalten, weil ihr Gegensatz zum frühneuzeitlichen Sprachgebrauch gerade die Differenz der Figur zum zeitgenössischen Erwartungshorizont markiert. Die literarische Figur des Schelmen ist, wie sich gezeigt hat, weder auf sprachliche Bezeichnungen noch auf gesellschaftliche Rollenzuweisungen der Frühen Neuzeit festzulegen. Um eine Antwort auf die Frage zu bekommen, was das eigentlich sei, ein Schelm und ein Schelmenroman, hält man sich deshalb wohl am besten an den Schelmen selber. Ich stelle mir also für einen Augenblick vor, ich begegnete einem Schelmen in einer für ihn typischen Situation und hätte Gelegenheit, ihn direkt nach seiner Identität zu befragen. Natürlich ist diese Möglichkeit rein fiktiv, dem Schelmen begegnet man eben nur in der erzählerischen Fiktion, und mit dieser Beobachtung ist schon auf eine grundlegende Spannung hingewiesen, von der die Phänomene Schelmenroman und Schelm beherrscht sind, die Spannung zwischen angeeigneter Realität und der Literarizität des Textes. Denn der Schelm wird selbstverständlich immer darauf bestehen, seine Existenz sei eine unbestreitbare Tatsache und seine Erzählung unbedingt wahr. ren, Leutbetrüger, Köln (Prometh) 1987, 79-101. Die vagantische Wirklichkeit hinter GRIMMELSTexten wird dargestellt bei ROBERT JOTTE, "Vagantentum und Bettlerwesen bei Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen": Daphnis 9 (1980) 109-131. Vgl. GRIMMELSHAUSEN, Simplicissimus Teutsch V, 6,392, 33.
HAUSENS 24
Fiktive Nachfrage beim Schelmen
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Um dem Schelmen zu begegnen, muß ich also selbst wieder in literarische Fiktionen schlüpfen und hefte mich zu diesem Zweck an die Fersen des sinnreichen Junkers Don Quijote bei CERVANTES, dem die Begegnung mit einem Schelmen in natura vergönnt ist. Im 22. Kapitel des ersten Buches von CERVANTES' Roman sieht Don Quijote, wie ihm etwa zwölf Menschen zu Fuß entgegenkommen, die wie die Ktigelchen am Rosenkranz an einer langen Kette mit den Hälsen aneinandergereiht und alle mit Handschellen gefesselt sind.25 Sofort erblickt der sinnreiche Junker eine Gelegenheit für sein ritterliches Amt, Zwang aufzuheben und den Unglücklichen zu helfen. Ein zur Rede gestellter Wächter gibt die Auskunft, es handle sich um Ruderknechte, die auf den Galeeren des Königs Strafdienste zu verrichten hätten. Der hartnäckige Frager möchte nun aber die Gründe für die Verurteilung jedes einzelnen erfahren und wird von dem Wächter auf die Verurteilten selbst verwiesen. Nachdem Don Quijote bei seiner Nachfrage Bekanntschaft mit den verschiedenen Zünften der Diebe, Betrüger und Kuppler gemacht hat, trifft er auf einen Gefangenen, der besonders sorgfaltig in Eisen geschlossen ist. Es handelt sich um Ginés de Pasamonte, der anscheinend eine Berühmtheit in der Unterwelt darstellt und auch unter dem zweiten Namen Ginesillo de Parapilla bekannt ist. Ginés de Pasamonte schätzt allerdings diesen zweiten Namen und die damit zusammenhängenden Geschichten, die über ihn umlaufen, nicht. Dem Junker erteilt er dagegen die Auskunft, daß er seinen Lebenslauf mit eigenen Händen niedergeschrieben habe. Der Wächter bestätigt die Angabe und fügt hinzu, Ginés habe das Buch im Gefängnis als Pfand für zweihundert Realen zurückgelassen. Überzeugt von dem Wert seines Werkes fugt Ginés hinzu: "Und ich gedenke es einzulösen [...] wenn es auch für zweihundert Dukaten verpfändet wäre. " "So vortrefflich ist es?"fragte Don Quijote. "Es ist so vortrefflich", antwortete Ginés, "daß 'Lazarillo de Tormes' nur gleich einpacken kann und mit ihm alle die Bücher, die sonst noch in dieser Art geschrieben sind oder noch geschrieben werden. Was ich Euch darüber sagen kann, ist, daß es nur Wahrheit26 berichtet und so hübsche und ergötzliche Wahrheit, daß es keine Lügen geben kann, die ihr gleichkämen. " "Und wie betitelt sich dieses Buch?"fragte Don Quijote. '"Das Leben des Ginés de Pasamonte"', antwortete Ginés. "Und ist es ganz beendet?"fragte Don Quijote. "Wie kann es beendet sein", antwortete Ginés, "da mein Leben noch nicht zu Ende 23
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Vgl. MIGUEL DE CERVANTES SAAVEDRA, Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, deutsch von Ludwig Braunfels, München (Winkler) 1956,1, 22, 192-203. Mitverglichen wurde der spanische Text: MIGUEL DE CERVANTES SAAVEDRA, El Ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha, hg. von Luis ANDRÉS MURILLO, 3 Bände, Madrid (Clásicos Castalia) '1991, I, 22, 265-277. Hier ist die Übersetzung leider an einer entscheidenden Stelle ungenau. Der spanische Text liest verdades ("Wahrheiten1). Vgl. CERVANTES, El Ingenioso hidalgo 1,22, 272.
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Erkundigungen
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ist? Beschrieben sind meine Erlebnisse nur von meiner Geburt an bis zu dem Augenblick, wo sie mich dies letzte Mal auf die Galeeren geschickt haben. 'al
erzählerischer Kunstgriff stellt dem sinnreichen Junker jene Person leibhaftig vor Augen, deren Stimme in der pikaresken Ich-Erzählung zu vernehmen ist. In nuce enthält die Begegnung mit dem Schelmen und seiner Geschichte die Voraussetzungen, die von der Gattung gemacht werden. Don Quijote ist der neugierige Leser, der mit seinen Fragen die schelmische Selbstaussage buchstäblich freisetzt. Denn indem Ginés auf die Fragen des sinnreichen Junkers hin seine Stimme erhebt, löst er sich aus der anonymen Kette der Sträflinge. Der Schelm geht nicht in den soziologischen Zuweisungen auf, die ihn zum unehrlichen Diener vieler Herren, zum Rechtsbrecher und schließlich zum Sträfling machen. Er bezieht seine Identität vielmehr aus der eigenen Geschichte, die er sich zu eigen macht und an seinen Namen bindet. Denn daß die Schelmen keine anonymen Gattungswesen sind, ergibt sich schon aus ihrem Namen, auf den im Titel der Schelmenromane hingewiesen wird. Der Held bei MATEO ALEMÁN und AEGIDIUS ALBERTINUS etwa ist nicht irgendein Exemplar der Gattung picaro, sondern ein Mensch namens Guzmán de Alfarache, dessen vida das Buch ALEMÁNS ausmacht28 und der bei ALBERTINUS nur zusätzlich auch Landtstörtzer oder picaro genannt wird. Noch im verwirrenden Spiel mit verschiedenen Namen wie in GRIMMELSHAUSENS Simplicissimus Teutsch oder in BEERS Corylo wird die Frage nach dem Namen zum Testfall für die schelmische Suche nach der eigenen Identität. Nicht zufallig steht und fallt auch fur Ginés diese Identität mit dem Namen und der damit verbundenen Lebensgeschichte, wenn er betont: [...] wisset, ich bin Ginés de Pasamonte, dessen Leben beschrieben ist von diesen seinen eigenen Fingern.29 Damit bringt er sich zunächst einmal in Gegensatz zu den konkurrierenden Versionen, die unter dem Namen Ginesillo de Parapilla über ihn im Umlauf sind. Die schelmische Ich-Aussage grenzt sich ab von der beliebigen Schwanksammlung, die über einen bekannten Typen zusammengetragen werden kann. Diese Abgrenzung geschieht im Schelmenroman durch die Präsenz des Sprechers, dessen Stimme zu hören ist. Die Stimme, die der Leser zu vernehmen glaubt, deutet auf die leibliche Anwesenheit eines konkreten Menschen hin, was die Erzählung bei CERVANTES nun anschaulich macht, indem der Sprecher tatsächlich leibhaft vor den Augen des sinnreichen Junkers erscheint. Ginés steht mit seiner physischen Gegenwart, mit diesen eigenen Fingern, für die Authentizität des Lebensberichtes ein, der seinerseits als Manuskript gegenständlich existiert und den finanziellen Gegenwert von zumindest zweihundert Realen hat. Die physische Präsenz des Sprechers und die materielle Existenz des Buches garantieren füreinander. Dadurch, daß Ginés CERVANTES'
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Der sinnreiche Junker 1 , 2 2 , 1 9 8 . Vgl. die Titel einiger Ausgaben, etwa Primera parte de la vida de Guzmán de Alfarache 1603. CERVANTES, Der sinnreiche Junker 1,22, 198. Vgl. CERVANTES, El Ingenioso hidalgo 1,22, 271.
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sein Buch als Pfand eintauscht, aber seine Auslösung zum Ziel seines künftigen Erwerbs macht, wird explizit ausgesprochen, was der Schelmenroman stillschweigend voraussetzt. Die Ich-Erzählung des Schelmenromans evoziert die Präsenz eines Sprechers, der sich für die Authentizität seiner Lebensgeschichte verbürgt, und umgekehrt bürgt die Geschichte für die Identität der Person.30 Deshalb insistiert Ginés, sein Buch enthalte lauter ergötzliche Wahrheiten (verdades). An diesem Punkt jedoch werden Zweifel laut. Ginés preist seine Wahrheiten an, indem er sie für vergnüglicher erklärt als alle Lügen (mentiras). Die ganze schöne Wahrheit könnte nichts anderes sein, als ein gewinnbringender Betrug. Das ist die Kehrseite des Tauschgeschäfts, mit dem das Manuskript der Lebensgeschichte verbunden ist. Denn mit dem Preis des Buches ist zugleich auf den gesellschaftlichen Horizont verwiesen, den jede literarische Aussage hat. Die Leibhaftigkeit des Sprechers setzt sein Überleben in einer Gesellschaft voraus, die Lebensmittel gegen Geld eintauscht. Offenbar sind die Voraussetzungen für die Existenz des Buches mit den Lebensbedingungen verknüpft, die durch die Taten des Schelmen in den Blick kommen. Der Schelm muß sich als handelnde Figur und als Erzähler buchstäblich selbst verkaufen, um zu überleben. Durch die betrügerischen Überlebenstechniken des Helden gerät auch der Wahrheitsanspruch des Erzählers ins Zwielicht. Kann es das also geben, Wahrheit aus dem Munde einer betrügerischen Person, deren Aussage vor jedem Gericht in Zweifel gezogen würde? Durch diesen fundamentalen pragmatischen Widerspruch ist der Leser gehalten, der Version des Erzählers trotz ihres Authentizitätsanspruchs stets zu mißtrauen. Der erzählende Schelm erscheint als unzuverlässiger Erzähler (unreliable narratori und fordert jene Komplementärlektüren32 seiner Geschichte heraus, die sich bei CERVANTES in dem zweiten Namen des Ginés andeuten. Denn an diesen zweiten Namen knüpfen sich umlaufende Geschichten über den Straßenräuber, mit dem Ginés identifiziert wird, aber nicht verwechselt werden will. Die Fremdaussagen stellen die emphatische Selbstaussage des Schelmen in Frage. Der Wahrheitsanspruch der schelmischen Ich-Erzählung scheint sich selbst aufzuheben. MATTHIAS BAUER macht Ginés de Pasamonte zum Modellfall des pikaresken Ich-Erzählers, dessen Einseitigkeit sich in seiner Unbelehrbarkeit und Selbstgefälligkeit zeige. BAUER hebt zwei wider30
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Vgl. GERHARD VON GRAEVENITZ, "Das Ich am Ende, Strukturen der Ich-Erzählung in Apuleius' Goldenem Esel und Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch": Das Ende, Figuren einer Denkform, = Poetik und Hermeneutik 16, München (Fink) 1996, 123-154, hier 128: Weil "ich" nur sinnvoll verwendet werden kann, wenn ausgeschlossen ist, "daß die gemeinte Entität nicht existiert", bricht mit dem Ende des Sprechers von "ich " das Zeigfeld zusammen. Vgl. WILLIAM RJGGAN, Madmen, Naifs, and Clowns,The Unreliable First-Person-Narrator, Norman, Oklahoma (University of Oklahoma Press) 1981. (= Phil. Diss. Ann Arbor, Michigan University, 1978.) Dieser Begriff wurde in die Forschung eingeführt durch MATTHIAS BAUER, Im Fuchsbau der Geschichten, Anatomie des Schelmenromans, Stuttgart/Weimar (Metzler) 1993.
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streitende Tendenzen bei Ginés hervor: die Unfähigkeit zur Distanz gegenüber seinem Stoff, dem eigenen Leben, und die pikareske Tendenz zur Verstellungskunst, die auf der Differenz von Rolle und Person, Darstellung und Wirklichkeit basiere. Ginés werde in Don Quijote mit einer Figur konfrontiert die selbst größte Schwierigkeiten hat, Fiktion und Realität zu unterscheiden. 33 Gerade diese RealitätsverzerrungSi schafft indes durch die Konfrontation der Personen miteinander einen Zugang zur Realität. CERVANTES läßt Ginés zum Gegenspieler Don Quijotes werden, als dieser die Sträflinge in einem Handstreich befreit hat. Der sinnreiche Junker verlangt nun nach den Regeln der Ritterromane den Erweis der Dankbarkeit, indem sich die Befreiten gemeinsam zu Dulcinea von Toboso begeben, um dieser jeden Punkt dieses herrlichen Abenteuers zu berichten. Bevor er sich gewaltsam von seinem Befreier befreit, nennt Ginés die Gründe für seine Treulosigkeit: Was Euer Gnaden uns befiehlt, [...] ist die unmöglichste aller Unmöglichkeiten; denn wir können nicht auf den Straßen zusammen wandern, sondern jeder muß allein und jeder für sich bleiben und muß suchen, sich tief im Innern der Erde zu bergen, um nicht von der Heiligen Brüderschaft aufgefunden zu werden, die ohne Zweifel ausziehen wird, uns nachzuspürend In seiner Antwort verweist Ginés auf die Wechselbeziehung zwischen der historisch-geographischen Wirklichkeit, der Kontrolle der Straßen durch die Heilige Brüderschaft, und dem schelmischen Gestus der Isolation und des Verbergens. Nur allein (solos) und für sich (dividos) haben die Schelmen überhaupt eine Überlebenschance. An dieser Stelle wird deutlich, daß die Erzählung des Schelmen schon durch ihre formale Konzentration auf das eigene Ich die gesellschaftlichen Zwänge zum Ausdruck bringt, die den Gestus der gleichzeitigen Verstellung und Enthüllung verursachen. Der Schelm möchte frei von der Leber weg reden und muß sich doch immer verstellen und absichern. Die Episode bei CERVANTES ist eine Geschichte der Befreiung des Schelmen von seinen Fesseln, die ihn in die Lage versetzt, seinem Zuhörer oder Leser Don Quijote gegenüber Ich zu sagen. Don Quijote vertritt in der Episode den utopischen Wunsch, daß einer, dem die Hände so gebunden seien, wenigstens die Zunge freihabe.36 Doch basiert diese Utopie des freien Worts, für das die Erzählung des Schelmen einstehen soll, bereits auf gesellschaftlichen Bedingungen, in denen über Leben und Tod bestenfalls die eigne Zunge und nicht die von Zeugen und Beweisen zu entscheiden hat." In früh33 M 33
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Vgl. Vgl.
Im Fuchsbau der Geschichten 73. Im Fuchsbau der Geschichten 74. CERVANTES, Der sinnreiche Junker 1,22, 202. Vgl. CERVANTES, El Ingenioso hidalgo I, 22, 275. Vgl. CERVANTES, Der sinnreiche Junker I, 22, 199. Siehe auch CERVANTES, El Ingenioso hidalgo I, 22, 273. Vgl. CERVANTES, Der sinnreiche Junker I, 22, 194. Siehe auch CERVANTES, El Ingenioso hidalgo I, 22, 267. BAUER,
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neuzeitlichen Gerichtsverfahren galt das eigene, notfalls auf der Folter erzwungene Geständnis des Rechtsbrechers der Aussage fremder Zeugen überlegen. Was der Schelm als Gefangener über sich aussagt, erhält einen besonderen Stellenwert. Der Schelm hat durch seine Rede sein eigenes Schicksal in der Hand. Doch verbindet sich mit dieser Aufwertung des Sprechers gerade der Zwang zur Verstellung. Der Schelm, so ahnt auch Don Quijote, erzählt um sein Leben. Alles, was er freimütig eingesteht, kann gegen ihn verwendet werden. Auch wenn ihm die Ketten abgenommen werden, bleibt der Schelm durch die Zwänge der Gesellschaft gefesselt. Er muß sich verstellen und verbergen, um zu überleben. Deshalb begegnet der illusorische Versuch des sinnreichen Junkers, die allgemeinen Fesseln und Zwänge der Gesellschaft aufzuheben, dem Spott und dem Widerstand des Schelmen. Die Ich-Aussage des Schelmen bringt die Wirklichkeit in einer bestimmten Perspektive zum Vorschein. Bereits die Existenz der (pseudo-)autobiographischen Ich-Form ist ein historisches Faktum mit weitreichenden Konsequenzen. CERVANTES unterstreicht dies, indem er den Titel des 1 5 5 4 erschienenen Lazarillo de Tormes in seine Romanfiktion einfuhrt. Das in der Wirklichkeit vorhandene Buch wird zum Gegenstand in der erfundenen Welt. Und auch der Name des schelmischen Autobiographen Ginés de Pasamonte ist vermutlich ein ironischer Hinweis auf die wirklich existierende Autobiographie eines GERÓNIMO DE PASSAMONTE, der wie CERVANTES Sklave im islamischen Nordafrika war. Bei den Vida y travajos de Geronimo de Passamonte handelt es sich freilich nicht um einen Schelmenroman, sondern um die Autobiographie eines verbitterten Menschen, der nach seiner Befreiung aus der Sklaverei niemals wieder Fuß fassen kann. Die Zwänge und Obsessionen der zeitgenössischen Gesellschaft werden hier durch den Verfolgungswahn und den religiösen Überschwang des Verfassers deutlich, der auf den Bericht über die Einheirat in eine verhaßte Familie seitenweise Gebete folgen läßt und mit ihnen seinen Lebensbericht beschließt.38 Auch eine solche Autobiographie gehört zum zeitgenössischen Horizont des Schelmenromans, den CERVANTES subtil in seine Erzählung einbringt. Beiden ist die begrenzte Perspektive des Sprechers gemeinsam, der die Welt immer als einen durch die eigene Person vermittelten Ausschnitt darstellt. Dieser Ausschnitt hat auch seine zeitliche Grenze, wie Ginés de Pasamonte offen zu verstehen gibt: Wie kann beendet sein, [...] da mein Leben noch nicht zu Ende ist? Mit der IchForm, die den Anspruch auf Authentizität begründet, verbindet sich notwendig der offene Schluß der Erzählung, da das Leben des erzählenden Ich während des Schreibvorgangs weitergeht. Von daher gibt der Erzählerdiskurs auch niemals einen endgültigen Bezugsrahmen, durch den sich die erzählten 31
Vgl. R . FOULCHÉ-DELBOSC (Hg.), "Vida y travajos de Geronimo de Passamonte": Revue hispanique 5 5 ( 1 9 2 2 ) 3 1 1 - 4 4 6 . Zu GERÓNIMO DE PASSAMONTE vgl. ALOIS ACHLEITNER, "Pasamonte": Anales Cervantinos 2 ( 1 9 5 2 ) 3 6 5 - 3 6 7 ; JEAN CANAVAOGIO, Cervantes, Biographie, deutsch von ENRICO HEINEMANN und URSEL SCHÄFER, Zürich/München (Artemis) 1 9 8 9 , 2 1 9 ; 3 2 6 ; 3 2 8 .
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Ereignisse ein für allemal einordnen ließen. Die Ansichten des Erzählers sind wie der Schluß der Erzählung vorläufig und von neuen Erfahrungen potentiell überholbar. Diese Überholbarkeit aber macht die Ich-Form des Schelmenromans offen für die unabgeschlossene zeitgenössische Wirklichkeit. Gerade weil sie einseitig ist, löst die Selbstaussage des Schelmen ihren Anspruch auf Authentizität ein. Da die Welt niemals als ganze repräsentiert werden kann, wird der subjektive Auschnitt der Ich-Erzählung der Unüberschaubarkeit der Wirklichkeit gerecht. Wo der Schelm Ich sagt, ist die Frage nach seiner begrenzten leiblichen Präsenz in der Welt und damit nach ihrer raumzeitlichen Wirklichkeit ins Spiel gebracht. *
Wie aber schlägt man eine Brücke zwischen der exzentrischen Gestalt der Romane und der Wirklichkeit, die sich in ihnen erschließt? Zunächst einmal erschafft ja der Roman seine eigene Welt, die gegen die Welt zu halten wäre. Das Eigentümliche der Welt im Schelmenroman besteht darin, daß sie sich aus dem Blickwinkel des erzählenden Ich eröffnet, daß dieses Ich die erzählte Welt erschafft. CARROL JOHNSON geht noch einen Schritt weiter und folgert aus der Schöpfung der erzählten Welt in ALEMÁNS Guzmán de Alfarache, daß der Erzähler sich mit diesem Akt selbst erschaffe. Als Gewährsmann für diese Ansicht wählt JOHNSON keinen Literaturtheoretiker, sondern KARL MARX. Der Mensch, so habe MARX beobachtet, erschaffe sich selbst durch seine Werke, durch seine Selbstentfremdung im Arbeitsprozeß werde er zu seinem eigenen Schöpfer.39 JOHNSON läßt indes die vielfaltigen Anknüpfungspunkte, die sich aus dem Bezug auf MARX ergäben, sofort wieder fallen und leitet aus der Selbstschöpfung des Erzählers durch die Erzählung lediglich ab, daß man sich auf das erzählende Ich als Untersuchungsgegenstand konzentrieren müsse. Zweifellos ist die Ich-Erzählung formkonstituierend für den Schelmenroman und muß den Ausgangspunkt jeder Analyse bilden. Doch wäre zu fragen, wie sich die fiktive Ich-Aussage zu dem realen Werkprozeß verhält, der den Roman hervorgebracht hat. Offenbar gibt es zwei Personen, die sich im Zuge des Erzählvorgangs selbst erschaffen: den Erzähler, der in der Auseinandersetzung mit der fiktiven Welt seine Position bestimmt, und den Autor, der sein Buch unter den Bedingungen seiner Zeit verfaßt. In Anlehnung an MARX läßt sich sowohl das textinterne Verhältnis zwischen Ich und Welt als auch das Verhältnis der Romane zu der in ihnen verhandelten Wirklichkeit mit dem Begriff der Aneignung erfassen.40 Aneig39
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Vgl. CARROL JOHNSON, Inside Guzmán de Alfarache, Berkeley (University of California Press) 1978, 10. Zum Begriff der Aneignung vgl. ROBERT WEIMANN, "Einleitung" und "Funktion und Prozeß der Weltaneignung: Grundzüge ihrer Geschichte": Realismus in der Renaissance 1-46 und 111-182; J . P . COTTEN, "Aneignung": Kritisches Wörterbuch des Marxismus, hg. von GEORGES LABICA,
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Schelmenroman als Aneignung der Welt
nung bedeutet zunächst, daß ein Mensch sich materieller Gegenstände aus seiner Umgebung bemächtigt. Um zu überleben, muß jeder Mensch sich fremde Gegenstände einverleiben, er ist also niemals unabhängig von ihnen zu denken. Aneignung in diesem fundamentalen Sinne heißt Stoffwechsel mit der natürlichen Umwelt. Die Tatsache, daß alle Menschen essen und trinken müssen, setzt die Existenz einer Welt der Gegenstände voraus, die von außen in den eigenen Besitz gebracht werden müssen. Fremde Dinge werden zu eigenen. Die Menschen selbst sind gegenständliche Naturwesen, die sich die Natur 'aneignen' müssen, weil sie selbst von Haus aus Natur sind, weil sie nur an "wirklichen, natürlichen Gegenständen" ihr Leben äußern können." Aneignung ist deshalb ein Stück Arbeit an der Umwelt, denn indem der Mensch sich fremde Gegenstände zu eigen macht, hinterläßt er seine Spur auf den Gegenständen. Im Objekt ist immer schon ein Stück Subjekt, weil sich ein Mensch durch die Aneignung nicht nur den Gegenstand einverleibt, sondern sich durch diesen Vorgang zugleich in ihn hinein ausdrückt. Die Menschen erarbeiten sich die Welt. Durch die Aneignung wird sie zur Welt der Menschen. Aneignung hat also einen objektiven und einen subjektiven Aspekt. Objektivität verlangt zunächst einmal, daß die Welt der Gegenstände in ihrer Existenz anerkannt wird. Der Mensch respektiert, daß sein Gegenstand nicht nur in seinem Kopf existiert, sondern eigenständig und aus eigenem Recht. Als Gegenstand, als Gegensatz und Gegenüber, kommt das Fremde in den Blick des Menschen. Das Gegenüber ist nicht das Eigene. Deshalb erfordert seine Aneignung die Überwindung von Hindernissen, Anstrengung und Arbeit. Weil diese Arbeit jedoch die Existenzbedingung jedes Menschen ist, bedeutet der schöpferische Umgang mit den Dingen zugleich die Selbstschöpfung des Menschen. Erst in Auseinandersetzung mit den Gegenständen bildet sich Subjektivität aus. Objekt und Subjekt stehen in einer notwendigen Wechselbeziehung. Den Menschen, das ist der Hintergrund der von JOHNSON in Erinnerung gebrachten MARXschen Konzeption, gibt es nie unabhängig von der Welt seiner Gegenstände. Diese Konzeption klingt zunächst noch recht abstrakt. Doch ergeben sich aus den Voraussetzungen des Aneignungsbegriffs konkrete Schlußfolgerungen. Wer von Aneignung spricht, macht eine materialistische Voraussetzung, indem er darauf beharrt, die Welt der Gegenstände sei wirklich existent und keine Einbildung des Ich.42 Es gibt nicht nur Versionen über die Welt, 'virtudeutsche Fassung hg. von WOLFGANG FRITZ HAUG, Band 1, Hamburg (Argument) 1983, 61-65. MICHAEL FRANZ, " A n e i g n u n g s f u n k t i o n u n d S i n n f r a g e " : Weimarer
Beiträge
35 (1989) 32-53;
FRANK SCHNEIDER, "Aneignung als Gestaltung, Zu einigen grundlegenden Aspekten": Weimarer Beiträge
3 5 ( 1 9 8 9 ) 5 4 - 6 6 ; WOLFGANG FRITZ HAUG . " A n e i g n u n g " : Historisch-kritisches
Wörter-
buch des Marxismus, hg. von WOLFGANG FRITZ HAUG, Band 1, Hamburg (Argument) 1994, 233-249. 41
Vgl. PETRA RÖDER, "Zur Immateriality der Postmoderne, oder: Was hat der dialektische Materialismus noch zu sagen? Vorüberlegungen zur historisch-kritischen Reflexion einer umlaufenden T h e o r i e " : DVJs
6 7 ( 1 9 9 3 ) 3 2 2 - 3 8 7 , hier 3 4 0 / 3 4 1 .
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eile Realitäten', die Welt selbst überzeugt den Menschen vielmehr schmerzvoll von ihrer Wirklichkeit, indem sie ihm Widerstand entgegensetzt. Diese schmerzvolle Erfahrung der Wirklichkeit macht schon der Held des ersten spanischen Schelmenromans, Lazarillo de Tormes, als er von seinem blinden Lehrmeister in der Bettelkunst mit dem Kopf gegen das steinerne Bild eines Stiers gestoßen wird. Die Episode im ersten Kapitel (tratado) des kleinen Romans entwickelt in nuce das Verhältnis des Schelmen zu seiner Umwelt. Lazarillo legt vertrauensvoll sein Ohr an den Stier, weil der Blinde ihm im Inneren ein großes Getöse verheißen hat.43 In dieser pikaresken Urszene lernt Lazarillo, zwischen seinen Erwartungen und einer widrigen Wirklichkeit zu unterscheiden. Die Gegenstände weisen auf ihre Wirklichkeit dadurch hin, daß sie in ihrer Widerständigkeit mit den menschlichen Vorstellungen nicht übereinstimmen. Diese Differenz zwischen Täuschung und Enttäuschung, engaño und desengaño, ist eine Grundfigur des Schelmenromans und zugleich ein Hinweis auf die Wirklichkeit jenseits der Vorstellungen und Reden des Ich. Jenseits der Version seines Ich-Erzählers deutet der Schelmenroman auf eine objektive Wirklichkeit hin, mit der sich der Schelm genauso wie der Leser auseinandersetzen muß. Diese Auseinandersetzung des Subjekts mit den Objekten, die Aneignung der Gegenstände für eigene Zwecke, beschreibt der Lazarillo in der Spiegelszene zur schmerzhaften Lektion über die Wirklichkeit. Am Schluß seiner Lehrzeit läßt Lazarillo nämlich den Blinden über einen Bach springen, so daß er aus vollem Lauf mit dem Kopf gegen einen Steinpfeiler prallt.44 Die Gegenstände, der Bach und der Pfeiler, werden hier Faktoren im Kalkül des Schelmen, mit dem er den Blinden manipuliert. Diese Wechselbeziehung des Ich und seiner Gegenstände, die Tatsache also, daß das Fremde zugleich das Eigene ist, bildet die dialektische Voraussetzung der Weltaneignung. Der Schelm ist seiner selbst durch die schmerzhafte Konfrontation mit der gegenständlichen Welt bewußt geworden. Indem er sie sich nun aneignet, macht er sie zur schelmischen Welt, die nach seinen Spielregeln funktioniert. 42
43
44
Vgl. die Z i t a t e v o n NIKLAS LUHMANN bei RÖDER, " Z u r I m m a t e r i a l i t ä t der P o s t m o d e r n e " 3 4 0 :
"Es
muß ... eine Welt identischer Gegenstände geben", angesichts derer es weder wünschenswert noch möglich ist, auf Dauer im rein 'ästhetischen Diskurs' zu verharren. Oder "könnte sich die Betonpiste des Flughafens in einen Gemüsegarten verwandeln oder das radioaktive Wasser in Eau de Cologne? " Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes, Seine Freuden und Leiden", Deutsch von HELENE HEINZE: Spanische Schelmenromane, hg. von HORST BAADER, Band 1, München'(Hanser) 1964, 7-64, hier Kapitel I, 13/14. Mitverglichen wurde der spanische Text: Lazarillo de Tormes, ed. de FRANCISCO RICO, Madrid (Catedra) '1992, I, 22/23. Die Präsenz der Realität bei Lazarillos Eintritt in die Welt wird unterstrichen durch den Wechsel der Erzählung ins Präsens: Und so hielt ich mich (me fui) zu meinem Herrn, der wartete (ersperándome estaba). Wir brechen (salimos) von Salamanca auf und, an der Brücke angelangt, ist da (está) an ihrem Eingang ein Tier aus Stein, das beinah die Form eines Stiers hat [...]. Vgl. Lazarillo de Tormes I, 22. (Meine Obersetzung.) Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes" I, 23; Lazarillo de Tormes I, 44/45.
Schelmenroman als Aneignung der Welt
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Die Aneignung der Gegenstände, wie Lazarillo sie im Kampf mit dem Blinden vollzieht, verweist indes auch auf ihre historischen Voraussetzungen in der zeitgenössischen Gesellschaft. Denn Lazarillo lernt den Umgang mit dem harten Material in Auseinandersetzung mit dem blinden Lehrmeister. Aneignung der Welt ist also nie die einsame Tätigkeit eines einzelnen Menschen, sondern durch gesellschaftliche Bedingungen geprägt. Zwar funktioniert der Sprung des Blinden nach den Spielregeln Lazarillos, doch sind diese Spielregeln vom Lehrmeister abgeschaut. Der Held selbst gehorcht in dieser Szene fremden Spielregeln, die er sich angeeignet hat. Die Revanche erweist sich als Tausch. Sie setzt mit anderen Mitteln das Tauschgeschäft fort, bei dem sich der Jüngere das Wissen des Älteren aneignet, wofür er ihm eine Zeitlang als Blindenführer zuarbeiten muß. Weltaneignung vollzieht sich als gesellschaftliches Tauschgeschäft, als Erwerb fremder Güter, für die Eigenes veräußert werden muß. Der Schelm als Eigentumsloser kann in diesem Tauschgeschäft nur sich selbst anbieten. Er eignet sich die Welt an, indem er sich selbst so gut wie möglich verkauft. Die Zeit des Schelmen wird zur Ware, die er veräußert. Durch Aneignimg und Entfremdung ist der Schelm so eng mit seiner Umwelt verknüpft, daß er niemals unabhängig von den Bedingungen seiner Zeit betrachtet werden kann.45 Auf diese Weise ist die Handlung des Schelmenromans von der Aneignung der Welt, von ihren materiellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen geleitet.46 "
46
Vgl. WOLFGANG FRITZ HAUG, "Dialektik": Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 2 , Hamburg (Argument) 1 9 9 5 , 6 5 7 - 6 9 3 , hier 6 6 6 ; FRANZ, "Aneignungsfunktion und Sinnfrage" 35 und 47. Der soziologischen Leitfrage, wessen reale Konflikte eigentlich in der stilisierten Picaro-Vita Gestalt angenommen haben - so formuliert von ANDREAS STOLL in seinem Aufsatz "Wege zu einer Soziologie des pikaresken Romans": Spanische Literatur im goldenen Zeitalter, Festschrift für FRITZ SCHALK, hg. von HORST BAADER und ERICH LOOS, Frankfurt a.M. (Vittorio Klostermann) 1 9 7 3 , 4 6 1 - 5 1 8 , hier 4 8 1 - ist man vor allem in der romanistischen Forschung nachgegangen: CÉSAR REAL RAMOS, '"Fingierte Armut' als Obsession und die Geburt des auktorialen Erzählers in der Picaresca": Der Ursprung von Literatur, Medien, Rollen, Kommunikationssituationen 1450-1650, hg. von GISELA SMOLKA-KOERDT u.a., München (Fink) 1 9 8 8 , 1 7 5 - 1 9 0 ; FÉLIX BRUN, "Pour une interprétation sociologique du roman picaresque": Littérature et société: Problèmes de méthodologie de la littérature, hg. von LUCIEN GOLDMANN, MICHEL BERNARD und ROGER LALLEMAND, Brüssel (Institut de Sociologie de l'Université libre de Bruxelles) 1 9 6 7 , 1 2 7 - 1 3 5 ; CHARLES AUBRUN, "La gueuserie aux XVle et XVIIe siècles en Espagne et le roman picaresque": Littérature et société 1 3 7 - 1 5 0 ; RAINER SCHÔNHAAR, "Picaro und Eremit. Ursprung und Abwandlung einer Gmndfigur des europäischen Romans vom 17. zum 18. Jahrhundert": Dialog, Literatur und Literaturwissenschaft im Zeichen Deutsch-Französischer Begegnung, Festschrift für JOSEF KUNZ, hg. von RAINER SCHÖNHAAR, Berlin (Schmidt) 1 9 7 3 , 4 3 - 9 4 . Eingehende und umfangreiche Informationen zum gesellschaftlichen Hintergrund der spanischen pikaresken Literatur bieten die folgenden sozialgeschichtlichen Darstellungen der Epoche: MAURIQUE DE ARAGON, Peliglosidad social y picaresca, Barcelona (Colección Aubí) 1 9 7 7 ; MANUEL FERNANDEZ ALVAREZ, La sociedad española en el siglo de oro, Madrid (Editora Nacional) 1 9 8 3 ; JOSÉ ANTONIO MARAVALL, La literatura picaresca desde la historia social (Siglos XVI y XVII), Madrid (Taurus) 21987. Den deutschen Schelmenroman berücksichtigen Ansätze, die versuchen, Entstehung, Gestalt und Gehalt der Pikareske aus Klassengegensätzen oder den Widersprüchen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft zu erklären, und so zu einem historisch und geographisch weiteren Begriff des
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Erkundigungen über das
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Der Schelm eignet sich seine Umwelt an, und der Roman eignet sich die Wirklichkeit an, in der er entsteht. In beiden Fällen bedeutet Aneignung sowohl Nachahmimg als auch Zweckentfremdung von Vorbildern. Lazarillo variiert das Modell, das ihm der blinde Bettler bereitstellt. Wissenserwerb bleibt kein freischwebendes Spiel, weil er auf konkreten räumlichen und zeitlichen Bedingungen beruht. Aneignung bezieht sich auf die Welt in ihrer zeitlichen und räumlichen Gestalt. Deshalb ist auch künstlerische Nachahmung eine Form der Weltaneignung. Denn daß die Wirklichkeit räumliche und zeitliche Gestalt hat, macht sie zugänglich für eine Aneignung durch die Erzählung, die sich ebenfalls in Raum und Zeit erstreckt. Dabei wird Wirklichkeit freilich niemals abgebildet. Die Erzählung ist keine Verdoppelung der Welt, sondern eine Welt für sich. Doch diese Welt ist wie die Welt ihres Autors und ihrer Leser als räumliche und zeitliche Erstreckung von Handlungen strukturiert. Diese gemeinsame Eigenschaft der Realität und der erzählerischen Fiktion hat MICHAEL BACHTIN in den Begriff des Chronotopos (des 'Zeit-Raums') gefaßt. Im Chronotopos des Romans findet die literarische Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raumes statt. Er bildet den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit- und Raum-Beziehungen.47 Chronotopoi sind Orte, an denen Handlungen eine bestimmte räumliche und zeitliche Gestalt haben, sie sind Organisationszentren für Ereignisse. Wie ist das zu verstehen?
Schelmenromans kommen, etwa DIETER ARENDT, Der Schelm als Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums, Vorarbeiten zu einer literatursoziologischen Analyse der Schelmenliteratur, Stuttgart (Klett) 1 9 7 4 ; JAN KNOPF, Frühzeit des Bürgers, Erfahrene und verleugnete Realität in den Romanen Wickrams, Grimmelshausens, Schnabels, Stuttgart (Metzler) 1978. Ein Teil der germanistischen Barockforschung hat sich mit der von ALEWYN inaugurierten Realismusdebatte um BEER und GRIMMELSHAUSEN befaßt: RICHARD ALEWYN, "Der Roman des Barock" ( 1 9 6 3 ) : HEIDENREICH, Pikarische Welt 3 9 7 - 4 1 1 , hier 3 9 9 ; RICHARD ALEWYN, "Realismus und Naturalismus": RICHARD ALEWYN (Hg.): Deutsche Barockforschung, Köln, (Kiepenheuer und Witsch) 1 9 6 5 , 3 5 8 - 3 6 9 ; R O L F T A R O T , "Grimmelhausens Realismus": Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730, Festschrift filr GUNTER WEYDT, hg. von WOLFDIETRICH RASCH, HANS GEULEN und KLAUS HABERKAMM, Bern/München (Franke) 1 9 7 2 , 2 3 3 - 2 6 5 . UWEBÖKER, "Erzählerischer Realismus und Barockstil in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch": Neuphilologische Mitteilungen 75 ( 1 9 7 4 ) 3 3 2 - 3 4 8 ; GUNTHER WEYDT, "Wirklichkeit und Dichtung im Simplicissimus": Daphnis 5 ( 1 9 7 6 ) 1 8 7 - 1 9 8 ; ITALO MICHELE BATTAFARANO, "Die Schildwacht bei Hanau. Beitrag zur Definition des Realismus bei Grimmelshausen", Annali - Studi Tedeschi ( 1 9 7 6 ) 7 - 2 1 ; HANS GEULEN, "Wirklichkeit und Realismus in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch": Argenis 1 ( 1 9 7 7 ) 3 1 - 4 0 ; GERT HILLEN, "Prolegomena zu einer Analyse des Abentheuerlichen Simplicissimus aus literatursoziologischer Sicht": HOFFMEISTER, Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext 7 9 - 9 2 ; J.M. RITCHIE, "Grimmelshausen's Simplicissimus and The Runegate Courage": WITHBOURN, Knaves and Swindlers 4 8 - 7 3 ; ROBERT P.T. AYLETT, The Nature of Realism in Grimmelshausen's Simplicissimus Cycle of Novels, Bem/Frankfiirt a.M. (Lang) 1 9 8 2 ; CHRISTOPH SCHWEITZER, "Grimmelshausen und der realistische Roman": Handbuch des deutschen Romans, hg. von HELMUT KOOPMANN, Düsseldorf (Schwann) 1 9 8 3 , 8 0 - 8 9 . Vgl. MICHAIL M. BACHTIN, Formen der Zeit im Roman, Untersuchungen zur historischen Poetik, deutsch von MICHAEL DEWEY, Frankfurt am Main (Fischer Tb. Wissenschaft 7418) 1989, 7.
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Weg des Schelmen und Orte der Handlung
Ein Blick auf die Episoden um Lazarillo und den blinden Bettler mag helfen, die Aneignung von Raum und Zeit im literarischen Chronotopos nachzuvollziehen. Vor seinem schmerzhaften Erlebnis mit dem steinernen Stier hat Lazarillo das Haus der Mutter verlassen und ist mit seinem Lehrmeister zur Stadt hinausgezogen. Diese Stadt heißt in der Erzählung Salamanca und verweist damit auf einen geographischen Ort im zeitgenössischen Spanien. Vor der Stadt Salamanca gibt es offenbar eine Brücke, wo die Tierstatue zu sehen ist.48 Mit diesen Angaben situiert die Erzählung die Handlung in einem historisch-geographischen Raum, der einer Nachprüfung vor Ort zugänglich ist. Zugleich aber führt sie den Helden in die literarische Grundsituation des Weges. Mit dem Chronotopos des Weges verbindet sich in der literarischen Tradition das Schicksal des Helden, sein Vorwärtsschreiten zu einem Ziel. Darüber hinaus bietet der Weg die Gelegenheit für vielfältige Begegnungen.49 In einer Erzählung kann dieses Grundmuster auf verschiedene Weise umgesetzt werden. So läßt sich eine allegorische Lebensreise denken, die von ihrem Ziel her bestimmt ist und die Begegnungen des Helden künstlich auf dieses didaktische Ziel hin arrangiert. Auch der Lazarillo spielt ironisch mit dem Modell des exemplarischen und abstrakten Weges, indem er die Lehrzeit bei dem Blinden als tugendlich Vorbild bezeichnet, durch das der Held sich aus niedriger Lage in die Höhe gearbeitet habe.50 Doch ist der Weg in den Episoden um Lazarillo und den Blinden weniger von moralischen Mustern und abstrakten Zielen her bestimmt als von äußeren Notwendigkeiten. Lazarillo und der Blinde begeben sich auf ihren Weg, um sich ihren täglichen Lebensunterhalt zu verdienen. Etwa als Gang durch eine Stadt, in der an verschiedenen Orten Almosen gesammelt werden, gewinnt der Weg Konturen.51 Ein solcher Ort ist die Kirche, die mit dem Strom ihrer frommen Besucher zu bestimmten Zeiten das Betteln profitabel macht.52 Der Ort wird durch die Zeitrhythmen seiner Besucher bedeutungsvoll, er wird zum Chronotopos der Romanhandlung. Auch in der Schlußepisode des ersten Kapitels, als Lazarillo den Blinden an einen Pfeiler springen läßt, ist der Weg der Figuren von materiellen Notwendigkeiten bestimmt. Sie sind wegen starken Regens auf der Suche nach einer Herberge, die ihnen Zuflucht für die Nacht bieten soll.53 Die Herberge ist genauso wie die Kirche, doch auf ganz andere Weise, ein Ort, an dem zu bestimmten Zeiten Menschen zu bestimmten Tätigkeiten zusammenkommen. Von diesen Orten, die durch ihre zeitliche Struktur zu Kristallisationspunkten der Handlung werden, ist der Weg des Schelmen gesäumt. Bereits der umfassende Chronotopos des Weges im ersten Kapitel der Lazarillo-Er" " 50 51 31 33
Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tonnes" I, 13; Lazarillo de Vgl. BACHTIN, Formen der Zeit im Roman 23 und 192-195. Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes" I, 14; Lazarillo de Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes" I, 22; Lazarillo de Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes" I, 14; Lazarillo de Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes" I, 23; Lazarillo de
Tormes I, 22. Tormes Tormes Tormes Tormes
I, 24. 1,44. 1,26. I, 44.
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Erkundigungen
über das
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Zählung bietet das Ensemble der kleinen Chronotopoi,54 die namentlich in den spanischen Schelmenromanen handlungsbestimmend sind: das feste Haus, das zu Beginn verlassen wird und doch das Ziel des Helden bleibt, die Kirche als lukrativer Ort für Geschäfte und die Herberge als Ort der Begegnungen und der Unterkunft.55 Die Handlungsform des Schelmenromans, die Orientierung des Helden an den Überlebensbedingungen seiner Umwelt, bedingt offenbar die Einbeziehung solcher handlungsrelevanter Orte. Im Schelmenroman nähert sich der Chronotopos des Weges dem geographisch lokalisierbaren Weg im zeitgenössischen Reisebericht und dem Lebensweg an, wie er für die frühneuzeitlichen Autobiographien bestimmend ist. Er verweist damit auf die Realität des Lebensraumes, den sich die Texte aneignen. Das Vorwärtsschreiten der Erzählung bildet die Fortbewegung des Helden ab, Mobilität in Raum und Zeit sind zugleich Thema und strukturelles Prinzip der Romane. Daraus ergibt sich die These meiner Arbeit, daß nämlich diese innerliterarische Grundbewegung einer gesellschaftlichen Realität, der verstärkten räumlichen und sozialen Mobilität in der Frühen Neuzeit, entspreche. Der Raum des Schelmenromans erschließt sich durch eine doppelte Bewegung, durch die Reise des Helden und den Bericht des Erzählers. Der Held bereist einen Raum, indem er sich auf bestimmte Stationen zubewegt, sich dort aufhält und sie wieder verläßt. Im nachhinein läßt sich sein Weg anhand dieser Stationen rekonstruieren. Durch die Erzählung wird die Reise des Helden zur Wegbeschreibung, zum Itinerar, das dem Leser erlaubt, den Weg sozusagen noch einmal zu erleben. Die Wegstationen lassen sich auf einer Karte veranschaulichen und zum Weg verbinden. Etwa bei RICHARD BJORNSON findet sich der Reiseweg Lazarillos von Salamanca nach Toledo auf einer Karte dargestellt.56 Dadurch wird die Reise des Helden in den Erfahrungsraum vieler anderer Reisender übersetzbar. Die individuelle Erfahrung läßt sich nun verallgemeinern. Im Schelmenroman selbst verteilt sich die doppelte Bewegung von Erleben und Nachvollzug auf das erlebende und das erzählende Ich. Das Erzähler-Ich eignet sich die eigene Lebensreise im Nachvollzug an und arrangiert sie durch den Erzählvorgang. Dabei kann es entweder aus der Perspektive des erlebenden Ich berichten oder in bewußte Distanz gehen, die sich aus dem nachträglichen Überblick über den Lebensweg ergibt. Das Erzähler-Ich " 33
"
Zur Differenzierung zwischen den großen, umfassenden und wesentlichen Chronotopoi und der großen Zahl von kleinen Chronotopoi vgl. BACHTIN, Formen der Zeit im Roman 202. Vgl. die Aufzählung der lieux de passage im Lazarillo bei JEAN WEISGERBER, "A la recherche de l'espace romanesque, Lazarillo de Tornes, Les aventures de Simplicius Simplicissimus et Moll Flanders": Neohelicon 3 (1975) 209-227, hier 221. Daß sich Wirklichkeit freilich auch auf Literatur bezieht, erhellt daraus, daß die 1885 zerstörte Figur anläßlich der Vierhundertjahrfeier des Lazarillo 1954 neugeschaffen und 1974 an ihren heutigen Standort an der Brücke in Salamanca gebracht wurde. Vgl. den Stellenkommentar bei Rico, Lazarillo de Tormes I, 22. Vgl. RICHARD BJORNSON, The Picaresque Hero in European Fiction, Madison (The University of Wisconsin Press) 1977, 27.
Raum im Schelmenroman: Chorographie und Geographie
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wird zum Brennpunkt zwischen der besonderen Erfahrung und ihrer Verallgemeinerung, zwischen Aneignung und Entfremdung. Diese beiden Aneignungsgesten kann man in Anlehnung an PTOLEMAEUS als Chorographie und Geographie bezeichnen. Der antike Kosmograph, dessen Werke in der Frühen Neuzeit häufig gelesen und übersetzt wurden, beginnt seine Geographia nämlich mit der Abgrenzung der Geographie, die als bildliche Darstellung der gesamten Welt auf der Relation der Entfernungen beruht, von der Chorographie, die die Einzelheiten des beschriebenen Raumes auch bei den kleinsten denkbaren Orten wie Häfen, Weilern, Dörfern, Flußläufen und dergleichen wahrnimmt. Im Gegensatz zur chorographischen Intention auf die qualitativen Unterschiede zwischen Regionen ist die Geographie als mathematische Wissenschaft an Quantitäten, Proportionen und Dimensionen interessiert." Man könnte also sagen, daß der Chorograph in der Landschaft steht, während sich der Geograph über sie erhebt, sich von ihren Einzelheiten entfernt und diese nur im Hinblick auf ein großes Ganzes wahrnimmt. Daß die begriffliche Scheidung des PTOLEMAEUS zwischen Chorographie und Geographie in der Frühen Neuzeit wieder verstärkt aufgegriffen wurde, bringt das Mißverhältnis zwischen der Alltagserfahrung der Menschen und den Methoden von Wissenschaft, Ökonomie und Politik zum Ausdruck. Denn die Geographie wird zum Inbegriff einer Weltaneignung, die von ihren Gegenständen erst einmal Abstand nehmen muß, um sie in ihrer Gesamtheit in den Blick zu bekommen. Wenn der Erzähler im Schelmenroman vor dem unlösbaren Problem steht, das Ganze seines Lebens darzustellen, hat er damit an der Grundproblematik seiner Epoche teil. Nehmen wir nur eine technische Innovation der Frühen Neuzeit, die kartographische Projektion.58 Die Tatsache der Unabbildbarkeit der kugelförmigen Erde auf der Fläche der Landkarte ließ die Kartographen zu Methoden der kontrolliert verfremdeten Abbildung der Realität greifen. Denn das Erkenntnisinteresse der seefahrenden Nationen ging dahin, die genauen Abstände der Orte voneinander zu kennen, und konnte deshalb andere Aspekte der Realität - die richtigen Proportionen der "
"
Vgl. Libri [...] GEographiœ Cl. Ptolemœi a plurimis uiris utriusque linguœ doctiss. emendata: & cum archetypo graco ab ipsis collata. Rom 1508, I, 1/2. Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: 2° Da 1596/30 Rara. Zum historischen Status der chorographischen Perspektive vgl. RICHARD HELGERSON, "The Land speaks. Cartography, Chorography, and Subversion in Renaissance England": Representations 16 (1986) 51-85. Vgl. zur Geschichte der Kartographie G R CRONE, Maps and their Makers, An Introduction to the History of Cartography, London (Hutchinson's) 1953; P. D. A. HARVEY, The History of Topographical Maps: Symbols, Pictures and Surveys, London (Thames and Hudson) 1980; NORMAN J. W.THROWER, Maps & Man, An Examination of Cartography in Relation to Culture and Civilization, Englewood Cliffs, N.J. (Prentice Hall) 1972; CHANDRA MUKERJI, "A New World-Picture: Maps as Capital Goods for the Modern World System": From Graven Images, Patterns of Modern Materialism, New York (Columbia University Press) 1983, 79-130. Eine lebendige Einführung gibt das populärwissenschaftliche Buch von DANIEL J. BOORS™, Die Entdecker, Basel/Boston/Stuttgart (Birkhäuser) 1985.
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Erkundigungen über das
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Landmassen etwa - vernachlässigen. Projizierendes Handeln ist also interessegeleitetes Auflegen eines theoretisch vorgängigen Rasters auf die Realität.59 Die Gesetzmäßigkeiten einer solchen Realitätsaneignung liegen nicht in der angeeigneten Realität, sondern im aneignenden Subjekt. Der geographische Gestus, die Darstellung des Ganzen aus einem distanzierten Blickwinkel, beruht auf dem Verfahren der Projektion, das sich die Gegenstände unterwirft.
Gft^raphia
1'mfmUituir
Abbildung 1: Geographiain Apianus' Cosmographia, Köln 1574. Repro der ULB Bonn nach ihrem Exemplar, Signatur O 381.
Der Schelmenroman bringt jedoch mit seiner Doppelperspektive zum Ausdruck, daß die Herrschaft des distanzierten Überblicks niemals vollständig sein kann, sondern auf die Besonderheit der Gegenstände zurückgeworfen wird. Geographie und Chorographie sind wechselseitig aufeinander bezogen und deshalb nirgendwo rein verwirklicht. Diese Wechselbeziehung findet sich in der Cosmographia von PETRUS APIANUS und GEMMA FRISIUS von 1 5 7 4 versinnbildlicht, wo der geographischen Darstellung einer Weltkarte das Abbild eines Gesichts zugeordnet wird, während der chorographischen Darstellung einer Stadt einzelne Sinnesorgane wie Ohr und Auge beigefügt sind.60 "
60
Zum projizierenden Verfahren in der Frühen Neuzeit vgl. HARALD STEINHAGEN, "Dichtung, Poetik und Geschichte im 17. Jahrhundert, Versuch über die objektiven Bedingungen der Barockliteratur": HARALD STEINHAGEN / BENNO VON WIESE, Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, Ihr Leben und Werk, Berlin (Schmidt) 1984, 9-48, hier 41-48. Vgl. COSMOGRAPHIA PETRI APIANI, PER GEMAM FRISIVM [...] aucta & annotationibus marginalibus illustrata. Additis eiusdem argumenti libellis ipsius Gemœ Frisij. Köln 1574. Be-
Raum im Schelmenroman:
Chorographie und Geographie
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Die einzelne Besonderheit kommt wie das einzelne Ohr oder Auge niemals isoliert vor, sondern wird bestimmt von Zusammenhängen, die sich erst aus der Distanz erkennen lassen. Doch wird bei APIANUS/FRISIUS auch sinnfällig, daß die Zusammenhänge nicht ohne konkrete Einzelheiten denkbar sind. Ohne Augen, Nase, Mund, Stirn und Wangen kann es auch kein Gesicht geben. Die kosmographische und geographische Konstruktion kegel- und kugelförmiger Räume folgt, wie bei APIANUS und FRISIUS ZU sehen ist, mathematischen Gesetzen, doch bleibt sie an die physischen Realitäten des Objekts und des Auges gebunden.
Chotogrtfhid.
EimßmiHtudt.
Abbildung 2: Chorographia in Apianus' Cosmographia, Köln 1574. Repro der ULB Bonn nach ihrem Exemplar, Signatur O 381.
nutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: O 381.
Abbildung 3: Mathematische Konstruktion des Raumes in Apianus' Cosmographia. Repro der ULB Bonn nach ihrem Exemplar, Signatur O 381.
Raum im Schelmenroman: Chorographie und Geographie
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Der erzählte Raum im Schelmenroman entfaltet sich in der Spannung zwischen dem sozusagen geographischen Überblick des Erzählers und dem begrenzten, sozusagen chorographischen Horizont des erzählten Helden. Das wird schon deutlich bei einem Blick auf das Abschlußkapitel des Lazarillo, in dem der noch heute andauernde Jetztzustand des Erzählers Lázaro beschrieben wird. Am Schluß ist Lázaro zum öffentlichen Ausrufer in Toledo und damit zu einem - wenn auch bescheidenen - Teil der Obrigkeit geworden. Sein Verhältnis zum angeeigneten Raum der Stadt bestimmt sich durch seine nahezu geographische Überschau über die Stadt als ganze. Der Erzähler betont, daß fast alles, was irgendwie mit meinem Amt zu tun hat, durch meine Hände geht, ja wenn jemand in der Stadt Wein oder sonst etwas zu verkaufen hat, so meint er, kein vorteilhaftes Geschäft zu machen, wenn Lazarillo von Tormes sich der Sache nicht annimmt.61 Diese gesicherte, privilegierte Position, die sich auch in dem festen Häuschen manifestiert, das sein geistlicher Gönner ihm gemietet hat, unterscheidet sich stark von der ungesicherten Perspektive des bettelnden Hungerleiders Lazarillo, der durch rasche Ausweichbewegungen den Blicken der Obrigkeit zu entkommen suchte. Denn mit der Stellung des Ausrufers in Toledo, die Lázaro im Abschlußkapitel innehat, bekleidet er gerade das Amt, dessen Maßnahmen den Lazarillo des dritten Kapitels in seiner Existenz bedroht haben. Dort heißt es: Da es hierzulande ein schlechtes Jahr und das Brot knapp war, wurde im Rat beschlossen, alle armen Fremden aus der Stadt zu weisen, und man ließ ausrufen, daß jeder von ihnen, den man hinfort erwische, die Prügelstrafe zu gewärtigen habe. Und wirklich sah ich, vier Tage, nachdem der Ausruf ergangen war, wie man den Spruch vollzog und einen Zug Bettler mit Stockhieben durch die Gassen trieb.61
Die Obrigkeit bemächtigt sich - erst in Gestalt der Ausrufer, dann in Gestalt der prügelnden Büttel - des Raumes und vertreibt die Fremden, zu denen auch Lazarillo zählt. Der Raum der Stadt wird zum feindlichen Gebiet, in dem bereits seine physische Präsenz den Schelmen gefährdet. Gerade diese Gefahrdung aber verlangt die Genauigkeit des chorographischen Blicks, um Schlupflöcher in den Maschen der obrigkeitlichen Kontrolle zu finden.63 Der erzählte Held des dritten Kapitels muß wünschen, den Beamten der Stadt durch die Hände zu schlüpfen, während der Erzähler des Abschlußkapitels hofft, daß ihm keine Bewegung in der Stadt entgeht. Aus zwei Blickwinkeln wird die Stadt Toledo erzählerisch präsentiert: Der Bettler Lazarillo registriert die Einzelheiten der Gassen und Schlupfwinkel sozusagen chorographisch, der Beamte Lázaro hingegen verschafft sich einen quasi-geographischen Überblick über das zu verwaltende Gebiet. Während dem Erzähler Lázaro am Schluß 61
" 63
"Das Leben des Lazarillo von Tormes" VII, 62; Lazarillo de Tormes VII, 129/130. "Das Leben des Lazarillo von Tormes" III, 46/47; Lazarillo de Tormes III, 92/93. Zum relief tolédan und zum caractère physique, matériel, sensoriel der indications spatiales im dritten Kapitel des Lazarillo vgl. WEISGERBER, "A la recherche de l'espace romanesque" 213.
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Erkundigungen über das
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das feste Bild seiner Lebensreise als ausgestandene Mühsal und Not64 vor Augen steht, von der er sich nun distanzieren und ausruhen möchte, muß der Held des dritten Kapitels seine physische Präsenz im Raum mit den bedrohlichen Rahmenbedingungen ständig abstimmen und versuchen, seine materielle Existenz immer neu zu sichern. Die physische Anwesenheit des Helden im Raum und die sinnlich-materielle Qualität der Landschaft, die bereits JEAN WEISGERBER im Lazarillo beobachtet hat,65 ist untrennbar von der Lebensgeschichte des Helden, die ihrerseits wieder mit der zeitlichen Ordnung der von ihm aufgesuchten Plätze verknüpft ist. Räume und Zeiten stehen in einer Wechselbeziehung, verschmelzen zum Chronotopos. Deshalb läßt sich auch die Struktur des Lazarillo nicht als puramente temporal bezeichnen, wie es CLAUDIO GUILLEN getan hat.66 Wenn GUILLEN drei Zeitebenen im Lazarillo unterscheidet - die Zeit der Erzählung, die chronologische Zeit unabhängig von der Person und die persönliche Zeit des Helden - so kann dieses nützliche Modell auch für eine chronotopische Analyse anderer Schelmenromane genutzt werden.67 Es muß jedoch im Hinblick auf die räumliche Qualität der Zeiten zugleich genauer gefaßt und erweitert werden. Ich kehre noch einmal in das Toledo des dritten Kapitels zurück, wo Lazarillo seinen und den Lebensunterhalt seines verarmten edlen Herren durch Betteln bestreitet, bis der Ratsbeschluß gegen die Fremden diese Erwerbsmöglichkeit verhindert. Das Kapitel ist durch eine Reihe von Zeitangaben strukturiert, die GUILLEN der chronologischen, astrologischen oder öffentlichen Zeit zuordnet. Diese Stunden, Tage und Jahre würden von Instrumenten außerhalb des Menschen gemessen. Am zutreffendsten scheint mir in GUILLENS Klassifikation die Bezeichnung öffentliche Zeit zu sein. Denn die Zeitangaben binden sich an eine durch Kalender oder Uhren sozial geregelte Zeit. Es ist also nicht allein die Zeit bestimmter Instrumente, an denen sich der Erzählvorgang orientiert, sondern zugleich die Zeit des Kollektivs, das zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten bestimmte Handlungen vornimmt. Da betritt etwa der verarmte Edelmann um Schlag elf Uhr den Dom, wo er an der Messe und weiteren Gottesdiensten teilnimmt.68 Gleichwohl verweist die häufig erwähnte öffentliche Uhr auf bestimmte Handlungsformen und -möglichkeiten des einzelnen, die sich erst mit der mechanischen Zeitmessung ergeben. Zwar bestimmt die Uhr kollektive Lebensvollzüge wie etwa den Kirchgang, doch ist sie nicht an bestimmte Handlun64 63
" 67
"
Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes" VII, 62; Lazarillo de Tormes VII 128,. Vgl. WEISGERBER, "A la recherche de l'espace romanesque". Vgl. CLAUDIO GUILLÉN, "La disposición temporal del Lazarillo de Tormes": Hispanic Review 25 (1957) 264-279, hier 268, Anm. 11. Vgl. zum folgenden GUILLÉN, "La disposición temporal del Lazarillo de Tormes" 272. Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes" III, 37; Lazarillo de Tormes III, 73.
Zeit im Schelmenroman: Chronologie, Timing, Projektion
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gen gebunden wie die Kreisläufe der Natur, die in der Landwirtschaft die Tätigkeit von Säen, Ernten, Füttern und Melken geradezu erzwingen. Die Uhr ist von bestimmten Handlungen unabhängig und macht deshalb den planerischen Umgang mit Zeit möglich. So ist die Zeit des Helden im dritten Kapitel des Lazarillo bestimmt von seinem Timing. Lazarillo ist aus der aufgabenorientierten Zeit- und Lebensordnung der agrarischen Gesellschaft herausgefallen und muß die öffentlich geregelte Zeit für seine privaten Interessen zweckentfremden. Der Bettler nutzt die festgesetzten Stunden nicht dazu, offiziell erwünschte oder vorgeschriebene Handlungen vorzunehmen, sondern Gelegenheiten für seine unerwünschte Tätigkeit zu finden. Das bedeutet für die chronologische Zeit der Erzählung, daß sie nie unabhängig vom Menschen abläuft, sondern im Gegenteil eine vom Individuum angeeignete Zeit ist. Und für die persönliche Zeit des Helden heißt dies, daß sie nicht lediglich psychologische Zeit seiner inneren Entwicklung ist, wie GUILLEN formuliert, sondern Aneignungszeit, innerhalb derer der Held sein Leben bestreiten muß und die ihn an seinen Lebensraum bindet. Welche Zeiten der Held intensiver erlebt als andere, hängt etwa vom zentralen Motiv des Hungers ab, von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit also, sich Lebensmittel anzueignen. Die Erzählung bringt diese Intensivierung der Zeit zum Ausdruck, indem sie die Stunden des Hungers durch Dehnung der Erzählzeit veranschaulicht, während sie andere Zeiten rafft oder ausläßt. Gleich zu Beginn des dritten Kapitels im Lazarillo werden die Stunden vom Kirchgang des Edelmannes um elf Uhr bis zur versäumten Zeit des Mittagessens um zwei Uhr gestreckt, indem die Räume des Geschehens eingehend beschrieben werden.69 Damit wird das Erlebnis des Helden Lazarillo vergegenwärtigt und zugleich dem Erzähler Lázaro ein souveräner Zugriff auf die vergangene Lebenszeit ermöglicht. Der Erzähler entscheidet, welche Zeiten besonderer Aufmerksamkeit wert sind. Ich sagte ja bereits, daß der Erzähler im Schlußkapitel die ausgestandene Mühsal und Not zur Folie für seinen Jetztzustand als städtischer Ausrufer macht.70 GUILLEN spricht von einer Projektion, ja einer Autoprojektion der Person in die Zeit. Nicht nur von der Gegenwart aus, sondern auch mit ihr konstruiere sich der Erzähler eine Vergangenheit. Dies bedeute, daß der erwachsene und reif gewordene Lázaro gleichzeitig zentrale Person und Erzähler des Lazarillo sei. Demnach müßten alle erzählten Ereignisse vom Standpunkt des Erzählers Lázaro aus beurteilt werden. Diese Privilegierung der Erzählerebene, die den Horizont des Erzählers zum normativen Bezugsrahmen macht, bestimmt auch die Interpretationen anderer Schelmenromane, vor allem, wenn der Erzähler eine moraldidaktische oder spirituelle Position einnimmt. Es ist aber für den Lazarillo hinreichend deutlich geworden, daß die verschiedenen Ebenen der Zeiten und Räu® 70
Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes" III, 37/38; Lazarillo de Tormes III, 73/74. Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes" VII, 62; Lazarillo de Tormes VII 128,.
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Erkundigungen über das
Untersuchungsgebiet
me in einem komplexen Aneignungsgeschehen miteinander verknüpft sind, so daß gerade der beschränkte chorographische Horizont des Helden und das Timing seines täglichen Überlebenskampfs zur kritischen Folie für den geographischen Überblick und die nachträglichen Wertungen des Erzählers wird. Deshalb kann der Widerspruch zwischen dem öffentlichen Ausrufer des Schlußkapitels und dem Opfer öffentlicher Bekanntmachungen im dritten Kapitel des Lazarillo nicht einfach zugunsten des arrivierten Erzählers entschieden werden. Auch für andere Schelmenromane gilt, daß der Horizont des Erzählers keinen unhintergehbaren Rahmen für die Beurteilung des Geschehens abgibt. Der Erzähler ist als unreliable narrator eine zweifelhafte Instanz, deren Bewertungen mit den Erfahrungen des Helden und einer widersprüchlichen Wirklichkeit kollidieren. Die Weltaneignimg des Helden und die Weltkonstruktion des Erzählers müssen immer wieder mit ihren Gegenständen konfrontiert werden, um die produktive Spannung zu rekonstruieren, die zwischen den verschiedenen Ebenen der pikaresken Ich-Erzählung herrscht. *
Meine Untersuchung rekonstruiert die historischen Räume, in denen die Romane entstanden sind, und parallel dazu die werkimmanenten Chronotopoi analysiert, um sie als Aneignung der historischen Räume zu interpretieren. Es gilt, Literatur einerseits als soziale Handlung aufzufassen und andererseits die Trennung zwischen der angeeigneten Wirklichkeit und der erzählten Welt aufrechtzuerhalten. Das literarische Werk geht niemals in den gesellschaftlichen Kontexten auf, es bezieht seine historische Erkenntnisfunktion vielmehr aus seinem poetischen Widerstand gegen die Verhältnisse. Das bedingt eine Darstellungsweise, die sich elliptisch zwischen den Spannungspolen von Realität und Fiktion bewegt. Ausgangspunkt ist jeweils eine historische Szene, die als Einstieg in das Umfeld des Romans dient. Der soziale Raum, in dem der Roman entstanden ist, soll durch eine dichte Beschreibung möglichst genau rekonstruiert werden, um das literarische Werk in seinen regionalen und lokalen Handlungs- und Funktionsbereichen zu orten.71 Dieses Herangehen teilt meine Arbeit mit historischen Untersuchungen der französischen Annales-Schule, etwa denen von EMMANUEL L E ROY LADURIE, sowie mit literaturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Studien des amerikanischen New Historicism, etwa denen von STEPHEN GREENBLATT.72 Beide Ansätze, sowohl die fran" 72
Vgl. D I C K VAN STEKELENBURG, Michael Albinus 'Dantiscanus' (1610-1653), Eine Fallstudie zum Danziger Literaturbarock, Amsterdam (Rodopi) 1988, 10/11. Direkten Zugang zu den Studien der französischen Sozialgeschichtsforschung gewährt die Zeitschrift Annales, dasselbe gilt für die amerikanische Literatur- und Kunstgeschichte und die Zeitschrift Representations. Ober die Annales-Schule informiert ein Sammelband von C L A U D I A H O N N E G O E R (Hg.), M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u.a., Schrift und Materie der Geschichte,
Historische Einstiege: dichte Beschreibung sozialer Räume
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zösische Sozialgeschichte als auch die amerikanische Literatur- und Kunstgeschichte, sind dabei nicht so sehr als Theorien zu verstehen, denen meine Arbeit verpflichtet wäre. Die Nähe ergibt sich vielmehr aus einer gemeinsamen Problemstellung, nämlich der Überlieferung historischer Prozesse durch interpretationsbedürftige Texte auf der einen Seite und der Fundierung literarischer Werke in kulturellen und gesellschaftlichen Praktiken auf der anderen Seite. Literatur ist nach der gemeinsamen Voraussetzung dieser Ansätze historisch, und Geschichte ist textuell.73 Das heißt nicht, daß Geschichte lediglich eine literarische Fiktion wäre, sondern daß der Zugang zu ihr nur über Texte möglich ist. New Historicism in der Literaturwissenschaft stellt also keine in sich geschlossene Literaturtheorie oder Geschichtsphilosophie dar, sondern ein neu erwachtes Interesse an der Geschichtlichkeit literarischer Werke und einen Widerstand gegen die unhistorische Auflösung der Literatur in freischwebende Zeichen, die sich ihrerseits immer wieder nur auf Literatur bezögen. So verwahrt sich ein neues Geschichtsbewußtsein in der Literaturwissenschaft gegen die Abschaffung der wirklichen Welt durch die Literaturtheorie und die Vertreibung der wirklichen Menschen aus der Literatur.74 Die historischen Szenen, die zu Beginn meiner Werkinterpretationen jeweils einen Einstieg in das Umfeld der Schelmenromane ermöglichen sollen, beziehen sich auf ein scheinbar unbedeutendes Geschehen am Rande der großen Ereignisse. Dieser Zugang birgt freilich nicht nur Chancen, sondern auch Risiken. Das Kriegstagebuch eines Abtes in Oberbayern, die privaten Briefe eines Hamburger Kaufmanns, die Eingaben eines südwestdeutschen Schultheißen und der Lebensbericht eines sächsischen Hofmusikus stellen interessante alltagsgeschichtliche Dokumente dar, doch ist ihr Belang für die besproVorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp 814) 1977. Eine exemplarische Studie dieser Schule, die vom städtischen und ländlichen Rahmen eines fnlhneuzeitlichen Aufstands ausgeht, ist etwa EMMANUEL LE ROY LADURIE, Karneval in Romans, Eine Revolte und ihr blutiges Ende 1579 - 1580, München (Deutscher Taschenbuch Verlag/Klett-Cotta) 1989. Ober den New Historicism informieren drei Sammelbände: H. ARAM VEESER (Hg.), The New Historicism, New York/London (Routledge) 1 9 8 9 ; H. ARAM VEESER (Hg.), The New Historicism Reader, New York/London (Routledge) 1 9 9 4 ; MORITZ BÂCLER (Hg.), New Historicism, Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt am Main (Fischer Tb. Wissenschaft 1 1 5 8 9 ) 1 9 9 5 . Für meine Arbeit habe ich vor allem auf folgende Studien aus dem Bereich des New Historicism zurückgegriffen: RICHARD HELGERSON, "The Land speaks, Cartography, Chorography, and Subversion in Renaissance England": Representations 1 6 ( 1 9 8 6 ) 5 1 - 8 5 ; SVETLANA ALPERS, The Art of Describing, Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago (University of Chicago Press) 1 9 8 3 ; StEPHEN GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer, Die Erfindung des Fremden, Reisende und Entdecker, deutsch von ROBIN C a c K E r r , BERLIN (WAGENBACH) 1 9 9 4 . 73
74
Vgl. MORITZ BABLER, "Einleitung": New Historicism, Literaturgeschichte als Poetik der Kultur 7-28, hier 9-13. So reagiert etwa StEPHEN GREENBLATT auf die Auflösung von Geschichte in Sprache in PAUL DE M A N S Interpretation von WALTER BENJAMIN. GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer 8 1 , legt bei DE MAN die verschwiegene Geschichte wirklicher Menschen offen, die Geschichte, die sich nicht in einer rein 'sprachlichen Komplikation' erschöpfte, die Geschichte, die zu Benjamins Selbstmordführte.
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chenen Werke und ihre exemplarische Bedeutung fur die Epoche damit keineswegs ausgemacht. Zunächst einmal erlaubt ein solcher Zugang - ganz im Sinne des New Historicism als Poetik der Kultur - die Formen sozialer und künstlerischer Repräsentation näher kennenzulernen, innerhalb derer die einzelnen Werke eine Funktion hatten.75 Es zeigt sich, daß künstlerische Ausdrucksformen in engem Zusammenhang mit den Praktiken in Wissenschaft, Ökonomie und Politik stehen. Auch das literarische Werk vermittelt Kenntnisse über eine wissenschaftlich angeeignete, politisch eroberte und ökonomisch ausgebeutete Welt. Die kartographische Vermessung der Räume, die mechanische Einteilung der Zeit, die Zuordnung der Räume zu politischen Zentren und die Disziplinierung der Untertanen im Interesse allgemeiner Verläßlichkeit und Rechtssicherheit, schließlich die Motivation des Handelns durch Geschäftsinteressen: All dies teilen die Romanerzählungen mit dem dokumentierten Alltagsleben. Gerade die allegorische Zeichenpraxis, die das Romangeschehen immer wieder mit Vergleichen aus der Mythologie, der Bibel und dem kirchlichen Leben konfrontiert, findet erstaunliche Parallelen in der Veranschaulichung wissenschaftlicher Ergebnisse, der Repräsentation politischer Macht und der moralischen Kontrolle von Geschäftsbeziehungen in der Frühen Neuzeit. Doch ergibt sich aus der dichten Beschreibung dieser Zusammenhänge nicht zwingend, welche besondere Erkenntnisfunktion dem einzelnen Schelmenroman zukommt.76 Die dichte Beschreibung entgeht dem Vorwurf der Willkür und Naivität nicht, dem Einwand also, hier werde den Romanerzählungen lediglich Anekdotisches aus der Alltagskultur hinzugefügt.77 75
76
77
Vgl. StEPHEN GREENBLATT, "Kultur": BABLER, New Historicism, Literaturgeschichte als Poetik der Kultur 4 8 - 5 9 . Die Grenzen der dichten Beschreibung begrenzter sozialer Räume werden mit Blick auf die ethnologischen Ursprünge dieses Konzeptes bei CLIFFORT GEERTZ analysiert von VINCENT P. PECORA, "The Limits of Local Knowledge": VEESER, The New Historicism 2 4 3 - 2 7 6 . PECORA arbeitet heraus, daß der phänomenologische Blick auf soziale Praktiken ohne die Frage nach Einflüssen von außen und institutionellen Herrschaftsverhältnissen notwendig eine reaktionäre und affirmative Sicht der Dinge hervorbringt. Ich möchte mich nicht auf eine Gattungsdiskussion der Anekdote einlassen. Mit dem Begriff werden hier lediglich kleine, ereignishaltige Geschichten aus der Geschichte großen geschichtsphilosophischen Entwürfen entgegengesetzt. Zum anekdotischen Charakter der Geschichtsschreibung seit der Antike vgl. JOEL FINEMAN, "The History of the Anecdote, Fiction and Fiction": VEESER, The New Historicism 4 9 - 7 6 . Zur literarischen Form und ihrer Erkenntnisfunktion vgl. die Bonner Dissertation von VOLKER WEBER, Anekdote, Die andere Geschichte, Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie, Tübingen (Stauffenburg Colloquium 2 6 ) 1 9 9 3 . Für WEBER drückt die Hinwendung zur Anekdote das Unbehagen an einer spezifisch modernen Beschäftigungsweise mit Geschichte aus, an der Abstraktion von lebensweltlichen Bedingtheiten und Kontexten (219). Entscheidend wäre nach WEBER die Differenzierung zwischen Verwendungsweisen, die der Simplifizierung von historischen Zusammenhängen dienen, und solchen, die historisch bedeutsam erscheinen, ohne daß ein explizit formulierbarer Sinn sich sofort erschlösse ( 2 1 5 ) . Von hier aus könnte gefragt werden, ob das anekdotische Detail für Herrschaftszwecke funktional sei oder zu ihrer Infragestellung durch Verunsicherung beitrage.
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Welchen Belang hat also die Geschichte des Schelmen, der Lebensbericht einer Randfigur? Und in welcher Beziehung steht das Werk zum Lebensschicksal von Einzelpersonen im Umfeld seines Entstehens? Die epochale Bedeutung gerade des schelmischen Lebenslaufes ist genauso interpretationsbedürftig wie seine Konfrontation mit anekdotischen Szenen aus dem zeitgenössischen Alltagsleben. Gefragt ist nach einer Theorie, die das unbedeutende Einzelfaktum um seiner selbst willen wichtig nimmt und gerade darin seine exemplarische Bedeutung für die Epoche sieht. Es wäre zu zeigen, daß bereits die materielle Voraussetzung der pikaresken Ich-Erzählung, die leibliche Anwesenheit des Sprechers in der Welt, die Grundlage für eine historische Interpretation enthält. Dazu ein Blick auf ein anekdotisches Detail aus dem Zeitalter der Entdeckungen, das STEPHEN GREENBLATT erwähnt. Er berichtet von den AruakIndianera, die COLUMBUS von seinen Entdeckungsreisen nach Europa brachte und die viele Schaulustige anzogen. GREENBLATT beschreibt die Reaktion des europäischen Publikums: Sie sehen und berühren vielleicht [...] ein Fragment aus einer fernen, einer anderen Welt. Aber natürlich ist es nicht die Welt selbst, die hier gegenwärtig ist; nur ein Splitter dieser Welt, eine Anekdote in Form eines toten oder sterbenden Gefangenen, hat die gewaltige Distanz durchmessen,'8
ist vor allem interessiert an dem Mißverständnis, das die Begegnung der Europäer mit dem fremden Kontinent bestimmt. Sie sehen den einzelnen Körper als isoliertes Detail und integrieren ihn in das System ihrer eigenen Deutungen: Der Entdecker sieht nur ein Bruchstück und malt sich in einem Akt der Aneignung den Rest selbst aus.19 Dieser Akt der Aneignung ist ein Akt der Zerstörung und Verfremdung, der gleichwohl die Selbstentfremdung der Europäer spiegelt. Der geschundene und getötete Fremde hält den europäischen Verhältnissen den Spiegel vor, ohne daß die Europäer dies merken. Das exotische Detail veibindet GREENBLATT mit der vagantischen Wirklichkeit in Europa, indem er ein Zitat aus SHAKESPEARES Sturm heranzieht: Um einem lahmen Bettler zu helfen, würden sie keinen Deut ausgeben, aber um einen toten Indianer zu sehen, lassen sie zehn springen.*0 Der tote Indianer ist das Spiegelbild des lahmen Bettlers. Beide sind auf ihren Körper reduziert und unterscheiden sich nur durch ihren Neuigkeitswert und den damit verbundenen ökonomischen Nutzen fur andere. Die Anschauung des fremden Körpers belehrt das Publikum offenbar nicht. Eine kurzfristige Sensation, deren Bedeutung für die eigene Lebenswirklichkeit peripher bleibt. Ahnlich ergeht es indes auch dem anekdotischen Detail im Geschichtsdiskurs GREEN1 BLATTS. Es wird den 'Großen Erzählungen einer totalisierenden, integrativen, GREENBLATT
Wunderbare Besitztümer 186/187. Wunderbare Besitztümer 187. GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer
™
GREENBLATT,
79
GREENBLATT,
™ Zitiert bei
186.
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Erkundigungen über das
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progressiven Geschichtsschreibung entgegengesetzt. Die Anekdoten zeichnen - so GREENBLATT - die Eigenart des Zufälligen auf, so daß sie eher mit dem Rand verbunden sind als mit dem unbeweglichen und lähmenden Zentrum.*1 Das Verhältnis dieses Randes zum Zentrum, des sterbenden Indianers und des hungernden Bettlers zu den Gesellschaftsstrukturen der Frühen Neuzeit, wird so zum Gegenstand einer relativ beliebigen Konstruktion des (Literar-)Historikers. GREENBLATT konzentriert sich eher auf eine Analyse der Repräsentationspraktiken als auf den Unterschied zwischen wahren und falschen Darstellungen. 82 Eine Anekdote aus dem Völkermord an der amerikanischen Urbevölkerung bringt dagegen TZVETAN TODOROV dazu, die Ebene der Darstellung zum dargestellten Geschehen hin zu durchbrechen. TODOROV stellt seinem Buch über die Eroberung Amerikas die Geschichte einer Mayafrau voran, die von Hunden zerrissen wurde, weil sie ihrem Mann versprochen hatte, keinem anderen zu gehören als nur ihm und sich deshalb den spanischen Eroberern nicht hingeben wollte.83 Im frühneuzeitlichen Bericht des Bischofs DIEGO DE LANDA dient die kurze Episode als Beispiel für die Sittsamkeit der Ureinwohner und damit als moralisches Exempel für die spanischen Leser.84 In TODOROVS Interpretation gewinnt das anekdotische Detail indes eine neue Relevanz. Der Körper der Frau wird zum Zeichen, in dem sich die historische Konfrontation zwischen Europäern und Amerikanern konzentriert. Dabei degradiert TODOROV das Einzelschicksal nicht zum bloßen Fallbeispiel fur die große Geschichte. Die Zeichenfunktion ergibt sich vielmehr daraus, daß die einzelne Person, ihr Körper und ihr Schicksal signifikant sind für das, was mit ihr geschieht. Die Frau in ihrer konkreten Gestalt wird zum Ort, an dem die historische Konfrontation als das Begehren und Wollen zweier Männer real stattfindet. TODOROV sieht sich durch das Schicksal der unbekannten Frau motiviert, die "Wahrheit zu suchen" und sie bekannt zu machend Diese Wahrheit ist für ihn sowohl individuell und konkret als auch strukturell und abstrakt. In der Entdeckung Amerikas äußert sich ein epochaler Wandel, der die europäische Gesellschaft in die Lage versetzt hat, den anderen zu assimilieren, die äußere Alterität zu beseitigen,86 Um diesem Geschichtsprozeß beizukommen, bedarf es nach TODOROVS Einschätzung nicht nur der Nacherzählung des Einzelschicksals, sondern auch der abstrakten Analyse: [...] man muß die Waffen der Eroberung analysieren, wenn man ihr eines Tages Einhalt gebieten will. 87 " E
° " " *®
Vgl. GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer 1 0 / 1 1 . Vgl. GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer 1 7 . Vgl. TODOROV, Die Eroberung Amerikas 7 . Vgl. DIEGO DE LANDA, Bericht aus Yucatán, deutsch von Bibliothek 1 3 4 7 ) 1 9 9 0 , 7 5 / 7 6 . Vgl. TODOROV, Die Eroberung Amerikas 2 9 0 / 2 9 1 . Vgl. TODOROV, Die Eroberung Amerikas 2 9 2 .
ULRICH KUNZMANN,
Leipzig (Reclam-
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Grenzgang zwischen Geschichtserzählung und systematischer Analyse zeigt die Notwendigkeit auf, eine dialektische Theorie zu entwerfen, die sowohl dem Einzelschicksal als auch den Gesellschaftsstrukturen gerecht werden kann. Dieses Schicksal besteht in erster Linie im körperlichen Leiden, in der Not der Bettler genauso wie im Sterben der Indianer, in einem handgreiflichen physischen Geschehen mithin. Ein solches Geschehen um den körperlich leidenden einzelnen Menschen bildet nach THEODOR W. ADORNOS Negativer Dialektik den Ausgangspunkt für eine zugleich materialistische und kritische Theorie.88 Das physische Leiden ist - wie ich ja bereits im Bezug auf Lazarillos schmerzhafte Konfrontation mit dem steinernen Stier darlegte eine verstörende Wirklichkeit, die sich eben nicht nur im Kopf des Theoretikers abspielt. Abstraktes und strukturelles Denken wird in dialektische Bewegung gesetzt durch eine Realität, die nicht bloßes Denken ist. Theorie, die diesen Namen verdient, ist ohne praktische Erfahrung nicht möglich. Die zentrale Wirklichkeitserfahrung besteht aber im Schmerz des leidenden Körpers, der sich ins Bewußtsein drängt und machtvoll nach seinem Aufhören verlangt. Gerade dieser verstörende Anstoß durch das körperliche Leiden fuhrt das Denken notwendigerweise zur Analyse der allgemeinen Verhältnisse. Denn die Realität des Leidens und das Ziel, dieses Leiden abzuwenden, lenken das Denken auf die Strukturen der Gesellschaft, die dieses Leiden verursacht. Theorie, die in solch konkretem Sinne materialistisch ist, als sie das Leiden leibhafter Menschen zur Kenntnis nimmt, ist in ihrer Konsequenz kritische Theorie der Gesellschaft. Das Denken kann aber auch auf diese Widerstände und Widersprüche reagieren, indem es das Leiden wegdiskutiert oder zu einer höheren Notwendigkeit erklärt. So kommt es zum Mythos von den Opfern, die im Interesse des großen Ganzen gebracht werden müssen. Geradezu wie ein Kommentar zur Problemlage des Schelmenromans klingt es, wenn ADORNO - ALFRED SCHMIDT zitierend - schreibt: Solange es noch einen Bettler gibt, gibt es Mythos,89 Vor diese Alternative - entweder Nachvollzug des Mythos von der Notwendigkeit der Opfer oder seine Entmythologisierung durch kritische Theorie der Gesellschaft - wird das Denken durch das körperliche Leiden des einzelnen Menschen gestellt. Im Bezug auf den Schelmenroman heißt dies, entweder die in den Werken ausgetragenen Konflikte im Hinblick auf ein barockes Weltbild als vordergründigen irdischen Schein zu betrachten, der durch eine himmlische Realität mehr als aufgewogen werde, oder diesen Konflikten den Vorrang vor dem geschlossenen Ganzen zu geben. Zwar ist es eine interpretatorische Entscheidung, welchen Standpunkt die theoretische Bemühung den historischen Fakten gegenüber einnimmt. Doch TODOROVS
" " *®
Vgl. TODOROV, Die Eroberung Amerikas 300. Vgl. den Abschnitt "Leid physisch" in THEODOR W. ADORNO, Negative Dialektik, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 113) "1994, 202-204. Zitiert bei ADORNO, Negative Dialektik 203.
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Erkundigungen
über das
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erzwingt bereits das Faktum des Leidens die Entscheidung für den Standpunkt des unterlegenen einzelnen. Gerade das Einzelschicksal verlangt von der Theorie, das Ganze des Geschichtsprozesses kritisch ins Auge zu fassen. Die ermordete Maya-Frau und der sterbende Aruak-Indianer sind nämlich nicht allein Opfer von Zufallen oder von einzelnen Tätern, sie erfahren vielmehr einen epochalen Trend am eigenen Leibe. Offenbar ist das Leiden in Zusammenhängen begründet, die weit über den Horizont des Leidenden hinausgehen. Die anekdotische Episode um den sterbenden Indianer ist Teil einer Katastrophe von epochalen Ausmaßen. Diese Vormacht der Tendenz, die eine Theorie der Geschichte gerade um des einzelnen willen notwendig macht, beschreibt ADORNO im Hinblick auf die Eroberung Amerikas: Selbst die Konquistadorenüberfälle auf das alte Mexiko und Peru, die dort müssen erfahren worden sein wie Invasionen von einem anderen Planeten, haben, irrational für die Azteken und Inkas, der Ausbreitung der bürgerlich rationalen Gesellschaft bis zur Konzeption von one world blutig weitergeholfen, die dem Prinzip jener Gesellschaft teleologisch innewohnt
Welche Konsequenz ergibt sich daraus, daß diejenigen, die Geschichte blutig an ihrem eigenen Leibe erfuhren, ihre Zusammenhänge nicht überschauten? Wird damit ihre Erfahrung und die Anschauung des individuellen Schicksals wertlos? Bleibt der Blick auf den Lebenslauf des einzelnen Schelmen genauso nutzlos wie der Blick der fiühneuzeitlichen Europäer auf den einzelnen Indianer, weil hier nicht die Welt selbst, sondern nur ein Splitter von ihr zu sehen ist? Manches in ADORNOS ästhetischer Theorie, die auf seiner Gesellschaftstheorie aufbaut, weist in diese Richtung. Die gesellschaftlichen Zusammenhänge seien zu abstrakt, um sinnlicher Anschauimg zugänglich zu sein. Dichtung sei unanschaulich. Und die Kunst dürfe nicht auf ihre Anschaulichkeit festgelegt werden, weil sich die Trennung von Anschauung und Begrifflichem der Teilung in Sinnlichkeit und Rationalität, welche die Gesellschaft verübt, unterwerfe.91 ADORNO mißtraut dem phänomenologischen Blick, der Deskription der Fassade, weil er - wie viele Autoren des Barock - dem äußeren Schein zu erliegen furchtet.92 Im Kapitel über AEGIDIUS ALBERTINUS wird sich indes zeigen, daß die Beschreibung der barocken Fassade als Fassade, die Aufdeckung der täuschen90
ADORNO, Negative Dialektik
"
V g l . THEODOR W . ADORNO, Ästhetische
92
297. Theorie,
h g . VON GRETEL ADORNO UND ROLF TŒDEMANN,
Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 2) "1995, 145-154. Eine Auseinandersetzung mit ADORNOS Kritik der Anschaulichkeit versucht GOTTFRIED WILLEMS, Anschaulichkeit, Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils = Studien zur deutschen Literatur 103, Tübingen (Niemeyer) 1989. Für die Frühe Neuzeit entfaltet WILLEMS in Kontinuität zum Mittelalter die Vorstellung eines allegorischen Weltbildes und einer funktional gebundenen Anschaulichkeit. Zur barocken Rhetorik allegorischer Veranschaulichung siehe dort 242-272 und ANDREAS SOLBACH, Evidentia und Erzähltheorie, Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen, München (Fink) 1994. Vgl. ADORNO, Negative Dialektik 206.
Anekdote und epochaler Trend
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den Funktion barocker Architektur, nur in einem Wechselspiel zwischen höchster Anschaulichkeit und Gesellschaftstheorie möglich ist.93 So verbindet sich in meinem Ansatz kritische Theorie der Gesellschaft mit einer Ästhetik körperlicher Sinnlichkeit, wie sie in B A C H T I N S Literaturtheorie formuliert ist. Wohl verlangt das körperliche Leiden des einzelnen einen abstrakten Blick auf die verantwortlichen gesellschaftlichen Strukturen, doch sind diese Strukturen nur von der konkreten Einzelerfahrung her zu kritisieren. Der Schelmenroman, der von der körperlichen Anwesenheit eines Menschen in Zeit und Raum ausgeht, stellt ein Modell für die einzigartige Erkenntnisfunktion der sinnlichen Anschauung dar. Der Körper des Schelmen wird in Anlehnung an B A C H T I N zum Körper-Zeichen - nicht weil er als Zeichen für einen abstrakten fremden Sinn steht, sondern weil die gesellschaftlichen Strukturen in seinem Leib, in seinem Lebensraum und seiner Lebenszeit Gestalt annehmen. 94 In den raum-zeitlichen Bedingungen der Schelmen-Vita, in den Chronotopoi der Erzählung, werden die abstrakten Strukturen der Gesellschaft faßbar und kritisierbar. Das Leben und Leiden einzelner Menschen in der Welt der Frühen Neuzeit, das ist die Wirklichkeit, die sich die Schelmenromane aneignen. Ich beschreibe dieses Aneignungsgeschehen, indem ich einerseits die historischen Räume rekonstruiere und veranschauliche, andererseits aber die literarischen Chronotopoi analysiere. Meine Darstellung ist geprägt von zwei elliptischen Bewegungen. Die eine vollzieht sich zwischen Fiktion und Realität, während die andere zwischen der Beschreibung konkreter Phänomene und ihrer theoretischen Begründung verläuft. Dies führt zu weiten Erkenntniswegen, durch die sich die Problemfelder der Untersuchungen erschließen. So hofft meine Darstellung auf neugierige und geduldige Leser, die auf der Entdeckungsreise in die terra incognita der frühneuzeitlichen Literatur die Wege durch historische Räume und Romanlandschaften genauso mitvollziehen wie meine Exkurse durch die Eiswüste der Abstraktion.9i Soll es der Leser leichter haben als die Schelmen? Ihre Lebenszeit ist eine Folge von Kämpfen gegen Enteignung und Disziplinierung, gegen Entfremdung und Vernichtung. Doch nicht nur den Helden wird Beharrlichkeit abgefordert, auch die Erzähler beharren gegen alle Widerstände auf der Bedeutung und der Wahrheit ihres Lebensberichts. Leben und Leiden der Schelmen schreiben eine Gegengeschichte der Epoche abseits der großen Ereignisse. Ihre Lebenswege lassen in Umrissen eine Karte Europas im 17. Jahrhundert entstehen, die nicht nur von den 93
"
"
Vgl. zur barocken Fassade ADORNO, Ästhetische Theorie 3 6 . Vgl. RENATE LACHMANN: "Vorwort": MICHAIL BACHTIN, Rabelais und seine Welt, Volkskultur als Gegenkultur, deutsch von GABRIELE LEUPOLD, Frankfiut am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 1 1 8 7 ) 1 9 9 5 , 7 - 4 6 , hier 2 5 . Vgl. ADORNO, Negative Dialektik 9 . Die Metapher der Eiswüste, die ADORNO einer mündlichen Äußerung WALTER BENJAMINS entnimmt, deutet schon daraufhin, daß selbst äußerste Abstraktion sinnlicher Veranschaulichung und sprachlicher Plastizität nicht entraten kann. Das Abstrakteste ist zugleich das Konkreteste.
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Erkundigungen über das Untersuchungsgebiet
großen Linien des geographischen Überblicks, sondern auch vom chorographischen Blick aufs Detail geprägt ist. Vor unseren Augen entsteht das Bild einer widersprüchlichen Zeit, einer Welt, in der unsere Gegenwart ihre verborgenen Wurzeln hat.
Enteignung des Schelmen: Zentralistische Perspektive und stillgestellte Zeit in Albertinus' Landtstörtzer Gusman Die Vaganten kommen und stiften Unordnung: Politisches Projekt und poetische Vorausprojektion Ende des Jahres 1633 erreichten die ersten 'Spanier' das oberbayerische Andechs. Es handelte sich um Truppen des spanischen Königreiches, die unter dem Befehl des Mailänder Statthalters A FERIA am 1 0 . September in Innsbruck eingetroffen waren, um das Heer des Kaisers FERDINAND im Kampf gegen die Schweden und die protestantischen Stände des Deutschen Reiches zu unterstützen. Zu diesem Zweck hatte sich das spanische Regiment am 29. September mit den Truppen des ehemals bayerischen, nun kaiserlichen Generals ALDRINGEN veibunden. Nun wäre es aber weit gefehlt zu vermuten, die Soldaten des Herzogs A FERIA hätten alle von der iberischen Halbinsel gestammt. Wie die Truppen der anderen kriegführenden Parteien stellte ein solches welschspanisches Regiment ein Gemisch überall in Europa angeworbener Kriegsvölker dar. Die spanische Krone rekrutierte ihre Truppen bevorzugt aus ihren Besitzungen in Italien, Mailand und Neapel, aus den Ländern der österreichischen Habsburger und aus den übrigen katholischen Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.1 Und wie Graf ALDRINGEN aus den militärischen Diensten Bayerns in kaiserlich-österreichische gewechselt war, um später eine zwielichtige Rolle im Interessenkonflikt des bayerischen Kurfürsten MAXIMILIAN mit dem kaiserlichen General WALLENSTEIN ZU spielen, so wechselten auch die einfachen Soldaten vielfach ihren Dienstherrn oder führten als sogenannte Merodebrüder Krieg auf eigene Rechnung.2 Die Soldaten, die unter den Feldzeichen des spanischen Weltreiches nach Bayern gefuhrt 1
2
Vgl. hierzu GEOFFREY PARKER, 77IE Army ofFlanders and the Spanish Road ¡567-1659, TheLogistics of Spanish Victory and Defeat in the Low Countries' Wars, Cambridge (University Press) 1972, 29, und die Karte auf Seite 51. Vgl. hierzu BERNHARD R . KROENER, " 'Kriegsgurgeln, Freireuter und Merodebrüder.' Der Soldat des Dreißigjährigen Krieges. Täter und Opfer": Der Krieg des kleinen Mannes, Eine Militärgeschichte von unten, hg. von WOLFRAM WETTE, München, Zürich (Serie Piper 1 4 2 0 ) 1 9 9 2 , 5 1 - 6 5 .
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Albertinus' Landtstörtzer
Gusman
wurden, bildeten da keine Ausnahme und boten ein Bild der Entwurzelung, das die Gesellschaft im Kriege und zunehmend auch in den prekären Zwischenzeiten des angeblichen Friedens bestimmte. Jubel schlug den Soldaten, die zum Entsatz der eigenen bayerischen und kaiserlichen Truppen gegen die feindlichen Protestanten heranrückten, verständlicherweise nicht entgegen. Die ansässige Bevölkerung erlebte den Durchzug einer Soldateska diesen Ausmaßes vielmehr als eine Folge von Plünderungen, Brandschatzungen und Morden. Unterschiede zwischen der vorgeblichen Befreiung durch die eigenen Leute und einer Besetzung durch die Fremden waren für das Land, das die Truppen tragen und ernähren sollte, schwerlich festzustellen. Die Herrschenden sahen den Krieg als Mittel, um die Verhältnisse neu zu ordnen, während die Bevölkerung vor Ort die Ankunft von Truppen als Einbruch der Unordnung erlebte. Beide Perspektiven sind unvereinbar, und doch sind sie aufeinander bezogen. Diese Beobachtung gibt einen ersten Hinweis auf die Widersprüche der gewaltsam durchgesetzten Ordnung, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts das Entstehen der Territorialstaaten ermöglichte: Ordnung kann zugleich Unordnung bedeuten, wenn der Standpunkt des Beobachters wechselt. Auch der Andechser Abt MAURUS FRIESENEGGER sieht sich zunächst mit einem Bild der Unordnung konfrontiert, als die Kaiserlich Spanischen in Schüben Andechs erreichen. In seinem Tagebuch,3 das er zwischen 1627 und 1648 führte, schildert der Chronist diese Truppen, deren Erscheinungsbild in krassem Mißverhältnis zu dem absolutistischen Ideal der Ordnung steht, das sich im Exerzierregiment ausdrückt.4 FRIESENEGGER stellt fest: Obwohl sie als Rekruten kein Kriegs-Exercitium verstanden, verstanden sie doch das Pressen, und Rauben, wobei die Einwohner wieder Haus, und Dorf verließen, und in die Wälder flohen.5 Am 31. Dezember 1633 kommt es zu einer Musterung des welsch-spanischen Regiments. Bei dem zeitgenössischen Zeugen hinterläßt dieses Spektakel einen zwiespältigen Eindruck, wie seine Beschreibung erkennen läßt: Mehrere, nur halb volle Kompanien, schwarze und gelbe Gesichter, ausgemergelte Körper, halb bedeckte, oder mit Lumpen umhängte, oder in geraubte Weibskleider einmaskierte Figuren, eben so wie Hunger, und Not aussieht. Beinebens waren aber die Offiziere ansehnliche und prächtig gekleidete Leute.6
3
4
5 6
MAURUS FRIESENEGGER, Tagebuch aus dem 30jährigen Krieg, nach einer Handschrift im Kloster Andechs [...] hg. von P. WILLIBALD MATHASER, München (Süddeutscher Verlag) 1974. FRIESENEGGER verfaßte ein handschriftliches "Tagbuch von Erling, und Heiligenberg vom Jahre 1627 bis 1648 inc.", das der Ausgabe von MATHASER zugrunde liegt. Vgl. HENNING EICHBERG, "Geometrie als barocke Verhaltensnorm, Fortifikation und Exerzitien": Zeitschriftßr historische Forschung 4 (1977) 17-50. Vgl. FRIESENEGGER, Tagebuch 4 9 . FRIESENEGGER, Tagebuch 5 9 .
Perspektivenwechsel:
Gemälde spanischer
Truppen
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Deutlich sichtbar verläuft zwischen Hoch und Niedrig eine scharfe Trennlinie. Hinter der scheinbaren Unordnung wird eine hierarchische Ordnung erkennbar, nach der das Kriegsgeschehen funktioniert. Diese Hierarchie indes scheint eben gerade nicht auf der ordnungsgemäßen Verteilung der Ressourcen zu beruhen, sondern vielmehr auf der Ausbeutung der ortsansässigen Bevölkerung, durch die sich der Krieg selbst ernährt. Die gesellschaftlichen Klassenunterschiede ermöglichen sowohl die gepflegte Erscheinung der Repräsentanten staatlicher Ordnung als auch das schmutzige Elend der Vielen, deren Gestalten und Gesichter trotz ihres abenteuerlichen und grotesken Aufzugs in der Menge anonym bleiben. Der friihneuzeitliche Ordnungsstaat, der mit dem Versprechen der Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit für alle Untertanen antritt, verwirklicht Gleichheit im Krieg zunächst als unterschiedslose Verelendung breiter Bevölkerungsschichten. Ihren sinnfälligen Ausdruck findet dieses Mißverhältnis von proklamierter und tatsächlicher Ordnung im Erscheinungsbild der von FRIESENEGGER beschriebenen Soldaten des spanischen Heeres, die Landstreichern und Wegelagerern ähnlicher sehen als ordnungsgemäß besoldeten Vorkämpfern eines Weltreiches. Die erste Begegnung des bayerischen Zeitgenossen mit 'den Spaniern' führt ihm nicht das Bild eines wohlgeordneten Zentralstaates vor Augen, sondern Vagantentum und Schelmerei als Reaktion der Entwurzelten auf die hemmungslose Korruption eines losgelassenen Kriegsunternehmertums. Der hier gewählte historische Einstieg steht in einer engen Wechselbeziehung zu politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Aneignungsformen im 17. Jahrhundert. So bestimmt das bei FRIESENEGGER beobachtete Spannungsverhältnis von Ordnung und Unordnung etwa eine zeitgenössische Darstellung spanischer Soldaten im Winter, das Gemälde Die Einnahme von Airesur-le-Lys des Niederländers PIETER SNAEYERS. Auf dem Bild ist ein langer Heereszug zu sehen, der sich von einer Stadt im Hintergrund auf den Betrachter zubewegt, so daß er an der Spitze des Zuges im Vordergrund eine Anzahl von Soldaten vor sich hat, die sich mit Umhängen notdürftig gegen die Kälte schützen. Links ist am Rand des Zuges eine Gestalt vor Erschöpfung unter einem kahlen Baum im ebenso kahlen Gebüsch zusammengebrochen. Kameraden mit wilden Hüten und Kapuzen kümmern sich um den Erschöpften. Ganz vorne links sitzt ein Mann mit dem Rücken zum Betrachter am Boden, einen Reisesack umgehängt und einen kleinen Hund vor sich. Rechts davon beschnüffelt ein anderer Hund eine Gruppe von drei Männern, die sich anscheinend beraten. Zwar sind verschiedene Personen bei unterschiedlichen Tätigkeiten zu erkennen, doch wirkt die Gruppe als ganze bei aller Detailgenauigkeit in ihrer Misere eintönig. Was im Vordergrund den Eindruck einer notdürftig zusammengerückten Menschenansammlung macht, erscheint erst bei zunehmender Entfernung als leidlich geordnete Heeresformation.
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Albertims' Landîstôrtzer
Gusman
Abbildung 4: Pieter Snaeyers: Die Einnahme von Aire-sur-le-Lys, 1641. Reproduziert nach GEOFFREY PARKER, The Army of Flanders and the Spanish Road 1567-1669, The Logistics of Spanish Victory and Defeat in the Low Countries ' Wars, Cambridge (University Press) 1972, Plate 6.
Dieser in seiner Undeutlichkeit homogen wirkende Truppenkörper löst sich von den Befestigungsanlagen einer Stadt, die in geometrischer Ordnung in die Landschaft ausgreifen. Der geometrische, beinahe kartographische Eindruck des Bildhintergrundes, der einen scharfen Kontrast zur ungeordneten Menschengruppe im Vordergrund bildet, wird dadurch ermöglicht, daß der Betrachter mit diesen Personen auf einer Anhöhe zu stehen scheint, so daß er die Landschaft im Hintergrund als Panorama unter sich liegen sieht. Damit wird in SNAEYERS' Gemälde das Mißverhältnis sinnfällig zwischen einer geometrischen Ordnung, die aus der sicheren Entfernung einer olympischen Perspektive der Landschaft aufgelegt werden kann, und der exzentrischen Perspektive des einzelnen, der sich angesichts des Ganzen als Randfigur empfinden muß. Das Gemälde ermöglicht den Überblick über die Landschaft wie eine Landkarte. Doch dient diese Zusammenschau nicht einer geographischen Unterwerfung des Raumes von einem olympischen Standpunkt aus. Es geht nicht nur um das Ganze, für das die Einzelheiten lediglich dienende Funktion hätten. Der genaue Blick auf die Gruppe im Vordergrund rückt vielmehr die Einzelheiten in das Zentrum des Interesses. Auf diese Weise wird der
Gotteshaus und Taverne: Sinnstiftung und -Unterwanderung
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kartographischen Überblick über das Ganze (Geographie) an die Erfahrung des einzelnen (Chorographie) zurückgebunden.7 Dem Maler ist das Kunststück gelungen, sowohl die zentralistische Perspektive des entstehenden Ordnungsstaates als auch die sozusagen pikareske Perspektive der Randexistenzen einzufangen. Dabei wirken die geometrischen Festungsanlagen und die rechteckige Anordnung der anderen Truppenteile, die im Hintergrund noch zu erkennen sind, irreal im Vergleich zur konkreten Realität des Elends, das der Vordergrund des Bildes offenbart. Der Blick auf das Gemälde des niederländischen Malers läßt die Ordnung des Raumes in FRIESENEGGERS Bericht über den Aufenthalt der spanischen Soldateska in Andechs noch deutlicher werden. Denn die bereits von FRIESENEGGER beobachtete Hierarchie findet ihren räumlichen Niederschlag bei der Einquartierung der Truppen in und um das Kloster Andechs. Während die Kriegsordnung den Offizieren das räumliche und gesellschaftliche Zentrum, das Kloster, zuweist, müssen die gemeinen Landsknechte an der Peripherie des Siedlungsraumes, im Dorf nämlich, ihre Unterkunft organisieren. In dieser räumlichen Anordnung spiegelt sich eine Organisation des spanischen Heeres, die nach dem Historiker GEOFFREY PARKER um einen Nukleus von lang gedienten Kerntruppen aus dem Mutterland ein Umfeld von Truppen gruppierte, die aus der Peripherie des Weltreiches und anderen Ländern rekrutiert wurden.8 Das scheinbar ungeordnete Völkergemisch hatte also durchaus eine Struktur, in der die Ordnung des im Entstehen begriffenen absolutistischen Staates vorgebildet war. Auch in diesem Sinne kann man den 30jährigen Krieg als einen der Staatsbildungskriege der Frühen Neuzeit verstehen.9 In größeren Heeresverbänden waren alle Einrichtungen des zentralistischen Verwaltungsstaats vorhanden, wie der Historiker JOHANNES BURKHARDT hervorhebt, der von einem "Lagerstaat" mit einem geradezu höfischen Zentrum, eigener Rechtssprechung, Verwaltung, Ausrüstungs- und Verpflegungsorganisation spricht, womit das Heer praktisch ein absolutistischer Staat auf Wanderschaft war. 10 7
' ' 10
Vgl. zum kartographischen Impuls der niederländischen Malerei und seinen epistemischen Implikationen SVETLANA ALPERS, "The Mapping Impulse in Dutch Art": The Art of Describing, Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago (University of Chicago Press) 1983, 119-168. Grundlegend für diesen Komplex sind zwei Studien von JAMES A. WELU, "Vermeer: His Cartographic Sources": The Art Bulletin 57 (1975) 529-547; "The map in Vermeer's Art of Painting": Imago mundi 30 (1978) 9-30. Vgl. zur kartographischen Miniaturwelt bei VAN EYCK und BRUEOEL ROBERT HARBISON, "The Mind's Miniatures: Maps": Eccentric Spaces, London (Deutsch) 1977, 124-139, hier 134-139. Zum Gegensatz Geographie-Chorographie vgl. die Ausführungen in der Einleitung zum "Raum im Schelmenroman". Zur chorographischen Perspektive in der Frühen Neuzeit vgl. RICHARD HELOERSON, "The Land speaks, Cartography, Chorography, and Subversion in Renaissance England": Representations 16 (1986) 51-85. Vgl. PARKER, The Army of Flanders 25,29, 31. Vgl. JOHANNES BURKHARDT, Der Dreißigjährige Krieg = Neue Historische Bibliothek, Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp) 1542, 26. Vgl. BURKHARDT, Der Dreißigjährige Krieg 219.
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Albertinus' Landtstörtzer
Gusman
Vom Zentrum her bot sich das Geschehen als wohlgeordnet und organisiert dar. Diese innere Ordnung jedoch äußerte sich vor Ort, an der Peripherie, in Unordnung und Zerstörung, wie FRIESENEGGERS Bericht erkennen läßt: Nun im Dorfe, wo die Soldaten nichts als leere Häuser, und keinen Menschen fanden, war ein schrecklicher Anblick. Das ganze Dorf schien im Feuer zu stehen. Sie nahmen Stühle, und Bänke aus den Häusern, und trugen die Dächer ab, und füllten alle Gassen mitfürchterlichen Wachtfeuern [...]."
Wer gewohnt ist, Geschehnisse wie diese als Randereignisse zu historisieren, die den Prozeß der frühneuzeitlichen Staatenbildung nicht in Frage zu stellen vermögen, wird da in Beweisnot geraten, wo der Umschlag von Ordnung in Unordnung auf die Kirchen übergreift. Denn die Unantastbarkeit des Kirchenraumes bildete die offizielle Grundlage der gegenreformatorischen Staatsauffassung in Spanien wie in Bayern. Doch scheuten die spanischen Truppen auch vor Kirchenschändung nicht zurück, obwohl sie angeblich zur Verteidigung des wahren Glaubens gegen den protestantischen Feind aufgeboten worden waren. So berichtet FRIESENEGGER: [...] alsobald brachen die Welschen in die Kirche, rissen die Decke, und das Getäfel auf, drangen bis unter das Dach, und nahmen alles, was dort für die Dorfleute, und das Gotteshaus hinterlegt war, hinweg. Sie brauchten das Gotteshaus statt einer Tafern, und brannten Feuer darin, um sich zu erwärmen.12
Gotteshaus und Tafern sind Orte sinnstiftender oder sinnunterwandernder Handlungen.13 Denn hier manifestiert sich sowohl die Ordnung des Staates als auch die Gefährdung dieser Ordnung. Diese Ordnungsleistung und ihre gleichzeitige Funktion als Spielraum für Unordnung haben gesellschaftliche und literarische Chronotopoi gemeinsam. Wie die Literatur bildet auch die Gesellschaft ein semantisches System, das die Aneignung von Raum und Zeit regelt. Der Gegensatz von Kirche und Taverne bildet ein Konfliktfeld, an dem die ordnungsstörende Rolle des Schelmen sichtbar wird. Doch geht die Gefahrdung der Ordnung nicht einfach von Vaganten aus, deren ordnungswidriges Verhalten ja notorisch ist. Die spanischen Herumtreiber in Andechs stehen vielmehr in Diensten der Streitmacht, die die staatliche Ordnung erst durchsetzen soll. Es ist dies die Logik einer Kriegsordnung, das, was in Friedenszeiten als Verbrechen geahndet wird, nun plötzlich zur Norm werden zu lassen. Gerade Kirchenschändung galt dem bayerischen Staat als Angriff auf Tagebuch 5 7 . Tagebuch 63. Vgl. auch a.a.O. 71. Vgl. MICHAIL M . BACHTIN, Formen der Zeit im Roman, Untersuchungen zur historischen Poetik, deutsch von MICHAEL DEWEY. Frankfurt am Main (Fischer Tb. Wissenschaft 7418) 1989, 7/8: Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit- und Raum-Beziehungen wollen wir als 'Chronotopos' [...] bezeichnen. [...]. Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Siehe auch meine grundlegenden Ausführungen im Einleitungskapitel auf den Seiten 18-20. FRIESENEGGER, FRIESENEGGER,
Kriegsunternehmer und Mangelwirtschaft
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die sakrosankte Ordnung des Staates, der mit äußersten Strafen belegt werden mußte.14 Vor diesem Hintergrund markiert der Übergriff auf den besonders geschützten sakralen Raum die Brüche, die das Kriegsgeschehen in der Vorstellung von einer staatlich garantierten Ordnung hinterläßt. Die Geschehnisse am Rande der großen Feldzüge lassen die Kehrseite der Modernisierung und Zentralisierung erkennen, denen die modernen Staaten ihre Entstehung verdanken. Die offiziellen Verlautbarungen des absolutistischen Ordnungsstaates stellen naturgemäß die großen Linien des Ganzen, nicht aber die exzentrische Perspektive des einzelnen vor Augen, die erst bei näherem Hinsehen auf die Opfer des historischen Prozesses erkennbar wird. Die anekdotischen Ereignisse am Rand des großen Feldzuges, die der Abt von Andechs aufgezeichnet hat, erlauben überhaupt erst einen realistischen Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Strukturen. Denn die Kriegsgesellschaft exerziert in Andechs und Umgebung im kleinen, was überall im großen Rahmen geschieht. Der Mangel, den die Kriegswirtschaft erzeugt, trifft zuerst die einfachen Soldaten. Sie, die zumeist schon in den sogenannten Friedenszeiten ohne Eigentum an Grund und Boden oder städtisches Bürgerrecht waren, sinken im Krieg zu einem Investionsgut der Kriegsunternehmer, der Offiziere, ab." Um zu überleben, eignen sie sich den Besitz der ansässigen Bevölkerung, der Bauern, an. Damit erleiden die Opfer der Plünderung dasselbe, was oftmals die Plünderer erst zu Söldnern gemacht hat, handelt es sich doch bei vielen Soldaten um Angehörige der Landbevölkerung, denen die Kriegsfurie, sei es durch Brand und Plünderung, sei es durch Wucherzinsen und Überschuldung, jede Existenzgrundlage genommen hatte.*6 Die Zerstörung 14
u
Dabei stützte man sich auf die jesuitisch-antimachiavellistische Staatstheorie, die in der rechten Religionsausübung die Garantie für die Stabilität des Staates sah. So widmet etwa der Gefährte des IGNATIUS VON LOYOLA, PEDRO RIBADENEIRA, in seiner Schrift über den christlichen Fürsten dem Schutz der sakralen Räume ein eigenes Kapitel. Christus als der mächtigste Fürst der Erde habe Anspruch auf die Unantastbarkeit seines Palastes, des Kirchenraumes nämlich. Ich benutze eine lateinische Obersetzung: PEDRO RIBADENEIRA, PRINCEPS CHRISTLANVS ADVERSVS NICOLAIM MACHLiVELLVM CETEROSQUE huius temporis Políticos [...] nunc Latiné A P. IOANNE ORANO vtroque Societatis IESV Theologo editus [...]. Köln 1604. Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur Ka 40. Diese im wittelsbachischen Machtbereich erschienene Obersetzung ist im Bonner Exemplar wohl nicht zufällig mit einem Werk GIOVANNI BOTEROS zusammengebunden, dessen Œuvre auch von AEGIDIUS ALBERTINUS benutzt und teilweise übersetzt wurde. Der Historiker NORBERT SCHINDLER berichtet in seinem Buch Widerspenstige Leute, Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit von einem Kirchendiebstahl während der Fastnacht 1599 im bayerischen Amt Traunstein, bei dem das H: Monstranz sambt dem H: Sacrament bei vnser Lieben frauen gestolen worden sei. Das Urteil war drastisch und muß nach SCHINDLER als Reaktion der Obrigkeit auf die Herausforderung der staatlich-kirchlichen Autorität verstanden werden: [...] der Käsehändler Georg Dietl, seine Frau und ein 19jähriges Mädchen wurden [...] als Täter ermittelt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. NORBERT SCHINDLER, Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main (Fischer Tb. 10658) 1992, 139/140.
Vgl. ™ Vgl.
KROENER, KROENER,
'"Kriegsgurgeln, Freireuter und Merodebrilder'" 54/55. '"Kriegsgurgeln, Freireuter und Merodebrilder'" 54.
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Albertinas' Landtstörtzer Gusman
der ländlichen Wirtschaftskreisläufe potenziert sich, da sich die Enteigneten nun an der Enteignung anderer beteiligen. In einer vorwiegend agrarischen Gesellschaft, die von den Erträgen der Landwirtschaft lebt, führt dies zu einer Vernichtung der ökonomischen Grundlagen überhaupt. Die ländliche Peripherie des Territoriums, die im Normalfall die Zentren mitzuernähren hat, kann nun für das eigene Überleben nicht mehr sorgen.17 Soldaten und Bauern finden sich in derselben Misere wieder, die auch FRIESENEGGER beobachtet: Man sah jetzt schon Bauern und Soldaten, nur halb gekleidet, von Elend abgebleichet, von Hunger ausgemergelt, mit bloßen Füßen bei der größt Kälte herumgehen.18 Auf die Dauer aber macht der Mangel bei den so Enteigneten nicht Halt, denn das Zentrum kann nicht verteilen, was die Peripherie des Siedlungsraumes nicht produziert. Der Mangel steigt die soziale Stufenleiter von unten nach oben, und der Verteilungskampf nimmt bizarre Formen an. Je größer die Not der einfachen Bevölkerung wird, desto grenzenloser werden die Forderungen der Vornehmen." Erst die rücksichtslose Durchsetzung ihrer Interessen fuhrt zur Enteignung auch der fundamentalen ländlichen Produktionsmittel, so daß nicht nur die momentane Versorgung zusammenbricht, sondern auch die künftige Produktion von Lebensmitteln unterbunden wird. Dies beobachtet bereits der venezianische Historiograph GIOVANNI BOTERO in seinen Relationi universali, die der bayerische Hofkanzlist AEGIDIUS ALBERTINUS verdeutscht hat. In dieser Übersetzung wird bereits das ökonomische Desaster angedeutet, das die Oberschicht und ihr Kriegsunternehmertum verursacht: Die Erfahrung hat zuerkennen geben / daß das Fußvolck in der Schlacht etwz verrichtet vnder einem Spanischen oder Italienischen Haupt: Aber die Reutterey hat alzeit vil gekostet vnd mehr verhindert / denn genutzet. Die vrsach dessen ist / alweil sie die Roß vom Pflug / vnnd die Menschen auß den Ställen oder dergleichen vbungen hernemen / dann die Edelleuth / welche sich in Krieg schreiben lassen / setzen alhie jhre Diener zu Roß / vnnd ziehen den meisten theil jhrer Besoldung zu sich. 20 machen die Verantwortlichen für den wirtschaftlichen Zusammenbruch in den Edelleuten aus. Ihre Willkür zu beschränken, ist der absolutistische Staat angetreten. Die Wirklichkeit des Krieges jedoch, die der 1620 gestorbene ALBERTINUS in ihrem ganzen Ausmaß nicht mehr erlebt hat, spricht eine andere Sprache. Aus den Edelleuten sind Kriegsunternehmer
BOTERO/ALBERTINUS
17
"
Die Forschung hat ergeben, daß die Kriegswirtschaft die ländlichen Gebiete weit nachhaltiger schädigte als die städtischen Zentren. Vgl. VOLKER MEID, Grimmelshausen, Epoche-WerkWirkung, München (Beck) 1984, 26/27. FRIESENEGGER, Tagebuch 58. Vgl. KROENER, '"Kriegsgurgeln, Freireuter und Merodebrüder"'57.
19
Vgl. FRIESENEGGER 63.
20
Allgemeine Historische Weltbeschreibung IOANNIS BOTERI deß Benesers. [...] Durch AEGIDIUM ALBERTINUM, Der Fürstl. Durchl. Hertzog Maximilians in Bayrn / & c. Hof=Raths Secretarium, Auß dem Italianischen in die Hoch=teutsche Sprach vbersetzt. Mit künstlichen Kupferstücken vnd eygentlichen Landtaflen geziert. München 1611. Benutztes Exemplar: Fürstliche Thum und Taxische Hofbibliothek Regensburg, Signatur: Ma 375 fol.
Gusman kommt nach Bayern: vorweggenommene Realität
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geworden, und nur die Weitsichtigeren unter ihnen - wie etwa WALLENSTEIN haben die langfristige Prosperität wenigstens ihrer eigenen Länder im Auge. Vor Ort jedenfalls war von der weiten Perspektive der Herrschenden nichts zu bemerken, hier herrschte die beschränkte Perspektive der unmittelbaren Selbstbehauptung und die kurzsichtige Ausplünderung der Ressourcen. Die Widersprüche, die sich im Bericht FRIESENEGGERS zwischen den konkreten Vorgängen vor Ort und den proklamierten großen Projekten der Zeit ergeben, erzeugen eine bittere Komik. Zuweilen gipfelt die Austragung der Interessenkonflikte zwischen Soldaten, Offizieren und ansässiger Bevölkerung in geradezu burlesken Szenen, die den Widersinn der hierarchischen Kriegsgesellschaft entlarven: Ein Haufen hungriger Soldaten fiel in unser Maierhaus ein, und brach alle Türen der Stallungen mit Gewalt auf, um daraus zu nehmen, was ihnen gefiele. Und besonders gefielen ihnen die Schweine, die ihnen aber auf das Feld entlaufeten. Wir sprachen eilends unsere Quartiers-Offiziere um Abhilfe an, die auch eilends samt dem Colonell dem Maierhaus zulauften, um sich diesen einheimischen Räubern entgegen zu stellen. Wenn uns in diesen Zeit-Umständen noch um das Lachen gewesen wäre, so war dieß gewiß ein lächerlicher Auftritt, zu sehen, wie die Gemeinen den Schweinen, und die Offiziere den Gemeinen auf dem Feld nachlauften, daß jenen die Lumpen und diesen die Haare in die Höhe flogen.™
Wie im Theater teilen sich hier die Personen in Akteure und Zuschauer, doch wechselt deren Reaktion zwischen Vergnügen am Spiel der Körper und der Sorge um die lebensnotwendigen Vorräte, die gerade zu entlaufen drohen. Deshalb ist dieses Spiel in einem anderen Sinn Schein als das Spiel auf der Bühne, das für ein unbeteiligtes Publikum bewußt inszeniert ist. Hier jedoch hat eine Szene den unfreiwilligen Anschein von Komik, während in Wirklichkeit die Existenz der Zuschauer auf dem Spiel steht, die so zu Betroffenen des Geschehens werden. Die Realität, die das Lachen im Halse steckenbleiben läßt, unterdrückt die elementaren Bedürfnisse, die sich im Lachen Luft machen wollen. *
Für FRIESENEGGER ist das beobachtete Geschehen ein lächerlicher Auftritt. Und wirklich könnte es den Lesern ja scheinen, hier handle es nicht um die Schilderung des Kriegsalltags, sondern um eine Komödienszene oder eine vergnügliche Passage aus einem zeitgenössischen Roman des niederen, satyrischen oder pikaresken, Genres. Viele Elemente der von FRIESENEGGER beschriebenen Realität finden sich als Motive in der Literatur des 17. Jahrhunderts, namentlich in den pikaresken Romanen, wieder. Einstweilen erhellt aus FRIESENEGGERS Bericht, daß unter solchen Zeit-Umständen wohl den wenigsten FRŒSENEOGER, Tagebuch
66.
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Albertinus' Landtstörtzer
Gusman
Menschen nach einem befreiten Lachen zumute war. Da sollte auch der literarische Auftritt der Schelmen und Komödianten von den Realitäten der Zeit her betrachtet werden. Die buntgemischte Gruppe der Komödianten, mit der bereits 18 Jahre vor der Andechser Momentaufnahme im Jahre 1615 ein fiktiver spanischer Held nach Bayern gelangt ist, läßt jedenfalls den Eindruck entstehen, die Wirklichkeit wiederhole hier, was sich zuvor in der literarischen Fiktion ereignet hatte. Es handelt sich um den Helden des Romans Der Landtstörtzer: Gusman von AEGIDIUS ALBERTINUS.22 Dieser fiktive spanische Landfahrer lebt in ganz ähnlichen Umständen wie seine realen Nachfolger auf der Heerstraße. Unterwegssein, Schmutz und Hunger bestimmen den Alltag der Romanfigur, wenn es ihr nicht gelingt, das Interesse ansehnlicher Leute zu wecken, die sich normalerweise beziehungslos neben dem Gros des Fußvolks einherbewegen. Durch seine zweifelhafte Herkunft gehört Gusman zu den von vornherein Enteigneten, denen eine gesicherte Position in der Gesellschaft verwehrt ist. Enteignung war in der Zeit des Vaganten ja nicht nur ein Schicksal, das einzelne Personen betraf. Vielmehr setzt die Enteignung ganzer Bevölkerungsschichten, ihre Verdrängung aus den agrarischen und städtischen Wirtschaftskreisläufen, sozialgeschichtlich das in Gang, was wir 'Frühe Neuzeit' nennen.23 In der spanischen Romanvorlage von MATEO ALEMÁN sagt Guzmán von sich, Gott habe nicht geruht, ihm eigenes Land zu geben, damit er auf einen grünen Zweig komme.24 Auch der Gusman der deutschen Adaption zieht aus der fundamentalen Tatsache seiner Eigentumslosigkeit Konsequenzen. Er versucht, seine Existenz durch Betteln, Betrug und Diebstahl zu sichern, und wird Diener vieler Herren. Unter diesen Herren 22
33
"
Der Landtstörtzer: Gusman von Alfarche oder Picaro genannt / dessen wunderbarliches / abenthewrlichs vnd possirlichs Leben / was gestallt er schier alle ort der Welt durchloffen / allerhand Ständt/Dienst vnd Aembter versucht / vil guts vnd böses begangen und ausgestanden /jetzt reich / bald arm / vnd widerumb reich vnd gar elendig worden / doch letztlichen sich bekehrt hat / hierin beschriben wirdt. München 1615. Zitiert wird nach dem Reprint Der Landstörtzer Gusmann von Alfarche oder Picaro genannt, hg. von JORGEN MAYER, Hildesheim, New York (Olms) 1975. Im folgenden wird römisch der Teil, arabisch das Kapitel und nochmals arabisch die Seite angegeben: Landtstörtzer Gusman I, 8, 52/53 = Buch I, Kapitel 8, Seite 52/53. HANNAH ARENDT sieht im Vorgang der Enteignung das eigentliche Initial und den bestimmenden Wesenszug der Neuzeit: [...] eine Art innerweltlicher Weltentfremdung war [...] die unmittelbare Folge der Enteignung der Bauernschaft zu Beginn der Neuzeit, [...] und erst diese weltentfremdenden Enteignungen veranlaßten den Zusammenbruch des feudalen Wirtschaftssystems [...]. Für ARENDT bestimmt sich die Epochenschwelle durch dieses Ereignis, das erst Europa und dann die ganze Welt in einen Prozeß riß, in dessen Ablauf das Eigentum durch Aneignung vernichtet, die Gegenstände durch den Produktionsprozeß verschlungen, und die Stabilität der Welt durch das, was diese Jahrhunderte den Fortschritt nannten, unterminiert wurden. HANNAH ARENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München (Serie Piper 217) 7. Auflage, 1992, 247. AEGIDIUS ALBERTINUS,
Vgl. MATEO ALEMÁN, "Das Leben des Guzmán de Alfarache", deutsch von RAINER SPECHT: Spanische Schelmenromane, Band 1, hg. von HORST BAADER, München (Hanser) 1964, 65-845, hier 366. Siehe auch MATEO ALEMAN, Guzmán de Alfarache I, ed. de JOSÉ MARÍA MICÓ, Madrid (Cátedra) 1992, Primera Parte, III, 8,447.
Historische Rekonstruktion
vom Extrem her
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ist auch ein Offizier, bei dem er Dienst nimmt. Als Soldat folgt er ein Stück der Spanish Road, der spanischen Heerstraße von Barcelona25 nach Genua, wird dort aber wieder aus dem Dienst des Offiziers entlassen, weil er keine gewinnträchtige Investition darstellt.26 Nach anderen Abenteuern folgt Gusman weiter der spanischen Heerstraße zwischen Genua und Tirol27 und gelangt nach Innsbruck, von wo er als Mitglied der bereits erwähnten bunt zusammengewürfelten Komödiantentruppe schließlich nach Deutschland kommt. Der Weg Gusmans auf der Spanish Road nach Deutschland erscheint damit als literarische Vorwegnahme der anfangs geschilderten Ereignisse des Jahres 1633. Der erfundene Gusman gelangt lange vor den spanischen Truppen nach Bayern, das abseits der spanischen Nachschubroute für die Kriege in den Niederlanden, der Spanish Road, lag.28 Erst als der 30jährige Krieg ins Land kam, wurde Bayern von den realen spanischen Herumtreibern berührt. Ich bin von Ereignissen ausgegangen, die AEGIDIUS ALBERTINUS, der Verfasser des Landtstörtzer Gusman, selbst nicht mehr erlebt hat, und habe Texte benutzt, die als Quellen für den Roman nicht in Frage kommen, da sie später entstanden sind. Doch liegt die Rechtfertigung des methodischen Zugriffs in der Sache selbst. Denn durch die beschriebene Kriegswirklichkeit radikalisieren sich die Widersprüche der Gesellschaftsordnung, die Dialektik von Ordnung und Unordnung, die der Schelm verkörpert. ALBERTINUS versucht - so meine These - eine literarische Vorausprojektion29 des Staatsideals, mit dem Bayern zum zentralistischen Ordnungsstaat umgestaltet werden sollte, doch macht die eigene Logik des schelmischen Lebenslaufes auch die inneren Widersprüche dieses Ordnungsprojektes sichtbar. Diese historische Konstellation wird erst deutlich, wenn der Roman mit Texten in Zusammenhang gebracht wird, die über die extremen Konsequenzen einer gewaltsam durchgesetzten Ordnung berichten.30 Im Extremfall, dem kriegerischen Ausnahmezustand, die Regel zu erblicken, die auch das Bild der Zwischenkriegszeiten prägt, ist ein bewußter Akt der Interpretation. Die Rede vom Ausnahmezustand als " * 27
u 29
30
Die Angabe des Hafens Barcelona fehlt bei ALBERTINUS, wohl weniger aus geographischer Unkenntnis als aus Desinteresse an den realen Räumen, wie sich noch zeigen wird. Vgl. Landtstörtzer Gusman I, 13, 88 und 90. Auf verschiedenen Routen gelangte das spanische Heer von Genua zum niederländischen Kriegsschauplatz. Vgl. die Karte bei PARKER, The Army of Flanders 5 1 . Vgl. PARKER, The Army of Flanders 5 1 . In der Vorausprojektion, die programmatisch Projekte des frühabsolutistischen Staates literarisch gestaltet, sieht WIEDEMANN das Wesen barocker Literatur überhaupt Vgl. CONRAD WIEDEMANN, "Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. Perspektiven der Forschung nach Bamers Barockrhetorik": Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur. Band 1, Wolfenbüttel (Herzog-August-Bibliothek) 1973, 21-51, hier 41. Konfiguration und Konstellation beruhen immer schon auf dem Arrangement von Heterogenem. Daraus rechtfertigt sich, dafi ich hier weit ausgreife. Zur eikenntnistheoretischen Funktion der Konstellation vgl. WALTER BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. von ROLF TIEDEMANN, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 225) M978, 16/17.
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Albertimts' Landtstörtzer
Gusman
Grundlage der barocken Lehre von der Souveränität beruft sich auf WALTER der in seinem Trauerspiel-Buch die dialektische Rolle des Fürsten herausarbeitet. Dessen Funktion sei es einerseits, den auszuschließen, andererseits aber leite er seine absolute Unverletzlichkeit gerade daraus her, daß er schon im vorhinein dafür bestimmt sei, Inhaber diktatorischer Vollmacht im Ausnahmezustand zu sein. So werde die Kontinuität jenes in Waffen und Wissenschaften, Künsten und Kirchentum blühenden Gemeinwesens gerade durch die kriegerische Gewalt des Fürsten verbürgtEin Verfahren jedoch, das die willkürliche Entscheidung des Fürsten über Recht und Unrecht im Ausnahmezustand als das geschichtlich ohnehin siegreiche Verfahren theologisch noch einmal legitimiert,n wird von BENJAMIN später in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte umgekehrt, wenn dort gerade die Tradition der Unterdrückten erweist, daß der 'Ausnahmezustand' [...] die Regel ist." Fakten bestätigen, was hier interpretatorisch vorausgesetzt wird, befanden sich doch die größeren Mächte Europas im 16. und 17. Jahrhundert im Durchschnitt mehr als die Hälfte der Zeit (60 Prozent) im Kriegszustand.34 Keineswegs waren die Zeiten, in denen der Landtstörtzer Gusman entstand, Zeiten friedlicher Ordnung, sondern Krisenzeiten, die eine Kunst des Aktuellen und eine geradezu schelmische Wahrnehmung der Fortuna erforderten.35 Ganz im Gegensatz zum antimachiavellistischen Programm, das MAXIMILIAN I. von Bayern offiziell vertrat,36 wurde Politik gemacht, wie MACHIAVELLI sie beschrieben hatte: orientiert an den Handlungsformen des Machterwerbs und Machterhalts, von Zeitgewinn und opportunistischer Anpassung an die Gelegenheit der Zeiten.37 Der gegenreformatorische Machtstaat verwickelte sich in seine eigenen Widersprüche, die nicht angemessen mit seiner eigenen antimachiavellistischen Staatstheorie analysiert werden können. Denn diese Theorie selbst begründet den aggressiven, potentiell kriegerischen Charakter des BENJAMIN,
Vgl. BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels, "Theorie der Souveränität" 47-51, hier 47/48. Vgl. KLAUS GARBER, "Benjamins Bild des Barock": Rezeption und Rettung, Drei Studien zu ¡Valter Benjamin, Tübingen (Niemeyer) 1987, 59-120, hier 93. Vgl. WALTER BENJAMIN: "Ober den Begriff der Geschichte": Illuminationen, Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. 345) 1977,251-261, hier 254. Vgl. BURKHARDT, Der Dreißigjährige Krieg 9. Vgl. GERHARD RITTER, Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli undMorus, Manchen / Berlin (Oldenbourg) 1940,44/45. Zum literarisch-ideologischen Programm MAXIMILIANS vgl. DIETER BREUER, "Adam Contzens Staatsroman, Zur Funktion der Poesie im absolutistischen Staat": Germanisch-romanische Monatsschrift, Sonderheft 1 (1976) 77-126 Siehe auch DIETER BREUER, Oberdeutsche Literatur 1565-1650, Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit = Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft 11, Reihe Β, München (Beck) 1979, 145-218. Vgl. NICCOLÒ MACHIAVELLI, II Principe / Der Fürst, italienisch/deutsch hg. von PHILIPP RJPPEL, Stuttgart (Reclam Universal-Bibliothek 1219) 1986, III, 22/23 und XXV, 194/195.
Historische Rekonstruktion vom Extrem her
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Staates, der zu seiner Erhaltung gerade die Methoden anwandte, die bei MAbeschrieben sind. Die weltanschauliche Homogenität, die etwa der Jesuit RIBADENEIRA fordert, treibt den Staat zur Verfolgung nach innen und zur Aggression nach außen. Nicht die von RIBADENEIRA beklagten Häresien sind CHIAVELLI
Ursache des Ruins und des Umsturzes der Staaten,38 sondern der Versuch, die
Einheit des Territorialstaates gegen seine inneren Gegner und äußeren Konkurrenten durchzusetzen. Kein religiöses Moment, sondern das weltlichdespotische Machtkalkül des Renaissanceherrschers leitet die Handlungen des gegenreformatorischen Staates.39 Man kann noch einen Schritt weiter gehen und sagen, daß die Abfassung geistlich-propagandistischer Traktate, zu denen auch der Landtstörtzer Gusman gehört, selbst eine subtile Form machiavellistischer Verstellungskunst darstellt, weil sie Religion nicht um ihrer selbst willen ausübt, sondern zum Mittel des Machterhalts herabwürdigt. VITTORIO HÔSLE legt in einem fiktiven Dialog MACHIAVELLI die Worte in den Mund: Wäre ich wirklich ein Machiavellist, dann hätte ich nur religiöse Erbauungsliteratur verfaßt und die Aufmerksamkeit der Menschen von den Tricks der Tyrannen abgelenkt.40 Was MACHIAVELLI hier im erfundenen Gespräch klar aus-
spricht, kann für das Bayern des beginnenden 17. Jahrhunderts durch Dokumente gestützt werden. Aus der Perspektive der Kunstgeschichte hat etwa Jo HANNES ERICHSEN nachweisen können, daß die ikonographische Darstellung MAXIMILIANS I. schon lange vor dem 30jährigen Krieg auf den kriegerischen Charakter seines Ordnungsstaates wies.41 Eine Inschrift auf einem der Dekkengemälde der Mttnchener Residenz sprach von einer machiavellistischen Koexistenz der Zeitformen. Je nach der Gelegenheit hat der Fürst beide Zeiten recht zu steuern, die der Kriege und die des Friedens. Der Ausnahmezu-
stand des Krieges ist hier der bevorzugte Normalfall, für den der Fürst, mit Waffen geschmückt, gerüstet zu sein hat.42 Historische Rekonstruktion erschöpft sich also weder im Nachvollzug der Autorintentionen noch in Quellenphilologie, denn es zeigt sich, daß der lakonische Bericht FRIESENEGGERS im nachhinein Aspekte am literarischpolitischen Projekt des AEGIDIUS ALBERTINUS beleuchtet, die diesem nicht bewußt waren. Eine historische Rekonstruktion, die sich nicht einfach der ideologischen Perspektive eines Textes anvertraut, muß ihren Blick gerade auf die toten Winkel dieser Perspektive richten, auf die Ränder, auf das M 39
*
"
42
Vgl. Vgl.
Princeps Christianvs adversvs Nicolavm Machiavellvm, I, 27, 163. Ursprung des deutschen Trauerspiels 48. VITTORIO HÖSLE, " Essen, den 2. August 1994": NORA K. / VITTORIO HÔSLE, Das Café der toten Philosophen, Ein philosophischer Briefwechsel filr Kinder und Erwachsene, München (Beck) 2 1996, 93. Vgl. JOHANNES ERICHSEN, "Princeps Armis Decoratus, Zur Ikonographie Kurfürst Maximilians I.": Um Glauben und Reich, Kurßrst Maximilian /., Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1537-1657 = Wittelsbach und Bayern U/1, hg. von HUBERT GLASER, München/Zürich (Hirmer/Piper) 1980, 196-224. Vgl. ERICHSEN, "Princeps Armis Decoratus" 196. RIBADENEIRA,
BENJAMIN,
50
Albertinus'Landtstörtzer
Gusman
Extrem,43 Dies wird vor allem da möglich, wo spätere historische Ereignisse das literarisch vorweggenommene Potential in seinen Widersprüchen zur Erscheinung bringen. Dieser innere Zusammenhang künstlerischer und gesellschaftlicher Fragestellungen kann auch umgekehrt werden. Denn wenn ALBERTINUS seine spanischen Romanvorlagen auf den Teutschen Meridian visirt,44 dann greift er damit auf Texte zurück, die ihrerseits bereits in einem komplexen Verhältnis zur zeitgenössischen Wirklichkeit stehen. GEOFFREY PARKER weist darauf hin, daß die Verhaltensweisen der spanischen Soldaten auf den pikaresken Werten der Selbstbehauptung beruhen, die die spanische Gesellschaft im 16. Jahrhundert hervorbrachte. Umgekehrt sei der Kult des picaro im 17. Jahrhundert unter anderem auf den Einfluß von Deserteuren und Kriegsheimkehrern zurückzuführen. Der heimische picaro des spanischen Goldenen Zeitalters sei ein Stiefsohn des militärischen picaro.45 Phänomene der Kriegsgesellschaft und Strukturen im Frieden bedingen einander und finden literarischen Ausdruck in der Pikareske.46 Wie der frühneuzeitliche Staat versucht der Erzähler im Landtstörtzer Gusman, der Unordnung seiner Gegenstände Herr zu werden, indem er sich den Stoff fremder Vorlagen aneignet und einer neuen Ordnimg dienstbar macht. Dabei ist nicht unwichtig, daß der Verfasser selbst bezweckt, sich mit seiner literarischen Arbeit als Fremder in die zeitgenössische Gesellschaftsordnung einzuschreiben. Denn im Landtstörtzer Gusman, der ein neues Gebilde aus fremden Quellen darstellt, wird die Gestalt seines Verfassers greifbar, des Es ist wohl kein Zufall, daß die Herstellung von Konfigurationen und Konstellationen am ehesten aus der exzentrischen Perspektive, vom Extrem, mithin von der Realitât der Gewalt her, gelingt: Das Empirische [...] wird umso tiefer durchdrungen, je genauer es als ein Extremes eingesehen werden kann. BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels 1 7 . Diese auf die kompilatorische Aneignung fremder Texte durch ALBERTINUS besonders gut passende Formulierung entleihe ich bei JOHANN FISCHART, der damit seine Verdeutschung des RABELAISschen Werkes charakterisiert. Vgl. den Titel der Erstausgabe von 1 5 7 5 in JOHANN FISCHART, Geschichtsklitterung (Gargantua), Synoptischer Abdruck der Bearbeitungen von 1575, 1582 und 1590, Halle a. S. (Niemeyer) 1891, VIII: Affenteurliche vnd Vngeheurliche / Geschichtsschrift [...] Nun aber vberschrecklich lustig auf den Teutschen Meridian visirt [...]. Vgl. PARKER, The Army of Flanders 1 8 0 . Auch andere heutige Interpreten verweisen darauf, daß gesellschaftliche Vorgänge wie das Armutsproblem, die NichtSeßhaftigkeit und die damit zusammenhängenden Reaktionen und Obsessionen im spanischen Picaro-Roman ihren Niederschlag finden.Vgl. FÉLIX BRUN, "Pour une interprétation sociologique du roman picaresque": Littérature et société: Problèmes de méthodologie de la littérature, hg. von LUCIEN GOLDMANN, MICHEL BERNARD und ROGER LALLEMAND, Brüssel (Institut de Sociologie de l'Université de Bruxelles) 1 9 6 7 , 1 2 7 - 1 3 5 ; ANDREAS STOLL, "Wege zu einer Soziologie des pikaresken Romans": Spanische Literatur im goldenen Zeitalter, Festschrift für FRITZ SCHALK, hg. von HORST BAADER und ERICH LOOS, Frankfurt a.M. (Vittorio Klostermann) 1 9 7 3 , 4 6 1 - 5 1 8 ; CÉSAR REAL RAMOS, '"Fingierte Armut' als Obsession und die Geburt des auktorialen Erzählers in der Picaresca": Der Ursprung von Literatur, Medien, Rollen, Kommunikationsituationen 1450-1650, hg. von GISELA SMOLKA-KOERDT, PETER M. SPANOENBERG und DAGMAR TILLMANN-BARTYLLA, München (Fink) 1 9 8 8 , 1 7 5 - 1 9 0 .
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Historischer Ort des Autors
Niederländers AEGIDIUS ALBERTINUS, der vermutlich im Jahre 47 ALBERTS in Deventer geboren wurde.
1560
als
JELLE
Abbildung 5: Die mittelalterlichen Befestigungsanlagen Deventers zum Zeitpunkt ihrer Eroberung im Jahre 1591. Reproduktion eines zeitgenössischen Stichs nach PARKER, The Army of Flanders, Plate 2.
Schon der Herkunftsort gibt einen Hinweis auf die sozialgeschichtliche Position des Autors, handelte es sich doch um eine spanisch-katholische Stadt, die 1591 von der protestantisch-niederländischen Streitmacht erobert wurde. Die Eroberung wurde dadurch erleichtert, daß es sich bei Deventer zu diesem Zeitpunkt um eine Festung mittelalterlichen Typs handelte, deren Verteidigungsanlagen der Beschießung durch moderne Kriegswaffen nicht standhielten. Bei ALBERTINUS hatten die Ereignisse des Jahres 1591 vermutlich zwei Reaktionen zur Folge. Zum einen verließ der gläubige Katholik das nun protestantische Deventer. Und zum anderen dürfte er den Eindruck mitgenommen haben, daß die hergebrachten Strategien der Durchsetzung und Ab"
Zu den Einzelheiten der Biographie vgl. den Oberblick bei GUILLAUME VAN GEMERT, Die Werke des Aegidius Albertinus (1560-1620), Ein Beitrag zur Erforschung des deutschsprachigen Schrifttums der katholischen Reformbewegung in Bayern um 1600, Amsterdam (APA-Holland University Press) 1 9 7 9 . In seinen Studien hat VAN GEMERT die Irrtümer der älteren Forschung einer gründlichen Korrektur unterzogen, so daß gerechtfertigt ist, sein erneuertes Bild zum Ausgangspunkt der Beschäftigung mit ALBERTINUS ZU machen.
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Albertinus'Landtstörtzer
Gusman
Sicherung von Herrschaft mit den mittelalterlichen Mauern Deventers zusammengebrochen waren und ihre Untauglichkeit erwiesen hatten, daß es mithin moderner, more geometrico48 geplanter Strukturen bedurfte, um zu sicheren Verhältnissen zu kommen.49 Damit hätte ALBERTINUS dieselben Lehren aus den Ereignissen gezogen, die die siegreichen Protestanten dazu bewogen, Deventer in eine geometrisch geplante Festung neuen Typs zu verwandeln. Die Ordnung des Gemeinwesens, dies war der Glaube der Epoche, konnte nur durch eine völlige Neuorganisation im Innern und eine klare Grenzziehung nach außen gewährleistet werden.
Abbildung 6: Die modernisierte Festung Deven ter im Jahre 1648. Reproduktion eines zeitgenössischen Stichs nach PARKER, The Army of Flanders, Plate 3.
zog aus seinen Erfahrungen die Konsequenz, seine Heimat zu verlassen und im Februar 1593 Hofkanzlist im Dienst des bayerischen Herzogtums zu werden. Der entstehende Territorialstaat bediente sich zunehmend ALBERTINUS
Mit dieser Formulierung spiele ich an auf die Ethica more geometrico demonstrate! des spanisch-niederländischen Philosophen BARUCH SPINOZA. Der Philosoph versucht eine quasimathematische Ableitung moralischer Maximen aus unwiderlegbaren allgemeinen Axiomen. Damit ist Geometrie im radikalen Sinn zur barocken Verhaltensnorm geworden, was die Formulierung HENNING EICHBERGS bestätigt. Vgl. SPINOZA, Tractatus de intellectus emendatione, Ethica / Abhandlung über die Berichtigung des Verstandes, Ethik = Opera / Werke, Band 2, hg. von KONRAD BLUMENSTOCK. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 4 1 9 8 9 . Zur sozialgeschichtlichen Einordnung SPINOZAS vgl. YIRMIYAHU YOVEL, Spinoza, Das Abenteuer der Immanenz, deutsch von BRIGITTE FLICKINGER, Göttingen (Steidl) 1 9 9 4 ; MARIANNE AWERBUCH, "Spinoza in seiner Zeit": Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte = Studien zur Geistesgeschichte 1 6 , hg. von H A N N A D E L F u.a., Berlin (Hentrich ) 1 9 9 4 , 3 9 - 7 4 . Was, wie die oben zitierte Position HENNING EICHBERGS verdeutlicht, unter Umständen eine Selbsttäuschung projizierenden Denkens sein konnte.
Historischer Ort des Autors
53
der Sachkenntnis bürgerlicher Gelehrter, ausländischer zumal, womit er hergebrachte ständische Vorrechte und Vorurteile beseitigte.50 Der Eintritt des Niederländers in die bayerische Verwaltung lenkt den Blick auf einen Paradigmenwechsel, der in der Abkehr der regierenden Fürsten von hergebrachten, landständischen Strukturen und dem Aufbau einer Zentralverwaltung besteht, die nur noch dem Staatsoberhaupt verantwortlich und von ihm abhängig ist. ALBERTINUS verkörpert die neue Gesellschaftsordnung, der er als Staatsdiener verpflichtet ist. Und auch das Buch vom Landtstörtzer Gusman spielt eine Rolle in dieser neuen Ordnung, ist doch die Verdeutschung eines spanischen Originals nicht nur Teil des umfangreichen Übersetzungswerkes seines Verfassers, sondern darüber hinaus funktionales Glied in der umfassenden Propagandamaschinerie des frühabsolutistischen Staates, von der die Gesellschaft des gegenreformatorischen Bayern ihren entscheidenden Modernisierungsschub erhielt. Wie seine gesamte Tätigkeit läßt sich auch die publizistische Arbeit von ALBERTINUS im Funktionszusammenhang dieser Maschinerie begreifen. Unterstützt von der Hofbibliothek, der er zeitweise vorstand, und staatlichen Finanzmitteln fugt sich das Übersetzungs- und Kompilationswerk des AEGIDIUS ALBERTINUS ein in die Politik des maximilianeischen Staates, der die Gründung von Druckereien am Ort unterstützte, um das eingemeindete Fremdgut des gegenreformatorischen Spanien zu verbreiten. Der bayerische Herrscher selbst, Motor der Maschinerie, gab die Übersetzung bestimmter Werke bei ALBERTINUS in Auftrag51 und kann mit einem gewissen Recht als der eigentliche Autor der erbaulichen Literatur seiner Zeit bezeichnet werden. Gleichzeitig war ALBERTINUS' Tätigkeit in der Hofratskanzlei, der Zensuibehörde, eine Abschirmung fur schädlich gehaltener Einflüsse. Grenzkontrollen und die Durchsuchung fahrender Buchhändler hielten wie ein Damm den Import von Literatur aus dem protestantischen Ausland ab. Damit läßt sich bereits ein konstituierendes Moment der entstehenden Territorialstaaten benennen: das Prinzip der Abgrenzung''1 und Ausgrenzung. Im Lande selbst wurden Bibliotheken visitiert und von vermeintlichem Unrat 'gereinigt'. Ideologische Homogenität sollte die Einheit des entstehenden Staatsgebildes gewährleisten.53 30
51 51
"
Vgl. NIKLAS FREIHERR VON SCHENCK UND NOTZING, "Das bayerische Beamtentum 1 4 3 0 - 1 7 4 0 " : Beamtentum und Pfarrerstand 1400-1800, Büdinger Vorträge 1 9 6 7 , hg. von GÜNTER FRANZ, Limburg (Starke) 1 9 7 2 = Deutsche Fährungsschichten in der Neuzeit 5, 2 7 - 5 0 , hier 3 2 . Vgl. VAN GEMERT, Die Werke des Aegidius Albertinus 3 9 . Vgl. hierzu MICHAEL STOLLEIS, "Die Fremden im frühmodemen Staat": DIE ZEIT Nr. 2 7 . , 2 . Juli 1 9 9 3 , 3 2 . Zu MAXIMILIANS Staatszielen führt PETER BERNHARD STEINER, "Der gottselige Fürst und die Konfessionalisierung Altbayems": Um Glauben und Reich, Beiträge = Wittelsbach und Bayern II/l, 2 5 2 - 2 6 8 , hier 2 5 3 , aus: Sein Ziel war die scharfe doktrinelle, kulturelle, territoriale und soweit wie möglich auch wirtschaftliche Abgrenzung von Lutheranern und Calvinisten. Vgl. BREUER, Oberdeutsche Literatur 2 2 - 2 9 , und HELMUT NEUMANN, Staatliche Bücherzensur und -aufsieht in Bayern von der Reformation bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts, Heidelberg/Karlsruhe (C.F. Müller Juristischer Verlag) 1977.
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Albertinus' LandtstOrtzer Gusman
In diesem realgeschichtlichen Rahmen findet der Auftritt des ersten fiktiven spanischen Schelmen innerhalb der deutschen Literatur statt. Mit dem Landtstörtzer Gusman erreicht der picaro auf zweierlei Weise deutsches Sprachgebiet. Einerseits erscheint die Kompilation spanischer Vorlagen im frühabsolutistischen Bayern. Und andererseits betritt im Roman der spanische Held mit seiner Schauspieltruppe bayerischen Boden. Es zeigt sich, daß die Verdoppelung von Räumen und Zeiten auch innerhalb des Textes wirksam bleibt, da hier der vom Helden erlebten Welt die Erzählerebene gegenübersteht, die Räume und Zeiten nach ideologischen Vorgaben zurichtet. Daraus ergibt sich die Ausgangsvermutimg, diese Ordnung der fiktiven Welt stelle ein strukturelles Korrelat zur politischen Ordnung der zeitgenössischen Realität dar. Raum und Zeit des Vaganten wären dann in zweifacher Hinsicht durch vorgängige Ordnungsmuster bestimmt: durch die Rahmenbedingungen der erlebten Welt und durch die Konstruktionsbedingungen der erzählten Welt. Die doppelte Rolle des Schelmen unterläuft den albertinischen Disziplinierungsversuch, der sich einen papierenen Helden als Exempel für den Leser erziehen will. Das läßt zunächst für den Helden nichts Gutes ahnen. Es ist durchaus fraglich, ob sich der umherziehende Schelm in der fiktiven Welt des Buches behaupten kann, wenn sie der engen Welt des Verfassers und seiner Leser entspricht.
Im barocken Handlungsraum: Gusmans Weg durch den kompilatorischen Baukomplex des Textes Bisher habe ich ganz allgemein festgestellt, daß der Landtstörtzer Gusman auf verschiedenen, vorwiegend spanischen Vorlagen basiert. Bei näherem Hinsehen - und dieser genauere Blick verdankt sich vor allem den detaillierten Quellenstudien GUILLAUME VAN GEMERTS - ergibt sich allerdings, daß es sich bei ALBERTINUS' Werk um ein recht kompliziertes Gebilde handelt, in das neben dem originalen spanischen Guzmán des MATEO ALEMÁN auch die apokryphe Fortsetzung des JUAN MARTÍ und eine Fülle erbaulichen Schrifttums aus dem 15., 16. und dem beginnenden 17. Jahrhundert eingearbeitet wurden.1 Zug um Zug erkennt die Forschung in bislang für albertinisches Eigengut gehaltenen Passagen fast wörtliche Übernahmen aus recht unterschiedlichen Quellen. Es wäre also nicht überraschend, wenn auch die Teile des Werkes, die bis jetzt noch nicht einer bestimmten Quelle zugeordnet werden konnten, sich demnächst ebenfalls als Quellenadaptionen erwiesen. Mit anderen Worten: ALBERTINUS hat höchstwahrscheinlich kaum einen Satz original für sein Werk verfaßt. Mit der Entdeckung dieser eigenartigen kompilatorischen Technik erweist sich ein klassisches Verständnis der Autorschaft, das in einem Werk eine individuelle Schöpfung sieht, für diesen Text als unangemessen. Es stellt sich überdies die Frage, ob die Welt des Buches tatsächlich die der beschriebenen Vorgänge sei, ob sich in der Wechselbeziehung zwischen dem Vorwärtsschreiten des Helden und dem Prozedere des Verfassers nicht eine spezifische Form der Weltwahrnehmung und Weltaneignung ermitteln lasse. Auf den folgenden Seiten werde ich deshalb dem Weg des Helden durch die verschiedenen 'Bauteile' des Landtstörtzer Gusman nachgehen, die in ihren Aufbau jeweils einer Hauptquelle folgen. Der Held durchläuft also
1
Vgl. vor allem GUILLAUME VAN G E M E R T S bereits genanntes Standardwerk Die Werke des Aegidius Albertinus und vom selben Autor "Ubersetzung und Kompilation im Dienste der Katholischen Reformbewegung, Zum Literaturprogramm des Aegidius Albertinus (1560-1620)": Daphnis 8 (1979) Heft 3/4, 123-142; "Zur Geiler von Kaysersberg-Rezeption im frühen siebzehnten Jahrhundert, Der Einfluß eines indizierten Autors auf Albertinus und Tympius": Morgen-Glantz, Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth Gesellschaft 2 (1992) 100-111; "Zur deutschen Gusman-Trilogie, Quellenverwertung und neue Sinngebung": M A R G I T R A D E R S / M A R I A L U I S A S C W I A I N O (Hgg.), Der deutsche und der spanische Schelmenroman - La novela picaresca española, Madrid (Universidad Complutense, Facultad de Filología/Ediciones del Orto) 1995, 17-36; "Vom Picaro zur Leitfigur interkonfessioneller Konfrontationen, Kompilatorisches Verfahren und neuer Sinngehalt im deutschen Gusman von 1615-1626": Morgen-Glantz 6 (1996) 265-290.
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literarisch-artifizielle Räume, die nicht die Welt zum Vorbild haben, sondern andere Texte und abstrakte Ideen. Der Weg des Helden durch die topographisch erfaßbare Welt beginnt auf dem Gut Alfar[a]che in der Nähe von Sevilla. Der Name Alfar[a]che bezeichnet nicht nur den Ausgangspunkt der schelmischen Lebensreise; an dieser Textstelle nimmt auch der Gang durch die künstlichen, aus Textbausteinen errichteten Räume des Landtstörtzer Gusman seinen Anfang. Denn das Gut Alfarache hat seinen ursprünglichen literarischen Ort im ersten Teil von MA 2 TEO ALEMÁNS Roman Guzmán de Alfarache von 1599. Die ersten Etappen auf dem Weg des nach dem Verlust der Eltern in die Welt gestoßenen Gusman zeichnet ALBERTINUS als Kopie der originalen Vorlage. Damit wird in Umrissen ein erster Gusman-Komplex erkennbar, der sich kartographisch als Reiseweg des Schelmen in Spanien und Italien abbilden läßt.
Abbildung 7: Guzmáns Reiseweg in Mateo Alemáns Schelmenroman. Karte von ALLEN BJORNSON aus: RICHARD BJORNSON, The Picaresque Hero in European Fiction, Madison (The University of Wisconsin Press) 1977, 57, Fig. 8.
Dem ersten Abschnitt des von ALEMÁN vorgegebenen Reiseweges vertraut sich die albertinische Fassung unmittelbar an. Der jugendliche Vagant gelangt hungernd, bettelnd, bestohlen und stehlend von seinem Geburtsort nach Madrid und Toledo, bis er sich nach Italien einschifft und auf der Suche nach der Familie des Vaters nach Genua kommt. Von dort wird der Habenichts durch das üble Verhalten seiner Verwandten vertrieben, schlägt sich nach Rom durch und professionalisiert dort sein Bettelgewerbe, bevor er in die Dienste eines Kardinals und eines französischen Gesandten eintritt. Auf den MATEO ALEMÁN, "Das Leben des Guzmán von Alfarache", übertragen von RAINER SPECHT: Spanische Schelmenromane, Band I, hg. von Horst Baader, München (Hanser) 1964. (Im folgenden: Spanische Schelmenromane I). MATEO ALEMÁN, Guzmán de Alfarache, ed. de JOSÉ MARIA MICÓ, Band I, Madrid (Catedra) 1992. (Im folgenden: ALEMÁN, Guzmán.)
Text und Vorlagen: Buch als Triptychon
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ersten Blick entrollt sich der Reiseweg und die pikareske Karriere des Helden - wie in der spanischen Vorlage - als ein von kleinen moralisierenden Einschüben unterbrochenes Genrebild der zeitgenössischen Umwelt.
Abbildung 8: Gusmans Reiseweg in Albertinus' Landtstörtzer Gusman. Computerskizze von SYLVIACORDIE nach einer Vorlage in WB-Soft ClipArts (TLC-Tewi) unter Verwendung von Ulead PhotoImpact 3.0.
Mit der Abreise Gusmans aus Rom vertraut sich ALBERTINUS seiner zweiten Hauptquelle an, der apokryphen Guzmáw-Fortsetzung des JUAN MARTÍ. 3 Die VON MELLE, Die Entwicklung des öffentlichen Armenwesens in Hamburg, Hamburg (Jowien) 1 8 8 3 ; PERCY ERNST SCHRAMM, Neun Generationen, Dreihundert Jahre deutscher 'Kulturgeschichte' im Lichte einer Hamburger Bürgerfamilie (1648-1948), Band 1, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1 9 6 3 ; ERICH ACHTERBERG, Kleine Hamburger Bankgeschichte, Hamburg-Altona (Dingwort) 1 9 6 4 ; OTTO BRUNNER, "Hamburg und Wien, Versuch einer sozialgeschichtlichen Gegenüberstellung": Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa, Reichenau-Vorträge 1963-1964, Konstanz, Stuttgart (Thorbecke) 1 9 6 6 ; MARTIN REIBMANN, Die hamburgische Kaufmannschaft des 17. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Sicht = Beiträge zur Geschichte Hamburgs 4, Hamburg (Christians) 1 9 7 5 ; LYNNE TATLOCK, "Selling Turks, Eberhard Werner Happel's Turcica ( 1 6 8 3 - 1 6 9 0 ) " : Colloquia Germanica 2 8 ( 1 9 9 5 ) 3 0 7 - 3 3 5 .
2
So die Anreden in der "Zuschrift" in: HIERONYMUS DÜRER, Lauf der Welt Und Spiel des Glücks / Zum Spiegel Menschliches Lebens vorgestellet in der Wunderwürdigen Lebens-beschreibung
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
und trifft dort, obwohl es Sonntag ist, eine Zahl von bekannten Kauffleuten an, unter denen sogleich ein allgemein frolocken vnd frewde über die Rettung entsteht, deren sich der Sohn des prominenten Mitbürgers zu erfreuen hat.3 Den Kaufmannskollegen sind Risiken für Leib und Leben, aber auch für das Geschäft vertraut. SCHULTE selbst berichtet in Briefen an seinen Sohn von Havarien, so etwa von 6 verunglückten Schiffe, welche vorigen Jahreß von Porta Port gekommen. Die verlorene Ladung, ohngefehr 1500 Kisten Zucker vnd 1200 Rullen Toback, stellt einen Gegenwert von über 200 000 RthlrS dar, was dem 120fachen Jahresumsatz eines einfachen Hamburger Kaufmanns entspricht. 5 Am Schicksal der Handelsschiffe hängen Existenzen, Grund genug, das Risiko zu minimieren, das der einzelne in diesem Geschäft eingeht, indem man es - Partenreederei wird dies genannt - auf mehrere Anteilseigner eines ausgerüsteten Schiffes verteilt. 6 Darüber hinaus gibt es bereits auch Versicherungsgesellschaften, doch endet ihre Macht da, wo die zu versichernden Schäden die Einlagen der Versicherten übersteigen. In schlechten Zeiten bleibt den Gesellschaften deshalb nichts anderes übrig, als sich selbst gegen Verluste abzusichern, indem die Versicherungsprämien erhöht werden. Das wiederum hat unmittelbare Auswirkungen auf die Investitionstätigkeit und den Mut zu unternehmerischem Risiko. SCHULTE notiert, daß der stürmische Winter 1681/82 mit seinen häufigen Unglücken beginnt, sich auf den Gang der Geschäfte insgesamt auszuwirken.7 Dem Sohn in Lissabon berichtet er von der Klage seiner Schwäger,
5 4 5
6
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des Tychanders [...]. Hamburg 1668. Zitiert wird nach dem Reprint: Lauf der Welt und Spiel des Glücks. Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 1984. Vgl. SCHULTE 1/2 (Brief 1,17.12.1680). Vgl. SCHULTE 67 (Brief XVI, 27.1.1682). Vgl. REIH MANN, Die hamburgische Kaufmannschaft des 17. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Sicht 81, wo fur 62,2 % der Kaufleute Umsatznotierungen unter 5000 Mk (entsprechend 1666 Rhtlr.) angegeben werden. Es habe allerdings auch Spitzenumsätze zwischen 600 000 und 800 000 Mk gegeben. Der Vergleich ergibt sich, wenn man für die von REUMANN verwendete Einheit von 3 Mk (Mark lübisch, entsprechend 16 Schillingen) 1 Rthlr. (entsprechend 48 Schillingen) einsetzt. Vgl. REIBMANN 419/420 und ACHTERBERG, Kleine Hamburger Bankgeschichte 61. Vgl. BRUNNER, "Hamburg und Wien, Versuch einer sozialgeschichtlichen Gegenüberstellung" 284. Die systemischen Auswirkungen von Schiffahrt und Schiffbrüchen auf den Markt wurden bereits in der ersten Jahrhunderthälfte erkannt und beschrieben. Vgl. JOSEPH FURTTENBACH, ARCHITECTURA NAVALIS. Das ist: Von dem Schiff-Gebäw / Auff dem Meer vnd Seekusten zugebrauchen. Reprint der Ausgabe Ulm 1629, Lindau (Antiqua) o.J., aus der Vorrede: Diß gibt dem Schiffwesen vnd Gebäw sein herrlich dignitet, vnd Lob /das durch dasselbe so trefflicher profit allen Ländern vnd Nationen reichlich zugeht. Ich schreibe vnd sage mit wissen: Allen Ländern. Darbey ich verstanden will haben / nicht nur dise Ort / welche am Meer / vnd See gelegen; sondern ß:():(] auch die vom Meer weit entsessne / jnnere Gewerbstätt; an dieselbe gelangen gleichfals die vnzahlbare Beneficia, so durch die Schiffarthen consequenter hin vnd wider dispensirt, vnnd außgetheilt werden. Dahero wann nur ein widerwertige Zeitung arrivirt, daß die Wahren auff dem Meer in der Flotta schaden von torment, oder Feindlichem An-
Risiko und Versicherung in Johann Schuttes Briefen
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[...] daß, leider!, gegenwertig mit der Handlung kein vorteil zu machen. Sie sagen so; laßen wyr Unsere wahren versicheren, so nimpt die praemie den vortheil weg, laßen wyr aber nicht versicheren, milßen wyr in den Sorgen stehen, daß daß Capital gar aujf den Lauff gehe vnd werden die Leute fast zaghafft, nachdemahl eine Zeit hero So viel Schade zur See geschehen.*
Doch die Unbilden des Wetters, die ganze Schiffsbesatzungen ums Leben bringen, also daß nur ein Man davon gekommen, und sich drückend auf die hiesige Börse9 und ihren Geschäftsgang auswirken, sind nicht allein für die Schadensfalle haftbar zu machen. SCHULTE kritisiert, daß der Seehandel begonnen hat, sich über bislang geltende natürliche Grenzen hinwegzusetzen und seine Tätigkeit auf bislang schiffahrtsfreie Jahreszeiten auszudehnen. Ganz geheuer ist Zeitgenossen des beginnenden Welthandels wie JOHANN SCHULTE ein ungehemmtes Gewinnstreben noch nicht, das beginnt, sich bislang ungenutzte Räume und Zeiten dienstbar zu machen und alle natürlichen Unterschiede aus kalkulatorischen Gründen einzuebnen. SCHULTE betont, es sei nicht zu Loben, daß Unsere Leute ohne unterscheidt, eß sei Sommer oder Winter Jhre Schiffahrten verüben. Unternehmerische Aktivität bedarf für ihn eines Korrektivs durch die Hinnahme natürlicher und somit gottgegebener Umstände. Mit diesen Gegebenheiten sieht SCHULTE menschliches Handeln in Wechselbeziehung, so daß manche unternehmerische Planung nicht ohne eigenes Verschulden durch unvorhergesehene Stürme umgeworfen wird und aus dem Ruder gerät, schließlich sei eß Gotteß Wetter vnd Windt [...], welcheß wyr in Geduldt annemmen vnd ertragen müßen. Ganz ausdrücklich bezieht er sich auf den kirchlichen Kalender, wenn er die vorfahren lobt, die so vermeßen nicht gewesen seien, sondern Jhre Schiffe auf Martini an den Wall geleget hätten.10 Der erfahrene Handelsherr erinnert sich noch an Zeiten, als man seine Grenzen und mit ihnen die überkommenen Gepflogenheiten
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g r i f f / vnnd Raub eingenommen / so wirdt dasselbig alsbald in den Gewerb Läden vnd Gaden an fürnemmen Orten erkundiget / vnd in erhöhung deß près empfitnden. SCHULTE 64 (BriefXV, 30.12.1681). Ahnliches weiß SCHULTE über die Liquidität der Fewr Cassa zu berichten, nachdem im Sommer 1684 eine Fewrsbrunst große Teile von Hamburg zerstört h a t Der Plötzlichkeit der Katastrophe gegenüber setzt er auf Zeitgewinn und schlägt vor, daß die Bezahlung deß Fewr Schadenß aujf 2 oder 3 terminen werde müssen gesetzet werden. SCHULTE 185 (Brief LIV, 25.7.1684). Zur Hamburger Feuerkasse, ihres Zeichens älteste Sachversicherung der Welt, vgl. "Bürger streiten für ein Monopol": DIE ZEIT, Nr. 10.4. März 1994, 28. Die Bedeutung der Assecur¿miz-Gesellschaften, namentlich der Feuer-Cassa. fur das unternehmerische Handeln war so groß, daß sie schon bald Eingang in das kaufmännische Rechnen fanden. Vgl. hierzu H E I N S , Gazophylacium 233 und 596-598. Vgl. Vgl.
59 (BriefXIV, 16.12.1681). (Brief II, 31.12.1680). Zum Überwintern der Schiffe vgl. ein Emblem bei ARTHUR H E N K E L / ALBRECHT SCHÖNE (Hgg.), Emblemata, Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Taschenausgabe, Stuttgart/Weimar (Metzler) 1996, Spalte 1469/1470. Dort ist von einer Spielart des Gelegenheitsdenkens die Rede, die bey Zeiten einpacket/ biß die Sachen in einen bessern Stand gerathen. Das Motto des Emblems, DVM DESAEVITHIEMS nimmt Bezug auf das Buch IV der Aeneis, das Dido-Buch, das filr diese Untersuchung noch eine Rolle spielen wird. SCHULTE
SCHULTE 7
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respektierte. Aus der konservativen Einstellung des Sprechers ergibt sich eine Ungleichzeitigkeit und Distanz zur gängigen Praxis, die ihm erlaubt, sie kritisch in den Blick zu nehmen. Die so formulierte Kritik bleibt jedoch hilflos, weil sie lediglich isolierte Momente des unternehmerischen Handelns als überstürzte Neuerungen betrachtet, ohne einzusehen, daß sie Konsequenz eines Prozesses sind, in den auch der konservative Unternehmer eingebunden ist. Deshalb bleibt er fixiert auf die alten Ordnungen, die zwar quer zu den neuen Praktiken stehen, aber keine reale Alternative zu ihnen darstellen. Zwischen zwei konkurrierenden Chronotopoi öffnet sich ein unüberbrückbarer Spalt: zwischen dem Drinnen, dem vertrauten Interieur des altväterlich geordneten Haushalts, und dem Draußen des feindlichen Lebens, der stürmischen Entwicklung eines expandierenden Geschäftsgangs. Die Pflege fester Bräuche, die der Kalender etwa zum Martinstag vorsieht, und die damit einhergehendene Festigung familiärer Beziehungen versprechen dem Kaufmann jene Sicherheit, die er in den Unwägbarkeiten des Geschäftsverkehrs vermißt. Schon eine Woche vor dem Termin freut sich SCHULTE, daß er Kinder vnd Schwieger Söhne auff die Martins Ganß in seinem Haus bewirten werde." Immer wieder versichert er den Sohn brieflich des Wohlwollens seiner Anverwandten, letzter Rettungsanker in der fremden Geschäftswelt, in die sich der Sohn begeben hat. Denn auch ganz unabhängig von den Naturgewalten bedarf jedes Unternehmen der Absicherung, ist es doch in menschliche Beziehungen verstrickt, die es unversehens zu Fall bringen können. Ist der Krieg die Fortsetzimg des Geschäfts mit anderen Mitteln, so sucht die Konkurrenz mit kriegerischer Gewalt ihren Vorteil und bedroht die Handelsflotte, ihre Besatzung und Fracht, so daß SCHULTE mit seinen Geschäftsfreunden in Sorgen steht, ob der Frieden continuiren oder ob eß Krieg geben werde, und sich fragt, waß bei den bevorstehenden gefährlichen conjunctureη vorzunemmen sein wirdt.12 Die Hamburger Stadtverwaltung leistet sich eine Admiralität, der oWog-Schiffe zur defensionn der Handelsflotte unterstehen. Doch auch unter den Geschäftspartnern mag es manchen liederlichen Vogel14 geben, der schon einmal mit einer Schiffsladung oder deren Gegenwert verschwindet oder auch seine Gläubiger in den Strudel eines betrügerischen Bankrotts zieht. Deshalb ist Vorsicht geboten, soll der eigene Vorteil und das Interesse von Familie und Geschäfts" 12 13 14
Vgl. SCHULTE 53 (Brief XII, 4.11.1681). Vgl. SCHULTE 75 (BriefXVIII, 10.2.1682). Vgl. SCHULTE 50 (Brief XI, 9.9.1681). HEINS, Gazophylacium 4 6 2 , stellt einen solchen Fall unter der Rubrik Gewinn= und Verlust-Rechnung zur Berechnung und Beherzigung vor: Es hatte einer eine gute Partey Kupfer liegen. Als er aber den Rest verhandelte, gerieth er an einen liederlichen Vogel, der so wol mit dieser, als vielen andern hie und da listig erpracticirten Parteyen, unversehens davon flog, so daß nichts davon wieder zu erwischen war. Frage: Wie viel demnach an obigem Kupfer eingebüsset worden?
Rhetorik der Verstellung bei Schulte
181
freunden gewahrt bleiben.15 Und Interesse ist hier ganz handfest als das investierte Kapital zu verstehen, die finanzielle Grundlage der Existenz also.16 Die eigenen und familiären Interessen zu wahren gehört zu den Grundbegriffen kaufmännischen Handelns, die JOHANN SCHULTE SR. an seinen Sohn weiterzugeben versucht. Um die Kontrolle über sämtliche Vorgänge zu behalten, bedarf es zunächst einmal der räumlichen und zeitlichen Orientierung. Deshalb sendet SCHULTE seinem Sohn per mare als erstes Hilfsmittel eine Landtkarte, in der der Sohn fleißig herumb sehen soll, um sich dieselbe bekant zu machen und einen Eindruck davon zu gewinnen, woselbst dieser vnd jener Ohrt gelegen.17 Der Vater trägt auch Sorge, die Uhr, die Horologie des Sohnes, repariren zu lassen, und verspricht, er werde sie ihm so müglich mit denen abgehenden Schiffen [...] wieder zurück senden.™ Landkarte und Uhr erleichtern offenbar die Kontrolle, die in den Wechselfällen des Geschäftslebens so schnell verloren geht." Doch ist es mit dem globalen Überblick und der exakten Terminierung der Geschäfte nicht getan. Gerade die Beziehungen zum eigenen Compagnon und zu anderen Geschäftspartnern verlangen Umsicht, Takt und Einfühlungsvermögen. Wie ein Schiff auf hoher See hat sich der junge Geschäftsmann, folgt er den Ratschlägen seines Vaters, an den Gegebenheiten zu orientieren und mit dem Wind zu segeln. Als der Sohn davon befremdet ist, daß sein Compagnon plötzlich unzufrieden und mißgelaunt reagiert, rät der Vater zu Geduld und ruhigem Kurshalten, unbeeindruckt davon, daß eine kleine trübe Wolcke vorkompt: aber daß Boiken muß man überstehen laßen, hernegst scheint die Sonne wieder?" Da der Sohn sich ohne Erfahrung auf unbekann15
"
" " 19
20
Die Verwendung des Wortes Vorteil in ökonomischen und militärischen Zusammenhängen bedürfte noch einer historisch-semantischen Untersuchung. Vgl. SCHULTE 90 (Brief XXII, 5.5.82): Von dem großen fallissement, welches Mr. du Pree gemacht wirstu vieleicht von andern berichtet sein, alle die an der Borse in wechseln etwaß thuen kommen daran veste vnd der gute Fr. Schloyer auff 20000 Rthlr, auch soll Hr. Teixera eine große summa haben, in summa eß ist ein schandtbarer Bancroft. Gott sei danck, daß keiner von den Unsrigen darbei interessiret. Zur Erinnerung: Der Verlust des erwähnten Herrn Schloyer beträgt den 12fachen Jahresumsatz eines einfachen Kaufiiianns. Zum Terminus Interesse vgl. GRIMM, DWB, Band 10, 2147, wo als früheste Bedeutung der antheil, der dem vermögen jemandes aus der handlung eines andern entsteht, entgangener nutzen oder erwachsener schaden erscheint; darüber hinaus werde das Wort für den Zins eines ausgeliehenen ¡capitals gebraucht Das Interesse spielt eine so große Rolle im geschäftlichen Alltag, daß ihm in HEINS' Gazylophylacium ein eigenes Kapitel gewidmet ist Dort heißt es (Seite 225): INTERESSE Oder Rente-Rechnung. Diese lehret: Wie man Renten oder Zinsen, von denen ausgethanen oder aufgenommenen Capital-Geldern, berechnen soll. Vgl. SCHULTE 68/69 (BriefXVI, 30.12.1681). Vgl. SCHULTE 84 (Brief XX, 24.3.1682). Vorsicht und Umsicht räumliche und zeitliche Kontrolle über die Geschäftsvorgänge sind auch nach HEINS, Gazophylacium 2 5 9 , das beste Mittel, sein Interesse zu wahren. Das Rechenbuch gibt einen Vers als Merk- und Lebenshilfe: Es ist nicht leicht ein Puff, der einen Handels=Mann,\ (Auch wann ers kaum vermeint) nicht bald befallen kann. \ Drüm, wer bey Kauffmannschafft will etwas seyn und taugen, \ Dem kamen wollzu paß des Argus hundert Augen. SCHULTE 46 (Brief X, 26.8.1681).
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tem Terrain bewegt, ist auf jeden Fall Vorsicht geboten. Es erscheint ratsam, im Gestus der Verschlossenheit21 bisweilen sozusagen unter falscher Flagge zu segeln. Wer eventuelle Konkurrenten und Gegner über seine eigentlichen Intentionen im unklaren läßt, verschafft sich einen Vorsprung und und erzielt einen Terraingewinn. Dem Widerspruch von Schein und Sein, den der Sohn bei Geschäftspartnern gewahrt, die gute wordte gäben, aber Galle im Hertzen hätten, kann man nach dem Rat des Vaters nur mit den gleichen Mitteln begegnen. In diesen Fällen sei es dienlich, daß man Füchse mit Füchsen müße pflügen. Das Wort wird zum Mittel der Verstellung, sein hintergründiger Sinn unterscheidet sich von dem, was es vordergründig bezeichnet. Die kaufmännischen Gepflogenheiten verkehren die wahren Intentionen in ihr Gegenteil. Geschäftstüchtige Höflichkeit wird zur Allegorie, zur Anders-Rede des Eigennutzen und damit sozusagen zur Totenmaske der Verläßlichkeit, die sie signalisiert, indem sie sich in verschiedenen Situationen, zu allen Zeiten, gleich zeigt. Damit ist Verläßlichkeit zwar scheinbar durch die immergleiche Höflichkeit garantiert, doch täuscht gerade diese gleichbleibende Oberfläche über unvermutet drohende Untiefen und Veränderungen. Die Einebnung der Zeiten, die SCHULTE an anderer Stelle beklagt, ergibt sich zwangsläufig aus einem Geschäftsgebaren, das einer allgemeinen Vertauschbarkeit geschuldet ist und damit noch der persönlichen Beziehung die Warenform aufprägt. Der Zwang der Vertauschbarkeit verlangt, daß alles zu allen Zeiten und an allen Orten möglichst gleich erscheint. In ihrer Offenheit entlarvt sich die treuherzige Handlungsanweisung des Vaters selbst, wenn er dem Sohn rät: gib Du auch allen leuten [...] zu allen Zeiten gute wordte vnd gedencke daß Deine dabeneben, daß ist der weldt lauff}2 Die Rede von den Weltläuften stammt wie das Bild vom Sturm auf hoher See aus dem Arsenal einer Metaphorik, mit der die Sprecher die realen Handlungszusammenhänge vor sich selbst und anderen verschleiern, indem sie die historischen Ereignisse [...] wie mythische, metereologische oder pathologische Katastrophen erscheinen lassen, anstatt diese Ereignisse als Handlungen von Menschen, Gruppen und Institutionen gegenüber Menschen aufgrund sehr konkreter politischer und sozioökonomischer Interessen zu benennen und rational zu erklärenEinerseits ist die metaphorische Rede rückgebunden an alltägliche Praktiken des Geschäftslebens, während sie andererseits auf rhetorische Strategien der Typisierung und Verschleierung zurückgreift, in denen sich das verschleiernde Taktieren 21
22 23
Zur Verschlossenheit als bürgerlicher Handlungsnorm vgl. HARALD STEINHAOEN, Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, Historisch-ästhetische Studien zum Trauerspiel des Andreas Gryphius, Tübingen (Niemeyer) 1977, 57-59. SCHULTE23 (Brief IV, 25.2.1681). Vgl. PETER VON POLENZ, Deutsche Satzsemantik, Grundbegriffe des Zwischen-den-ZeilenLesens, Berlin, New York (de Gruyter) 2 1988, 192, wo die Funktionsweise dieser Metaphorik in Anlehnung an WOLFGANG F. HAUG anhand des hilflosen Antifaschismus der Nachkriegszeit erläutert wird.
Glückstadt:
historischer
Ort des
Fortuna-Emblems
183
des Geschäftsmannes noch einmal sprachlich äußert. Rhetorische Zeichenpraxis ist hier eingebettet in alltägliche Lebenspraxis. Diese Rückbindung der Sprache an die Lebenswelt markiert auch den Verständnishorizont für die Produktion und Rezeption poetischer Texte. Wenn nämlich SCHULTE in einer Art von Subjektschub24 die Verantwortung für sein Handeln einer anonymen Instanz überantwortet, indem er den weit lauf für die Überlebensstrategien im kaufmännischen Wettbewerb haftbar macht, scheint er damit auf den Titel eines Buches zu rekurrieren, das ihm ein gutes Jahrzehnt zuvor gewidmet worden war. Im Jahre 1668 hatte der Theologe HIERONYMUS DÜRER in Hamburg unter dem Titel Lauf der Welt Und Spiel des Glücks / Zum Spiegel Menschliches Lebens vorgestellet in der Wunderwürdigen Lebens-beschreibung des Tychanders einen Roman publiziert und ihn in der Vorrede eben diesem JOHANN SCHULTE gewidmet, der gerade zum Bürgermeister gewählt worden war. DÜRER, Sohn eines Goldschmieds und Ururgroßneffe von ALBRECHT DÜRER, war 1641 im holsteinischen Glückstadt geboren, hatte in Leipzig Theologie studiert und war zum Zeitpunkt der Publikation des Romans Hauslehrer beim Oberförster der Ämter Trittau und Reinbek, dem das Buch neben JOHANN SCHULTE gewidmet ist. JOHANN SCHULTES Verweis auf den Lauf der Welt, dem man sich zu fügen habe, und HIERONYMUS DÜRERS Identifikation dieses Weltlaufs mit einem personifizierten Glück: Beides sind Verbrämungen der Realität, die der Form nach an transzendente Instanzen appellieren, ihre Herkunft aus der säkularen Welt des Handels aber nicht verleugnen können. Auch DÜRERS Buch selbst kann vor diesem Hintergrund als unternehmerisches Wagnis betrachtet werden. Und wenn der Verfasser in der Zuschrift dieses Wagnis mit dem untauglichen Versuch Phaethons vergleicht, den Sonnenwagen zu lenken, der von dem Jupiter deswegen mit blitz und donner bestrafet worden sei, dann ist hinter der mythologischen Theaterstaffage unschwer das Lesepublikum auszumachen, das in fast olympischer Souveränität über den kommerziellen Erfolg oder Mißerfolg des literarischen Unternehmens zu befinden hat. Wundert es da, daß sich der Autor am Publikationsort eines einflußreichen Gönners versichert, dessen Buchempfehlung an zahlungskräftige Bekannte zwischen Börsengeschäften und Ratssitzungen Erfolg verspricht? Die Rückübersetzung des poetischen Textes in das zeitgenössische Umfeld, die ich durch den historischen Einstieg über die Briefe JOHANN SCHULTES versucht habe, erweist sich im nachhinein als relevant für zwei miteinander verbundene Aspekte des Romans. Erstens ergibt sich durch das Verhältnis zu SCHULTE eine sozialgeschichtliche Einordnung des Autors HIERONYMUS DÜRER, dessen Werk im Rahmen der hanseatischen Kaufmannswelt entstanden ist. Und zweitens erlaubt der Blick auf die rhetorischen Strategien SCHULTES, mit 24
Vgl. VON POLENZ,Deutsche Satzsemantik
186-193.
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denen er ökonomische Lebenschancen und -risiken verhandelt, ein vertieftes Verständnis allegorischer Verfahren, die in D Ü R E R S Roman eng mit der Geschehensebene um den stets gefährdeten Helden Tychander verknüpft sind. K A R I N UNSICKERS Studie über Weltliche Barockprosa in SchleswigHolstein, läßt die lokale Situation lebendig werden, in der es für D Ü R E R nahelag, seinen Romanhelden in einer allegorischen Stilisierung als Figur darzustellen, die vom Lauf der Welt Und Spiel des Glücks umhergetrieben wird.25 D Ü R E R spielt nämlich mit dem Titelkupfer seines Romans, das eine Frauengestalt auf einer Kugel zeigt, und mit dem sprechenden Namen des Haupthelden und Ich-Erzählers Tychander (griechisch für 'Glücksmann') auf seine Heimatstadt Glückstadt (griechisch Tychopolis) an, die in ihrem Wappen die Gestalt der Fortuna auf einer goldenen Kugel zeigt.26 D Ü R E R greift hier zu einem sprachlichen und bildlichen Stereotyp, wie es gängiger nicht sein könnte. Aus der Rede von der Unbeständigkeit des Zufalls oder des Glücks hatte sich in der Antike die Personifikation der Göttin (griechisch) Tyche oder (lateinisch) Fortuna entwickelt, der diese Eigenschaften zugesprochen wurden.27 Von der sprachlichen Personifikation aus war es ein kleiner Schritt, die personifizierte Gestalt des Zufalls auch bildlich darzustellen.28 23
KARIN UNSICKER, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein = Kieler Studien 10, Neumünster (Wachholtz) 1 9 7 4 . Für die biographischen Details stütze ich mich weitgehend auf UNSICKER. Eine weitere gründliche Interpretation von DÜRERS Lauf der Welt liegt vor bei JORGEN MAYER, Mischformen barocker Erzählkunst zwischen pikareskem und höfisch-historischem Roman, München (Fink) 1 9 7 0 , 1 7 - 4 2 . Vgl. hierzu BLAKE LEE SPAHRS Rezension: Germanie Review 4 8 ( 1 9 7 3 ) 5 1 8 - 5 2 1 . Kurze Angaben zu Leben und Werk DORERS finden sich bei: CHRISTIAN JÖCHER, Allgemeines Gelehrten-Lexicon, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1750, Hildesheim (Olms) 1 9 6 0 / 6 1 , Fortsetzungen und Ergänzungen, Band 2 , Sp. 7 7 7 / 7 7 8 ; WALTER SCHÄFER, Effigies Pastorum, Die Pastoren an St. Katharinen, 400 Jahre Osnabrücker Kirchengeschichte in Bildern und Urkunden aus den Quellen, Osnabrück (Meinders & Elstermann) 1 9 6 0 , 7 8 - 8 1 ; FRANZ HEIDUK, "Hieronymus Dürer": Modern Language Notes 8 6 ( 1 9 7 1 ) 3 8 5 - 3 8 7 . Neuerdings würdigt STEFAN TRAPPEN, Grimmelshausen und die menippeische Satire, Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock = Studien zur deutschen Literatur 132, Tübingen (Niemeyer) 1 9 9 4 auf den Seiten 7 2 / 7 3 , 2 2 0 , 2 2 3 / 2 2 4 , 2 3 3 und 2 7 2 DÜRER und sein Werk kurzer Erwähnung und gibt bibliographische Angaben.
M
Vgl. UNSICKER, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein 236 und 251. Vgl. HERBERT HUNGER, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Reinbek (rororo 6178) '1983, 415/416 s.v. Tyche. Vgl. E. R. DODDS, The Greeks and the Irrational, Berkeley und London (University of California Press) 1951, 242, wo der antike Kult der Tyche mit Hinweis auf den Religionswissenschaftler NILSSON als letzter Schritt auf dem Wege zur Säkularisation gedeutet wird, der die Formen der religiösen Verehrung einer weltlenkenden Instanz auf die gänzlich negative Idee des Unerklärlichen und Unvorhersagbaren projiziere. Einen ersten Einblick in die Emblembücher vermitteln ARTHUR HENKEL / ALBRECHT SCHÖNE (Hgg.), Emblemata, Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Taschenausgabe, Stuttgart/Weimar (Metzler) 1 9 9 6 ; ANDREAS ALCIATUS, Emblematum Libellus, Nachdruck der Ausgabe Paris 1542, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1987. Zu verschiedenen Aspekten der Emblematik vgl. etwa ALBRECHT SCHÖNE, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München (Beck) 3 1 9 9 3 ; DIETRICH JONS, "Emblematisches bei Grimmelshausen": Euphorion 6 2 ( 1 9 6 8 ) 3 8 5 - 3 9 1 ; GOTTFRIED KIRCHNER, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Ba-
27
28
Glückstadt: historischer Ort des Fortuna-Emblems
185
Abbildung 21 : Titelkupfer von Hieronymus Dürers Lauf der Welt und Spiel des Glücks, Hamburg 1668.
rock, Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, Stuttgart (Metzler) 1970; BERNHARD F. SCHOLZ, "Semantik oder Ontologie. Zur Bestimmung des 'Verhältnisses zur Wirklichkeit' in der neueren Emblemtheorie": DVJs 53 (1979) 362-377; ALEXANDER VON BORMANN, "Emblem und Allegorie, Vorschlag zu ihrer historisch-semantischen Differenzierung (am Beispiel des Reyens im humanistischen und barocken Drama)": WALTER HAUO (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Symposion Wolfenbüttel 1978 = Germanistische Symposien 3, Stuttgart (Metzler) 1979, 535-550; SVETLANA ALPERS, "On the Emblematic Interpretation of Dutch Art": The Art of Describing, Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago (University of Chicago Press) 1983, 229-233; HARALD STEINHAGEN, "Dichtung, Poetik und Geschichte im 17. Jahrhundert, Versuch über die objektiven Bedingungen der Barockliteratur": Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, Ihr Leben und Werk, hg. von HARALD STEJNHAQEN und BENNO VON WIESE, Berlin (Schmidt) 1984, 9 - 4 8 ; ULRICH GAŒR, "Emblematisches Erzählen bei Grimmelshausen": Simpliciano 12 (1990) 351-391; WOLFGANG NEUBER, "Locus, Lemma, Motto, Entwurf zu einer mnemonischen Emblematiktheorie": Ars memorativa, Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750 = Frühe Neuzeit 15, hg. von JÖRG JOCHEN BERNS und WOLFGANG NEUBER, Tübingen (Niemeyer) 1993,351-372.
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Dürers Laufder
Welt Und Spiel des Glücks
Die Emblembücher, die seit ALCIATUS zwischen ein knappes Motto (inscriptio) und ein Sinngedicht (subscriptio) eine Abbildung (pictura) einfügten, stellten Fortuna auf einer Kugel stehend dar und machten sie damit zu einem Bild der Unbeständigkeit.29
Abbildung 22: Emblem der unbeständigen Fortuna. Aus Hadrianus Junius, Emblemata, Antwerpen 1566. Reproduziert nach GOTTFRIED KIRCHNER, Fortuna in Dichtung undEmblematik des Barock, Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, Stuttgart (Metzler) 1970, Abbildung 4.
KIRCHNER, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock 19, weist daraufhin, daß die Kugel ein bildliches Element sei, das im Mittelalter so gut wie keine Rolle gespielt habe und deshalb die frühneuzeitlichen Fortuna-Darstellungen besonders auszeichne. Es stehe für die globusumspannende Macht des Zufalls, für seinen dauernden Orts- und Gesinnungswechsel. Als integrativer Bestandteil der Fortuna-Embleme charakterisiere er sie als Kugel-Göttin. So könne die Kugel auch als pars pro toto den Zufall selbst versinnbildlichen: Das Attribut löst sich von seiner Trägerin und erhellt jetzt auch den Zustand des ihr ausgelieferten Individuums.
Glückstadt: historischer Ort des Fortuna-Emblems
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Doch zeigt bereits die Form des Emblems, die das überlieferte Bild mit einer kommentierenden Unterschrift oder ein überliefertes Gedicht mit einer neuen Abbildung kombiniert, daß das traditionelle Stereotyp in einen aktuellen, konkreten Deutungszusammenhang gestellt wird, der vom Erkenntnisinteresse des Emblematikers oder des Betrachters geleitet ist. Jedes Emblem ist zugleich eine Stellungnahme zu der Tradition, in die es sich stellt.30 In unserem Fall wird ein komplexes Gefüge von Sinnebenen evoziert, indem H I E R O N Y M U S D Ü R E R das literarische Projekt seines Tychander-Romaxis mit dem politisch-ökonomischen Projekt seines Heimatortes Glückstadt verbindet und es zugleich dem Bürgermeister der konkurrierenden Handelsstadt Hamburg widmet. Die Beziehungen, die D Ü R E R mit dem Glücksemblem in den Text einschreibt, sind also nicht als rein zufallige Geistesverwandtschaft mit S C H U L T E zu verstehen, die sich im Rückgriff auf ein bedeutungsloses Stereotyp äußerte. Die in der Fortuna-Gestalt ausgedrückte Zufälligkeit der Weltläufte ist in der Realität auf faßbare Agenten rückfuhrbar. Denn für die Vorstellung vom Spiel des Glücks können als Hintergrund die politischen und geschäftlichen Konstellationen namhaft gemacht werden, die den Handelsplatz Glückstadt schon bei seiner Gründung durch den dänischen König 1616 zum bewußt plazierten Konkurrenten Hamburgs im Seehandel mit Dänemark machten.31 Die dänische Regierung wollte die Gewinne des lukrativen Geschäfts selber abschöpfen und versuchte mit der Gründung Glückstadts ihr unternehmerisches Glück, was die blasse Personifikation der Fortuna unversehens zum Leben erweckt. Der plötzliche Umschlag des Glücks, dessen Kugel nach D Ü R E R S subscripts zum Titelkupfer sich offt im augenblicke / und noch eh ' / herummer dreht, ist ja nicht allein himmlischen Mächten oder irdischen Naturgewalten zuzuschreiben, sondern oft von dem blitzschnellen Zuschlagen unternehmerischer Konkurrenten verursacht, die sich durch einen Zeitvorsprung ihren Vorteil sichern wollen. Die allegorisch-emblematische Fortuna-Gestalt ist durch ihre Verbindung mit politischem und ökonomischem Handeln an die Zeitform der Gelegenheit gebunden, die ich im ALBERTiNus-Kapitel als frühneuzeitliches Verhaltensmuster sowohl der Herrschenden als auch der Schelmen beschrieben habe. Deshalb ist es kein Zufall, daß die verdichtete Handlungszeit, zu der das schnelle Umschlagen der Ereignisse führt, auch die Darstellung der Fortuna als Occasio, als Personifikation der Gelegenheit, bestimmt. Was ich bei DÜRER als historischen Zusammenhang aufgewiesen habe, läßt sich ikono30 31
Vgl. GAIER, "Emblematisches Erzählen bei Grimmelshausen" 356. Vgl. UNSICKER, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein 2 3 6 . Zu Glückstadt als literarischem Ort vgl. DIETER LOHMEIER/KARIN UNSICKER, "Literarisches Leben des 1 7 . Jahrhunderts in Glückstadt, einer fürstlichen Verwaltungsstadt Schleswig-Holsteins": ALBRECHT SCHÖNE (Hg.), Stadt - Schule - Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, München (Beck) 1 9 7 6 , 4 4 - 5 6 .
188
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graphisch als emblematische Variatio beschreiben, die das Fortuna-Motiv als Occasio konkretisiert. Diese Figur der zufälligen Gelegenheit gibt, auf einer Kugel und einer Sanduhr stehend, einen Hinweis auf die verstreichende Zeit. ect)icfDicí;mMc?cít,
3r immer glbié ©(ítgcn^lf ¿
« M r in Kr 2B«lf /Du muf? ία» on. Abbildung 23: Fortuna als Gelegenheit auf Sanduhr und Weltkugel stehend. Aus Andreas Friedrich, Emblemata nova, Frankfurt 1617. Reproduziert nach KIRCHNER, Fortuna in Dichtung undEmblematik des Barock, Abbildung 6.
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Die Darstellung der Occasio/Fortuna mit langem Haar auf der Vorderseite und geschorenem Kopf auf der Rückseite enthält die Aufforderung, die Gelegenheit beim Schöpfe zu fassen.n Die Gelegenheit zwingt den Menschen zur Entscheidung, die in der punktuellen Zeitform der occasio sozusagen auf des Messers Schneide steht. Durch diese machiavellistische Rationalisierung des Zufalls stößt die emblematische Darstellung zu einer Aneignung der realen Lebensbedingungen vor: Bemühungen, ihres Kerns habhaft zu werden, fallen mit der räumlichen Fixierung der Zeit zusammen: Der günstige Augenblick, den die Göttin dem Menschen gewährt, wird zum Ort der historischen Realität, der alle künftigen Möglichkeiten in sich birgt.33
Diese Aneignung der räumlichen und zeitlichen Wirklichkeit durch das allegorische Konzept von Gelegenheit und Entscheidung hat freilich auch ihre Kehrseite. Denn die Personifikation der Gelegenheit kann sich verselbständigen und losgelöst von den Handlungsbedingungen betrachtet werden, die sie hervorbrachten. Dies kommt besonders in der gegenreformatorischen Interpretatio Christiana der Occasio-Gestalt zum Ausdruck. Der Jesuit IOANNES D A VID versinnbildlicht die Gelegenheit, um zu Buße und Umkehr aufzurufen. Damit verschiebt sich die Perspektive von den immanenten Bedingungen des Handelns auf die göttliche Garantie der irdischen Zeit, die vom Gläubigen als Gelegenheit zur Umkehr genutzt werden soll.34 Die Zeit mit Sense und Sanduhr und die Gelegenheit mit Kugel und Kreuz erscheinen als Exekutoren einer in der himmlischen Vatergestalt versinnbildlichten Ewigkeit, die von den irdischen Realitäten losgelöst ist. Zeit und Gelegenheit streben weg von der Erde, so daß die irdischen Menschen nach versäumter Umkehr mit den Teufeln auf der Erde zurückbleiben. Nicht die Gestaltung der immanenten Verhältnisse, sondern die Flucht aus ihnen prägen diese Spiritualisierung der Occasio/Fortuna. Die Menschen leben in einer gottverlassenen Welt, die von der Religion dem machiavellistischen Dämon überlassen wird. Damit aber bestätigt das allegorisch-emblematische Modell der Gegenreformation die immanente Herrschaft der diabolisch-machiavellistischen Handlungform.
31
33
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Vgl. KIRCHNER, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock 2 5 . Zur Ikonographie der Gelegenheit vgl. RUDOLF WITTKOWER, "Gelegenheit, Zeit und Tugend" und "Geduld und Gelegenheit: Die Geschichte eines politischen Emblems": Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance, Köln (DuMont Tb. 1 4 2 ) 1 8 6 - 2 0 6 und 2 0 7 - 2 1 7 . KIRCHNER, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock 3 0 . Vgl. IOANNES DAVID, OCCASIO ARREPTA. NEGLECTA. ILLIVS COMMODA, HVIVS INCOMMODA. / Tractatus de nobilitate temporis. Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: Gm 2 2 6 . Vgl. zu diesem Werk KIRCHNER, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock 1 5 3 - 1 6 0 und WITTKOWER, "Gelegenheit, Zeit und Tugend" 1 8 7 - 1 8 9 . Im Bonner Exemplar von DAVIDS Occasio arrepta fehlt das Titelblatt; deshalb wurden die bibliographischen Angaben nach KIRCHNER und WITTKOWER ergänzt.
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SVA E X P L I C A N T M V N I A .
I.
IA. TlZMPVS ego.Jme tpu> nihil ejl φωίνηφ creatum eß. I Mi Jß/He nec calm , ne-%, redo jlatra , nec jol ¡Aureus irradient :Jbte me, nec term, tue aqtwr, Et quuLpad vasta Mundi compage tenetur, Existant: Sea entm,per me, velut %nma confimi; Omnia fie rurfutri, per me, revoluta lahascent. ß. Illa cao, qiui prjftts OC CASIO cognita Seclis. (jidcwtyu attus non fafhJwit? Sei vultu acceptant tentât, mandata captjfens; lile Jtbt, compos voti, decora, ampia parami • Abbildung 24: Zeit und Gelegenheit erläutern ihre Aufgaben. Schema 1 aus Ioannes David, Occasio arrepta. Neglecta 1604. Repro der ULB Bonn nach ihrem Exemplar, Signatur: Gm 226.
Glückstadt: historischer Ort des
Fortuna-Emblems
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Abbildung 25: Die versäumte Zeit und Gelegenheit werden verfolgt, doch nicht erreicht. Schema 9 aus Ioannes David, Occasio arrepta. Neglecta 1604. Repro der ULB Bonn nach ihrem Exemplar, Signatur: Gm 226.
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Auch die Spiritualisierung der Fortuna in ihrer lutherischen Version, wie sie versucht, verwickelt sich in die Widersprüche zwischen weltlosem Ideal und heilloser Realität. Da genügt es sicher nicht, die Gestaltung des Schlusses durch den protestantischen Kirchenmann DÜRER als lutherische Variante der innerweltlichen Askese zu beschreiben, die ein Remedium gegen das launische und wechselhafte Glück bieten soll.35 Auch nach seiner prätendierten Bekehrung am Schluß wird Tychander in der Welt bleiben und damit der Unbeständigkeit des Lebens unterworfen sein. Wenn man in der Wechselhaftigkeit des Glücks das Movens der Handlung im Roman sieht, dann steht die vorgebliche Verläßlichkeit, die der Schluß suggeriert, von der Handlung des Romans her in Frage. Die Romanhandlung ist kein bloßes Vehikel für einen von vornherein festliegenden, lediglich zu exemplifizierenden Sinn, sondern Teil eines dynamischen Zusammenhangs von Sinnstiftung und Sinnunterwanderung, der von der Lektüre nachgezeichnet und oflengelegt werden muß. Weil die Handlung selbst bereits sinnträchtig ist und damit ein sozusagen allegorisches Moment besitzt, ist sie dem Diskurs nicht unterworfen, sondern macht ihrerseits die Probe auf das diskursive Exempel. Notwendig ist also nicht ein Nachvollzug der geistlich-erbaulichen Intentionen durch Allegorese, sondern eine Analyse der Widersprüche, die sich zwischen dem erzählten Geschehen und den diskursiven Sinnangeboten, zwischen pictura und subscriptio, auftun. Daß DÜRERS Roman keine bruchlose Umsetzung einer widerspruchsfreien Konzeption darstellt, ist freilich bereits der allegorischen Bildlichkeit selbst zu entnehmen. Fortuna ist ja eine theologisch recht zweifelhafte Instanz, wie der Kampf katholischer und protestantischer Theologen der Frühen Neuzeit gegen das Fortuna-Konzept belegt. Das massive Auftreten der Fortuna in der Literatur wirft schon in der zeitgenössischen Debatte die Frage nach der religiösen Substanz der Epoche auf?6 Diese Unstimmigkeit zwischen geistlichen Intentionen und allegorischen Formen wird auch in der Bildlichkeit bei DÜRER manifest HIERONYMUS DÜRER
Offenbar fuhren allegorische Traditionen direkt in das Zentrum der handlungsleitenden Konflikte, die das zeitgenössische Geschäftsleben und das Romangeschehen in DÜRERS Lauf der Welt bestimmen. In der extremen Bedrohung durch Unglücke auf See, wie sie zur Erfahrung des zeitgenössischen Handelsverkehrs gehören, werden die Lebensrisiken in einer von Fortuna beherrschten Welt sinnfällig. Fast scheint es, als schlüge sich die gesuchte Nähe des Romanautors DÜRER zu dem hanseatischen Politiker und Überseehändler SCHULTE auch in der maritimen Metaphorik nieder, die das Schicksal der urahergetriebenen Romangestalt Tychander mit den Gefährdungen eines Schiffes M
*
Vgl. TRAPPEN, Grimmelshausen und die menippeische Satire 224 und 233/234. Vgl. KIRCHNER, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock 103-109 und 161/162.
Schiffahrtsallegorie: Semantik der tradierten Bedeutungen
193
auf hoher See vergleicht, das zuweilen mit vollem gliickes-winde segelt, sich dann aber unversehens mit einem unglücks-sturm11 konfrontiert sieht: Bald überfiele mich ein solcher unglücks-sturm / der mich nicht allein tau-mastund ancker-los machte; sondern auch mein schifgen also heftig auf die gefährlichen syrien stiesse / daß ich meinte / nun "würde es zerschellen / nun würde ich in das meer der Verzweiflung gestürtzt im abgrunde des Verderbens und endlichen Untergangs versincken müssen. Bald aber erhub sich wieder eine stille; die winde legten sich / die wölken verliefen / die sonne brach hervor / und das glück fienge mir so heuchlerisch wieder an zu liebkosen / daß ich meinen Lauf aufs neue wieder fortsatzte und der vorigen gefahr vergessende mich keines künftigen Unwetters mehr besorgte.1'
In dieser Positionsbestimmung des Ich-Erzählers wird die Situation des einzelnen ins Bild gebracht, der seine Unternehmungen durch unkontrollierbare Faktoren gefährdet sieht und deshalb verzweifelte Versuche unternimmt, sich gegen mögliche Verluste abzusichern. Dabei erscheint das Auf und Ab der Zeitläufte als ein undurchschaubarer metereologischer Vorgang und wird zugleich an die traditionelle Bildlichkeit der Seefahrt des Lebens gebunden.39 Der Gestus der Absicherung gegen die Unsicherheit, die in der maritimen Metaphorik gerade evoziert wird, verstärkt sich dadurch, daß die traditionelle Parallelisierung des Lebensschicksals mit dem Geschick eines Schiffes auf hoher See als explikative Allegorie noch einmal ausdrücklich entfaltet wird. Mit dem Kompositum Unglücks-Sturm und den attributiven Verbindungen Meer der Verzweiflung und Abgrund des Verderbens macht der Sprecher seine Schilderung am traditionellen allegorischen Prätext noch einmal explizit fest, als wollte er jede Erschütterung des festen Bedeutungsgefiiges ausschließen. Doch im Rückgriff auf ein traditionelles System der Bedeutungen ist die im Bild evozierte Dynamik nicht zu kontrollieren. Dies liegt zunächst einmal daran, daß jedes Bild ein Potential an Sinnlichkeit einbringt, das sich jeder Funktionalisierung als bloßes Zeichen verweigert. Im Falle der Schiffahrtsallegorie radikalisiert sich diese Unkontrollierbarkeit des Bildes, da sie ja Erschütterung und Unsicherheit zum Inhalt hat. Der Kontrollverlust als grundlegende Erfahrung des Schiffbruches enthält ein Potential an narrativer Komplexität, das selbst den nüchternsten Protokollanten zum lebendigen Erzähler werden lassen kann. Das bestätigt ein Blick in das Tagebuch der Reise in die Niederlande, das der berühmte Ururgroßonkel des Romanautors, ALBRECHT 37 M
"
Vgl. Lauf der Welt 212. Lauf der Welt 3. Zur metaphorisch-allegorischen Tradition des Seefahrtsmotivs vgl. HANS BLUMENBERG, "Beobachtungen an Metaphern": Archivßr Begriffsgeschichte 15 (1971) 161-214, hier 190; Schiffbruch mit Zuschauer, Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M. (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 289) 3 1988; RUDOLF DRUX, "Des Dichters Schiffahrt, Struktur und Pragmatik einer poetischen Allegorie": HAUG , Formen und Funktionen der Allegorie 38-51.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
in den Jahren 1520/1521 führte. Auf weite Strecken erscheint das Diarium als nüchternes Haushaltsbuch, in das minutiös Einnahmen und Ausgaben eingetragen werden. Doch dann berichtet ALBRECHT DÜRER unversehens von einem Unrat, der ihm im Dezember 1520 vor Seeland zustieß.40 Das bereits gelandete Schiff, das ALBRECHT DÜRER benutzt hat, reißt sich durch einen plötzlich aufkommenden Sturmwind von den Leinen los, als der größte Teil der Besatzung schon von Bord gegangen ist. Die komplexen Vorgänge an Land und auf See, zwischen meteorologischen Ereignissen und menschlichen Reaktionen, zwingen den Berichterstatter, die aufzählende Parataxe seiner Aufzeichnungen zu verlassen und die Geschehnisse kausal und temporal miteinander zu verknüpfen. Er schildert nun anschaulich die Verzweiflung, in der der Schiffmann sich die Haare rauft und schreit, und stellt sein eigenes besonnenes Einschreiten heraus, als er nachzudenken rät, was zu tan wäre. Der Tumult des Augenblicks wird zur Entscheidungszeit, in der das rettende Ufer eventuell erreichbar scheint, wann der Kapitän den klein Segel kunnt aufziehn. Die 6 Personen, die auf dem Schiff verblieben sind, helfen schwerlich aneinander und bringen das Gefährt mit Müh und Not an Land. Die Unwägbarkeit der gegenwärtigen Situation und der zukünftigen Aussichten und das Beziehungsgeflecht der menschlichen Handlungen schaffen eine Komplexität, der mit eindeutigen Sinnzuweisungen nicht mehr beizukommen ist. Erst der Erfolg des Handelns gibt hier die Probe aufs Exempel der Interpretation, die ALBRECHT DÜRER vorschlägt, wenn er den Schiffmann auffordert, sich seiner selbst zu vergewissern und ein Herz zu fahen, die Zukunft durch Hoffnung zu Gott ins Auge zu fassen und sich von der Undurchschaubarkeit der Gegenwart zu distanzieren, indem er Nachdächt, was zu tan wäre. Auch die Rationalisierung der sinnlichen Eindrücke ist hier von einem Bezug zum Handeln und seiner immanenten Komplexität geleitet. Derlei Komplexität von Ereigniszusammenhängen ist auch in der allegorischen Bildlichkeit um Schiffahrt und Seesturm aufgehoben. Denn der traditionelle Kanon der Bedeutungen enthält ein Potential an Ambivalenzen, die jede allegorische Verbildlichung zu einem intertextuellen Ereignis werden lassen, in dem widerspüchliche Erfahrungen mit dem evozierten Bild wirksam werden. Der Uneindeutigkeit eines jeden Bildes entspricht die dialektische Struktur der Diskurse, die sich des Bildes bemächtigen. Diese historische Bedeutungsvielfalt, die in jedem allegorischen Bild aufgerufen wird, ist durch die ikonographischen oder ikonologischen Studien der Schule um A B Y WARBURG offengelegt worden.41 Seine Komplexität erhält das System DÜRER,
*
Vgl.
41
"Tagebuch der Reise in die Niederlande": Schriften und Briefe, hg. von Textbearbeitung von ELVIRA PRADEL, Leipzig (Reclam-Bibliothek 2 6 ) ' 1 9 9 3 ,
ALBRECHT DÜRER,
ERNST ULLMANN,
2 1 - 6 7 , hier 4 3 / 4 4 . Aus der WARBURO-Schule stammt das chef d'oeuvre der historischen Motivforschung von RAYMOND KLIBANSKY / ERWIN PANOFSKY / FRITZ SAXL, Saturn und Melancholie, Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, deutsch von CHRISTA BUSCH-
Schiffahrtsallegorie: Semantik der tradierten
Bedeutungen
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kultureller Semartiisierung42 gerade durch die Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Bildern, die ihrerseits auf die Komplexität der verarbeiteten historischen Erfahrungen reagieren. Wenn er von Glückswind und Unglückssturm spricht, kombiniert D Ü R E R seine Schiffahrtsallegorie mit dem Fortuna-Konzept. Mit den beiden Zuschreibungen zitiert er die Vorstellung der doppeldeutigen Zufallsgöttin Fortuna bifrons an, die auch auf emblematischen Darstellungen mit dem Bild des Schiffes auf hoher See verbunden erscheint.43 Geglückte Unternehmungen oder Havarien hängen von der Gunst oder Mißgunst der Göttin ab, deren Gestalt als ungerechte Stiefmutter der Unglücklichen nicht gerade geeignet ist, die Weltläufte zu rechtfertigen.
Abbildung 26: Für diese ist Fortuna die Gebährerin, für jene die ungerechte Stiefmutter. Aus Theodor de Bry, Emblemata Nobilitatis, Frankfurt am Main 1593. Reproduziert nach KIRCHNER, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock, Abbildung
3.
DORF, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 1 0 1 0 ) 2 1 9 9 4 , das im folgenden für die satumische Zeitform im Lauf der Welt noch herangezogen wird. Vgl. außerdem ERWIN PANOFSKY, "Vater Chronos": Studien zur Ikonologie, Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, deutsch von DIETER SCHWARZ, Köln (DuMont) 1 9 8 0 , 1 0 9 - 1 5 2 ; FRITZ SAXL, "Veritas Filia Temporis": Philosophy and History, Essays presented to ERNST CASSIRER, ed. by RAYMOND KLIBANSKY and H . J . Ρ ATOM, Oxford (Clarendon) 1 9 3 6 , 1 9 7 - 2 2 2 ; RUDOLF WITTKOWER, "Gelegenheit, Zeit und Tugend" und "Geduld und Gelegenheit: Die Geschichte eines politischen Emblems": Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance, Köln (DuMont Tb. 1 4 2 ) 1 8 6 - 2 0 6 und 207-217. 42
43
So der hilfreiche Terminus bei NEUBER, "Locus, Lemma, Motto" 3 5 3 . NEUBER möchte damit jedoch gerade belegen, daß ein Bild keine Bedeutung habe, ohne daß ihm ein Text unterlegt würde. Ich werde im folgenden zeigen, daß die kulturelle Gebrauchserfahrung mit dem Abgebildeten bereits eine Bedeutung jenseits einzelner Diskurse konstituiert Vgl. KIRCHNER, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock 7 - 1 0 . Siehe auch Abbildungen der Fortuna mit einem Segel, die am Ufer Schiflbrüchige beobachtet, oder mit gebrochenem Mast auf dem Meer oder auch der Occasio mit Schiff, Segel und Steuerrad bei HENKEL / SCHÖNE, Emblemata, Spalten 9 7 , 1 7 9 9 , 1 8 0 1 und 1 8 1 0 .
196
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des
Glücks
Die gleiche Verbindung zwischen den nautischen Phänomenen und der Fortuna-Konzeption zieht aber auch der alltägliche Sprachgebrauch, wenn etwa ALBRECHT DÜRER aus den Niederlanden von einer großen Fortuna und Sturmwind berichtet, wobei Fortuna die mit dem Sturm verbundene Flutwelle bezeichnet.44 Traditionelle Bildlichkeit erzeugt im Zusammenspiel mit den widersprüchlichen Erfahrungen des Alltagslebens allegorische Vieldeutigkeit. Das zwingt zu komplexem Denken. Indem aber die allegorische Bildlichkeit dem Handelnden das Angebot macht, seine Verantwortung auf personifizierte Instanzen abzuwälzen, leistet sie eher einer Bequemlichkeit des Denkens Vorschub. Fortuna als personifizierter Zufall entbindet den Sprecher davon, nach den Mechanismen zu forschen, die den angeblichen Zufall erst ermöglichen. Auch bei DÜRER hindert ein Subjektschub den Erzähler daran, die Unbilden der Zeitläufte auf die Unwägbarkeit interaktiven Handelns zurückzufuhren. Da sein Geschick ihm als ein gänzlich fremdes Geschehen wie ein Naturereignis gegenübertritt, steht er ihm hilflos gegenüber und sieht in der gänzlichen Distanzierung die einzige Kontrollmöglichkeit. Erst der innere Abschied vom Leben, die innerweltliche Askese, soll eine gelingende Lebensführung erlauben. Das entspricht der schizophrenen Struktur der bürgerlichen Lebenswelt, in der die konstitutiven Spielregeln des Geschäftslebens unvermittelt neben einer privaten Moral stehen. Davon zeugt ein Dokument aus dem hanseatischen Lebensumfeld DÜRERS, das kaufmännische Rechenbuch des VALENTIN HEINS, das erstmals 1686 in Hamburg erschien. Dort wird in einem Sinnspruch zur Gewinn = und Verlust=Rechnung der Gewinn als schnödes Ziel denunziert, als ob es im Geschäftsleben um etwas anderes gehen könnte. Der Text behauptet, ein wahrer Christ sei hoch vergnüget, wenn er auskommen könne: Die Nahrung und ein Kleid, \ Sind seiner Rechnung Schluß: Sein Datum Ewigkeit [...].45 Als ob nicht jedes Handelsunternehmen mit einer solchen Kalkulation bankrott ginge. Ganz in der (Un-)Logik des bürgerlich-protestantischen Ethos sucht auch DÜRERS Tychander Sicherheit und ruh in dem port, den er mit Verschmähung der Welt umschreibt. Der Sprecher schafft eine künstliche Distanz zwischen sich und den Fährnissen des Lebens, die es ihm ermöglicht, sich als Zuschauer fremder Schiffbrüche zu stilisieren, der am ufer ungefährdet, wenn auch mitleidend engagiert, die gefährligkeit der annoch herum irrenden betrachtet.46 Hier wird im allegorischen Bild des 'Schiffbruchs mit Zuschauer' eine Differenz zwischen Erkenntnissubjekt und betrachtetem Objekt vorausgesetzt, die den Betrachter in der falschen Sicherheit wiegt, ihm drohe von den beobachteten Ereignissen keine Gefahr.47 44
Vgl. ALBRECHT DÜRER, "Tagebuch der Reise in die Niederlande" 42 und 44 sowie 266, Anm. 187.
43
Vgl. HEINS, Gazophylacium
*
Vgl. Lauf der Welt 4/5. Vgl. BLUMENBERG, Schiffbruch mit Zuschauer. Vgl. HARALD STEINHAGEN, "Dichtung, Poetik und Geschichte im 17. Jahrhundert" 41-47. Zur Position des Zuschauers vgl. BLUMENBERG, Schiffbruch mit Zuschauer, 58-69.
47
458.
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Schiffahrtsallegorie: Semantik der tradierten Bedeutungen
¿msS
Abbildung 27: Iuno und Aeolus bringen die Flotte des Aeneas in Seenot. Aus Sebastian Brants Straßburger Vergil-Ausgabe von 1502. Reproduziert nach P. VEROILIUS M A R O , Aeneis, 1. und 2. Buch, lateinisch und deutsch hg. von und GERHARD BINDER, Stuttgart (Reclam Universal-Bibliothek 9 6 8 0 ) 1 9 9 4 , 9 .
EDITH
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Dürers Laufder
Welt Und Spiel des
Glücks
Der fiktive Sprecher versucht, das unkontrollierbare Geschehen berechenbar zu machen, indem er zum Bild des Sturms auf dem Meer greift, das zwar die Unkontrollierbarkeit zum Thema hat, aber seit der Antike zum festen Bildkanon der Literatur gehört.48 Bereits VERGIL hat den Sturm auf dem Meer zum Initialgeschehen seiner Aeneis gemacht, und die barocken Bearbeiter des Epos lassen ihre Aeneas-Romane gar mitten im Sturm beginnen.49 Das antike Vorbild wird zum festen Muster, das jedoch durch seine neue Form aktualisiert wird. Gleiches widerfahrt der Aeneis durch die frühneuzeitlichen Illustratoren, die die trojanische Flotte mit Schiffen ausstatten, die an die Karavellen des Kolumbus erinnernd Das erzählte Geschehen ist immer zugleich ein literarischer Topos und eine aktuelle Erfahrung.51 Wenn auch DÜRERS Lauf der Welt die Vielfalt der Lebensformen und ihrer bestimmenden Kräfte auf die allgemeine Formel vom meer der Eitelkeit reduziert, bedarf das sich hier andeutende wechselseitige Verhältnis der unberechenbaren Realität zu ihrer Überfuhrung in ein festliegendes und damit scheinbar kalkulierbares Bildsystem einer näheren Betrachtung.52 Ich versuche deshalb, das Bild vom Schiff auf der hohen See wörtlich zu nehmen und in seine lebensweltliche Bedeutung rückzuübersetzen, um die unausgesprochenen Implikationen der allegorischen Konfrontation von konkreter Erfahrung und tradierter Bedeutung ans Licht zu bringen. Damit möchte ich die Tendenz der Barockforschung umkehren, die ihre Texte vornehmlich auf die didaktischen Intentionen der Autoren und ihre rhetorische Umsetzung hin befragt. Indem ich die Semantik der Darstellung und der dargestellten Gegenstände auf der Bildebene gegen die Präponderanz der Bedeutungsebene stark mache, möchte ich die Bildlichkeit des Romans aus den Fesseln vorgängiger Traditionen und Intentionen befreien. Statt einer Bestätigung allgemeiner Epochentendenzen geht es mir um das in der Erzählung aufgehobene Besondere, das sich sogar in der Aneignung vorgängiger Traditionen äußert.53 Welche Erkenntnisfunktion hat also der Blick auf die barocke Darstellung eines Sturmes auf hoher See, wenn eine solche Darstellung doch nach der 48
49 30
Sl
In der Vorrede zu FURRTENBACHS Architectura navalis, ):(iii\ wird etwa die Klage des HORAZ über die Grenzüberschreitung des Menschen, der zur See fahrt, in Obersetzung geboten. Vgl. auch BLUMENBERG, Schiffbruch mit Zuschauer 9-14. Zur antiken Tradition siehe DRUX, "Des Dichters Schiffahrt". Vgl. MEID, "Vergils Aeneis als Barockroman". V g l . EDITH u n d GERHARD BINDER ZU d e n I l l u s t r a t i o n e n i h r e r A u s g a b e : P . VERGILIUS MARO,
bis
12 33
Aeneis,
1. und 2. Buch, Stuttgart (Reclam Universal-Bibliothek 9680) 1994, 199. Vgl. IEASDSLVMEAU, Angst im Abendland, Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. 18.
Jahrhunderts,
d e u t s c h v o n MONIKA HOBNER, GABRIELE KONDER u n d MARTINA ROTERS-
BURCK, Reinbek (Rowohlts Enzyklopädie 503) 1989, zum Thema "Unbeständiges dem uns jede Furcht überwältigt..." 49-62, hier 51. Vgl. STEINHAGEN, Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama 210. Vgl. STEINHAGEN, Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama 7-12.
Meer,
auf
Seesturm bei Gryphius: Semantik der Darstellung
199
communis opinio der Forschung von der didaktischen Intention geleitet ist, die Hinfälligkeit menschlichen Lebens zu exemplifizieren, und diese Wirkintention mittels konventioneller rhetorischer Strategien umsetzt? Die Probe auf ein solches rhetorisch-allegorisches Exempel macht etwa das Gedicht Andencken eines auf der See ausgestandenen gefährlichen Sturms von A N D R E A S GRYPHIUS.54 Das Besondere an diesem Gedicht besteht darin, daß es sich auf eine konkrete Erfahrung des Autors bezieht, der im Sommer 1638 mit einem Schiff vor Rügen in einen Seesturm geriet.55 Der Blick auf das Gedicht muß um so interessanter erscheinen, als G R Y P H I U S in seinen anderen Gedichten eine Fülle konventioneller Metaphern und Allegorien aus dem Bereich der Schiffahrt und der Seestürme bemüht. Vor allem das didaktische Sonett An die Welt ist bekannt, wo schon im Titel die Bedeutungsebene gegenüber der maritimen Bildebene betont wird.56 Der Titel seines Andencken-Gedichtes indes macht die Erfahrung eines bestimmten Sturms zum Ausgangspunkt der literarischen Gestaltung. Diesem Sachverhalt entspricht eine rhetorische Strategie, die auf vergegenwärtigende Anschaulichkeit aus ist. Das Gedicht ist geprägt vom Gegensatz zwischen den Personen auf dem Schiff und den Naturphänomenen, deren Bedrohlichkeit durch aktive Verben wie schäumen, spritzen, reißen, heulen, krachen ausgedrückt wird. Zugleich kommen die Wirkungen der Naturkräfte am Material des Schiffes durch die Verben zerknicken, prellen, brechen, schlagen und flattern zur Sprache. Der Veranschaulichung der Vorgänge dienen auch Farbadjektive wie schwarz und grün, die die Beschreibung in ein lebendiges Gemälde verwandeln. Zweifellos sind dies alles rhetorische Mittel zur Herstellung von Evidenz, so daß man das Gedicht als Zurichtung des Besonderen nach allgemeinen Regeln deuten könnte. Doch fragt sich, wozu die Herstellung von Evidenz hier dienen soll. Die Überzeugungsarbeit des Dichters geht doch wohl dahin, das Beschriebene als konkrete Erfahrung glaubhaft zu machen, die zwar durch die Sprache intersubjektiv verallgemeinert, aber gerade dadurch als objektive beglaubigt werden soll.57 Die dargestellten Vorgänge stehen zunächst einmal nicht für einen zu exemplifizierenden Prätext,
Vgl. ANDREAS GRYPHIUS, Sonette = Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Band I, hg. von MARIAN SZYROCKI und HUGH POWELL, Tübingen (Niemeyer) 1963, 107. Vgl. MARIAN SZYROCKI, Andreas Gryphius, Sein Leben und Werk, Tübingen (Niemeyer) 1 9 6 4 , 28/29. Zur maritimen Bildlichkeit bei GRYPHIUS vgl. GERHARD FRICKE, Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius, Materialien und Studien zum Formproblem des deutschen Literaturbarock = Neue Forschungen 1 7 , Berlin (Junker und Dünnhaupt) 1 9 3 3 , 4 8 - 5 2 . Zum Sonetten die Welt vgl. MANFRED WINDFUHR, Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker, Stilhaltungen der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart (Metzler) 1 9 6 6 , 8 3 - 8 9 . Vgl. zum objektiven Erfahrungsgehalt der GYPHschen Sonette HARALD STEINHAGEN, "Didaktische Lyrik, Ober einige Gedichte des Andreas Gryphius": Festschrift flr Friedrich Beißner, hg. von ULRICH GAIER u.a., Bebenhausen (Rotsch) 1 9 7 4 , 4 0 6 - 4 3 5 .
200
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
sondern fur ihre individuelle Realität ein. Hinweis darauf ist die Rhetorik der Anschaulichkeit, die Poetik des Peripheren, die das Gedicht auszeichnet. Diese Intention auf das Besondere eines individuellen Vorganges hat ihre Entsprechung in der Schlußfolgerung des Sprechers, der sich durch den ausgestandenen Todt [...] vor dem Todt einerseits auf sein individuelles Lebensende, andererseits aber auf die noch gestundete Lebenszeit verwiesen sieht, die durch die Erfahrung der Gefahrdung eine neue Qualität angenommen hat, so daß sich der Sprecher zugleich lebend und errettet erfährt. Das Exemplarische des Beschriebenen liegt nicht in einer bruchlos übertragenen Allgemeinheit auf einen Exempelfall, sondern in der Tatsache, daß auch der Leser sein Leben angesichts der Lebensrisiken und des Todes als unverwechselbar, einmalig und kostbar erfahrt. Exemplarisch kann das Exempel nur als Besonderes sein. Der beschriebene Seesturm ist zum Bild für das Leben des Sprechers geworden, weil sein einmaliges, unverwechselbares Leben in der Extremsituation auf dem Spiele stand. Mit dem Zusammenhang zwischen einer Erkenntnis vom Extrem her und einer Poetik des Peripheren ergibt sich eine kritische Perspektive auf jene Interpretationen, in denen allegorische Darstellungen auf ihre angebliche Bedeutung reduziert sind. Eine ähnliche Kritik wurde von SVETLANA ALPERS an der sogenannten emblematischen Interpretation der niederländischen Malerei geübt, die behauptet, die auf den Bildern detailrealistisch veranschaulichten Gegenstände dienten lediglich als Vehikel für eine dahinterliegende allegorisch-emblematische Bedeutung. ALPERS arbeitet für die niederländische Malerei heraus, daß Bedeutung hier vor allem durch die Darstellung des Dargestellten, durch die Perspektive auf die dargestellte Welt erzeugt wird.58 Analog kann man davon sprechen, daß die Darstellung des Seesturmes bei Giyphius in ihrer Intention auf die anschauliche Einzelheit einen literarischen Sinn herstellt, der in der Bedeutung der Vorgänge für die beteiligten Personen besteht, in der Perspektive des bedrohten einzelnen auf die bedrohliche Extremerfahrung, in der er den Wert des eigenen Lebens erkennt. Weil das Bild vom Seesturm menschliche Erfahrung transportiert, ist es geeignet, zum exemplarischen Fall einer Extremerfahrung zu werden, die sich der Kontrolle durch vorgängige diskursive Muster widersetzt. Die Redundanz der sinnlichen Anschaulichkeit, deren Wellen sozusagen über jeder didaktischen Intention zusammenschlagen, schafft in GRYPHIUS' Gedicht Andencken eines auf der See ausgestandenen gefährlichen Sturms eine Ebene der Bedeutung jenseits von significane und significatimi: die Perspektive der Darstellung. Der simplifizierende Gegensatz von Bildebene und Bedeutungsebene ist durchbrochen. Eine Semantik der Relationen oder Semantik der Darstellung tritt an die Stelle der referentiellen Semantik von Bezeichnung und Bezeichnetem.59 In der exzentrischen Perspektive wird die 51
Vgl. ALPERS, "On the Emblematic Interpretation of Dutch Art".
Schiff als Artefakt: Semantik des Dargestellten
201
Authentizität des Dargestellten verbürgt, und der Standort des Sprechers wird zum Moment des literarischen Gehaltes. Doch auch die dargestellten Gegenstände sind bereits bedeutungstragend, weil sie nicht nur von der literarischen Tradition, sondern auch vom lebensweltlichen Gebrauch her sozusagen kulturell semantisiert sind. Diese Semantik der Gegenstände wird wie die Semantik der Darstellung angesichts didaktischer Intentionen und rhetorischer Muster meist übersehen. Dabei gibt es ja im alltäglichen Umfeld der Seefahrt bereits eine Problematik der Zeichen, die auch für die literarische Bedeutung der Gegenstände von Belang ist. Die Schiffsmetapher stellt ja gerade ein Bild für die Unwägbarkeit von Informationen dar, das sich sowohl auf die stürmische Natur als auch auf das Unternehmen der Schiffahrt beziehen läßt. Deshalb muß die Bedeutung der Gegenstände innerhalb ihres kulturellen Zeichensystems ermittelt werden. Wenn die Dinge im alltäglichen Gebrauch Zeichenwert haben, ist eine Rückübersetzung des literarisch dargestellten Gegenstandes in sein lebensweltliches Umfeld sinnvoll. Dabei ergibt sich, daß der Widerspruch zwischen einer Referenzialisierbarkeit literarischer Gegenstände und ihrer Semantik im Zeichensystem ein Scheingegensatz ist. Wohl plädiert BERNHARD F. SCHOLZ dafür, von der Referenzialisierbarkeit der Bilder im Emblem auf eine außerhalb gegebenene Wirklichkeit, ihrer Ontologie also, als Kriterium für ihre Wahrheit abzusehen und vielmehr ihren Stellenwert im Zusammenhang ihres semantischen Systems zu beachten.60 Als Beispiel dient ihm ein Emblem aus den Sinnpoppen van Roemer Visscher (Amsterdam 1614), dessen pictura dem Bereich der Seefahrt entnommen ist. Unter der Überschrift Intelligentibus, 'Für die, die es verstehen', ist dort an einem Küstenabschnitt ein schlichter Rost auf einem Gerüst von Pfählen zu sehen, der vor dem offenen Meer aufragt.61 Der Text der subscriptio lautet übersetzt: Art vielen Buchten der See werden Zeichen aufgerichtet um anzudeuten, daß die Hafeneinfahrt oder der Ankergrund gut ist, so daß die Steuerleute wissen können, wie sie steuern müssen, um ihre Schiffe in Sicherheit zu bringen. Aber das gilt nur für diejenigen, die mit der Schiffahrt Bescheid wissen, andere würden mit solchen Zeichen überhaupt nichts anfangen können. Und das gilt für alle Dinge. Der
"
" "
Zur Entwicklung von der referentiellen Semantik zur Semantik der Relationen in der Frühen Neuzeit vgl. RJCHARD WASWO, Language and Meaning in the Renaissance, Princeton (University Press) 1 9 8 7 . Zur Semantiktheorie der Frühen Neuzeit vgl. außerdem ANSGAR MARIA SPINRATH, "Liebe im Sprachgebrauch von Simplicissimus Teutsch und Continuatio, Eine semantische Studie", Master's Thesis, Columbus (The Ohio State University) 1 9 9 0 ; ERICH KLEINSCHMIDT, "Entbundene Sprache, Zur intellektuellen Formierung des Deutschen im 17. Jahrhundert": Zs. f . dt. Altertum 1 1 9 ( 1 9 9 0 ) 1 9 2 - 2 1 1 . Vgl. SCHOLZ, "Semantik oder Ontologie" 3 6 2 - 3 7 7 . Vgl. HENKEL/SCHÖNE, Emblemata, Sp. 1481.
202
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Jurist versteht sich auf seine Gesetze; der Arzt auf seine Rezepte und Kräuter; der Bauer auf seinen Ackerbau; und weiter gibt's da nicht viel auszulegen.62 Nach SCHOLZ ist bei diesem Beispiel eine metaphorische Auslegung nicht nötig, seine Bedeutung ergebe sich unmittelbar aus dem Instrument für diejenigen, die der Sprache der Navigation mächtig seien.63 Auf der einen Seite ist das Emblem Intelligentibus also ein Beispiel für die Existenz unterschiedlicher fachspezifischer Sprachspiele, die eine zeichenimmanente semantische Analyse sinnvoll machen. Auf der anderen Seite aber handelt es sich um eine Abbildung aus der Objektwelt, die die Relevanz der zeitgenössischen außersprachlichen Realität unmittelbar erkennen läßt. Diese außersprachliche, materiale und gesellschaftliche Wirklichkeit, die fortgeschrittene Arbeitsteiligkeit der niederländischen (und norddeutschen) Seehandelsstädte, ist ja für die spezifische Rationalisierung der Lebenspraxis (SCHOLZ) verantwortlich, die sich in den Sinnpoppen ausdrückt, und erzeugt erst die Ausbildung der Fachsprachen, auf deren professionellen Gebrauch das Emblem hinweist. Die Systemimmanenz der Zeichen entbindet die Forschung also nicht davon, das Zeichensystem insgesamt als eine spezifische Aneignungsform von Welt zu betrachten, das von bestimmten gesellschaftlichen und materiellen Faktoren abhängig ist und von einer realen Objektwelt her kritisierbar wird. Eine Kritik der Aneignungformen hätte von der Beschreibung der Gegenstände auszugehen, in der ihre Funktionalität sofort zum Thema wird, da technische Gegenstände ja um ihrer Funktion willen hergestellt werden. Die lebensweltliche Funktionalität der Gegenstände bildet eine Parallele zu ihrer Funktionalisierung in der instrumentellen Allegorie. Was die Briefe JOHANN SCHULTES gezeigt haben, die Rückversetzbarkeit des Bildbereiches der Schiffsallegorie in den alltäglichen Zusammenhang, ließe sich interpretatorisch nutzen zur Umkehrung des Abstraktionsvorganges, auf dem die barocke Bildlichkeit beruht. Die nächstliegende Bedeutung des in den Blick genommenen Dings besteht hier also zunächst in seiner materiellen Funktion. BERNHARD F. SCHOLZ bemerkt über Gegenstände wie das soeben vorgeführte Seezeichen in der niederländischen Emblemsammlung: Die dargestellten Artefakte werden jeweils unter dem Gesichtspunkt ihrer Zweckmäßigkeit gesehen, und zwar ihrer lebensweltlich vertrauten Zweckmäßigkeit.M Wenn die Schiffsallegorie in jene alltäglichen Zusammenhänge zurückübersetzt wird, die JOHANN SCHULTE in seinen Briefen zur Sprache bringt, läßt sich der allegorisch-emblematische Gebrauch kritisch mit dem lebensweltlichen konfrontieren. Dies legt im übrigen die Rationalisierung der Lebensspraxis in der Emblematik selbst nahe. Denn es gibt Beispiele emblematischer Bildlichkeit, wo die dargestellten Schiffe nicht einer vorgängigen spirituellen oder morala
° "
Vgl. SCHOLZ, "Semantik und Ontologie" 376. Vgl. SCHOLZ, "Semantik und Ontologie" 375/376. SCHOLZ, "Magister Artis Venter" 405.
Schiff als Artefakt: Semantik des Dargestellten
203
didaktischen Intention dienstbar sind, sondern als pars pro toto die Funktionszusammenhänge exemplifizieren, in denen sie lebensweltlich anzutreffen sind. Um die Komplexität dieser Zusammenhänge ins Bild zu bringen, ist allerdings eine kühne Konstruktion nötig, wenn etwa ein spanisches Emblem zwei Schiffe und eine zwischen ihnen ruhende Erdkugel zeigt.65 Die subscriptio deutet die Bildkonstruktion auf die Schiffahrt (navegación) hin, die durch gewerbe die Weldt erhalte (sustenta la tierra con el comercio). In einer neuzeitlichen Umwertimg des Gegensatzes von Unbeständigkeit und Beständigkeit, die ja in der Seefahrt traditionell das bedrohliche Moment der fortunageleiteten Unbeständigkeit erblickt, wird hier die politische Beständigkeit auf die Beweglichkeit des Handels und Wandels gegründet: Diese Angel der Schiffen seindt beweglich / vnd eben in deroselbigen bewegung bestehet die beständigkeit der Reiche. (Mobiles son estos polos de las naves, pero en su mobilidad consiste la firmeza de los Imperios.)66 Von den Erfahrungen des Welthandels her wird die Denunziation der Mobilität zurückgenommen und die Ursache der Beharrung in der Unruhe erkannt. In der engen Kooperation der pictura mit der subscriptio gerät die Zuweisung vorgängiger, festliegender Bedeutungen vom Erfahrungsgehalt nautischer Mobilität her in Zweifel. Bedeutung entfaltet sich hier aus der ökonomischen Dynamik der dargestellten Gegenstände selbst. Was also gäbe das Schiff, das auf vielen Abbildungen erscheint, als Bedeutung frei? Ein erster Blick auf das allegorisch dargestellte Schiff ergibt, daß es sich um ein Artefakt handelt, um das Produkt einer bewußten technischen Modifikation der Natur. Es ist nicht einfach vorhanden und dann menschlicher Deutung zugänglich, wie es die zeitgenössische Emblemtheorie über die pictura behauptet,67 sondern bereits das Ergebnis eines Produktionsvorganges, der seinerseits auf einen theoretischen Diskurs der Technik zurückgreift. JOSEPH FURTTENBACH betont in der Vorrede zu seiner Architectura navalis (1629), daß es nicht genug sey/ein Schiff [...] nur nach geringem Augenmaß / oder auffgerath wol zuerbawen, es müßten vielmehr jede Artes jhre términos, Zihl /Maß vnd Ordnungen haben, damit das Produkt in seinen Proportionen auch zweckmäßig sei.68 Der Bau eines Schiffes beruht also auf theoretischen Vorgaben, die erst im Abstand zu gegenständlichen Einzelheiten entwickelt werden können.69 Das konkrete Artefakt, das Schiff, ist also bereits
65 M 67
" "
Vgl. HENKEL/SCHONE, Emblemata. Sp. 1 4 5 6 . Vgl. HENKEL / SCHÖNE, Emblemata, Spalten 1 4 5 6 / 1 4 5 7 . Vgl. SCHONE, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock 2 6 - 2 9 . Vgl. FURTTENBACH, Architectura navalis, Vorrede, ):():(". Dieser Abstand ist zunächst einmal ganz wörtlich zu nehmen. FURTTENBACH weist nämlich auf die Notwendigkeit theoretischer Distanz hin, um sein Buch zu rechtfertigen, das immerhin aus der Sicht eines Theoretikers, eines Architekturtechnologen, geschrieben ist, der zudem in einem großen räumlichen Abstand zur Meeresküste im binnenländischen Ulm wohnt.
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das Ergebnis einer Abstraktionsleistung, einer Reduktion der Phänomene more geometrico.70 Der Kontinuitätsbruch zwischen dem festen Land, dem eigentlichen Lebensraum des Menschen, und der unzuverlässigen See zwingt zu einer theoretischen Distanzierung von den natürlichen Gegebenheiten, um sie mit künstlichen Mitteln zu überbrücken. Mit diesem funktionalen Aspekt der Problemlösimg kommt zugleich die Funktion des Schiffes in den Blick. Das Schiff dient der Erschließung des dem Menschen nicht von Natur aus zugänglichen Meeres als Handelsraum, es überbrückt die Distanz, um entfernte Welt in Form von Waren einzuholen. Damit ist ein zweiter Aneignungszusammenhang berührt, der Diskurs der Ökonomie nämlich, deren unternehmerische Planungen dem Bau jedes einzelnen Schiffes vorausgehen. Kein Reeder wird ein Schiff bauen lassen, wenn es dafür nicht gut begründete wirtschaftliche Voraussetzungen gibt. Selbst der Bau von Kriegsschiffen folgt in der Handelsstadt Hamburg unternehmerischen Erwägungen, die zum Teil aus großer räumlicher Entfernung angestellt werden. Da meldet JOHANN SCHULTE etwa seinem Sohn brieflich nach Lissabon den Bau einer kleinen Fregatte, den der Sohn offenbar zum Schutz seiner Handelssendungen gewundschet hatte.71 Das Schiff selbst dient nicht nur als Vehikel der Steuerung von Warenströmen, ein vorgängiges ökonomisches Interesse steuert seinerseits bereits den Prozeß seiner Herstellung. Die technische Funktionalität des Schiffes ist auf seine Funktion als Vehikel genauso reduzierbar, wie die Seefahrt ferne Welt auf die importierten Waren reduziert. Die Qualität der Waren wiederum kann auf den quantitativen Gegenwert reduziert werden, in den sie sich ummünzen lassen. Der Diskurs der Ökonomie äußert sich als Reduktion der Phänomene more arithmetico,72 In derselben Weise, wie ein Artefakt nach Maßgabe einer rationalen Verallgemeinerung erzeugt wird, kann man im Barock auch ein allegorisches oder emblematisches Bild herstellen. Die barocke Bildlichkeit setzt einen veränderten, funktional orientierten Umgang mit Sprache voraus, der in der Sprachreflexion der Zeit allerdings nicht gänzlich verarbeitet wird. ERICH KLEINSCHMIDT hat auf die sprachliche Laborsituation hingewiesen, die im Barock eine Konkurrenz von nominalistischen und sprachtheologischen An70
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Mit dieser Formulierung ist auf den Anspruch angespielt, mit dem der Zeitgenosse SPINOZA in der Welthandelsstadt Amsterdam seine philosophische Ethik konzipierte. Der Philosoph war übrigens mit der Problematik des Risikos im Seehandel persönlich vertraut. YIRMIYAHU YOVEL bemerkt in seinem Buch Spinoza, Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen (Steidl) 1994, 20: Spinoza war zweiundzwanzig, als er seinen Vater verlor. Zusammen mit seinem Bruder Gabriel gründete er die Handelsgesellschaft Bento y Gabriel d 'Espinoza für Frucht-Import und -Export. Das Unternehmen war nur mäßig erfolgreich, und eines Tages erlitten die Brüder durch einen Schiffbruch Verluste. Vgl. SCHULTE 2 4 4 (Brief LXXVIII., 18.9.1685). Vgl. den Titel des kaufmännischen Rechenbuches von VALENTIN HEINS Gazophylacium mercatorio-arithmeticum.
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Dargestellten
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schauungen ermöglichte.73 In den sprachtheoretischen Schriften des JUSTUS GEORG SCHOTTELIUS findet sich ein unvermitteltes Nebeneinander von naiver Gläubigkeit an das Deutsche als gottgegebener HaubtSprache mit unmittelbar verbürgten Wortbedeutungen und einer funktionalen Auffassung, die Sprache als flexible Aneignungs- und Konstruktionsform für die Phänomene erscheinen läßt. Als Vergleich für die Sprache führt er das grosse Weltmeer an, durch das die Menschen die gantze Erde umschiffen / die entferntest Länder durchsuchen / und dasselbige / was nur an einem Orte der Welt vorhanden / durch die gantze Welt bekanntlich machen / und dessen gemessen lassen können.™ In der Meeresmetapher trifft sich einerseits das, wodurch Gott die Natur [...] umgränzet und ihr damit Gestalt gibt, und andererseits das Medium der ökonomischen Aneignung von Welt, die erst durch den forschenden und kalkulierenden Blick des Menschen ihre Konturen gewinnt. Die Nähe dieser barock-allegorischen Version der Metapher vom Weltmeer zu den technischen Metaphern des Schiffs oder der Karte75 ist offenkundig. Während die theologische Dimension der Sprache zur reinen Rhetorik absinkt, wird ihr funktionaler Aspekt zum neuen Paradigma der Sprachpraxis. Dies kommt seit SCHOTTEL in der Arbeit am deutschen Wortschatz zum Tragen, die vor allem darin bestand, synthetisch neue Komposita herzustellen, die auf der planmäßigen Erfindung neuer metaphorischer Zusammensetzungen beruhen.76 Es ist kein Zufall, daß man zu diesem Zweck gar Maschinen entwickelte.77 Ein besonderer Ehrgeiz lag darin, mit diesen künstlichen Mitteln Entfernungen zu überspringen, die bei nichtmetaphorischen Kompositionen gar nicht in Betracht kamen.™ Das künstlich erzeugte metaphorisch-allegorische Wort wird sozusagen zum Schiff, mit dem sich ferne Sinnhorizonte erreichen lassen und die Wirklichkeit neu umgräntzet, neu strukturiert wird. Oft sind es allerdings längst bekannte Zusammenhänge, auf die lediglich angespielt wird: "Glückes73
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Vgl. KLEINSCHMIDT, "Entbundene Sprache" 1 9 7 . Siehe auch zum Streit um Natur (physis) und Setzung (thesis), um Etymologie und Gebrauch in der frühen Neuzeit SPINRATH, "Liebe im Sprachgebrauch von Simplicissimus Teutsch und Continuano" 1 2 - 1 9 . Vgl. JUSTUS GEORG SCHOTTELIUS, Ausfìlhrliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache ( 1 6 6 3 ) , hg. von WOLFGANG HECHT, Band 1, Tübingen (Niemeyer) 1 9 6 7 , 7 4 . Die Kartenmetapher drückt fur WASWO den in der Renaissance entdeckten Charakter der Sprache als systemische Weltaneignung aus, die eine interessegeleitete Erkenntnisfunktion besitzt. Vgl.WASWO, Language and Meaning in the Renaissance 11 : Languages are maps of the world\ different maps picked out different features of the world for different purposes [...]. Zur Beziehung eines solchen Erkenntnissystems auf eine mechanistische und quantifizierende Erklärung der Natur, etwa in der Philosophie des SPINOZA, der more geometrico die vom Bewußtsein rekonstruierte Welt wie eine Landkarte organisiere, vgl. YOVEL, Spinoza 1 7 9 und 2 0 6 . Zu SPINOZAS Erkenntnis der sprachlichen Krisenerfahrung im 1 7 . Jahrhundert vgl. KLEINSCHMIDT, "Entbundene Sprache" 202. Vgl. WINDFUHR, Die barocke Bildlichkeit 6 0 . Vgl. JÖRG JOCHEN BERNS,"Naturwissenschaft und Literatur im Barock, Unter besonderer Berücksichtigung der Sulzbacher Kulturregion zwischen Amberg, Altdorf und Nürnberg": MorgenGlantz 5 (1995) 129-173, hier 155. Vgl. WINDFUHR, Die barocke Bildlichkeit 58.
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Wind" und "Thränen-Meer" eröffnen keine neuen Bildbereiche.19 Die Vertrautheit der Schiffsmetapher verspricht die Beherrschung der Phänomene, die Sicherheit, die der Bildinhalt gerade dementiert. Das allegorische Bild greift wie der Schiffbau auf bewährte Formen zurück, um das Bewußtsein durch die Welt der Erscheinungen zu steuern. Diese Wahrnehmungssteuerung90 durch die Allegorie gilt es, mit Rückgriff auf die von ihr als Vehikel benutzten Bildinhalte kritisch zu betrachten. Daß im Falle des Schifies auf hoher See das allegorische Bild unversehens lebendig wird, macht es möglich, den sinnlichen Überschuß, die Redundanz des Bildes, gegen die vereindeutigende Tendenz didaktischer Erzählintentionen zu wenden. Einerseits macht ja die widersprüchliche Vielfalt des Seehandels die kalkulierte Eindeutigkeit der instrumentellen Allegorie hinfallig, andererseits aber läßt sich die allegorische Methode der Abstraktion und Konstruktion auf die zeitgenössische Technik und Ökonomie zurückführen. Mit anderen Worten: Es ist gerade die Theorie, die die Praxis im 17. Jahrhundert prägt.81 In diesem historischen Rahmen muß sich Tychander bewegen und bewähren, und in diesem Rahmen wird auch die Bildlichkeit erzeugt, die ihn in der Erzählung umgibt und die ihn erzählend kommentiert. Wer sich mit Tychander auf die Lebensreise begibt, muß auf diese Signale achten und gleichzeitig fragen, wer oder was denn wirklich das Geschehen steuert und strukturiert. Meine Lektüre wird dieser Lebensreise Schritt für Schritt nachgehen, um die erzählten Räume gegen eine vorschnelle Inanspruchnahme für den didaktischen Sinn starkzumachen, der sich anscheinend am Schluß der Reise durch Tychanders fromme Resignation ergibt. Indem ich dem Duktus des Erzählens folge, verhelfe ich der Eigenbedeutung der erzählten Zeit zu ihrem Recht und vollziehe zugleich den Zusammenhang nach, den die literarischen Räume, etwa die pikareske Landstraße, das schäferliche Arkadien und die höfisch-exotische Sphäre des Idealromans, im Verlauf des Geschehens haben.82 Die Lektüre des Romans unterliegt eben jener Dialektik von Welterkundung und Welterzeugung, wie sie die Theorie und Praxis seit der Frühen Neuzeit bestimmt. Im Rückgriff auf das sozialgeschichtliche Setting des Romans habe ich versucht, mein Analysemodell zu objektivieren, damit meine Rekonstruktion nicht zur illusionären Projektion gerät. Eine Konstruktion in75
WINDFUHR, Die barocke Bildlichkeit 63. Vgl. HANS BUMENBERG, "Paradigmen zu einer Metaphorologie": Archiv fiir Begriffsgeschichte 6 ( 1 9 6 0 ) 7 - 1 4 2 u n d 3 0 1 - 3 0 5 , hier 74/75.
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Insofern hat die Rede von der Lebenswelt im 17. Jahrhundert etwas Paradoxes, da der Begriff (jedenfalls im ursprünglichen Zusammenhang bei HUSSERL) die untheoretische Hinnahme des Gegebenen impliziert. Es wäre zu fragen, ob sich der Begriff auf historische Zeiten anders als paradox anwenden lasse, ob also eine untheoretische Ursprungswelt nicht immer eine Konstruktion darstelle. Vgl. HANS BLUMENBERG, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 3 1986, 7-68, zum Lebensweltmißverständnis, und CORDIE, "Formen der Zeit" 161, ANM. 4 und 6. Deshalb wähle ich auch für die Unterkapitel narrative Überschriften, die den Rang des SinnlichErzählerischen im Roman unterstreichen sollen.
Schiff als Artefakt: Semantik des Dargestellten
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des bleibt jedes Analysemodell allemal, so daß FERNAND BRAUDEL es zurecht mit einem Schiff verglichen hat, das seine Tauglichkeit in der Auseinandersetzimg mit den Unwägbarkeiten einer komplexen Wirklichkeit immer neu zu beweisen hat. DÜRERS Buch ist bereits aufgeschlagen, Zeit, das konstruierte Schiff auf das Wasser zu setzen und zu sehen, ob es schwimmt [...].M
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Vgl. FERNAND BRAUDEL, "Geschichte und Sozial Wissenschaften, Die longue durée": M. Bloch. F. Braudel, L. Febvre u.a. Schrift und Materie der Geschichte, Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hg. von CLAUDIA HONNEGGER, Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp 814) 47-85, hier 73.
Im Dickicht der Städte: Tychander macht seine ersten Schritte zur Unzeit und verliert den Boden der Realität unter den Füßen Nachdem der Erzähler das Romangeschehen zunächst sozusagen in einem Laboratorium der Zeitlosigkeit präpariert hat, um es im Rahmen1 des allegorischen Rasters von Fortuna und Lebensschiff zu untersuchen, scheint er es dann mit dem Erzählen um so eiliger zu haben. Die Kindheit des Helden, die in anderen Schelmenromanen als Ausgangspunkt für den Lebenslauf sorgfaltig konturiert wird, nimmt lediglich den ersten Halbsatz der eigentlichen Erzählung ein. Dort wird berichtet, wie Tychander gegen den Raht der Lehrer bereits im frühen Alter den schul-zwang der Kindheit hinter sich läßt, um ihn mit der Academischen freyheit der Universität zu vertauschen.2 Die Unzeitigkeit dieses Starts ins Leben drückt sich auf der Ebene des Erzählens durch die Raffung der Handlung aus und erscheint im Raisonnement des Erzählers als verfrühter Schritt des noch nicht flüggen Jünglings. Zeit wird hier zum Thema des Handelns und Erzählens, was im Gegensatz zu der distanzierten Zeitlosigkeit in den Eingangsallegorien und der abgehobenen Warte des Erzählerdiskurses steht. Die jugendliche Übereiltheit Tychanders wird noch einmal durch die Art des Erzählens abgebildet, wenn über seinen Weg vom Heimatort zur Universitätsstadt lediglich lakonisch zu erfahren ist: Ich reiste fort / gelangte an [...].3 Bereits im nächsten Halbsatz sieht sich der Held in die Verhaltensweisen des Studentenlebens verstrickt, in die er mit drastischen Mitteln eingeführt wird: [...] wurde auch mit üblichem Wilkomm /damit man der Zeit die neuen ankömlinge zu beschencken pflegte / (ohrfeigen und nasen-stüber meine ich) von denen alten Pennälen / vomemlich meinen landsleuten gar höflich empfangen*
Von derlei studentischen Initiationsriten wäre ausfuhrlich zu handeln, wie das etwa QUEVEDO in seinem spanischen Schelmenroman Buscón tut, wo der Held Pablo durch den ihm angetanen Schimpf lernt, ein neues Leben zu beginnen indem er nun allzeit auf Schildwacht bleibt, um möglichen Kontrahenten zuvorzukommen.5 DÜRERS Erzählung hingegen ist erkennbar nicht an der 1
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Vgl. MAYER, Mischformen barocker Erzählkunst 2, zu Dürers Kunst des Romaneingangs: Dieser Romaneingang, der so unmißverständlich den Rahmen des Geschehens und des Welt- und Menschenbildes umreißt, ist durchaus ungewöhnlich in der Romanliteratur des ] 7. Jahrhunderts. Vgl. Lauf der Welt 5/6. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 6/7. Lauf der Welt 6.
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Ausmalung dieser Erfahrungen interessiert; sie drängt vielmehr weiter, um einen entscheidenden Funktionsmechanismus der Romanwelt offenzulegen. Wenn Tychanders iandsleute es sich angelegen sein lassen, ihn zum öftern zu besuchen oder im Studentenjargon zu beschmausen, dann tun sie das, weil sie nach der nachträglichen Einsicht des Erzählers gut Geld bey mir wüsten /[...] wodurch sie denn meinen beutel in kurtzer zeit seines eingeweides ziemlich entledigten [...]. Die Romanwelt ist gekennzeichnet durch einen Zusammenhang von Zeit und Geld, dessen Wechselseitigkeit Tychander erst später anhand seines leeren Beutels erfahren wird. Zunächst einmal bietet sein Geldvorrat einen Zugriff auf Waren aller Art, wodurch die Einebnung der bislang für ihn geltenden Unterschiede zwischen Fest- und Fastenzeiten möglich wird: Ich verbrachte [7] solches Prob=jahr nach gewöhnlicher Pennal-weise / ohne GOTT / ohne gewissen / ohne gebeht / ohne eintzige übung der Gottseligkeit in lauter wüstem heidnischem faßnachtleben.6 Die Fastnacht wird zur Chiffre fur ein Leben im Überfluß, das vom Tauschverhältnis zwischen Geld und Vergnügen ermöglicht wird. 7 Doch die damit entstehende Vertauschbarkeit fuhrt zu einer Einebnung der Zeiten, denn das Prob=jahr des Eleven ist ja durchaus nichts besonderes, sondern wird nach gewöhnlicher Pennal-weise verbracht. Der Verlust der Unterschiede und die scheinbare Unerschöpflichkeit der finanziellen Ressourcen verursachen überdies einen Realitätsverlust bei dem jungen Helden. Die nur fast wie im wirklichen Leben verbrachte Studentenzeit läßt ihn nämlich vergessen, daß Geld durch Arbeit erwirtschaftet werden muß. Wenn sich die Jungen nach der Einsicht des Erzählers ihrer armen eitern schweis und blut helfen durch die gurgel jagen und dies als ihre tägliche Aabeit betrachten, erliegen sie damit der manipulativen Wirkung des Geldes als Tauschmittel, das - abstrakt von seinem durch Arbeit geschaffenen Gegenwert - alles vertauschbar und damit alles möglich erscheinen läßt. Die Handlung scheint hier den Waren- und Tauschwert zu exemplifizieren, den M A R X später, etwa im Kapital oder in den Exzerptheften, analysiert hat. 8 Die manipulative Wirkung des Tauschwertes liegt darin, daß sich der 3
6
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Vgl. FRANCISCO DE QUEVEDO Y VILLEGAS, Der abenteuerliche Buscón, deutsch von H . C . ARTMANN, Frankfurt/M. (Insel Tb. 459) 1980, 57. Lauf der Welten. Auf den Zusammenhang zwischen der Fastnacht, wie sie im Karnevalskonzept MICHAIL BACHTINS erscheint, und dem Kapitalismus hat mich ANDREAS MERZHAUSER aufmerksam gemacht. Davon wäre an anderer Stelle zu handeln. Ich greife auf die verbreitete Studienausgabe zurück, in der zentrale Texte zur politischen Ökonomie versammelt sind. KARL MARX / FRIEDRICH ENGELS, Studienausgabe in 4 Bänden, hg. von IRING FETSCHER, Band II: Politische Ökonomie, Frankfurt am Main (Fischer Tb. 6060) 1982. Siehe dort KARL MARX, "Das Kapital, Erstes Buch, Der Produktionsprozeß des Kapitals, Erstes Kapitel: Ware und Geld (1867), 1) Die Ware" 216-246 und "Aus den Exzerptheften: die entfremdete und die unentfi-emdete Gesellschaft, Geld, Kredit und die Menschlichkeit" 247-262. Zur Rolle des
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Wert der Ware weder von der konkreten in sie gelegten Arbeit noch vom Gebrauchswert für den Käufer her bemißt. Arbeit ist in der Warenproduktion und -distribution nicht qualitativer Ausdruck des Arbeitenden, sie wird vielmehr nach der Zeit gemessen, die im Durchschnitt in sie investiert werden muß. Arbeit wird zum Gegenwert eines abstrakten Zeitkontos und des entsprechenden Geldbetrags. Für den jungen Tychander ist - verstärkt durch die räumliche Entfernung - der Zusammenhang zwischen schweis und blut seiner Eltern und den ihm zur Verfügung stehenden Geldmitteln nicht mehr evident. Das fuhrt zu einer fast zwanghaften Verschwendung und Vernichtung der erworbenen Waren, in denen er weder ihre konkrete Materialität noch die in sie gelegte Arbeit erkennen kann. Dadurch bleibt ihm der Gebrauchswert, der sich nicht zuletzt in der Einmaligkeit und Begrenztheit des einzelnen Gegenstandes bestimmt, und seine Substanz, die in der konkreten menschlichen Arbeit besteht, abstrakt. Die Erzählung bringt den ökonomischen Realitätsverlust Tychanders auf den Punkt, indem sie seine Verschwendung als tägliche Arbeit bezeichnet, wodurch die Entwertung menschlicher Arbeit in der austauschbar gewordenen Ware auf zweierlei Weise zum Ausdruck kommt: einmal durch die nivellierende Vertauschung von Arbeit und Müßiggang und dann durch die Qualifizierung des Müßigganges als eintönigem, immer gleichem Vorgang, in dem die Eintönigkeit rein quantitativ gemessener Arbeit noch einmal sinnfällig wird. Fast scheint es, als sei hier die nivellierende Gewalt der heutigen Freizeitindustrie vorweggenommen, die menschliche Muße derselben Eintönigkeit unterwirft wie menschliche Arbeit und geradezu wütend gegen jeden Rest einer kulturellen Unterscheidung zwischen Arbeits-, Fasten- und Festzeiten zu Felde zieht. Zwar zeigt Tychander eine Borniertheit gegen die Realitäten menschlicher Arbeit und materieller Werte, doch liegt die Logik dieses Verhaltens im Substanzverlust, dem Menschen und Dinge durch Warenproduktion und Warentausch ohnehin anheimfallen. Tychanders Aberglaube hat seine Ursachen in den manipulativen Wirkungen der Verhältnisse, in denen er lebt. Der Gestus der Unzeitigkeit, der dem Beginn der Erzählung strukturell eingeschrieben ist, besteht also nicht nur in der Übereiltheit des Helden, sondern darüber hinaus in seiner Borniertheit gegen alle zeitlichen und räumlichen Grenzen des Lebens, in seiner Unmäßigkeit. Bei DÜRER selbst erscheint diese räumliche Metapher des unmäßigen Lebend im Bezugsrahmen einer Spiritualität, die mehr auf das ewige Heil als auf das zeitliche Wohl aus ist. Neben den geistlich-moralischen Kategorien, die der Erzählerdiskurs bereit hält, kann Unmäßigkeit aber auf die raum-zeitlichen Parameter des Lebens bezogen werden und erhält dann ihre Wertung von einer bürgerlich-prakti-
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Geldes als universales Tauschmittel, das eine quasi-allegorische Qualität besitzt, vgl. JOCHEN RISCH, Kopf oder Zahl, Die Poesie des Geldes, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996. Vgl. Lauf der Welt 62.
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sehen Lebensklugheit her. Auf beide Sinnsysteme, den geistlichen und den weltlichen, ist der Chronotopos der Unzeitigkeit und Unmäßigkeit beziehbar, in den Tychander in seinem Prob=jahr an der Universität eintritt, und der von der Erzählung mit wenigen Andeutungen durcheilt wird. Die Ununterscheidbarkeit der Lebensläufe, ihre prinzipielle Vertauschbarkeit unter dem Vorzeichen universaler Tauschverhältnisse, wird darin deutlich, daß von Tychanders eigenen Erlebnissen im folgenden kaum etwas zu erfahren ist und statt dessen zwei jäh scheiternde Biographien eingeschoben werden. Im ersten fall trifft das exemplarische Unheil einen Kameraden Tychanders, der von Haus aus ein sonst Christlicher und sehr fleißiger jtingling ist.10
Auch hier weisen die beiden charakterisierenden Adjektive auf die zwei normativen Bezugssysteme hin, von denen die Erzählung geleitet wird: geistliches Heilsstreben und berufliches Fortkommen durch Leistung. Daß der so Charakterisierte den Verhaltensnormen eines vorbildlichen Bürgersohnes zu folgen beabsichtigt, erkennt man beispielsweise an dem Platz, wo er logiert, handelt es sich doch um eine stube [...] bey einem Rahtsherrn selbigen orts.
Doch gerade dort wird er unvermutet mit der Anfechtung in Gestalt seiner Wirtin konfrontiert, die sich der geistlich-moralischen Wertung des Erzählerdiskurses nach wie Potiphars weib bei dem Jüngling zutäppisch macht. Er versucht zwar, dem biblischen Vorbild des keuschen Josef zu entsprechen, und kann ihr auch eine Zeitlang widerstehen, erliegt ihr am Ende aber doch. Dem ersten Versagen folgt das zweite. Anstatt nach dem Scheitern alle Anstrengungen auf seine Rettung zu konzentrieren, versäumt der junge Mann aus Unverstand [...] oder aus schamhaftigkeit den rechten Zeitpunkt, um me-
dizinische Gegenmaßnahmen gegen die venerische Erkrankung zu ergreifen, die er sich zugezogen hat. Hat er zuerst also nicht lange genug widerstanden, so handelt er danach nicht schnell genug, um den Schaden zu begrenzen. Der moralischen Unzeitigkeit des Beginns entspricht spiegelbildlich ein Versäumnis lebenspraktischen Gelegenheitsdenkens am Schluß. Diese beiden Fehler haben seinen frühen Tod zur Folge, die Zeit rächt sozusagen ihre Mißachtung durch das unzeitige Verhalten des Studenten. Der Hinweis auf das biblische Muster des keuschen Josef stilisiert den Fall zum Exempel, an dem nicht das einmalige Schicksal des einzelnen interessiert, sondern die exemplarischen Handlungsfehler, die von einer Nachahmung abschrecken und zu einem gesellschaftskonformen Umgang mit Zeit und Gelegenheit anleiten sollen. Daß es sich um typisierte fälle" handelt, die nach ihrer Schwere arrangiert werden, macht der Erzähler in der Überleitung zur nächsten Episode deutlich. Während nämlich im ersten Fall der betreffende Kamerad zwar das zeitliche habe segnen müssen, so liege darin doch insofern Segen, als er mit 10 11
Vgl. Lauf der Welt 8-10. Vgl. Lauf der Welt 16.
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festem glauben und frölichem gemühte von der weit abschiede. Dem Versagen der bürgerlich-praktischen Verhaltensnorm nach steht das rechtzeitige Einlenken im spirituellen Bereich gegenüber. Der unglückliche Jüngling hat die Occasio zumindest in ihrer Interpretado Christiana als Gelegenheit zu rechtzeitiger Umkehr ergriffen. Ganz anders im zweiten Fall. Dort kostet ein Fehlverhalten nach den Begriffen beider normativer Bezugssysteme den Betreffenden das zeitliche wie das ewige leben}2 Damit verstärkt sich die abschreckende Wirkung des Exempels auf den Romanhelden. Diesmal schlägt es mit größerem Tempo und aus kürzerer Distanz bei Tychander ein, denn der Unglückliche ist Tychanders stuben-gesell, der im vollen sporen-streich der höllen zueilt. Unzeitige Eile paart sich hier mit einer pikaresken Zweckentfremdung der Räume; die erste Bekanntschaft des Studenten mit einer schneiders-frau wird ganz nach dem bekannten Schema in der Kirchen gemacht, und auch bei DÜRER fehlt wie bei ALBERTINUS die Klage über den Mißbrauch der sakralen Räume als kuppelhäuser nicht. Die Chronotopoi der Handlung sind sowohl auf das spirituelle wie das lebenspraktische Bezugssystem hin organisiert, denn der junge Schelm verschafft sich nach der Kontaktaufhahme in der Kirche als Kunde Zutritt im Haus des Schneiders, um später das Timing seiner Besuche bei der Ehefrau auf die Abwesenheit des Hausherrn einzustellen. Die Zeitform der Gelegenheit bestimmt das Handeln des jungen Eindringlings, doch wenden sich die Regelmechanismen der Handlungszeit gegen sein unzeitiges Vorgehen, das die Umstände nicht genügend berücksichtigt. Dem Studenten wird zum Verhängnis, daß er die Zeitrhythmen seiner Besuche nicht nach den Bedingungen der Lokalität ausrichtet. Die Enge des städtischen Umfeldes und die so entstehende nachbarliche Sozialkontrolle lassen es auffallen, daß der kerl so oft des tages vorüber geht und so fleissig nach dem fenster sieht. Diese mangelnde Beachtung der Umstände, die auf das Gelingen des Handelns nach dem Gelegenheitsmodell Einfluß hat, fuhrt zu einer Verdoppelung der Handlungsform, denn der von den Nachbarn gewarnte Ehemann hat nun seinerseits einen Wissensvorsprung, den er gegen seinen Nebenbuhler wenden kann. Er macht sich den zeitlichen Wechsel des Geschäftsganges im beginnenden Winter zu Nutze und stellt sich, als ob er auf diß oder jenes dorf gehen wolte, um Schulden einzutreiben. Die Frau bestellt ihren Liebhaber um selbige zeit zu sich, aber die freude währt nicht lang. Denn der betrogene Ehemann - inzwischen unvermerckt wieder zu hause - nutzt seinen Zeit- und Wissensvorsprung und überrascht das Paar. Das Gelegenheitsdenken des Ehebrechers wird durch den Hausherrn mit gleichen Mitteln pariert. Und in der Folge ist beiden Kontrahenten ein gleiches Ende vorbestimmt. Es kommt zu einem blitzschnellen Handgemenge zwischen dem Schneider, der nicht lang säumt, und dem Studenten, der geschwind reagiert. Der Angegriffene glaubt 12
Vgl. Lauf der Welt 10-15.
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schon, den Hausherrn überwunden zu haben, und läßt den am Boden Liegenden in einer illusionären Verkennung der Realität schwören, sich nicht an ihm zu rächen, als ob es eine Pflicht zu Loyalität und Einhaltung von Abmachungen einem Ehebrecher gegenüber geben könnte. Der Schneider schwört, und als der Student meint, seiner sicher zu sein, ergreift der Hausherr sein Beil und spaltet dem Studenten den Kopf. Dieser aber durchbohrt im selben Augenblick den Ehemann noch mit seinem Degen, als müßte der gerade begangene Wortbruch des Schneiders noch bestraft werden. Nach diesem in geradezu Kleistischer Überstürzung inszenierten Gemetzel wird die verstörte Ehefrau auf nächtlicher Straße, zur Unzeit also, im hemde [...] von der -wacht ergriffen, wodurch die Mechanismen der kommunalen Ordnung in Funktion treten. Das direkte lokale Umfeld, gesinde und nachbarn, wird ebenfalls durch den tumult aufmerksam. So bildet sich ein Publikum für das Ende der drei Beteiligten, das verglichen mit dem vorhergehenden Handgemenge in Zeitlupe abrollt, denn der Student lebt immerhin noch wenig stunden und der Schneider noch etliche tage. Die untreue Ehefrau schließlich stirbt zuletzt durch das Schwert. Wie in einer arrangierten Laborsituation lassen sich die Konsequenzen unzeitigen Handelns ablesen. In einer Staffelung erscheinen hier die verschiedenen Faktoren des städtisch-bürgerlichen Umfeldes: der betrogene Ehemann als Nächstbetroffener, die Nachbarschaft als soziale Kontrollinstanz und Publikum, das vom Lauf der Gerechtigkeit belehrt wird, und am äußersten Ende der Handlungskette die öffentliche Macht von Polizei und Justiz. Das Normsystem dieses Milieus, das zeitliches Wohl und erfolgreiche Lebensführung zum Ziel hat, erweist sich durch die Ereignisse als das vorherrschende. Es gestaltet die Welt des Romans, während das spirituelle Deutungsmuster erst nachträglich durch den Erzählerdiskurs auf das Geschehen projiziert wird. Unzeitigkeit und Unmäßigkeit richten sich als Verstoß gegen die Regelmechanismen der städtisch-bürgerlichen Welt durch ihre systemischen Folgen selbst, ohne daß es des Eingreifens einer überzeitlichen Instanz bedürfte. Hier kommt dem erzählten Exempel eine ambivalente Funktion zu. Die Übereinstimmung spiritueller und weltlicher Normen soll verdeutlicht und dem einzelnen entweder die Rolle eines austauschbaren Exekutoren dieser Normen oder des ebenso austauschbaren Delinquenten zugewiesen werden. Indem die Erzählung aber auf die Evidenz des zu Exemplifizierenden zielt, muß sie sich der Logik der Handlung und ihrer Umstände überlassen und produziert auf diese Weise Komplexität. Die Vertauschbarkeit, die den Figuren durch die Normen auferlegt wird, richtet sich gegen die Normen selbst. Denn der Schneider wird zwar zum Exekutor der zeitlichen und ewigen Folgen des Ehebruchs an dem Ehebrecher. Doch übernimmt seine Gegenintrige das Handlungsmuster des Kontrahenten, der Rächer wird selbst zum Delinquenten. Beide, der Rechtsbrecher und der ehrbare Bürgers, handeln nach dem
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schelmischen Grundsatz der Gelegenheit. Indem der Handlungsverlauf darauf verzichtet, den Betrogenen in seiner Unschuld zu bestätigen und durch die Aburteilung des Betrügers zu befriedigen, sondern ihn vielmehr in das Gelegenheitsdenken verstrickt, das beide verbindet, verweigert er sich den klaren moralischen Zuweisungen, die von der spirituellen Ebene des Textes gefordert werden. Die Mechanismen der Vertauschbarkeit sind auf die Lebenspraxis des Tauschs gegründet, und die Vertauschbarkeit der Menschen angesichts ewiger Wahrheiten ist demgegenüber lediglich ideologischer Schein, der das Grundprinzip des Tauschs verschleiert. Die Erzählung des exemplarischen Falles entfesselt die Dialektik des Exempels, denn der Einzelfall stellt jene Prinzipien in Frage, um derentwillen er erzählt wurde. Offenbar bleibt ja auch das Exempel innerhalb der Romanhandlung selbst wirkungslos. Denn die Erzählung zeigt ihren Haupthelden durch die ihm vorgestellten Beispiele des Mißerfolgs unbelehrt. Tychander verbringt vielmehr sein zweites Jahr, nachdem er die Probezeit im Pennaljahr hinter sich gebracht hat, in noch krasserer Realitätsvergessenheit. Seine Unmäßigkeit treibt ihn, die Normen seines Bürgerstandes zu überschreiten und sich Fürsten gleich zu kleiden. Dieser pseudo-aristokratische Statuskonsum13 kostet ihn über drey tausend reichsthaler in einem Jahr. Zur Erinnerung: Dies entspricht dem zweifachen Jahresumsatz (nicht etwa dem Gewinn) eines durchschnittlichen Kaufmannsunternehmens in Hamburg. An dieser Zahl sind die ruinösen Folgen einer Verhaltensweise abzulesen, die bürgerlichem Standesethos zuwiderläuft. In den Briefen JOHANN SCHULTES und im kaufmännischen Rechenbuch des VALENTIN HEINS ist wiederholt von dem Mißverhältnis zwischen Kapital und Konsum die Rede, das zu geschäftlichen Mißerfolgen führt. SCHULTE weiß von einem jungen Mann zu berichten, der fallii sei, nachdem er durch übermeßigeß Haußhalten daß seinige verschlampampert vnd verbraßet habe.14 Und HEINS erzählt als mahnendes Beispiel von dem plötzlichen Bankrott, den ein früh=weiser Sohn nach dem Hinscheiden des Vaters erlebt, nachdem er sich voll Hochmut hatte Sijor nennen lassen. Der junge Mann hatte die Mahnungen seines Prokuristen in den Wind geschlagen, der ihn - in bemerkenswerter Umkehrung der konventionellen Bildlichkeit -15 vor 13
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Der demonstrative Konsum ist ein prägendes Merkmal des ökonomischen Verhaltens aristokratisch-müßiger Klassen. Vgl. hierzu THORSTEIN VEBLEN, Theorie der feinen Leute, Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, deutsch von SUZANNE HEINTZ und PETER VON H A SELBERG, Frankfurt/M. (Fischer Tb. Wissenschaft 7362) 1986, 79-107. Dieser Statuskonsum stellt eine demonstrative Verletzung des Effektivitätsprinzips oder Werkinstinkts (VEBLEN 34) dar, an dem sich das bürgerliche Leistungsdenken orientiert. Vgl. auch JOHN H . KAUTSKY, "Funktionen und Werte des Adels": Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200-1900 = Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 11, hg. von PETER UWE HOHENDAHL und PAUL MICHAEL LÜTZELER, Stuttgart (Metzler) 1979, 1-16, hier vor allem 10/11. Vgl. SCHULTE 1 2 7 (Brief XXXIV, 9 . 3 . 1 6 8 3 ) . Gerade diese Stelle stützt meine These von der Parallelität der barocken Allegorie und des Arte-
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dem Hafen gewarnt hatte, in dem er, vor dem Wind segelnd, aufs trockene zu sitzen kommen werde. Auch hier fuhrt die jugendliche Unerfahrenheit aus Mangel an der Zeit zur Handlungsform der Unzeitigkeit, während die Schuldner zeitig gnug handeln, bis endlich Knall und Fall im Augenblick der Bankrott eintritt16 Bürgerliche Pädagogik möchte den Unerfahrenen vor den Gefahren unzeitigen und unmäßigen Handelns warnen. So sind auch die diversen Mandate zu Abstellung der Kleiderpracht und gegen Hoffahrt und übermäßige Üppigkeit als Selbstverpflichtung der Bürgerschaft zu verstehen, die den einzelnen vor übertriebenem Statuskonsum bewahren soll.17 Gegen die Normen, die sich aus der Logik der ökonomischen Verhältnisse ergeben, verstößt Tychander im Roman, so daß auch sein Bankrott in den Horizont der Lesererwartung gerät. Doch Tychander läßt es sich an seiner unmäßigen Prachtentfaltung nicht genügen. Der Überschreitung der Standesgrenzen folgt eine Überschreitung des bisherigen räumlichen Rahmens, ein Ortswechsel von Ober Deutschland [...] den Reinstrom abwerts nach Leiden zu.1* Schon die Reise, die HIERONY MUS D Ü R E R S Ururgroßonkel ALBRECHT auf einer ähnlichen Route von Nürnberg nach Antwerpen auf sein Verkosten und Ausgeben zurücklegte, läßt erkennen, daß ein solcher Weg bereits die sorgfältige Beachtung fälliger Kosten in den Herbergen und an den Zollstationen und damit entsprechende finanzielle Vorsorge erforderte. ALBRECHT D Ü R E R zählt neben Fahrtkosten und Verpflegung 18 Übernachtungen und 36 Zollforderungen auf, die er teils durch Zahlung teils durch Vorweisung eines Freibriefes beglich.19 Zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhunder dürfte sich in dieser Hinsicht wenig geändert haben. Das, was im Haushaltsbuch ALBRECHT D Ü R E R S als Wechsel zwischen verschiedenen örtlichen Währungen erscheint, gerät im Roman zum Inbegriff universaler Vertauschbarkeit. Auch der Wechsel des Schauplatzes bringt nichts qualitativ Neues, denn hier lebt Tychander gleichfalls alle tage herrlich und in freuden.20 Der Vertauschbarkeit der Zeiten, die einem durch den alle tage gleichen Konsum geschuldet ist, entspricht die Vertauschbarkeit der Orte, so daß über Tychanders neues Wirkungsfeld nichts Konkretes zu erfahren ist. Wohin seine täglichen spatzier-fahrten fuhren und worin die derer orten gewöhnlichen ergötzligkeiten bestehen, kann nur vermutet werden. Auch der Name Leiden scheint nichts weiter zu sein als die Chiffre für einen bestimmten Typ von Stadt, ein an sich nicht interessierendes allegorisches Sinnbild, dessen Sinn sich erst " " " 19 20
fakts, das je nach Zusammenhang als Mittel gegensätzlicher Zwecke dienen kann. Vgl. HEINS, Gazophylacium 580. Vgl. REIBMANN, Die hamburgische Kaufmannschaft in sozialgeschichtlicher Sicht 280, Anm. 355 und 356. Vgl. Lauf der Welt 17. Vgl. ALBRECHT DÜRER, "Tagebuch der Reise in die Niederlande" 2 1 - 2 5 . Vgl. Lauf der Welt 17.
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durch die ihm untergeschobene Bedeutung ergibt. Denn entscheidend ist die Gesellschaft, in die sich Tychander begibt. Sein Prachtaufwand und Statuskonsum hat sein Publikum in der weiblichen Bevölkerung, im frauen-zimmer, an das erhebliche Schenkungen große Summen Geldes hängt. Der Erzählerdiskurs macht deutlich, daß Tychander sich hier verschätzt. Er bekennt, daß er des Geldes [...] nicht gros achtete / weil meine mutter/ die dem vater / was sie nur kundte / heimlich abzwackte / mir das Geld überflüssig zusteuerte.21 Ist ihm der durch Arbeit geschaffene Wert des Geldes und seine damit notwendig gegebene Begrenztheit nicht bewußt, so ignoriert er darüber hinaus, daß sein Lebensstil nur durch die Bindung an die Eltern ermöglicht wird. Tychanders Ausgaben verletzen die Loyalitäten, seine Einbindung in die Solidargemeinschaft der Familie. Bereits seine Mutter betrügt den Ehemann heimlich um Teile des Familieneinkommens (oder sogar bereits des Kapitals), und der Sohn bringt durch seine Verschwendung das Familienbudget noch stärker aus dem Gleichgewicht. Seine Maßlosigkeit verbindet sich hier mit einer mangelnden Einsicht in die Loyalität, die er seinen engsten Verwandten schuldet. Statt dessen zieht er ihnen auf Grund der räumlichen Entfernung Beziehungen vor, deren Binde- und Tragfähigkeit er nicht erprobt hat. Im Kontakt zu den fremden Frauen der fremden Stadt erfahrt Tychander zum ersten Mal eine scheinhafte Autonomie, die sich in einem veränderten Verhältnis zu den gesellschaftlich sanktionierten Raum- und Zeitstrukturen äußert. Auch Tychander besucht in der zweckentfremdenden Absicht, zu sehn und gesehn zu werden, die Kirchen.n Als er dort ein schönes weibes=bild erblickt, sieht er sich vollends dem Zeitenraum der Kirche entfremdet; er beginnt, schlößer in die luft zu bauen. Das Gebäude seiner selbstverliebten Gedanken bringt ihn auch in Konflikt zu den zeitlichen Abläufen der Liturgie. Sie sind ihm nurmehr hinderlich, und die zeit wird ihm lang. Er hat kein Ohr f ü r die predigt, die ihm mehr als zu lang erscheint, und auch optisch ist er durch den Kirchenraum nicht orientiert, sondern auf die Frau fixiert, mit der er Blicke tauscht. Am Schluß des Gottesdienstes nimmt er sie ins Visier, gibt fleissig achtung /zu welcher Kirchenthür diese Helene hinaus geht und folgt ihr gleich auf dem fusse nach. Die Unbekannte, die das durchaus bemerkt, dirigiert ihn mit den äugen bis zu ihrem hause und erwartet ihn an der Thür. Auch hier behält sie die Initiative, zwingt Tychander, ein hingefallenes Tuch aufzuheben und ein Gespräch zu beginnen, bis sie ihn endlich in ihre behausung komplimentiert Nachdem die Frau also bereits den zeitlichen Ablauf des Geschehens kontrolliert hat, befindet sie sich nun auch noch auf sicherem eigenem Terrain. Schon die Ausgangsbedingungen zeigen sich also raumzeitlich von einem erheblichen Machtgefälle geprägt, das um so schwerer
21 22
Lauf der Welt 18. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 18-21.
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wiegt, als die Beziehung von vornherein als Machtkampf und nicht als wechselseitiger Interessenausgleich angelegt ist. Die Einheimische hat ein Heimspiel. Dagegen könnte Tychander nur großes Geschick setzen, um in dem risikoreichen Spiel um Macht doch noch zu gewinnen. Doch die Frau baut geschickt ihr Gebäude der Täuschung auf, was die Erzählung durch die Nennung ihres Namens markiert; sie heißt Dolosette, die 'Trügerische'.23 Deshalb ist auch ihre scheinbare Hilflosigkeit ein trügerischer Versuch, Tychander im unklaren über das zwischen ihnen bestehende Machtgefalle zu lassen. Voller Theatralik geriert sie sich als heftig Verliebte, die bereits etliche wochen darauf gewartet habe, ihn einmahl ansichtig zu werden. Die Inszenierung ihrer Sehnsucht entlarvt sich als kalkulierte Vorausplanung eines vermeintlich zufälligen Treffens, als geschickte Plazierung der eigenen Person. Dabei bedient sie sich vor allem einer täuschenden Umkehrung der Zeiten. Wenn sie klagt, sie habe weder tag noch nacht ruhe finden können, läßt das sie nicht gerade als Herrin ihrer eigenen Zeit erscheinen. Die fiktive Zeit der Verliebtheit gerät zur Kontrafaktur des Sonntags als Tag des Heils. Nach diesem Tag, an welchen sie ihn / wo sonst nirgends / doch in der Kirchen zu gesicht zu bekommen hofft, verlanget die vorgeblich liebeskranke Frau. Auch hier ist die Zeitform der Tradition zur beliebig vertauschbaren Münze verkommen, mit der ein Partner den anderen beschenken kann, nicht jedoch ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Auf den Tauschcharakter der Beziehung war gleich zu Beginn der Episode angespielt worden, als davon die Rede war, daß Dolosette Tychander mit gar holdseligen liebes=blicken beschenckte,24 Die handfeste Geschäftlichkeit der amoureusen Kontaktaufnahme wird nach ohngefähr zwo stunden noch deutlicher, als ein jubilierer bei Dolosette erscheint, den sie Tags zuvor bestellt hatte. Die Stundenangabe und der am Sonntag unangemessene Geschäftstermin weisen auf die Sorgfalt hin, mit der Dolosette ihr Timing organisiert hat. Sie spielt geschickt mit der Konkurrenz von Geschäftszeit und Zeit der Liebe und stellt sich, als wolle sie den Juwelier auf morgen um die zeit vertrösten. Tychander weiß längst, daß er ausgenommen werden soll, doch er erhöht das eigene Risiko, weil er sich bereits in dem hasennetz seiner vorgeblichen Reputation verfangen hat. Seine Handlungsform beginnt, sich gegen ihn selbst zu wenden und ihn durch ihre Eigendynamik machtlos werden zu lassen. Tychander beobachtet sein eigenes Handeln aus einer verwunderten Distanz, unfähig, sich seiner Konsequenz zu entziehen. Dabei erlebt er die von Dolosette arrangierten Zeiten und Räume in krassem Mißverhältnis zu seinen eigenen Wünschen und muß seiner Ausbeutung tatenlos zusehen, obwohl er doch ursprünglich selbst vorhatte, sich der unbekannten Schönen für seine Zwecke zu bedienen. Er kauft also bei dem 23
"
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 21- 24. Vgl. Lauf der Welt 18.
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Juwelier für 70 Reichsstaler25 Schmuck und läßt sich gegen Abend von Dolosette mit dem Bescheid verabschieden, daß ihre mutter nun zu hause kommen werde. Statt des erhofften Entgegenkommens der Frau muß er sich mit einem freundlichen kuße begnügen, nach seiner Rechnung nicht gerade viel, was erfür seine 70. thaler erworben. Das Mißverhältnis zwischen zweckrationaler ökonomischer Kalkulation und dem irrationalen Trieb, der dahinter steht, läßt Tychander alles unzeitig und deplaziert erscheinen. Endlich zu hause gekommen, ist er außer sich.26 Jetzt ist er es, der im Gedanken an die Begehrte die gantze nacht kein auge zuthun kann und sich biß an den lichten morgen plagt. Der Montag, Beginn der Arbeitswoche, findet ihn aufgemacht, als wenn er zur hochzeit gehen wolte. Dolosette hingegen spielt mit der Distanz und zeigt sich dem Vorübeiparadierenden am fenster und läßt ihm durch die magd ausrichten, wie hertzlich sie wünschte, seiner gegenwart ein par stunden zu genießen. Auch jetzt wird die Anwesenheit ihrer mutter und die zu wahrende Fassade der Wohlanständigkeit vorgeschoben. Dolosette baut also eine Fiktion auf, die durch die arrangierte Künstlichkeit ihrer begrenzten Hindernisse als solche leicht zu durchschauen ist, ganz ähnlich der schematischen Machart der frühen deutschen Prosaerzählung, auf die mit der Erwähnung von Fortunatens glücksbeutel angespielt wird.27 Durch die geschickte Dosierung ihrer Anwesenheit beschleunigt Dolosette die Dynamik der Ereignisse. Tychanders thorheit vermehrt sich täglich, und er kann den gantzen tag keine ruh im hause haben. Während er also in seinem Haus weder einen Ruhepunkt noch eine feste Operationsbasis besitzt, baut die Frau ihren Standortvorteil aus, verschanzt sich in ihrem haus und enthält sich mit fleis des fensters. So kann sie durch ihre abwesenheit seine brunst desto größer machen [...] biß es ihr endlich für eine weitere Einladung zeit gedauchte. Die folgenden Ereignisse gestalten sich als Kampf um die bessere Gelegenheit, in dem die Eigenschaften dieser Handlungsform plastischer werden. Gelegenheit erweist sich nicht als zufälliger Umstand, sondern als Moment in einem überlegenen Kalkül. Das beweist Dolosette, wenn sie in Ruhe die gelegenheit abwartet, ihm einen brief zu schicken, in dem sie ironisch in Betracht zieht, es könne seinen geschäften hinderlich sein, sie morgends tages nach der predigt aufzusuchen. Tychander hingegen verschafft sich keinen Vorteil, wenn er ohne verzug reagiert und so fort die feder ergreift Das Machtgefalle Wäre der Juwelier Kaufmann in Hamburg, dann brauchte er im Schnitt fünf Tage für einen solchen Umsatz. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 24-37. Gemeint ist die bekannte Prosaerzählung. Vgl. Fortunatus, Studienausgabe nach der Editio princeps von 1509, hg. von Hans-Gert Roloff, Stuttgart (Reclam Universal-Bibliothek 7721 [5]) 1 9 8 1 . Vgl. CLEMENS LUGOWSKJ, Die Form
der Individualität
im Roman,
hg. v o n HEINZ SCHLAFFER,
Frankfurt/M. (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 151) 1976, 82, über die Durchschaubarkeit einer von hinten motivierten dichterischen Welt im der frühen deutschen Prosaerzählung.
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drückt sich auch hier in der Zeit aus, die der jeweilige Partner zu haben glaubt. Dolosette treibt das Spiel der zeitlichen und räumlichen Verfügbarkeit noch weiter, erscheint zum verabredeten Zeitpunkt nicht in der kirchen und läßt Tychander durch ihre Magd in ihrem hause empfangen. Sie täuscht einen bey nächtlicher weile stattgefimdenen Diebstahl des eben von Tychander erhaltenen Schmucks vor, so daß der Liebhaber sich zum erneuten Kauf gedrängt sieht. Als ironische Anspielung auf ihre Ehrbarkeit schenkt sie ihm zum Dank einen blumen-krantz. Tychander aber meint, doch billig etwas mehres vor sein geld zu haben, und sieht in der abwesenheit der Mutter seine gelegenheit gekommen, sich endlich für seine Ausgaben schadlos halten zu dürfen. Dolosette aber schiebt eine unpäsligkeit vor und bittet ihn, er möge sich [...] biß auf eine andre bequemere gelegenheit noch ein klein wenig gedulden: es würde nicht lang anstehen /daß ihre mutter eine reise nacher Gröningen zu ihren befreundten vornehmen und daselbst eine Zeitlang sich au fhalten würde / alsdenn könten wir unsrer liebe nach hertzens wünsch ohne hinderniß genießen.1*
Nach dem Kauf aber muß Tychander anderntags erfahren, die Mutter sei doch gleich diese stunde unverhoft wieder zu hause gekommen. Der Erzählerdiskurs beschreibt das Überraschende als zufälliges Verhältnis von Glück und Unglück und evoziert damit die Instanz einer übermächtigen Fortuna, der der einzelne machtlos ausgeliefert ist. Auf der Geschehensebene hingegen erscheint die zufallige Gelegenheit als rational geplanter Ablauf, der sich auch das scheinbar Unverhoffte zunutze zu machen weiß. Fortuna, der Zufall, ist im Handlungsverlauf als Occasio, als Gelegenheit, erkennbar, deren sich Dolosette souverän, Tychander hingegen nur unzulänglich zu bedienen weiß. Occasio erscheint wiederholt im Sprachgebrauch beider Kontrahenten, wenn sie die günstigste Gelegenheit für ein Stelldichein erwägen, wodurch sie dem Zufall überhaupt erst Macht über sich geben. Das Verhältnis zwischen Dolosette und Tychander erweist sich als Geschäftsbeziehung, in der Zufall und Gelegenheit paradoxerweise durch die gegenseitige Übervorteilung die Regel sind. Dolosettes Gunst ist in der Beziehung zu Tychander zur Ware geworden, deren er sich durch den Einsatz von materiellen Gegenwerten zu versichern sucht. Deshalb greift hier die Analyse des eigensüchtigen Tauschverhältnisses, wie M A R X sie in den Exzerptheften vorgenommen hat. Dieses Verhältnis gestaltet sich nach M A R X als wechselseitige Anerkennung über die wechselseitige Macht der Gegenstände, die zum Tausch angeboten werden. Grundlage der Beziehung ist also nicht die Person des Partners und die Suche nach dem gemeinsamen Erfolg, sondern ein Kampf, in dem siegt, wer mehr Energie, Kraft, Einsicht oder Gewandtheit besitzt. Dabei ist der Ausgang rein zufallig, weil ja beide Kämpfenden von der besseren Gelegenheit abhängig sind: u
Lauf der Welt 33.
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Wer den anderen übervorteilt, ist für das Ganze des Verhältnisses ein Zufall. Die ideelle, gemeinte Übervorteilung findet auf beiden Seiten statt, d.h. jeder der beiden hat in seinem eignen Urteil den andren übervorteilt.19
Die Zufälligkeit als Regel hat aber ihre Ursache darin, daß die bessere Gelegenheit den Ausschlag gibt, wenn zwei Kontrahenten versuchen, sich gegenseitig zu übervorteilen. Fortuna ist also keine blinde Schicksalsmacht, sondern Faktor eines Handelns, das die Gelegenheit zum einzigen Erfolgskriterium erhoben hat. Fortuna läßt sich von dem steuern, der den besseren Zugriff auf die Gelegenheit hat. In der ökonomischen Analyse durch MARX klingt die machiavellistische Vorstellung von der überlegenen virtù an, die sich die occasione unterwerfen kann. Man darf aber nicht ignorieren, daß das Gelegenheitsdenken der Fortuna erst jene Macht verschafft, die sie als lebensbestimmendes Prinzip erscheinen läßt. Die wechselseitige Anerkennung, daß die Macht der Gegenstände, also ihr zufallig geltender Tauschwert, das gegenseitige Verhältnis bestimmt, ist die gesellschaftliche Geschäftsgrundlage, auf der erst die Macht der Fortuna wirksam werden kann. Fortuna beruht auf dem Gesetz der Vertauschbarkeit, auf dem Kampf aller gegen alle um das günstigste Tauschverhältnis. Auch Tychander selbst durchschaut den Mechanismus, der ihn zum Verlierer im Kampf um die bessere Gelegenheit macht, spekuliert aber weiterhin auf Dolosettes Gunst, so daß er den bisherigen Investitionen auch diese neue hinzufugt, um das bislang Eingesetzte nicht ganz abschreiben zu müssen. Damit beginnt eine Kette unverschämter Forderungen, die Tychander befriedigt, ohne an das Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Für Dolosette wird Tychanders Freigebigkeit zu einer festen Einnahmequelle, durch die sie sich eine lange zeit prächtig [...] unterhalten kann. Wenn die Erzählung Dolosette als Überlegene zeigt, die für sich mehr Zeit und Geld herausgeschlagen hat, entwickelt auch sie das Erfolgskriterium des Handelns aus der Zeitform der Gelegenheit. Überlegen ist, wer seine Stellung länger behauptet und finanzielle Mittel für die Zukunft zurückbehält. Die Unsicherheit der Zukunft jedoch läßt jeden Erfolg zum vorläufigen werden, weil er jederzeit sozusagen zufallig durch einen überlegenen Kontrahenten gefährdet werden kann. Die Handlungsformen von Gelegenheit und Risiko verlangen nach einem Komplement, das größere Sicherheit für längere Zeiträume verspricht. Dieser Ausgleich des allgemeinen Konkurrenzverhaltens kann nur durch wechselseitige Loyalitätsbeziehungen geschaffen werden. Tychander hat indes die eigenen familiären Loyalitäten, die ihm einen Rückhalt geben könnten, ignoriert, indem er das elterliche Kapital beanspruchte, das ihm seine eigene Zukunft garantieren sollte. Während also für Dolosette, die keinen solchen Einsatz geleistet hat, in ihrer sicheren Position das 29
Vgl. MARX, "AUS den Exzerptheften" 259.
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Tychanders Bankrott: Schätzung eines Menschen in Geld
Verhalten des Liebhabers berechenbar bleibt, muß für Tychander jede Änderung der Rahmenbedingungen als unverhoffter Schiffbruch erscheinen. Da trifft ihn das unglück durch den Tod seines Vaters bei scheinbarer stille des meeres auf seiner lebens-reise, obwohl er an den hinterlassenen Schulden durch seine Lebensführung nicht unbeteiligt ist.30 Seine Mutter läßt ihn wissen, daß sie ihn nicht mehr unterstützen könne, und weist ihn darauf hin, daß ja die bisherigen Zahlungen eine Investition in seine berufliche Zukunft und Unabhängigkeit gewesen seien. Sie appelliert an die familiäre Loyalität, die er ihr jetzt schuldet: Ermahnte mich demnach meiner kindlichen treue / daß weil sie mir so lange geschickt / und immer gehoft / ich hätte meiner zusage nach / vor solches Geld sollen Doctor geworden sein / solches aber [40] nicht erfolget wäre: so sol te ich nun zusehen wie ich am besten nach hause kommen könte / und etwa einen advocaten suchen abzugeben / damit ich sie [...] in ihrem alter wieder möchte ernehren / angesehn ich nicht die geringste Ursache solches unfals gewesen [•••J.li
Mit dem Hinweis auf ihr alter macht die Mutter Tychander auf die natürlichen Grenzen des Lebens aufmerksam, die einen vorausschauenden Umgang mit den Zeitrhythmen erfordern. Ausdruck der Anerkenntnis dieser Realitäten ist der Generationenvertrag zwischen Jungen und Alten, der die Ausbildung der Jungen und die Versorgung der Alten gleichermaßen gewährleisten soll. Familiäre Loyalität ist somit direkte Folge einer realistischen Einschätzung des zeitlichen Rahmens, der dem einzelnen Leben gesetzt ist. Tychander wird nun von den Folgen seines unzeitigen Handelns eingeholt, das den finanziellen, zeitlichen und räumlichen Rahmen seines Lebens ignoriert hat. Ganz ausdrücklich wird der unverhoffte Zufall als Folge seines Handelns bezeichnet, w e n n die M u t t e r in i h m nicht
die geringste
Ursache
solches
unfals
ausmacht. Diese ernüchternde Neuigkeit bringt ihn außer sich, er liegt eine gute stunde ohn eintziges
lebens-zeichen
in einer ohnmacht.
E r s t die langheit
der
zeit bringt ihn wieder zu sich, so daß er Ablauf von vier wochen darangehen k a n n , seine sachen
nun anzugreiffen.
D a er nicht viel zeit auf das
studieren
gewandt hat, muß er versuchen, sein Glück in der Welt als Schreiber oder Sekretär zu suchen. Doch selbst dazu fehlt ihm das Startkapital. In einer erneuten Verkennung der Realitäten erwartet er nun von Zechbrüdern und Landsleuten Solidarität." Zum ersten Mal erfahrt er das Machtgefälle, das ihn nun zum bedenkenlos fortgejagten Bittsteller macht. Ein Bekannter belehrt ihn über die Spielregeln kaufmännischer Klugheit. Tychander könne sich die Mühe des Borgens sparen, [...] denn gewislich / wenn du keines hast / wirstu 30 31 32
von mir wenig
bekommen.
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 37-41. Lauf der Welt 39/40. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 41-48.
Ich kan mein geld
viel
beßer
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
selbst anlegen / als daß ichs dir geben solte / denn ich doch wohl weis / daß du mir nichtes wiedergeben kanst. Maßstab dieses Handelns ist keine Gerechtigkeit, die dem in Not Gefallenen das erstattet, was er in reputierlicher Großzügigkeit ausgegeben hat, sondern die nüchterne Taxierung des Bittstellers als Investitionsobjekt. Im nachhinein erhalten die ökonomischen Kategorien, nach denen die Kreditwürdigkeit des Bittstellers taxiert wird, eine geradezu moralische Qualität, denn Kredit hat etwas mit Treu und Glauben zu tun, insofern sie sich auf die Rückzahlung des Vorgestreckten beziehen. Tychander ist kein 'guter' Mann, weil das in ihn investierte Kapital sich nicht auszuzahlen verspricht. Der Kreditnehmer wird zum Gegenstand der Schätzung eines Menschen in Geld.n Dadurch wendet sich Tychanders Handeln gegen ihn selbst, da er Beziehungen bislang über Geld und Waren hergestellt hat, wodurch er sich selbst zur Handelsware verdinglichte. Zuletzt meint er noch auf Dolosettes Treue setzen zu dürfen, doch auch diese Erwartung erweist sich als trügerisch.34 Als er sie aufsucht, fangt Tychanders gegenwart schon nach kurzer Zeit an, ihr verdrieslich zu fallen, so daß er sie nach etlichen umschweiffen bittet, sie möge ihm 30. thaler vorstrecken. Doch sie erwidert ihm, [...] daß die jungfern in Holland den gebrauch nicht hätten das jenige wieder zu geben / was ihnen einmahl verehret worden. Auf seinen Einwand, er wolle das Geld ja nur eine Zeitlang leihen: sie solten ihr ja doppelt wieder erstattet werden, antwortet Dolosette, sie spiele des gewißen und behalte, was sie habe. Dolosette macht deutlich, daß sie ihre Beziehung zu Tychander für eine geschäftliche hält, und belehrt ihn über die diesbezüglichen Spielregeln. Kredit kann nur bei entsprechenden Sicherheiten gewährt werden, während die Bekanntschaft kein Anlaß ist, sich verpflichtet zu fühlen und großzügig zu sein. Die Engherzigkeit dieses Bescheids ist mit den Kategorien christlicher Moral nur unzureichend zu erfassen. Denn auf der Geschehensebene spiegeln sich die enger werdenden Zeitspannen und Spielräume, die sich wie eine Schlinge um Tychander zusammenziehen, nachdem er zuvor seinen finanziellen Rahmen weit überdehnt hatte. Der Schluß der Episode steht in deutlichem Kontrast zu der illusionären Einebnung aller räumlichen und zeitlichen Grenzen an ihrem Beginn. Tychanders Weg aus Dolosettes Haus zur thiir hinaus wird kein Weg ins Offene; die Enge der städtischen Gasse ermöglicht es der Magd vielmehr, ihn mit einem auf den köpf gegossenen Kübel Unrat zu verabschieden und erlaubt es den nachbarn, die in den fenstern liegen, das Schauspiel zu ihrer Belehrung und Belustigung mit anzusehen. Auch hier - wie am Schluß der Episode um den ehebrecherischen Kommilitonen - sorgt das begrenzte Umfeld des Lokals für ein Publikum, in dem sich die Regelmechanismen des bürgerlichen Lebens manifestieren. 33 34
Vgl. M A R X , " A U S den Exzerptheften" 250/251. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 48-55.
Fi lander: Handel zwischen Konkurrenz und Kooperation
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Jeder weitere Schritt verstrickt Tychander weiter in die Verbindlichkeiten, die er eingegangen ist. Deshalb richtet sich in der letzten Handlungssequenz der Blick auf die fremde Hilfe, die Tychander zu seiner Belehrung entgegennimmt. Um innerhalb dieses feinmaschigen Handlungsgeflechts einen letzten finanziellen Spielraum zu haben, verkauft Tychander seine kleider und federbüsche, was allerdings in der Kleinräumigkeit der Stadt nicht unbeobachtet bleiben kann und das Mißtrauen der Gläubiger weckt, die ihm zuvorkommen, als er hinter der thiir urlaub zu nehmen beabsichtigt Sie setzen ihn in den schuld-thurn, in dem sich die Enge des verbleibenden Handlungsraumes materialisiert. Als er hier, zur Bewegungslosigkeit verurteilt, länger als vier monat zugebracht und sich den Kontrast zwischen dem vormaligen überßus seiner Ressourcen und seiner jetzigen Not vor Augen gefuhrt hat, tritt von außen eine unverhoffte Wendung der Umstände ein. Filander, ein Kommilitone und Landsmann, den Tychander wegen der verfeindeten Väter auch für seinen Feind gehalten hat, hilft ihm bei der Entschuldung, indem er den Gläubigern anbietet, die Hälfte der Schulden zu begleichen. In diesem zugleich kollegialen und professionellen Vorgehen Filanders35 hat Tychander nun ein exempel für mögliche Handlungsalternativen, die die bürgerliche Welt für ihn bereitgehalten hätte. Denn gegen Tychanders unmäßiges Verschleudern sticht Filanders kalkulierte Großzügigkeit ab, denn er gibt ja bei der Entschuldung Tychanders nicht einen Pfennig mehr aus als nötig. Filander hält die Tatsache, daß GOtt der HErr dem Tychander den brodkorb anjetzo etwas höher gehänget hätte, für eine willkommene Gelegenheit, aus der Tychander den underschied gutes und böses daraus lernen könte. In seinem Diskurs treffen sich geistlich-moralische und lebenspraktische Kategorien. Denn in seiner brüderlichen Hilfe ist nicht nur der Bruder in Christo, sondern auch der geschäftliche Confrater, der Compagnon, erkennbar. Ohne einen Landsmann wie Filander kann ein junger Geschäftsmann in der Fremde nicht bestehen, wie aus den Ermahnungen des JOHANN SCHULTE SR. an den Sohn in Lissabon bereits zu lernen war. Durch die Figur des Filander wird die pikareske Situation und das mit ihr einhergehende Handlungsmuster auf der Folie der bürgerlich-ökonomischen Gesetzmäßigkeiten analysierbar und die Welt des Romanhelden mit der sozialen Umwelt des hanseatischen Lesepublikums konfrontiert. Diese soziale Welt lebt von der Spannung zwischen Konkurrenzverhalten und geschäftlicher Partnerschaft. Wer erfolgreich geschäftlich expandieren will, kann dies nur von einer sicheren Operationsbasis aus, wie sie ein Handelshaus bildet.36 Damit ergibt sich die Lebensnotwendigkeit stabiler 35
x
Wer sich ein wenig mit Sozialarbeit und Schuldnerberatung befaßt hat, weiß, daß auch heute professionelle Hilfe nicht anders verfährt als Filander. Damit entwickelt das Handelshaus das Konzept des griechischen oikos fort, dessen Überleben in einer tendenziell feindlichen Umgebung nur durch die Stärkung von Loyalitäten zu gewährleisten
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
familiärer Bindungen. Nur durch die Korrespondenz mit seinem Vater in Hamburg gelingt es JOHANN SCHULTE JR. in Lissabon, die nötigen Informationen zu erhalten und Verbindungen aufzubauen. MARTIN REIBMANN hat in der hamburgischen Kaufmannschaft des 17. Jahrhunderts eine Gruppe von Familien ausgemacht, die über lange Zeit hinweg ökonomisch sehr erfolgreich waren und sich durch weitgehende Exklusivität im Konnubium auch eine weitreichende Vorrangstellung bei der Besetzung der hohen und höchsten Regierungsämter sichern konnten. Zu diesen Familien, in denen sich die obersten Ämter [...] gleichsam ''forterbten", gehört etwa die Familie SCHULTE.37 Für die niederländischen Städte wie Leiden lassen sich im 17. Jahrhundert ganz ähnliche Strukturen nachweisen: In den Stadtregierungen wurden die Funktionen durch gegenseitige Abkommen, die sogenannten Contraeteη van Correspondentie, unter den Mitgliedern einer beschränkten Zahl von Familien verteilt, die das Musterbeispiel einer auf zynische Ausbeutung und Eigennutz gezielten Oligarchie darstellen.38
Niederländische Städte wie Leiden und hanseatische wie Hamburg lassen sich aber noch in anderen Punkten parallelisieren. Ihr Wachstum beruhte auf Zuwanderung. Die räumliche Mobilität, die die Konzentration von Menschen auf einem bestimmten Territorium39 ermöglicht, wird in diesen Fällen auch von einer sozialen Mobilität begleitet. Es ist nämlich keineswegs so, daß der aus unteren Schichten oder neu hinzu Kommende grundsätzlich von den ökonomischen, sozialen und politischen Positionen ausgeschlossen war, die die jeweilige Oligarchie unter sich verteilt hatte. Die Gemengelage zwischen traditionell-ständischen und ökonomischen Schichtungskriterien fìihrte in Hamburg wie in den niederländischen Städten zum Aufstieg Zugezogener und Niedriggeborener in die höchsten Schichten, wenn die Betreffenden wirtschaftlich erfolgreich waren und die Spielregeln der eingesessenen Gesellschaft zu lernen im Stande waren.40 37 31
war. Vgl. A. W. H. ADKINS, Moral Values and Political Behaviour in Ancient Greece. London (Chatto & Windus) 1972. Vgl. REIBMANN, Die hamburgische Kaufnannschaft in sozialgeschichtlicher Sicht 3 2 6 / 3 2 7 . JAN A. VAN HOUTTE, "Gesellschaftliche Schichten in den Städten der Niederlande": Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa. ReichenauVorträge 1963-1964 = Vorträge und Forschungen 11, Konstanz/Stuttgart ( 1 9 6 6 ) 2 5 9 - 2 8 9 , hier 275.
39
K
Vgl. HERMAN DŒDERIKS, "Stadt und Umland im Lichte der Herkunftsorte der Kriminellen in Leiden im 17. und 18. Jahrhundert": Städtisches Um- und Hinterland in vorindustrieller Zeit = Städteforschung, Reihe A, 22, hg. von H A N S K. SCHULZE, Köln Wien (Böhlau) 1985, 183-205, hier 183. REIBMANN, Die hamburgische Kaufmannschaft in sozialgeschichtlicher Sicht 2 8 7 - 2 8 9 rekonstruiert aus den Kleiderordnungen eine Oberschicht, die sich sowohl aus (weniger begüterten) akademischen Würdenträgern als auch aus ökonomisch erfolgreichen Kaufleuten und Rentierern zusammensetzt Zum Übergang vom gewerblichen zum kaufmännischen Beruf und dem damit verbundenen sozialen Aufstieg vgl. REIBMANN, Die hamburgische Kaufmannschaft in sozialgeschichtlicher Sicht 2 5 5 . SCHRAMM erzählt in seinem Buch Neun Generationen 9 9 - 1 1 9 , vom Aufstieg seiner eigenen, aus Hameln eingewanderten Familie. Erstaunliche Karrieren holsteinischer
Filander: Handel zwischen Konkurrenz und
Kooperation
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Der historische Kontext verleiht den Handlungs- und Erzählstrukturen des Romans ihren Stellenwert. Denn sowohl die Handlung um Tychander als auch das Ethos der Erzählerinstanz sind vom Konflikt zwischen den kapitalistischen Werten der Konkurrenz und Kooperation geprägt. Tychander ist in der pikaresken Situation des Hinzukommenden, der auf ein dichtgesponnenes System sozialer Beziehungen und Regeln trifft, die er erlernen müßte. Durch die Ignoration der räumlichen und zeitlichen Parameter seiner Nahumgebung und der ökonomischen Mechanismen gerät Tychander immer tiefer in die soziale Isolation, die die pikareske Situation bestimmt. Da er sich weder durch den Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie noch durch die Anknüpfung tragfähiger Bindungen vor Ort eine sichere Operationsbasis schafft, wird er zum Spielball des Konkurrenzverhaltens, das er selbst übt, und der dadurch verschärften Konflikte. Tychanders Weg ins soziale Abseits und - durch den betrügerischen Bankrott - in die Nähe der Kriminalität spiegelt Entwicklungen im großen, die sich etwa fur Leiden im 17. Jahrhundert nachweisen lassen. Durch die wirtschaftliche Sogwirkung kam es zu einem verstärkten Zuzug Fremder; die hohe Bevölkerungskonzentration bedingte eine Verschärfung der sozialen Beziehungen und damit einhergehend einen Anstieg der Kriminalität.41 Von den negativen Auswirkungen dieser Entwicklung bleiben die verschont, die bereits in das Leben der Stadt integriert sind und aus der Sicherheit eines wohlbestellten Haushaltes heraus operieren können. Weil Dolosette sich durch keine Loyalität an ihn gebunden fühlt, lernt Tychander eine Verhaltensweise kennen, die den niederländischen Handelskapitalismus im 17. Jahrhundert so erfolgreich gemacht hat. VIOLET BARBOUR fuhrt die Überlegenheit der niederländischen, namentlich der Amsterdamer Handelshäuser auf nüchtern gestaffelte Loyalitäten zurück, die den Familienunternehmen42 und ihren zum Teil heimlichen Geschäftspartnern43 den ersten Rang einräumten, während die traditionelle Bindung an das Gemeinwesen und seine Obrigkeit sehr gering war. Der niederländische Man without a Country nahm keinen Anstoß, auch mit dem Feind im Krieg Geschäfte zu machen, wenn es ihm denn Vorteile versprach. Zwischen Geschäftspartnern und Feinden besteht im Rahmen dieses Handlungskonzeptes nur ein gradueller Unterschied. In diesem Zusammenhang nehmen auch Liebesbeziehungen leicht den Charakter von Geschäftsbeziehungen an, so daß das feindselige Verhalten Dolosettes gegenüber Tychander der nüchternen Einschätzung seines geschäftlichen Wer-
41 42
°
und bremischer Einwanderer, die als Angestellte und sogar als Bettler (Schelmen!) begannen, im Amsterdam des 17. Jahrhunderts finden sich bei VAN HOUTTE, "Gesellschaftliche Schichten in den Städten der Niederlande" 275. Vgl. D Œ D E R K S , "Stadt und Umland" 1 8 5 . Vgl. VIOLET BARBOUR, Capitalism in Amsterdam in the 17* Century, Ann Arbour (Michigan UP) 1963, 140. Vgl. BARBOUR, Capitalism in Amsterdam in the 17aCentury 142.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
tes entspricht. Wenn Dolosette die Zurückweisung des Liebhabers ausdrücklich mit dem gebrauch der jurtgfem in Holland erklärt, läßt sich dies als Hinweis auf das sozialgeschichtliche Setting des Geschehens verstehen. Im Gegensatz zu Tychander weiß sich der erfolgreiche Geschäftsmann an einem neuen Ort erfolgreich zu etablieren, weil er im Bewußtsein lebt, daß er ein Man without a country ist und deshalb auf keine Loyalitäten rechnen kann. Er taxiert jeden neuen Handlungsraum nüchtern als Feld fiir seine Aktivitäten. Die Tatsache, daß er die Orte vertauscht, verfuhrt den Geschäftsmann nicht zu der Illusion, die Orte seien in ihrer Vertauschbarkeit beliebig. Gerade das Medium des Tausches, das Geld, lehrt ihn, seine Ressourcen in das jeweils geltende Wertsystem umzurechnen und die am Ort gültige Währung einzukalkulieren, um sich vor Verlusten abzusichern. Der Währungstransfer, der Wechsel von einem Ort zum andern, läßt sich erfolgreich nur durch die Beachtung der Unterschiede bewerkstelligen, die zwei differente Städte voneinander trennen.44 Der Neuankömmling erlebt die verenderung, die durch die Vertauschung der Orte hervorgerufen wird, mit befremdung ja fast mit Bestürzung vnd alteration, wie etwa auch JOHANN SCHULTE seinem in Lissabon neu etablierten Sohn zugesteht.45 Der Aufbau einigermaßen verläßlicher Beziehungen vor Ort ist um so mehr auf die Beachtung bestehender Strukturen angewiesen. Tychanders Scheitern in Leiden ist vor diesem Hintergrund ohne die zeitlosen Kategorien eines geistlich-moralischen Normensystems erklärbar. Es begründet sich vielmehr in den raum-zeitlichen Parametern seiner Nahumgebung. Es mißlingt dem Schelmen, sich am Ort zu etablieren, da er seine Gegebenheiten nicht einkalkuliert: Er überspannt den Handlungsrahmen seiner finanziellen Ressourcen und unterschätzt die Kontrolle seiner Kontrahenten, namentlich Dolosettes, über verabredete Plätze und Termine. Da er weder eine eigene Handlungsbasis noch einen Partner hat, mit dem ihn eine Verpflichtung auf Gegenseitigkeit verbindet, fehlt ihm die Macht, sein eigenes Timing anderen aufzuzwingen. In letzter Konsequenz ist Tychander nicht mehr Herr seiner Zeit. Nach dem Versuch, sich durch betrügerischen Bankrott zu entziehen, ist die Inhaftierung sinnfälliger Ausdruck für den Verlust von Bewegungsfreiheit und Handlungsoptionen. Daß Tychander am Ende auf freyen fuß46 gelangt und Leiden verläßt, kann als Aufschub der Bedrohung seiner Existenz verstanden werden. Zwischen der erzwungenen Auswanderung nach einem finanziellen Desaster und der Verbannung eines definitiv straffällig Gewordenen besteht offenbar ein nur gradueller Unterschied. Tychander selbst wird durch das Eingreifen Filanders vom inhaftierten Kriminellen zum straffrei ausgehenden Besitzlosen, 44
Vgl. HEINS, Gazophylacium
45
Vgl. SCHULTE 2 0 ( B r i e f IV, 2 5 . 2 . 1 6 8 1 ) .
48
Vgl. Lauf der Welt 63.
414.
Filander: Handel zwischen Konkurrenz und Kooperation
227
der mehr oder minder freiwillig die Stadt verläßt. Es ist vielleicht nicht uninteressant, daß D Ü R E R selbst dieses Schicksal von seinem Vater her bekannt war, der wegen Geldschwierigkeiten in Zahlungsverzug gekommen war, sein Haus in Glückstadt verlor und im Jahre 1649 die Stadt verlassen mußte.47 Wenn Tychander also Leiden verläßt, teilt er damit das Schicksal vieler Zugezogener, die entweder wegen ihrer mißglückten geschäftlichen Etablierung oder als Verbannte wegen einer Straftat die Städte wieder verließen. In Leiden etwa wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts in 59% aller Fälle als Verurteilung die Verbannung ausgesprochen, nicht zuletzt deswegen, weil die Städte für die Kosten der Gefängnisstrafen aufkommen mußten und die Straffälligen als überflüssige Kostgänger gerne ziehen ließen.48 Die neue Freiheit, der sich Tychander zu erfreuen hat, ist also nicht absolut, sondern durch den Verlauf seiner Geschichte bedingt. Er findet sich auf der Landstraße wieder, einem typischen pikaresken Chronotopos. In D Ü R E R S Lauf der Welt hat diese Landstraße ihre Vorgeschichte in der gescheiterten Etablierung des Helden innerhalb einer städtisch-bürgerlichen Umgebung. Der Schelm betritt die Landstraße aus dem Zwang zur Erhaltung der Existenz und wegen der Möglichkeit vorwärts zu kommen. Die Landstraße bietet keinen Rahmen für die Sicherung des Erworbenen, wie sie das utopische Bild des sicheren Hafens evoziert; sie schiebt vielmehr die Einlösung aller Erwartungen ständig auf. Solange ihm die Etablierung in verläßlichen Verhältnissen mißlingt, wird der Schelm seine Reise auf der Landstraße fortsetzen.
47 41
Vgl. UNSICHER, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein 252/253. Vgl. DIEDERKS, "Stadt und Umland" 188 und 204.
Die erzählte Landstraße und die Perspektive des Schelmen: Tychander lernt, die Zeichen der Zeit zu deuten und die Gunst der Stunde zu nutzen Nachdem die bürgerliche Gesellschaft ihn vor die Tür gesetzt hat, folgt Tychander offenbar noch immer nicht ihrer Lebenspraxis. Auch seine nächsten Schritte wirken unzeitig und deplaziert. Tychanders überstürzte Abreise aus Leiden wird zum Auftakt einer Art von Kavalierstour nach Paris, dem klassischen Ziel galanter Ausflüge. Bereits der schleunig genommene Weg durch Braband und Flandern nach Frankreich, dessen Hauptstadt er in kurtzen1 erreicht, widerspricht den guten Ratschlägen, die man in den zeitgenössischen Lehrbüchern der Reisekunst, den Apodemiken, den jugendlichen Reisenden auf den Weg zu geben pflegte. So weiß Die rechte Reise=Kunst von 1674 anzugeben, daß Junge Leuth / so die Teutsche Lufft nicht alsobald zuverändern getrauen / sondern der Gesundheit vorzustehen begehren, sich nicht direkt nach Pariß begeben, sie pflegen vielmehr, sich anfangs ein / zween Monate auff der Frontieren, so wohl in= als ausserhalb des Königreichs auffzuhalten. Nach Ansicht des Ratgebers empfiehlt sich diese Vorsicht um so mehr, als Pariß bekanntermaßen der Ort sei, allwo sich das Laster in die Tugend selbst zuverkleiden weiß? Das Spiel von Schein und Sein, die Widersprüche also, in die sich Lebenspraxis und Zeichenpraxis verwickeln, erforden eine bedächtige Eingewöhnung in die lokalen Umstände und die Zeichen der Zeit. Die deutschen Autoren des 17. Jahrhunderts projizieren diesen inneren Schein-SeinGegensatz nach außen, namentlich auf die französische Kultur,3 so daß die Reise nach Frankreich zur Einübung in die Absicherungsstrategien wird, durch die sich der einzelne in den gesellschaftlichen Widersprüchen behaupten soll. Unzeitige Eile ist deshalb schon angesichts der legendären Gefahren, die in Paris lauern, nicht ratsam. Die Wahl des Reiseziels Paris zeigt, daß Tychander aus seinen bisherigen Erfahrungen noch keinen Sinn für das Gebot der Stunde gewonnen hat, denn die Zeit für Bildungsreisen und elegante 1 2
3
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 63-67. Vgl. Die rechte Reise=Kunst / Oder Anleitung / wie eine Reise mit Nutzen in die Frembde / absonderlich Franckreich abzustellen / wobey eingeßhret werden die Ursachen deß so ungemeinen Wachsthumbs und Einkunfflen /Macht und Hoheiten / auch allerhand neuen Anstalten besagten Königreichs / Nebst einem Anhang unterschiedener Conferentzen oder Gelehrten Gespräche/zu Paris gehalten. Frankfurth /In Verlegung Joh. David Zunners. Im Jahr 1674, 24/25. Benutztes Exemplar: UB Augsburg. Signatur: IV. 4 8° 2. Vgl. hierzu etwa FERDINAND VAN INGEN, "Kulturelle und ethische Opposition im Spiegel der Literatur, Deutschland und Frankreich im 17. Jahrhundert": E U I R Ô IWASAKI (Hg.), Begegnung mit dem 'Fremden', Grenzen - Traditionen - Vergleiche, Akten des VIII. internationalen Germanistenkongresses Tokyo 1990, Band 2, München (ludicium) 1991, 140-147.
Perspektivenwechsel als Zugang zur Realität
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Konversation ist spätestens mit dem Verschwinden seines Vermögens gänzlich abgelaufen. Bereits durch die Reise ist sein geld verzehret, und in Paris gelingt es ihm bei seinem Mangel an Beziehungen auch nicht, die Stelle eines Lackeyen zu erhalten, von der er sich nun ernähren könnte. Mit dem letzten Geld ist auch sein letzter Entscheidungsspielraum verloren, so daß er nothwendig Paris wieder verlassen muß und sich gedrungen sieht, aus der noht eine tugend zu machen und sich aufs betteln zu legen. Da Tychander keinerlei Vorsorge getroffen hat, wird der ökonomische Rahmen seines Lebens nun zum objektiven Zwang, der ihn auf die Landstraße nötigt. Dabei macht er zunächst die Erfahrung eines Rollenwechsels. Gehörte er bislang zur Gruppe derer, die in festen Behausungen sitzen, so steht er nun auf der anderen Seite der Haustüren, auf der Landstraße, um das Notwendigste zu erbetteln. Dieses Handlungsmuster will erst gelernt sein. Der Erzähler protokolliert seine anfangliche schamhaftigkeit, die ihn wiederholt dazu bringt, daß er - vor eine thüre gekommen - sofort wieder zurücke tritt, da er sich so viel hertzens nicht faßen kunte die leute anzusprechen. Doch die objektiven Bedingungen sind stärker als die erlernten Verhaltensweisen, nach Tychanders anfanglichem Zögern übertrifft schließlich noht die schäm. Gleichzeitig wird sich Tychander, indem er sich mit der Rolle des Schelmen zu identifizieren beginnt, im Widerspruch zu den materiellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seiner selbst bewußt. Seine Landstraße ist gesäumt von den Wohnungen der Seßhaften, die in ihrer Ignoranz seine Not verkennen: Kam ich vor eine thiir da mir ein stücke brots gelanget wurde / so waren [65] wohl zehne / da ich wieder abgewiesen wurde / so das ich fast vor hunger verschmachten muste. Nichtes aber kränckte mich heftiger / als das ich so viel unnützer worte muste einfressen / und mich vor einen starcken faulen schlüngel lassen schelten / der wohl arbeiten oder einem Herren dienen könte / und nicht nöhtig hätte sich auf die bärenhaut zu legen und mit bettelstücken zu entehren*
Auffällig ist der Gegensatz zwischen der Menge unnützer worte, der stereotypen Zuweisungen, und der pikaresken Wirklichkeit, der realen Not, die dem Schelmen seine Existenz bestreitet. In der Bestreitung seiner Ehre erfahrt er seine personale Würde, die nicht an einen bestimmten Stand gebunden ist. Nicht zufällig ist es der Schelm, dem es in der Geschichte des europäischen Romans als erstem gelingt, Ich zu sagen. Der Roman verhilft dem Vaganten dazu, mehr zu sein als die Projektionsfläche bürgerlicher Obsessionen. Er verkehrt die herkömmlichen Sehgewohnheiten. Im Blickwinkel des Schelmen wird plötzlich aus der vertrauten Kollektivinstanz der seßhaften Anständigen das bedrohliche Fremde, das dem erlebenden Ich im Moment der Not das Notwendige gewähren oder verweigern kann. Durch die Verkehrung der Perspektive hat der lesende Bürger nun Gelegenheit, die eigene Situation und das 4
Lauf der Welt 64/65.
230
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
eigene Verhalten von außen, von draußen vor der Tür, zu betrachten. Der lesende Bürger wird, indem er der Erlebnisrede des Schelmen folgt, zum distanzierten Beobachter seiner selbst. Deshalb ist es gerade der literarisch gestaltete Schelm und nicht der reale Vagant, der mit Recht Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums genannt worden ist.5 Im Perspektivenwechsel, den allein die Romanerzählung leisten kann, werden die Widersprüche der gesellschaftlichen Lebens- und Zeichenpraxis offenkundig. Die Zuweisungen, mit denen der anständige Teil der Gesellschaft die Außenseiter marginalisiert, verkehren sich in ihr Gegenteil. Medium dieses Perspektivenwechsels in der idealen Leserinstanz ist Tychander selbst, der in seinem Leben die Seiten wechselt und vom studierenden Bürgersohn und Wechselempfanger zum mittel- und heimatlosen Vaganten geworden ist: Ich kunte solches groben brotes kaum jetzund genug kriegen / das ich vorhin vor weniger zeit nicht hätte meinem hunde [66] geben mögen.6 In der Lebensgeschichte Tychanders wird der Widerspruch zwischen Besitzenden und Besitzlosen als Gegensatz zwischen Drinnen und Draußen räumlich ausgespannt und als jäher Wechsel zwischen vorhin und jetzt verzeitlicht. Tychander kennt beide Situationen, die des satten Bürgers hinter der Tür und die des wandernden Bittstellers, so daß im Ablauf seiner Erzählung beide Perspektiven in ein Wechselspiel miteinander geraten. Weil sein Leben bedroht ist, sieht sich der Held auf die elementaren Techniken der Selbstbehauptung reduziert. In der Erzählung entspricht diese Extremsituation der beschränkten Zeit, die Tychander nun für sein Überleben zur Verfugung steht. Der jähe Wechsel in Tychanders Situation vom wohlversorgten Bürgersohn zum bettelnden Vaganten bedeutet auf der Geschehensebene der Erzählung eine Verkürzung der Handlungszeiten durch Hunger und die Notwendigkeit, Nahrung zu beschaffen. Für den Hungernden beschränkt sich der planbare Zukunftsraum auf die nächste Mahlzeit. Die Erzählung bildet diese Verengung der Spielräume ab, indem sie die erzählte Zeit sozusagen in Zeitlupe und in einer kleinräumigen Nahaufnahme als verlangsamte Erzählzeit ablaufen läßt. Mit einem Mal ist auf Tychanders Weg von Frankreich nach Deutschland ein bestimmter Tag bedeutsam, an dem der Held zu einem dorfe gelangt, um zu betteln. Da er auch hier nichtes bekam / als lose wort und schimpfliche reden, wird selbst die nächste Zukunft ungewiß. Mit dem Hunger kommt der Tod als letzte Grenze in den Horizont der Lebensgeschichte: Ich hatte den gantzen tag nicht viel gegessen und war so matt daß ich kaum stehen kunte / darum legte ich mich mit betrübtem hertzen unter einen bäum / und 3
'
Vgl. DIETER ARENDT, Der Schelm als Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums, Vorarbeiten zu einer literatur-soziologischen Analyse der Schelmenliteratur, Stuttgart (Klett) 1974. Lauf der Welt 65/66.
Asiatische Banise: begrenzte Hindernisse, Motivation von hinten
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beweinte mein grosses elend / wünschte mir daneben den tod zum öftern / und nahm mir gäntzlich vor nicht unter dem baume wieder weg zu gehen / sondern so lange zu liegen / biß ich vom [67] hunger stürbe / auf daß ich also einmahl meines elendes abkämeJ
Tychanders Todeswunsch entspringt seiner Resignation gegenüber der Übermacht der widrigen Umstände, sein mangelnder Lebenswille ist selbst bereits Folge tödlicher Ermattung, mithin also Vorbote des wirklichen Todes. An dieser Stelle ist zu erahnen, was die Rede vom Realismus des Schelmenromans bedeuten könnte. Die Hindernisse, denen der Vagant auf seiner Landstraße begegnet, stellen eine reale Bedrohung für sein Leben dar. Hunger und Todeswunsch sind also nicht primär arrangierte Hindernisse, durch deren Überwindung die Erzählung ihren Helden zu bestimmten Zielen fuhren will. Dies jedenfalls wäre nach C L E M E N S L U G O W S K I die Rolle der begrenzten Hindernisse,8 innerhalb eines funktionierenden mythischen Analogons, wie es seiner Meinung nach vom mittelalterlichen Roman repräsentiert und in der Prosaerzählung der Frühen Neuzeit schrittweise durchbrochen wird.9 Die Begrenztheit der Hindernisse
sei in der Epik vor dem 16. Jahrhundert der
Motivation
des Handlungsverlaufes von hinten10 geschuldet, wobei die Gewißheit des (guten) Ausgangs11 in jeder Phase der Handlung präsent bleibe. Mit diesen Beobachtungen einer der Literatur eingeschrieben Wirklichkeitsstruktur kann n L U G O W S K I S Formanalyse zeigen, wie die Individualität des Einzelschicksals durch seine Situierung in Raum und Zeit in den Blick der frühneuzeitlichen Erzählprosa kommt. Die von L U G O W S K I analysierte Form des mythischen Analogon ist allerdings mit dem Untergang des mittelalterlichen Romans nicht gänzlich verschwunden.13 Im barocken Idealroman findet sich ein ganz ähnliches künstliches Arrangement der Räume und Zeiten, das M I C H A I L M . B A C H T I N in seiner Studie zu Formen der Zeit im Roman analysiert hat.14 Wie seine antiken Vorbilder, die hellenistischen Aithiopika etwa, folgt der barocke Idealroman der Form des abenteuerlichen Prüfungsromans,15 dem der Schelmen7
* ' 10
" 12 13
14
13
Lauf der Welt 66/67. Vgl. CLEMENS LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman, hg. von HEINZ SCHLAFFER, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 151), 1976, 82. Vgl. LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman 2 1 - 8 2 . Vgl. LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman 66. Vgl. LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman 2 9 ; 7 3 ; 8 0 u.ö. Vgl. LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman 19. So sind, bei aller Genauigkeit der Textanalyse, LUGOWSKIS geschichtsphilosophische Implikationen mit Fragezeichen zu versehen. Ein erster Mangel ist hier sicherlich, daß er sie nicht explizit macht und damit im Ungefähren beläßt Wie sähe sie aus, die historische Epoche des mythischen Analogen! LUGOWSKIS Arbeit erschien erstmals 1 9 3 2 , während BACHTINS Studie mit den Jahreszahlen 1 9 3 7 - 1 9 3 8 versehen ist. Vgl. MICHAIL M. BACHTIN, Formen der Zeit im Roman, Untersuchungen zur historischen Poetik, deutsch von MICHAEL DEWEY, Frankfurt am Main (Fischer Tb. Wissenschaft 7418) 1989, 10 und 21.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
roman als abenteuerlicher Alltagsroman™ gegenübersteht. Nach BACHTIN verläuft das Abenteuer im höfischen Barockroman zwischen zwei von vornherein festliegenden Punkten, die Abenteuerzeit vermöge nichts am Leben der Helden zu ändern.17 Die Hindernisse der Abenteuerzeit, die der Held zu überwinden hat, entlassen ihn an Körper und Geist völlig unversehrt, so daß er in ungeminderter Jugendfrische am Ende in die Arme seiner ihm immer schon vorbestimmten Geliebten sinken kann. Läßt sich also im Kontrast zum barocken Idealroman ein spezifischer Realismus des Schelmenromans erarbeiten, der sich darin äußert, daß sich der chronotopische Weg der Erzählung zur Landstraße des Schelmen verdichtet und die fiktiven Hindernisse zu realen Bedrohungen werden? Die Probe aufs Exempel mag ein Vergleich von Tychanders Todeswunsch mit einer ähnlichen Szene aus einem Idealroman des Barock liefern. Es handelt sich um ls HEINRICH ANSHELM VON ZIGLER UND KLIPHAUSENS Roman Asiatische Banise über das sagenhaft blutige, doch auch heldenhaft mutige Pegu, der auch JORGEN MAYER 19 fiir eine vergleichende Einordnung der DüRERSchen Romankunst gedient hat. Bei ZIGLER wird der Leser bereits in der ersten Szene mit dem Todeswunsch des Haupthelden, des Prinzen Balacin, konfrontiert.20 Auf den ersten Blick erscheint die Situation des Helden, der von der Übermacht seiner Feinde verfolgt wird, so verzweifelt, daß an eine Rettung nicht zu glauben ist. Mehr noch, seine Liebste, die überirdische Banise, ist in der Gewalt des grausamen Machthabers Chaumigrem und hat ein so trauriges wie schändliches Schicksal zu erwarten. Doch gerade die Erwähnung der Geliebten reißt den Helden aus seiner Resignation und bringt ihn zu der Überzeugung, daß der Himmel bislang noch die abscheulichste Strafe über Pegu, die von Chaumigrem beherrschte Stadt, zurückhalte, weil Banise in ihren Mauern weilt. Da trifft der Prinz den Beschluß, den ihm sicher scheinenden Tod wenigstens zur Rettung der Prinzessin einzusetzen und Banise mit Gewalt zu befreien. Das mit Banise verknüpfte Schicksal läßt ihm seine Situation viel weniger verzweifelt erscheinen, die aktuelle Bedrohung wird mit Hinweis auf doch immerhin noch mögliche Handlungsspielräume weniger real. Dies bestätigt auch der Erzählerdiskurs, der den tapfern Prinzen noch zu etwas Größern außehalten sieht. Die Gegenwart wird hier zu einem an sich bedeutungslosen "
Vgl. BACHTIN,FormenderZEIF 38-59 u n d 92-101.
17
Vgl. BACHTIN, Formen der Zeit 1 3 . Benutzt wird ein Neudruck: HEINRICH ANSHELM VON ZIGLER UND KLIPHAUSEN, Asiatische Banise ( 1 6 6 9 / 1 7 0 7 ) , München (Winkler) 1 9 6 5 . Zu ZIGLER und seiner Asiatischen Banise vgl.HANs GEULEN, Erzählkunst in der frühen Neuzeit, Zur Geschichte epischer Darbietungsweisen und Formen im Roman der Renaissance und des Barock, Tübingen (Rotsch) 1 9 7 5 , 1 1 7 - 1 3 9 ; HANSGERT ROLOFF, "Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen": HARALD STEINHAGEN / BENNO VON W I E S E (Hgg.), Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, Ihr Leben und Werk, Berlin (Schmidt) 1 9 8 4 , 7 9 8 - 8 1 8 ; FRICK, Providenz und Kontingenz 2 5 - 1 0 0 . Vgl. MAYER, Mischformen barocker Erzählkunst 2 9 und 3 3 / 3 4 . Vgl. zum folgenden ZIGLER, Asiatische Banise 1 5 - 2 1 .
"
" 20
Asiatische Banise: begrenzte Hindernisse, Motivation von hinten
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Vorspiel, zum "Noch nicht" einer bereits in ihrem Ausgang garantierten Zukunft.21 Diese Erwartung des Erzählers wird auf der Geschehensebene bruchlos umgesetzt. Der Ort des Geschehens wird zwar mit großer Theatralik als gefährlich und schrecklich stilisiert, doch ist man gerade deswegen geneigt, Theaterblut zu vermuten, wenn der Rock des Prinzen mit Blute gefärbet erscheint. Wer wollte dem Prinzen auch seine Ermattung durch eine Wunde und seinen Hunger so recht abnehmen, wenn es ihm gleichzeitig doch gelingt, drei verwegene Brahmaner mit dem Schwert zu überwinden und überdies noch einen Tiger in offenem Kampf nach vielen Hieben und Stichen zu erlegen?22 Balacin verbindet die Erlegung des Tigers mit einer prognostischen Deutung. Doch hinter seinen Worten wird das Wunschdenken einer Projektion greifbar, die jede Gegenwart zur emblematischen pictura einer sich in der Zukunft erst vollständig entfaltenden Wahrheit herabwürdigt. Die gegenwärtige Gefahr ist nicht um ihrer selbst willen interessant, sondern lediglich wegen der sich in ihr ankündigenden zukünftigen Klärung. Balacin bittet die gütigsten Götter: Ja lasset dieses Tiger ein beglücktes Vorbild sein: daß auch der Tyranne durch meine Faust auf solche Art fallen müsse.23 Es scheint, als habe der ganze Vorgang nur stattgefunden, um als Andeutung der nachfolgenden Ereignisse zu dienen, oder mit LUGOWSKIS Worten: Er ist von hinten motiviert. Ist die gegenwärtige Gefahr aber nicht wirklich von eigenem Interesse, so ist sie auch nicht eigentlich gefahrlich. Kein Wunder, daß nun sogleich das rettende Geschick in Gestalt einiger geheimer Freunde des Prinzen die Bildfläche betritt, um ihn an einen sichern Ort zu verbringen. Im nachhinein erweist sich der scheinbar gefährliche Ort umgeben von rettenden Mächten, die ihm seine Bedrohlichkeit nehmen. Nun liegt es nahe, dieses rettende Geschick auch in D Ü R E R S Lauf der Welt auszumachen und beispielsweise zu behaupten, es habe als Papistischer Pfaff Gestalt angenommen, der mit anbrechendem morgen den todeselenden Tychander auffindet, nachdem dieser den vergangenen tag und die folgende nacht in großer trübseligkeit zugebracht hat.24 Derlei Einwände sind deshalb ernstzunehmen, weil sich ja tatsächlich mit dem Eingreifen eines Dritten Tychanders Lage vorerst zum Besseren zu wenden scheint. Es wäre gar zu 21
22
23
24
Zur Zielorientierung der Handlung in der Asiatischen Banise und zum Romanschluß als Gestaltung eines eschatologischen Apriori vgl. FRICK, Providenz und Kontingenz 36/37, 43 und 53. GEULEN, Erzählkunst in der frühen Neuzeit 125, sieht in der Hyperbolik des Grauens den Einbruch einer ironischen Perspektive in das geschlossene Weltkonzept des Romans, wodurch sie eine Spannung zwischen 'realer' und 'idealer' Bedeutung des Geschehens entfalte. Die übertrieben geschilderten Vorgänge um Balacin ermöglichen eine solche Deutung. Für mein Analyseziel ist jedoch von größerem Belang, daß im Gegensatz zur pikaresken Wirklichkeitskonzeption alle inneren Widersprüche und ironischen Brechungen angesichts einer widerspruchsfreien Auflösung am Schluß unter dem Vorbehalt des Scheins stehen. ZIOLER, Asiatische Banise 21. Zur Funktion dieser Vorausdeutung in der Asiatischen Banise vgl. FRICK, Providenz und Kontingenz 49. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 67.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
fragen, ob in einer erzählerischen Fiktion nicht jedes Hindernis als fiktiv und somit begrenzt zu betrachten sei. In jeder Erzählung wäre demnach die Handlung von hinten motiviert, da der Erzähler seine Figur durch bestimmte Umstände hindurch zu einem bestimmten Ziel oder Ende bringen will, und wäre dieses Ende von nichts weiter diktiert als der Ablieferung einer bestimmten Anzahl von Druckbogen. Aber nicht allein von diesem Ende der Erzählung her kann entschieden werden, welche Qualität die Hindernisse für den erzählten Lebenslauf haben. Es wäre zu fragen, welche Relevanz das jeweilige Hindernis für den Fortgang der Handlung hat, ob es durch die erzählerische Notwendigkeit der nächsten Episode von hinten motiviert ist oder umgekehrt als verwertbare Erfahrung in den Ablauf eingeht und seinerseits das künftige Geschehen motiviert. In den ersten Episoden von DÜRERS Roman war Tychanders Mangel an Erfahrung eine entscheidende Ursache für sein Scheitern. Die Erfahrung des lebensbedrohlichen Hungers hat insofern eine neue Qualität, als in der Konfrontation mit der Lebensgrenze das Ganze seines Lebenslaufs auf dem Spiel steht und jede seiner Handlungen darüber mitentscheidet. Die Erzählung zeigt ihn durch das Eingreifen eines französischen Pfarrers nicht endgültig vor dieser Gefahr gerettet, obwohl es zunächst so scheint, als der Priester dem Tychander anbietet, ihn als seinen Diener anzunehmen, und ihn auf seinen wagen setzt um ihn nach seiner behausung mitzunehmen. Alle Initiative ist dem Helden abgenommen, er hat keine andere Wahl und muß das Anerbieten annehmen, zumal es schon gegen den winter geht und ziemlich kalt zu werden beginnt25 Die behausung des Priesters bietet in diesem raum-zeitlichen Rahmen Tychanders einzige Überlebenschance, so daß er vorerst jeder Initiative zu eigenem Handeln enthoben scheint. Der Hinweis auf den winter scheint diese Einschätzung zu stützen. Ist der Winter doch in traditionell-agrarischen Gesellschaften die Zeit der Not und Gefährdung und verweist die Menschen damit auf verläßliche Zyklen, denn nur die nach der Zeitordnung vorangegangene Ernte kann sie vor dem Hungertod bewahren. Nicht kreative Gestaltung der Zeit garantiert in diesen Zusammenhängen das Überleben, sondern die Einfügung in vorhandene Muster.26 Deshalb scheint auch Tychanders Überleben nicht von seiner Eigeninitiative abzuhängen; seine Situation läßt ihm vorerst keine andere Wahl, als sich dem Priester anzuschließen und sich mit den Gegebenheiten vor Ort zu begnügen. Der Fortgang der Handlung aber dementiert die geschaffene Erwartungshaltung, indem er auch Tychanders Erwartungen enttäuscht. Als bettelnder Vagant war Tychander mit der bürgerlichen Maxime 'Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen' 25 26
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 67-80. Zur agrarischen Zeitform vgl ANSGAR M . C O R D E , "Formen der Zeit in Grimmelshausens Ewigwährendem Calender, Zur Logik ihrer gesellschaftlichen Entwicklung": Simpliciano 16 (1994) 151-165, hier 152/153.
Lazarillo: Zeit als Medium der Erfahrung
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konfrontiert worden. Nun vertraut er auf deren biblisch-agrarische Umkehrung, daß der Arbeiter seines Lohnes wert sei und das Verhungern nicht fürchten müsse. Zunächst gehorcht er, wenn auch widerwillig, als sein neuer Herr ihn bei der Heimkehr zunächst fetter auf den kamin anmachen läßt, indem er sich tröstet: [...] wenn nur erst feuer angemacht wäre / würde ich so fort zu essen bekommen [...].27 Die Verläßlichkeit, die sich syntaktisch in der wenn-dannBeziehung ausdrückt, bildet aber nicht die Grundlage der neu aufgenommen Beziehung. Wie schon in der Beziehung zu Dolosette bestimmt hier vielmehr der mächtigere Kontrahent die Spielregeln und das Timing. So beginnt der Pfarrer, den Neuankömmling weitläuftig nach seiner ankunft/ vaterlande und bisherigem lebens-lauf zu fragen. Diese Befragung mag allenfalls dem Sicherheitsinteresse des Hausherrn dienen, in erster Linie aber ist sie eine Demonstration seiner Macht. Tychander als dem Schwächeren bleibt nichts anderes übrig, als darauf einzugehen. Er versucht aber, die Zeit bis zu der ersehnten Mahlzeit zu verringern, indem er die Fragen so kurtz wie möglich beantwortet. Als trotz dieser Versuche, den Ablauf in seinem Sinne zu beeinflussen, mitlerzeit ein par stunden verstrichen sind, muß Tychander einen höheren Grad an Initiative ergreifen. Er nimmt all seinen Mut zusammen, um dem Pfarrer zu sagen daß er vor großem hunger kaum den mund mehr rühren könne und ihn bäte, ihm etwas zu essen zu geben. Auch hier weiß der Kontrahent noch einmal, die Zeit zu strecken, indem er gar langsam sein kleines kämmerlein betritt, um etwas zu essen zu holen. Und noch einmal wird Tychander Opfer einer Täuschung, als er meint, das lange Verweilen des Priesters im Nebenraum deute auf eine gute mahlzeit hin. Als er aber ein dünne stücke brots benebenst einem wenig schimlichten käse erblickt, merkt Tychander alsobald / wie viel die klocke hier geschlagen hätte. Daß die Erzählung die Uhrenmetapher verwendet, um das Erwachen des Schelms28 auszudrücken, scheint mir kein Zufall zu sein. In einer spezifischen Gestaltung des desengaño, der Ernüchterung, die die Weltsicht bereits des spanischen Picaro-Romans auszeichnet, greift DÜRER sozusagen zum Wecker, um das Erwachen seines Helden zu signalisieren. Die Bedeutung dieser spezifischen Gestaltungsweise wird noch deutlicher, wenn man sie mit der von DÜRER verwendeten Vorlage, der Verdeutschung des ersten spanischen Schelmenromans, des Lazarillo de Tormes, vergleicht.29 DÜRER hat hier näm2
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Lauf der Welt6S. Das Zusichkommen des Schelmen stellt eine Gnindfigur der Schelmenliteratur dar. In Konflikt mit seiner Umwelt geraten wird sich der Schelm in einem Desillusionierungs-Erlebnis (spanisch desengaño) der ernüchternden Realitäten bewußt. Vgl. JORGEN JACOBS, "Das Erwachen des Schelms, Zu einem Gmndmuster des pikaresken Erzählens": Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext, Rezeption, Interpretation, Bibliographie = CHLOE 5, hg. von GERHART HOFFMEISTER, Amsterdam (Rodopi) 1987, 61-75. Das kleine Werk erschien im Jahre 1554 erstmals anonym in Burgos, Alcalá de Henares und Antwerpen. An die sieben tratados (Kapitel) dieser Urausgabe wurden später Fortsetzungen an-
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lieh zwei Episoden der Vorlage miteinander kompiliert, die Begegnung Lazarillos mit einem Pfarrer in Maqueda und sein Dienst bei einem verarmten Edelmann in Toledo.30 Im Lazarillo ist die Not des Schelmen nicht so radikal, als er in die Dienste des Priesters tritt. Dieser fragt den Bittsteller lediglich, ob er die Messe dienen könne, und Lazarillo ergreift die Gelegenheit, mit seinen bescheidenen Kenntnissen ein Unterkommen zu finden. Die durch den Hunger des Schelmen endlos verzögerte Zeit ist demgegenüber der Episode in Toledo nachgebildet. Dort wird Lazarillo durch das Schlagen der Turmuhren31 auf das Vorrücken der Stunden aufmerksam, die er im Dienst des armen Edelmannes ohne Nahrung zubringen muß. So kommt Lazarillo dazu, die Initiative zu ergreifen und sich mit seinem Herrn durch Betteln zu ernähren. Das städtische Umfeld bietet im spanischen Roman handgreiflich die Gelegenheit, den Schelmen auf die Notwendigkeit zu selbständiger Handhabung der Zeitmuster aufmerksam zu machen. In DÜRERS Lauf der Welt aktiviert der lediglich metaphorisch benutzte Glockenschlag die Erfahrungen, die Tychander bereits im städtischen Umfeld Leidens gemacht hat. Schlagartig wird ihm klar, daß er es bei dem Priester nicht mit einem fürsorglichen Herren zu tun hat, sondern mit einem gefögt. Als das Werk auf den kirchlichen Index librorum prohibitorum gesetzt wurde, kam 1573 eine wesentlich entschärfte Fassung, der Lazarillo castigado heraus. Eine recht getreue deutsche Obersetzung des Urtextes von 1614 erschien niemals im Druck. Die im Druck verbreitete und auch von DÜRER benutzte Augsburger Verdeutschung von 1617 beruht auf der 1594 und 1598 in Antwerpen erschienen französischen Obersetzung, ihrerseits eine verstümmelnde und radikal zensierende Bearbeitung der Lyoneser Übersetzung von 1560. Vgl. hierzu ALBERTO MARTINO: "Die Rezeption des Lazarillo de Tormes im deutschen Sprachraum (1555/62-1750)": Daphnis 26(1997)301-399, hier 322. Nach der üblichen Zählung der zweite und dritte tratado des Lazarillo de Tormes. Es ist wahrscheinlich, daß DORER eine Vorlage vor Augen hatte, die auf das Detail der schlagenden Uhren ausdrücklich hinweist, als er das Sprichwort vom Schlagen der klocke benutzte. Dies ist in der damals gängigen Ausgabe des Lazarillo der Fall. Vgl. Zwo kurtzweilige/ lustige/ vnd lächerliche Historien/ Die Erste von Lazarillo de Tormes, einem Spanier/ was für Herkommens er gewesen/ wo/ vnd was für abenthewrliche Possen/ er in seinen Herrendiensten getriben/ wie es jme auch darbey/ biß er geheyrat/ ergangen/ vnnd wie er letslich zu etlichen Teutschen in kundschaft gerathen. Auß Spanischer Sprach ins Teutsche gantz trewlich transferirt. [...] Getruckt zu Augspurg/ durch Andream Aperger/ In Verlegung Nielas Hainrichs. M. DC. XVII. Benutztes Exemplar: Yale University, Mikrofilm der Sammlung Faber du Faur, Nr. 906. Dort heißt es in der Toledo-Episode: Inmittelst aber schlug es ein vhr nachmittag [...] (93). Später heißt es, es habe zwey vhr nachmittag geschlagen [ . . . ] ( 1 1 5 ) . DÜRER könnte noch eine lateinische Version des Lazarillo im Druck zugänglich gewesen sein. In der Gusman-Bearbeitung des CASPAR ENS findet sich nämlich die Lazarillo-Geschichte als Einschub. Vgl. JAMES FITZMAURICEKELLY (Hg.), "Caspar Ens' Translation of Lazarillo de Tormes": Revue Hispanique 1 5 ( 1 9 0 6 ) 7 7 1 - 7 9 5 . Dort wird aber lediglich auf die Tatsache der erreichten bzw. überschrittenen Mittagsstunde hingewiesen, ohne das Schlagen der Uhren zu erwähnen: Meridie jam appetente [...]. Jam enim duas horas ultra meridiem dies processerai. ( 7 8 5 / 7 8 6 ) . Zwei weitere Versionen, die Verdeutschung eines unbekannten Schlesiers von 1614 und deren teilweise lateinische Übertragung von CASPAR BERGHIUS, sind nie im Druck erschienen und scheiden schon deshalb als Vorlagen aus. Bei BERGHIUS fehlt zudem die Toledo-Episode des dritten tratado. Hat Dürer eine Fassung in spanischer oder französischer Sprache gekannt?
Lazarillo: Zeit als Medium der
Erfahrung
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geschäftlichen Kontrahenten, der mit allen Mitteln der Verstellung vorgeht, um seinen geitz zu verbrämen. Als er Tychanders guten Appetit bemerkt, weist er auf seinen empfindlichen Magen hin. Ist dann der mit verlangen ersehnte abend gekommen, wird Tychander mit dem Hinweis auf die Unbekömmlichkeit des Essens vor der Nachtruhe abgespeist. Der Hausherr bietet ihm zwar in durchsichtiger vorgeblicher Großzügigkeit ein Abendessen an, doch Tychander möchte ihm als dem Mächtigeren keinen Unwillen machen und verzichtet. Damit der Priester ihm nicht so fort die thüre [...] wieder weisen möchte, geht er auf den Ton der Verstellung ein. In seiner Erniedrigung bringt er die meiste nacht schlafes [...] mit weinen zu. Gleichwohl beginnt er
beim ersten Hahnenschrei mit den ihm aufgetragenen Arbeiten im Haus. Der geordnete Arbeitsbeginn suggeriert ein intaktes ländliches Leben, steht aber dazu in offenkundigem Widerspruch, da dem Arbeiter die Gegenleistung an ausreichender Nahrung vorenthalten wird. Die Ordnung des Lebens erweist sich zum Nachteil für den Schwächeren als scheinhaft, was dieser allerdings durchschaut: Aber was solte ich thun? kein geld hat ich / der winter war vor der Hand; an kleidern war ich nur schlecht besponnen: ich muste mir alles gefallen laßen.12
Durch Tychanders bereits gemachten Erfahrungen und die Radikalität der Not, die sich im beginnenden Winter ausdrückt, wird seine Initiative zur Selbstbehauptung geweckt. Denn der hunger / welcher [...] den menschen listig und anschlägig zu machen vermag, lehrt ihn sonderliche
kunst-stückgen,
durch die er seine Interessen gegen den geizigen Brotgeber durchsetzt. Er nutzt die regelmäßige wöchentliche Abwesenheit des Priesters, um einen Dietrich anzufertigen, mit dem er den gut verschlossenen Brotkasten öffnet und die darin liegenden Brote aushöhlt. Ein in den Brotkasten gebohrtes Loch suggeriert dem gefoppten Pfarrer indes, daß Mäuse an dem Brot waren. Alle Bemühungen des Priesters, seine Schätze zu sichern, werden von den Anstrengungen Tychanders konterkariert, wobei den offenen Handlungen des einen die Zeit des Tages und den heimlichen Schlichen des anderen die Nachtzeit entspricht: Dieses trieben wir so eine Zeitlang / daß was er bey tage flickte / ich des nachtes wieder aufbrach [...].33 Als der Pfarrer ungeduldig wird
und Mäusefallen aufstellt, kommen dem heimlichen Esser die darin deponierten Käsestücke nicht uneben zu statten. Tychanders Wissensvorsprung verschafft ihm sogar da Vorteile, wo sein Kontrahent sich besonders zu sichern meint. Als aber der Pfarrer einen neuen Kasten kauft, bleibt Tychander nur der Griff nach einem Beil, um an seine Nahrung zu kommen. Ein Krankenbesuch des Priesters verschafft dem Schelmen die gelegenheit, ein Brot und einen Braten zu entwenden und unter seinem Bett zu verstecken. Um unentdeckt zu 32 33
Lauf der Welt Ti. Lauf der Welt 75.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des
Glücks
bleiben, täuscht Tychander einen Raubüberfall vor. Statt aller Heimlichkeit greift er zu der wirksamen Haltet-den-Dieb-Taktik und riskiert die größtmögliche Öffentlichkeit, indem er die stürm glocke läutet. Er alarmiert die hals über köpf herbeieilenden bauern, die es wegen der Nachtzeit wohlweislich vermeiden, die vermeintlichen Diebe zu verfolgen. Der morgens heimkehrende Priester findet Tychander gutgesättigt aber angeblich kränklich vor. Ganze zwene tage spielt der Schelm den Kranken, wobei er tagsüber wenig ißt, um den Anschein zu wahren, während er sich nachts an seinen Braten hält, der dadurch zu seinem Leidwesen in kurtzem verzehrt ist. Das zwingt Tychander, die restliche Zeit bis zum Sommer aktiv zu bleiben und mühselig hinzubringen, bis sich die Gelegenheit ergibt, seine Situation zu verbessern. Tychanders Selbstbehauptung gegenüber seinem Brotgeber erscheint auf diese Weise als mühevoller und respektabler Broterwerb, der wie ein Arbeitsverhältnis bei Saisonwechsel beendet wird. DÜRER geht mit dieser Darstellung über seine Vorlage hinaus, endet doch im dritten tratado des Lazarillo die Zeit beim Priester mit der Entdeckung des Diebes und seinem unehrenhaften Abschied.34 Bereits JÜRGEN MAYER hat bemerkt, daß Tychander in dieser Episode findiger und energischer wirkt als sein Vorbild Lazarillo. So ist die Anfertigung des Nachschlüssels zum Brotkasten Tychanders eigene Leistung, während Lazarillo ihn sich nur durch Zufall von einem vorbeiziehenden
Kes-
selflicker beschaffen kann?5 Während Lazarillo mit seinem Nachschlüssel erwischt wird, kann Tychander mit seiner perfekt inszenierten Räuberkomödie dem Pfarrer sein eigenes Timing aufzwingen. Tychander übertrifft sein Vorbild an Tatkraft,36 was in der Plazierung der Episode bei DÜRER begründet liegt. Als Tychander bemerkt, wieviel die klock hier geschlagen hat, werden seine zuvor gemachten schlechten Erfahrungen handlungsleitend. Er weiß sich erfolgreich zu etablieren und seine Position zu behaupten, solange es erforderlich ist. Dabei unterscheidet sich Tychander jedoch nicht prinzipiell von der Lazarillo-Gestalt, wie sie in der Augsburger Verdeutschung von 1617 erscheint. Nach der dortigen Vorrede ist nämlich Lazarillo deshalb zu loben, weil er sich mit der zeit vnd gelegenheit / so gut er kundt / accomodiert habe.
Dieses Urteil bezieht sich natürlich vor allem auf das Ende des Lazarillo, in dem der Held sich eine - wenn auch zweifelhafte - Integration in die Gesellschaft erkämpft hat. Aber der Verfasser bescheinigt dem Schelmen immerhin, auch seine jugent besser [...] angelegt zu haben, sieht also in der Anpassung an die Überlebensstrategien seiner Umgebung eine nachahmenswerte Form der Vorsorge.37 Während die deutsche Fassung des Lazarillo das Geschehen explizit auf eine Ethik des beruflichen Fortkommens und des innerweltlichen Vgl. in DORERS Vorlage: Zwo kutzweilige / lustige / vnd lächerliche MAYER,Mischformen barocker Erzählkunst 26. Vgl. MAYER,Mischformen barocker Erzählkunst 27. Vgl. Zwo kurtzweilige / lustige / vnd lächerliche Historien ):( bv.
Historien
84.
Pikareske als subversiver und komplementärer Diskurs
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Erfolgs bezieht,38 kann eine solche Wertsetzung bei DÜRER lediglich aus der Struktur der Handlung selbst gewonnen werden. Der Erzähler hält sich mit Wertungen auffallend zurück; die Perspektive des erzählten und handelnden Helden beherrscht die Episode. Tychanders Zeit bei dem französischen Priester erscheint als Lehrzeit, in der er lernt, sich durch Schelmerei selbst zu erhalten. Die nächste, ebenfalls dem Lazarillo nachempfundene Episode sieht den Helden am Werk, das in den Anfangsgründen erlernte Schelmenhandwerk zu professionalisieren und zu perfektionieren. Dazu bedarf es allerdings eines regelrechten Lehrherren. Kein Wunder, daß Tychander nun in Kontakt zu einem Vertreter der zünftig organisierten Vaganteninnung tritt. Die Schelmenzunft stellt eine Gegengesellschaft dar, die mit den offiziellen Strukturen auf zweckentfremdende Weise kooperiert. Aus der Perspektive der Schattenwirtschaft erscheinen die übergeordneten Wirtschaftskreisläufe als notwendiges Gegenüber. Wie die Vaganteninnung selbst hat die Darstellung der Schelmenzunft eine Unterwanderungs- und Entlastungsfiinktion für das Ganze, so daß die Frage nach den dargestellten Handlungsformen nicht zu trennen ist von den Darstellungformen. Nach seinem Abschied von dem Priester gerät Tychander schnell wieder in Not, da der dort erarbeitete dürftige Lohn ihm nicht erlaubt, grosse Sprünge zu machen.39 Auch das bettelhandwerck wirft nicht genügend ab, um ihn vor hunger zu bewahren, so daß er versucht, sich als tagelöhner zu verdingen. Der Bauer, den er um Arbeit als drescher angeht, läßt ihm keine Zeit, dieses handwerck zu erlernen, und jagt ihn nach kaum zwo stunden der Arbeit mit ungestümen werten zum haus hinaus. Der Versuch der Etablierung in diesem Haus ist trotz der ehrlichen Absicht gescheitert. Tychander findet sich wieder draußen vor der Tür und muß weiter wandern. Seine Ressourcen sind gänzlich aufgebraucht, als er gegen abend ein wirtshauß betritt. Notgedrungen stellt Tychander einen ungedeckten Scheck auf die Zukunft aus und bestellt, was er nicht bezahlen kann.40 Zukunft ist hier ganz an die finanziellen Ressourcen gebunden, weshalb sich die Ereignisse in einer ökonomischen Begrifflichkeit fassen lassen. Das ist nicht unerheblich, weil von daher ein Blick auf die handlungsleitenden Diskurse 31
39
"
Die Verbindung zur katholischen Ethik, die H A N S G E R D RÖTZER, Picaro-Landstörtzer-Simplicius, Studien zum niederen Roman in Spanien und Deutschland, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1972, 45, herstellt, indem er Lazarillo in der Augsburger Fassung durch gute Werke gerechtfertigt sieht, kann ich nicht nachvollziehen. Es geht dem Text der Vorrede ja nicht um Altruismus, sondern um die Erlangung einer Position innerhalb der Gesellschaft, einer condition, die dem einzelnen ermöglicht, sich hinzubringen und sein Auskommen zu finden. Zweifel an einer bürgerlichen Tendenz der Verdeutschung äußert M A R T I N O : "Die Rezeption des Lazarillo de Tormes im deutschen Sprachraum (1555/62-1750)" 344-346. Vgl. Lauf der Welt 155. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 155-159.
240
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möglich wird. Tychander steht als Schuldner da, sozusagen als schlechter, weil zahlungsunfähiger Mann, was - nach der Analyse des Kredits bei MARX seinen Wert in der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Die unverhoffte Gesellschaft einiger starcker wähliger bettler begleicht diese Schuld, indem sie Tychander einlädt. Finanziell sind diese Bettler wesentlich besser gestellt, sie haben sogar Überschüsse, die sie an den Wirt verkaufen können. Bereitwillig nimmt Tychander das Angebot eines blinden Bettlers an, sein Gehilfe zu werden, zumal sich ihm die Gelegenheit bietet, das von ihm bislang dilettantisch ausgeübte Bettelhandwerk jetzt von der Pike auf zu lernen. Der Blinde verspricht ihm, ihn so zu unterrichten, daß er sein brot ohne schwere arbeit wohl erwerben könte. In dieser Formulierung treffen die Beurteilungen zweier Diskurse zusammen. Einerseits spiegelt sich die abfallige Haltung der ehrenwerten Gesellschaft gegen diesen allerverächtlichsten stand, der sein Brot ohne schwere arbeit zu verdienen weiß und damit auf die Fassade der Rechtschaffenheit verzichtet. Andererseits spricht aus den Worten des Blinden der Stolz eines Könners, dessen Professionalität ihm erlaubt, mit der geringstmöglichen Investition den höchstmöglichen Profit zu erzielen. Das Handeln des Bettlers wird von demselben Effizienzdenken geleitet, das auch die Kalkulation eines erfolgreichen Kaufmanns bestimmt. Auch für Tychander erscheint das Angebot des Bettlers von einer Solidität und Zuverlässigkeit, die gutbürgerliche Geschäfts- und Arbeitsverhältnisse auszeichnet. Zu dem versprochenen wöchentlichen Lohn und der Möglichkeit einer brauchbaren Ausbildung steht die zuvor verbrachte lange zeit des Hungers und die Unwägbarkeit der Tagelöhnerexistenz beim ungehobelten Bauern in auffallendem Kontrast. Das Wirtshaus, in dem sich der Handel zwischen dem Blinden und Tychander abspielt, wird zum Ort der Umkehrung der offiziell geltenden Wertsetzungen. Dies wird aber vom Erzählerdiskurs nicht zur Denunziation dieses Ortes benutzt. Im Gegensatz zur Marginalisierung und Kriminalisierung bei ALBERTINUS wird das Wirtshaus bei DÜRER nüchtern in seiner ökonomischen Funktion geschildert. Der Verkauf der erbettelten Waren an den Wirt erhellt nämlich die Brückenfunktion des Wirtshauses zwischen der offiziellen Ökonomie berufsständisch anerkannter Arbeit und dem zweiten inoffiziellen Markt, der von den unehrlichen Bettlerexistenzen betrieben wird. Die durch Bettelei umverteilten Waren werden nun der Ökonomie des Kaufens und Verkaufens wieder zugeführt und durch den Wirt nach den Gesetzen der Geldwirtschaft umgesetzt. Auf diese Weise hilft das Wirtshaus, das am Rande der Landstraße den Rand der offiziellen, seßhaften Wirtschaftsweise markiert, beim Ausgleich zwischen Besitzenden und Besitzlosen und entlastet die Gesellschaft von der herrschenden Spannung, die durch den Graben zwischen beiden hervorgerufen wird. Da erstaunt es auch nicht, daß ein Wirt als Schlichter auftritt, als es zwischen Tychander und
Pikareske als subversiver und komplementärer
Diskurs
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seinem blinden Arbeitgeber zum Streit um Lohnhöhe und Unterschlagungen kommt.41 Das Wirtshaus ist Bindeglied zwischen Wirtschaft und Schattenwirtschaft, zwischen Albeit und Bettelhandwerk.42 Hier finden nächtlicher Gelage statt, in denen die Nacht zum Tage gemacht und damit die Zeitform der ländlichen Arbeit konterkariert wird, die auf das Tageslicht angewiesen ist. Am Morgen bietet es aber ein anderes Bild: NAchdem der morgen wieder angebrochen und das bauer-volck zur arbeit berief / erhüben wir unsre wiewohl noch nicht recht ausgeruhete glieder / gestalt wir die nacht mehr mit pancketieren als schlafen durchgebracht / wieder aus den schweinsfedern / und suchten unsre nahrung,n
Zwar sind die Bettler nicht direkt an die Morgenfrühe gebunden wie die Bauern, deren Arbeit so eng mit dem Tageslicht verknüpft ist, daß sie vom personifizierten morgen gerufen werden. Doch auch die Bettler verlassen zu einer bestimmten Zeit das (Wirts-)Haus, um ihrem Broterwerb nachzugehen. Daß es sich nicht schlicht um Nichtstun handelt, geht schon daraus hervor, daß nach Tychanders Worten eine langwierige übung erforderlich ist, um in diesem Metier erfolgreich zu sein. Neben der Verstellungskunst ist es vor allem die Hartnäckigkeit und unverschähmtheit, mit der der blinde Bettler seine Klienten so lange bearbeitet, bis er seinen Anteil bekommt. Der Bettler weiß sich aber auch immer nach den Bedürfnissen der Bevölkerung zu richten und läßt sich vor einen spielmann gebrauchen, wenn Zeit und Gelegenheit es an einem bestimmten Ort, in einem bestimmten dorf etwa, erfordern. Diese Kooperation des Schelmen mit der Gesellschaft, die sich zweckentfremdend ihrer eigenen Selbstbehauptungstechniken bedient, wirft die Frage nach dem Status der Darstellung auf. Entspricht der ökonomischen Entlastungsfunktion der vagantischen Schattenwirtschaft, die ein Ventil für die ungleichen Eigentumsverhältnisse darstellt, auch eine Entlastungsfiinktion der Erzählung, die als Teil literarischer Fluchtbewegungen aus den realen Widersprüchen zu verstehen wäre? Die mögliche Funktion der pikaresken Perspektive schwankt zwischen Subversion der Verhältnisse und Vereinnahmung durch die Gesamtgesellschaft, die dieser Einzelperspektive dann lediglich eine komplementäre Stellung zu anderen gleichwertigen Perspektiven zuwiese.44
" 42
° 44
Vgl. Lauf der Welt 162. Vgl. zum folgenden Laií/derWe/í 159-165. Lauf der Welt 159. Vgl. zu der Auseinandersetzung um Vereinnahmung und Subversion in der Literatur der Frühen Neuzeit Louis A. MONTROSE, "Die Renaissance behaupten, Poetik und Politik der Kultur": MORITZ Β ABLER (Hg.), New Historicism, Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt am Main (Fischer Tb. Wissenschaft 11589) 1995, 60-93.
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Dürers Laufder Welt Und Spiel des Glücks
Das Verhältnis von erzählten Zeiten und literarischen Perspektiven im Text hat eine Analogie zwischen zwei Ebenen erwiesen: einerseits zwischen dem Subsystem der vagantischen Gegen- und Schattenwirtschaft zu übergeordneten Kreisläufen und andererseits zwischen dem literarischen Subsystem Schelmenroman und einem Literatursystem, das die Wirklichkeitskonstruktion an pikaresk-satirische Entlarvung und ideale Stilisierung aufteilt. Diese Problemlage wirft die Frage auf, welchen Stellenwert der literarisch gestaltete Blick des Schelmen auf das Ganze hat. Es zeigt sich, daß das Handeln des Schelmen von den Bedingungen des Ganzen geprägt ist und deshalb auch einen gültigen Blick auf dieses Ganze gestattet. Denn im Widerstreit zwischen Tychander und seinem Arbeitgeber werden die Techniken der Selbstbehauptung wirksam, die die Gesellschaft als Ganze prägen. Tychander lernt schnell, daß er auch seinem neuen Brotgeber gegenüber diese Techniken der Verstellung, Hartnäckigkeit und Ausnutzung von Gelegenheiten einsetzen kann.45 Also erhöht er den geringen Anteil, den der Blinde ihm von dem großen Profit gewährt, indem er Spenden geschwinde einsammelt, größere mit kleineren Münzen vertauscht und ihm denn eine kleinere müntze [...] in die Hand wirft.46 Als ein Wirt den darum entbrennenden Streit schlichtet und Tychander mit guten und mit dräuworten nötigt, einen gütlichen vertrag abzuschließen, wartet er auf die gelegenheit, sich von seinem Lehrherrn zu trennen, da er nun glaubt, ausgelernt zu haben. Die bestimmte Zeit und der bestimmte Ort ergeben sich, als sie bei Regen durch ein Dorf müssen. Tychander dirigiert den Blinden immer durch die schlimmsten Pfützen und läßt ihn am Ende über einen bach gegen eine eiche springen, schlägt den verletzt Hinfallenden noch mit seinem stecken und macht sich so eilig er kann von dannen,47 Tychander kann sich an keinem der orte, die der Blinde erreichen könnte, mehr sehen lassen, da die Gefahr besteht, der Unterlegene könnte versuchen, seine scharten ihm gegenüber auszuwetzen. Während sein Kontrahent also möglicherweise das gantze land durchstreift, ist Tychanders Handlungsspielraum eingeschränkt, so daß er von Frankreich ins Elsaß ausweichen muß.48 Die Rede von den auszuwetzenden scharten weist auf eine durch Tychanders Handeln gestörte Symmetrie. Seine Brutalität beim Abschied erscheint dem Konflikt gänzlich unangemessen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten beide Kontrahenten versucht, einander zu hintergehen, und als der Blinde den Tychander im Wirtshaus beym harr erwischte, hatte der sich auch nicht als faul erwiesen und den Gegner ebenfalls beym köpf gefaßt.49 Im Gegensatz zur Vorlage der Episode im Lazarillo ist Tychander seinem Meister gegenüber eben45 44 47 41 45
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 159-165. Vgl. Lauf der Welt 161. Vgl. Lauf der Welt 165. Vgl. Lauf der Welt 165/166. Vgl. Lauf der Welt 162.
Schelmenzunft
als Spiegel der
Gesamtgesellschaft
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bürtig und weiß sich zu wehren. So diente im ersten tratado des Lazarillo der brutale Abschied des jungen Blindenführers von dem Bettler als Herstellung der Symmetrie, hatte der Blinde doch ganz zu Beginn den Lazarillo ständige Vorsicht gelehrt, indem er ihn mit dem Kopf gegen eine steinerne Skulptur gestoßen hatte. Auch die ständigen Mißhandlungen, gegen die Lazarillo sich im Gegensatz zu Tychander nicht wehren konnte, dienten in der spanischen Vorlage zur Motivierung der Revanche an dem Blinden. Damit, daß er den Blinden gegen eine Steinsäule springen ließ, kann Lazarillo demonstrieren, daß er nun ausgelernt hat und seinen Weg allein gehen kann. Ganz in der Logik einer Ökonomie der Konkurrenz kann Lazarillo hier feststellen, daß er seinem blinden Lehrherrn nur mit gleicher Müntze gezahlet habe.50 Im Lazarillo de Tormes und in Dürers Lauf der Welt haben die entsprechenden Szenen eine entgegengesetzte Funktion. Dient im Lazarillo die Revanche des Jüngeren zur Herstellung einer Symmetrie der Gewalt, auf deren prekärer Balance das Gefüge der Gesellschaft beruht, so dementiert Tychanders Rache den Gedanken, daß sich auf der Grundlage von Gewalt ein vorläufiger Zustand von Gleichheit und Gerechtigkeit herstellen ließe. Der Schluß der Episode bei Dürer deutet bereits auf den Romanschluß hin, an dem es, anders als im Lazarillo, keinen Kompromiß mit den Verhältnissen von Gewalt und Gegengewalt geben wird. Am Ende wird immer ein Stärkerer die mühsam erreichte Balance zu seinen Gunsten aufzuheben suchen und die Verträge aufkündigen, seien sie in Geschäftskontoren oder Wirtshäusern geschlossen worden. Es gelingt dem Roman in der Bettlerepisode, das Wechselspiel von Gewalt und Gegengewalt, auf dem jeder Erfolg über Konkurrenten zwangsläufig beruht, aus seiner eigenen Logik heraus kritisierbar zu machen, ohne daß es einer Erzählerinstanz bedürfte, die eine Kritik auf moraldidaktischen Kategorien aufbaut. In dem Moment, wo Tychander den Mechanismus der Vorteilsnahme durchschaut zu haben glaubt und versucht, ihn für sich auszunutzen, wendet dieser Mechanismus sich gegen ihn selbst und zwingt ihn dazu, das Terrain zu räumen. Daraus ergibt sich eine vorläufige Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis des pikaresken Diskurses zum Literatur- und Gesellschaftssystem insgesamt. Wie der Schattenwirtschaft in der Erzählung kommt auch dem pikaresken Erzählen selbst zunächst einmal eine Entlastungsfunktion zu, können doch die Widersprüche des Ganzen in einer exemplarischen Figur gebündelt werden. Diese Figur, die die negative Seite der Gesellschaft verkörpert, steht in einem komplementären Verhältnis zu ihrer Idealisierung durch den barokken Idealroman. Der Sieger des Konkurrenzkampfes wird sich im idealen Helden wiedererkennen, dem von vornherein alles nur zum Guten gereicht. Doch ist dieses Verhältnis umkehrbar. Die Erzählung um Tychander macht den Schelmen zum Bürger, der im Verlauf seines Lebens zu seinem eigenen 50
Vgl. Leben und Wandel Lazaril von Tormes (1614) 28.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Zerrbild geworden ist. Im Schelmen tritt dem Bürger sein notwendiges Pendant gegenüber, da das Konkurrenzverhalten in der bürgerlichen Gesellschaft notwendig Verlierer produziert. Ist der Schelm aber das notwendige Pendant des Siegers, so ist er damit zugleich die personifizierte Kritik eben jenes Ganzen, das Sieger und Verlierer zurückläßt. Gerade weil der Schelmenroman das Komplement jener idealisierenden Segmente im Literatursystem bildet, die die Geschichte immer schon vom Sieg des Siegers her erzählen, ist er die wirksame Kritik und Subversion des Ganzen. Das heißt nicht, daß der Schelm selbst jenseits der Kritik wäre. Seine Verstrickung in die Mechanismen des Konkurrenzkampfes macht ihn erst zu einer kritischen Instanz. Diese Mechanismen deckt die Erzählung von ihren Grundlagen in Tauschs und Vertauschbarkeit her auf. Wie Tychander haben bereits seine Eltern erfolglos versucht, das Instrumentarium der Herrschaft zu beherrschen. Ihre nachgeholte Vorgeschichte flicht die Erzählung in Tychanders Ausbildung zum Schelmen ein. Sie gestattet einen Blick zugleich in das Organon der Erzählung und den Mechanismus der Geschichte.
Die Mechanik des Geschehens im Inneren des Gehäuses: Eine Vorgeschichte wird verspätet nachgeholt und ein Uhrwerk ist zum richtigen Zeitpunkt zur Hand Unverhofft erreicht die Nachricht vom Tod der Mutter den Tychander, während er bei dem geizigen Priester sein leben gar mühselig hinbringt. Vom Erzähler jedoch scheint die Todesnachricht sorgsam in das Geschehen eingefügt zu sein und gibt Anlaß, die Vorgeschichte der Eltern Tychanders nachzuholen.1 Die Technik der nachgeholten Vorgeschichte ist dem Idealroman des Barock entliehen. Dort dient sie der Aufklärung bislang ungelöster Rätsel und ist notwendige Voraussetzung dafür, daß die Handlung zu einem Abschluß kommen kann und der Leser einen vollständigen Überblick über das Schicksal der handelnden Personen gewinnt.2 Das im nachhinein gelöste Rätsel der Personen soll mithin im Idealroman des Barock eine widerspruchsfreie Plausibilität herstellen, vor deren Hintergrund sich das Einzelschicksal als nur scheinbar zufallig erweist. Es ist vielmehr notwendiger Teil eines vom Autor sorgfaltig erdachten Plans, der den Bauplan der göttlichen Vorsehung abbilden soll.3 Um diesen Eindruck hervorzurufen, muß am Ende jede einzelne Figur als Teil eines lückenlosen Beziehungsgeflechts erscheinen. Der Romanschluß, an dem sich das sorgfältig angelegte Labyrinth des Geschehens als widerspruchsloser, sinnvoller Zusammenhang erweist, motiviert im idealen Barockroman jedes einzelne Vorkommnis von hinten,4 Diese Eigenschaften fehlen der nachgeholten Vorgeschichte bei DÜRER. Das Schicksal von Androfila und Lukrander, der Eltern Tychanders, ist zwar für das Geschehen des Romans insofern handlungsleitend, als Tychander auf die Nachricht vom schändlichen Tod seiner Mutter hin versucht, sich das Leben zu nehmen. Die genauen Umstände ihrer Vorgeschichte jedoch erbringen für den Fortgang der Haupthandlung keine neuen Anstöße, da Androfila und Lukrander, nachdem sie als Tychanders Geldgeber ausfallen, in das Beziehungsgeflecht der laufenden Geschehnisse nicht mehr integriert sind. DÜRERS Komposition verzichtet also darauf, wie im idealen Barockroman dem Einzelschicksal eine Funktion für das große Ganze zuzuweisen. In DÜRERS Lauf der Welt wird hingegen die künstliche Herstellung widerspruchsloser Zusammenhänge selbst Gegenstand der Erzählung, ist doch die Vermittlung der Todesnachricht an Tychander mehrfach gebrochen. Dabei 1 2 3
*
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 80/81. Vgl. VOLKER MEID,Der deutsche Barockroman, Stuttgart (Sammlung Metzler 128) 1974, 53/54. Vgl. zu diesem Verhältnis zwischen Vorsehung und Zufall im Idealroman FRJCK, Providern und Kontingenz 44-49 und 96-100. Vgl. LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman, pass.
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Dürers Laufder Welt Und Spiel des Glücks
verhält sich die Erzählerinstanz durchaus unkritisch zu diesen Brechungen und zeigt sich bemüht, die berichteten Geschehnisse als wahr zu beglaubigen, wodurch sie als Grundlage moralischer Nutzanwendungen dienen können. Das nach Jahren offenbar gewordene Verbrechen Androfilens bestätigt für die Erzählerinstanz die Maxime, daß die Zeit die Wahrheit an den Tag bringe und am Ende zum Instrument der Vorsehung werde.5 Folglich dürfe sich [...] kein mensch die gedancken machen / in seinen übelthaten ungestraft zu bleiben. denn ob schon die Göttliche Rache lange jähr verzeucht / so erweiset sie sich doch zu ihrer zeit / wenn man meinet / daß schon alles lange vergessen und vergraben sey.6 Das abschreckende Exempel göttlicher Rache erscheint hier als Negativ jener himmlischen Vorsehung, die im barocken Idealroman den guten Ausgang garantieren soll.7 Eine göttliche Vorsehung, die man nach ihrem antiken Vorbild bei VERGIL fatum nennen könnte, wird zum konkurrierenden Prinzip der Fortuna in der Tychander-ErzäNung* Fortuna steht fiir die Zufälligkeit und Kontingenz der Ereignisse, während Fatum auf einen sie steuernden und ordnenden Sinn hinweist, auf göttliche Providenz.9 Die Erzählung kennt die Zeitform der jähen Umschwünge, für die Fortuna steht, doch kann genauso plötzlich die langfristige Folge früherer Handlungen eintreten, die sich nun zu rechnen oder zu rächen beginnen. Wie sich die handelnden und deutenden Romanfiguren zum Wechselspiel beider Zeitformen verhalten, wird indes nicht recht klar. Denn die Deutung der Ereignisse um Tychanders Mutter wird schon dadurch erschwert, daß die Sachverhalte nur indirekt zu erfahren sind. Das Berichtete wird hier vor allem dadurch beglaubigt, daß die Erzählung die Zuverlässigkeit der Zeugen wahrscheinlich zu machen sucht. Der Bote, der Tychander berichtet, daß seine mutter vor weniger zeit im gefängnis gestorben sei, ist ein durchreisender Landsmann Tychanders. Seine Nachricht soll glaubwürdig sein, weil er sich während der Ereignisse in nächster Nähe befand. Doch stützt sich auch der Bericht dieses Landsmannes auf das Hörensagen von gerichtlichen Untersu1
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Zur Bildlichkeit der Zeit als Enthüllerin der Wahrheit in der Renaissance vgl. SAXL, "Veritas Filia Temporis". Saxl arbeitet heraus, daß das Wahrheits-Emblem in der Frühen Neuzeit verschiedenen und geradezu entgegengesetzten Partikularinteressen dienen konnte. Protestanten und Katholiken beriefen sich im Konfessionskampf auf die Zeit, die ihre Gegner als Lügner überfuhren würde, und die katholische Mary Tudor sah in ihrer Machtübernahme die von ihr vertretene Wahrheit genauso bestätigt wie ihre anglikanische Rivalin Elisabeth. Offenbar bedarf es der Handlungsform der Gelegenheit, um die Zeit zur Preisgabe der eigenen Wahrheit zu zwingen. Siehe auch PANOFSKY, "Vater Chronos" 118, mit weiteren Beispielen. Lauf der Welt 81. Zeit und Wahrheit erscheinen hier also als pessimistische Umkehrung des Erfolgsprinzips, das sich der Wahrheit in der Renaissance-Emblematik und der Konfessionspolemik bemächtigte. Hier verheißt die saturnische Zeit, die die Wahrheit an den Tag bringt, nicht Selbstbestätigung und Ruhm, sondern Schande und Untergang. Vgl. KIRCHNER, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock 110-113. Vgl. FRICK, Providenz und Kontingenz 11.
Literatur als Kritik der instrumenteilen Vernunft
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chungen, in deren Verlauf eine der Hexerei beschuldigte Frau unter der Folter Tychanders Mutter des Mordes an ihrem ersten Ehemann bezichtigt habe. Die Erzählung thematisiert hier die technische Herstellung von Plausibilität, die bereits 1 6 3 2 durch den Jesuiten FRIEDRICH SPEE VON LANGENFELD in seiner Cautio Criminalis einer gründlichen Erkenntniskritik unterzogen worden war. SPEE moniert die Kritiklosigkeit gegenüber der pseudoobjektiven Instanz der Hexenrichter, von deren partikularen Interessen Anklageerhebung und Prozeßführung nicht unbeeinflußt blieben.10 Noch heftiger greift SPEE das technische Instrumentarium der gerichtlichen Wahrheitsfindung, die Folter, an. Den Abstraktionsvorgang, auf dem juristisch-technische Verfahren beruhen, kehrt er um, indem er die Erkenntnissubjekte und ihre konkrete Anschauung wieder in den Vorgang einfuhrt, aus dem sie abstrahierend entfernt wurden. Dabei stützt er sich nicht nur auf seine Anschauung als Beichtvater, sondern versetzt sich darüber hinaus imaginativ in die Rolle der Gefolterten: Was mich anlangt / bekenne ich frey / daß wann ich auff die Folterbanck gespannet werden solte / ichs nicht außhalten / sondern alßbald lieber alle Bubenstück vber mich bekennen / vnd den Tod selbst erwehlen würde / als daß ich solche schmertzen außstehen solte [...] vnd habe ich von andern mehren sonsten sehr gewissenhaften tapffern vnd beständigen Männern gehöret / daß sie jhnen wegen Menschlicher Blödigkeit vnd Schwachheit / vnd wegen schärffe der Tortur, darinnen bey der Wahrheit zu bestehen nicht getraweten.1 ' 10
Vgl. FRIEDRICH SPEE, Cautio Criminalis = Sämtliche Schriften, Historisch-kritische Ausgabe, Dritter Band, hg. von THEO G. M. VAN OORSCHOT, Tübingen und Basel (Francke) 1992, Dubium XXII, 84: Miscet se amor lucri, si in capita plectendorum constituía pecunia est, quam nolinl imminutum iri. Enimvero non omnes sancii sumus, aut ita aeque à continentia instructi, quin subinde auri & argenti fulgor oculis obludat. Itaque quod non semel audivi & indolui, quaerunt omnibus modis ut rea sii quam esse volunt, compingunt in arctiora vincula, macérant squalore carceris, domani /rigore & aestu, submittunt Sacerdotes, quales supra descripsi, impetuosos, seu imperitos, seu olim mendicabula, nunc Inquisitorum servos: retrahunt in nova ac nova tormenta, ac denique eousque vexant, & affligunt, dum tot miseriis confectam tandem ad confessionem seu veram seu mendacem impelíant. Die historisch-kritische Ausgabe gibt auch ein Reprint der Verdeutschung von HERMANN SCHMIDT, CAUTIO CRIMINALIS. SEU DE PROCESSIBUS CONTRA SAGAS UBER. Das ist / Peinliche Warschawung von Anstell: vnd Führung deß Processes gegen die angegebene Zauberer / Hexen vnd Vnholden: [...]. Frankfurt 1649. Dort heißt es an der entsprechenden Stelle (VAN OORSCHOT 296, SCHMIDT 8 0 ) : Die heillose Geldsucht / thut auch viel darbey / vorab wann Richter vnd Commissarien / vnd andern so damit zu thun haben/ auff/eden Kopff/ ein gewiß Solarium bestimpt ist / dann solches wollen sie ihnen nicht gern entgehen lassen. Dann so ists mit vns Menschen beschaffen / daß wir nicht alle so heilig vnd vngelüstig seind / daß vns nicht bißweilen der glantz / deß Golts oder Silbers / das Gesicht verblöden solte. Dahero kompts (wie ich offtermahls gesehen vnd darüber geseuffizet) daß sie allerhand rencke vnd schwencke suchen / damit die jenige so sie wollen / nicht vnschuldig erfunden werden / da werffen sie dieselbige in ein böser Gefangnus / plagen vnnd quelen sie daselbst / durch stanck vnd vnflat / zähmen sie mit kält vnd hitze / schicken einige vngestümme vnerfarne Priester / so sich angangs darzu eingebettelt haben / vnd dahero nunmehr der Richter vnd Commssarien Knechte seind /zu jhnen / welche biß weilen so arg seind / alß die Hencker / wie hieroben angezeigt / spannen sie von newem auff die Folterbanck / vnd plagen vnd ängstigen sie so lang vnd viel / biß sie die außgemergelte Creatur zur Bekanntnuß /die seye wahr oder vnwahr /genötigt haben.
248
Dürers Lauf der Welt ÌJnd Spiel des Glücks
SPEE führt seinen Kampf gegen das Instrument der Wahrheitsfindung aus der imaginativ eingeholten Perspektive ihrer Objekte. Die menschlichen Subjekte, die zu bloßen Objekten der Untersuchung geworden sind, werden wieder in ihr Recht gesetzt. Der mit Anschauung gefüllte Begriff2 des Instruments kehrt sich gegen sich selbst, da das vermeintliche Objekt, das Folteropfer, sich unversehens zum Subjekt der Erkenntnis und Kritik gewandelt hat. Die Erkenntnisinstanz des Richters und sein Instrument, die bislang den perspektivischen Fluchtpunkt der Erkenntnis bildeten, können von der Gegenseite her betrachtet und in ihrer pragmatischen Widersprüchlichkeit wahrgenommen werden. Damit leistet SPEE eine exemplarische Kritik dessen, was M A X HORKHEIMER in unserem Jahrhundert instrumenteile Vernunft genannt hat. HORKHEIMER beschreibt diesen VernunftbegrifF als formalisierte Anwendung von Mitteln ohne Berücksichtigung der verfolgten Zwecke. Technischen Verfahren, zu denen ja bis heute die Folter gehört, dienen partikularen Interessen, ohne daß diese Interessen zum Gegenstand der Reflexion würden. Mit Hinweis auf FRANCIS BACONS Experimentalismus, der sich Erkenntnisse durch eine künstlich erregte und mißhandelte Natur verspricht, führt HORKHEIMER die Ergebnisse von Experimenten auf konkrete Fragen und die Interessen von Individuen, Gruppen oder der Gemeinschaft zurück.13 Die Plausibilität, die durch technische Verfahren hergestellt wird, ergibt sich also nicht oder nicht allein von der Sache selbst her, diese Sache kommt vielmehr aus der Perspektive bestimmter Erkenntnissubjekte in den Blick und wird ihren Interessen unterworfen. DÜRERS Erzähler verfügt in seinen Diskursen nicht über das von SPEE erreichte Reflexionsniveau. Der Roman macht aber die Herstellung von Plausibilität durch das technische Mittel der Folter immanent kritisierbar, indem er im folgenden eine Version der Erzählung über Androfila und Lukrander prä-
"
Cautio criminalis, aus dem Dubium XX, Ratio IV, in der Fassung von SCHMIDT (SCHMIDT 6 9 , VAN In SPEES lateinischer Fassung heißt es: Ego de me fateor, tarn minime tantis poenis exhauriendis subsistere, ut si in quaestiones abriperer, non dubitarem mox ipso initio reum me cuiuscunque maleflcij statuere, & mortem potius quam tantos cruciatus amplecti: [...]. Idem audivi de se dicentes, viros non paucos, admodum religiosos, & alioqui laudatissimae constantiae ac fortitudinis insignis: qui conscij sibi communis fragilitatis & acerbitatis huiuscemodi poenarum, non audebant de se nisi humana omnia promittere. Vgl. HANS-GEORO KEMPER, "Dämonie der Einbildungskraft, Das Werk Friedrich von Spees ( 1 5 9 1 - 1 6 3 5 ) zwischen Christusmystik und Hexenwahn": Wege der Literaturwissenschaft, hg. von JUTTA KOLKENBROCK-NETZ, GERHARD PLUMPE und HANS JOACHIM SCHRIMPF, Bonn (Bouvier) 1 9 8 5 , 4 5 - 6 4 , hier vor allem 6 2 . KEMPER unternimmt den Versuch, die Argumentationsweise in der Cautio Criminalis mit der Meditationstechnik im Güldenen Tugend-Buch und den poetischen Verfahren in der Trutz-Nachtigall über den Begriff der Einbildungskraft zu vermitteln. Vgl. M A X HORKHEIMER, "Zur Kritik der instrumentellen Vernunft": Gesammelte Schriften 6 , hg. von ALFRED SCHMIDT, Frankfurt am Main (Fischer Tb. 7 3 8 0 ) 1 9 9 1 , 1 9 - 1 8 6 , hier 6 7 . Eine Anwendung dieses Theoriezusammenhangs auf die Literatur des 17. Jahrhunderts findet sich bei FRIEDRICH GAEDE, Substanzverlust, Grimmelshausens Kritik der Moderne, Tübingen (Francke) 1 9 8 9 , OORSCHOT 2 7 8 ) .
12
13
118-127.
Literatur als Kritik der instrumenteilen
Vernunft
249
sentiert, die unmöglich mit dem Bericht des Landsmannes identisch sein kann. Während dieser sein auf Hörensagen beruhendes spärliches Wissen über den Strafprozeß wiedergibt, betrachtet die folgende ausführliche Liebeserzählung das Geschehen aus dem Blickwinkel der Liebenden selbst, indem sie ihre Konflikte und Beweggründe aus der Innensicht heraus darstellt. Anscheinend handelt es sich um eine imaginativ eingeholte Perspektive, die der SpEESchen Identifikation mit den Folteropfern entspricht. Der Roman gibt hier keinen Hinweis darauf, wie Tychander als Erzähler an seine Kenntnisse über die Eltern gelangt sein könnte. So bildet er kein Modell der technisch-instrumentellen Herstellung von Erkenntnis ab, sondern gibt einen Hinweis auf eine Wahrheit, die sich diesen Methoden entzieht. Handeln und Erzählen sind niemals eindeutig. Deshalb kritisieren sie unausgesprochen die Strategien der Vereindeutigung, mit denen die instrumentelle Vernunft Menschen und Dinge zu beherrschen sucht. Wenn ich im Zusammenhang mit den poetischen Formen des Handelns und Erzählens auf den Begriff des Mythos zurückgreife, möchte ich damit nicht der modernen Weltaneignung ein geschlossenes mythisches Weltbild gegenüberstellen. Um den Gegensatz von instrumenteller Vernunft und Mythos nicht mißverständlich werden zu lassen, versuche ich deshalb hier eine vorläufige Begriffsbestimmung dessen, was ich mit Mythos und Mythenerzählung meine. Das griechische Wort mythos bezeichnet zwei eng miteinander verknüpfte Phänomene. Zum einen meint es eine Begebenheit, ein Geschehen oder einen Sachverhalt und zum anderen steht es für den Bericht oder die Erzählung davon, wie sich die Sache verhält.14 Nach HORKHEIMER bewahrt Mythologie, die Erzählung von mythischen Sachverhalten, gegen die instrumenteile Vernunft eine Erinnerung daran, daß es Sachverhalte unabhängig von den Interessen des Sprechers als objektive gibt. Die spezifische Weltaneignung der instrumenteilen Vernunft bringt HORKHEIMER auf den Punkt mit der Geschichte eines Jungen, der zum Himmel aufrückte und fragte: "Papa, wofür soll der Mond Reklame machen?" Für HORKHEIMER ist dies eine Allegorie dessen, was aus dem Verhältnis von Mensch und Natur im Zeitalter der formalisierten Vernunft geworden ist.15 Anders ausgedrückt: Dies ist die Allegorie der instrumenteilen Allegorie, die fragt, wofür jemand oder etwas stehe, was sein Äquivalent sei, in welchen Gegenwert der Gegenstand auszumünzen sei. Mythenerzählungen sind dagegen von einem Glauben an die Güte oder Heiligkeit des Dinges geleitet, von einer Freude über seine Schönheit unabhängig von seinem Gebrauch.16 Vielleicht ist es kein Zufall, daß FRANZ "
13
Vgl. FRANZ FOHMANN, "Das mythische Element in der Literatur": Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981, Rostock (Himstorfl) 1986, 82-140, hier 97-101. Der Anstößigkeit des Mythos, mithin der Anstößigkeit des Erzählens als Erkenntnisform sui generis, versuche ich in einem anderen Zusammenhang näherzukomen. Vgl. ANSGAR M. C O R D E , "Modi des Handelns und Erzählens in Grimmelshausens Erstem Beernhäuter": Simpliciano 19 (1997) 9-28. Vgl. HORKHEIMER, "Zur Kritik der instnimentellen Vernunft" 113.
250
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
in seinen Betrachtungen über Das mythische Element in der Literatur von dem ungebrochenen Zauber ausgeht, den das Abendlied des MATTHIAS CLAUDIUS auch auf jenen Zuhörer ausüben kann, der die Herzensfrömmigkeit des Autors nicht zu teilen vermag.17 Wer es aushält, daß in einem Gedicht das Aufgehen des Mondes besungen wird, ohne daß der Trabant für irgendeinen didaktischen, ideologischen, technischen oder ökonomischen Gegenwert haftbar gemacht wird, hat sich ein Gefühl für den unverfügbaren, objektiven Eigenwert des Gegenstandes bewahrt, der im mythischen Element der Literatur zum Ausdruck kommt. Diese Insistenz auf Eigenheit und Eigensinn verbindet die Gestalten des Mythos mit den Personen der Tychander-Erzäiüimg, die insofern ein mythisches Element gegen jede Vereindeutigung behaupten. FÜHMANN
Die künstliche Herstellung von Eindeutigkeit äußert sich in der Geschichte um Androfìla und Lukrander von Anfang an als Gewalt an Menschen und Dingen. Krieg und Gewalt werden zum Thema von Vergleichen und allegorischen Bildern. Auch strukturell ist die Darstellung von Gewalt und Fremdbestimmung geprägt, denn die allegorische Bildlichkeit wird dem erzählten Geschehen sozusagen von außen aufgezwungen. Gewalt ist zugleich Gegenstand und Methode der Darstellung. Zwischen Geschehen und allegorischer Darstellung kann erst vermittelt werden, wenn die Allegorie selbst als technischinstrumentelle Zurichtung der Welt begriffen wird. Im folgenden wird sich zeigen, daß die Konfrontation von Androfila, Lukrander und Simo nicht nur ein Spiel um Macht auf der Handlungsebene darstellt, sondern zugleich eine Thematisierung von Herrschaft auf der Darstellungsebene ermöglicht. Denn die Personen und ihre Handlungen werden durch verschiedene Signale mit rhetorischen, biblischen und ikonographischen Mustern konfrontiert, mit denen sie jedoch nicht völlig identisch sind. Gerade in der Differenz zwischen den Traditionen und ihrer Aktualisierung wird das Verhältnis von Eigensinn und Fremdbestimmung noch einmal faßbar, das die Auseinandersetzungen der Handlungsebene beherrscht. Da wird etwa das Verhältnis der Eltern Tychanders mit einem Liebeskrieg verglichen, womit die Erzählung zugleich auf einen allegorischen Typus und das zeitgeschichtliche Umfeld des Dreißigjährigen Krieges anspielt. Denn Deutschland brante nach der Darstellung der Erzählung just zu dem Zeitpunkt in vollen krieges-flammen, als Androfila und Lukrander ihren Liebeskrieg begannen.18 In welchem inneren Verhältnis soll aber der Dreißigjährige Krieg zur Affaire der Jungverliebten stehen, die nach einem viel anmuthigerem kriege gemeinsam Friede geschlossen haben und das Bündnis durch Heirat zu legitimieren gedenken? Vom Ausgang der Liebesgeschichte her 16 17
"
Vgl. HORKHEIMER, "Zur Kritik der instrumentellen Vernunft" 55. Vgl. FÜHMANN, "Das mythische Element in der Literatur" 8 4 - 9 0 . Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 8 2 - 8 6 .
Andrqflla, Lukrander, Simo: allegorische
Muster
251
könnte ein tertium comparationis in dem verderben gesucht werden, in dem der europäische Krieg und der private Liebeskrieg enden. Vielleicht bietet auch die Strategie von erober- und einäscherungen eine Parallele, durch die das unbeschwerte Liebesspiel unversehens ein anderes Gesicht erhält. Durch die gewaltsame allegorische Verbindung zwischen Krieg und Liebe werden die Bedingungen zum Thema, unter denen sich die Liebe in den Zeiten der Gewalt zu behaupten hat. Denn selbst die Liebe zweier junger Leute spielt sich innerhalb geltender Herrschaftsstrukturen ab, wie die Reaktion der Eltern beweist, die der Verbindung von Androfîla und Lukrander aus Finanz- und Standesinteressen ihre Zustimmung verweigern. Androfila gibt der Neigung Lukranders, die elterlichen Vorhaltungen in den wind zu schlagen und auf eigene Faust zu heiraten, nicht nach. Das stellt sie in die Reihe der Heldinnen im idealen Barockroman, die durch ihre Beständigkeit am Ende zum Ziel ihrer Wünsche gelangen. Auch DÜRER verwendet für seine Heldin das Adjektiv beständig und charakterisiert sie durch ihre gedult und treue, deutliche Anspielung auf das literarische Muster, wie es sich in der Banise und anderen Idealfiguren des Barockromans findet.19 Während aber im idealen Barockroman die Heldin durch begrenzte Hindernisse in ihrer Treue geprüft werden soll, um sich am glücklichen Ende desto beständiger und mit sich selbst identisch zu erweisen, ist hier das Glück und mit ihm die Integrität der Personen real bedroht. Vor diesem Hintergrund erhält der Hinweis auf das allegorische Stereotyp vom Liebeskrieg eine neue Bedeutung, steht doch der elementaren Gewalt der Leidenschaft ein mindestens ebenso mächtiges Prinzip gegenüber, die zerstörerische Herrschaft des Geldes. Dieses Prinzip wird in der Geschichte von dem greisen, aber reichen Simo verkörpert, der bei einem Besuch sofort sein Auge auf die junge schöne Androfila geworfen hat.20 Sein Name hat wohl einen Anklang an eine Gestalt der Apostelgeschichte, in der die Aspekte von Charisma, Macht und Geld auf charakteristische Weise zusammentreffen. Von diesem biblischen Simon heißt es nämlich, er habe sich den Aposteln außer sich vor Staunen angeschlossen, als er die geschehenen Zeichen und Machttaten sah.2X An dieser charismatischen Macht will - so die Apostelgeschichte - auch Simon partizipieren, er bringt den Aposteln Geld, wobei er sagt: Gebt auch mir diese Vollmacht, damit heiligen Geist empfängt, wem immer ich die Hände auflege 22 DÜRERS Simo teilt mit dem biblischen Typus die Faszination für den Macht19 20 21
21
Dieser Zusammenhang wird bereits bei MAYER, Mischformen barocker Erzählkumt 3 8 gesehen. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 86-95. Vgl. Apostelgeschichte 8, 13. Ich halte mich nah am griechischen Wortlaut, da dort die Semantik der Macht deutlicher wird als etwa in der geläufigen Einheitsübersetzung. Eingesehen wurde: Novum Testamentum Graece, post EBERHARD NESTLE et ERWIN NESTLE edd. KURT ALAND, MATTHEW BLACK, CARLO MARTINI, BRUCE M . METZOER, ALLEN WKGREN, BARBARA ALAND, Stuttgart (Deutsche Bibelgesellschaft) M 1983, 7. rev. Druck. Apostelgeschichte 8, 18/19, meine Obersetzung.
252
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
aspekt des Emotionalen, das er mit Geld unter seine Kontrolle bringen möchte. In beiden Personen gibt es die eigenartige Mischung zwischen dem ohnmächtigen Staunen vor einer Sphäre, die ihrem Einfluß entzogen ist, und dem Versuch, sich dieser Sphäre mit Geld zu bemächtigen. Macht und Ohnmacht der instrumentellen Vernunft deuten sich in der Gestalt des Simo an. Das Wechselspiel von Macht und Ohnmacht findet seinen Ausdruck in Simos Umgang mit Zeit und Raum, der auf der Handlungsebene nachgezeichnet wird. Simo ist zunächst einmal der aufsteigenden Leidenschaft gegenüber hilflos und vergißt angesichts der Schönen nicht allein des redens / sondern auch des essens und trinckens. Dieser Verlust der lebenserhaltenden und sozialen Funktionen macht ihn der jungen Frau gegenüber jedoch nicht machtlos, da sie sich im sozialen Geftige des Haushalts dem wohlhabenden Gast gegenüber mit bescheidenheit zu betragen hat. Von Anfang an hat Simos Zuneigung einen besitzergreifenden Gestus, dem Androfila sich nur dadurch entziehen kann, daß sie Terrain aufgibt und in die Küche zurückweicht. Doch der erfahrene Geschäftsmann bedient sich der Macht des Vaters, der die Tochter wieder herein und zu dische kommen läßt. Die hereinbrechende mitternachtsstunde - bei D Ü R E R ein Chronotopos des Außersichseins und inneren
Widerstreits - bringt auch Simos Widersprüchlichkeit zum Vorschein." Einerseits ist er von seiner Leidenschaft hingerissen, andererseits aber der gesellschaftlichen Konventionen bewußt, die die Heirat eines alten Mannes mit einer jungen Frau zwar nicht verbieten, aber unter die Sanktion allgemeinen Spottes stellen. Simo jedoch wendet den Widerspruch zu seinem Vorteil. Wenn einem Stereotyp der Frühen Neuzeit nach der alte Mann gewarnt wird, die junge Frau habe es in einer Ehe mit ihm nur auf sein Geld abgesehen, dann erkennt Simo gerade darin die Chance, an das Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Er beschließt, [...] der jungfer sein hertze zu offenbahren / und wo es immer miiglich / welches er denn seines vielen geldes wegen nicht zweifelte/ dieselbige zur ehe zu nehmen.2*
Simo geht also mit seinem Kalkül auf ein gesellschafliches Stereotyp ein, das die Ehe zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau auf dem Reichtum des Mannes und der sexuellen Attraktivität der Frau begründet sieht. Dadurch werden die Personen in das Verhältnis von Geld und Ware gesetzt. Simo wird von der Erzählung in einen Bildzusammenhang gebracht, der ihn nicht allein mit den komischen Figuren der Flugblätter, sondern auch mit den Personifikationen von Alter und Geld verbindet. Die Figur des Simo wird zur Aktualisierung eines komplexen allegorischen Bildbereichs, in dem die Herrschaft von Zeit und Geld über Leben und Jugend thematisiert wird. Simos Kalkül kehrt die Warnung um, die etwa ein Flugblatt des 16. Jahr23
24
Zur Rolle der Nacht in der Melancholiekonzeption der Frühen Neuzeit vgl. HARTMUT BÖHME, Albrecht Dürer, Melencolia 1, Im Labyrinth der Deutung, Frankfurt/M. (Fischer Tb. 3958) 1989, 61/62. Lauf der Welt 90.
Androfila, Lukrander, Simo: allegorische Muster
253
hunderte gegen die Ehe alter Männer mit jungen Frauen ausspricht. Ein häßlicher alter Mann faßt auf dem Holzschnitt Der altt Man - Die Jung Magdt von H A N S SEBALD BEHAIM einer jungen Frau an die Brust, während sie ihm in den Geldbeutel greift.
Abbildung 28: Hans Sebald Behaim, Der altt Man - Die Jung Magdt. Reproduziert nach STEVEN OZMENT, When Fathers Ruled. Family Life in Reformation Europe, Cambridge, Mass. (Harvard University Press) 1983, 62.
Diese Darstellung des sprichwörtlichen ungleichen Paares kann eine allegorische Dimension gewinnen, wenn sie auf einem Kupferstich des Niederländers M A R T E N DE Vos in den Horizont der Temperamentenlehre eingeholt wird.
254
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des
Glücks
Abbildung 29: Marten de Vos, Ungleiches Paar als Melancholiebild. Reproduziert nach RAYMOND KLIBANSKY / ERWIN PANOFSKY / FRITZ SAXL, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, deutsch von CHRISTA BUSCHENDORF, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. 1 0 1 0 ) 2 1 9 9 4 , Abb. 1 4 5 .
Hier ist die Frau zur Melancholikerin geworden, die sich selbst an die Brust faßt und ihren Spekulationen hingegeben bleibt, während der alte Mann ihr mit vollen Händen Schmuckstücke anbietet. Die Alltagsszene hat eine allegorische Tiefendimension gewonnen, die auf die Lebensfeindlichkeit von lieblosen, rein materiellen Beziehungen und ihre Grundlegung in Wissenschaft und Ökonomie abhebt. Beinahe scheint hier die Geschichte um Androfila und Simo, in der sich das Leben an seiner Beherrschung und die Herrschaft am Leben rächt, vorweggenommen zu sein. Die Ikonographie des alten Mannes ist geprägt von besitzergreifender Gewalt: Das Alter bemächtigt sich der Jugend und das Geld des Lebens. In ALBRECHT DÜRERS Radierung Der Raub der Proserpina entreißt die saturnische Macht des Todes eine junge Frau gewaltsam dem Leben. Die burlesken Aspekte der Mésalliance zwischen Alt und Jung verbindet der zeitgenössische Roman mit dem mythologischen Motiv, wenn es etwa in CHARLES SORELS Francion ( 1 6 2 3 ) über eine Ehe zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau lakonisch heißt, Saturn und Venus geben nicht gerade ein passendes Paar ab.25 23
Vgl.
CHARLES SOREL,
Wahrhaflige
und lustige Historie
vom Leben
des Francion,
deutsch von
Androfila, Lukrander, Simo: allegorische
Muster
255
Schon in den banalen Alltagsszenen der Romanhandlung ergibt sich ein Hinweis auf die bedrohliche mythische Macht, die von dem lächerlichen Greis Simo ausgeht und die ihn allegorisch mit der saturnischen Zeitform verbindet.
Abbildung 30: AJbrecht Dürer, Der Raub der Proserpina. Reproduziert nach E R W I N PANOFSKY, Studien zur 1,Iconologie, Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, deutsch von DIETER SCHWARZ, Köln (DuMont) 1 9 8 0 , Abb.
63.
CHRISTINE HOEPPENER, Frankfurt am Main (Büchergilde Gutenberg) 1 9 6 8 , I , 4 0 . Siehe zum Originaltext CHARLES SOREL, Histoire comique de Francion, Fac-simle de l'édition originale de 1 6 2 3 . ed. JEROOM VERCRUYSSE, Geneve/Paris (Slatkine) 1 9 8 2 , 1 , 1 0 4 .
256
Dürers Laufder Welt Und Spiel des Glücks
Dem Beziehungsreichtum, mit dem auf der Darstellungsebene allegorische Anspielungen in die Handlung verwoben werden, steht auf der Geschehensebene Simos instrumenteller Umgang mit Kommunikation, Rhetorik und Allegorie gegenüber, der von seinem Gegenspieler Lukrander parodistisch umgekehrt wird. Denn dem Entschluß, das Geld in den Dienst der Leidenschaft zu stellen, entspricht die Strategie, mit der die Frau erobert werden soll. Zunächst einmal setzt Simo auf Zeitgewinn und erreicht unter einem Vorwand, noch selbigen tag da, nämlich im Hause der Schönen, zu bleiben. Seine Anwesenheit im Haus ermöglicht ihm, Terrain zu gewinnen. Androfila versucht zwar, ihm aller orten aus dem wege zu gehen, doch als er in ihren innersten Rückzugsraum, die Küche, vorstößt, ist sie zu der Aussprache gezwungen, die sie vermeiden will. Die Rhetorik, deren sich Simo nun bedient, spiegelt seine instrumentelle Einstellung zur Kommunikation wider. In ihr entlarvt sich die konventionelle allegorische Bildlichkeit nach art der gentilisirenden Poeten noch in ihrer lächerlichen Variante als gängige Münze, die jedem Zweck dienlich ist und gerade dadurch auch die Zwecke vertauschbar macht. Mittel der Entlarvung ist die Parodie, durch die Simos Rhetorik ihrer Hohlheit überfuhrt wird. Für seinen Rivalen Lukrander ist das von ihm gebrauchte Bild, das Androfila wegen ihrer leuchtenden Schönheit mit dem monde, ihn selbst aber wegen der hellscheinenden dukaten mit der sonnen vergleicht, der willkommene Anlaß, den greisen Nebenbuhler in einem pasquill vorzuführen, wozu er eigentlich nur den Dialog des greisen Gecken mit der jungen Frau in Verse fassen muß. In seiner treuherzigen Ehrlichkeit exemplifiziert Simos Allegorie den Vorgang der Allegorisierung selbst. Wenn das Geld durch die Sonne versinnbildlicht wird, dann entlarvt sich Geldverkehr und Warentausch als organisierendes Zentrum des instrumentell-allegorischen Weltbildes. Interessant ist an ihm nicht seine materielle Substanz oder sein realer Wert für das Leben, sondern der Schein, in den es das beleuchtete Objekt taucht. In Lukranders Pasquill besteht Androfila auf der Hitze der Sonne, die ihrer emotionalen Situation entspricht. Sie fordert für sich eine sonn / bey welcher man kan schwitzen, um
ihren persönlichen Glücksanspruch gegen Simos Rhetorik der Vertauschbarkeit zu bekräftigen. An dieser Stelle tritt die spezifische Aneignungsform noch klarer hervor, durch die sich DÜRERS Lauf der Welt fremder Texte und Diskurse bemächtigt. Es handelt sich um die Zweckentfremdung von Zitaten, die - in eine andere Umgebung versetzt - die Wirkung einer Minimalparodie entfalten.26 Namentlich die hohen Formen der Literatur, die durch instrumentelle Zurichtung ihrer Einzelmomente zur Repräsentation von Geschlossenheit und Ordnung 24
Vgl.
Palimpseste, Die Literatur auf zweiter Stufe: Aesthetica. deutsch von und DIETER HORNIG, Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp 1 6 8 3 ) 1 9 9 3 . Zum Zitat als Minimalparodie dort 2 9 / 3 0 . In diesem Werk versucht GENETTE den Aufbau einer Begrifilichkeit für Transtextualität und Intertextualität. GÉRARD GENETTE,
WOLFRAM BAYER
Androfila, Lukrander, Simo: allegorische
Muster
257
dienen, werden aufgebrochen und in ihrer Scheinhaftigkeit bloßgestellt. Die Reduktion des Gegenstandes auf seinen Zweck wird durch die literarische Zweckentfremdung konterkariert. Zwischen dem raum-zeitlichen Gestus der handelnden Personen und den allegorischen Verweismöglichkeiten der Erzählung gibt es dabei Parallelen und Entsprechungen. Denn das Spiel von Verstellung und Entlarvung, Verkleidung und Enthüllung hat sein poetologisches Korrelat in der Wechselbeziehung von Travestie und Parodie.27 Simo schlüpft mit seiner gewählten und gesuchten Ausdrucksweise in die unpassende poetische Maske pretiöser Liebeslyrik. Diese unpassende Diktion ist vom Standpunkt seiner rein materiellen Absichten eine Travestie, eine Verkleidung in fremde Sprache, und vom Standpunkt der zitierten pretiösen Dichtung eine Parodie, eine Zweckentfremdung der Form für eine unangemessene Intention. Die parodistische Wirkung wird noch gesteigert, indem Lukrander Simos Liebeserklärung in die Verse seines Pasquills überträgt, wobei er den banalen Vorgang durch seine zweite travestierende Überhöhung vollends lächerlich macht und zugleich die Formelhaftigkeit der Liebesdichtung persifliert. Die allegorische Bildlichkeit selbst hält also bereits ein kritisches Potential bereit, das wirksam werden kann, wenn man seine platte Funktionalisierung in den Beziehungsreichtum historischer Prozesse rückübersetzt. Denn die Vertauschbarkeit des Bildes für fremde Zwecke entspricht ökonomisch einer Aneignung, die das Angeeignete nicht um seines Eigenwertes willen in den Blick nimmt, sondern wegen der Möglichkeit, es für fremde Zwecke auszumünzen. Wenn Simo in Lukranders Pasquill bey Peru flüssen schwört, Androfilens Schönheit in Gold zu fassen, dann ist er nicht daran interessiert, die Schönheit der Frau und den Reiz der Länder der Neuen Welt symbolisch einander anzunähern. Er hat keine Anschauung von Perus Flüssen, er kennt lediglich ihre ökonomische Bedeutung, die sprichwörtlich geworden ist. Die Flüsse Perus dienten ja in der Realität wie andere Gegenden Amerikas einzig der ökonomischen Ausbeutung, der Beschaffung von Edelmetall. Der spanische Dominikanermönch BARTOLOMÉ DE L A S CASAS weist in seinem Kurzgefaßten Bericht von der Verwüstung der Westinidischen Länder nicht nur auf das ökonomische Desaster hin, das die Zerstörung nachhaltiger Ressourcen hervorrief. Er schildert darüber hinaus die Welt der Indios als locus amoenus, wo die Wohnörter den anmutigsten Gärten glichen, um im Kontrast die Barbarei der Goldsuche und der Bergwerksindustrie zu geißeln.28 Entscheir
a
Zur Travestie als Verkleidung vgl. ANDRÉ JOLLES, "Die literarischen Travestien Ritter - Hirt Sehelm" 106-108. Vgl. BARTOLOMÉ DE LAS CASAS, Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, deutsch von D. W. ANDREA, hg. von HANS MAGNUS ENZENSBERGER, Frankfurt/M. (Insel Tb. 5 5 3 ) 1 9 8 1 , 3 7 . Zur Person vgl. THOMAS EGGENPERGER / ULRICH ENGEL, Bartolomé de las Casas, Dominikaner - Bischof - Verteidiger der Indios, mit einem Nachwort von GUSTAVO GUTIÉRREZ, Mainz (Grünewald, Topos-Tb. 207) 1991. Zur Rhetorik und Ökonomie der Aneignung Ameri-
258
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des
Glücks
dend ist für ihn indes, daß die Ökonomie des Goldes die Menschen zur Sache degradiert. Über einen Conquistador bemerkt er: Da dies Land kein Gold enthielt, [...] so beschloß er, diese Menschen, für welche Jesus Christus sein Le-
ben gab, mit Leib und Seele in Gold zu verwandeln.29 Menschen sind keine Menschen, sondern der Gegenwert von Gold, und Peru ist kein konkreter geographischer Ort, sondern die Quelle des Profits. So konnte der Engländer J. CLEVELAND 1650 sagen: Korrigiert eure Landkarte: Newcastle ist Peru.™ Hier liegt die unterschwellige Verbindung zwischen der Ökonomie des Geld- und Warentausches und der instrumentellen Allegorie, wie sie Simos Handeln und Rhetorik bestimmen. Da ihnen unter der Hand alles vertauschbar wird, schwindet auch der Unterschied zwischen Zweck und Mittel, der ihr Denken begründet Zwar geht auch der Warentausch von den unverwechselbaren Qualitäten des Gegenstandes aus, denn erst diese Qualitäten lassen ihn interessant für einen Tausch erscheinen. Doch verliert sich dieser Blick für die Qualität der Dinge angesichts ihrer Vertauschbarkeit, die für den Warentausch und die instrumenteile Allegorie maßgeblich ist. Die personifizierte Sache und der zur Sache verkommene Mensch sind lediglich zwei Seiten derselben Münze.31 Die zerstörerische Gewalt der ökonomischen Gleichung von Mensch und Sache kommt in Simos Rede vom Liebeskrieg zum Ausdruck. Ökonomie ist ihm nicht nur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln; das Liebeswerben wird überdies auf die plumpe Strategie der Vorteilsnahme reduziert, die sich auf die gängige Münze der geläufigen Redensart stützt: Er hatte
das Sprichwort
gehöhret
/ daß keine festung
die nicht / wenn man nur so nahe käm / daß man könte kugeln auch zu
hinein
schießen
zu erobern
stünde:
dieses
so unüberwindlich mit güldnen
vortheils
ge- [94]
wäre
/
und
silbernen
dachte
er
sich
gebrauchen
Geschickt nutzt Simo die ökonomischen und chronotopischen Strukturen des bürgerlichen Haushalts, indem er sich der Hausmutter nähert, die für die innere Ordnung des Haushalts zuständig ist. Auf direktem Weg begibt er sich kas durch die Europäer vgl. FRAUKE GEWECKE, Wie die neue Welt in die alte kam, München (Deutscher Taschenbuch Verlag/Klett-Cotta 4568) 1992; TZVETAN TODOROV, Die Eroberung Amerikas, Das Problem des Anderen, deutsch von WILFRIED BÖHRINGER, Franfurt am Main (Edition Suhrkamp 1213) 1985. Zu Amerika als Verräumlichung der Wunschzeit des Goldenen Zeitalters und als locus amoenus vgl. GEWECKE, Wie die neue Welt in die alte kam 64-71; zu LAS CASAS dort 198-204. Zur Aktualität von LAS CASAS vgl. TODOROV, Die Eroberung Amerikas 289-301. 25 30 31
32
LAS CASAS, Kurzgefaßter Bericht 63. Zitiert bei GEWECKE, Wie die neue Welt in die alte kam 46. Vgl. BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels 164/165: Immer hat die allegorische Personifikation darüber getäuscht, daß nicht Dinghaftes zu personifizieren, vielmehr durch Ausstaffierung als Person das Dingliche nur imposanter zu gestalten ihr oblag. Lauf der Welt 93/94. Auch hier erscheint das Wort Vorteil in dem semantischen Grenzbereich zwischen militärischer Eroberung und ökonomischem Gewinnstreben, was bezeichnend für das eine wie das andere ist.
Räderuhr und Lebensblüte
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ins Innere des Gehäuses, und als er nahe genug an sein taktisches Ziel gekommen ist, schießt er seine güldnen und silbernen kugeln mitten in dieses operative Zentrum. Simo verehrt der Hausmutter zum gedächtnis und dancksagung vor die herberge ein Präsent, ein künstlich schlagiihrlein in einem güldnen und mit demanten versehenen gehäuse eingefastP Augenfällig ist hier zunächst das gehäuse, dessen materieller und repräsentativer Wert zur Gebrauchsfunktion des Gegenstandes keine direkte Verbindung hat. Die ersten transportablen Uhren, die in der Frühen Neuzeit aufkamen, dienten denn auch eher als Schmuckstücke, als daß sie eine praktische Funktion im Alltag gehabt hätten.34 Das verschwenderische Gehäuse, dessen Schmuck kaum in Beziehung zu dem Uhrwerks in seinem Inneren steht, läßt an das allegorische Mißverhältnis zwischen bedeutender Oberfläche und bedeutetem Inhalt denken. In der Simo-Geschichte wird das Uhrwerk ja auch nicht für die Zeitmessung benötigt, es dient vielmehr fremden, allegorischen Zwecken. Und doch ist auch die Zeitform, die das Räderwerk im Inneren der Schlaguhr repräsentiert, mit dem Vorgang allegorischer Abstraktion verbunden. J Ö R G J O C H E N B E R N S weist darauf hin, daß die Räderuhr durch den Kreislauf ihrer Zeiger eine bestimmte Zeitform, perpetuierliche Wiederholung und somit Immerwährendheit, Kontinuität, Ewigkeit demonstriere, wobei seiner Ansicht nach die Bedeutung dieser Instrumente durchaus von ihrer Technikgeschichte abhängig zu sehen ist 35 Die Räderuhr erzeugt eine künstliche, homogene und leere Zeit,36 indem sie eine kontinuierliche Schwungbewegung, die sich unter natürlichen Bedingungen ständig beschleunigen würde, durch einen rhythmisch in ein Zahnrad einrastenden Widerstand in gleiche, austauschbare Einheiten zerhackt.37 Ihr Prinzip, die Hemmung, beruht also auf der Kontrolle einer Dynamik, auf der Umwandlung von Eigendynamik in Homogenität. Der Fortschritt der Technologie in der Frühen Neuzeit, der die Räderuhr transportabel machte, fugte diesem Prinzip der Abstraktion einen weiteren Aspekt hinzu. Die modernen Kleinuhren des 17. Jahrhunderts ermöglichten nämlich nun sowohl die Ubiquität von Zeitmessung als auch ihre Privatisierung.38 Damit ist zweierlei 33 34
M 36
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38
Vgl. Lauf der Welt 94. Vgl. JÖRG JOCHEN BERNS, ""Vergleichung eines Vhrwercks, vnd eines frommen andächtigen Menschens.' Zum Verhältnis von Mystik und Mechanik bei Spee": Friedrich von Spee, Dichter. Theologe und Bekämpfer der Hexenprozesse, hg. von ITALO MICHELE BATTAFARANO, Gardolo di Trento (Luigi Reverdito) 1988, 101-206, hier 124. Vgl. BERNS, "Vergleichung eines Vhrwercks" 164. Vgl. WALTER BENJAMIN, "Ober den Begriff der Geschichte", These X I I I : Illuminationen, Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt/M. (Suhrkamp Tb. 345) 1977, 231-261, hier 258. BENJAMIN grenzt in der folgenden These diese homogene Zeit der entfremdeten Arbeit von der historischen Zeit ab, die sich in Ereignissen und neuen (Kalender-) Zeitrechnungen äußert. Vgl. hierzu etwa RUDOLF WENDORFF, Zeit und Kultur, Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen (Westdeutscher Verlag) M 980, 137-141. Vgl. BERNS, "Vergleichung eines Vhrwercks" 110 und 122.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
gegeben. Einmal folgt der Vertauschbarkeit der Zeiten eine Austauschbarkeit der Räume; Zeitmessimg ist nicht länger abhängig von der Nähe öffentlicher Uhren an Kirchen und Rathäusern. Und das heißt zum anderen, daß die Kontrolle über den Ablauf der Zeit nun in die Hände des privaten einzelnen, genauer des besitzenden und unternehmenden Bürgers, gelangt. Das technische Prinzip der Kontrolle, auf dem künstliche Zeitmessung basiert, hat hier seine gesellschaftlich-ökonomische Entsprechung. Wie die Uhr die Kontrolle über Zeitabläufe ermöglicht, weil sie die Zeit abstrakt und vertauschbar macht, hat der Handeltreibende Kontrolle über Waren und Menschen, indem er sie vertauschbar und damit handelbar macht. Diesem Prinzip der Kontrolle folgt Simos Handeln Androfila und ihren Eltern gegenüber. Indem er aber die Eigendynamik des fremden Lebens, Androfilas Eigenwillen und ihren persönlichen Glücksanspruch, in die Mechanik der Ökonomie zu zwingen sucht, unterliegt er seinem eigenen Leben gegenüber dem illusorischen Machtgefìihl, das von der Mechanisierung der Abläufe ausgeht. Denn die Maschine erzeugt ja, wie die Macht des Tauschwertes, lediglich eine Illusion von Kontrolle.39 Die Räderuhr suggeriert eine Wiederholbarkeit und mithin Vertauschbarkeit von Vorgängen, die von der Realität der verrinnenden Zeit, wie sie etwa die Sanduhr versinnbildlicht, abstrahiert: In der Immergleichheit der Bewegung der Unruh ist das Altern, das Vergehen von Zeit negiert. Die Zeit denken heißt die Zeit aufheben.™ Indem Simo als Greis um eine junge Frau wirbt, ignoriert er den qualitativen Unterschied, den der Ablauf der Lebenszeit hervorruft. Im Widerstand der jungen Frau verlangt die Realität der unterschiedlichen Lebensalter nach ihrem Recht. Jenseits der homogenen, meßbaren Zeit der Räderuhr gibt es eine Eigenzeit der Subjekte, die sich in D Ü R E R S Erzählung im Widerspruch zum äußeren, aufgezwungenen Ablauf der Zeit äußert. So heißt es, daß Androfila bei der Liebeserklärung des Alten zeit und weile lang wurdet Sie steht aber dem Wortschwall Simos genauso machtlos gegenüber wie seinen Machinationen, mit denen er ihr Leben in das Gehäuse seines Wohlstandes zu sperren im Begriff ist. In letzter Verzweiflung wechselt sie von höflicher Verstellung zur rücksichtslosen Wahrhaftigkeit und eröffnet dem wortreichen Antragsteller, wie er sie darzu nemlich nimmer überrreden würde / daß sie mit einem Vielleicht erlaubt gerade der Widerspruch zwischen dieser Illusion von Macht und Kontrolle und den unbestreitbaren Erfahrungen von Begrenztheit einen Hoffhungsrest gegen den radikalen Pessimismus der späten HORKHEIMER und ADORNO, die in der Allmacht der Kulturindustrie die Vollendung aller Nivellierung und die Eindimensionalität des Lebens erreicht sahen. Die Diskrepanz zwischen der versprochenen technischen Perfektionierung des Lebens und dem pochenden Geßhl der Unerlöstheit müßte eigentlich wachsende Unruhe und damit ein irgendwann relevantes Veränderungspotential erzeugen, mithin jenen Türspalt offenhalten, durch den nach Ansicht WALTER BENJAMINS jederzeit der Messias, das heißt der gemeinsam unternommene Versuch einer neuen Praxis, treten könnte. BERNS, "Vergleichung eines Vhrwercks" 124. Vgl. Lauf der Welt 90.
Exkurs: Kronos als mythologisches Modell der saturnischen Zeit
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solchem alten manne die beste blüht ihres lebens verschließen solfe.42 Androfila setzt Simos mechanischer Metaphorik ihr eigenes Lebensbild entgegen, das aus dem Bewußtsein blütengleicher Schönheit und Vergänglichkeit gespeist ist. Dadurch wird die allegorische Bildlichkeit mehrdeutig.43 Das Ziel der instrumenteilen Allegorie, komplexe Wirklichkeiten in Eindeutigkeit zu überführen, kann nicht mehr erreicht werden, da nun zwei konkurrierende allegorische Versionen der Wirklichkeit vorliegen. Das ganze Verfahren, auf dem Simos Technik der Verallgemeinerung beruht, wird fragwürdig. Androfila hingegen erobert sich eigene Deutungskompetenzen und nutzt das Widerspruchspotential, das der allegorischen Bildlichkeit innewohnt. Denn durch Androfilas Widerspruch gewinnt diese Bildlichkeit etwas von der Widersprüchlichkeit zurück, die sie im Mythos hatte.44 *
Exkurs: Kronos als mythologisches Modell der saturnischen Zeit Hinter der Figur des Simo ist eine mythologische Interpretation der Zeit greifbar, die Identifikation des Chronos, der personifizierten Zeitdauer, mit dem greisen saturnischen Kronos.45 Schon in Kronos selbst, in seinem Dualismus, liegt eine erste Widersprüchlichkeit, die in die Kombination des Kronos mit Chronos eingeht. K L I B A N S K Y , P A N O F S K Y und S A X L sprechen davon, daß man Kronos geradezu als einen Gott der Gegensätze bezeichnen könnte.46 Die griechische Mythologie sieht in Kronos den Sohn des Uranos, des Himmels, 42 43
44
45
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Vgl. Lauf der Welt 93. Die im Deutschen Wörterbuch von JACOB und WILHELM GRIMM, Band 2, München (Deutscher Taschenbuch Verlag) 1991 = Leipzig (Hirzel) 1860, Sp. 176/177, s.v. BLÜTE, gelisteten parallelen Belege, die die Lebenszeit zwischen der Jugend schönste blüte und der blute meines alters ausgespannt sehen und mit dem konkreten Werden und Vergehen des menschlichen Körpers in des leibes blüt und saft verbinden, setzen mit WECKHERLIN, also dem Beginn des 17. Jahrhunderts ein. Die so eingeholte vegetative Qualität des Einzellebens entspringt mithin nicht seiner fraglosen Einbettung in feudal-agrarische Zustände, sondern seinem Problematischwerden. Die Idylle als Utopie entsteht erst durch Entfernung von einer selbstverständlich hingenommenen Natur. Es muß als Gewinn der beginnenden Moderne verbucht werden, daß der Wert des Subjekts und seine spezifische Qualität im Widerstand gegen seine Bedrohung erarbeitet werden. Das Bild von der Lebenszeit als Blüte hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Stundenblumen, denen die Heldin in MICHAEL ENDES Märchen-Roman Momo, Stuttgart (Tienemanns) 1974, 162, begegnet und in denen sie die unverfügbare, unverwechselbare Eigenzeit jedes Menschen kennenlernt. Das Mädchen erblickt eine Blüte von solcher Herrlichkeit, wie Momo noch nie zuvor eine gesehen hatte. Sie schien aus nichts als leuchtenden Farben zu bestehen. Momo hatte nie geahnt, daß es diese Farben überhaupt gab. Als diese Blume nach ihrer Zeit verwelkt, blüht eine andere auf, ganz anders als die vorhergehende Blüte. Vgl. zur Ambivalenz mythischer Gestalten im Gegensatz zu ihrer Zuweisung in ein moralisches Koordinatensystem FRANZ FÜHMANN, "Das mythische Element in der Literatur": Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981, Rostock (Himstorfi) 1986, 82-140, hier vor allem 90-96. Vgl. zu diesem Komplex PANOFSKY, "Vater Chronos" und KLIBANSKY, PANOFSKY, SAXL, "Saturn, der Stern der Melancholie": Saturn und Melancholie 201-315. Vgl. KLIBANSKY, PANOFSKY, SAXL, Saturn und Melancholie 211.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
und der Gaia, der Erde.47 Hohes und Niedriges ist in ihm vermischt, sowohl die Himmelsreligion der urgriechischen Eroberer wie die Erdreligion der vorgriechischen Bevölkerung. Bereits in seiner Abstammung deutet sich die Ambivalenz der Figur an, die sich in den ihr zugeschriebenen Handlungen und ihrem Kult entfaltet. HESIODS Theogonie erzählt, wie Kronos, der seinen Vater Uranos entmachtet hat, nun seinerseits versucht, einer Entthronung durch seine Kinder zuvorzukommen, indem er sie verschlingt. Nach dem Bericht des Epos tötet Kronos die eigenen Kinder, damit niemand anders von den stolzen Himmelsgöttern bei den Unsterblichen Königswürde innehätte. Damit will er der Drohung eines Orakels zuvorkommen, das ihm angekündigt hat, er werde trotz seiner Macht von seinem Sohn bezwungen,48 Das Entweder-OderSchema von Herrschaft und Beherrschtwerden zwingt die Handelnden, entweder durch Vernichtung des Kontrahenten Souveränität über die Zukunft zu gewinnen oder selbst von den zukünftigen Ereignissen überrollt zu werden. Der Versuch, die Herrschaft zu erhalten, hat ihre Unberechenbarkeit zur Folge. Die Einsicht in die unkontrollierbare Dynamik der Ereignisse läßt die Betroffenen - wie die Mutter Rhea bei HESIOD - in Schmerz und Trauer zurück. Dämonie der Herrschaft verbindet sich mit Melancholie. Doch in Zeus erwächst ihm ein Sohn und Thronfolger, der den Kampf um die Herrschaft beendet und den Machtbereich des Kronos auf die Insel der Seligen begrenzt, den Chronotopos der belohnten Gerechtigkeit.49 In den griechischen Kronia und den römischen Saturnalien, bei denen die Sklaven die Rolle der Herren übernahmen und alles auf Freude und festlichen Schmaus abgestimmt war, setzt die Festgemeinde für eine begrenzte Dauer die Gesetze der Zeit außer Kraft und erinnert daran, daß Kronos der Herr des Goldenen Zeitalters ist, der mythischen, verlorenen Vorzeit, in der es ökonomische Zwänge und Klassenunterschiede noch nicht gab.50 Kronos erscheint hier als karnevaleske Verkehrung der Zustände, die durch die Gesetzmäßigkeit des Zeus garantiert sind. Die widerstreitenden Aspekte des Kronos/Saturn bringen die Dialektik einer durch Herrschaft garantierten Ordnung zum Ausdruck, die in Unberechenbarkeit und Gewalt umschlägt. Diese Widersprüche scheint VERGIL ZU " "*
49
50
Für einen ersten Überblick eignet sich HERBERT HUNGER, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Reinbek (Rowohlt Tb. 6178) '1983, 223-225 s.v. Kronos. Vgl. HESIOD, Theogonie 459-467. Meine Obersetzung. HESIOD: Theogonia, Opera et Dies, Scutum, Fragmenta Selecta. Edd. FRIEDRICH SOLMSEN, REINHOLD MERKELBACH und MARTIN L . WEST. (Oxford: University Press) 3 1990. Vgl. PINDAR, II. Olympische Ode, w . 53-73, PINDAR, Oden, griechisch-deutsch, hg. von EUOEN DÖNT, Stuttgart (Reclam UB 8314) 1986, 16-19. Das Bedürfnis, die dämonische Macht des Kronos einzuschränken, in der sich unausgesprochene Wunschvorstellungen manifestieren, spiegelt sich auch in PLATOS Vorschlag, die Geschichte über Kronos und seine Kastration des Uranos von der Jugend fernzuhalten. Vgl. DODDS, The Greeks And The Irrational 46/47. Vgl. LUKIAN, "Tà pròs Krónon": Luciani opera, Tomus III, Libelli 44-68, ree. M . D . MACLEOD, Oxford (Oxford University Press) 1980, Liber 61, 2 und 7. HUNGER, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie 224.
Exkurs: Kronos als mythologisches Modell der saturnischen Zeit
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harmonisieren, um die Herrschaft des OCTAVIANUS/ AUGUSTUS ZU legitimieren. Vor allem die Aeneis kombiniert die mythologische Ursprungserzählung Roms mit einer Apotheose des regierenden Herrschers.51 Historisch ist dies motiviert durch die gewaltsame Befriedung des Weltreichs, die pax Augusta, doch lassen sich dieselben Vorgänge genauso als letzter Akt der Bürgerkriege deuten. Der Landbesitzer VERGE, war vom Opfer der oktavianischen Bürgerkriegssoldateska zum Schützling des nunmehr herrschenden OCTAVIANUS A U GUSTUS geworden, was die Ambivalenz von Herrschaft in einer Momentaufnahme konkret werden läßt.52 Es ist dieselbe Herrschaft, deren Soldateska die Äcker zerstört und deren Polizei die Grundbesitzer schützt. Für die Aeneis ist der neue Herrscher Roms der Sproß des Göttlichen, der das Goldene Zeitalter | Wieder neu begründet in Latium, dessen Fluren ! Saturn einst beherrschtet Das Goldene Zeitalter des Kronos/Saturn ist hier also keineswegs ein mythischer und utopischer Gegenentwurf zu den Zeitläuften, sondern wird in der Machtübernahme des AUGUSTUS historisch manifest.54 Das Zeitalter des AUGUSTUS, Grenzsituation zwischen den Zeiten," Benutzt wurde: P. VERGILI M A R O N I S Opera, ed. R.A.B. M Y N O R S , Oxford (UP) 1 9 8 0 . Zweisprachig liegt nun Buch I - I V vor: P. VEROILIUS M A R O , Aeneis, 1. und 2. Buch, lateinisch und deutsch hg. von EDITH und GERHARD BINDER, Stuttgart (Reclam Universal-Bibliothek 9 6 8 0 ) 1 9 9 4 ; dass. 3. und 4. Buch, 1 9 9 7 . Zur Aeneis vgl. R. G. AUSTIN, P. Vergili Maronis Aeneidos Liber Quartus, ed. with a commentary, Oxford (University Press) 1 9 8 2 ; EDUARD N O R D E N , P. Vergilius Maro, Aeneis Buch VI, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) ' 1 9 8 4 ; RICHARD HEINZE, Virgils epische Technik, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) ' 1 9 8 2 ; W I L L Y SCHETTER, Das römische Epos = Athenaion Studientexte 4 , Wiesbaden (Athenaion) 1 9 7 8 ; B R U N O SNELL, "Arkadien, Die Entdeckung einer geistigen Landschaft": Die Entdeckung des Geistes, Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) ' 1 9 8 6 , 2 5 7 - 2 7 4 . Die neuere Forschung referiert WERNER SUERBAUM: "Vergils Aeneis, Zur Problematik der Rezeption eines klassischen Werkes in der Forschung und im Gymnasialunterricht": Vergils Aeneis, Beiträge zu ihrer Rezeption in der Gegenwart und Geschichte = Auxilia 3, Bamberg (Bucher) 1 9 8 1 , 5 - 4 5 . Zu VERGIL vgl. FRIEDRICH KLINGNER, "Vergil und die geschichtliche Welt": Römische Geisteswelt, München (Ellermann) 4 1 9 6 1 , 1 9 3 - 3 1 1 . Zur VERGIL-Rezeption vgl. THEO3 DOR HAECKER, Vergil, Vater des Abendlands, Leipzig ( H e g n e r ) 1 9 3 5 ; W A L T E R BENJAMIN, "Privilegiertes Denken, Zu Theodor Haeckers Vergil": Angelus Novus, Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt/M. (Suhrkamp Tb. 1 5 1 2 ) 1 9 8 8 , 4 6 7 - 4 7 4 ; RICHARD FABER, Politische Idyllik, Zur sozialen Mythologie Arkadiens = Literaturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft 26. Stuttgart (Klett) 1 9 7 7 ; KLAUS GARBER, "Arkadien und Gesellschaft, Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas": Utopieforschung, Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Band 2 , hg. von WILHELM VOHKAMP, Frankfurt/M. (Suhrkamp Tb. 1 1 5 9 ) 1 9 8 5 , 3 7 - 8 1 ; VOLKER M E I D , "Vergils Aeneis als Barockroman": Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730, Fs. GÜNTHER W E Y D T , hg. von WOLFDIETRICH RASCH, H A N S GEUELEN und KLAUS HABERKAMM, Bern und München (Francke) 1 9 7 2 , 1 5 9 - 1 6 8 . Vgl. KLINONER, "Vergil und die geschichtliche Welt" 294. Aufstieg und Herrschaft des Octavianus sind unter Einbeziehung der Forschung konzis dargestellt bei K A R L C H R I S T , Krise und Untergang der römischen Republik, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 3 1993,424-466. Siehe zu VERGILS 4. Ekloge und ihrer politischen Bedeutung dort 444/445. Vgl. VERGIL, Aeneis, VI. Gesang, w . 791-794. Meine Obersetzung. VERGIL orientiert sein Lob des Augustus an der hellenistischen Form des egkómion basiléos, des konventionellen Herrscherlobes. Vgl. N O R D E N , Aeneis 3 2 2 - 3 2 5 . Vgl. KLINGNER, "Vergil und die geschichtliche Welt" 3 0 5 / 3 0 6 : Rückkehr des Ursprünglichen: so
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
hat sein Vorbild im mythologischen Herrscherhaus des Königs von Latium, das neben Ahnenbildern auch von Saturnus, dem Greis, geziert wird und Zeuge einer translatio imperii von der alten latinischen Saturnusdynastie auf die neue römische Jupiterherrschaft wird.56 Wenn des Janus doppeltes Antlitz hier die Passage von der einen Herrschaft zur nächsten garantieren soll, deutet das jedoch an, daß die beunruhigende Vieldeutigkeit des Mythos nur oberflächlich und zeitweilig der eindeutigen Herrschaft des Jupiter gewichen ist. Im Verlauf des Epos sind neben dem Lob des Herrschers immer wieder further voices zu vernehmen, die Stimmen der Unterlegenen, die durch das Machtwort des Jupiter zum Schweigen gebracht werden sollen.57 Diese Stimmen der Unterworfenen indes sind zu schwach geblieben, um sich gegen die laute Herrschaftspropaganda durchzusetzen. Da hat es seine Logik, daß eine barocke Fassung der Aeneis dem eigentlichen Text eine Dedikation an den gerade herrschenden Fürsten58 vorausschickt, unter dessen führtreffliche Ahnen dann auch gleich der Teutsche Achilles und der Teutsche Cicero entdeckt werden.59 Der Titel verdeutscht das Fatum mit Zufälle des wandelbahren Glücks. Damit wird die Unwägbarkeit der Fortuna doch wieder an eine garantierende Instanz gebunden. Alle Zufalle der Geschichte spielen sich vor einem unwandelbaren Geschick ab, das Aeneas von vornherein zum Glück prädestiniert hat. Vor der Unveränderlichkeit des Fatum werden alle Hindernüß zu bereits virtuell überwundenen. Der VERGiusche Schicksalsglaube findet seine Fortsetzung in der Providenz des barocken Idealromans. Nur zu leicht lassen sich die Hexameter des Epos in Heroische oder Alexandrinische Reime verwandeln. Das Versmaß der barocken Bearbeitung hat hier poetologische und politische Implikationen.60
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deutet er die Stunde. Ursprung und Gegenwart, des Saturnus Reich und Cäsar Octavianus: das sind die beiden Pole der Geschichte. Von einem zum anderen reicht durch die Zeit die Reihe der edlen Taten, der bedeutenden Römer [...]. KLINGNERS VERGIL-Deutung kann aber über den tiefgreifenden Kontinuitätsbruch nicht hinwegtäuschen, der sich in der neuen Herrschaft des Augustus ankündigt. Vgl. KLINGNER, "Vergil und die geschichtliche Welt" 296. Vgl. Venaa.,Aeneis VII. Gesang, w . 178-233. Zur Zwei-Stimmen-Theorie, die sich den further voices etwa der Dido oder des Turnus zuwendet, vgl. SUERBAUM: "Vergils Aeneis" 31-36. Gemeint ist der Markgraf von Brandenburg. Vgl. Eigentlicher Abriß Eines verständigen / tapfferen und frommen Fürsten / Von dem fürtrefflichsten Poeten Virgilius / In zwölff Büchern der Trojanischen geschickten Entworffen Und An den AEneas /Der nach Außstehung vieler Mühseligkeit / Gefahr und Zufälle des wandelbahren Glücks endlich alle Hindernüß und Feinde überwunden / und seine von der Ewigen Vorsehung ihm verordnete Laviniam erlanget hat/Gewiesen und gepriesen. Verteutschet und in Heroische oder Alexandrinische Reime übergesetzet Von M. Michael Schirmer [...]. Cölln an der Spree 1668 X 2. Benutztes Exemplar:Yale Library. Mikrofilm der Sammlung Faber du Faur, Nr. 619. Kein Wunder, daß VERGIL später von Deutungen wie der THEODOR HAECKERS vereinnahmt wird, der jeder Sinn für die Dialektik der Herrschaft und der ihr dienenden instrumenteilen Vernunft fehlt, so daß ihr eine reinliche Scheidung möglich ist zwischen dem Geist des Westens und seiner Idee der Ordnung, für die VERGIL zu stehen hat, und dem des Ostens mit seiner Maßlosig-
Exkurs: Kronos als mythologisches Modell der saturnischen Zeit
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Die beunruhigende Macht Saturns indes läßt sich auf diese Weise zwar übertünchen, nicht aber fortwischen. In der Renaissance gewinnt der beängstigende Aspekt des Saturnischen da an Bedeutung, wo sich der greise Kronos mit Chronos, dem dauernden Enteilen der Zeit, verbindet. Es war die spekulative Allegorese der hellenistischen Philologie, die in der zufalligen Gleichheit der Wörter eine tiefere Verbindung zwischen beiden zu erkennen glaubte. Dabei unterschieden sich die Vorstellungen über Chronos zunächst stark von denen, die sich mit Kronos/Saturn verbanden. Fliehende Geschwindigkeit, prekäre Balance und die Attribute universeller Macht und unbegrenzter Fruchtbarkeit lassen zunächst eher an eine jugendliche Gestalt denken, wenn von Chronos die Rede ist. Über den Begriff der Gelegenheit, kairós, ist Chronos verwandt mit Tyche und Fortuna.61 Unter dem Einfluß von Chronos erfuhr zunächst Kronos/Saturn eine Umdeutung, die dann auf das Verhältnis zur Zeit zurückwirkte. Die runde Sichel, bislang auf Saturns Rolle im ländlichen Kult und die Kastration des Uranos hin gedeutet, schien jetzt die zyklische Zeit zu versinnbildlichen. Daß Kronos seine Kinder verschlungen hatte, mochte nun auf den zerstörerischen Zahn der Zeit deuten, die vernichtet, was sie selbst hervorgebracht hat.62 Neue Aspekte fugte die Identifikation des Saturn mit dem äußersten, kältesten und langsamsten Planeten hinzu. Mit ihm verbanden sich nicht nur Melancholie und Unglücksfalle, die ganze Gestalt wies auf Alter, Armut und Tod hin. Seine Kinder, die unter seinem Sternzeichen Geborenen, glaubte man unter Bettlern und Kriminellen, Krüppeln und Galeerensträflingen, im pikaresken Milieu also, suchen zu müssen.63 In den Kindern des Saturn, die durch ihre Misere zum schelmischen Überlebenskampf gezwungen werden, schlägt die melancholische Lethargie der Saturngestalt wieder um in rastlose Aktivität. Die saturnische Todesdrohung hat ihre Kehrseite im Versuch der Frühen Neuzeit, sich gegen die Unaufhaltsamkeit des Verfalls zu stemmen und sich in unternehmerischer Aktivität gegen den Verlust des Lebens zu versichern.64 In der Gestalt des greisen Simo wird die ganze ikonographische Widersprüchlichkeit der Saturngestalt manifest. Sein rasches, zielstrebiges Handeln korrespondiert mit den Personifikationen der Zeit, die geflügelt dargestellt keit und Verzweiflung, Chaos und Grauen. Vgl. HAECKER, Vergil, Vater des Abendlands, 42. Eine solche Geschichtsdeutung ist nur zu halten, wenn sie sich jeglicher historischer Konkretion verweigert, ohne weder mit der Philologie noch mit der Ökonomie näher sich einzulassen. Die allegorisierende Zurichtung der Geschichte dient dem Ineinanderwirken von Ausbeutung und Mission, das sich unter der Oberfläche eines wohlfeilen Humanismus nur unfreiwillig preisgibt. Vgl. BENJAMIN, "Privilegiertes Denken" 472. Vgl. PANOFSKY, "Vater Chronos" 111/112. Vgl. PANOFSKY, "Vater Chronos" 112/113. Vgl. KLIBANSKY, PANOFSKY, SAXL, Saturn und Melancholie zur Verschmelzung von Gottheit und Planet 214-245 und zum Planetenkinderbild 303-306. Zur gegenseitigen Bezogenheit von Trauer und Unruhe in der neoplatonischen Spekulation der Frühen Neuzeit über Saturn vgl. BÖHME, Albrecht Dürer, Melencolia I, 64.
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werden. Ein Blick zurück auf das geistliche Emblem der Zeit bei IOANNES DAVID findet aber dort bereits die Kombination dieser Attribute mit der zur Sense gewordenen Sichel des Saturn vor. (Siehe Abbildung 24.) Diese Sense ist Hinweis auf die Fruchtbarkeit der Zeit, ohne die nichts geschaffen ist, und zugleich auf den Tod, der ja als Sensenmann auftritt. Die Sanduhr, die Tempus bei DAVID in der Hand hat, deutet auf das Verrinnen der Zeit, wodurch auch hier zugleich die unwiederbringlichen Chancen der Lebenszeit und ihre Endlichkeit in den Blick kommen. Einen entscheidenden Schritt auf die Gestalt Simos hin bedeutet die Darstellung der saturnischen Zeit mit einer modernen Pendeluhr, wie sie auf einem englischen Holzschnitt von 1509 erscheint.
Abbildung 31 : Personifikation der Zeit mit Pendeluhr. Holzschnitt aus Stephen Hawes, The Pastime of Pleasure, London 1509. Reproduziert nach PANOFSKY, Studien zur Ikonologie, Abb. 51.
Hier kommt der Versuch in den Blick, die Zeit homogen und handhabbar zu machen und sie auf diesem Wege zu beherrschen. Damit aber wird die Erfahrung der Endlichkeit geleugnet, die im Bilde des Saturn mit dem unverfug-
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baren Eigenwert des Lebens korrespondiert. Saturn wird zur Gestalt, die durch den Versuch der Naturbeherrschung von der eigenen Lebenserfahrung abgeschnitten wird. Dieser Aspekt gewinnt bei Simo durch sein strategisches Vorgehen an Bedeutung, durch seine methodische Kriegsführung, in der sich zeitgenössische Festungsgeometrie spiegelt. Saturn als Geometer wird zum Inbegriff einer Naturbeherrschung, der ihr Gegenstand abhandenzukommen droht, weswegen ihr fruchtloses Bemühen in Melancholie endet. Das ist nirgends eindringlicher gestaltet worden als auf ALBRECHT DÜRERS Stich Melencolia I, der die saturnische, geflügelte Melancholiegestalt mit einem Zirkel in der Hand unter zwei Uhren sitzend zeigt. Ihr Gegenstück hat diese technische Natuibeherrschung in der ökonomischen, wie sie bereits auf der niederländischen Melancholiedarstellung von MARTEN DE V O S im Bilde des alten Mannes mit Geldsack und Schmuckstücken erschien. (Siehe Abbildung 29.) Dieses Melancholikermotiv verbindet den Typus des geldzählenden Saturn mit dem reichen Simo. Simo ist nicht Saturn schlechthin, sondern verkörpert den Menschen, der sich des saturnischen Potentials zu Herrschaftszwecken bedienen will. Das erklärt, warum DÜRERS Simo der Saturngestalt angeähnelt ist und sich doch von ihren mythischen Hintergründen entfernt hat. In Simo findet sich beides verkörpert, zunächst die rastlose Aktivität des saturnischen Menschen, der der verstreichenden Lebenszeit nachjagt, und später die Lethargie des Greises, der vor der Unveränderlichkeit kapituliert. Die ambivalente Gestalt des Kronos/Chronos hat einerseits als Herrscher des goldenen Zeitalters eine - in DÜRERS Text durch Simos Reichtum ironisch ins Spiel gebrachte positiv-nostalgische Komponente, während er als melancholischer, kinderverschlingender Greis zugleich an die Macht des Todes gemahnt.65 Diese Dialektik des Saturn, der in seiner Treue zur Dingwelt immer auch zugleich an die tote Materie gekettet ist, erfahrt in der Gestalt des Simo eine historischgesellschaftliche Konkretisierung.66 Im frühneuzeitlichen Saturn erkennt sich ein Zeitalter wieder, das mit dem Projekt der Kontrolle über die sinnlich erfahrbare Welt bereits ihre Zerstörung mit herbeizuführen im Begriff ist. Simo als Verkörperung dieses Kontrollversuchs, der sich gegen sein eigenes Alter auflehnt, indem er sich mit der Jugend vermählt, benutzt keine Sanduhr, die sich als Emblem der verstreichenden Zeit ikonographisch mit Saturn verbindet, sondern eine Räderuhr, Inbegriff der Kontrolle und der Wiederholbarkeit von Abläufen. Die frühneuzeitliche Aneignung der Saturngestalt ist mit der Auflehnung gegen die Macht des Verfalls verbunden, die ihr innewohnt.
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Vgl. Vgl.
BENJAMIN, BENJAMIN,
Ursprung des deutschen Trauerspiels 129 mit Hinweis auf PANOFSKY und SAXL. Ursprung des deutschen Trauerspiels 129 und 136.
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Reproduziert nach
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Abbildung 32: Albrecht Dürer, Melencolia /. Albrecht Dürer Melencolia I. Im Labyrinth der Frankfurt am Main (Fischer Kunststück 3958) 1989.
HARTMUT BÔIIMK.
Deutung.
Exkurs: Kronos als mythologisches Modell der saturnischen Zeit
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Die Neuzeit weiß der natürlichen Dynamik des Verfalls aber nichts anderes entgegenzusetzen als die Beherrschung und somit Zerstörung der Natur, in letzter Konsequenz die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen. Denn dem neuzeitlichen saturnischen Blick erscheint die Natur immer schon vom Endpunkt des Verfalls her tot, und damit verkommt sie zum Arsenal lebloser Requisiten. Naturaneignung pendelt zwischen steriler Abstraktion und hastigem Verschlingen der Objekte hin und her. In D Ü R E R S Lauf der Welt gehen Saturn und Fortuna eine dialektische Verbindung ein, denn die versuchte Kontrolle des Unberechenbaren hat immer wieder nur Unberechenbarkeit zur Folge. Bereits auf der ersten Seite des Romans heißt es, Fortuna habe den Helden oft mit einem Saturnischen blick angefeindet,67 Die Erkenntnis, daß Saturn nicht bewahren kann, was er hervorbringt, hält indes schon der alte Mythos bereit. An Kronos/Saturn, der die eigenen Kinder unterschiedslos verschlingt, vollzieht sich die Auflösung der Unterscheidbarkeit, als er dem Machtbereich seines Sohnes ein- und untergeordnet wird. Wer seinen Lebensraum lediglich als Material für den Überlebenskampf betrachtet, fällt dem Prinzip der Vertauschbarkeit zum Opfer, das er selbst anwendet. Kein Wunder, daß E R W I N P A N O F S K Y die Darstellung des greisen Vater Chronos/ Father Time als Sensenmann der modernen Werbung für eine Bank entnehmen konnte.68
Reproduziert nach 67
"
Abbildung 33: Geldzählender Saturn 1444. Saturn und Melancholie, Abb.
KLIBANSKY/ PANOFSKY/ SAXL,
Vgl. Lauf der Welt 1. Vgl. PANOFSKY, "Vater Chronos"
109
und
111.
44.
270
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Denn die Devise Time is money bezeichnet exakt den Bereich, in dem das Prinzip der Vertauschbarkeit gilt, nämlich die beiden universell gültigen Tauschsysteme Geld und Zeit. *
Für Simo scheinen die Dinge sich zunächst ganz nach Wunsch zu entwickeln. Das Geschenk der kostbaren Uhr an die Eltern der Androfila bestärkt diese zunächst in ihrem eigen sinn, so daß sie ihrer kinder ehrliche liebe hemmen.69 Die neuen Besitzer der Uhr bedienen sich also eines Mechanismus, der wie ein Uhrwerk funktioniert, als Hemmung einer Dynamik zur Herstellung von Kontrolle und Homogenität. Getreu dem Prinzip der widerstreitenden Bewegungen betreiben sie ihre Eigeninteressen und hemmen gleichzeitig die Gegenbewegung, die Eigendynamik jugendlicher Liebe. Doch Androfila beharrt auf dem unverfugbaren Wert ihrer Eigenzeit und widersetzt sich dem Besitzanspruch Simos, der Androfila bereits als Funktion in die von ihm arrangierte Maschinerie der Eheschließung einplant: Simo [...] vermeinte nun gäntzlich den vollkommenen besitz seiner eintziggeliebten Androfila zu erhalten / in hofnung / sie würde auch / wenn sie sähe / daß es nicht anders seyn könte / ihren willen [104] mit der eitern willen vereinigen und [...] schickte derowegen aufs prächtigste sich zu der herzunahenden hochzeit. Androfila hingegen brachte ihre zeit mit lauter wehklagen zu und vergoße ihre trhänen so häuffig / daß ihre sonst schöne und lieb-reitzende äugen in wenig tagen so roht / und ihre zarte wangen / die keiner rosen wichen / so ungestalt und verfallen wurden / daß man sie nicht mehr kennen kunte.70
Die jähe Veränderung der jungen Braut, in deren verfallenden Wangen sich andeutet, wie verletzlich und vergänglich die Blüte ihrer Jugend ist, dementiert Simos Prinzip der mechanischen Arrangierbarkeit und mithin Vertauschbarkeit und Wiederholbarkeit der Zeiten. Gerade weil sie nicht mehr wiederzuerkennen ist, also mit sich selbst nicht mehr identisch scheint, weist Androfila auf ihre unvertauschbare Identität hin, die keinem Handel verfugbar ist, und sei es eine ausgehandelte Hochzeit. Da sie diese Identität aber allein nicht zu verteidigen weiß, schreibt sie an ihren Geliebten Lukrander, um [...] ihn seiner versprochenen treue erinnernde / zu vermahnen / er solte auf mittel bedacht seyn und sich euserstes fleißes bemühen / sie und sich solchem Unglücke zu entreißen / und / weil kein ander mittel verhanden / so sol er mit etlichen pferden und dienern um die zeit / so sie ihm bestimmte / sich bey ihres voters Wohnung verfügen / so wolte sie ihre beste sachen zusammen packen / und so wohl der tyranney ihrer eitern / als feindseligen liebe des Simo durch die flucht entrinnen." " Vgl. Lauf der Welt 103. ™ Lauf der Welt 104.
Unruhe und Hemmung: Eigenzeit und Kontrolle
271
Androfilas Projekt, mit dem sie ihre Identität zu wahren hoffi, hat mehrere Voraussetzungen. Zunächst einmal ist es offensichtlich nötig, sich der treue, das heißt der verläßlichen Identität des geliebten Menschen zu versichern. Das einmal gegebene Wort der versprochenen treue muß unbedingt seine Bedeutung bewahren, die Ehrlichkeit der Kommunikation darf keinen Schaden leiden, will sich die eine Person in der anderen ihrer selbst versichern.72 Darüber hinaus aber bedarf es offenbar der Anverwandlung an die Strategien der Eltern, die das familiäre Vertrauensverhältnis mißbrauchen. Simo verdreht gar alle fundamentalen Wertsetzungen, was sich im Oxymoron von der feindseligen liebe ausdrückt. Es wirkt wie eine Rückeroberung der zeitsetzenden Macht, die durch die Räderuhr versinnbildlicht wird, wenn Androfila nun ihrerseits einen Termin setzt, um sich durch Verstellung und heimliche Flucht zu entziehen. Dabei vergißt sie nicht, für die praktische Bewältigung der Zuknft in neuer Umgebung vorzusorgen, indem sie ihre beste sachen bereitlegt. Doch der Plan scheitert daran, daß die Eltern die Reaktion vorhersehen und ihrerseits der Flucht zuvorkommen. Androfila und Lukrander können bei diesem Spiel der gegenseitigen Täuschung nicht gewinnen, denn die Eltern werden vom argwöhn73 derer geleitet, deren Strategie auf die Unterwerfung anderer ausgerichtet ist und eine mögliche Täuschung von vornherein einkalkuliert. Wer nicht die Integrität des eigenen, sondern die Unterwerfung des anderen zum Ziel hat, empfindet Täuschung nicht als kommunikative Ausnahme, sondern als Regel.74 Vorteil läßt sich in diesem Spiel eher erzielen, wenn die Konzentration nicht nur der Verteidigung des eigenen, sondern auch der Eroberung des anderen gilt. Mit der Zeit der Uhr verbindet sich die Strategie des kalkulierten unternehmerischen Risikos. Die Verliererin Androfila indes sieht nach der mißglückten Flucht keinen anderen Ausweg als den Tod. Anders als in der Ideallandschaft des hohen Barockromans stellt hier die Verbindung mit dem verhaßten Menschen ein unausweichliches, reales Hindernis dar, das nur durch den Tod, das abrupte Ende der Geschichte, zu umgehen ist. In einem Abschiedsbrief an Lukrander spricht Androfila vom augenblicklig-gewünschten tod.75 Darin drückt sich die Verengung von Handlungsspielraum und Perspektive aus. Nurmehr der Tod kann als einziges authentisches Ziel ins Auge gefaßt werden, um die " 72
73 74
"
Lauf der Welt 105. Zur Semantik der Treue vgl. STEINHAGEN, Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama 105-107. Vgl. Lauf der Welt 106. Vgl. hierzu TODOROV, Die Eroberung Amerikas, dort vor allem die Abschnitte "Moctezuma und die Zeichen" (80-120) und "Cortés und die Zeichen" (121-151). Während Moctezuma in der Zeit- und Zeichenwelt des Kalenders lebt, in der sich die Zeichen automatisch und zwangsläufig aus der Welt (111) ergeben, kalkuliert Cortés die Sprache des anderen ein, um sie für seine Zwecke manipulativ zu verändern. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 107-109.
272
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
jungfrauschaft, Chiffre für die Beständigkeit und Selbstidentität der Person, in das grab zu nehmen und dort sicher zu bewahren. Für den Geliebten jedoch malt sie die Ideallandschaft ungestörten Glücks aus. Sie wünscht ihm jähre in lauter gliickseligkeit, wobei sie Fülle der Zeit mit Beständigkeit verbindet: Der Himmel wolle euch mit so viel wollust überschütten / als er euch übri[109Jge lebens-stunden vergönnen wird! Ihr mäßet gleichsam in stätem früling leben / und eure füße auf eitel bluhmen gehnl Kein unglücks-winter sey euch jemahls bewust; kein trüber wolcken-lauf behemme eurefreudef6
Während sie also dem Geliebten die utopische Insel der Seligen ausmalt, wie sie sich mit Kronos als Inbegriff von Fülle und Wachstum verbindet, sieht sie sich auf der Schattenseite des Saturn leben und sterben. Der ihr zugewiesene Bereich ist der Winter, die Kälte des Grabes und die Kürze der verbleibenden Zeit.77 Das Kompositum unglücks-winter indes verbindet die saturnische Nachtseite, die der Verliererin zugewiesen ist, mit dem Walten der Fortuna, die die Weltläufte durch geschäftlichen Erfolg und Mißerfolg bestimmt. Hinter der Naturmetaphorik, die Androfilens zerstörtes Lebensglück evoziert, sind die Mechanismen des Tauschgeschäfts erahnbar, dem sie zum Opfer fällt. Lukrander reagiert zunächst mit bestürtzung, sieht die Freundin bereits als selbst-mörderin eines schändlichen Todes sterben und sich als Mitschuldigen dazu verdammt, ihr zu folgen, da er in diesem Fall keine gute stund' auf der weit mehr zu haben glaubt.78 Doch die Erinnerung an die Qualität der Lebenszeit, die im Wort von der guten Stunde mitschwingt, mobilisiert bei Lukrander vitale Energien, so daß er beginnt, das Leben der Freundin und das gemeinsame Glück um jeden Preis zu erhalten. Als weltkind, als mensch also, der in lauter wollust sein leben geführet hatte wird er einerseits durch die bitterkeit des todes und andererseits durch die erfolgende schände vom Suizid abgeschreckt. Lukrander ist also keine reine Lichtgestalt wie etwa Prinz Balacin in der Asiatischen Banise, sondern ein diesseitsorientierter Mann, welcher zwar aus gewohnheit in die Kirchen gienge / aber sonst schlechten grund seines Christenthums gelegt hatte. Diese Orientierung auf das Hier und Jetzt ermöglicht ihm, den Kampf um Androfila als Spiel um Zeit aufzunehmen, bei dem er als der Jüngere letztlich obsiegen muß. So kalkuliert er mit der verbleibenden Lebenszeit Simos und seinem unverhältnismäßig hohen und folglich toten Kapital, das bei entsprechendem Geschick zu nutzen wäre. Er rechnet sich aus, daß [...] dieser ohne diß geschwächte greise / dem solche liebe vollends keine geringe Staffel zum grabe seyn würde/bald abdrücken / und der Androfila ein theil seines 16
Lauf der Welt 108/109.
77
Zur Kälte des Planeten Satum vgl. Klibansky, Panofsky, Saxl, Saturn und Melancholie 216 u.
"
ö. In einer Parallelisierung von Lebensaltern und Jahreszeiten entspricht Simo als Greis ohnehin dem Winter. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 110-113.
Pikaresker Realismus und Ideal der Beständigkeit
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geldes / ihm aber die Androfìla zum erbtheil hinterlaßen möchte: da hingegen / wo sie einmahl ihr vorhaben zu werke gerichtet / nach dem tode keine hojfnung mehr übrig.19
Für Lukranders unternehmerische Kalkulation reduziert sich Simos Lebenszeit auf eine Frist, nach deren Ablauf er das auf Zeit verliehene Gut samt Zinsen einzustreichen gedenkt.80 Damit ist aber auch in seinem Kalkül Androfìla zur handelbaren Ware verkommen, die er einem anderen zum zeitweiligen Gebrauch zu überlassen bereit ist. Auch Androfilens Leben wird in Lukranders Augen zu einer Quantität, an der er sich, wenn er sie denn realistischerweise nicht gänzlich gewinnen kann, seinen Anteil sichern möchte. Seine pragmatische Konzeption der Zeit widerspricht dem emphatischen utopischen Entwurf, den Androfìla in ihrem Abschiedsbrief entwickelt hat. Das volle Leben, das sie im Auge hat, fragt nicht nach Anteilen, es will alles oder nichts. Und doch hat Androfìla gezwungenermaßen den Übergang von ihrem persönlichen Lebensentwurf zum gängigen Muster der Tauschbeziehungen zu leisten, als sie sich einmal darauf eingelassen hat, ihr Leben nicht selbst zu beenden. Sie hat das Verfließen der Zeit und den verfugten Hochzeitstermin hinzunehmen, doch gelingt es ihr wenigstens, das Mißverhältnis zwischen der materiellen pracht der Hochzeit und der desto geringem Freude deutlich werden zu lassen.81 Ihr Widerstand ist zunächst so offenkundig, daß Androfìla sich so ungebendig stelte / als man sie ins brautbett legen wolte / als wenn sie jetzund lebendig solte ins grab verscharret werden. Doch dann läßt sie sich auf den Handel ein und erlernt seine Spielregeln, so daß Simo ihre Zuwendung theuer genug bezahlen und durch vielfältiges spendieren erkaufen muste. Die Verkehrsformen des handeltreibenden Bürgertums entlarven sich als subtile Form der Prostitution, die vor keiner noch so leidenschaftlich verteidigten Integrität Halt macht. Deshalb läßt sich der Widerstand der Beständigkeit gegen die Realität einer allesverschlingenden Erwerbstätigkeit nicht aufrechterhalten. Erzählung trägt diesen Widerstreit jedoch nicht allein auf der Ebene der Figuren aus. Den konkurrierenden Zeitkonzeptionen und Lebensentwürfen entspricht die Aneignung verschiedener poetologischer Muster durch den Text. Dies wird immer da besonders deutlich, wo D Ü R E R sich einer Vorlage bedient und sie spezifisch verändert. Die burleske Szene, mit der Simo von Lukrander zum ersten Mal getäuscht wird, gestaltet er nach dem Vorbild DÜRERS
" Lauf der Welt 112. ™ Die Verdeutschung des sprechenden Namens Lukrander mit der Reiche, Gewinnsüchtige bei UNSICKER (270) verwischt die Nuancen etwas. Lat. lucrum heißt 'Vorteil', 'Gewinn', und lucrari 'einen Gewinn erzielen'. Lukrander wird also dadurch charakterisiert, daß er aus einer bestimmten Situation pragmatisch einen Vorteil ziehen möchte. Das muß nicht heißen, daß Reichtum und Gewinn seinen einzigen Lebensinhalt bilden. " Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 113-115.
274
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
einer Szene aus den ersten G«z/ná«-Episoden bei ALEMÁN und ALBERTINUS. 82 In der Geschichte, die Guzmán über seine Eltern erzählt, ist das Geschehen von vornherein auf einer schiefen, pikaresken Ebene angesiedelt. Guzmáns Mutter ist die Maitresse eines älteren Mannes, das Verhältnis hat hier also offenkundig die Züge, die bei Simo und Androfila unter dem Schein der bürgerlichen Ehe verdeckt sind. Als sie Guzmáns Vater kennenlernt, ersinnt dieser einen Plan zu einem Treffen, das von dem reichen Greis unbemerkt bleiben soll. Guzmáns Mutter nutzt die schöne Sommerzeit zu einem Ausflug in die Nähe des Gutes Alfarache, wo Guzmáns Vater wohnt. Sie täuscht eine Übelkeit vor, läßt sich auf dem Gut aufnehmen und vergnügt sich mit ihrem neuen Liebhaber, während der gehörnte Alte durch den Garten spaziert. In DÜRERS Adaption konzentriert sich die Handlung auf Lukrander, der ohne Wissen Androfilens die alleinige Initiative hat. Lukrander verkleidet sich in weibes-kleidern und täuscht unweit von des Simo hof einen Unfall mit seiner kutsche vor. Selbst der mißtrauische Simo sieht sich zur Hilfe für die vorgeblich Schwangere veranlaßt, zumal das wetter ausgesprochen winterisch ist und es den gantzen tag stark gefrohren hat,-eine Änderung gegenüber der Vorlage, die den Einfluß des Saturn als Planet der Kälte unterstreicht. Es gelingt Lukrander, nicht nur Simo, sondern auch Androfila zu täuschen, so daß er sie von seiner Identität überzeugen muß. Diese Irritation ist mehr als ein erzählererisches Überraschungsmoment. Denn Lukranders list richtet nicht nur gegen Simos Vorsichtsmaßnahmen, die ihn des Besitzes an Androfila versichern sollen. Wenn Lukrander der gegenwart Androfilens etliche stunden einmnhl wieder genießen möchte, heißt das, daß er sich einen Vorschuß auf das erhofft, worauf er nach Simos Tod ohnehin spekuliert. Doch Androfila ist durch die Ehe mit Simo noch nicht so weit, daß sie den Partnerwechsel als Normalität hinnehmen will. Sie bittet Lukrander, der zeit zu erwarten, und erklärt ihm deutlich, daß sie seine eh-frau und ehrliches gemahl / nicht aber seine Hure zu werden gedächte. Wenn Androfila betont, sie wolle dem Lukrander ihre liebe [...] beständig biß in ihr grab [...] vorbehalten, appelliert sie noch einmal an ihren Anspruch auf Integrität, der durch die Ehe mit Simo bereits beschädigt ist. Wenn beständige Liebe in der Treue zum geliebten anderen sich ihrer selbst versichert, führt die Treue zum Ungeliebten die Beständigkeit ad absurdum83 c
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 1 1 5 - 1 2 9 . Siehe zum Vergleich MATEO ALEMÁN, "Das Leben des Guzmán von Alfarache", deutsch von RAINER SPECHT: Spanische Schelmenromane, hg. von HORST BAADER, BAND 1, MÖNCHEN (HANSER) 1 9 6 4 , BUCH I, KAPITEL 2 , 9 6 - 1 0 3 ; MATEO ALEMÁN,
Guzmán de Alfarache I, ed.
°
Madrid (Catedra) 2 1 9 9 2 , Primera parte, I, 2 , Der Landstörtzer Gusmann von Alfarche (1615), Hildesheim/
JOSÉ MARÍA MICÓ,
1 4 3 - 1 5 1 ; AEGIDIUS ALBERTINUS,
New York (Olms) 1 9 7 5 , 1 , 2 , 1 2 - 1 8 . Der Widerspruch, in dem Androfila zu leben hat, äußert sich am Ende auch in ihrem Namen. Deshalb genügt es nicht, mit UNSICKER, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein 2 7 0 , den sprechenden Namen Androfila mit Männerfreundin zu verdeutschen. Die griechische Vorsilbe andrò- kann sich auf das Verhältnis zu Menschen allgemein, Männern im besonderen oder aber
Pikaresker Realismus und Ideal der
Beständigkeit
275
Die pikareske Episode wird hier mit dem Diskurs des idealen Barockromans konfrontiert, wodurch beide Literatursysteme in ein Verhältnis gegenseitiger Kritik zueinander treten, weil die Realität die Scheinhaftigkeit des Ideals entlarvt, während das Ideal zum utopischen Gegenentwurf der Realität wird. Wenn JÜRGEN MAYER diese Konfrontation unter die von ihm konstatierten Mischformen barocker Erzählkunst zwischen pikareskem und höfisch-historischem Roman rechnet, dann schafft er eine neue, dritte Gattung, deren Aussagekraft gering bleibt.84 KARIN UNSICKER hingegen sieht die drei Hauptformen des Barockromans, Schelmen-, Schäfer- und Idealroman offenbar unvermittelt in DÜRERS Werk vertreten.85 Es wäre demgegenüber zu zeigen, daß Dü RERs Roman, auch da, wo er die Beständigkeit als Element des idealen Diskurses anzitiert, ganz Schelmenroman bleibt. Gerade hier zeigt Dürers Lauf der Welt nämlich, daß Beständigkeit in einer Welt scheitern muß, die für die Liebenden keine begrenzten und überwindbaren Hindernisse aufrichtet, sondern sie in ausweglose Situationen führt. Damit wird die Welt der begrenzten, nur scheinbaren Hindernisse im heroischen Barockroman als ideologisch entlarvt, weil die dort verherrlichte Beständigkeit auf offenkundig unwirklichen Voraussetzungen beruht. Dagegen erhält Androfilens verzweifelter Versuch, am Ideal der Beständigkeit und damit an ihrer Integrität und Identität festzuhalten, eine utopische Qualität, mit der der Schelmenroman seinen immanenten Horizont überschreitet und von außen kritisch erfaßt. Das Ideal der Beständigkeit kommt erst wirklich zu sich, wo es aus dem Schein des barocken Idealromans entlassen ist, weil Beständigkeit und Schein sich gegenseitig ausschließen. Denn Beständigkeit ist ja der Gegensatz zur Wandelbarkeit, die im Idealroman aber eben nur scheinhaft überwunden wird. Während der Idealroman in der Logik des Scheins befangen bleibt, die er vorgeblich beim ganz speziellen Sinn auf den eigenen Gatten beziehen. So bezeichnen die androtycheîs bíotoi das 'eheliche Leben'. Das Beständigkeitsideal der Androfila möchte Menschen- und Lebensliebe ganz speziell im Verhältnis zu einem einzigen Mann, nämlich Lukrander, verwirklichen. Zur Ehe mit Simo gezwungen, fühlt sie sich bis zu einem gewissen Punkt an diese Ehe loyal gebunden, erlebt aber zugleich die Entfremdung von ihrem Ideal, weil sie diesen Gatten nicht lieben kann. Der Versuch, in der Treue zu einem anderen Menschen sich selbst treu zu bleiben, muß in diesem Zwangsverhältnis scheitern. Vgl. Lauf der Welt 135: Sie hatte bishehr ihre ehr so hoch gehalten / daß sie auch den alten verhasten kerl treu geblieben war /und hingegen dem jenigen ungebürliche liebe abgeschlagen hatte / welchen sie so sehr als sich selber liebte: [...]. Diese unausweichliche Entfremdung von sich selbst, von der Übereinstimmung mit dem in ihrem Namen zum Ausdruck Kommenden, läßt es in sein Gegenteil umschlagen. Sie wird zur Gattenmörderin (griechisch androktònos) und zur 'Märinerfreundin', die nichts anbrennen läßt. Weil Menschen nur als besondere geliebt werden können, untergräbt das Gesetz der Vertauschbarkeit jede Form von Menschenliebe. Der Zwang zur ungeliebten Ehe macht Androfila zu ihrem Gegenteil, zur Misanthropin. 14
"
Vgl. MAYER, Mischformen barocker Erzählkunst 36-42. Zur Kritik an MAYER vgl. UNSICKER, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein dort 2 6 5 . Einen Unterschied zum höfischen Roman sieht sie vor allem darin, daß die Figuren in Lauf der Welt sämtlich moralisch negativ bewertet wQrden ( 2 6 6 ) . Anscheinend ist also fur sie wie für mich, wenn auch mit anderen Argumenten, DÜRERS Lauf der Welt vor allem ein Schelmenroman.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
kämpft, gelingt es dem Zitat des Idealen im Pikaresken, den scheinhafte Ideal zur Realität hin zu durchbrechen und gleichzeitig die Realität vom Ideal her zu kritisieren. Das kommt auch da zum Ausdruck, wo Androfila sich ein älteres literarisches Modell aneignet, die Umformung des Mythos in VERGILS Epos nämlich. Die Wiedererkennung des verkleideten Lukrander, die sie gleichwohl an seiner verläßlichen Identität zweifeln läßt, ist nicht nur von schrecken und freuden begleitet. Vielmehr drückt sich der innere Widerstreit auch darin aus, daß Androfila zugleich ganz bei sich und ganz außer sich ist, indem sie sich mit der Di do in VERGILS A eneis identifiziert. So tritt sie ihrem Bekannten mit den befremdlichen Worten gegenüber: Qvis novus en! nostris successit sedibus hospes! Sieh! welch ein frembder gast kömmt an in unsre grentzen Is6
Didos und Androfilas Worte sind nicht allein Äußerung des Befremdens, der Text des Tychander-Romans bedient sich vielmehr des Zitats zu Verfremdungszwecken. Dabei wählt er nicht irgendeinen unbedeutenden Text als Grundlage für sein Zitat. VERGILS A eneis ordnet persönliche Schicksale einem geschichtsmächtigen Fatum unter und wird damit zum Modell für den Idealroman des Barock, der die Zeitform der Gelegenheit und ihr Zufallsprinzip (Fortuna/Occasio) einer göttlichen Vorsehung (Fatum) unterwirft und damit eine scheinhafte Lösung von Interessenkonflikten herbeiführt. VERGILS Aeneis bildet den Bezugstext eines Literatursystems, das die herrschenden Strukturen im Medium des Idealromans bestätigt, doch auch die Kritik an ihnen durch Travestien und Parodien dieses Erzählmusters zum Ausdruck bringt.87 Die Regelpoetik des französischen Idealromans beruft sich auf die Aeneis, während VERGIL-Travestien das heroische Ideal an den Realitäten des Lebens messen. Diese Travestie des Alltäglichen ins heroische Kostüm geht - zumindest in Frankreich - dem komisch-realistischen Roman voraus.88 Die OppoK
17
"
Lauf der Welt 1 2 1 . Vgl. VERGIL, KENELS, Gesang IV, v. 1 0 . In MYNORS Text steht statt des Ausrufes en! das lokale hic: quis nouus hic nostris successit sedibus hospes. DÜRERS en! betont die Befremdung der Frau. Zur Aeneis als Modell des Idealromans vgl. MEID, "Vergils Aeneis als Barockroman" und MEID, Der deutsche Barockroman 39. Die bedeutendste ^ene/i-Travestie stammt von PAUL SCARRON, Le Virgile travesti , ed. de JEAN SERROY, Paris (Garnier) 1988. Vgl. hierzu FRITZ GÖRSCHEN, Die Vergiltravestien in Frankreich, Phil. diss. Leipzig, Dresden (Dittert) 1937; H. GAS- TON HALL, "Scarron and the travesty of Virgil": Yale French Studies 38 (1967) 115-127; JÜRGEN VON STACKELBERG, "Vergil, Lalli, Scarron - Ein Ausschnitt aus der Geschichte der Parodie": Arcadia 17 (1982) 225-244; GÉRARD GENETTE, "Burleske Travestie": Palimpseste 79-89; JEAN SERROY, "Introduction générale": SCARRON, Le Virgile travesti 1-23. Vgl. SERROY, "Introduction générale" 14, zu VERGILS Rolle in den Vorreden der französischen Idealromane. Siehe auch dort 1 und 10 zum Gestus der Inversion, der die Vergil-Travestie genauso kennzeichnet wie den pikaresken Roman. Zur Identifikation mit den Opfern der Geschichte, die in einen Fluch gegen Fortuna und Destin (Fatum) mündet, siehe dort 21. SERROY stellt auch eine Parallele zwischen SCARRONS Aeneas-Gestalt und der Figur des Destin (!) in SCARRONS RO-
Vergiltravestie: Fatum und further
voices
277
sition von Travestie und Satire gegen die herrschende Schicksalssemantik ist auf die Formel rire contre le destin ('Lachen gegen das Schicksal') gebracht worden.89 Die Geburt des komisch-realistischen Romans aus dem Geiste der VERGIL-Travestie stellt ein Modell für die Aneignung des Idealen durch das Pikareske in DÜRERS Lauf der Welt dar.90 Androfila schlüpft in die Rolle der Dido, um mit dieser Travestie die betrügerische Maskerade des Lukrander zu entlarven. Auf der Ebene der Erzählung wird das VERGIL-Zitat bei DÜRER zur Minimalparodie des idealisierenden Diskurses, der sich VERGILS Aeneis zum Modell erwählt hat. Mit dieser Verftemdungstechnik macht das Zitat in Dü RERs Lauf der Welt die Unterwerfung des Widerständigen und Fremden rückgängig, die VERGILS Aeneis an Dido vollzogen hat. Denn das Befremden, das Androfila durch die fremden Worte der fremden Frau in einer fremden Sprache ausdrückt, ist bereits Thema in dem von ihr zitierten Text. Bei VERGIL gibt die Königin Dido mit diesen Worten ihrer Irritation über die Ankunft des Aeneas Ausdruck, in den sie sich sofort verliebt. Dabei wird sie hin- und hergerissen zwischen der Treue, die sie ihrem toten Gatten schuldig zu sein glaubt, und der Illusion einer Verbindung mit dem Fremden, der mit seinen Schiffen an ihre Küste gelangte. Dido verkennt das von Jupiter (Zeus) festgelegte Geschick, das Fatum, das der Mobilität des Seefahrers Aeneas bereits von vornherein ein Ziel vorgegeben hat: Latium und die Gründung Roms. Sie ahnt nicht, daß die grentzen ihres Festlandes ihn nicht beständig bei ihr halten werden, daß er vielmehr seiner Unternehmung folgend sogar unter winterlichen Sternen seine Abfahrt und die Rüstung der Flotte betreiben wird und sich beeilt, mitten in Winterstürmen die hohe See zu befahren.91 Die Aeneis unterwirft die Treue zwischen Mann und Frau einem höheren, in Jupiter verkörperten Gesetz, dem der Mann auch dann zu folgen hat, wenn er die Ordnungen der anderen Götter verletzt. Die Befahrung der winterlichen See stellt immerhin eine Provokation des Neptun (Poseidon) dar.92 Diese Widersprüche sind bei VERGIL aufgehoben im Gesetz mant comique her. Der komisch-realistische Roman erscheint als Kontrafaktur der Aeneis. Auf den Romani comique und die nach ihm benannte Romanform werde ich im BEER-Kapitel näher eingehen. So der Titel einer Arbeit von J . JÉRAMEC von 1 9 2 9 , zitiert im Literaturverzeichnis bei PAUL SCARRON, Die Komödianten, Ein komischer Roman, deutsch von HELGA COENEN, Stuttgart (Reclam Universal-Bibliothek 7 9 9 9 ) 1 9 8 3 , 3 7 3 . Zur Geburt des Realismus aus dem Geiste der Parodie vgl. VON STACKELBERG. "Vergil, Lalli, Scarron - Ein Ausschnitt aus der Geschichte der Parodie" 239. MICHAIL M. BACHTIN sieht im Genre-Kritizismus, in der Neigung zur (Selbst-)Parodie einen unterscheidenden Wesenszug des Romans im Vergleich zum Epos. Vgl. MICHAIL M. BACHTIN, "Epos und Roman, Zur Methodologie der Romanforschung": Formen der Zeit im Roman 210-251, hier 213. Vgl. VERGIL, Aeneis, Gesang IV, w . 309/310. Vgl. AUSTIN, Aeneidos Liber Quartus 1 0 0 z. St.: Aeneas is in haste to get away at all costs, even when no sensible man would sail. Eine Einstellung, die sich bis zum Beginn der Neuzeit nicht wesentlich geändert hat, wie die oben erwähnten Bedenken JOHANN SCHULTES gegen den winterlichen Seeverkehr zeigen.
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der Hierarchie, die für künstliche Plausibilität sorgt. Während der Mann dem Gesetz des Höchsten, des Himmelsgottes, zu folgen hat, wird die Frau zurückgeworfen auf ihre Treue zu einem Toten im Erdreich, der ihre Liebe [...] behalten und im Grabe bewahren soll.93 Eine barocke Bearbeitung des Stoffes geht noch einen Schritt weiter. Im Trauerspil Von der Dido9* wird die unglückliche Königin zur Gefährdung der Ausfahrt des Aeneas und seiner Gefährten. Während dieser aller sorgen los in Erwartung der Abfahrt auf freiem Schiffesboden ausruht, ist sie nur auf Schad' und Tod bedacht.9* Der Konflikt wird nicht nur zugunsten des Aeneas entschieden, es wird der Frau auch die Verantwortung für die Unverläßlichkeit des Handelns und der Zeiten aufgebürdet. Die Frau erscheint als Personifikation einer Handlungszeit, für die das Heute und das Morgen an verschiedene, nicht miteinander verknüpfbare Vorgänge gekoppelt ist. Konsequentes Handeln, Entsprechung der linearen Zeit, ist von der Frau nicht zu erwarten. Aeneas wird aufgefordert: Wolan so eile driim / es ist kein Weib geboren Das sonder wandet sei / was Heute bei jr ist Gült Morgen schon nit mer / wilrd anders was erkist
Dido, in VERGILS Aeneis bereits Opfer eines zu exekutierenden Planes, wird nun noch einmal zugunsten der Herstellung einer widerspruchsfreien Plausibilität geopfert. Indem ihr die Verantwortung für die Antinomien des Geschehens aufgebürdet wird, sind den Taten des Mannes keine Grenzen mehr gesetzt. Von aller Last befreit und aller sorgen los, kann der Held nun in See stechen. Das nautische Unternehmen ist von jedem moralischen Zweifel befreit, die Mannschaft kann unverweilt die Sägel aufwärt zühn. Got selbst gebeut es so / das in geswinder eil Si wäder strank noch strik noch Anker da verweil.97 93
94
93
*
Vgl. VEROIL, Aeneis, Gesang IV, w . 28/29.Die Komposition des Epos legt nahe, Didos Verhältnis zu Aeneas als Treuebruch an ihrem toten Gatten zu betrachten und durch diese Schuld der Dido ihren Untergang motiviert zu sehen. Vgl. HEINZE, Virgils epische Technik 125. Eine göttliche Ordnung legt den Mann Aeneas auf Jupiter, das überlegene Prinzip des Handelns, und die Frau Dido auf Saturn, das unterlegene Prinzip des Leidens, fest. V g l . < D A N I E L SYMONIS>, Trauerspil Von der Dido/ Aus dem TV. Buch von Aeneas. Im Anhang von: Der Frygier Aeneas Wi Er Nach Smärzentsündlichem Abläben seiner ädlen Kreusen/ entslagung der trübsäligen Dido / mit der huldreichen Lavinie besäliget / izzo bey der Libsäligsten Deutschinne / in beruheter annämligkeit befridet worden. Stargard o.J. Benutztes Exemplar: Yale Library. Microfilm der Sammlung Faber du Faur Nr 834. Zu der VERGILBearbeitung von SYMONIS vgl. MEID, "Vergils Aeneis als Barockroman". MEID sieht in SYMONIS' Bearbeitung den Versuch, das antike 'Heldengedicht' dem modernen Roman anzupassen (160). Eine Lektüre des Frygier Aeneas erweist aber, daß abgesehen von der Medias-in-res-Technik des Anfangs eine recht getreue Obersetzung vorliegt. Offenbar mußte nicht viel verändert werden, um die Aeneis barockem Zeitgeschmack anzunähern. Der Anhang jedoch, den FABER DU FAUR z.St. fur eine Singspielvorlage hält, bringt, wie oben gezeigt, eine Radikalisierung der vorhandenen Tendenz Vgl. Trauerspil Von der Dido b iij . Trauerspil Von der Dido . Vgl. M A X HORKHEIMER / THEODOR W . ADORNO, Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main (Fischer Tb. Wissenschaft 7404) 1988, 9-24, 38-41 und "Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung" 50-87. SCHEITER, Das römische Epos 4 2 , beschreibt die Vergeblichkeit der Kulthandlungen, mit denen Dido Klarheit Ober ihre Zukunft erlangen will, als kompositorische Andeutung ihrer Opferrolle: Dido, zuvor als Opfernde dargestellt, erscheint Jetzt selbst in der Rolle eines Opfers. Vor allem das Hindinnengleichnis macht dies deutlich. [...] Es hat zugleich vorausweisende Funktion, indem es den tragischen Untergang Didos [...] vorwegnimmt. Gerade durch dieses Gleichnis wird die Einstellung des Lesers zu Dido fixiert: Er wird sie als edles und unglückliches Opfer begreifen, das seme Anteilnahme verdient. Vgl. VERGIL, Aeneis, Gesang I V , v. 372.
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Appells an Treue und Dankbarkeit zu dem kritischen Potential, das immer schon darin verborgen lag. Androfila sieht sich wie Dido auf eine Beziehung zum Tod zurückgeworfen, wenn auch auf andere Weise. Während Dido ihre Treue zum verstorbenen Gatten und ihre Liebe zu Aeneas, der ihr Gatte hätte werden können, durch den Freitod vollendet, steht Androfila in Erwartung des instehenden todes, der sie von Simo und für Lukrander frei machen soll. Simos saturnische Todesnähe drückt sich in seiner Beziehung zu toten Dingen aus, da er nach alter leute manier denen güldnen Venusbildern sich gewogner erzeigte als denen lebendigen.101 Seine erkaltete Neigung zu Androfila schließt jedoch nicht aus, daß er auch das erbeutete Lebendige mit krankhafter Eifersucht festhält. Nicht nur, daß er ihr ein vorzeitiges Grab bereitet, indem er Androfila wie eine Nonne einsperrt, er nimmt auch ihre harmlose Freundlichkeit und Höflichkeit zu einem jungen Gast zum Anlaß, sie zu mißhandeln, bis sie halb tod ist.102 Bis zu diesem Punkt scheint die Rollenverteilung klar zu sein. Der saturnische Simo hat sich den Herrschaftsanspruch zu eigen gemacht, den die Unterordnung des Saturn unter Jupiter bei VERGIL versinnbildlichte. Das Erfolgsprinzip der instrumentellen Naturbeherrschung, wie es in der Instanz des Fatum zum Ausdruck kommt, hat sich gegen das Beharren auf Eigenzeit und Eigenwert durchgesetzt. Doch schlägt am Schluß der Geschichte um Androfila, Simo und Lukrander der Erfolg in Mißerfolg um. Denn anstatt durch die versuchte Unterwerfung gebrochen zu werden, sieht sich Androfilens vitale Energie vielmehr erst wirklich geweckt. Simo hat eine Dynamik entfesselt, die er nicht kennt und deshalb nicht beherrschen kann. Androfilens gekränktes Selbstgefühl äußert sich nun als Eigensinn, als Sinnen auf Rache: Kein thieger ist so ergrimmt / dem seine jungen genommen sind / als ein weib / das sich einmahl vom zorn und rachgier hat einnehmen lassen: viel sichrer ists bey reissenden thieren zu seyn als bey einem solchen weibe.103
Androfila wird initiativ und nimmt Simos Suche nach einem neuen gärtner zur gelegenheit, Lukrander in Simos Haushalt einzuschmuggeln und sich, unbemerkt von ihrem eifersüchtigen Bewacher, mit dem Liebhaber im Garten zu vergnügen.104 In der Gestalt des verkleideten Gärtners Lukrander ist der von Simo verdrängte Aspekt des Kronos zurückgekehrt, das natürliche Wachstum und die Eigendynamik jedes einzelnen Lebens, das sich dem Versuch seiner Unterwerfung und Kontrolle entzieht. Lukranders Tätigkeit in Simos Garten 101 102 103 104
Vgl. Lauf der Welt 130. Vgl. Lauf der Welt 133. Lauf der Weh 136. Vgl. Lauf der Welt 137.
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bringt denn auch Frucht, und Androfila wird schwanger. Der neue Erbe bringt den Neid der älteren Kinder Simos und den Argwohn des Alten auf den Plan, es kommt zu neuen Mißhandlungen. An diesem Punkt ist auch Androfila so weit, ihre Chancen zu berechnen und ihr eigenes Leben gegen das des Simo kalkulierend abzuwägen. Dieweil denn Androfìla sähe / daß sie so lange er lebte / wenig gute tage haben würde / beschloß sie bey sich ihm durch andre mittel zu begegnen / und böses mit viel ärgerm zu vertreiben / in dem sie ihr vornahm ihn gar mit einander aus dem wegezu räumen.m Androfila bedient sich der pikaresken Zeitform und Strategie, die auch ihr Sohn Tychander erlernen wird. Sie ergreift die gelegenheit, die in Simos gewohnheit zu einem kleinen räuschen liegt, erstickt den Mann im Bett und flößt ihm etwas Alkohol ein. Occasio, die Gelegenheit, rächt sich am Herrschaftsanspruch der saturnischen Zeit. Dies gelingt zunächst, weil Androfila alle Schliche einsetzt, um die Gelegenheit auszunutzen. Sie folgt der Haltetden-Dieb-Taktik, schreit zeter und mordio, so daß kein Verdacht auf sie fallt. Doch rächt sich die Zeit auf die Dauer an Androfila. Die Umwelt findet sie in so kurtzer zeit verändert, daß sie das übliche Witwenjahr nicht beachtet, sondern nach kaum verfloßnem viertel-jahr den Lukrander heiratet.106 Androfila ftihlt sich an gesellschaftliche Regeln und Zeitformen nicht mehr gebunden, da sie diese Regulative nur als Mittel zu ihrer Unterwerfung kennengelernt hat. Androfila und Lukrander verbringen ihr restliches leben in eitel Üppigkeit und wollust, als Zerrbild der utopischen Insel der Seligen, die eine Hälfte des ambivalenten mythischen Weltbildes ausmacht. In ihnen hat sich Kronos an der Verdrängung der ambivalenten Aspekte der Realität gerächt. Gleichzeitig fallen sie aber einer neuen Täuschung anheim, da sie in Simo den tödlichen Aspekt des Saturn überwunden zu haben glauben. Androfila erleidet am Schluß die Exekution, die sie an Simo vollzogen hat. Indem der Tod sie einholt, zeigt er, daß er nicht zu töten ist. Die Zeit bringt die Wahrheit an den Tag. Dieser Erkenntnisfunktion der Zeit verhilft das Erzählen zu ihrem Recht. Sukzessive entlarvt die Geschichte von Androfila und Lukrander jene Formen der Naturbeherrschung, die in der Frühen Neuzeit entwickelt wurden. Die Komplexität des Geschehens entzieht sich jedem Versuch, es in das Koordinatenkreuz künstlicher Eindeutigkeit zu zwingen. Im Extrem verdeutlicht dies die Folter, die sich als völlig untauglich erwies, die Wahrheit über Tychanders Eltern ans Licht zu bringen. Die Natur verstummt auf der Folter. Die auf ihr erzwungenen Aussagen sind künstliche Konstruktionen wie die Zeit der Räderuhr, die von der konkreten Lebenszeit abstrahiert. Zwar verhelfen derlei Instrumente ihren Benutzern zur Herrschaft über das unterworfene 105 1M
Lauf der Welt 145. Vgl. Lauf der Welt 149.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Fremde.107 Als unberechenbares und todbringendes aber rächt dieses Fremde seine Verdrängung. Im Verlauf der Handlung setzt Simo ökonomische, juristische und technische Mittel der Naturbeherrschung ein, um Androfila unter seine Kontrolle zu bringen. Androfila hingegen beharrt erfolglos auf ihrem Eigenwert und Glücksanspruch. Doch verkehrt der Gang des Geschehens diese Ausgangspositionen in ihr Gegenteil. Als Androfila gezwungen wird, sich den Mechanismen des Tauschs zu unterwerfen, macht sie sich die offizielle Handlungsnorm zweckentfremdend zu eigen und nutzt in pikaresker Manier ihre Gelegenheit. Damit gewinnt sie Überlegenheit über Simo, der im Kampf um den Eigennutzen unterliegt und seinen Herrschaftsanspruch mit dem Leben bezahlt. Bindeglied zwischen den konträren Ausgangspositionen ist Lukrander, der sein Lebensglück von vornherein als partikulares Interesse betrachtet und mit den Mitteln der Verstellung und Übervorteilung zu erreichen sucht. DÜRERS Erzählung fuhrt diese Dialektik der Kontrolle und des Kontrollverlusts auch auf der poetologischen Ebene vor. Indem verschiedene allegorische Elemente sich gegenseitig aufheben, verliert das allegorische Moment der Erzählung an Eindeutigkeit und Plausibilität. Dem instrumentellen Gebrauch rhetorischer und allegorischer Formen bei Simo steht eine organische Bildlichkeit bei Androfila gegenüber, die ein mythisches Element gegen die instrumenteile Vernunft bewahrt und damit auf den mythischen Hintergrund der allegorischen Bildlichkeit hinweist. In der Selbstaufhebung der instrumenteilen Allegorie, die den Mythos vereindeutigen sollte, kommt die komplexe Realität des Mythos zu ihrem Recht. Vor allem in der Ambivalenz der Gestalten, in denen das Phänomen der Zeit thematisiert wird, drückt sich die Komplexität des Mythos aus. Die Instanz von Fortuna/Occasio, die den aktuellen Augenblick mit seinen Chancen und Risiken verkörpert, tritt in eine eigenartige Konstellation zum firühneuzeitlichen Saturn, in dessen Gestalt Elemente von Kronos und Chronos eingegangen sind. In dieser Personifikation des Alters kommt die Spanne des gesamten Lebens in den Blick, wobei Glücksanspruch und Todesdrohung einander wechswelseitig bedingen und doch ausschließen. Simo läßt sich als Figur verstehen, die jede Erinnerung an die ambivalenten Realitäten, die der Mythos verarbeitet, in ihrem Handeln verdrängt und in ihrem Besitzanspruch die Todesdrohung des Saturn wahr macht. Saturn wird zur Nachtseite der unberechenbaren Fortuna, die auch Tychander zeitlebens mit einem Saturnischen blick angefeindet hat.108 Die Widersprüche und Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Zeit- und Handlungsformen lassen sich innerhalb der Erzählung auch als intertextuelles Spiel verschiedener Literaturformen lesen. Ein zweiter Aspekt des Mythos, die Erzählung des mythischen Geschehens, ergänzt das ambi107
Vgl. GAEDE, Substanzverlust
108
Vgl Lauf der
Welti.
11.
Saturn als Nachtseite der Fortuna
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valente Spiel zwischen den mythischen Personifikationen der Zeit. Als historisch älteste Stufe dieses Erzählens ist in DÜRERS Lauf der Welt die Rezeption von VERGILS Aeneis nachweisbar. Der anzitierte epische Bericht ist von der mythischen Instanz des Fatum bestimmt, die das Handeln bereits von einem instrumentellen Erfolgsprinzip her motiviert. In der Unterordnung anderer 'Stimmen' und Interessen unter das Ziel der Geschichte wird einerseits eine frühe historische Form der instrumenteilen Naturbeherrschung erkennbar und anderseits die ästhetische Form des idealen Barockromans, die Motivation von hinten, vorgebildet. Der Unterwerfung unter das Fatum im Idealroman und im Trauerspiel des Barock wird in DÜRERS Lauf der Welt offenbar parodiert. Davon bleibt das utopische Moment der Beständigkeit im Idealroman unberührt, das durch das Schicksal der Androfila in einen pikaresken Kontext gebracht und dadurch mit den Realitäten konfrontiert wird. Im mythischen Element der Literatur, das eine Erinnerung an die Objektivität der Sachverhalte jenseits des Messens und Kaufens bewahrt, kommt das eigenständige Lebensrecht der historisch Unterlegenen zum Ausdruck.
Vor den Kulissen von Schauergeschichte und Schäferrroman: Tychander saniert sich am locus terribilis und ruiniert sich am locus amoenus Tychanders Eltern können dem Bannkreis des Saturnischen nicht entkommen. Das gilt auch für Tychander selbst, der die Flucht ergreifen muß, als er in den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt geraten ist und die Rache des mißhandelten blinden Bettlers zu furchten hat. So macht er sich auf dem nächsten Weg nacher Deutschland, auf vermeintlich vertrautes Terrain.1 Der Erzähler konstatiert, daß sich dem Helden dort das glück etwas gewogener zu zeigen scheint und ihn aus dem bettelstand heraus risse und in ein ehrlicher leben / wiewohl durch einen wunderlichen Zufall / versetzte. Schon die einleitenden Formulierungen der Erzählung lassen darauf schließen, daß diese literarischen Orte sowohl in der realen Topographie des zeitgenössischen Deutschland, als auch in der literarischen Welt des Wunders situiert sind. Die Chronotopoi der Erzählung, die Handlungs- und Beziehungsräume der Personen, erweisen sich bei näherem Hinsehen als literarische Topoi, als locus terribilis und locus amoenus, die in der Literatur der Zeit beinahe stereotyp, also topisch, verwendet werden.2 Doch erhebt meine Analyse gegen die Subsumierung des besonderen Falles unter eine allgemeine Typik, die normalerweise mit dem Begriff des Topos verbunden ist, Einspruch.3 Nicht die Tatsache, daß mit den Topoi des locus amoenus und des locus terribilis auf literarische und allegorische Traditionen angespielt wird, soll den Blick auf sie beherrschen, sondern der Vorgang der Aktualisierung durch das Zitat selbst. Die Chronotopoi der Erzählung sollen also nicht auf das angeblich bloß Topische, längst Bekannte, reduziert werden, die Topoi sollen vielmehr als spannungsreiche Handlungsräume das in ihnen angelegte Bedeutungspotential freisetzen.4 Hinter den Kulissen der literarischen Topoi ' '
3
4
Vgl. Lauf der Welt 165/166. Vgl. KLAUS GARBER, Der locus amoenus und der locus terribilis, Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts - Literatur und Leben N.F. 1 6 , Köln/Wien (Bühlau) 1974; HELEN WATANABE-O'KELLY, Melancholie und die melancholische Landschaft, Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts = Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 54, Bern (Francke) 1978. Zu Toposbegriff und Toposforschung vgl. WOLFGANG NEUBER, Fremde Welt im europäischen Horizont, Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit = Philologische Studien und Quellen 121, Berlin (Schmidt) 1991, 26-34. Vgl. WATANABE-O'KELLY, Melancholie und die melancholische Landschaft 13, wo im Forschungsbericht ein Beispiel traditionalistischer Topos-Forschung mit klaren Worten beschrieben wird: Man sucht sich also jedesmal das Gleichbleibende heraus und zieht dann daraus die Schlußfolgerung, daß alles gleichgeblieben ist! Zur Topologie literarischer und historischer Landschaften vgl. JAMES TURNER, The Politics of
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zeichnen sich die historischen Mechanismen ab, von denen die Dämonie des schrecklichen Ortes und die Idylle der arkadischen Landschaft gesteuert ist. Das ehrliche Leben im vertrauten Sprachgebiet, das Tychander nach seiner Trennung von dem französischen Meister-Bettler sucht, hat seine wunderlichen, dämonischen Voraussetzungen. Die Erzählung bewahrt ein Bewußtsein davon, daß dem Gelderwerb, der ein Leben in Normalität ermöglicht, eine Dämonie eignet, daß unter der Oberfläche der Normalität immer auch das Fremde, Unkontrollierbare lauert. Dies manifestiert sich in dem Ort, an dem Tychander zu Geld kommt. Zwar läßt er sich in der realen Topographie des Elsaß lokalisieren, doch wird bereits die Ankunft Tychanders an dem Platz seines Glückswechsels in eine dramatische Inszenierung eingebettet.5 Die Erzählung geht von einer raffenden Darstellung des Grenzübergangs wieder zur genaueren Schilderung eines bestimmten Tages über, an dessen Abend Tychander auf der Suche nach einer herberge ist. Ein ungestümes wetter mit wind / schnee / hagel und regen beherrscht die Szene, Reminiszenz an die al-
legorische Rede von Glückswind und Unglückssturm und zugleich ihre mythisch-dämonische Aufhebung. Denn was in dieser Episode Glück oder Unglück bedeutet, ist schwerlich auszumachen. Immerhin scheint die Szenerie die Eingangsbemerkung vom freundlicheren glück zunächst zu dementieren. An einem einsamen adelhof wird Tychander zunächst abgewiesen. Weil er aber nach seiner Lehrzeit bei dem blinden schon ziemlich unverschämt geworden ist, muß der Edelmann persönlich ihm einen verweiß ob seiner Arbeitsscheu erteilen, bevor er ihm ein großes wüstes haus zur Übernachtung zuweist. Der Gastgeber macht noch darauf aufmerksam, daß sich in dem Haus ein gespenste sehen läßt, das aber noch niemanden geschadet habe.
Unschwer läßt sich in dieser Inszenierung der locus terribilis erkennen, der einsame, wüste Ort, dessen nächtliche Unheimlichkeit sich in der Literatur des 17. Jahrhunderts mit saturnisch-melancholischer Flucht vor der Gesellschaft genauso verbindet wie mit der Bewährung getrennter Liebender.6 Auch Tychanders Ankunft an diesem Ort ist ja durch Flucht motiviert. Ungewöhnlich aber ist, daß er sich erst durch seine Initiative und sein professionelles Auftreten Einlaß in das Haus verschafft, das ihm Zuflucht vor den Naturgewalten verschaffen soll. Als Ort der Bewährung erhält der einsame Ort hier eine ganz neue Dimension, die sich bereits auf Tychanders Weg dorthin andeutet, da er nun währender zeit die bettel-kunst etwas besser begriffen hat
und sich deshalb auch füglicher durch das Land bringt als vorhin? Schon durch den Eintritt des Helden in das dämonische Ambiente wird es nicht so 3 6
7
Landscape, Rural Society in English Poetry 1630-1660, Oxford (Blackwell) 1979. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 166-174. Vgl. GARBER, Der locus amoenus und der locus terribilis 226-306. Zum einsamen Ort als Chronotopos der Melancholie und invertiertem locus amoenus vgl. WATANABE-O'KELLY, Melancholie und die melancholische Landschaft 63-86. Vgl. Lauf der Welt 166.
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sehr als Kontrast zur Gesellschaft charakterisiert, vor der Tychander auf der Flucht ist, sondern als deren Spiegel. Selbst diese phantastische Umgebung, der Ort des Abenteuers, wird in die Alltagswelt integriert, die den abenteuerlichen Alltagsroman vom Idealroman scheidet.8 Also macht sich der Schelm nach seiner Ankunft in dem einsamen Haus sogleich an alltägliche Tätigkeiten, entfacht mit dem holtz, das der Wirt ihm zur Verfügung gestellt hat, ein feuer im kamin und trocknet sein gewand. Da ihm auch speise für die nothdurft überlassen wurde, kann er anfangen, Hunger und Durst zu stillen. Als sich der unheimliche Ort beinahe in einen Platz der Behaglichkeit verwandelt, kömmt eine schwartze katze zu gewandert, die Tychander als Gesellschaft eines lebenden Wesens am Kamin lieb ist, bevor sie mit einer zweiten hinzugekommenen Katze zu reden beginnt. Tychanders Reaktion besteht in drei möglichen Handlungsalternativen. In eiliger Gegenwehr ergreift er zunächst einen Brandscheit aus dem Kamin, mit dem er die unheimlichen Katzen zum Verschwinden bringt. Dann erwägt er die Flucht, die ihn aber aus der Traufe zurück in den regen bringen würde. Deshalb bleibt ihm zuletzt nur, sich voller Entsetzen mit der Situation vor Ort zu arrangieren. Denn die Vertreibung des einen Schreckbildes ruft offenbar sofort das nächste auf den Plan: Nach dem Verschwinden der Katzen regnen Tychander aus dem Obergeschoß die Glieder eines menschlichen Körpers vor die fuße, die sich von selbst zusammensetzen und als schönes nackigtes weibes-bild vor ihm stehen. Das gespenst winkt ihm zu folgen, als wolle es ihm etwas zeigen. Was vor Tychanders Augen abläuft, ist die Umkehrung einer anatomischen Sektion.9 An ihrem Ende steht das unversehrte Ganze, auf das Tychander mit der Arbeitshypothese reagiert, es sei ein guter geist. Zwischen dem ablaufenden dämonischen Geschehen und der instrumentellen Naturbeherrschung, mit der Tychander auf dieses Geschehen reagiert, gibt es also einen Zusammenhang. Die geisterhafte Frau ist bereits Ergebnis einer anatomischen Sektion, die den menschlichen Körper als Maschine behandelt. Was von dieser Naturbetrachtung gewaltsam auseinandergerissen wurde, wird nachträglich wieder zu einem Ganzen zusammengefügt. Die analytisch-konstruktive Methode der Naturerkenntnis, die das Ganze als Summe seiner Teile betrachtet, verlangt nach einer von außen herangetragenen Theorie, die dieses Ganze mit Sinn erfüllt und sozusagen künstlich belebt.10 Tychanders Vernunft ver* 9
Zum Ort des Abenteuers im Schelmenroman vgl. GARBER, Der locus amoenus 2 7 0 , Anm. 8 . Zum abenteuerlichen Alltagsroman vgl. BACHTIN, Formen der Zeit 3 8 - 6 0 . Zum Zusammenhang der künstlerischen Darstellung des menschlichen - namentlich weiblichen Körpers mit den Methoden der Anatomie im 1 7 . Jahrhundert vgl. JÖRG JOCHEN BERNS, "Die demontierte Dame, Zum Verhältnis von malerischer und literarischer Porträttechnik im 17. Jahrhundert": NORBERT HONSZA / HANS-GERT ROLOFF (Hgg.), Daß eine Nation die ander verstehen möge, Festschrift fur MARIAN SZYROCKI = Chloe 7 , 6 7 - 9 6 . Zur diskursiven Aufgabenverteilung zwischen Dämonisierung der Naturverfallenheit (Hexenverfolgung) und mechanistischer Naturwissenschaft vgl. dort 91.
Locus terribilis: Naturbeherrschung
und innerweltliche
Askese
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sucht, das theoretisch zu rekonstruieren, was sich ihm als umgebungsfremdes, unorganisches Phänomen präsentiert. Die Annahme, es handle sich um einen guten, also nützlichen Geist, ist beliebig und umkehrbar, wie der Erzählerkommentar belegt. Dort wird darauf hingewiesen, daß auch der Teufel in weisser gestalt erscheinen könne, um die menschliche Erkenntnis zu täuschen. Der Rückgriff des Erzählers auf die zeitgenössische Dämonologie, die das Unverfügbare säuberlich in gut und böse einteilt, verfallt indes demselben projizierenden Verfahren, das er an Tychander kritisiert. Hexenverfolgung und instrumenteile Naturbeherrschung sind zwei Seiten einer Medaille. Konsequenterweise wird die Erfahrungsmedizin des Theophrastus Paracelsus vom Erzählerkommentar aus den erlaubten Methoden der Naturbeherrschung ausgegrenzt, weil sie sich in das theoretische Entweder-oder-Schema von Schwarz und Weiß nicht einfugt, obwohl es ja nach den Worten des Erzählers eben keinen Anhaltspunkt gibt, nach dem das Unerklärliche diesen beiden Polen zugewiesen werden kann. Letztendlich entscheidet auch hier das Erkenntnisinteresse der urteilenden Instanz, was schwarz oder weiß, gut oder böse ist, und zwar nach durchaus handfest materiellen Interessen." Dies hat ja spätestens FRIEDRICH SPEES Kritik an den Hexenprozessen und der ihnen zugrundeliegenden Theorie erwiesen. Zeitgenössische Naturwissenschaft wird wie das Prozeßwesen vor allem aus Profitgründen angewandt, ihr selektives Verfahren ist der ökonomischen Kalkulation nicht nur verwandt, sondern auch dienstbar.12 Auch Tychander macht profitable Fortschritte, als er sich auf die Dynamik der Phänomene einläßt, die ihm in dem unbekannten Haus begegnen. Immer tiefer dringt er in seine Geheimnisse ein, als er in den keller steigt. Auch dort muß er sich entscheiden, ob er sich von der Gestalt eines großen schwartzen hundes abschrecken oder von den beruhigenden Worten des weißen Gespenstes ermutigen lassen soll. Die Bewährung, die der Ort ihm abverlangt, besteht also in Mut zum Risiko, das mit der falschen Prognose auch die Gefährdung der Existenz einschließt. Erkenntnisleistung und unternehmerische Initiative fallen hier zusammen, wenn Tychander, statt den riickweg einzuschlagen, voranschreitet. In der hofitung, seiner armuht ledig zu werden, vergißt er alle furcht und riskiert, selbst das leben drüber zu lassen.13 Daß Tychander in Ermangelung von Werkzeugen die erde mit dem messer ausgraben muß, um den versprochenen Schatz zu heben, verbindet Selbstbehauptung mit Gewinnstreben, Kennzeichen für die Handlungsform der Bewährung am locus terribilis. Tychander arbeitet fleissig und beherrscht zugleich seine 10 11
12 13
Vgl. hierzu GAEDE, Substanzverlust 11-15 u.ö. Vgl. FRIEDRICH GAEDE, "Das Urteil als Denkform der Neuzeit und seine stoische Grundlage": Poetik und Logik, Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert, Bern/München (Francke) 1978,26-33. Vgl. GAEDE, Substanzverlust 1 5 . Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 176-179.
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Emotionen, die ihm den angstschweis hervortreiben. Ausgerechnet Tychanders Pakt mit einem unbekannten Gespenst gerät hier zum Bild der Arbeitsethik und der innerweltlichen Askese. M A X WEBER bestimmt mit diesem Terminus unternehmerisches Gewinnstreben im Anschluß an die Rationalisierung der Askese in den europäischen Mönchsorden. Von der westlichen Ordenstradition übernimmt die innerweltliche Askese eine Tendenz zur Kontrolle der menschlichen Natur, der spontanen Impulse und Affekte. In der protestantischen Ethik sieht WEBER diese Affektkontrolle nicht mehr an ein kontemplatives Leben geknüpft, sondern an die wirtschaftliche Aktivität.14 Ihre Einbindung in den gespenstischen locus terribilis bringt den unterdrückten Affekt wieder zum Vorschein. Die Dialektik der Rationalität, ihr Einsatz zu irrationalen Zwecken, hier ist sie ins Bild gesetzt. Die Erzählung setzt die Dämonie des Gewinns um, indem sie zwischen einer Verteufelung des unverhofften Schatzes15 und einer genauen Schilderung der Arbeitsweise schwankt, mit der Tychander vorgeht. Sein Fleiß wird auch hier nicht betrogen. Der Lohn, den Tychander für seine Disziplin erhält, ist denn auch keineswegs bloße augen-verblendnis. Selbst bei Licht besehen erweist sich das neuerworbene gold als warhafftiger schätz. Tychanders Investition in die Glaubwürdigkeit der Phänomene hat ihn nicht getrogen, sondern einen handfesten Gewinn abgeworfen. Der Gegensatz zwischen Schein und Sein liegt also nicht auf der Ebene der Dinge selbst. Ob sie sich verflüchtigen oder Zinsen tragen, hängt entscheidend vom Umgang mit den Dingen ab. Dabei kann Tychander immer wieder von dem profitieren, was er in seiner pikaresken Karriere bislang gelernt hat. Sein nächstes Abenteuer, das nicht viel über eine viertel stunde auf sich warten läßt, besteht in der verlokkenden Einladung an die Tafel eines Gespensterpaares.16 Tychander lehnt die Aufforderung zum Essen mit der Entschuldigung ab, er sei um solche zeit zu speisen ungewohnt. Die raum-zeitliche Ubiquität der Gespenster, die durch die wand zu gehen vermögen, wird von Tychander offenbar richtig eingeschätzt: Zwischen solchen Wesen und ihm gibt es ein Machtgefalle, das jede Tischgemeinschaft verbietet. Indem er die Zeitform respektiert, die den Umgang zwischen Ungleichrangigen beschränkt, erhält Tychander mehr, als er erwartet hat: [...] weil du dich aber enthalten hast/so soll alles dein seyn / was du hie vor äugen stehest. Diß gesagt / verschwunde alles von stund an / ausser das tischzeug / kamen / schtissel / teller u. w. welches alles silbern war / blieb ' auf dem tische stehen}1 14
Vgl.
Die protestantische Ethik I, Eine Aufsatzsammlung, hg. von JOHANNES W I N Hamburg (Siebenstern Tb. 53/54) 4 1975. Vgl. hierzu auch ENNO NEUMANN, "Das Zeitmuster der protestantischen Ethik": RAINER ZOLL, Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt am Main (Edition Suhrkampl411) 1988, 160-171. Vgl. Lauf der Welt 175/176. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 179-183. M A X WEBER,
CKELMANN,
15
"
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Auch dieser Gewinn hält der Prüfung stand. Tychander betastet das Geschirr und sieht, daß es sich nicht veränderte. In dem Beharren der Dinge versichert sich der Beharrungswille des Subjekts seiner selbst. Das Prinzip der innerweltlichen Askese, den momentanen Affekt zugunsten eines künftigen, dauernden Erwerbs zu beherrschen, hat sich im Umgang mit den flüchtigen Geistern des Erwerbs zunächst bewährt. Und auch im Umgang mit den Menschen erfahrt Tychander die Vorteile einer Vorsorge, die Zukunft in ihr Kalkül zieht.18 Er kann sich leicht die rechnung machen, daß sein Gastgeber ihm das wenigste davon lassen würde, wenn er von dem bei ihm gewonnenen Schatz erführe. Weil aber der morgen albereit anbrach / war es nicht lange zeit hierüber zu rahtschlagen / demnach fast ' ich einen kurtzen Schluß / vor allen dingen mein gold / als das vornehmste
in Sicherheit suchen zu bringen
/.../."
Tychander ist hier ganz unternehmerische Vernunft. Er handelt schnell, um seinem Kontrahenten zuvorzukommen. Dabei berücksichtigt er das Transportproblem und entscheidet sich für das Gold, das als Wert- und Zeitspeicher in Zukunft an einem anderen Ort den Gebrauchswert dessen ersetzen kann, was er nun an Wertgegenständen zurücklassen muß. Die flaschen mit seinen gold-stilcken verschafft er ein gut flach von dem hause weg in eine hohle weide, außerhalb des direkten Zugriffs des Hausherrn. Tychanders Vorsorge erweist sich als berechtigt. Der edelmann ist ebenfalls früh aufgestanden, erscheint und bemerkt das silber-zeug auf dem tische. Er hat es leicht, sich des Besitzes zu versichern, denn Tychander beweist weniger Verhandlungs- als Handlungsgeschick und erzählt den gantzen verlauf ausführlich. Daraufhin besteht der Adlige auf dem ihm günstigen Recht an allem, was in seinem hause wäre gefunden. Neben dem Adelsprinzip des Besitzes an Grund und Boden wendet er das aristokratische Familienrecht an und vermutet, seine voreitern hätten den Schatz vergraben. Da nützt es nicht, daß Tychander auf seine Leistung pocht, mit der er das Haus unter lebensgefahr von solchem gespücknisse befreyet hätte. Der Wirt speist ihn mit Hinweis auf die freie Kost und Logie und einem halben thaler ab. Doch auf Almosen ist Tychander nicht mehr angewiesen und wirft dem juncker das Geldstück vor die Füße. An den festliegenden Besitzverhältnissen und seiner zu großen Offenheit scheitert Tychanders Verhandlung mit dem Adligen. Eine wachstumsorientierte bürgerlich-unternehmerische Handlungsform findet am aristokratischen Besitzdenken ihre Grenzen.
17
" "
Lauf der Welt 182. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 183-186. Lauf der Welt 183.
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Grenzen des Wachstums werden im 17. Jahrhundert schnell erreicht, da in der ökonomischen Rezession die Produktivkräfte geringer sind als die Nachfrage, was eine Ökonomie der Knappheit und Verteilungskämpfe zur Folge hat.20 Tychanders Handlungsform basiert noch auf dem im 16. Jahrhundert formulierten Lob des Eigen Nutzen, der den Gemeinnutz hervorzubringen verspricht, indem seine unternehmerische Aktivität die Grenzen der Subsistenzwirtschaft überwindet. In dem Traktat von 1564 heißt es: Denn welcher Kauffmann ist je vber Meer gefahren / hat sein Leib vnd Leben gewagt / daß er Specerey oder andere Kauffmannschafft so den Menschen nicht allein zu der Speiß / sonder auch zur gesundheit höchlich dienet / auß India herüber brechte / gemeinem nutz zu gut / wenn in nicht Eigner nutz oder geitz darzu reitzte.11
Die Handlungsform Tychanders muß unter veränderten Bedingungen der agrarisch-aristokratischen Besitzstandswahrung unterliegen. Der literarische locus terribilis in DÜRERS Lauf der Welt spiegelt die dämonische Wirkung der Verteilungskämpfe, die in der Realität vor allem als militärische Auseinandersetzungen ausgetragen wurden. Sie brachteñ einen neuen Typ des Unternehmers, den Kriegsunternehmer, hervor. Da hat es seine Logik, wenn Tychander seine Aktivitäten nun auf dieses Feld verlagert.22 Beim Militär wird es Tychander denn auch durch sein gerettetes Kapital möglich, festliegende Standesgrenzen zu überschreiten und in seinen Aufstieg zu investieren. Er vertauscht seine betierische kleider mit einer soldatischen Tracht, kauft ein schönes pferd und reitet den nächsten weg nach Strasburg zu. Dort erst erreicht ihn die Dämonie der überstandenen Abenteuer, er wird krank. Die Ursache solcher kranckheit schriebe ich zu theils [188] dem ausgestandenen schrecken; theils der plötzlichen großen freude; theils auch der kümmerlichen sorge / welche mir seithehr meines gefundenenen schatzes durchaus keinen schlaf vergönnen wolte / weil ich mich immer mit dieser furcht plagte / daß mein schätz von andern möchte gefunden und mir entwendet werden.21
Die habituell gewordene Vorsorge für die Zukunft ist zur Sorge geworden, von der die Gegenwart vergiftet und den natürlichen Rhythmus von Wachen und Schlaf vernichtet wird. Damit wendet sich die Rationalität der Wachsamkeit gegen sich selbst und schlägt um in Irrationalität und Destruktion dessen, was zu bewahren ihre Sorge ist. Der Erzähler gibt zu bedenken,
20
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22 23
Vgl. WINFRJED SCHULZE, "Vom Gemeinnutz zum Eigennutz, Ober den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit": Historische Zeitschrift 243 (1986) 591-626, hier 622. v FRONSPERGER/GUT, Von dem Lob deß Eigen Nutzen, 18 . Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 186-188. Vgl. Lauf der Welt 187/188.
Dämonie des Geldes
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[...] wie so gar keine wahre ruh ' in zeitlichen dingen zu finden / daß auch das jenige / worinnen wir am meisten unsre ruhe suchen / uns am allerersten in neue unruh versetzet.14 Geister und Dämonen sind eher beherrschbar als die scheinbar berechenbarste Sache der Welt, das Geld, das für die sichere Gestaltung der Zukunft einstehen soll. Im nachhinein findet die Dämonie des Ortes, an dem Tychander zu Geld kommt, ihre Erklärung. Das Umschlagen der Mittel in Zwecke rächt sich dadurch, daß die beabsichtigte Kontrolle Tychander gerade in den Kontrollverlust führt. Fast vier monat schwebt er zwischen tod und leben; die zeit der Hilflosigkeit bringt hingegen Profit für ärtzte und apotheker; wirt und wäterinnen , die ihren Schnitt an Tychanders beute machen können. Auf seine physischen Grenzen zurückgeworfen, ist er zugleich in ein Beziehungsgeflecht eingebunden, das auch seine finanziellen Expansionsmöglichkeiten beschneidet. Derlei Verbindlichkeiten bestimmen auch seine Karriere beim Militär." Tychander nutzt die nächste Gelegenheit, die Frantzösische Werbung von Truppen in Basel, um sich für ein stücke geldes ein fähnlein zu kaufen. Das Arbiträre dieser Entscheidung für einen Heeresdienst entspricht der Beliebigkeit, mit der das Geld die militärischen Aktionen zu finanziellen Transaktionen macht. Tychanders Unveibindlichkeit hat ihren Grund: Er hat geld und kann spendieren. Als er mit einem Officirer zufallig in streit gerät und ihn im Duell tötet, muß Tychander nach der Niederländischen grentze zu fliehen und schließt sich seinen bisherigen Gegnern, der Spanischen armee, an. Auch dort macht Tychander eher wegen seiner dukaten als wegen großer thaten Karriere, bis sich sein Kapital auf eine sonderliche chymische weise sich in lauter Nichts verwandelte und ihn am weiteren Aufstieg, am Plus ultra, hindert Mit dem lateinischen Motto Plus ultra ist auf die technische Utopie der Frühen Neuzeit angespielt, die sich von der ständigen Erweiterung künstlicher Mittel eine kontinuierliche Verschiebung der Grenzen menschlicher Möglichkeiten erhoffte. So hatte im Jahre 1 6 2 0 das Titelblatt von FRANCIS BA CONS Instauratio magna das Schiff des Odysseus dort gesehen, wo es nach tradi-tioneller Auffassung nicht hätte sein dürfen, jenseits der Säulen des Herkules auf dem offenen Atlantik nämlich. 26 Die Eroberung der Welt durch die Seefahrt wurde zum metaphorischen Modell einer universell möglichen Grenzverschiebung durch künstliche Mittel, die sich in dem Buchtitel Plus ultra ausdrückt, mit dem 1 6 6 8 - ein Jahr vor DÜRERS Lauf der Welt - JOSEPH GLAN- VILL seinem Optimismus über Fortschritt und Errungenschaften der Wissen- schaft Ausdruck geben möchte.27 24 23 M
Lauf der Welt 188. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 188-197. Vgl. H A N S BLUMENBERO, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, dritter Teil, Frankfurt (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 24) 1988,141 und 292, Anm. 220.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Diesem Optimismus der grenzenlosen Expansion setzt DÜRER die Begrenztheit der Ressourcen entgegen. Tychander erleidet mit seinem Unternehmen Schiffbruch, weil er wieder der manipulativen Wirkung des Geldes unterliegt. Die Liquidität, die es ermöglicht, täuscht darüber hinweg, daß seine Massivität und Solidität notwendig auch Begrenztheit impliziert. Die Solidität des Schatzes, die Garantie seines Gegenwertes, hatte Tychander im nächtlichen Geisterhaus ja sofort überprüft. Die Einteilung der Mengen hätte ihm sagen müssen, daß seine Ressourcen zwar groß, aber nicht unerschöpflich sind. Durch den Wechsel des Geldes in Raum- und Zeitoptionen jedoch verflüchtigt sich diese sinnliche Erkenntnis. Nur scheinbar ermöglicht es jeden Wechsel und jeden Aufstieg, während sein Verbrauch in Wirklichkeit zu einem Schwund des Kapitals führt. Schnell wird Tychander zum Erwerb neuen Geldes gezwungen, was unter den obwaltenden Umständen des Krieges am schnellsten mit Gewalt zu bewerkstelligen ist. Eine wirtschaftlich-militärische Transaktion gibt ihm Gelegenheit, offiziell Vereinbartes für private Zwecke umzufunktionieren.28 Tychander plant, die Information über einen eskortierten convoy, den einige kaufleute [...] gegen erlegung einer ziemlichen summa geldes erlangt haben, gegen diese Kunden des Feldherrn selbst zu wenden und sie gemeinsam mit dem Begleitoffizier auszuplündern. Die kauffleute [...] fuhren aujfs eiligste wieder zurück nach unserm lager / [199] [...] und beklagten sich der gewalthat / [...] machten neben dem unsre kleider / pferde und andre merk-zeichen nahm kundig / worauf/ uns also bald nachgestellet wurde mit solchen fleiß / daß wir strax des andern tages erkundschaftet und gleich wie wir aus dem wirtshause ritten und nach getheilter beute uns gleichfals theilen und durch unterschiedliche wege wieder nach dem lager reiten weiten / überfallen wurden / und allesampt gefangen genommen / ausser mir /[...] weil die andern nicht so geschwinde mich mochten ereilen [—].25
Die universelle Vertauschbarkeit macht die Aktionen der Verfolger und Verfolgten fast ununterscheidbar. Allein durch sein schnelles Reagieren entzieht sich Tychander dem Schicksal seiner Gesellen. Über sie macht er sich nicht viele Gedanken, vermutet aber, ihr lohn werde seyn gewesen wie die arbeit. Daß der Erzähler hier ironisch von Lohn und Arbeit spricht, macht auf die Nähe zwischen legalem und illegalem Erwerb aufmerksam. Hier wie dort belohnt das Glück vor allem den Tüchtigen. Tychander als der tüchtigste und schnellste salviert sich, nachdem er sich auf die Dämonie des Gelderwerbs eingelassen und am locus terribilis saniert hatte. Rücksicht auf den Nebenmenschen scheint dabei eher zu stören. Die sich trennenden Wege der Diebs27
" 19
Vgl. BLUMENBERG, Der Prozeß der theoretischen Neugierde 141 und 292, Anm. 221, sowie: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankliirt/M. (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 352) 1989, Band 3,739-741. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 197-200. Lauf der Welt 199.
Grenzen des locus amoenus
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gesellen nach der Beuteteilung im Wirtshaus deuten an, daß rücksichtslose Konkurrenz den einzelnen isoliert. Isolation aber macht den Schelmen zum Spielball jener Kräfte, die er durch sein Konkurrenzverhalten selbst entfesselt hat. *
Nach gelungener Flucht sieht die Erzählung Tychander nicht nur in veränderter Umgebung, sondern auch selbst durch die Umstände wieder verwandelt. Er ist zu fuß in schlechten kleidern unterwegs, um seine Verfolger zu täuschen, und sinnt der Veränderung seines glucks nach.30 Während er sich durch ein kleines lustiges höltzgen auf die Schweitzerische grentze zubewegt,
vernimmt er eine klägliche stimme. Tychander folgt dem Klang der Stimme und nähert sich so weit, daß er einem Lied lauschen kann. Der Zuhörer steht still, weil er die imbekannte Sängerin durch seine gegenwart nicht irre machen möchte. Dem Lied ist zu entnehmen, daß die Sängerin getäuscht wurde und die Absicht hat, sich das Leben zu nehmen. Tychander eilt herbei, um sie an diesem Vorhaben zu hindern. Die Frau erschrickt, spricht Tychander als verrähter an, bis erkennt daß sie sich in seiner person irrt. Tychander hat, indem er sich flüchtend der Schweizer Grenze nähert, tatsächlich das Grenzgebiet eines neuen Beziehungsgeflechtes betreten. Daß die Frau ihn in seiner Identität verkennt, ist nicht verwunderlich, da er ja versucht, seine wahre Identität zu verleugnen. Als fremder Eindringling betritt er das Territorium einer unbekannten Geschichte, als er in die Intimsphäre der fremden Frau eindringt. In der von DÜRER verwandten Vorlage, JACOB SCHWIGERS Schäferroman Die Verführete Schäferin Cynthie, wird die verzweifelte Frau mit Dido verglichen, wie die Africanische Königin fühlt sie sich getäuscht und will sterben.31 Der Eintritt des fremden Mannes in die Grenzen ihrer Geschichte erinnert an Didos und Androfilas vergeblichen Versuch, sich in der Treue des anderen der eigenen Identität zu versichern.32 Mit Tychanders Grenzübertritt ist also ein Beziehungsreichtum der Räume gegeben, der sie mit benachbarten Erscheinungen auf drei Ebenen verbindet: erstens mit verwandten Handlungsräumen innerhalb des Textes, zweitens mit dem schäferlichen Topos der literarischen Vorlage und drittens mit dem Modell der Aeneis. Zwar sind die Räume der Erzählung literarische Topoi, doch zugleich
30 31
M
Vgl. zum folgenden Laufder Welt 200-207. Vgl. JACOB SCHWIOER, Die Verführete Schäferin Cynthie/Durch Listiges Nachstellen des Floridans, Glückstadt 1660, . Benutztes Exemplar: Xerokopie des Germanistischen Seminars der Universität Bonn. Zu SCHWIOERS Roman und seiner Verwendung bei DÜRER vgl. UNSICKER. Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein 237-242 und 266-269. UNSICKER, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein 2 6 7 weist daraufhin, daß die Cynthie auch A r die Androfila-Simo-Geschichte Pate stand.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
auch historisch-topographische Einheiten und Beziehungsräume der Figuren, deren Grenzen fiir die Unversehrtheit der Person einstehen sollen. Schon durch die turbulenten Ereignisse der Eingangsszene ist der literarische Ort, den Tychander nach seinem Grenzübertritt betreten hat, als Konfliktfeld erkennbar. Zugleich deutet sich die Diskontinuität der Handlungsräume und Handlungszeiten der Figuren an, die sich zwar begegnen, aber nicht wirklich zueinander finden. Tychander trifft die fremde Frau auf einem bedrohten Territorium an. Sie wird von einem Mann verfolgt, der im walde umherreitet, um ihr nach der Ehre nun noch das Leben zu nehmen.33 Demgegenüber erscheint Tychanders Verhältnis zu der Unbekannten beinahe exterritorial und außerhalb der drängenden Zeit. Er steht eine weile gantz erstarret, während er ihre Schönheit betrachtet, und bietet ihr an, sie zu beschützen, wenn sie ihm nur vertrauen und ihn zum gefärten ihrer reise annehmen wolle. Ihre Einwilligung fuhrt die Frau gemeinsam mit Tychander in diesen neuen Freiraum, der als schöne große ebene erscheint. DÜRER nimmt sich Zeit, ein irdisches Paradies auszumalen, voller Schönheit und Fruchtbarkeit. An diesem schönen orte, dem locus amoenus also; findet auch Liebmunde, die Frau, Zeit und Gelegenheit, dem Tychander ihre Geschichte anzuvertrauen. Mit der Zeit, die sich die Gesprächspartner nun füreinander nehmen, deutet sich der utopische Charakter des locus amoenus an. Die erzählte Vorgeschichte indes deutet auf die Realitäten, die diese Utopie bedrohen. Dabei hat die Vorgeschichte durchaus einen vielversprechenden Anfang. Das Freifräulein Liebmunde ist mit dem Sohn eines benachbarten Edelmannes gemeinsam aufgewachsen, aus dem geschwisterlichen Verhältnis wurde Liebe, die mit zuwachsendem alter ebenfalls zunahm.34 Die Unzertrennlichkeit der jungen Leute wird von den Eltern gebilligt und durch ein Verlöbnis bekräftigt. Mit achtzehn Jahren jedoch wird Treuhart, der junge Geliebte, in die Fremde geschickt, um eine akademische Ausbildung zu erhalten. Die schmerzliche Trennung verursacht bei Liebmunde eine krankheit, die sie jedoch schnell übersteht, weil die langheit der zeit den schmertzen verringerte. Liebmunde erfährt also eine doppelte, nämlich räumliche und zeitliche Distanz zu Treuhart, die einer Entfremdung Vorschub leistet. Treuharts Abschied bringt ein Moment zeitlicher Diskontinuität in ihre Biographie, die nur durch Beständigkeit zu überbrücken wäre. Räumlich ist ihre Situation als einsamer Ort beschreibbar, der die Bewährung des auf sich gestellten einzelnen bedeutet.35 Einsamkeit ist hier freilich gesellschaftlich vermittelt. Die Grenze des einsamen Ortes impliziert immer schon ihre Überwindung, ein Eindringen von außen. Dies geschieht in Liebmundes Geschichte durch einen fremden 53 34 33
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 207-211. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 212-215. Vgl. GARB ER, Der locus amoenus 240-254.
Grenzen des locus amoenus
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Gast, einen Frantzosen, der mit sich den fremden Diskurs der täuschenden höflichkeit bringt.36 Die soziale Grenze zwischen der Landadligen Liebmunde und dem französischen Hochadligen Kuridelus bezeichnet zugleich einen unterschiedlichen Gebrauch der Kommunikationsformen. Die treue und aufrichtigkeit der Liebmunde hat poetologisch ihr Pendant in der kunstlosen deutschen Schäferpoesie, während Kuridelus Zugriff auf die galanten Formen der höfischen Literatur hat. Innerhalb dieser Literatur ist die Schäferdichtung lediglich eine vom Höfling eingenommene Pose, eine literarische Travestie,37 mit der er das Rollenspiel seines Lebens bereichert. Kuridelus greift ganz folgerichtig in seiner Werbung um Liebmunde zur Hirtentravestie. Geschickt nutzt er die Kulisse eines frühen Morgens an sommer-tagen, an dem die sonne erstlich der berge spitzen anhube ein wenig zu vergülden, um der Liebmunde in der Maske eines Schäfers ein Lied vorzutragen. Dabei evoziert er das Bild einer friedlichen Natur, eines locus amoenus, um seine angebliche Liebeskrankheit und den daraus folgenden Todeswunsch mit der schönen Kulisse zu kontrastieren. Dieser Kontrasteffekt, der die idyllische bukolische Landschaft als vom Tode bedrohte erscheinen läßt, verfehlt auch bei Liebmunde seine Wirkung nicht. Vom Ernst hinter der mascarade überzeugt, läßt sie sich von der inneren Logik der vorgeführten paradiesischen Landschaft verfuhren und gewährt dem schönen Schäfer unter einem apfelbaum, was er begehrt. Für Kuridelus ist damit das Abenteuer beendet. Er begibt sich zurück nach Frankreich, um dort sein höfisches Leben fortzusetzen. Während das schäferliche Spiel ihm also einen Rückzugsraum läßt, ist die Affaire für Liebmunde bitterer Ernst.38 Ihr Leben ist durch das Liebeserlebnis mit Kuridelus dermaßen verändert, daß sie auf ein schreiben des Treuhart nicht frölich / sondern gantz bleich und erschrocken wird. Die Nachricht von der Ankunft des treuen Geliebten versetzt sie in Bestürzung. Zum zweiten Mal ergibt sich ein Bruch, eine Diskontinuität, in Liebmundes Lebenszeit. Liebmundes Alteration hat ihren Grund in der Tatsache, daß sie mit ihren zwei Liebhabern zwei Biographien besitzt, deren Räume und Zeiten sich nicht zu einem Kontinuum verbinden lassen. Liebmunde muß sich für einen der beiden Chronotopoi entscheiden und reist mit eilender post ihrem betrieger hinterher nach Franckreich, um von Kuridelus die versprochene Eheschließung einzufordern. Der Standesunterschied und das Machtgefalle jedoch, die ihr als hilfloser Frau im fremden Land keine Chance lassen, machen selbst eine Eingabe beim Hof des Printzen, an dem Kuridelus dient, unmöglich. Kuridelus will einer öffentlichen Ungnade zuvorkommen und Liebmunde töten. Es kommt zu einer Verfolgungsjagd, die Liebmunde dem Tychander schildert. 56 37
*
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 215-236. Vgl. JOLLES, "Die literarischen Travestien Ritter-Hirt-Schelm" 101-118. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 236-247.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Er hatte verkundschaftet / daß ich meine reise zu beschleunigen mich mutter allein zu pferde auff den weg begeben hatte [...]. Dieses war ihm zu seinem verfluchten vorhaben eine gewünschte gelegenheit: des halben / wie er durch fleißiges nachfragen in erfahrung gebracht / daß eine solche und so bekleidete Weibsperson vor ein par stunden nach diesem holtze zugeritten wär / eilet er so fast er mochte / mir hinten nach / und damit ich ihm ja nicht entreiten könte / theilet er sich von seinem diener / welchen er den einen weg zu halten beflehlet / er aber reitet den andern. 39
In dieser ausweglosen Situation hat Tychander Liebmunde angetroffen, als sie gerade von eigener Hand sterben will, anstatt ihrem Verfolger in die Hände zu fallen. Die Turbulenz der Szene scheint auch sämtliche Gattungsmuster über den Haufen zu werfen. Kuridelus, der Edelmann, erweist sich als sinistre Schelmenfigur, die versucht, ihre gelegenheit zu nutzen und dabei dieselbe Taktik des getrennten Marschierens und vereinten Schlagens anwendet, die Tychander nach dem gemeinschaftlich verübten Überfall auf den Kaufmannskonvoi zur Flucht verholfen hatte. Genau dieser Tychander ist es aber nun, der für Liebmunde zum ritterlichen Helden wird und ihr das sichere Refugium des locus amoenus bietet. Man möchte bei diesem Verwirrspiel an das Spiel der literarischen Travestien denken, das für A N D R É JOLLES im 17. Jahrhundert den entscheidenden Impuls für die Literaturproduktion gibt. Travestie bedeutet für JOLLES nicht das parodistische Zitat einer Gattung durch eine andere, sondern die Möglichkeit für den identiñkatorischen Leser, in die Rolle und das Kostüm der Romanhelden zu schlüpfen. JOLLES sieht in der heroisch-idealen, der bukolischen und der pikaresken Gattung drei Formen des literarischen Spiels, ein Kostümfest, auf dem der Mensch des 17. Jahrhunderts die Kulturwelt zu verlassen vermochte, deren er überdrüssig war.'10 Die ritterliche, schäferliche und schelmische Maske erlauben für einen Augenblick die Flucht aus der alltäglichen Rolle. Dementsprechend lassen sich drei Fluchtrichtungen aus der gesellschaftlichen Standardsituation unterscheiden, die (idealistische) Flucht nach oben, die (bukolische) Flucht nach außen und die (pikareske) Flucht nach unten.41 Literarische Räume sind hier Fluchträume für die Phantasie der Leser. JOLLES beharrrt, dies alles sei nicht ganz und gar Spiel, und die Verwandlung sei kein
Schein, da das literarische Spiel tatsächlichen Sehnsüchten Ausdruck verleihe. Damit trifft JOLLES den utopischen Charakter jener Chronotopoi in der Literatur des 17. Jahrhunderts, die eine Gegenrealität aufbauen: die unberührte Landschaft des bukolischen Arkadien, des locus amoenus, und die verläßliche Welt der beständigen Helden im heroischen Idealroman. Indem er aber die literarischen Orte lediglich in ihrer utopischen Kontrastfunktion zur Realität " * 41
Lauf der Welt 243. Vgl. JOLLES, "Die literarischen Travestien Ritter-Hirt-Schelm" 117. Vgl. JOLLES, "Die literarischen Travestien Ritter-Hirt-Schelm" 107/108.
Arkadien als Konfliktfeld literarischer
Travestien
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wahrnimmt, übersieht JOLLES die ideologische Funktion, die namentlich dem bukolischen und dem idealen Ort bei der Gestaltung realer Räume zukommen. Das Maß an Lüge, das der ehrlichen Sehnsucht beigemischt ist, wird erst dann offenbar, wenn ein Genre sich die Topoi des konkurrierenden Genres parodistisch aneignet und damit die literarische Travestie als Maskerade entlarvt. Sobald nämlich das schäferliche Spiel ausdrücklich als Verkleidung von Personen kenntlich wird, die keine Schäfer sind, sondern von ihrem hohen sozialen Status her die Macht haben, künstliche Räume zu arrangieren, wird deutlich, daß das Kostümfest der literarischen Travestien auf realen Machtverhältnissen beruht. Den literarischen Travestien in schäferliches und heroisches Kostüm ist es nicht nur um die Umsetzung privater Sehnsüchte zu tun. Sie bedürfen der gesellschaftlichen Ungleichheit, um zu funktionieren. Der kultivierte Genießer benutzt das artifizielle Ambiente als Fluchtraum, aus dem er sich jederzeit wieder zurückziehen kann. Doch dieser Rückzugsraum bleibt den Komparsen des Geschehens verwehrt. Das von JOLLES beschriebene Spiel, auf dem seiner Meinung nach die literarische Produktion insgesamt beruht, ist so unschuldig nicht, wie es scheinen mag. In DÜRERS Lauf der Welt wird das Spiel verkehrt und auf seine Kosten hin untersucht. Der als Hirte maskierte Höfling, der sich durch sein Verhalten als übler Schelm entpuppt, entlarvt das scheinbar friedliche Schäferspiel als großes Wolfsspiel.42 Die Maskierung erlaubt Kuridelus, da einzubrechen, wo Liebmunde wehrlos ist, er agiert als Wolf im Schafspelz. Die Wehrlosigkeit der Liebmunde wiederum liegt in ihrer Vertrauensseligkeit. Das schäferliche Spiel verlangt ja Sanftheit und ist dem Mißtrauen abhold. Als bloßes Spiel aber übt die Schäferei Verrat an der Intimität, auf der sie beruht. Der lediglich arrangierte locus amoenus ist ein Ort der Ungleichheit, an dem mit ungleichen Waffen gekämpft wird. In letzter Konsequenz erweist er sich als tödliche Bedrohung für den schwächeren Partner. Die Grenzüberschreitung vom heroisch-idealen Chronotopos zum bukolischen, die Travestie der einen Gattung in die andere, erlaubt einen kritischen Blick auf beide: auf die Idealisierung der Herrschaft und die Idyllisierung der Landschaft. In dieser travestierenden Grenzüberschreitung ergibt sich eine dritte Perspektive, die der geopferten Randfiguren: die Geburt der Pikareske aus dem Geiste der Travestie. Schon immer ist die schäferliche Welt durch die Realität des großen Wolfsspiels bedroht.43 Die Durchlässigkeit des locus amoenus für die Gefährβ
°
Vgl. BAUER, Im Fuchsbau der Geschichten 90. Zur Schäferliteratur und ihrem Chronotopos Arkadien vgl. BRUNO SNELL, "Arkadien, Die Entdekkung einer geistigen Landschaft": Europäische Bukolik und Georgik = Wege der Forschung 3 5 5 , hg. von KLAUS GARBER, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1 9 7 6 , 1 4 - 4 3 ( = Entdeckung des Geistes, Studien zur Enstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht '1986, 2 5 7 - 2 7 4 ] ; ERNST BLOCH,"Arkadien und Utopien": Europäische Bukolik und Georgik, 1 - 7 ; REINHOLD R . GRIMM, "Arcadia und Utopia, Interferenzen im neuzeitlichen Hirtenroman": Utopieforschung, Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, hg. von WILHELM VOMCAMP, Zweiter Band, Frankfurt/M. (Suhrkamp Tb. 1159) 1985,
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
düngen des locus terribilis kann als Gattungskonstituente der neuzeitlichen Bukolik gelten. Seit V E R G I L ist Arkadien allegorisch, da die Details seiner Welt keine reale Relevanz mehr haben.44 Indem die allegorischen Anspielungen auf das VERGiLische Arkadien sich zu einem geschlossenen bukolischen Erzählraum verdichten, verweist seine utopische Künstlichkeit auf die Realität, die er nicht ist. Das Fremde, Unfriedliche findet sich immer schon an seinen Grenzen vor. Und in der Gestalt verkleideter Hirten, die ihre Lebenserfahrungen novellistisch erzählen, dringt diese Außenwelt in den Raum des Schäferromans ein.45 In dem Roman Die verwüstete vnd verödete Schäferei wird die Geschichte eines betrogenen Schäfers erzählt, eine pikareske Umkehrung der Gattung, doch gleichzeitig auch die immer schon in ihrem Horizont liegende Kontrafaktur.46 Die pikareske Perspektive ist das notwendige Korrelat der schäferlichen Utopie. Umgekehrt aber ist auch diese schäferliche Utopie ein Komplement zur Schelmengeschichte. Indem Liebmunde sich vertrauensvoll an Tychander wendet, wird die Szenerie des Schelmenromans zum locus amoenus. Die novellistische Erzählung ihrer Lebenserfahrungen durchbricht die künstliche bukolische Maskerade zur Realität hin und erneuert gerade dadurch den utopischen Anspruch im Schäferroman, Gleichheit nicht als gewaltsame Symmetrie, sondern als Resultat vertrauensvoller Kommunikation herzustellen. Liebmunde hat mit ihrer Erzählung am lieblichen Ort die Probe auf das bukolische Exempel gemacht. Die folgenden Ereignisse müssen nun zeigen, ob sich das damit bewiesene Vertrauen zu Tychander bewährt. Denn im Horizont auch dieses locus amoenus wird die raum-zeitliche Wirlichkeit mit ihren Abläufen und Bedürfnissen greifbar47. Während Liebmunde erzählt hat, so betont D Ü R E R S Erzähler, ist die sonne nach Amerika gewichen und die hereinbrechende demmerung fordert das Paar nach dem nächsten dorfe zur herberge. Die Realität der Topographie im großen wie im kleinen verweist auf den realen Handlungsraum, in dem sich das Vertrauensverhältnis zu bewähren hat. Die Gleichheit, die der locus amoenus versprach, wird nun in der rechnung Tychanders anhand der sozialen Situation von Frau und Mann durch82-100; KLAUS GARBER, "Arkadien und Gesellschaft, Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas": Utopieforschung Band 2, 37-81; PETER RUSTERHOLZ, "Schäferdichtung - Lob des Landlebens": HARALD STEINHAGEN (Hg.), Deutsche Literatur, Eine Sozialgeschichte, Band 3: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock J572-1740, Reinbek (Rowohlt Tb. 6252) 1985, 365-366. Vgl. SNELL, "Arkadien, Die Entdeckung einer geistigen Landschaft" 40. Vgl. GRIMM, "Arcadia und Utopia, Interferenzen im neuzeitlichen Hirtenroman" 93. Vgl. Die verwüstete vnd verödete Schäferey /Mit Beschreibung deß betrogenen Schäfers Leorianders Von seiner vngetrewen Schäferin Perelina. Gedruckt im Jahr 1642. Nachdruck in: KLAUS KACZEROWSKI (Hg.), Schäferromane des Barock, Reinbek (Rowohlts Klassiker 530/531) 1970, 97-160.
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 247-254.
Idyll und Außenwelt: Ungleichzeitigkeit
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dekliniert. Auf seiner Seite stünde der Eheschließung mit Liebmunde, die er sich wünscht, entgegen, daß sie solche vornehmen freiyr gehabt hat und schwerlich einen zugelaufiien kerl wie ihn nehmen würde. Doch seine Ehrlosigkeit wird dadurch ausgeglichen, daß auch sie entehrt ist. Es sind ihre jeweiligen Schwächen, die Tychander und Liebmunde zu einer Schicksalsgemeinschaft werden lassen. Hier wird die Diskontinuität zwischen der Utopie des friedlichen, gleichberechtigten Miteinander mit ihrem pikaresken Zerrbild, der Gleichheit in nüchterner Abwägung von Interessen und der Gemeinschaft als Zweckverband, deutlich. Bei der ersten morgenröhte bricht Tychander mit seiner anmuhtigen gesellschafi auf. Es ist, als sollte ein Schimmer des locus amoenus über der nüchternen Atmosphäre bleiben, in der Liebmunde mit Tychander nun die Chancen einer Appellation beim Hof des Printzen erwägt. Tychander ist längst kein unabhängiger Ratgeber mehr, da er Liebmunde selbst zur Ehe wünscht. Er rät ihr ab, und als sie wieder davon spricht, ihrem unglückseligen leben einmahl abzuhelffen, spricht auch Tychander von sich. Doch erweist er sich an dieser Stelle als pikaresker unreliable narrator, als Erzähler seines Lebens, dem gerade an den intimen Stellen seiner Selbstoffenbarung nicht zu trauen ist.48 Ich redte ihr solches wieder aus / und hub an / gleich als ob ich durch Vorstel-
lung meines Unglücks das ihrige erleichtern wolte / so wohl mein hehrkommen als auch bis heriges glück zu erzehlen / doch zwar so viel sie davon wissen solte / damit sie mich nicht vor einen liederlichen kerl und geringen lotterbuben halten möchte.*9
Aus Furcht, die fortbestehende soziale Ungleichheit und seine Ehrlosigkeit könnten seinen Zielen schaden, verletzt Tychander die Vertrauensbasis, die Liebmunde geschaffen hat. Unversehens hat sich der schäferliche Diskurs in einen Beutezug verwandelt: Es war gewagt / es war versucht / es gerieht / der fisch bieß an / er blieb behängen.50 Es kommt zum Eheversprechen, und die Jungvermählten wollen das erwartete kind als einen ftindling heimlich aussetzen. Der Unterhalt soll dadurch bestritten werden, daß Tychander sein glück im kriege aufs neue versucht. Mit Haken und Ösen soll das an Land gezogene Gut gesichert werden. Die Verbindung von Tychander und Liebmunde gleicht so eher einer kaufmännischen Kompanie, einer Überlebensgemeinschaft, die "
49 50
Zum Problem des Schelmen als unzuverlässiger Erzähler, unrelieable narrator, vgl. ROBERT P.T. AYLETT, "Lies, Damned Lies, and Simplex's Version of the Truth: Grimmelshausen's Unreliable Narrator": Daphnis 1 8 ( 1 9 8 9 ) 1 5 9 - 1 7 9 ; WILLIAM RIGGAN, Madmen, Naifs, and Clowns. The Unreliable First-Person-Narrator, Norman (University of Oklahoma Press) 1 9 8 1 ; CHRISTOPH E.SCHWEITZER, "Der Pikaroroman als Selbstrechtfertigung und Selbstbestätigung am Beispiel von Lazarillo de Tormes, Simplicissimus und Moll Flanders": GERHART HOFFMEISTER (Hg.), Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext, Rezeption. Interpretation, Bibliographie = Chloe 5 , Amsterdam (Rodopi) 1 9 8 7 , 4 9 - 7 5 . Lauf der Welt 252. Lauf der Welt 253.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
ihre Hofihung auf das Gelingen ihrer Pläne und Unternehmungen setzt. Diesen Unternehmungen aber setzen unvorhergesehene Ereignisse eine Grenze: In warheit diese unversehene meeres-stille war eine an zeigung eines bald erfolgenden greslichen ungewitters: [...] ich [...] gab die segel meiner thorhaftigen hofaung den winden / in wenigsten bedenkende / daß sie von einem so unverhofften stürm solten zerrißen werden*1
Dies geschieht, während Tychander mit Liebmunde durch die Schweitz reist und sich wegen der herzunahenden geburts-zeit in einem dorfe niederläßt.52 Die Rede von der geburts-zeit verweist auf natürliche Zyklen, die der unternehmerischen Planung nicht unterworfen sind. Mit der Geburt ist auch die andere Lebensgrenze angedeutet, der Tod, der zuletzt einen Strich durch alle Rechnungen macht. Das unvorhergesehene Ende aber ist auch hier durch menschliches Handeln vermittelt. Anders als im utopischen Raum des locus amoenus wird in der Realität das Einvernehmen des Paares vom Handeln dritter betroffen. Es gibt noch andere Räume und Zeiten als den beschaulichen Platz der Zweisamkeit, den Tychander in dem abgelegenen Schweizerdorf gesehen hatte. Tychander hatte sich der Illusion hingegeben, sein Schweizerdorf sei eine Enklave, in die das Böse der Außenwelt nicht eindringen kann, obwohl dieses Außen mit der Geschichte der Personen in ihm bereits vorhanden ist. Der Realismus des DüRERSchen Erzählens weiß Umwelt und Idyll durch die Konjunktion Mittlerzeit zu vermitteln, indem er gerade die Unvermittelbarkeit ihrer Handlungszeiten vorführt. Mittlerzeit nämlich hat Treuhart von Liebmundes Flucht erfahren und ist ihr nachgereist. Anders als sie ist er in seiner treue unverändert, so daß sein Auftauchen in ihrer Geschichte anachronistisch sein muß. Mit der schwangeren Liebmunde konfrontiert, hält Treuhart den Tychander für ihren Verführer und macht beiden eine Szene. Der erneute Eintritt Treuharts in das Geschehen markiert den Übergang vom schäferlichen Chronotopos der arkadischen Utopie zum realen Handlungsraum, in dem sich verschiedene Handlungszeiten gegenseitig überlappen, beeinflussen und hemmen. Es ist bezeichnend, daß in der literarischen Vorlage der Liebmunde-Episode, SCHWIGERS Schäferroman Die Verführete Schäferin Cynthie, eine Figur fehlt, die dem Treuhart entspricht, und daß der dem Tychander entsprechende Zuhörer der Verführungsgeschichte ganz passiv bleibt.53 D Ü R E R hat die Komplexität der Wechselbeziehungen erhöht, so daß sich aus deren Eigendynamik und gegenseitiger Hemmung die plötzlichen Umschläge und das jähe Ende der Geschichte ergeben. Die plötzliche S1
" 53
Lauf der Welt 254/255. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 255-259. KARIN UNSICKER, der die Zuweisung der Schäferin Cynthie als Quelle für den Lauf der Welt zu verdanken ist, weist zwar daraufhin, daß DÜRER die negative Schäfererzählung in seine Romanhandlung einbaut (267), zieht daraus aber keine Schlußfolgerungen für die gattungsästhetischen Aspekte der Umformung bei DÜRER.
Geburt der Pikareske aus dem Geiste der Travestie
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Konfrontation Liebmundes mit Treuhart und damit ihrer Vergangenheit führt zur Hemmung aller Lebensfiinktionen und Aktivitäten: Liebmunden [...] benahm der schrecken nicht nur die rede / sondern alle sinligkeit / also daß sie plötzlich ungesagt eines worts zur erden nieder fiel und eine lange zeit ohne empfindligkeit in einer starken ohnmacht beilegen bliebe,54
Da sich die verschiedenen Zeiten, die in den beiden Männern und dem ungeborenen Kind im Raum anwesend sind, nicht mehr zu einer ehrbaren Biographie verknüpfen lassen, gerät sie in einen Zustand außerhalb der Zeit, die ohnmacht, die das Vorspiel zu ihrem Ende abgibt. Ihre plötzliche bestürtzung, die das Kontinuum ihres Lebens in letzte Verwirrung gestürzt hat, beschleunigt die gebührt und bey solcher so wohl der mutter als der unzeitigen frucht zugleich den tod. Die Handlungsform der Unzeitigkeit hat ihre späten, doch plötzlichen Konsequenzen. Sie zerstört Liebmundes Hoffnung auf einen locus amoenus, der von Anwesenheit eines vertrauten und vertrauenswürdigen anderen garantiert wird. Arkadien, das wäre der Ort der Verläßlichkeit und Kontinuität, die übersichtliche Ebene der offenen Kommunikation, die es erlaubte, künftige Ereignisse abzusehen und mitzugestalten. In Tychanders Kalkulation erscheint diese Utopie bereits als beschränkte, als solide Geschäftsverbindung, als Partnerschaft auf gegenseitigen Vorteil. Aus seiner bisherigen Biographie bringt er ein Verhalten mit, das täuschende Fassaden zur Sicherung einer Reserve aufrichtet. Die Ironie der Geschichte will es, daß er nun zum jähen Opfer einer Täuschung wird. Treuhart klagt Tychander als Verführer der Liebmunde an.55 Nicht aufgrund seiner wirklichen Taten, sondern wegen des täuschenden Anscheins der Umstände wird Tychander zum Tode verurteilt. Mit einem Schlag scheint der Raum der Zukunft, Gegenstand seiner Kalkulation vernichtet, Tychander sieht sich aller verhoften glückseligkeiten beraubt. Das plötzliche Eingreifen Treuharts wirkt sich auf Tychanders eigenes Handeln als Hemmung aus, vor bestürtzung ist sein verstand gehemmt, als er in das geschlossene Gehäuse des Gefängnisses kommt Zum Rädchen einer Justizmaschinerie verkommen, funktioniert er im Sinne einer instrumentellen Wahrheitsfindung durch die Folter: Die furcht der bevorstehenden unerträglichen marter als auch der Überdruß eines langern lebens brachten mich leichte zum entschluß das jenige zu bekennen / was mir zu thun niemahls in den sinn gekommen / viel weniger geschehen war / welches ich denn mit solchen umständen ver- [263] richtete/ daß niemand an der warheit der that zweifelte f...].56
Der Schelm als unreliable narrator wirkt an der technischen Herstellung einer künstlichen Plausibilität mit, um den Ablauf zu beschleunigen. Die Realität " " 56
Lauf der Welt 258. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 259-266. Lauf der Welt 262/263.
302
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
erweist sich als locus terribilis, aus dem es nur das Entkommen durch den Tod zu geben scheint, und das geschlossene Gehäuse des Gefängnisses wird zum Spiegelbild gesellschaftlicher Mechanismen. So erlebt Tychander den Beginn der eigenen Hinrichtung als Befreiung, als Moment, in dem er nun wieder zu sich selber gekommen ist. Doch eine weitere jähe Wendung nimmt der Situation ihre Eindeutigkeit. Wie Guzmán wird auch Tychander im letzten Augenblick durch die Intervention einer vornehmen Fürstin gerettet. Die Nachricht trifft in höchster eil ein, als das Schwert schon über Tychanders Kopf schwebt. Gerade in der gedrängten Zeit der Todesgefahr erwacht das schelmische Element wieder zum Leben, die Dialektik von Freiheit und Zwang setzt das Potential schelmischer Selbstbehauptung frei. Gleichzeitig aber artikuliert sich ein Bedürfnis, das über die bloße Selbstbehauptung hinausgeht. Tychander resümiert: OB ich nun zwar das leben auff dismahl hatte erhalten/ so hatte ich doch hingegen zwey dinge verlohren [...]: Liebmunden und ihr geld: jene liebte ich/ dieses bedurffte ich/ als ohne welchem als gleichsam dem fünfften Elemente unser leben nicht wohl kan erhalten werden: Doch kunt' ich den Verlust des geldes noch leichter ertragen als der Liebmunden /.../.57
In der kuriosen Kalkulation kommt das eine wie das andere zum Vorschein: die Notwendigkeit des Überlebens und die utopische Sehnsucht nach dem vollen Leben, das sich erst in der Anwesenheit des vertrauten anderen Menschen verwirklicht. Gerade mit dem Leben davongekommen, steht der Schelm zwischen dem locus terribilis und dem locus amoenus und erlaubt dem Leser eine Rückschau auf beide. Der ökonomisch-rechnende Umgang mit Lebenschancen und Lebensrisiken hat sich als organisierendes Prinzip des locus terribilis erwiesen, den Tychander nach seiner Trennung von der Vaganteninnung betritt. Die Bedrohlichkeit des einsamen Ortes steht im Kontrast zu Tychanders nüchternen Verfahren der Naturerkenntnis und mit seiner unternehmerischen Disziplin, die ihn in den Besitz wertvoller Geldmittel brachten. Das Geld indes unterwirft und entwertet Menschen und Dinge: Dämonie des Gelderwerbs, die auf den Fundort des Geldes zurückschlägt. Offenbar ist der locus terribilis hier Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht etwa ihr schauriges Gegenbild. Diese Realität der Mechanismen von Herrschaft und Isolation wurde beim Grenzübertritt zum locus amoenus noch deutlicher. Durch seine Nachbarschaft zum Schrecklichen ließ sich das Bild der friedlichen Natur in zwei Funktionen beobachten: als utopische Gegenwelt zur Wirklichkeit, die in ihrer scharfen Trennung von den Realitäten gerade Unfreiheit und Ungleichheit kritisch zum Vorschein bringt, und als manipulative Maskerade, die die realen Herrschaftsansprüche verbergen soll. Eine Überprüfung der These, daß 57
Lauf der Welt 266.
Geburt der Pikareske aus dem Geiste der Travestie
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die Genres des Idealen, der Bukolik und der Pikareske lediglich literarische Travestien für die Sehnsüchte des Lesepublikums im 17. Jahrhundert darstellten, führte zu der Schlußfolgerung, daß die Parodie und Travestie einer Gattung durch die andere kein selbstreflexives Spiel innerhalb des Literatursystems bleibt, sondern die literarischen Orte für jene realen Räume transparent macht, die ihre Entstehung provozieren. Konkurrierende Gattungsmuster entsprechen konkurrierenden Handlungsräumen der Erzählung, die ihrerseits Konfliktfelder konkurrierender Interessen sind. Gerade durch die Konkurrenz der Gattungsmuster erwies sich der innere Zusammenhang von locus terribilis und locus amoenus. Die ökonomische Selbstbehauptung und Vorteilsnahme stellt genau jene Realität dar, gegen die sich die bukolische Utopie erfolglos auflehnt. Mit dem locus amoenus hat DÜ RERs Schelmenroman die ideale Überhöhung der bürgerlich-kooperativen Werte und zugleich ihr Scheitern an der Realität vorgeführt. Die pikareske Realität holt die bukolische Utopie ein, ohne sie zu entwerten: Geburt der Pikareske aus dem Geiste der Travestie. Auch in dieser Passage also ist D Ü R E R S Lauf der Welt keine Mischform, sondern ein Schelmenroman, der in einem dialektischen Sinne ganz er selbst ist, wo er in die schäferliche Maske schlüpft, um dem Anliegen des Schäferromans zu seinem Recht zu verhelfen. Der Abriß des kontrastierenden Ortes, den die Bukolik Arkadien nennt, gibt auch der pikaresken Lebenswelt schärfere Kontur.
Die Projektion des Idealromans und die Projekte des Unternehmers: Tychander versucht sein Glück in Übersee und erlebt einen aufhaltsamen Aufstieg Nach dem vergeblichen Versuch, den festen Boden Arkadiens unter die Füße zu bekommen und ein Leben in gesicherter Abgeschiedenheit zu führen, geht Tychander zur See. Er macht sich auf den Weg in die vornehme Stadt Amsterdam, um dort auf einem Schiff der Ostindischen Kompanie anzuheuern. Diese Initiative gleicht einer Flucht nach vorn, hat Tychander doch zuvor die ihm verbleibenden Optionen durchgespielt. Ohne Investiv-Kapital in den krieg zu gehen, hält er nicht vor rahtsam, da eine ober-officirers stelle Geld kostet. Was bleibt ihm? [...] arbeiten aber hatt' ich nicht gelernet / und zu betteln schämte ich mich.1 Tychanders Situation hat sich seit seiner Flucht aus Leiden nicht verändert. Jedes Unternehmen endete mit einem Desaster und zwang ihn, den heiß gewordenen Boden zu verlassen. Daß er, um die neuen Kontinente anzusteuern, zunächst einmal nach Holland zurückkehren und auf dem Weg dorthin sein altes und schon meist verlerntes bettel-handwerck wieder aufnehmen muß, steht offenbar auch unter dem Zwang der Wiederholung. Den erneuten und jetzt radikalen Entschluß, die Räume zu vertauschen, um der Wiederholung des Immergleichen zu entkommen, hält der Erzähler für illusionär: Letzlich entschlos ich mich nach langem zweifei diß theil der weit / als in welchem ich nichts als lauter ungliick erlebet hatte / gäntzlich zu verlassen / und mein glück in denen weitentlegnesten Indien zu suchen: aber ich bedachte nicht daß das Unglück auch mit mir über die see reisen könte.2
Wohl erwartet der Held, daß sich seine Geschichte qualitativ ändert, wenn er eine weite Distanz zwischen sich und seinen bisherigen Handlungsraum legt. Er hofft auf das Versprechen, in einer neuen Welt einen wirklich neuen Anfang machen zu können. Der Erzähler aber erkennt, daß der Verkehr mit anderen Kontinenten nicht etwa Grenzen überschreitet und das Fremde erschließt, sondern den eigenen Horizont lediglich weiter vorschiebt und das Bekannte auf der Reise ins Unbekannte mittransportiert. Damit ist der exotische Raum von vornherein entzaubert. Natürlich erwartet den Helden dort Unvorhergesehenes; dieses Neue jedoch ist nicht von dem Alten zu trennen, so wie die Kontinente durch den Schiffsverkehr miteinander verbunden sind. 1 2
Lauf der Welt 267. Laufder Welt 267.
Reisebericht
und Roman: Erwartung und
Erfahrung
305
Tychander reist nicht gänzlich erwartungsfrei, um sich von dem Neuen, Fremden überraschen zu lassen. Das Reiseziel liegt vielmehr bereits in in seinem Erwartungshorizont, den sein Erfahrungsraum einzuholen im Begriff ist.3 Der neue Kontinent beginnt bereits im Kopf desjenigen, der sich auf die Reise macht.4 Wenn sie sich später auch als falsch erwies, so hatte Kolumbus doch eine Karte nötig, d.h. eine hypothetische Vorstellung von der Welt, um überhaupt in See stechen zu können. Wie sehr der neue Kontinent im Kopf des Abfahrenden bereits Gestalt angenommen hat, hängt von seinen Zielen und Plänen ab. Der Erwartungshorizont des Abreisenden wird allerdings nicht allein durch seine individuellen Vorstellungen konstituiert. Indem Tychander ein Schiff der Ostindischen Kompanie besteigt, schließt er sich einem bereits laufenden Projekt an, das die Rahmenbedingungen für seine individuelle Unternehmung absteckt. Der fiktive Held hat realgeschichtliche Vorläufer, deren Reiserouten sich mit seiner überschneiden und deren Spuren die seinen kreuzen. Diese Routen wären auf zeitgenössischen Karten der Handelswege auffindbar, so daß sie in ihrer Wechselbeziehung anschaulich würden. Den Rahmen, in dem Tychanders Unternehmen sich abspielt, veranschaulicht etwa eine britische Karte der für die Handelsrouten wichtigen Winde.
Abbildung 34: Edmund Halley: Karte der vorherrschenden Winde auf denSeewegen des beginnenden Welthandels, 1686. Reproduziert nach CHANDRA MUKERJI, From Graven Images, Patterns of Modern New York (Columbia University Press) 1983, 115.
Materialism,
Im Zentrum dieser Karte liegt Afrika, in dem die Regionen verzeichnet sind, die auch für Tychanders Weg wichtig sein werden: Guinea, Mosambik und Abessinien.5 Eine solche Parallele zwischen der Romanfiktion und den realen 3
'
Vgl. REINHART KOSELLEK, "'Erfahrungsraum' und 'Erwartungshorizont' - zwei historische Kategorien": Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 757) 1989,349-375. Vgl. BURCKHARDT, Metamorphosen von Raum und Zeit 158/159 über die Amerikafahrer des Kopfes.
306
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Handelsunternehmungen der Zeit legt nahe, ein Szenario der Reise Tychanders entwerfen, um die Welt zu rekonstruieren, in der und in die er aufbricht. Das Szenario einer möglichen Realität, die im Hintergrund der Romanfiktion steht, könnte sich der Reiseberichte bedienen, die einige reale Vorläufer Tychanders verfaßt haben. Diese Vorläufer wären dann als stille 'Mitreisende' zu betrachten, deren Erfahrungen Tychanders Geschichte aus einem anderen Blickwinkel erhellen. Wie Tychander ist bereits im Dezember 1607 eine Flotte von sieben Schiffen der Ostindischen Kompanie6 unter Admiral PIERRE WILLEMSZ VERHOEVEN in See gestochen. Der Konvoi ist Teil eines regen Seeverkehrs, bei dem Freund und Feind, Konkurrenten und Partner einander auf See begegnen, wie eine hamburgische Flotte, die sich südlich von Dover und Calais den Niederländern anschließt.7 Konkurrenz und Zusammenarbeit der Handelskompanien teilen den Raum der zu Schiff erreichbaren Welt untereinander auf. Dem Vorbild der unternehmerischen Expansion folgt auch die geistiggeistliche Aufteilung der Welt. Den Handelskompanien folgt die Compagnie de Jesus, die Gesellschaft Jesu. Am Freitag, dem 16. April 1621, wird der portugiesische Jesuit JERÓNIMO LOBO darüber in Kenntnis gesetzt, daß er für die Indienmission vorgesehen ist.8 Die Nachricht ist um acht Uhr morgens in seinem Collegium eingetroffen, um viertel vor zehn wird er informiert. Um drei Uhr nachmittags verläßt er das Collegium und trifft in der Nacht von Montag auf Dienstag in Lissabon ein. Am Dienstag wird er zum Subdiakon geweiht, am Mittwoch zum Diakon und am Donnerstag zum Priester. Am folgenden Sonntag liest er seine erste Messe und am darauffolgenden Donnerstag zwischen acht und neun Uhr, knapp zwei Wochen nach dem Eintreffen des Marschbefehls, verläßt LOBO mit der auslaufenden Flotte Lissabon in Richtung Indien. Der Jesuit vollzieht in seinem Reisebericht die atemberaubende Geschwindigkeit und die raum-zeitliche Präzision nach, mit der er in 3
6
'
'
Vgl. zu dieser Karte NORMAN J. W.THROWER, Maps & Man, An Examination of Cartography in Relation to Culture and Civilization, Englewood Cliffs, N.J. (Prentice Hall) 1972, 65. Die Gesellschaft wurde 1 6 0 2 gegründet. Vgl. PAUL ZUMTHOR, Das Alltagsleben in Holland zur ZeitRembrandts, deutsch von KIRSTIN HENNING, Leipzig (Reclam-Bibliothek 1 4 3 4 ) 1 9 9 2 , 3 2 7 . Vgl. RECUEIL DES VOIAGES Qui sont servi à l'établissement & aux progrès DE LA COMPAGNIE DES INDES ORIENTALES, Formée dans les Provinces-Unies des Pais-Bas. TOME QUATRIEME. Seconde Edition revue & augmentée des plusieurs pièces curieuses. Amsterdam 1725. Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: Ν 32b, Band 4. Ich benutze die englische Version des Reiseberichts von JERÓNIMO LOBO, die als moderner Druck leicht zugänglich ist. Vgl. The Itineràrio of Jerónimo Lobo, tr. by DONALD M . LOCKHART, ed. by M . G . DA COSTA, introduction and notes by C . F . BECKINGHAM, London (The Hakluyt Society) 1984, 1. Wie die Bibliographie bei LOCKHART/DA COSTA (XV) belegt, war LOBOS Werk in verschiedenen europäischen Sprachen verbreitet. Mir lag zum Vergleich vor: VOYAGE HISTORIQUE D'ABISSINIE, DUR. P. JEROME LOBO DELA COMPAGNIE DE JESUS. Traduit de Portugais, continué & augmenté de plusieurs Dissertations, Lettres & Mémoires. Par M. LE GRAND, Prieur de Neuville-les-Dames & de Prevessin. Amsterdam 1728. Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: Ν 557.
Reisebericht und Roman: Erwartung und Erfahrung
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das dichte Koordinatennetz der weltmissionarischen Einsatzpläne seines Ordens einbezogen wird. L O B O ist Teil einer übergeordneten Strategie, die seine Reise bereits vorstrukturiert und minutiös geplant hat, bevor die Möglichkeit zu reisen überhaupt in den gedanklichen Horizont des jungen Jesuiten gelangt ist. Seine eigenen Erfahrungen schreibt er in ein vorliegendes System der Weltkartierung ein. Der in Lübeck geborene PETER HEYLING beschließt, das jesuitische Modell der Mission zu kopieren und damit gleichzeitig in seine Konkurrenz zu treten. Etwa um das Jahr 1628 verläßt er als Hofmeister vornehmer junger Leute Lübeck in Richtung Franckreich,9 von wo aus er 1632 in Gesellschaft eines und andern Freundes über Italien und Malta nach Alexandrien reist.10 Ausdrücklich will er es denen Römisch-Catholischen Missionariis gleichsam nachthun und die Lehre des Evangelii in der Welt ausbreiten,11 wozu ihm aber eben keine weltumspannende Organisation zur Verfugung steht. HEYLING ist eher ein Kleinunternehmer der Glaubensverbreitung, der jedoch nicht um die Orientierung an den Vorleistungen der Konkurrenz herumkommt. Es ist also kein leerer Raum, in den Tychander aufbricht, obwohl er ihn zunächst nicht anders zu benennen weiß, als mit der antikisierenden Floskel vom Barbarischen gestade.12 Doch auch diese Floskel ist nicht unerheblich für die Rekonstruktion des historischen Erwartungshorizontes, in den sich das Reiseunternehmen Tychanders und die Erzählung seiner Abenteuer einschreibt. Denn die Begegnung mit dem Fremden ist nicht allein bestimmt durch wissenschaftliche Hypothesen und ökonomische Strategien. Die Wechselbeziehung von Lebens- und Zeichenpraxis bringt es mit sich, daß auch fiktiven Formen der Welterwartung eine reale Bedeutung zukommt, da sie das Denken und Handeln bestimmen. Die realitätsstiftende Macht des Fiktiven erlangt da eine besondere Bedeutung, wo die Manipulation der Realität einer Semantik der Eroberung vorarbeitet. Es wird sich zeigen, daß das Bild vom verschlagenen Afrikaner, der den hilflosen Weißen versklavt, die Realitäten umkehrt und ein auf Mißtrauen und Übervorteilung beruhendes Handeln begründen hilft. Hier setzt die Komplementärlektüre des Textes an, die die Romanfiktion mit den historischen Fakten konfrontiert, indem sie sie in das Szenario einer möglichen Realität rückübersetzt. Das Szenario, das zur Veranschaulichung historischer Strukturen entworfen wird, ist natürlich ebenfalls eine Projektion. Wird es normaler'
10 11 12
Vgl. Sonderbarer Lebens=Lauff Herrn Peter Heylings Aus Lübec, Und dessen Reise nach Ethiopien; Nebst Zulänglichem Berichte Von der in selbigem Reiche zu Anfange des nächst=verwichenen Saeculi entstandenen Religions=Unruhe: Aus des Sei. Hn. Geh. Rath Ludolfs Edirten Schriften und andern noch nicht gedruckten Documenten, zur gemeinen Nachricht herausgegeben von D. IO. HENR. MICHAELIS [...]. Halle 1724. 8/9. Benutztes Exemplar: UB Münster, Signatur: an 47: 97 67. Vgl. Lebens=Lauff Peter Heylings 100. Vgl. Lebens=LauffPeter Heylings 99. Vgl .Lauf der Welt 26%.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
weise eingesetzt, um mögliche Auswirkungen gegenwärtigen Handelns in der Zukunft zu veranschaulichen, so verwende ich es hier, um die Realitäten der Vergangenheit in ihren möglichen Auswirkungen auf den Einzelfall vorzuführen.13 Erst in der Konfrontation mit den konkurrierenden Versionen, die sich die Erzählung aneignet, werden die handlungsleitenden Fiktionen kritisierbar, die das Geschehen um den Helden, die Strategien der Erzählung und die zeitgenössische Lebenspraxis bestimmen. Diese Strategien der Erzählung konfrontieren die Glückserwartung des Helden schon bei seinem Reiseantritt mit der notwendigen Kehrseite des Glückes auf dem schwankenden Boden einer von Occasio/Fortuna bestimmten Seefahrt. Der Erzählerdiskurs verschweigt die Voraussetzungen, die dieses schwankende Glück bereits im Wechselspiel zwischen Erwartungshorizont und Erfahrungsraum, zwischen vorgängigen Mustern der Welteroberung und realen Widerständen hat. Wenn bei Tychanders Abfahrt guter Wind den Erfolg der Reise verheißt, macht das beinahe vergessen, daß Glück und Unglück sowohl vom gedanklichen Horizont des Abfahrenden wie von den sozialen und materiellen Rahmenbedingungen des Unternehmens abhängen. Tychander sieht sich wie seine zeitgenössischen 'Mitreisenden' unterwegs mit den Konsequenzen der Voraussetzungen konfrontiert, die immer schon gemacht sind, wenn die Reise beginnt. Zu derlei Voraussetzungen gehören die mathematischen Abstraktionen more geometrico, mit deren Hilfe die Orientierung auf See gesucht wird. Im Gegensatz zu den Längengraden ist die Bestimmung der Breitengrade im 17. Jahrhundert schon recht sicher, so daß als naturimmanente Landmarke erscheint, 13
Vgl. DIETER KOHN, Der Parzival des Wolfram von Eschenbach, Frankfurt am Main (Insel) 1989, 70. Ich bediene mich damit eines ähnlichen Verfahrens wie etwa UMBERTO ECO, der in seinem Roman Die Insel des vorigen Tages ein lebendiges Bild der wissenssoziologischen Wechselbeziehungen zeichnet, die zur Entstehung der modernen Naturwissenschaft und des Welthandels fithrten. Wenn er seinen fiktiven Helden nach der Bestimmung der Längengrade forschen läßt, die erst die verläßliche Fixierung strategischer Punkte auf Karten ermöglicht, zeigt er ihn im Brennpunkt der politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts. Ich bediene mich der Form des Szenarios jedoch zu anderen Zwecken. Meine Komplementärlektüre hat nicht die Aufgabe, der Version der Erzählung eine gleichwertige, ebenso fiktive Version gegenüberzustellen, sondern durch die Konfrontation widersprüchlicher Versionen zu den historischen Mechanismen vorzustoßen, die die Eroberung fremder Kontinente gerade dadurch ermöglichten, daß sie fiktive Versionen ihren realen Erfahrung vorausgehenließen. Vgl. UMBERTO Eco, Die Insel des vorigen Tages, deutsch von BURKHART KROEBER, München (Hanser) 1995. Ich halte Ecos Buch fur den konsequentesten und gelungensten Beitrag einer postmodernen Literaturrezeption, der es nicht mehr um die dialektische Konfrontation von Fiktion und Fakten, sondern lediglich um die Konstruktion möglicher Welten geht. Eine Literaturrezeption, die davon ausgeht, daß Texte und Karten lediglich auf Texte und Karten rekurrieren, findet in Ecos Roman zu ihrer wahren Bestimmung, da sich das Buch auf die Produktion einer Fiktion beschränkt, deren Erkenntnisgewinn dann wieder von einer historisch arbeitenden Wissenschaft eingeholt werden kann. Vgl. die Hinweise auf die realen Vorbilder der Romanfiguren in der Rezension von ANDREAS KILB, "Der Tanz auf dem Meridian, Umberto Ecos erlesener Schiffbruch, Der Barockroman Die Insel des vorigen Tages". Die Zeit, Nr. 12 (17. März 1995)73. 5
Schiffbruch: Zeichenpraxis und Überlebenspraxis
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was nichts weiter ist als eine geometrisch erschlossene Hilfslinie auf den Seekarten. In Tychanders Erzählung wird der Äquator als Landmarke darüber hinaus zur Wendemarke des Geschehens: Wir gebrauchten mehrentheils guten wind so lange biß wirfast oder Circulo AEquinoctiali gelanget waren / da wurden wir chen stürm überfallen / durch welchen unser schiff/ daraujf verwotffen wurde und von denen andern sich verirte / also das leine halten musten f···]·14
zu der Mittel-linie von einem plötzliich mich befände / wir unsern weg al-
Nachdem das Geschehen den Helden auf hohe See geführt hat, ist auch das Schiff, das im allegorischen Stereotyp vom Sturm auf dem Lebensmeer zur trockenen Abstraktion geworden war, in sein ursprüngliches Element zurückgekehrt. Sobald das isolierte rhetorische Bild in den Zusammenhang zurückgefunden hat, dem es entstammt, wird auch dieser Zusammenhang durch die allegorische Tradition mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen." Dies zeigt sich an dem Verbum verwerfen, mit dem die Isolierung des Schiffes von seiner Flotte bezeichnet wird. Die grammatische und semantische Valenz des Veibums verlangt nach einem Agenten, nach demjenigen, der das Schiff verwirft. So kommen dem verwerfenden Sturm die Züge der allegorischen Fortuna zu, hinter der wiederum die Vorsehung und ihr Agent, der Herr der Welt, vermutet werden können.16 Zudem kann immer assoziiert werden, daß in Lu 17 THERs Bibelsprache Gott den Menschen verwirft und verstößt. Isolation also ist die Konsequenz des Verworfenseins. Auf der Ebene der Zeichen wiederholt die Szene den Vorgang, der sich auf der Geschehensebene abspielt. Durch den Sturm ist das Schiff und seine Besatzung materiell und existentiell bedroht. Das Schiff, künstliches Werkzeug der räumlichen Expansion, droht unterzugehen. Das System der räumlichen Orientierung durch mathematische Abstraktion, das sich in der Äquatorlinie konkretisiert, findet seinerseits eine Grenze an der in der FortunaInstanz personifizierten Unwägbarkeit. In der Konfrontation zweier Zeichensysteme, des mathematischen und des allegorischen, die analog konstruiert sind und beide auf die Beherrschung der komplexen Realität zielen, werden ihre Konsequenzen konkret. Denn das Geschehen vollzieht ironischerweise nach, worauf beide abstrahierend-syntlietisierenden Verfahren beruhen: die Isolation des einzelnen Phänomens zu den Zwecken seiner Steuerbarkeit. Das Schiff, auf dem sich Tychander befindet, wird durch die Erzählung von der "
Lauf der Welt 268.
13
Zur konventionellen Beschreibung des Seesturms vgl. MEID, "Vergile Aeneis als Barockroman"
"
Das Deutsche Wörterbuch von JACOB und WILHKM GRIMM, Band 25, V-Verwunzen, München (Deutscher Taschenbuch Verlag) 1991 = Leipzig (Hirzel) 1956, gibt s.v. VERWERFEN, Sp. 2219 ein Zitat von SEBASTIAN FRANCK (1538), das diese Verbindung zieht: ein tempestet und fortuna des meers verwarf die schiff also wider einander und an die gestatt, das unter 200 galleen und nauen wenig davon kamen. VgL Deutsches Wörterbuch, s.v. VERWERFEN. Sp. 2222.
161/162.
"
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des
Glücks
übrigen Flotte isoliert, um es einer bestimmten experimentellen Situation auszusetzen. Diese Situation wird durch einen zweiten Sturm herbeigeführt, der nach einer zweiten Landmarke, dem Vorgebürge der Guten Hofiiung, das Schiff nun vollends zerstört und sinken läßt.18 Mit dem Kap der Guten Hoffnung ist ein geographisches Phänomen benannt, dessen reales Gefahrdungspotential es zum Inbegriff der Bedrohung und des Scheiterns werden ließ. Da ordnete etwa PIERRE WILLEMSZ VERHOEVEN, der Admiral der niederländischen OstindienFlotte, am 28. Juni 1608 Dankgottesdienste an, um die erfolgreiche Umseglung des Kaps zu begehen." DÜRERS Erzählung läßt auch Tychanders Schiff glücklich das Kap passieren, um es dann, an unerwarteter Stelle, scheitern zu lassen. Auch durch das Abwerfen von Ladung, den Versuch also, durch kontrollierten Verlust den Totalschaden abzuwenden, lassen sich die erzürnten wellen nicht befriedigen. Tychander rettet sich aus dem sinkenden Schiff mit einer alten weintonne an Land. Dort sieht er sich, kaum selbst dem Untergangsgeschehen entkommen, sofort in einen Zuschauer verwandelt, der den Schiffbruch als erbärmliches schau-spiel vor äugen hat.20 In Tychanders Perspektivenwechsel deutet sich die Ambivalenz an, mit der hier ein Geschehen in den Augen des Helden zur Geschichte und in seiner Darstellung zur Erzählung wird. Der Vorgang, der den Beteiligten aus dem Geschehen isoliert, um ihn zum Beobachter werden zu lassen, der im nachhinein als Erzähler auktorialen Zugriff auf das Geschehen hat, macht es möglich, eine Situation gedanklich und sprachlich zu beherrschen, die in ihrem Verlauf unbeherrschbar war. Wenn sich die Erzählung des Steuerungsverlusts bedient, um ihre Figur dahin zu lenken, wo sie gebraucht wird, hebt sie die in ihr aufgehobene Erfahrung des Scheiterns aller Projekte und Projektionen tendenziell auf. Gleichzeitig aber ist das berichtete Geschehen an eine Realität rückgebunden, von der sich die Erzählung steuernd befreien wollte. Die zeitgenössische unternehmerische Praxis liefert immer wieder Gegenversionen für das Geschehen, das die Erzählung für ihre Zwecke arrangiert. Für das Scheitern des Schiffes wären neben den zweifellos bedrohlichen Seestürmen auch ganz andere Gründe denkbar. Wie der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, so geht die christliche Seefahrt der handeltreibenden Nationen nahtlos in Piraterie und militärische Auseinandersetzungen über.21 Mit erstaunlicher Präzision bereitet sich etwa die Ostindische Kompanie auf solche Zusammenstöße vor. Die Kapitäne der Flotte unter PIER RE WILLEMSZ VERHOEVEN beratschlagen am 23 Juli 1608, als sie sich exakt auf der Breite von 17 Grad 14 Minuten befinden, über die geheimen Instruk" " 20 21
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 268-273. Vgl. Recueil des Voiages [...] de la Compagnie des Indes Orientales [...] IV, 19. Vgl. zum Wandel der Wahrnehmungsweisen BLUMENBERG, Schiffbruch mit Zuschauer. Zur Wechselbeziehung zwischen Handelsschiffahrt und Piraterie bei den Niederländern vgl. ZUMTHOR, Das Alltagsleben in Holland 322/323.
Schiffbruch: Zeichenpraxis und
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Überlebenspraxts
tionen der Kompanie-Direktion für den Fall einer Konfrontation mit portugiesischen Schiffen, die in der Nähe der Insel Mosambik (südlich des 15. Breitengrades) zu erwarten ist.22 Seitenwechsel: Genau 14 Jahre später, am 23. Juli 1622, läuft das Schiff, mit dem der Portugiese JERÓNIMO LOBO nach Indien unterwegs ist, südlich von Mosambik nach einer Seeschlacht mit einem niederländisch-englischen Flottenverband auf Grund.23 Obwohl die Schlacht bereits zu Ende ist, kann das Scheitern des portugiesischen Schiffes als später Erfolg der Gegner gewertet werden. Denn ihre Taktik bestand darin, die Portugiesen von See her zu beschießen, so daß sie, in größere Landnähe gedrängt, dort auf Untiefen stießen.24 LOBO bemerkt, daß die Gegner das Zusammentreffen nicht besser zu ihrem eigenen Nutzen hätten arrangieren können.25 In den Augen der Strategen wird die Natur zur Arrangeurin günstiger Gelegenheiten. Kunst und Technik sind nicht etwa Nachahmungen der Natur, das Bild der Natur wird vielmehr zum Abbild mathematischer, technischer und unternehmerischer Kalkulationen. Auch die Schiffbrüchigen in DURERS Erzählung eignen sich mit den Kategorien der Selbstbehauptung und Eroberung den unbekannten Raum an, in den sie angelandet und verschlagen sind.26 Unter der Leitung eines Hauptmanns wird eine Überlebens-Kompanie gegründet, die sich, den bewährten Navigationsmethoden der Küstenschiffahrt auch zu Lande folgend, die seekant haltende mitternachtswerts bewegt, um einen Handelsstützpunkt zu finden, von dem aus eine Heimreise per Schiff möglich ist. Der Hauptmann bezieht seine standhaftigkeit daraus, daß er das geschehene Unglück keinesfalls als eine ungewöhnliche begäbnis betrachtet, sondern als einen solchen zufall/ der nicht allein viel lausenden vor diesem zu banden gestoßen /sondern auch noch täglich denen seefahrenden begegnete. Das eigene Schicksal ist also nüchtern und geschäftsmäßig als in der Seefahrt einzukalkulierendes Risiko zu betrachten, dessen man alle tage gewärtig seyn muß. Zeit ist dem erfahrenen Kaufmann eine an sich unspezifische mathematische Reihe, die den Gewinn- und Verlustziffern täglich eine weitere hinzufügt. Die in DURERS Roman so heftig diskutierte Fragen von Glück und Unglück. Rettung oder Verlust des Lebens, hier werden sie zu Fragen der Statistik, die allerdings bei geschicktem Vorgehen zum eigenen Nutzen beeinflußt werden kann. Lebenspraxis bedient sich mathematischer Abstraktion, der Zeichenpraxis more arithmetico, um Distanz zu den Phänomenen und Souveränität über sie zu gewinnen. Nach Eintritt des Verlusts hat sich alle Aufmerksamkeit auf die Zukunft zu richten. Vor allem muß in fremder Umgebung das einmal bewahrte Leben nun gemeinschaftlich verteidigt werden, da die Gesellschaft andem22 23 24
" u
Vgl. Recueil des Voiages [...] de la Compagnie des Indes Orientales Vgl. The Itineràrio of Jerónimo Lobo 35/36. Vgl. The Itineràrio of Jerónimo Lobo 33. Vgl. The Itineràrio of Jerónimo Lobo 29. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 273-275.
IV, 19.
312
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
falls sämptlch denen Barbaren zum raub gerahten würde. Das bewährte Prinzip der Handelskompanie, die sich im gemeinschaftlichen Vorgehen gegen die Konkurrenz zu behaupten weiß, soll auch diese Unternehmung zum Erfolg fuhren. Doch zunächst stellt sich das Unternehmen als aufhaltsamer Marsch dar.27 Da auf der Wegstrecke das Gebirge zum Teil bis an die Küste reicht - womit sich die Küstenregion etwa im heutigen Tansania lokalisieren läßt -, müssen große Höhenunterschiede bewältigt und weite Umwege in Kauf genommen werden, so daß man innerhalb zweer monaten nicht viel über viertzig meilweges zurücklegt (wobei sich die Frage erhebt, wie der Erzähler die Entfernung wohl gemessen haben mag). Nach dieser Zeit trifft die Reisegesellschaft auf eine gar schlecht von leim aufgebaute Stadt, in der ein Mohren-könig residiert. Man campiert in einem Sicherheitsabstand von bey nahe zwo meil von der Stadt.
Allein: Was hilft die räumliche Distanz, wenn zu Überleben und möglicher Weiterfahrt doch der Kontakt mit der unbekannten einheimischen Bevölkerung gesucht werden muß? Zwei Dolmetscher, ein gebohrner Guineer auf afrikanischer Seite und ein Soldat, der sich lange zeit vor diesem zu Mozambique auffgehalten, nehmen die Verbindung auf. Nach behutsamem Vorfuhlen und langen Verhandlungen geht die Reisegesellschaft auf den Vorschlag ein, in die Stadt zu kommen, sich verpflegen zu lassen und dann mit einem Schiff zu einem holländischen Handelsstützpunkt gebracht zu werden. Die Europäer haben bei diesem Handel keine Chance, weil ihre Geschäftspartner über einen Wissensvorsprung und die Kontrolle der Räume und Termine verfügen. Zwar erweckt es argwöhn, daß die Gäste zu Zwecken der besseren Verpflegung kaum zwene oder drey zum höchsten in ein haus beysammen geqvartirt werden, doch aus Not fugt man sich auch darein, voneinander isoliert zu werden. Da haben die Gastgeber gute Gelegenheit, die Europärer gegen morgen zu überfallen und im stärkste schlafe zu überraschen. Der Handel entpuppt sich als Raub. Als sich die heldenhafte Ehefrau des Hauptmanns zur Wehr setzt und ihr der ritterliche Gatte beispringt, kommt es zu einem Massaker unter den Beraubten, dem nur Tychander entfliehen kann. Ganz isoliert und in der Wildnis auf sich gestellt, wird er von seinen Häschern ereilt und vom König der Mohren einem seiner Herren vor einen sclaven verehrt. Der Bericht über die getäuschten und Überfallenen Europäer verdient kein Interesse als Ereignisschilderung. In ihm äußert sich vielmehr eine Semantik der Eroberung, die beim Gegner das antizipiert, wozu sie selbst fähig ist. Der Text suggeriert, der Fehler der geschilderten Personen bestehe darin, daß sie die Täuschung nicht einkalkuliert und selbst zur Täuschung gegriffen haben, wodurch sie mit ihrer aktiven Rolle dem Gegner zuvor gekommen wären.28 In Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 275-288.
Semantik der Eroberung:
fiktives
Afrika
313
einem zeitgenössischen Bericht über Europäer, die sich mit einem Hauptmann des muslimischen Königs von Zeila am Horn von Afrika in Verhandlungen befinden, heißt es: Ich rieth [...], den Worten der Mohren den der Betrug angebohren wäre, ja keinen Glauben zu geben [...]. Vielmehr sollte er sich auf seiner Seite hinwiederumb einer List gegen sie bedienen, und diesem Hauptmann ein Geschenck, statt eines Danckes vor sein gütiges Anerbieten, übersenden. Dieses würde ihm alles Mißtrauen benehmen; und indem wir ihn darinnen bestärckten, als ob er uns [91] betrogen hätte, so würde uns solches wider seine Treulosigkeit zur Beschirmung dienen.29 Nach diesem guten Rat kommt es zum nächtlichen Überfall der Europäer auf die Stadt und zu einem Gemetzel unter der männlichen Bevölkerung, während die Frauen der Getöteten unter den Augen des katholischen Patriarchen auf die Kämpfer aufgeteilt werden. Wenn in DÜRERS Lauf der Welt dagegen die Europäer versäumen, sich den überlebenswichtigen Vorsprung zu sichern, beweisen sie die mangelnde Anpassungsfähigkeif ihrer vorgängigen Muster an die Realität und die mangelnde Fähigkeit, durch entsprechenden Gebrauch der Zeichen Realitäten zu schaffen. Beim Gegenüber, dem fremden Afrikaner, wird das vorausgesetzt, was das eigene Handeln bestimmt, die Übervorteilung des Handelspartners, der damit zum reinen Objekt des Handelns wird. Die Erzählung nutzt die Möglichkeit, durch die Erzeugung fiktiver Realitäten, die Unterlegenheit der Europäer im nachinein zu korrigieren. Literarische Muster helfen dabei, die Wirklichkeit aus der Perspektive des europäischen Zuschauers zurechtzurücken. Auch die folgende Beschreibung der mehr als Türckischen dienstbarkeit, die Tychander zu erdulden hat, hat topischen Charakter, gab es doch populäre Werke über Europäer, die in die Sklaverei der Türken gefallen waren, wie etwa MICHAEL HEBERERS Aegyptiaca servitus von 1610.31 Die Anlehnung an literarische Modelle erlaubt es den Verfassern und mithin auch Tychander als Ich-Erzähler, in der ägyptischen Dienstbarkeit das biblische Modell zu realisieren und sich selbst nach dem Vorbild des frommen Josef zu stilisieren.32 21
®
Vgl. TODOROV, Die Eroberung Amerikas 135 über Corles und die Zeichen. MATURIN VEYSSŒRE LA CROZE, Historische Beschreibung des Zustandes der Christlichen Religion in Ethiopien und Armenien [...]. Danzig 1740. 90/91. Benutztes Exemplar: U B Münster, Signatur: 47:9767.
30 31
31
Vgl. TODOROV, Die Eroberung Amerikas 122. Vgl. MICHAEL HEBERER VON BRETTEN, Aegyptiaca servitus, Nachdruck der Erstausgabe Heidelberg 1610, eingeleitet von KARL TEPLY, Graz (Akademische Verlagsanstalt) 1967 = Frühe Reisen und Seefahrten in Originalberichten 6. Die Einleitung (X) verzeichnet acht ähnliche Zeugnisse. Zur Konjunktur der Türkei-Literatur und ihrer Entlastungsfunktion für die europäischen Leser vgl. TATLOCK, "Selling Turks, Eberhard Werner Happel's Turcica (1683-1690)". HEBERER ruft diese Assoziation bereits durch den Titel seiner Schrift auf. Eine episodische Ähnlichkeit von DORERS Lauf der Welt zu ZESENS Assenât, die die Josephsgeschichte zum Sujet hat. sieht bereits BLAKE LEE SPAHR in seiner Rezension von MAYERS Mischformen barocker Erzählkunst in Germanie Review 48 (1973) 318-321, hier 320.
314
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Gegen solche Selbststilisierung spricht jedoch eine Komplementärlektüre, die von der sozialhistorischen Realität her die Erzählung spiegelbildlich verkehrt. DÜRERS Text bietet einen Anhaltspunkt, von dem aus diese Gegenlektüre entfaltet werden kann, wenn er als Dolmetscher der ostafrikanischen Mohren einen Guineer, einen Westafrikaner also, einführt. Diese Unwahrscheinlichkeit erhält erst dann einen Sinn, wenn die Frage beantwortet wird, woher denn der Guineer seiner Sprachkenntnisse haben könnte. Vielleicht hat der Afrikaner seine Kenntnisse in Deutsch, Niederländisch oder Englisch von Vertretern der in Guinea tätigen Handelskompanien erworben. Eine davon wurde im Jahr 1657 in der Heimatstadt DÜRERS, in Glückstadt, unter der Hoheit des dänischen Königs gegründet, war aber eine Tarnorganisation für den Kaufmann HENDRIK CAERLOFF, der zunächst Angestellter der Westindischen Kompanie in Amsterdam war. Dieser HENDRIK CAERLOFF nahm innerhalb unterschiedlicher Organisationen in verschiedenen Ländern Teil am internationalen Wettbewerb um den Löwenanteil im SklavenhandelZwei
hamburgische Kaufleute
führten im Auftrag CAERLOFFS die Glückstädter Afrika-Kompanie, aus deren Arbeit im Jahre 1676 ein Bericht über di e Africanische Auf Der Guineischen Gold=Cust gelegene Landschafft FETU hervorging.34 Der Bericht läßt aber nicht deutlich werden, daß das eigentliche Gold dieser Gegend in Negersklaven für Amerika bestand, für die sich astronomische Gewinne erzielen ließen.35 Dieser Handel spielte sich also in der Welt Tychanders, von Amsterdam aus, und im direkten Lebensumfeld DÜRERS und seiner Leser, in Glückstadt und Hamburg, ab. Hamburgische Kaufmannsschüler konnten im Rechenbuch des VALENTIN HEINS in einer Schluß=Zugabe an einer imaginären Schiffsreise nach West=Jndien teilnehmen, die wohlbegüterte Handels=Leute
als Compagnia
ausgerüstet hat.36 In Amsterdam eingekaufte Wahren werden nach Guinea verschifft und dort gegen contant Gold, Eliphanten=Zähne,
und Sclaven ver-
handelt. Leider sind Verluste zu beklagen, denn auf dem Wege sind 8 gestorben. Trotzdem kann der Geschäftsführer nach wohl abgelegter Reise den Anteilseignern eine vergnügliche Rechnung aufmachen, da sie bei dem Gesamtunternehmen 100 Prozent Gewinn gemacht haben. So findet in der schweren Zeit der weltgewandte Geschäftsmann mit des Höchsten Gunst
in Übersee den Gewinn, der sich in Europa nicht mehr einstellen will, wie der beigegebene Sinnspruch tröstend bemerkt.
33 M
Vgl. BARBOUR, Capitalism in Amsterdam 134/135. Vgl. JOHANN WILHEM MOLLER, Die Africanische Auf Der Guineischen Gold=Cust gelegene Landschafft FETU = Frühe Reisen und Seefahrten in Originalberichten 7, Nachdruck der Ausgabe Hamburg 1 6 7 6 , eingeleitet von JORGEN ZWERNEMANN, Graz (Akademische Verlagsanstalt) 1968.
3Î 36
Vgl. Vgl.
ZUMTHOR, Das HEINS,
Alltagsleben in Holland 335. Gazophylacium 629-635.
315
Semantik der Eroberung: fiktives Afrika
Auf diesen sozialgeschichtlichen Hintergrund wird in DÜRERS Lauf der Welt mit der unscheinbaren Erwähnung des Guineers angespielt. Der aufmerksame Leser hat damit die Möglichkeit, den fiktiven Ort des Geschehens durch seine spiegelbildliche Verkehrung in Realität zurückzuverwandeln. Denkt man sich nämlich eine senkrechte Mittelachse durch den afrikanischen Kontinent - etwa beim 20. Grad östlicher Länge -, so findet sich der reale Ort der Sklaverei, Guinea, anhand dieser Achse ziemlich genau spiegelverkehrt zum Schauplatz der Versklavung Tychanders, der zwischen Tansania und Abessinien vermutet werden muß. ____——
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20"fcilîicMrUng« symmetrische SpwgelacMo Abbildung 35: Afrika als Projektionsfläche europäischer Interessen und Obsessionen. Computerskizze von SYLVIA CORDIE nach einer Kartenvorlage in WB-Sofì Clip Arts (TLC-Tewi) unter Verwendung von Ulead PhotoImpact 3.0.
316
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Der räumlichen Vertauschung der Plätze entspricht die soziale, wodurch der Europäer zum Herrn und der Afrikaner zum Sklaven wird. Indem sie den Erzählraum auf eine Karte projiziert und nach eigenen Realitätskriterien neu konfiguriert, bedient sich meine Lektüre derselben Mittel wie die Erzählung, um den Prozeß der erzählerischen Verfremdung der Realität rückgängig zu machen. Der Leser wird zum zweiten Zuschauer, der Tychander als Zuschauer und Erzähler beobachtet und dessen Version der Ereignisse von einem anderen Standpunkt her revidiert. Ein feiner Riß in der Plausibilität, die Anwesenheit des Westafrikaners in Ostafrika, öffnet innerhalb der Erzählung den Blick auf die zeitgenössischen Realitäten. Auf der Landkarte muß dieser Riß nur noch zur Spiegelachse ausgezogen werden, um zu veranschaulichen, was sich hinter der erzählerischen Inszenierung verbirgt. Immer wieder hält DÜRERS Erzählung irritierende Momente bereit, die verhindern, daß der erzählte Raum zur reinen Projektionsfläche für illusionäre Vorstellungen wird. Der unerwartete Standortwechsel entfaltet ein widersprüchliches Ensemble von Perspektiven, die der Komplexität realer Räume entsprechen. An eine geläufige europäische Wunschvorstellung schließt die Erzählung von Tychanders Befreiung aus der Sklaverei an. Diese Wunschvorstellung wird jedoch schnell mit den inneren Widersprüchen der Handlung konfrontiert, so daß auch sie einer Perspektivierung durch die Erzählung unterliegt und durch die Lektüre revidiert werden kann. Ein Abyßinischer kaufmann löst Tychander bei seinem Herrn aus, nimmt ihn als seinen Neben=Christen mit in das christliche Abessinien und beherbergt ihn dort nicht anders als [291] einen bruderMit seinem Ortswechsel betritt Tychander den sagenhaften Gegenstand literarischer Projektionen. Bereits in der Antike nämlich diente das exotische Äthiopien oder Abessinien als Schauplatz der Aithiopika des HELIODOR, die das Modell für die Idealromane der Frühen Neuzeit abgaben.38 Eine besondere Qualität aber entwickelte die Abessinienvorstellung im Spätmittelalter, als durch die Nachrichten von einem christlichen Königreich in Afrika die traditionelle Sage von einem außereuropäischen Monarchen, dem Priester Johannes, auf Abessinien übertragen wurde.39 Das unbekannte Land auf dem 37 M
39
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 290-293. Die erste deutsche Obersetzung liegt in einem Reprint vor: HELIODORUS EMESENUS, Aethiopica historia, übersetzt von JOHANNES ZSCHORN, Faksimiledruck der Ausgabe von 1559, hg. von PETER SCHÄFER, Bern, Frankfurt/M., Nancy und New York (Lang) 1984 = Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 30. Vgl. A. H. M. JONES and ELISABETH MONROE, A History of Ethiopia, Oxford (Clarendon Press) 1955, 59-63. Der erste bedeutende Reisebericht Ober Abessinien von FRANCISCO ALVARES trägt dieser Vorstellung Rechnung und ist im Original betitelt Ho Preste Joam das indias. Eine deutsche Fassung war unter leicht verändertem Titel im Umlauf: FRANCISCO ALVAREZ, Wahrhafftiger Bericht Von den Landen / auch Geislichen und Weltlichen Regimine/ des Mechtigen Königs in Ethiopien / den wir Priester Johann nennen [...]. Eisleben 1566. Der Text ist vorhanden in der UB Marburg, Signatur: VI c Α 91 b. Mir lag die englische Obersetzung der Hakluyt Society vor: The Prester John of the Indies, A true Relation of the Lands of the Prester John, being the
Abessinienlegende
und
Staatsroman
317
schwarzen Kontinent bot die ideale Projektionsfläche für Wunschvorstellungen aller Art, aus denen sich in der Frühen Neuzeit das Projekt der Einverleibung des christlichen Landes in den Machtbereich der abendländischen Kirche entwickelte.40 Die von Portugal ausgehende jesuitische Mission in Abessinien verfolgte nach anfänglicher vorsichtiger Kontaktaufnahme das eigenartige Ziel, ein bereits christianisiertes Land erneut zu missionieren und der römischen Oberhoheit zu unterwerfen. Das Scheitern dieser Mission und die Vertreibung der Jesuiten führte zu einer erneuten Isolation des afrikanischen Landes, das damit einiges von seinem ursprünglichen Geheimnis behielt. Im Gefolge der portugiesischen Unternehmungen gab es eine blühende Abessinienliteratur in Europa, in der wirkliche oder angebliche Reisende Gelegenheit fanden, sich vor dem exotischen Hintergrund selbst zu stilisieren.41 Die Bandbreite der Berichte reichte von recht zuverlässigen Schilderungen bis zu der hochstaplerischen Selbstdarstellung des angeblich von Rom ernannten Patriarchen von Abessinien BERMUDEZ.42 Da sich die gebotenen Informationen jeder Nachprüfung entzogen, konnte man es wagen, vor dem Hintergrund des sagenhaften Landes ebenso sagenhafte Karrieren zu imaginieren und in die Rolle der Großen zu schlüpfen, die die Bühne der Weltgeschichte bevölkern und das Personal der heroischen Idealromane bilden, um nach dem Vorbild Narrative of the Portuguese Embassy to Ethiopia in 1520 written by Father Francisco Alvares,
t r . b y L O R D STANLEY OF ALDERLEY, e d . b y C . F . BECKINGHAM a n d G . W . B . HUNTINGFORD, 2
Ban-
de, Cambridge (UP) 1961. Vgl. etwa auch die Erwähnung von Priester Johann in Africa durch Jupiters Rede in GRIMMELSHAUSENS Simplicissimis Teutsch. Siehe GRIMMELSHAUSEN, Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuano des abentheurlichen Simplicisstmi, hg. von ROLFTAROT, Tübingen (Niemeyer) 2 1984. III, 4. 214, 10. Mit der ambivalenten Attraktivität dieser Exotik spielt auch das 20. Kapitel von GRIMMELSHAUSENS Continuatio, in dem eine vermeintliche Abyßiner Christin, die in portugiesischen Diensten gestanden haben will, auf der Kreuzinsel Verwirrung stiftet. Vgl. GRIMMELSHAUSEN, Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi VI, 20, 554-559.
Vgl. neben dem schon erwähnten Bericht von JERÓNIMO L O B O etwa M A N O E L DE ALMEIDAS Geschichte Abessiniens. Auch sie liegt in englischer Obersetzung vor: Some Records of Ethiopia 1593-1646, tr. and ed. by C . F. BECKINGHAM and G. W . B . HUNTINGFORD, London (Hakluyt Society) 1 9 5 4 . In Deutschland wurden Informationen über Abessinien vor allem durch H I O B LUDOLF verbreitet Vgl. H I O B LUDOLF, HISTORIA AETHIUPICA Sive Brevis & Succincta descriptio REGNIHABESSINORVM. Frankfurt 1681. Der Text ist vorhanden in der LB Eutin (Signatur: V h 4° 4) und im Stadtarchiv Soest. Die niederländischen Seeleute hatten Zugriff auf ähnliche Informationen. So findet sich eine Zusammenfassung über das Empire des Abissmes in der Reisebeschreibung der Flotte von PIERRE WILLEMSZ VERHOEVEN, Recueil des Voiages [...] de la Compagnie des Indes Orientales IV, 2 6 - 3 6 . Ein niederländisches Standardwerk war O L F E R T DAPPERS Afrika-Buch, das auch in deutscher Obersetzung erschien. Vgl. O L F E R T DAPPER, Umständliche und Eigentliche Beschreibung von Africa Anno 1668. Neudruck der Ausgabe Amsterdam 1 6 7 0 , hg. von R O L F ITALIAANDER, Stuttgart (Steingrüben) 1 9 6 4 . Der Kurze Bericht des J O A O BERMUDEZ ist in Übersetzung abgedruckt in: The Portuguese Expedition to Abyssinia in 1541-1543 as Narrated by Castanhoso. with some Contemporary Letters, the Short Account of Bermudez. and Certain Extractions from Correa, tr. and ed by R. S. WHITEWAY, London (Hakluyt Society) 1 9 0 2 . Zu BERMUDEZ vgl. auch J O N E S / M O N R O E , A History of Ethiopia 8 5 - 8 7 .
318
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
der HELIODORISCHENJ4 ithiopiica in exotischem Kostüm den ernüchternden Rahmenbedingungen des zeitgenössischen Europa zu entfliehen. Eine solche sagenhafte Karriere bahnt sich auch für Tychander an, nachdem er der Sklaverei entkommen und in das Traumland Abessinien gelangt ist. Dadurch, daß er in währender zeit der Abyßinischen spräche ziemlich war kundig geworden, hat er nun die Möglichkeit, Einblick in die Gesellschaftsstrukturen des fremden Landes zu nehmen und sich ihrer zu seinem Fortkommen zu bedienen. Er wird von dem Kaufmann bey einem Herrn Königlichen geblüts protegiert und befördert und gewinnt dessen Vertrauen, so daß er Einblick in die geheimsten und vertrautesten rahtschläge bekommt und auch von diesem Vornehmen wie ein bruder geliebt wird. Dieser Eintritt in den inneren Kreis des Vertrauens bei einem Mächtigen ist aber ambivalent. Die brüderliche Liebe43 erweist sich als nicht so gleichberechtigt, wie der Ausdruck suggeriert, die quasi-familiären Bande kommen eher einer Besitzergreifung gleich. Die im Text verwendeten Ausdrücke Gnade und Gunst deuten auf ein Machtgefalle hin, das eine echte gemeinsame Ebene für das Beziehungsgeschehen ausschließt.44 Bei näherem Hinsehen hat das Traumland bereits Schönheitsfehler. Die geschilderte Gesellschaft erweist sich wie die europäische des Verfassers und die des historischen Abessinien als hochgradig hierarchisch, so daß sich Bewegungsspielräume nur durch Auf- oder Abstieg eröfthen. Bewegungen dieser Art müssen aber gegen Widerstand erkämpft werden oder sind Resultate von Niederlagen, so daß jede Beziehung notwendig repressiv und antagonistisch ist. Dieses schroffe gesellschaftliche Relief drückt sich in der durch die Handlung erschlossenen Landschaft und in den Zeitstrukturen der Erzählung sinnfällig aus. Ein drohender Spalt zwischen zwei Kronprätendenten geht durch die Romanlandschaft, als der bislang regierende König von Abessinien stirbt und das mächtige reich einer grossen unruh' hinterläßt 45 Tychanders neuer Herr, Printz David, ist testamentarisch zur Nachfolge bestimmt, sein Rivale Printz Mose hingegen erhebt als näherer Verwandter des bislang Regierenden seinerseits Anspruch auf den Thron, bietet aber zur Beilegung des Zwists an, sich dem Ausspruch der unterthanen zu beugen. Das imaginäre Abessinien wird durch den Vorschlag, Wahlen abzuhalten, andeutungsweise zum Schauplatz einer Verfassungsdiskussion, wie sie im Staatsroman Methodus doctrinae civilis, seu Abissini regis historia des Zur semantischen Nähe zwischen den Ausdrücken christliche Liebe und brüderliche Liebe vgl. meine Mästet's Thesis: A N S G A R M A R I A S P I N R A T H , "Liebe im Sprachgebrauch von Simplicissmus Teutsch und Continuatio, Eine semantische Studie", Columbus, Ohio (The Ohio State University) 1990, 81-96. Den Zusammenhang der Ausdrücke Gnade und Gunst mit den Bereichen von Macht und Angst untersucht S P I N R A T H , "Liebe im Sprachgebrauch von Simplicissimus Teutsch und Continuatio" 147-151. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 293-302.
Abessimenlegende
und
319
Staatsroman
Jesuiten ADAM CONTZEN von 1 6 2 8 breit ausgeführt worden war, wobei wieder einmal Abessinien als Projektionsfläche für ein idealtypisches Lösungsmodell zu dienen hatte.46 Die Schrift des Jesuiten schlägt nach dem Versagen der traditionell-ständischen Verfassung und der radikal-bürgerliche Forderung nach Freiheit und Gleichheit vor, die Gegensätze im Staat durch eine absolutistische Alleinherrschaft aufzuheben, was zwar keine Freiheit, wohl aber Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit garantieren soll.47 Wie jedoch diese absolutistische Herrschaft durchgesetzt werden soll, ohne bestehende Freiheiten und Rechte zu zerstören und die Sicherheit zu gefährden, ist mit diesem Lösungsansatz noch nicht geklärt. In DÜRERS Lauf der Welt wird nun gerade die gewaltsame Durchsetzung des absolutistischen Herrschaftsmonopols Gegenstand der Erzählung. David geht auf den Vorschlag seines Rivalen nicht ein. Damit stehen sich die beiden einander ausschließenden Ansprüche auf alleinige Gewalt unversöhnlich gegenüber und schaffen einen zweipoligen Handlungsraum, der von einem ausweglosen Entweder-oder-Denken geprägt ist. Jeder weitere Beteiligte ist nun zwangsläufig auf einer der beiden Seiten zu finden. Da sich ein größerer Teil der Bevölkerung auf die Seite des beliebteren Mose schlägt, sucht David nach dem unrühmlichen Vorbild christlicher Potentaten in Europa - die Unterstützung durch eine ausländische macht in Gestalt von benachbarten Arabern. Die Bundesgenossen zerstören Abessinien in kurtzer zeit fast völlig, treiben die Bevölkerung aus Angst dem siegreichen David zu und zwingen den Mose mit wenigen Getreuen, sich in etliche festungen zu verschliessen. Mit seinem ersten Erfolg hat sich David nun aber keineswegs durchgesetzt. Vielmehr muß er nun an zwei Fronten kämpfen, um einerseits die letzten Widerstandsnester des Rivalen zu vernichten und andererseits seine bisherigen Bundesgenossen aus dem Lande zu vertreiben, die sich hier einzunisten beginnen. Derowegen
theilte
dem Printze
Mose
er seine
macht
aus seinen
stöbern
/ oder zum wenigsten
stärken
könte:
mit dem übrigen
/ und schickte
löchern
mich
mit vierzig
/ da er sich verkrochen
auf zu halten
/ daß
er sich nicht
heer zog' er wieder
die Barbaren
tausend
hatte
in mitler [...].
Mann
/ heraus zeit
zu ver-
48
Um sich durchzusetzen, muß Macht sich immer wieder teilen. Dem vermeintlichen Instrument der Herrschaftssicherung fallt damit eigene Macht zu, die sich potentiell gegen den Machthaber selbst wendet. Mit der Belagerung und Eroberung der Festung Fakata, in der Prinz Mose aushält, erlangt Tychander einen eigenen Handlungsspielraum. Diese Festung findet sich auf keiner *
M i r liegt die d e u t s c h e O b e r s e t z u n g des S t a a t s r o m a n s v o n MATTHIAS ABELE vor: ADAM CONTZEN,
"
Methodus Doctrinae Civilis Oder wunderseltzame Geschieht Desz grossen Abissini, Königs der Mohren [...]. Sulzbach 1672. Benutztes Exemplar: BSB München. Signatur: Pol. g. 1163 u. Vgl. DIETER BREUER, "Adam Contzens Staatsroman. Zur Funktion der Poesie im absolutistischen Staat": GRM(1976) Sonderheft 1, 77-122, hier 112/113. Lauf der Welt 297.
41
320
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Karte und wird vom Erzähler auch nicht nach den Verhältnissen im zeitgenössischen Abessinien mit seinen zerklüfteten Gebirgen und natürlichen Festungen49 geschildert. Vielmehr folgt sie dem Modell europäischer Verteidigungsanlagen, die so wohl von natur als durch kunst befestigt sind und nur durch bluttriefende Europäische mord-erfindungen überwunden werden können.30 Das Geschehen vollzieht sich also nicht in einer exotischen Landschaft, sondern auf vertrautem Terrain. Abessinien ist hier keine Projektionsfläche für Wunschvorstellungen, sondern ein Spiegel der heimischen Problematik. Tychander kommt seine erfahrung an europäischen Kriegsschauplätzen zugute, durch die überlegene Technik der gewaltsamen Eroberung kann er sich gegen Mose durchsetzen und gegenüber David profilieren. Tychander schaltet Mose als Machtfaktor aus und rückt in die Position des möglichen Rivalen für David ein. Dieses Spiel zwischen den Fronten verdeutlicht der Text durch temporale Konjunktionen, die eine Verzweigung der Handlung signalisieren. War vor der Eroberung die Befürchtung ausgesprochen worden, Mose könne sich in mitler zeit verstärken und damit verbleibende Handlungsspielräume für sich nutzen, so wird Tychanders Sieg mit den Erfolgen Davids gegen die Araber durch die Konjunktionen indessen und inmittelst verknüpft. Der Erzählerdiskurs hatte zu Beginn der Operation Tychanders die Fronten zeitlich und räumlich voneinander geschieden: Hier inzwischen / daß dieses aufjener Seiten vorließe / feyerte ich meines theils auch nicht / und nach dem ich ein par fäste platze /[...] erobert / wan te ich mich nach Fakata / in welcher Stadt Printz Mose sich enthielte / und belagerte solche.sl
Bemerkenswert an dieser Schilderung ist, daß sich Tychanders Handlungsraum nicht nur durch die Frontlinie zu dem von ihm bekämpften Mose begrenzt, sondern auch durch die Entfernung von seinem Dienstherrn David, der damit ebenfalls auf einer anderen Seiten zu stehen kommt, was ihn als fremde, potentiell ebenfalls bekämpfbare Macht erscheinen läßt. Konsequenterweise ist Tychanders Reaktion auf die Meldung von Davids Erfolg, die konjunktionell durch ein immittelst eingeleitet wird, zwiespältig:
*
10
51
Im Reisebericht der Expedition von PIERRE WILLEMSZ VERHOEVEN, Recueil des Voiages [...] de la Compagnie des Indes Orientales IV, 34, wird bemerkt, es gebe im Land keinen befestigten Platz im Zustand der Verteidigungsfähigkeit. Dies wird dann verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß Abessinien ein Knoten von Bergen und Flüssen ist, der sich als natürliche Festung erweist. Dies hält fremde Eroberer ab, stellt aber auch Probleme fur die Durchsetzung zentraler Strukturen dar. Vgl. WHITEWAY in seiner Introduction zu der Sammlung The Portuguese Expedition to Abyssinia xxi und xxiii. Diese Verwendung europäischer Kriegstechnik macht den unterschwelligen Realismus der Erzählung bei DÜRER aus, die das exotische Land als Spiegelbild europäischer Verhältnisse vorfuhrt, während etwa in EBERHARD WERNER HAPPELS Turcica vor allem mit Säbeln gekämpft wird, da Kämpfe mit Kugeln und Schießpulver keine Faszination auf die literarische Imganation ausübten. Vgl. TATLOCK, "Selling Turks, Eberhard Werner Happel's Turcica (1683-1690)" 316. Lauf der Welt 298.
Abessimenlegende
und Staatsroman
321
Immittelst kriegte ich zeitung / daß Printz David die Araber dergestalt glücklich erleget und nunmehr im anzuge sey zu mir zu stossen und seine waffen mit denen meinigen zu vereinbahren. Dieses [...] verursachte [...] einen heimlichen neid bey mir [...].51 Die stille Reserve des heimlichen Neides weist auf den Grad der inneren Unabhängigkeit, die Tychander gegenüber seinem Auftraggeber bereits erlangt hat. Die bevorstehende Vereinigung der Waffen bleibt äußerlich, weil Tychander nun eigene Interessen zu vertreten und zu verteidigen hat. Nach seinem Geländegewinn taugt der Untergebene nicht mehr zum widerspruchsfreien Werkzeug des herrscherlichen Willens, wenn er sich ihm gegenüber auch über alle massen erfreuet stellt. Die Verstellung, der Gestus der Verschlossenheit, ist Ausdruck der Widersprüche, die sich aus dem exklusiven Herrschaftsanspruch und dem Versuch, eine Reserve dagegen zu behaupten, ergeben.53 Tychander handelt David gegenüber als guter Unternehmer, der die geschäftliche Partnerschaft selbst um den Preis einer zeitweiligen Inferiorität hinzunehmen bereit ist, solange dies seinem eigenen Fortkommen dient. Schon JOHANN SCHULTE hat seinem Sohn in Lissabon geraten, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, solange man objektiv unterlegen ist.54 Das starke Gefälle zwischen Oben und Unten modelliert ein schroffes Gesellschaftsrelief. Es gibt einen Herrscher, der Gnade erweisen und entziehen kann. Doch entfaltet sich eine solche Hierarchie zwischen den Figuren als Konfliktfeld, weil das Entweder-oder-Schema umgekehrt werden kann. Aus dem dem vertikalen Gefälle wird eine Spannung in der Horizontalen, sobald es Verschiebungen im Machtgefüge gibt. Tychander ist durch seine militärischen Erfolge zum möglichen Rivalen seines Gebieters aufgestiegen. Innerhalb der gleichwohl bestehenden lokalen Machtverhältnisse, die einen Ort zum Stützpunkt der noch unterlegenen Gegenmacht werden lassen, ergibt sich nun eine Staffelung des Handlungsraumes, die den jeweiligen lokalen Nahbereich zum Vordergrund macht, während der entferntere Bereich zum Hintergrund der eigenen Handlung wird. Dies drückt sich in einer syntaktischen Reliejbildung aus, in der sich Hauptsätze durch die vorgerückte Verbstellung in den Vordergrund drängen, während die entferntere Hintergrundhandlung in den Konjunktionen immittelst und indessen kondensiert wird, was die Erzählung etwa durch die Erläuterung nach inzwischen - daß dieses auff jener seiten vorließe - verdeutlicht. 55 Die Handlung des nahen Ortes wird zur Vordergrundhandlung, während das Geschehen am entfernten Ort als Hintergrundhandlung fungiert, die gleichwohl in Wechselbeziehung zur Vordergrundhandlung tritt. Diese Staffelung paralleler und interferierender a a
" "
Lauf der Welt 301. Vgl. STEINHAOEN, Wirklichkeit und Handeln 58 u.ö. Vgl. SCHULTE 23 (Brief IV., 25.2.1681) und meine Ausführungen oben. Vgl. HARALD WEINRICH, Tempus, Besprochene und erzählte Welt = Sprache und Literatur 16, Stuttgart (Metzler) 1964, 221 u.ö.
322
Dürers Laufder Welt Und Spiel des Glücks
Handlungsreihen markiert eine erhöhte Komplexität, die für die Handelnden zweierlei zur Folge hat. Zum einen die Notwendigkeit, von der eigenen Handlung absehen zu können und die andere, parallele Handlung in den Blick zu nehmen, um beide miteinander koordinieren zu können.56 Zum anderen aber vermittelt diese komplexere Zeit- und Handlungsform eine neue Sicht des eigenen Handlungbereichs, der von dem anderen getrennt und verschieden erlebt wird. Der sich nähernde Dienstherr steht für den unabhängig gewordenen Tychander bereits auf der anderen Seite. Inmitten des eigenen Handelns wird die konkurrierende Handlung als Bedrohung des eigenen Terrains erlebt und muß doch mit ihm koordiniert werden. Tychanders Reaktion auf die Nachricht von Davids Erfolg und seiner Annäherung hat eine komplexe Verbindung von Kooperation und Konkurrenz zur Folge. Erst in der Bedrohung durch die konkurrierende, zunächst noch überlegene Machtsphäre wird der erlangte eigene Handlungsspielraum in seinen Grenzen und Möglichkeiten erfahrbar. Die Verstellung nach außen, zu der Tychander gezwungen wird, hat eine Kehrseite nach innen. Denn Verstellung und Verschlossenheit sollen ein privates Inneres beschützen. Der Gestus der Verschlossenheit wird im folgenden für die Positionsbestimmung der Romanfiguren und der Erzählung noch bedeutungsvoller, wenn er mit dem Ideal der Beständigkeit konfrontiert wird, das der barocke Idealroman repräsentiert und dieses Ideal gerade angesichts der idealisierten hierarchischen Beziehungen als Illusion entlarvt. Denn Tychanders Stellung im Beziehungsgeflecht der Erzählung wird zusätzlich kompliziert, als eine weitere Person in seinem Blickfeld auftaucht, mit der sich seine Interessen verbinden." Dazu wird die momentane Situation noch einmal resümierend umrissen: Tychander steht in Erwartung seines Dienstherren und ist dabei in Gedanken mit seinem in kurtzer zeit erfolgten Aufstieg beschäftigt. Diese innere und äußere Hintergrundhandlung wird mit neuen Ereignissen durch die Konjunktion weil verknüpft, die hier noch ihre anschauliche Konnotation der Weile hat, während derer die Handlung zugleich stockt und vorantreibt. Denn während Tychander in Gedanken bei seiner überraschenden Karriere verweilt und gleichzeitig eine Weile auf David zu warten hat, trägt sich ein sonderliches Neues zu, das den bisherigen Ambivalenzen freude und sorgen hinzufügt. Die eintzige tochter des gestürzten und zu Tode gekommenen Mose wagt sich aus ihrem Versteck, in dem sie sich bey getreuen leuten verborgen auffgehalten hatte. Daß es sich um Getreue handelt, ergibt sich schon aus der gefahrvollen Situation. Gleichzeitig aber ist mit dem Adjektiv die Handlungsx
57
Dies führt bereits Lugowski, Die Form der Individualität im Roman 56 anhand der Konjunktion indessen im Simplicissimus Teutsch vor. Zur Geschichte der Zeitformen als Reaktion auf erhöhte Komplexität vgl. Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte, Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt/M. (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 1025) 1992. Vgl. zum .folgenden Lauf der Welt 302-309.
Zesen und Dürer: Beständigkeit
und
Verschlossenheit
323
form bestimmt, die sich mit der jungen Frau verknüpft. Ihr Erscheinen appelliert an Treue und Beständigkeit, an das Ideal des hohen Barockromans. Auch ihre äußere Erscheinung von nicht Afrikanischer / sondern vielmehr Deutscher gestalt und Schönheit, ihre Hautfarbe, die nicht nach Abyßinischer art schwartzgelb / sondern viel weißer [...] als der schönste marmol ist, entstammt der Sphäre des Idealromans; gantz weiss wider die natur aller kinder in Morenland war schon die Heldin in HELIODORS Aithiopika.ss Die ersten
Worte der jungen Frau sind ein Appell an Tychanders treu, zu der sie mehr vertrauen aufbringt als zu der seines Dienstherren. Mit dieser Einschätzung separiert sie Tychander von David und stellt eine Solidarität gegen den Herrscher her. Doch indem sie, aus ihrem Versteck auftauchend, mit verhiiltem gesichte zu Tychander schleicht, bewegt sie sich im Gestus der Verschlossenheit, der auch Tychanders Verhalten gegenüber seinem Dienstherrn bestimmt, womit bereits hier das Gegenprinzip zu Offenheit, Treue und Beständigkeit präsent ist. Die immer noch verhüllte Gestalt bittet für eine kleine weile um ein Gespräch unter vier Augen. Tychander bietet ihr den Raum und schenkt ihr die Zeit, die sie benötigt, um sich ihm zu offenbaren. Als ich das höhrte /führte ich sie mit mir in ein neben-zimmer / da ich so fort / wie sie den Schleyer weg thate / einer ungewöhnlichen Schönheit mit höchster bestärtzung ansichtig ward. Beide stunden wir hier eine gute weile gegen einander ungeredt eines worts /.../.59
Das neben-zimmer, das die Begegnung vor den umstehenden abschirmt, schafft fiir eine gute weile die Intimität für ein schweigendes Einverständnis ohne gesellschaftliches Reglement und die damit verbundenen Rücksichten und Reserven. Die Weile ist gut, weil für eine kurze Zeitdauer beide Personen auf einer Ebene stehen. In diesem Zeit-Raum stehen beide Personen nur für sich und füreinander, ohne daß Zeit und Raum für etwas Drittes, Nützliches genutzt würden. Poetisches Korrelat dieses utopischen Moments ist die Retardierung des Erzählens, das einstweilen darauf verzichtet, die Handlung durch die Personen weiterzubringen. Die sich lösende Sprachlosigkeit der Frau aber ist noch von den äußeren Vorgängen, von Verfolgung und hertzens-bangigkeit bedingt. Sobald sie sich äußert, werden diese Bedingungen offenbar, denn sie beginnt ihre Rede mit einer Unterwerfungsgeste, in der Tychander als allertapferster Feldherr angesprochen wird. Das Äußerste, das sie von diesem Mächtigen zu erlangen hofft, ist die Möglichkeit zur Flucht, die sie heimlich aus Abyßina weg kommen läßt. Selbst von Tychanders Hand zu sterben, anstatt in die Hände des Tyrannen David zu fallen, erscheint ihr noch als Gunst, sollte er ihr seine Hilfe zur Flucht verweigern. 3
*
39
Vgl. HELIODORUS EMESENUS, Aethiopica Lauf der Welt 304.
historia. IV. Buch, Iwiij".
324
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Auf die Unterwerfung der Frau trifft das Begehren des Mannes, der von ihren hingebungsvollen Gesten und ihren sehnsüchtigen Blicken irritiert ist. Das Verlangen nach Leben und Liebe wird jedoch durch die Situation und das Handeln der Personen nicht denunziert. Die Umstände erfordern einen Schutz der zart angeknüpften Beziehung durch Affektbeherrschung, und so hält Tychander sich mit genauem zwang' zurück, obwohl er ihr küssende um den hals fallen und seine thränen mit den ihrigen vermischen möchte. Statt dessen erhebt er sie aus der Haltung der Bittstellerin, indem er sie höchst-ehrerbietig aufrichtet, und verspricht ihr mit einem theuren eide [...] nicht eher zu ruhen, bis sie ihres lebens versichert sei. Auf die gute Weile sprachlosen Einvernehmens folgt nun die Aktivität, der Versuch, dem utopischen Versprechen des Augenblicks in der Realität Geltung und Dauer zu verschaffen. Unvermittelt bricht Tychander das Gespräch ab, da seine geschaffte wegen zukunft des Printzen ein längeres Verweilen nicht gestatten. Durch die zu erwartenden Ankunft des Herrschers wird die Gegenwart bereits in die herannahende Zukunft verstrickt, in den Konflikt zwischen der Logik der Unterwerfung und dem Ideal der Beständigkeit. Dieser Konflikt läßt Tychanders bisherige zeitliche Organisation des Lebens zerbrechen.60 Die Diskontinuität zwischen den äußeren Aktivitäten des Geschäftes, die ihn mit Aufgaben überhäufen und ihm die Zeit zu essen oder zu schlafen nehmen, und seiner inneren Beschäftigung mit der geliebten Salome, die ihn in gemiihts-unruhe stürzt, so daß ihm kein schlaf vergönnet ist, kann nur mit äußerster Kraftanstrengung ausgehalten werden. Sieht er sich am Tage durch den Gedanken an das bildnis der Salome in seinen geschäftlichen Aktivitäten gehemmt, so wird die zur Ruhe bestimmte Nacht Zeugin einer inneren feld-schlacht, die um die Rettung der Salome gefuhrt wird. Die Metapher, die sich von den realen kriegerischen Umständen her aufdrängt, erweist, daß die innere Unruhe Tychanders nicht ein rein psychologisches Phänomen ist, sondern das Resultat der widersprüchlichen Handlungsanforderungen und Optionen. Die Verwirrung der Zeiten ergibt sich daraus, daß sich private und öffentliche Handlungsfelder überschneiden und deshalb die Handlungsformen miteinander in Konflikt geraten. Sowohl zu Salomes Flucht in die nächste see-stadt und von da aus zu schiffe als auch für den Fall, daß er sie in seiner Nähe verbergen würde, wäre Tychander auf die Mitwisserschaft und Hilfe Dritter und also notwendig unzuverlässiger Personen angewiesen: Aber / wer kan denen leuten ins hertze sehn?61 Ein Gelingen hinge davon ab, daß Treue und Offenheit und ihr Schutz durch Diskretion über die exklusive Liebesbeziehimg hinaus möglich wäre. Den utopischen Chronotopos der Beständigkeit widerspruchsfrei an die äußeren Realitäten der Herrschaft anzuschließen, ist genauso unmöglich, wie ihn wirksam nach außen abzuschlie60
"
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 309-314. Lauf der Welfill.
Zesen und Dürer: Beständigkeit
und
Verschlossenheit
325
ßen. An einem prekären Punkt geht Treue zwangsläufig in Verrat und Betrug über. Tychander aber entschließt sich gegen jede rationale Kalkulation, dem Verlangen nach der Nähe der geliebten Frau nachzugeben und sie heimlich auf ein schloß bringen zu lassen, das ihm der Printz neulich verehret hat. Der Ort, der der Gunst des Herrschers zu verdanken ist und nun Schutz vor ihm bieten soll, weist auf die widersprüchlichen Abhängigkeiten hin, in die sich Tychanders Handeln begeben hat. Zum abgelegenen Ort ungestörter Heimlichkeit tritt die Umgebung des David, nach Ausschaltung des Rivalen nun Zentrum der Macht, in Konkurrenz. Tychander nähert sich dessen Dunstkreis nach dem traditionellen Zeremoniell, steigt vom Pferd und und grüßt den Herrscher mit einem erden-fall Nach seiner Unterwerfungsgeste erfahrt auch er eine Erhebung. Der neue Monarch steigt seinerseits vom Pferd, richtet ihn mit freundlichen gebehrden auf, umarmt ihn und nennt ihn seinen bruder. Tychander ist ins Innere der Herrschaft vorgerückt, was die Spannung in seinem Leben noch verstärkt. Die raumzeitliche Komposition der Erzählung, die den Helden zwischen Hof und eigenem Schloß hin- und hergerissen zeigt, dementiert die Illusion, man könne sich widerspruchsfrei mit der Herrschaft einlassen und seine Integrität bewahren. Eine solche Version präsentiert etwa die Geschichte des lutherischen Predigers PETER HEYLING, den der König von Abessinien zu einem geheimen Rath und hohen Etats=Minister gemacht haben soll, was ihm angeblich Gelegenheit zu einem uneingeschränkt segensreichen Wirken unter dem fremden Volk gab.63 Der aufhaltsame Aufstieg Tychanders hingegen schlingert zwischen den verschiedenen Interessensbereichen hin und her. Direkt nach der Krönung Davids, sobald er nur vom Hofe abschied erlangen kann, eilt er wieder zu Salome auf sein Schloß. Ich brachte fast keine eintzige stunde ohne ihre gesellschafft zu / und befand mich durch ihre gegemvart so vergnüget / daß ich diese einsamkeit viel lustreicher schätzte als die vortreflichsten ergötzlichkeiten / derer man sich an denen prächtigsten königlichen Höfen gebrauchen mag.6' Das geschilderte Idyll ist indes nicht widerspruchsfrei, denn die gegenwart der Geliebten ist mit Tychanders Abwesenheit vom Hof erkauft, der im Horizont der abgeschiedenen Zweisamkeit verbleibt. Tychander und Salome verehelichen sich heimlich miteinander und verweigern sich damit bewußt der repräsentativen Öffentlichkeit des Hofes. Die Einheit, die sie im Verborgenen stiften, bildet ein Gegenmodell zur offiziellen Gesellschaft, in der jede Bezie° °
"
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 314-333. Vgl. Sonderbarer Lebens=LaufHerrn Peter Heylings 176. Schon diese angeblich authentische Erfolgsgeschichte jedoch muß mit mehreren Versionen vom Ausgange des Unternehmens fertig werden. So ist nicht klar, ob Heyling schließlich doch wegen Meinungsverschiedenheiten in Religionsfragen von dem Könige dimittiret (vgl. 188) wurde oder freiwillig das Land verlassen hat, wobei er seinen erworbenen Reichthum mitgenommen habe (vgl. 189). Lauf der Welt
326
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
hung zur Kraftprobe gerät. Doch die gesellschaftlichen Verhältnisse erweisen sich der privaten Idylle gegenüber als dominant. Die Unmöglichkeit, an zwei Orten zugleich zu sein, gleichzeitig das jungverliebte Eheglück zu genießen und die Aufgaben bei Hofe wahrzunehmen, kann auch Tychander auf Dauer nicht ignorieren. Seine Anwesenheit an dem einen Ort ist mit der Abwesenheit an dem anderen erkauft. In währender zeit seines Glückes erreicht Tychander die Aufforderung, bei Hofe zu erscheinen, da die zeit seiner abwesenheit gar zu lange gedauert habe. Er entschuldigt sich mit Krankheit, was den König erneut veranlaßt, das hierarchische Zeremoniell zu verletzen, und sich selber persönlich auff die reise zu seinem Höfling zu machen. Was der Herrscher als Vorleistung und Entgegenkommen vollzieht, stellt sich aus der Perspektive des Untertanen als Besetzung von Positionen dar, als Einbruch der Zentralmacht in die Peripherie, denn dem verborgenen Glück droht auf diese Weise eine unzeitige Öffentlichkeit. Tychander reagiert überstürzt, nimmt eiligen abschied und reitet mit der eiligsten post dem Könige entgegen. Durch rein physische Anwesenheit bei Hofe kann sich Tychander jedoch nicht aus seinem Zwiespalt befreien. Dem König fallt die geistige Abwesenheit seines Günstlings auf, so daß er in ihn dringt, um die Ursache der Schwermut zu erfahren.Tychander erdenkt einen Vorwand und gibt als Grund die Befürchtung an, sein plötzlicher Aufstieg könne Mißgunst erwecken und zu einem ebenso jähen Ende fuhren. Um Tychander seiner beständigen Gunst zu versichern, bietet der König ihm daraufhin seine eigene Schwester zur Ehe an.65 Als der Höfling darauf bestürzt reagiert, steigert der König seine Gnade noch einmal; er vermutet, daß Tychander bereits jemanden liebt und ist bereit, die Ablehnung seiner Schwester zu akzeptieren, wenn sein Gegenüber nur den Namen der geliebten Frau preisgibt. Als der Günstling dem König zu Füßen fällt und bekennt, seine Liebe sei hochstrafwürdig, verspricht der König gar, ihn nicht zu strafen, wenn er ihm nur alle beschaffenheit der sachen erzähle und nicht das geringste verschweige. Durch einen subtilen Gebrauch seiner Gewalt hat der König die Verschlossenheit seines Höflings gebrochen und ist in die Intimität dessen eingedrungen, was bislang seiner Verfügung entzogen war. Wo jede Drohung versagt hätte, zwingt eine ins Unvorstellbare und Unerträgliche gesteigerte Gunst den Untergebenen, sich zu offenbaren. DÜRER hat diese Szene ganz nah bis hin zu wörtlichen Übernahmen an das Modell eines heroischen Idealromans, PHILIPP VON ZESENS Ibrahim Bassa, angelehnt.66 Dort eröffnet der Eine Gnade, die PETER HEYLING in seiner (wahren?) Geschichte ebenfalls erfahrt: Damit auch der König seiner so vielmehr versichert wäre, muste sich Peter Heyling gefallen lassen, endlich auch eine Vermählung mit einer Princesse du Sang oder nahen Blutsfreundin des Königes (wie in dortigem Reiche bey den vornehmen Ministris nicht ungewöhnlich ist) zu vollenziehen. Sonderbarer Lebens =Lauff Herrn Peter Heylings 176. Vgl. PHILIPP VON ZESEN, Sämtliche Werke, hg. von FERDINAND VON INGEN, Fünfter Band: Ibrahim, bearbeitet von VOLKER MEID, 2 Bände, Berlin und New York (de Gruyter) 1 9 7 7 = Ausgaben
Zesen und Dürer: Beständigkeit
und
327
Verschlossenheit
europäische Höfling dem türkischen Herrscher die Geschichte seiner Herkunft und die Liebe zu einer Genueserin und erbittet Urlaub, um diese Frau, die beständige Isabella, ehelichen zu können. Der Sultan gewährt die Gunst, bereut aber seine Großzügigkeit, als Ibrahim mit Isabella zurückkehrt. Denn Isabella ist so schön, daß sich der Herrscher selbst in sie verliebt und in Versuchung gerät, Ibrahim aus dem Wege zu räumen, um bei der Frau an seine Stelle zu treten. Die Beständigkeit Isabellens jedoch, die bittet, mit Ibrahim sterben zu dürfen,67 rührt den Sultan und erinnert ihn an seine herrscherlichen Tugenden: Di räue [...] kömt / meine gewaltsame
rächtet
di Libe des Ibrahims
Vernunft
wärket
verfahrung
mehr ihre Schönheit:
bestürzt
wider;
widerüm
ich sähe
auf. Ich spüre
meine
an; ich sähe di Tugend
si schohn
ungerächtigkeit der Isabellen
/ wi si
und
meine
/ und
nicht
[• •.]•**
Im heroischen Idealroman scheint der Konflikt lösbar. Liebe, Tugend und vernünftiger Gebrauch der Herrschaft sind in einen entspannten Ausgleich zu bringen. DÜRERS Lauf der Welt hingegen verwendet das Modell, um seine Untauglichkeit zu erweisen. Als Tychander den Namen Salome ausspricht, fallt der Herrscher ihm also fort gantz entrüstet in die Rede und fragt nach ihrem Aufenthaltsort 69 Tychander meint noch, dem Zorn des Königs durch eine Verbannung vom Hof und aus dem Reich entgehen zu können. Doch der Bereich von Herrschaftsfreiheit und beständiger Liebe - das Schloß Tokama, wo Salome sich befindet - und der Bereich von Herrschaft und Verschlossenheit - der Hof des Königs - schließen einander gänzlich aus. Im letzten zeigt sich die ganze Romanlandschaft von dem Entweder-oder-Schema beherrscht, das jeden Raum zum Konfliktfeld sich ausschließender Interessen macht. Der König stellt Tychander die Bedingung, Salome mit eigenen händen zu töten, um selbst am Leben und in seinen Ämtern zu bleiben. Als Tychander gemeinsam mit dem Trabanten-Hauptmann Fürst Amutzy bei Salome erscheint, um das Urteil an ihr und sich zu vollstrecken, beweist sie wie Isabella bei ZESEN ihre deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Herrscher und Höfling findet sich dort auf den Seiten 63-71. Bei ZESEN (66) heißt es: "Ich weis wohl / mein Her /daß meine Schweermuht straaf=würdig ist /daß die uhrsachche !> ungerecht; [...]. " I n DÜRERS Lauf der Welt (326) liest man: Ich weis wohl / sagte ich Gnädigster Herr / daß meine Schwermuht strafwürdig ist und die Ursache derselben ungerecht [...]. Diese eindeutige quellenphilologische Abhängigkeit ist offenbar in der mit diesen Fragen befaßten Forschung bisher noch nicht aufgefallen. BLAKE LEE SPAHR sieht zwar in seiner Besprechung von MAYERS Mischformen barocker Erzählkunst (320) strukturelle und episodische Ähnlichkeiten zu ZESENS Assenât. hat aber wohl die von DÜRER, Lauf der Welt 394, selbst gelegte Spur übersehen, der den Namen Ibrahim Bassa in anderem Zusammenhang gebraucht. ZESENS Roman ist die deutsche Bearbeitung eines der großen Modelltexte der französischen Salonkultur, SCUDÉRYS Ibrahim, von denen sich namentlich SCARRONS VEROIL-Travestie distanziert. " "
Vgl. ZESEN, Ibrahim 1277. ZESEN, Ibrahim 1279.
"
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 333-349.
328
Dürers Lauf der Weh Und Spiel des Glücks
Beständigkeit und ist bereit, mit dem Geliebten zu sterben. Tychander lehnt sich gegen das scheinbar Unausweichliche auf, indem er die restliche Zeit, gleichzeitig aber auch die Qual der Beteiligten ausdehnt. Eine ohnmacht hemmt ihn, im Sinne des vorgegebenen Mechanismus zu ñinktionieren und den vorgesehenen Schlag zu fuhren. Die Erzählzeit, die sich in ihrer Strekkung an die erzählte Zeit annähert, deutet auf den Anspruch hin, den das einzelne Leben gegen die Logik der allgemeinen Verhältnisse hat. Der Gegensatz zwischen Eigensinn und Hemmung jedoch scheint unüberwindlich, bis der Hauptmann - an Stelle des Herrschers selbst - gerührt wird und dem Paar einen Ausweg eröffnet. Dieser besteht aber im Gegensatz zum heroischen Idealroman nicht in der Aussöhnung mit dem legitimen Herrscher, sondern in seiner Beseitigung. Die Logik der Ausschließlichkeit, die die Handlungsräume des Romans beherrscht, verlangt, den aus dem Wege zu räumen, der bei seinem Aufstieg selbst unzählige ausgerottet hat. Im Gegensatz zu idealtypischen Lösungen des Souveränitätsproblems, wie sie etwa CONTZENS Methodus doctrinae civilis anbietet, steht am Ende nicht der Triumph des absolutistischen Ordnungsstaates über die Unübersichtlichkeit im ständischen Dickicht der Zuständigkeiten, sondern ein Aufstand der Fürsten und Stände gegen die Tyrannei des Alleinherrschers. Der ausschließliche Herrschaftsanspruch eines einzelnen hat keine geordneten Verhältnisse, sondern einen fortgesetzten Bürgerkrieg zur Folge.70 Die Realitäten sprechen dem Beständigkeitsdiskurs des Idealromans und dem Verläßlichkeitsdiskurs des Staatsromans Hohn. Beständigkeit scheitert an der überlebensnotwendigen Verstellung. Verläßlichkeit ist gerade durch den Herrschaftsanspruch des einzelnen nicht zu sichern, da sich immer ein anderer einzelner an dieselbe Stelle setzen kann. Dadurch aber wird sowohl die Person des Herrschers als auch das von ihm Beherrschte der Beliebigkeit preisgegeben. Der Schelm als Herrscher ist die notwendige literarische Entsprechung zur Realität einer Herrschaft, die auf Schelmerei beruht. Zunächst jedoch ist der Schelm noch vollauf damit beschäftigt, sich zu behaupten und nicht Opfer der Ausschließlichkeitslogik zu werden. Um am Leben zu bleiben, wird Tychander sofort in die Dynamik des Überlebenskampfes hineingerissen.71 Der spontane Ausbruch der freude und der danckbarkeit wird gezügelt: Weil es aber die gelegenheit nicht war weitläufiges wortgepräng oder complementen gegen einander zu gebrauchen / musten wir solche bey seite stellen und vielmehr bedacht seyn / wie wir unser vorhaben zu werke richteten,n 70
" 72
Zur inneren Widersprüchlichkeit der absolutistischen Staatsidee vgl. und Handeln im barocken Drama 140-143. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 349-354. Vgl. Lauf der Welt 350.
STEINHAOEN,
Wirklichkeit
Der Schelm als König: Realitätsverlust als Selbstverlust
329
Die Zukunft der zu bewältigenden vorhaben dominiert die Gegenwart der Geliebten, die als Printzessin Salome nun vor allem den Anspruch Tychanders auf den Thron zu stützen hat. Deshalb verschwindet Salome auch aus dem Vordergrund der Erzählung, als Tychander auf den Plan tritt, um den König David zu stürzen. Sofort wird die Liebesbeziehung der Logik der Herrschaft geopfert, die Tychander zu übernehmen im Begriff ist. Das Gegenüber des Helden kann jetzt nur noch der Gegner sein, dessen Verlust den eigenen Gewinn bedeutet. Dem ausschließlichen Entweder-oder von Sieg und Niederlage entsprechend ist der Raum des Geschehens zwischen beiden Parteien zweipolig organisiert. Einzelne Städte kommen nur in den Blick, wenn sie von der seite des Gegners auf die eigene wechseln, indem sie mit gewalt eingenommen werden. Im Gegensatz zu der Bewußtseinszeit der Liebenden muß die Erzählung einen solchen Krieg nicht außführlich beschreiben, denn von den über ein jähr andauernden Auseinandersetzungen zählen zeitlich nur die Resultate: der Machtzuwachs Tychanders. der den König zwingt, eine feld-schlacht zu wagen und entweder zu siegen / oder da er ja das Reich verliehren solte / solches lieber auf einmahl auff die schantze zu setzen. Mit diesem Entwederoder wird das Feld zum chronotopischen Ausdruck der Ausschließlichkeitslogik des Krieges: Das Feld wird vom Gegensatz beherrscht. Die abstrakteste Erscheinung des Gegensatzes im Feld ist der Krieg, der sich in der Schlacht konzentriert.73 Der Raum ist auf seine Differenzen reduziert, was zu der Illusion führt, die Welt bestünde lediglich aus Generalstabskarten, die ihrerseits von zweidimensionalen Differenzen geprägt werden.74 Zu Beginn der Schlacht reduziert sich das Geschehen auf die Alternative Ich gegen NichtIch, womit die Kontrahenten benannt werden, die einander gegenüberstehen. Als der Sieg endlich aw/TTychanders seite fällt, ist dieser Gegensatz beseitigt, der Gegner und mit ihm das Feld der Gegensätze vernichtet. Der König - seiner Macht entledigt - flieht und hinterläßt alles andre dem Sieger zur beute. Nun beginnt die belohnung des Siegers, die Aneignung des Raumes, der ihm bislang verschlossen war, indem alle noch übrige statt' und vestungen ihre thore eröfneten und das joch willig annahmen. Die letzten Reste eines Gegensatzes zwischen Mein und Nicht-Mein werden durch Aneignung beseitigt. Alles gehört nun dem Tychander, und sein besitzergreifender Blick auf die Dinge wird zum einzigen Maßstab. Nachdem Tychander das gantze Reich (ausgenommen einer kleinen landschaft in welcher sich der flüchtige König noch enthielte) unter sich geworffen und auf diese Weise den Raum zu einer künstlichen Einheit zusammengeschlossen hat, wäre nun eine Umkehrbewegung denkbar.75 Statt der Erwei73
" 75
ROLAND REUB, '"...daß man's mit den Fingern läse, / 'Zu Kleists 'Amphitryon'": Berliner KleistBlätter 4, Basel und Frankfurt/M. (Stroemfeld/Roter Stern) 1991. 3-26, hier 4. Vgl. BAUER, Im Fuchsbau der Geschichten 8/9. Vgl. zum folgenden Lauf der We/r 354-371.
330
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
terung des Machtbereichs könnte sie sich auf die innere Gestaltung und Erschließung des Erreichten richten. Der neue Herrscher jedoch hat durch die Logik der Eroberung jedes Verhältnis zu seinem Gegenstand verloren. Der Erzähler bemerkt kritisch: Zu dem giettg' ich mit eiltel Monarchischen gedancken schwanger und gedachte nu nicht mehr wie ich Abyßina erhalten wolte / ob ich [357] schon solches noch nicht völlig in besitz hatte: besondern ich ließ / wie ein andrer Alexander / die gantze Welt den zweck meiner begierden seyn [...]. 16
Folgerichtig setzt er die Expansion fort, wobei sein Realitätsverlust ihm den grenzenlosen Fortschritt seiner Unternehmungen vorspiegelt, bis er an unerwartete Grenzen stößt, die sich ihm aus der Natur der Dinge heraus entgegenstellen: Denn wie ichs auffs höchste gebracht und den schrecken meiner sieghafften Waffen über alle benachbarte Herrschafften / aber das gerächte derselben über gantz Africa und Asia ausgebreitet [355J hatte / und fast unter der menge meiner eroberten statte verirrete / satzte sich dem fortwallenden strohm meiner glückhaften siege und sieghafften Glückes (zwar durch meine eigne schuld) ein solcher starcker dämm plötzlich entgegen / der nicht allein derselben lauf behemmete / sondern gantz umkehrte und zurück triebe / und zwar der jenige selber / der am meisten und ersten sothanes flusses quellen eröfnet und dessen lauf fortgetrieben hatte.11
Es ist die Dynamik der Expansion selbst, die fìir den Zusammenbruch des Imperiums sorgt, denn der so geschaffene Handlungsraum ist zu groß, als daß er sich noch überschauen und kontrollieren ließe.78 Zudem verstellt die hemmungslose Expansion des Eigenen in das Andere den Blick auf die Widerstände des anderen, in dem sich das Eigene zugleich kritisch spiegeln könnte. Der hilflos über die Karten seines Riesenreiches Gebeugte hat sein geringes herkommen genauso vergessen wie sein voriges bettelleben und leibeigenschaft. Die von der kartographischen Abstraktion genährte Illusion der Zuschauerperspektive, die scheinbare olympische Position, macht ihn unfähig, sich selbst als Beteiligten und Betroffenen der Vorgänge zu verstehen und sich in die Lage der Betroffenen, weil Unterworfenen, zu versetzen. Sein vom Erzählerdiskurs moralisch bewerteter Übermut ist in Wirklichkeit eine Wahrnehmungstäuschung. Denn das isolierende Denken einer auf Beherrschung ausgerichteten Rationalität isoliert das Subjekt im letzten von seinen Gegenständen. Das Herrschaftsprojekt Tychanders unterliegt wie die unternehmerischen Projekte seiner und unserer Tage der Suggestion wissenschaftlicher und kalkulatorischer Projektionen, die nicht an die konkrete Empirie rückgebunden 76 77 11
Lauf der Welt 356/357. Lauf der Welt 354/355. Zur Erweiterung des Handlungsrahmens im Krieg und dem damit verbundenen Kontrollverlust vgl. C O R D IE, "Formen derZeit" 156.
Der Schelm als König: Realitätsverlust
als
Selbstverlust
331
werden. An vielen Stellen hat die Erzählung die zerstörerische Wirkung bereits sichtbar gemacht, die eine rein zweckgeleitete Vernunft an ihren Gegenständen anrichtet. Die Erzwingung vorgeblicher Wahrheit auf der Folter oder Simos Besitzanspruch auf das junge Leben der Androfila haben erkennen lassen, daß der instrumenteilen Vernunft ihr Gegenstand entgleitet, gerade weil sie ihn zum bloßen Gegenstand herabwürdigt, statt ihn als Gegenüber in seinem Eigenwert und seinen Eigeninteressen wahrzunehmen. Am Scheitern Tychanders in Leiden oder dem gewaltsamen Tod Simos war abzulesen, daß Entwertung und Zerstörung nicht auf die Gegenstände beschränkt bleiben, sondern auf ihren Urheber zurückschlagen. Der Realitätsverlust der instrumentellen Vernunft mündet in Selbstverlust. Auch hier geht Tychander seiner eigenen Geschichte verlustig, weil er sich in der Maßlosigkeit seines Besitzanspruchs bereits in seinen Objekten verliert und verirrt. Da er sich in den von ihm Unterworfenen nicht mehr selbst wiedererkennt, ist Tychander verurteilt, das Schicksal des von ihm Gestürzten zu teilen: Entmachtung und Flucht. So scheitert das Unternehmen an den Ausgangsbedingungen, die schon bei Tychanders Abreise in Amsterdam erkennbar waren, an der Karte im Kopf, die den fremden Raum zu unterwerfen versucht, statt sich von ihm korrigieren zu lassen. Deshalb tritt die Korrektur, die von den Realitäten an den Plänen vorgenommen wird, plötzlich und gewaltsam ein. Die Erzählung schildert das Scheitern der Pläne, indem sie in spiegelbildlicher Verkehrung Tychander an die Stelle plaziert, die der entmachtete König David in seinen eigenen Aufstiegsplänen eingenommen hatte. Auch Tychander hat seine Krieges-macht in zwey heere getheilet und die Hälfte der Macht an den Fürsten von Amutzy deligiert, um die noch übrige landschaft / in welcher sich der König enthielte / zu bezwingen. Doch sein Verbündeter Amutzy begehrt gegen seine Despotie auf. Das Feld, auf dem die Schlacht zwischen Tychander und Amutzy endlich entschieden werden soll, wird durch zwene gegen einander gelegene hügel gebildet, die für die Symmetrie und Zweipoligkeit der Situation einstehen: Zwischen beiden lagern war ein ebenes thahl oder blachfeld / welches auf solche weise zur schlacht bequem war / daß es keinem einen sonderlichen vortheil geben kunte f...].1' In dieser Laborsituation entscheidet die überlegene Eroberungsstrategie Amutzys. Er ergreift als erster die Initiative und zwingt Tychanders Truppen durch einen Scheinangriff und vorgetäuschte Flucht zum spontanen, ungeordneten Vorrücken. Dem tritt Amutzy mit dem gantzen heer in guter Ordnung entgegen. Der rational kontrollierte Einsatz des projizierenden Verfahrens führt zum Erfolg. Amutzy kann Tychander seine Ordnung aufzwingen, weil seine Semantik der Eroberung die Reaktion des Gegners auf die eigenen. "
Lauf der Welt 166.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
täuschenden Signale richtig antizipiert hat und bereits mit den entsprechenden Anordnungen erwartet. Für diesmal bleibt der Gegner Tychanders der Überlegene, weil er sich der Techniken von Eroberung und Kontrolle auf dem Schachtfeld der Gegensätze besser bedienen kann. Bei anderer Gelegenheit kann auch dieses Resultat, das zeigte ja die Episode des Schelmen auf dem Königsthron, wieder zu Ungunsten des einstweiligen Siegers revidiert werden. Denn die Logik der Ausschließlichkeit hat niemals Beständigkeit und Verläßlichkeit zur Folge, sondern immer nur die vorübergehende Besetzung eroberter Handlungsräume. Zur Flucht gezwungen, erlebt Tychander den Raum wieder aus der pikaresken Perspektive der Landstraße. Dieser erzwungene Perspektivenwechsel ermöglicht die Rückbindung des eben nur formal beherrschten Territoriums an die pikaresken Realitäten vor Ort. In Fakata, das er sich zu seiner Zuflucht und Sicherheit erwehlet hatte, schlägt man ihm die thore vor der nasen zu, und al-
le übrigen städte tun es der ersten nach.80 Diese Perspektive des Flüchtenden ist das notwendige Komplement des erfolgreichen Vorrückens, das erst die olympische Position eines anderen ermöglicht. Auch hier zeigt sich, daß die Perspektivik des Hohen, des Idealromans, die sich die Tychandererzählung travestierend angeeignet hat, immer schon unter der Kritik des Niedrigen stand. Auch in seinen heroischen Passagen ist DÜRERS Lauf der Welt keine Mischform, sondern ein Schelmenroman. Er überschreitet seine Grenzen, um sein eigenes Terrain von außen, von konkurrierenden Gattungen her, in den Blick zu nehmen. Indem er die Perspektive anderer Gattungen spielerisch einnimmt, führt er jedes literarisch geformte 'Weltbild' - das schelmische wie das heroische, politische oder idyllische - als begrenzte Perspektive vor: Geburt des Schelmenromans aus dem Geiste der Travestie. Das zeigt sich auch in den letzten Episoden, wo die idealen Motive der beständigen Liebe und des Schiffbruchs durch die Travestie in das pikareske Gewand ihrer vorgeblichen Allgemeingültigkeit und Bedeutsamkeit beraubt werden. Denn als Tychander die seekante erreicht und sich auf ein schif begibt, um zunächst nach Zeila am Roten Meer zu segeln, wird er damit nicht aller Sorgen ledig.81 Indem sie noch einmal virtuos die Motivik des Idealen und des Pikaresken miteinander verschränkt, dementiert die Erzählung die Illusion, es gebe Grenzen, deren Überschreitung, oder Küsten, deren Verlassen ein Entkommen aus der Logik von Aneignung und Enteignung, Eroberung und Flucht, garantiert. Noch einmal wird Tychander gefangen, weil angeblich aller Barbarer treue schlipferig ist, und er soll über die Abyßinische grentze ausgeliefert werden, in das jenige land zum schauspiel und spectake l [...] welches ich doch noch vor kurtzer zeit als ein mächtiger König regiert hatte. Die " "
Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 372-378. Vgl. zum folgenden Lauf der Welt 378-413.
Burlesker Schiffbruch: Parodie des
Idealromans
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Nähe der topographischen Grenze und die Kürze der Zeit, die seine vorherige olympische Macht über Zeit und Raum spiegelbildlich verkehrt, verdeutlichen die Brüchigkeit der Sphäre des Hohen und Idealen. Als Tychander dem äußersten Schicksal noch einmal entgeht und in arabische Sklaverei lallt, kann er sich durch den Betrug an einer Frau befreien, die ihm in Treue zugetan ist. Die Häßlichkeit der jungen Frau, der er die Ehe verspricht, dient als parodistisches Mittel, mit dem der schonungslose pikareske Blick den idealen Liebesdiskurs in die banale Alltagswirklichkeit überfuhrt. Als der schiffer, mit dessen Hilfe Tychander die junge Frau an einsamer Stelle aussetzt, nun auch ihn selber täuscht und ihn ins Meer wirft, kann sich der Schelm nur schwimmend retten, wobei ihm ein gelindes wetter und einige flscher zur Hilfe kommen, die sich allerdings wundern, daß bey solchem wetter ein Schiffbruch solte geschehen seyn. Keine Naturkatastrophe, sondern die allgegenwärtige Verstellung, die sich an dem Betrüger Tychander rächt, verursacht an dieser Stelle also den vorgeblichen Schiffbruch. Anders als die Schiffbrüche in heroischen Barockromanen, etwa in SID2 NEYS Arcadia,* die mit einem Schiffbruch ein bedeutsames Geschehen einleiten und allegorisch vorausdeuten, hat der Miniaturschiffbruch am Ende von °
Vgl.
The Countess of Pembroke's Arcadia (The New Arcadia), ed. by VICTOR Oxford (Clarendon) 1 9 8 7 . PHILIP SIDNEY / VALENTINUS THEOCRITUS VON HIRSCHBERG, ARCADIA Der Oräffin von Pembrock. Das ist: Ein sehr anmüthige Historische Beschreibung Arcadischer Gedicht vnd Geschichten / mit emgemängten Schäffereyen vnd Poesien. Warin nicht allein von den wahren Eygenschaffien keuscher vnnd beständiger Liebe gehandelt / sondern auch ein lebendig Bildt deß gantzen menschlichen Wesens vnd Wandels / auffs zierlichst filr Augen gestellet wird. [...]. Frankfurt am Main 1629. Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: Fb 3 7 7 / 2 . PHILIP SIDNEY, ARCADIA Der Gräffin von Pembrock: Von Herrn Philippsen von Sydney In Englischer Sprach geschrieben / auß derselben Frantzsösisch / vnd auß beyden erstlich Teutsch gegeben Durch VALENTINVM THEOC.RITVM Von Hirschberg: Jetzo allenthalben auffs new vbersehen vnd gebessert: die Gedichte aber vnd Reymen gantz änderst gemacht vnd vbersetzt Von dem Edlen vnd Vesten Martin Opitz von Boberfeldt. [...]. Frankfurt am Main 4 1 6 4 3 . Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: Fb 3 7 7 / 3 . Zur Arcadia vgl. ELISABETH DIPPLE, "Harmony and Pastoral in the Old Arcadia": Journal of English Literary History 3 5 ( 1 9 6 8 ) 3 0 9 - 3 2 8 ; HANS GERD ROTZER, Der Roman des Barock 1600-1700, Kommentar zu einer Epoche, München (Winkler) 1 9 7 2 , 4 9 / 5 0 und 1 3 7 ; GEULEN, Erzählkunst der frühen Neuzeit 1 4 0 - 1 4 7 ; ARTHUR K . AMOS, Time, Space and Value. The Narrative Structure of the 'New Arcadia', Lewisburg/London (Bucknell University Press / Associated University Presses) 1977; STEPHEN J . GREENBLATT, "Sidney's Arcadia and the Mixed Mode": Studies in Philology 7 0 ( 1 9 7 3 ) 2 6 9 - 2 7 8 ; STEPHEN GREENBLATT, "Bauernmorden: Status, Genre und Rebellion": MORITZ BAÍLER (Hg.), New Historicism, Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt am Main (Fischer Tb. Wissenschaft 1 1 5 8 9 ) 1 9 9 5 , 1 6 4 - 2 0 8 , hier 1 8 3 - 1 9 2 (unter dem Titel "Murdering Peasants, Status, Genre and The Representation of Rebellion" in Representations 1 [ 1 9 8 3 ] 1 - 2 9 ; deutsch auch in STEPHEN GREENBLATT, Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Berlin [Wagenbach] 1 9 9 1 ) ; ROBERT E. STILLMAM, "The Politics of Sidney's Pastoral, Mystification and Mythology in The Old Arcadia": Journal ofEnglish Literary History 5 2 ( 1 9 8 5 ) 7 9 5 - 8 1 4 ; MARGARET DANA,"Heroic and Pastoral, Sidney's Arcadia As Masquerade": Comparative Literature 2 5 ( 1 9 7 3 ) 3 0 8 - 3 2 0 ; MARGARET DANA, "The Providential Plot of the Old Arcadia": DENNIS KAY (Ed.), Sir Philip Sidney, An Anthology of Modern Criticism. Oxford (Clarendon) 1 9 8 7 , 8 3 - 1 0 2 : WALTER DAVIS, "Narrative Methods in Sidney's Old Arcadia": KAY. Sir Philip Sidney 1 0 3 - 1 2 3 ; JOHN CAREY, "Structure and Rhetoric in Sidney's Arcadia": KEY, Sir Philip Sidney 2 4 5 - 2 6 4 . SIR PHILIP SIDNEY,
SKRETKOWITZ,
334
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Lauf der Welt die Funktion, die Bedeutungslosigkeit und Vertauschbarkeit, die Tychander noch in der Rolle des Königs erfahren hat, zu unterstreichen. Ein Mann ohne Eigenschaften rettet sich noch einmal, um das Spiel von Enteignung und Aneignung weiterzuspielen. Doch gerade damit entwickelt die pikareske Travestie einen Gegendiskurs zu den ideologischen Prämissen des Idealromans. Denn noch die Miniaturversion des Schifíbruchs verweist auf Täuschung und Gewalt als Ursachen des oft beschworenen Unglücks. Die Geschehnisse werden von keiner gütigen Vorsehung geleitet, sondern resultieren aus dem Spiel von Zufall und Gelegenheit. Indem die Erzählung die literarische Projektion des Idealromans durch seine Parodie ins pikareske Milieu überträgt, werden auch die unternehmerischen Projekte der Zeit zweifelhaft. Tychanders Unternehmen ist gescheitert. Einsam und isoliert kehrt er nach Europa zurück und bringt auf der Rückfahrt nichts anderes mit als bei der Abreise: sich selbst. Der Erzählerdiskurs indes versucht darüber hinwegzutäuschen, daß auch diese Heimkehr wie die Abfahrt unter dem Zwang der Wiederholung steht. Angeblich wendet sich Tychander nun von der Eitelkeit aller Irdischen Dinge ab, doch wie diese Abwendung glaubwürdig zu realisieren sei, verschweigt der Erzähler. Noch einmal scheint Tychander sich einer Illusion hinzugeben, indem er auf einen radikalen Neuanfang hofft, ohne die realen Voraussetzungen zu bedenken und zu benennen. DÜRERS
Auch der letzte Gedanke der Erzählung entspringt einem Denken, das sich die Wirklichkeit zurecht legt, um ihr eine Plausibilität zu verleihen. Der angeblich allgemeinen Unbeständigkeit und Untreue muß nun auch Salome unterliegen, die Gott selber ihm als ein Ander Ich hatte zu gesellet. In dieses alter ego wird nun das Ungenügen projiziert, das der Held an sich selbst hat. Da will Tychander nachgehends erfahren haben, Salome habe niemals ihn geliebt, sondern ihre Wohlfahrt, und habe nach seiner Flucht ihre liebe dem jenigen gegeben /der das Reich erlanget.83 Der Erzählerdiskurs übernimmt ungeprüft diese - nach allem Erzählten gänzlich unplausible - Nachricht aus ungenannter zweiter Hand. Noch einmal irritiert die Erzählung, indem sie die Heldin Salome, die als einzige den Maximen des Beständigkeitsideals treu geblieben war, nachträglich durch das Stereotyp von der untreuen Frau demontiert. Beide Versionen stehen völlig unvermittelt nebeneinander. Dieser Widerspruch der Versionen - dies hat die Lektüre der Afrika-Episoden in Du RERs Lauf der Welt ergeben - öffnet einen Bruch, durch den die Gegenlektüre einen Zugang zu den Erfahrungsräumen suchen kann, die hinter den Fiktionen stehen. Dabei ergab sich von vornherein eine Verschränkung dieser Räume mit den Strategien der Abstrahierung und Fiktionalisierung. Die Schwierigkeit, von den Versionen zur dahinterliegenden Welterfahrung zu gelangen, D
Vgl. Lauf der Welt 415/416.
Verdrängte Realitât hinter den Versionen
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lag nicht zuletzt darin, daß die wissenschaftliche und künstlerische Zeichenpraxis sich als Teil der zeitgenössischen Lebenspraxis erwies. Von Gegenversionen her mußte die realitätsstiftende Kraft der Fiktionen kritisch in den Blick genommen werden. Der Ausblick auf die Erfahrungsräume hinter den Versionen, die zugleich die Produktionsstätten der Versionen darstellen, verbindet sich in der Rückschau nun zur Geschichte der instrumentellen Herrschaft über das Fremde und ihr notwendiges Scheitern an seinen Widerständen. Schon die Ausfahrt Tychanders war bestimmt von dem Versuch, das noch gänzlich Unbekannte zum Feld der Unternehmungen zu machen. Der Anschluß an die Ostindische Kompanie implizierte zugleich die Übernahme ihrer Strategien der Weltaneignung. Auf See bedeutete dies die mathematische Kontrolle über die Phänomene more geometrico, die nicht allein an der Unberechenbarkeit des Wetters, sondern auch an der Existenz von Konkurrenzunternehmen scheitern konnte, wie die Kontrastlektüre zeitgenössischer Parallelen belegte. An Land setzte sich die Selbstbehauptung durch mathematische Abstraktion als Kalkulation statistischer Überlebensschancen more arithmetico fort. Die Unterlegenheit der europäischen Romanfiguren ihren afrikanischen Kontrahenten gegenüber wurde mit einer Gegenlektüre konfrontiert, einem Szenario des Sklavenhandels. Kalkulatorisches Denken erwies sich bestimmend sowohl für das Handeln der Figuren wie für die Strategien der Erzählung, die gleichermaßen von der Vorwegnahme fremder Aggression und der Übervorteilung des Gegenübers geprägt sind. Auch das Abessinien des Romans war weder als widerspruchsfreies Reich des legendären Priesters Johannes noch als absolutischer Modellstaat des Staatsromans, noch auch als idealisierende Ausgestaltung der Staatsidee im hohen Barockroman erkennbar. In den afrikanischen Romanlandschaften stieß die Lektüre auf schroffe Hierarchien und ausschließliche Entweder-oder-Strukturen. An dieses schroffe Landschaftsrelief und das Feld militärischer Auseinandersetzungen ließ sich der Raum beständiger Liebe, den der Idealroman gerade durch die politische Ordnung errichten will, nicht anschließen. Der Selbstverlust der Person, die einen Realitätsverlust angesichts scheinbar unbegrenzter Verfugungsmöglichkeiten erleidet, war im Verlust des Gegenüber weiterzuverfolgen. Tychanders alter ego, Salome, verschwindet zum Schluß nicht nur durch ihre Verdrängung in den Hintergrund aus dem Raum des Geschehens, sondern auch in den widersprüchlichen Versionen der Erzählung, die sich durch ihren instrumentellen Gestus der fremden Person nicht mehr versichern können. Ist Salome im Verlauf der Erzählung nach dem Modell des idealen Diskurses der Beständigkeit gemodelt worden, so bedient sich der Erzähler am Ende eines konkurrierenden Modells, des misogynen Stereotyps, das die Eigenbewegung der Räderuhr, die Unruhe, Frouwen gemueteu zu nennen gewohnt war. In beiden Diskursen, dem
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
idealisierenden und dem misogynen, wird die Figur zum Rädchen im Mechanismus der Wahrnehmungssteuerung, und erst der Widerspruch zwischen den sich ausschließenden Versionen läßt die Ahnung aufkommen, hinter ihnen könne sich ein einzelner, unverwechselbarer Mensch verbergen, der sich der Verfugung durch herrschende Klischees entzieht. In einer letzten Verwirrung der Versionen deutet die Erzählung an, daß die Feststellung der Wahrheit hinter den Projektionen eine andere Geschichte wäre, in der mit dem anderen Ich auch der Handelnde selbst stehen und fallen könnte.
Vgl. GERHARD DOHRN-VAN ROSSUM, Die Geschichte der Stunde, Uhren und moderne Zeitordnung, München (Hanser) 1992, 53.
Ein Unternehmen erreicht den Hafen, und ein Buch verschwindet aus den Bücherschränken: Muße der Lektüre und Unruhe des Lebens Er sei, betont der Erzähler bereits zu Beginn von DÜRERS Lauf der Welt, nun endlich /nachdem er lange auf dem meer der Eitelkeit herum gewallet sei, im sicheren Hafen der Verschmähung der Welt angelendet.1 Der Standpunkt, den er damit bezieht, bestimmt sich näher als Zuschauerstatus, von dem aus die Beobachtung fremder Schiffbruche möglich ist: Hier stehe ich am ufer und sehe die geftihrligkeit der annoch herum irrenden / und wünsche von hertzen /daß sie auch diesen port ereilen möchten.2
Des Erzählers beobachtender Blick indes gilt nicht nur seinen noch herum irrenden Zeitgenossen. Indem er den angeblich sicheren Hafen zum Schlußpunkt seiner Lebensreise erklärt, die ihn um die Welt geführt hat, kehrt er zum Ausgangspunkt der Erzählung zurück und vollzieht diese Reise retrospektiv noch einmal nach. Er, der sich als Angelangten betrachtet, weil er die Aktivität nach außen mit einem Rückzug nach innen vertauscht hat, wird zum Beobachter und Erzähler seiner selbst, der als Arrangeur der Ereignisse im nachhinein nun jene Kontrolle über sein Leben hat, die ihm als Handelndem versagt geblieben ist. Die Erzählung der Lebensreise verschafft aber nicht nur ihrem Erzähler, sondern auch seinen Lesern diesen beinahe archimedischen Standpunkt außerhalb der Ereignisse. Vom sicheren Port eines durch die Gattung konstruierten Beobachterstatus aus, kann nun auch die Lektüre den Weg des Helden rekonstruieren. Ohne eigene Gefahr umrundet die Lektüre mit dem Helden noch einmal die Welt, ausgehend von seinem Geburtsort und dem ersten Studienort in Ober Deutschland, die vielleicht in der Nähe Nürnbergs zu vermuten sind, wo DÜRERS Ur-ur-großonkel ALBRECHT DÜRER wirkte. Dabei macht die sozialgeschichtliche Rekonstruktion, die den erzählten Weg des Helden begleitet hat, deutlich, daß schon die ersten Schritte Tychanders und seines Erfinders HIERONYMUS DÜRER in die Wirtschaftsgeographie des 17. Jahrhunderts eingebettet sind. Denn der Wechsel der Familie DÜRER von Nürnberg in den Einzugsbereich der Seehandelsstädte drückt, wie der Weg des Helden von Oberdeutschland nach Holland und Übersee, im kleinen den ökonomischen Wandel vom 16. zum 17. Jahrhundert aus: Am Ende des späten Mittelalters hatte Nürnberg an der großen Wegespinne Binnendeutschlands gelegen, und von Lübeck waren die Schiffe nach Osten, Norden und Westen in See gestochen. Aber seit der Entdeckung Amerikas und der Öjf1 2
Vgl. Lauf der Welt 3/4. Lauf der Welt 5.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
nung des Seeweges nach Indien war die Ostsee zu einem Nebenmeer geworden, und die Handelsstraßen, die sich in Nürnberg getroffen hatten, waren nach Westen verschoben. Schiffe wurden wichtiger als die Lastwagen, auf denen bisher die Waren innerhalb Europas transportiert worden waren - und das heißt: die besten Chancen hatten jetzt die Städte, von denen aus Schiffe leicht den Atlantik erreichen konnten, und unter diesen war Hamburg am besten, Bremen am zweitbesten gelegen.3
Literarische Zeichenpraxis - dies macht der Blick auf die Geographie des Romans und seine Umwelt deutlich - ist von der ökonomischen Lebenspraxis im 17. Jahrhundert nicht zu trennen. Hier dienen die erzählten Räume und Zeiten nicht nur zur Exemplifikation vorgängiger allegorischer Bedeutungen, bilden mithin keinen konstruierten barocken Handlungsraum, sondern funktionieren als selbständige Erfahrungsräume, wenn sie in die zeitgenössische Wirklichkeit rückübersetzt werden. Da hat es eine innere Logik, wenn die Lektüre dem Helden ins niederländische Leiden folgt, wo das allegorisch versinnbildlichte zufallige Glück sich als Ergebnis ökonomischer Mechanismen, der gegenseitigen Übervorteilung nämlich, erwiesen hat.4 Am Schluß der Episode sieht die Lektüre den Schelmen als Verlierer im ökonomischen Konkurrenzkampf vor den Toren Leidens, von wo aus er sich über Brabant und Flandern nach Paris begibt 5 Aus sicherem Abstand folgt sie der Landstraße des Bettlers durch Frankreich, wo die pikareske Perspektive den Helden mit den Gesetzen des Überlebenskampfes konfrontiert, während sie den Leser zur Neuorientierung im Literatursystem anhält. Die vom spanischen Lazarillo übernommene pikareske Perspektive verhält sich komplementär zur herrschenden Perspektive des Idealromans, wodurch sie aber gerade ein Literatursystem kritisierbar macht, das der Ausdruck einer ungerechten Ordnung des Ganzen ist. Das Literatursystem wird zum Horizont der nächsten Orte, die die Lektüre aufsucht, wenn sie mit dem Helden bis ins Elsaß gelangt 6 wo ihn unerwarteter Reichtum erst aufs Krankenlager wirft und dann in den Offizierssattel hebt. Von Strasburg1 aus ist diese Karriere bis nach BaseIs zu verfolgen, bis sie in einer Flucht nach der Niederländischen grentze zu9 endet und von dort aus mit dem Heereszug der spanischen Armee nach Franckreichi0 neu beginnt. Die Lektüre begleitet den Helden auf einer erneuten Flucht auf die Schweitzerische grentze11 zu, in deren Nähe er beinahe das verlorene Arkadi3 4
3 6 7 8
' 10
"
SCHRAMM, Neun Generationen, Band 1, 89. Vgl. Lauf der Welt 17. Zum Studium Hamburger Kaufmannssöhne in Leiden vgl. SCHRAMM, Neun Generationen 138-142. Vgl. Lauf der Welt 63. Vgl. Lauf der Welt 166. Vgl. Lauf der Welt 187. Vgl. Lauf der Welt 188. Vgl. Lauf der Welt 191/192. Vgl. Lauf der Welt 192. Vgl. Lauf der Welt 201.
Rückschau auf den Reiseweg
339
en gefunden hätte. Auch diese Orte des wie von Geisterhand erworbenen und verlorenen Besitzes und des erfolglos gebannten Glücks sind nun in der Rückschau deutlicher als benachbart zu erkennen und im Gang der Geschehnisse zu lokalisieren. Unterliegen doch auch sie den instrumenteilen Herrschaftsmechanismen, die durch die Travestie ihrer ideologischen Verbrämung im schäferliche Idyll und dem Idealroman entkleidet worden sind. Der entlarvende, pikareske Blick auf die Realitäten und ihre fiktive Überhöhung leitet die weiteren Stationen der Lektüre. Denn von der Schweiz zieht sich wieder eine lange Landstraße nach Amsterdam,12 wo sich der Leser mit dem Helden auf hohe See begibt, um den Äquator zu überschreiten und hinter dem Vorgebürge der Guten Hofriung zu scheitern.13 Wie der Held der Geschichte ist auch der Leser hier auf den Erwartungshorizont zurückverwiesen, der durch die zeitgenössischen Reiseberichte und das exotische Lokal der Idealromane gebildet wird. Aus der Distanz der Gegenlektüren fiktionaler und expositorischer Reiseliteratur kann der Leser deshalb Tychanders Weg um den afrikanischen Kontinent und nach Afrika in den Horizont eines kontrastierenden Szenarios stellen. Zu Land folgt die Lektüre der Bewegung mitternachtwerts,14 wo sie sich irgendwo südlich von Abessinien mit dem Helden geschlagen und gefangen geben muß, während sie zugleich die Realität der gefangenen und versklavten Afrikaner im Auge behält. Aus kritischer Distanz verfolgt sie den sagenhaften Aufstieg Tychanders in A byßina,15 der mit seiner Entweder-oderLogik und seinem Realitätsverlust angesichts scheinbar unbegrenzter Möglichkeiten den eigenen Sturz bereits vorbereitet. In dieser Konsequenz sieht die Lektüre den Helden noch einmal auf der Flucht zur See nach Zeila16 am Horn von Afrika, die zugleich seine Flucht vor der Realität bestätigt. Mit der geliebten Afrikanerin Salome, die ihm nun in den Versionen seiner Geschichte abhandenkommt, verliert sich auch die genaue Spur des Helden selbst, bis er - in welcher Heimat auch immer - den sicheren Hafen der endgültigen Ruhe zu erblicken glaubt. Die annähernd ringförmige Komposition der Erzählung - der Erzähler steht schon zu Beginn am sicheren Hafen des guten (?) Endes - hat ihr Pendant in der annähernd spiralförmigen Erschließimg des Raumes, die zum Schluß in das unbestimmte Hier zurückfallt, von dem sie ausgegangen war Veränderung oder Fortschritt ergeben sich nicht aus den weiten Wegen der Handlung. Der feste Hafen macht die ungestüme Bewegtheit des Geschehens anscheinend nun doch zur Allegorie, deren sinnstiftender Kontrolle sich kein Detail entziehen kann. 12
° " " "
Vgl. Lauf der Welt 267. Vgl. Lauf der Welt 268. Vgl. Lauf der Welt 273. Vgl. Lauf der Welt 290. Vgl. Lauf der Welt 378.
340
Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Kap der Guten Hoffnung
Abbildung 36: Orte der Handlung in Dürers Laufder Welt. Computerskizze von SYLVIA CORDIE nach einer Kartenvorlage in WB-Soft Clip Arts (TLC-Tewi) unter Verwendung von Ulead PhotoImpact 3.0.
Schiffbruch mit Zuschauer: Fiktion des ruhigen Hafens
341
Schon zu Beginn beruhigt die Gewißheit, daß die Lektüre mit nichts konfrontieren wird, was dieses feststehende Resultat zu ändern im Stande wäre. Beinahe erscheinen die überwundenen Hindernisse nun doch als begrenzt, vermögen sie doch scheinbar der zu Beginn formulierten Erkenntnis nichts hinzuzufügen. Die Erzählung wirkt wie ein kunstvolles Uhrwerk, das die Eigenbewegung des Helden kontrolliert. Und die fernen Räume erscheinen nun als Reservoir von Erfahrungen, die für die Herstellung griffiger Sinnsprüche ausgebeutet werden könnten. Am Ende ließe sich dann eine resignierte, aber umso zuverlässigere Bilanz ziehen und das Buch schließen. Damit wäre die Welthaltung des lesenden, städtisch-kaufmännischen Publikums bestätigt und sie könnte sich unbehelligt wieder ihren Geschäften zuwenden. Doch verweigern sich schon die Geschäftspraktiken dieser Leser einem widerspruchsfreien Anschluß an die Vorstellung vom sicheren Hafen. Die beginnende Weltwirtschaft läßt keinen unbestrittenen Besitz mehr zu, der lediglich im sicheren Hafen genossen werden könnte. Die von unternehmerischer Konkurrenz geprägte Welt erscheint bereits dem Lob des Eigen Nutzen von 1564 als Kampfplatz der ständig zu verteidigenden Eigeninteressen: Alle ding die vns auffgeladen / vnd vber Menschliche gelegenheit erheben / dahin reitzen / zwingen / vnd wöllen / daß jr vergessen sollen / euwer gebrechligkeit / die ding / so jr mit gewaptneter hand / in eisen Schlössern / bewaren / die jr auß frembden Blut geraubt / mit [35] euwrem Blut beschirmen / vmb welcher willen jr die Schiff in das Meer sencket / dasselb mit Blut zu retten / vmb welcher willen jr die Stett erschnitten / vngeacht / wieuil der Pfeil / in die widerwertigen das Glück zuricht / vmb welcher willen so offt mit verbrechung der Biindtniß vnd Freundschafft gesetzt / durch zween mit einander streitende / der vmbkreiß der Erden bequescht wirt / ist alles nicht euwer / sonder allein behaltens weiß euch gegeben / vnd wirt gar bald einem andern Herrn zugehörig werden / es werden entweder solche ding angriffen der Feind (oder der Erben feindtlich gemiit."
Konkurrenz zwingt zu fortwährender Initiative, die das Erreichte investiert und sich erneut auf die offene See hinauswagt, während ihr der Hafen nun als der ambivalente Ort erscheint, wo das Gewonnene zwar zeitweilig gesichert werden kann, in dem man möglicherweise aber auch mangels flüssigen Kapitals zur Bewegungslosigkeit verurteilt wäre. In VALENTIN HEINS' Rechenbuch findet sich die Mahnung des erfahrenen Prokuristen an einen übermütigen jungen Kaufmann, beizeiten seine Liquidität und damit die Mobilität zu wahren. Der Jhm sein Handels=Buch und seine Cassa hielte Entdeckt'ihm zwar gantz früh, wohin das Ende zielte, Und daß es recht vor Wind geh' in den Hafen ein, Der nahe bey der Stadt aufs trockne pflegt zu seyn.18 17
1«
FRONSPEROER/GUT, HEINS,
Von dem Lob deß Eigen Nutzen Qazophylacium 5 8 1 .
3 4 " -
35'.
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Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks
Selbst der Hafen ist also nicht mehr der sichere Platz, zu dem ihn die allegorische Tradition erklärt hat. Die Widersprüchlichkeit der Hafen-Metapher rührt von den Widersprüchen her, die dem Geschäft innewohnen. Erst durch die Einnahme zweier gegenläufiger Haltungen, der Risikobereitschaft und der frühzeitigen Absicherung, ist in deren konkurrierendem Zusammenspiel ein einigermaßen kalkulierbarer Erfolg zu erzielen." Inbegriff dieser kontrollierten Abläufe ist die Uhr, die nicht nur der Positionsbestimmung auf See20 dient, sondern als Mechanismus zweier gegenläufiger Bewegungen den Kontrollversuch versinnbildlicht. Ihr Pendant ist das Handels=Buch des Prokuristen, das Soll und Haben verzeichnet,21 aber auch DÜRERS Roman, der seine Dynamik nicht zuletzt aus seinen Widersprüchen schöpft. Die Widersprüche, die Haarrisse und Bruchstellen in den erzählten Räumen und Zeiten, die sich der Kontrolle der Erzählerinstanz, ihrer künstlichen Herstellung von Plausibilität, im letzten entziehen, haben sich der Lektüre als keineswegs zufallig präsentiert. In ihnen zeichnet sich der vergebliche Versuch des Handelsbürgertums ab, Kontrolle über die Eigendynamik der von ihr selbst ausgelösten Prozesse zu gewinnen. Die innere Ruhe der bürgerlichen Existenz in der Handelsstadt, deren gültiger Ausdruck die Lektüre eines Buches wie das des Theologen DÜRER wäre, basiert auf der Unruhe fortschreitender unternehmerischer Expansion, die real den Raum zu beherrschen versucht, den der Roman abschreitet. Ein Rückzug in die innerweltliche Askese, wie er vom geistlichen Diskurs des Romans nahegelegt wird, kann diese realen Leser nicht von der Verwicklung in ihre irdischen Geschäfte entbinden, die auf eben denselben Strategien beruhen, mit denen das Romangeschehen sich seine Welt aneignet. Dem Bürger als Leser mag der Rückzug auf die Zuschauerposition eine zeitweilige Entlastung verschaffen, dem Bürger als Unternehmer jedoch bleibt diese Ruhe verwehrt. Wie der Romanheld bleibt der Bürger in ein Handlungsgefuge verstrickt, dessen Unwägbarkeiten er zu beherrschen versucht, indem er Kontrolle über Raum und Zeit gewinnt. Die so gewonnene Verläßlichkeit indes ist einer Anpassung an die Mechanismen der Kontrolle und damit einer Selbstkontrolle geschuldet, gegen die der Roman überall da einen utopischen Rest bewahrt, wo er das innere Zeitbewußtsein der Personen im Konflikt mit der Dynamik der Ereignisse zeigt. Die Unruhe der Figuren, die ungeduldig durchwachten Nächte, der Verlust des Zeitgefühls in den kurzen Augenblicken von Vertrauen und Glück, hinterlassen eine "
20
21
SCHRAMM, Neun Generationen 105 spricht von zwei korrespondierenden Tendenzen im Wirtschaftsleben, nämlich einerseits mit wenig Geld viel Geld zu ernten, andererseits durch Rückversicherungen das mit dem Kaufmannsleben zwangsläufig verbundene Risiko einzuschränken. Dort wurde allerdings aus technischen Gründen noch die Sanduhr, das Stundenglas bevorzugt. Vgl. DOHRN-VAN ROSSUM, Die Geschichte der Stunde 114/115. Vgl. DIETER FORTE, Martin Luther & Thomas Müntzer oder Die Einßhrung der Buchhaltung, Frankfùrt/M. (Fischer Tb. 7065) 1981.
Schiffbruch mit Zuschauer: Fiktion des ruhigen Hafens
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Haltung des Ungenügens an der herrschenden Einrichtung der Verhältnisse. Auf der Suche nach der eigenen Zeit stoßen die Personen auf das Unverfiigbare, das weder mit unternehmerischer Initiative zu gewinnen noch mit Ökonomie zu bewahren ist. Das mythische Element der Literatur verweigert sich dem ökonomischen Anspruch allgemeiner Verfügbarkeit. An diesem Schnittpunkt von Ästhetik und Geschichte hofft die Modellektüre, in ihren Hafen eingelaufen zu sein und den Anspruch BRAUDELS eingelöst zu haben, daß das Analysemodell an den Sachen selbst seine Tauglichkeit und Wasserdichte zu erweisen habe. Für die Rekonstruktion der Welt des DuRERscHEN Romans hat sie viel zeitgenössisches Material aufgenommen, da eine ausführliche Beschäftigung der Forschung mit diesem Werk noch aussteht. Denn die Barockphilologie hat den hier vorliegenden Fundus der Quellenverarbeitung noch kaum wahrgenommen und die postmaterialistischen Diskurse der neueren Literaturtheorien sind bislang auf diesen Irrgarten der textuellen Widersprüche noch nicht aufmerksam geworden. DÜRERS Lauf der Welt ist, nachdem er bis zur Wende des 18. Jahrhunderts drei Auflagen erlebt hat, danach aus den Bücherschränken verschwunden.22 Ein Schatz auf dem Grund der alten Bestände ist noch zu heben, ein Buch ist noch zu entdecken, das in großem Umfang Welt erschließt. Eine Welt, in der ein Schelm zwischen Unruhe und Hemmung hin- und hergerissen umherirrt und die den Leser bis heute zu beunruhigen vermag.
Vgl. das Literaturverzeichnis bei UNSICHER, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein 2 8 4 und die bibliographischen Angaben bei TRAPPEN, Grimmelshausen und die menippeische Satire 223/224.
Umstrittene Grenze: Fortschritt und Beharrung in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
Im Grenzgebiet: Der historische Ort des Autors und der Zeit-Raum des Romans Im Herbst des Jahres 1673 schreibt der Schultheiß des oberrheinischen Ortes Renchen, HANS JACOB CHRISTOFFEL, genannt VON GRIMMELSHAUSEN, an seinen Landesherrn, den Bischof von Straßburg. In dem Schreiben klagt die Gemeinde dagegen, daß Renchen die finanzielle Hauptlast durch einquartierte kaiserliche Truppen zu tragen habe, während die benachbarten Orte wenig oder gar nichts beisteuerten. Dreihundert Jahre später, im Jahre 1 9 7 3 , hat SIBYLLE PENKERT das Aktenstück, das sie unter Tausenden von Straßburger und Münchener Folioblätternx entdeckt hatte, publiziert. Nun könnte man denken, daß die Supplikation eines unbedeutenden Ortes an einen der vielen Territorialherren des 17. Jahrhunderts in einem längst vergessenen Krieg eine bloße Marginalie sei, über die die Geschichte hinweggegangen ist. Die GRIMMELSHAUSENForschung jedenfalls, die sonst jeden quellenkundlichen Hinweis begierig aufgreift, hat weitgehend in diesem Sinne reagiert, indem sie das vorgelegte Dokument genauso ignorierte wie PENKERTS Anregung, Lebenszeugnisse dieser Art für eine sozialgeschichtliche und ideologiekritische Rekonstruktion der Bedingungen heranzuziehen, unter denen GRIMMELSHAUSENS literarische Werke entstanden sind. Der Routine mancher Forscher, die im Blick auf die großen Wahrheiten des theologischen Stylus den kleinen Realitätssplitter für eine quantité négligeable halten, wäre die Vermutung entgegenzusetzen, daß vielleicht gerade das Marginale und Exzentrische eine Erkundung der Grenzen erlaube, in denen sich Autor und Werk bewegen. Denn in dem unscheinbaren Schriftstück erhellt sich schlaglichtartig nicht nur der historische und politische Rahmen, in dem es entstand. Mit den Grenzen, in denen auf diese Weise das Leben 1
Vgl. SIBYLLE PENKERT, "Dreihundert Jahre danach: Unbekannte Grimmelshausen-Handschriften": Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 17 (1973) 3-20, hier 10.
Grimmelshausen zwischen allen Fronten
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G R I M M E L S H A U S E N S faßbar wird, ergibt sich vielmehr auch ein Lektüremodell für das Hauptwerk des Autors, in dem sich die Erprobung und Gefährdung eines selbstbestimmten Lebenshorizontes formuliert.2 Die Rekonstruktion des äußeren Lebensrahmens ist deshalb mehr als die positivistische Fixierung einer Autorpersönlichkeit. Sie stellt Instrumente bereit, mit denen das Werk gegen seine Zeit profiliert werden kann. In welchem historischen und politischen Rahmen also sieht sich der Renchener Schultheiß veranlaßt, im Namen seiner Mitbürger Klage bei seinem Landesherren einzulegen? Der Interessengegensatz zwischen den Großmächten Frankreich und Habsburg läßt eine Frontlinie quer durch Europa entstehen, an deren Verlauf es seit 1672 wieder zu kriegerischer Gewalt kommt. Französische Truppen sind in die Niederlande und die benachbarten niederrheinischen Gebiete des Reiches eingefallen. Das oberrheinische Bistum Straßburg bildet in dieser Auseinandersetzung einen Grenzfall, da es, juristisch zum Reich gehörig, politisch auf Seiten Frankreichs steht. Als Renchen wegen seiner topographischen bequemlichkeif3 Anfang Januar 1673 das Quartier für 1000 Mann kaiserlicher Truppen zu stellen hat, wird es Opfer seiner gut zugänglichen Lage in der Oberrheinebene. Der kaiserliche Oberst erpreßt von den Bewohnern zudem 600 Gulden, die Renchen fast allein aufzubringen hat. Dabei muß man sich vor Augen führen, daß Renchen geographisch zwar bequem gelegen, aber gerade deshalb bereits im Dreißigjährigen Krieg weitgehend durch Feuer zerstört worden war.4 In dieser Situation wendet sich der Ort an die bischöfliche Regierung in Zabern, um eine Aufteilung des Betrages unter die benachbarten Gemeinden zu erreichen. Auf ein erstes Schreiben hin hat die Regierung ihre Untertanen dahingehend beschieden, daß die gesetzliche Grundlage, auf die Renchen sich berufe, in diesem Falle keine Geltung habe, da es sich bei der von den kaiserlichen Truppen vorgenommenen Kontribution nicht um eine Maßnahme handele, die durch ein vorgehende ordenliche ordre im Rahmen der Gesetze ergriffen worden sei, sondern um einen casum fortuitum, einen kriegsbedingten Ausnahmezustand, in dem Ein oder auch mehr ordt Urblötzlich Überzogen, geblündert oder in anderer weg betrangt werden könnten. Da man gar nit fürsehen könne, welcher schaden eventuell die übrige Ambtsangehörige orth in diesem Zusammenhang noch treffe, sonder waß Gott Verhängt gewär2
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Meine Überlegungen profitieren hier von terminologischer Arbeit an Metaphern, wie sie in ganz anderem Zusammenhang geleistet wurde bei SYLVIA CORDIE, "Grenzen und Grenzgänger in Gottfried Kellers Grünem Heinrich", Magisterarbeit (masch.) Bonn 1994, besonders 6-9 zu Horizont und Rahmen als Grenzmetaphern. Zum Begriff des Horizonts vgl. auch ALBRECHT KOSCHORKE. Die Geschichte des Horizonts, Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1990. So die Formulierung GRIMMELSHAUSENS in seinem Schreiben, vgl. PENKERT, "Unbekannte Grimmelshausen-Handschriften" 18. Vgl. ARTHUR BECHTOLD, "Zur Quellengeschichte des Simplicissimus": Euphorion 1 9 ( 1 9 1 2 ) 1 9 - 6 6 und 4 9 1 - 5 4 6 , hier 5 4 2 , Anm. 1.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
tig sein müsse, heiße dies, daß der Vermeinte ferner Beytrag aber von den Renchern ohne fueg gesuecht werde. Die Rencher sind in dem regierungsamtlichen Schreiben ausdrücklich verwarnt worden, sollten sie sich ferner noch widerspännig oder saumßeelig erzeigen.5 Die juristische Argumentation der Regierung kann den Renchener Schultheißen nicht befriedigen, zieht sie sich doch auf den Grenzfall des Ausnahmezustandes zurück, in dem das Recht außer Kraft gesetzt ist, während sie sich zur Bekräftigung ihrer Forderungen eben jenes Rechtes bedient. Das Lavieren in der juristischen Grauzone enthüllt die Widersprüchlichkeit des frühneuzeitlichen Ordnungsstaates, der an einer Vereinheitlichung des Rechtes arbeitet, zugleich aber zur Durchsetzung dieses Anspruchs den Krieg als sein gutes Recht betrachtet, obwohl gerade dieser Krieg die anzustrebende Rechtsordnung untergräbt.6 Im scharfen Kontrast zur Zeitform des frühneuzeitlichen Ordnungsstaats - der Zukunftssicherung durch Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Vorsorge steht die im regierungsamtlichen Schreiben betonte Plötzlichkeit des kriegerischen Überfalls, der auch jedem anderen Ort als gottgegebene Heimsuchung jederzeit widerfahren kann. Diese Plötzlichkeit charakterisiert den Ausnahmezustand sozusagen als Auszeit, in dem das Recht suspendiert ist. Wie das Recht durch den Ausnahmezustand in seiner allgemeinen Gültigkeit untergraben ist, werden auch die Grenzen der Territorien durch rechtswidrige Eingriffe verletzt, die aber mit dem angeblichen Recht des Krieges legitimiert werden. Im Krieg wird Unrecht zu Recht und der Ausnahmezustand zum Normalfall. Der innere Widerspruch der kriegführenden Territorialstaaten wird jetzt als Frontlinie durch ihr Territorium topographisch sichtbar. Die Front verdeutlicht den Widersinn kriegerisch gesicherter Staatsgrenzen, die auf ebenso kriegerische Weise verletzt und verschoben werden können. Den konstituierenden Prinzipien des frühneuzeitlichen Staates ist damit schon ihr Negativ, die Möglichkeit der Zerstörung, mit eingeschrieben. Der Ausnahmezustand erscheint als notwendige Entsprechung des Rechtsstaates, solange sich dieser als Machtstaat versteht.7 Am dialektischen Umschlag von repressiver Ordnung in kriegerische Unordnung - das haben bereits die Schluß3
4
7
Vgl. Franz Christoph von Wangen im Auftrag der Regierung an Grimmelshausen und Amt Renchen über Obervogt und Amt Oberkirch, 25. VIII. 1673, dokumentiert bei PENKERT, "Unbekannte Grimmelshausen-Handschriften" 17/18. Vgl. WALTER BENJAMIN, Ursprung
des deutschen
Trauerspiels,
hg. v o n ROLF TIEDEMANN, F r a n k -
furt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 225) 21978, 47/48. Siehe auch KLAUS GARBER, "Benjamins Bild des Barock": Rezeption und Rettung, Drei Studien zu (Valter Benjamin, Tübingen (Niemeyer) 1987, 59-120, hier 93. Insofern ist der Ausnahmezustand nichts anderes als eine besondere Form des Regelfalls. Als Extremfall der Regel bringt er ihren gewaltsamen Charakter zum Vorschein. Vgl. WALTER BENJAMIN, "Ober den Begriff der Geschichte": Illuminationen, Ausgewählte Schriften I, Frankfurt/M. (Suhrkamp Tb 345) 1977, 251-261, hier 254: Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist.
Grimmelshausen zwischen allen Fronten
347
Überlegungen zum Landtstörtzer Gusman gezeigt - wird der innere Widerspruch des Ordnungsstaates manifest.8 Die Position des Renchener Schultheißen ist in dieser Situation zwangsläufig widersprüchlich. Er vertritt in seinem Schreiben der zentralen Ordnungsmacht gegenüber die Interessen seines Fleckens an der Peripherie des Landes. Seine Argumentation jedoch fußt gerade auf der Vorstellung einer durch die wahre Policey gewährleisteten hamonia , die für die Rechtsgleichheit im ganzen Territorium einstehen soll, indem sie verlangt, daß die Jenige ordt, So auß einer Herrschaß vor andern mit sothanem Durchzug und Einquartierung betroffen und gravirt, von den Übrigen Herrschaftlichen Gemeinden pro quota [...] sublevirt werden sollen.9 GRIMMELSHAUSEN als Amtsträger des Territorialstaates, der vor Ort unter anderem für die Handhabung der verschiedenen Zweige der Polizei10 zuständig ist, übt seine Position auf der Grenzlinie zwischen dem Beauftragten der Obrigkeit und dem Vertreter der örtlichen Rechtsansprüche aus. Er klagt das vom Ordnungsstaat proklamierte Prinzip der Rechtssicherheit auch dann ein, als dieser Staat sich aus reinem Machtkalkül aus jener Verantwortung stehlen will, die die Rechtsordnung ihm seinen Untertanen gegenüber auferlegt. Beharrung, Festhalten am Hergebrachten, wird in diesem Zusammenhang zur Widerspentzigkeit, durch die sich die obrigkeitliche Ordnung in Frage gestellt sieht, obwohl es doch die Obrigkeit selbst ist, die aus der Sicht ihrer Untertanen das Recht in Frage stellt." Das Beharren des unbedeutenden Schultheißen auf dem Recht, das auch dem Schwächeren zusteht, der Appell an die herzustellende Harmonie, bringt die uneingelöste utopische Dimension des frühneuzeitlichen Staatsprojektes ins Spiel. Denn es ist wohl kein Zufall, daß Harmonie und die Rede von ihr an jenen utopischen Rändern im Simplicissimus Teutsch vernehmbar werden, die den politischen Händeln entzogen sind, wie im Nachtigallengesang des Einsiedels zu Beginn und in der Darstellung der ungarischen Wiedertäuferkolonie am Schluß der Erzählung.12 '
' 10
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Dieser Dialektik des absolutistischen Machtstaates ist auch DIETER BREUER in seinem Aufsatz "Grimmelshausens politische Argumentation, Sein Verhältnis zur absolutistischen Staatsauffassung": Daphnis 5 (1976) 303-332 auf der Spur, wenn er (322) zu GRIMMELSHAUSENS Keuschem Joseph ausführt: Josephs Staatsschatzpolitik, die doch ursprünglich nur die zentrale Machtbildung im Interesse und zum Schutz des Gemeinwohls und gegen ständische Partikularinteressen sowie gegen Bedrohungen von außen sichern sollte, hat ihre Eigengesetzlichkeit entwikkelt und ist in Konflikt mit dem Gemeinwohl und damit mit den natürlichen Rechten der Untertanen geraten; sie mindert auch nicht mehr die Kriegsgefahr, sondern erhöht sie [...]. Grimmelshausen und Amt Renchen an Bischof Franz Egon von Fürstenberg (1673), dokumentiert bei PENKERT, "Unbekannte Grimmelshausen-Handschriften" 19. Vgl. GUSTAV KONNECKE, Quellen und Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens, hg. von J < A N > H < E N D R K > SCHÖLTE, 2 Bande, Weimar (Gesellschaft der Bibliophilen) 1 9 2 6 / 1 9 2 8 , hier Band 2 , 1 8 6 . Vgl. PENKERT, "Unbekannte Grimmelshausen-Handschriften" 1 4 und die bei KÖNNECKE, Quellen und Forschungen, Band 2, 194-198 vorgelegten Dokumente zum Rechtsstreit. Vgl. GRIMMELSHAUSEN, Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des
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Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
Die Ortlosigkeit der Harmonie im Wirklichen, das Umschlagen von Recht in Unrecht an der Grenzlinie der Herrschaftsinteressen, dies alles ist auch in GRIMMELSHAUSENS Biographie aufweisbar, lassen sich doch Dokumente von seiner Hand beibringen, die ihn auf der Gegenseite, nämlich als Sachwalter eines kaiserlichen Regiments zeigen, das auf der Zahlung von Kontributionen in demselben Kriegsgebiet um Oberkirch besteht. Diese Schriftstücke freilich sind rund 30 Jahre älter und wurden von GRIMMELSHAUSEN in Diensten des kaiserlichen Obersten REINHARD VON SCHAUENBURG abgefaßt, als dieser Kommandant der Festung Offenburg war. Aus der Sicht des kaiserlichen Kommandanten ist die geostrategische Lage Offenburgs in den Jahren 1643/44 denkbar schlecht. Dem verbündeten bayerischen Kurfürsten MAXIMILIAN hat SCHAUENBURG im Oktober 1643 die Festung als höchst periculirten Posten geschildert: Alles herumb lands ist vom Feind, als welcher bei nahe ein gantzes Jahr hierumb geschwebet und den Posten dadurch gleichsam ploquirt gehalten, ruinirt.13
Mit Hinweis auf die exponierte Lage Offenburgs will SCHAUENBURG dem verbündeten Kurfürsten wie dem kaiserlichen Dienstherrn den Wert der von ihm gehaltenen Stellung einsichtig machen. Die Kriegsereignisse rücken Grenzen dadurch ins Bewußtsein, daß sie ihre Bedrohung vor Augen führen. Grenzen als Bewußtseinsleistung entstehen offenbar erst durch ihre mögliche oder tatsächliche Überschreitung, sei es als Verletzung durch den Gegner oder als Erweiterung durch die eigene Militärmacht. Grenze ist nie nur das Enden des eigenen Gebiets, sondern immer bereits die bedrohliche Anwesenheit des fremden Territoriums, so daß in der Vorstellung die Grenze mit ihrem gewaltsamen Schutz identifiziert werden kann, beispielsweise, wenn der Kaiser seine Festung Offenburg als letzte Schildwach gegen den Feind bezeichnet.14 Die Grenzstellung Offenburgs verursacht aber auch den Versorgungsmangel, der den Stützpunkt entscheidend schwächt. Die große Miserie15 Offenburgs bildet den Anlaß der umfangreichen Korrespondenz des Obersten SCHAUENBURG, in deren Zusammenhang der Regimentsschreiber GRIMMELSHAUSEN tätig wird. In dem ersten von GRIMMELSHAUSENS Hand überlieferten Schriftstück, einem Schreiben SCHAUENBURGS an die Regierung in Wien, beklagt der Festungskommandant die Zahlungsunwilligkeit der Ämter Oberkirch, Willstett und Bischoffshein und führt aus, sonderlich aus dem Ambt
Oberkirch, zu dem auch Renchen gehört, sei ihm innerhalb einer Jahresfrist nicht einicher Heller gezahlt worden. SCHAUENBURG bittet um das Eingreifen der Regierung, da er auf alle Mittel trachte, dißen der Römischen Kayser-
13
" 13
abentheurlichen Simplicissimi, hg. von ROLF TAROT, Tübingen (Niemeyer) 2 1984, (Buch) I, (Kapitel) 7, (Seite) 24, (Zeile) 36 und Simplicissimus Teutsch V, 19, 441, 30. KÖNNECKE, Quellen und Forschungen, Band 1, 347. Vgl. KÖNNECKE, Quellen und Forschungen, Band 1, 344. Vgl. KÖNNECKE, Quellen und Forschungen, Band 1, 344.
Lebensweg und
Zeitgeschichte
349
liehen Mayestät und gesampten Hochlöblichen Ertz Hauß Österreich viel importirenden Mir anvertrawten Posten [...] möglichst zue Conserviren.16 Offenburg muß nicht nur die Stellung gegen den kriegerischen Kontrahenten halten, sondern auch Front gegen das Umland machen, das seine Versorgung sicherstellen soll. In diesem Interessenkonflikt ist eine Sprecherposition notwendig einseitig. SIBYLLE PENKERT weist darauf hin, daß das bei GUSTAV KÖNNECKE noch gezeichnete Bild von der aufopferungsvolln> Fürsorge Schauenburgs für seine Garnison einer Korrektur bedarf, die sich aus der Kommunikationssituation ergibt. Es sei mit einer Stilisierung des Schreibers zu rechnen [...], die auf Kosten der Untertanen, der eigenen Bauern, ging.17 Dies beleuchtet wiederum das Beispiel Renchens, dessen Zerstörung im Zusammenhang mit dem Kampf um die Festung Offenburg gesehen werden muß. Der zeitgenössische Chronist bemerkt: Item auff sanet Jacobi Anno 1638 ist die kyreh zu Renchen undt das rothauß mit sambt auff in dreyssig Hoffstetten angebrändt worden, wie der Hertzog von säffel (Savelli) undt Generoll Götz ob Offenburg geschlagen seyn worden. Item auff den Neuen Jahrestag anno 1641 ist das schloß hie abgebrent durch den Obrest Gromrossen (von Rosen?)."
Das abgebrannte Dorf Renchen ist derselbe Ort, dessen säumige Zahlung der Schreiber des Obersten SCHAUENBURG beklagt und dessen weitere Zahlungsunfähigkeit der Schultheiß GRIMMELSHAUSEN dreißig Jahre später erklären wird. Der Krieg als Geschäft ist ein Nullsummenspiel, bei dem nur gewonnen werden kann, was ein anderer verliert." Alle Beteiligten sind gezwungen, sich auf eine von zwei Seiten zu stellen. Es reicht nicht zu konstatieren, welche Position GRIMMELSHAUSEN etwa in diesem oder jenem Konflikt bezieht, vielmehr muß geklärt werden, durch welche historischen Konstellationen eine Position diesseits oder jenseits der zeitgenössischen Frontlinien zustandekommt. Für einen literarischen Text heißt dies, daß die vermutliche Autorintention oder Aussageabsicht nicht den Maßstab fur seine Interpretation setzen kann. Die Frage nach der Form20 der Räume und Zeiten im Simplicissimus Teutsch ist als Frage nach ihren Grenzen zu stellen, nach den chronotopischen Mustern, von denen die Handlung des Simplicissimus Teutsch organisiert wird. Raum und Zeit des Vaganten im Simplicissimus Teutsch folgen nicht rein 14 17
" " 20
Vgl. PENKERT, "Unbekannte Grimmelshausen-Handschriften" 15/16. Vgl. PENKERT, "Unbekannte Grimmelshausen-Handschriften" 1 1 . Zitiert nach BECHTOLD, "Zur Quellengeschichte des Simplicissimus" 542, Anm. 1. Vgl. MATTHIAS BAUER, Im Fuchsbau der Geschichten, Anatomie des Schelmenromans, Stuttgart und Weimar (Metzler) 1993, 90. Zur Form als Aspekt eines Werkes, der sich nicht im rhetorischen Ornat oder einer äußeren Form erschöpfe, vgl. PETER POTZ, Die Leistung der Form, Lessings Dramen, Frankfurt/M. (Suhikamp) 1986,21.
350
Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
topisch-allegorischen Vorgaben, vielmehr steht die Lebensreise des Helden mit den Landschaften und Zeiten, in denen er sich bewegt, in einer Wechselbeziehung. Das Mitteleuropa des 30jährigen Krieges ist kein zufälliges Sujet für eine in Genre verkleidete Allegorie. Es bildet vielmehr die Welt, die sich der Held anzueignen hat, und gehört damit zur Substanz des Romans. Der räumliche und zeitliche Rahmen der Handlung ist keine Theaterkulisse für ein zeitloses theatrum mundi, sondern das objektive Handlungsfeld, in dem sich die Subjektivität des Helden, seine unverwechselbare Biographie, überhaupt erst konstituiert. Umgekehrt kommt diese objektive Welt erst durch die Bewegung des Helden in den Blick.21
Abbildung 37: Simplicius' Reiseweg. Karte von ALLEN BJORNSON. Reproduziert nach BJORNSON, The Picaresque Hero in European Fiction, Fig. 19. Eine ähnliche Beobachtung macht ANDREAS RAMIN, wenn er die OrientierungsfUnktion des komplexen Raumes im Simplicissimus Teutsch hervorhebt, innerhalb dessen der Held nach seiner Identität suche. Raumorientierung und Raumordnung würden durch militärische Eingriffe verhindert. Auch RAMIN sieht also die ästhetische Eigenbewegung des Textes, die dem Helden immer neue Fremdräume erschließt, durch die historischen Bedingungen des 30jährigen Krieges bestimmt Vgl. ANDREAS RAMIN, "Symbolische Raumorientierung und kulturelle Identität in Hans Jacob Christoph von Grimmelshausens: Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch·. Symbolische Raumorientierung und kulturelle Identität, Leitlinien der Entwicklung in erzählenden Texten vom Mittelalter bis zur Neuzeit, München (Iudicium) 1994, 131-154.
Lebensweg und Zeitgeschichte
351
Die Welt, in der sich Simplicius zu orientieren hat, ist geprägt durch die umkämpften und teilweise zerstörten Städte und Landschaften im Kriegsgebiet, und die Episoden des Romans binden sich an die Orte des Kriegsgeschehens. Aus den Stationen, an denen der Held haltmacht, erschließt sich der räumliche und zeitliche Rahmen der Handlung. Diese Haltepunkte lassen sich sich nachträglich auf einer Karte zu einem Reiseweg verbinden. Ahnliches gilt auch für die Zeit des Romans. Sie ist durch die interne Chronologie der Lebensjahre des Helden bestimmt. Doch verbinden sich die Lebensjahre und Lebensstationen an bestimmten Punkten mit historischen Ereignissen, die auf das Leben des Helden Einfluß haben. Anhand der häufig erwähnten Kriegsereignisse werden die Stationen extern datierbar, wenn der Roman auch bis auf eine Ausnahme vermeidet, konkrete Daten zu nennen.22 Durch den Hinweis auf Geschichte, die in das Leben des Helden eingreift, ergibt sich im Roman eine Verschränkung der Lebenszeit des Simplicius mit der Weltzeit des 17. Jahrhunderts. Die Ich-Form des Schelmenromans erhält eine historische Dimension. Und umgekehrt wird Geschichte als Geschichte eines konkreten einzelnen Menschen faßbar. Denn einerseits wird der Blick auf diese Ereignisse aus der beschränkten Perspektive des Helden frei, andererseits aber sind die Schritte des Helden und seine Sicht der Dinge von den Ereignissen bestimmt. Indem der Roman die Orte bekannter und datierbarer Schlachten erwähnt, öffnet er die Romanfiktion für eine außerhalb ihrer selbst gegebene Realität, was die positivistische Forschung dazu ermutigt hat, den fiktiven Lebensweg des Helden und die Welt des Romans in Beziehung zum zeitgenössischen Kriegsgeschehen und zur Autorbiographie zu setzen. Dabei hat sie wertvolles Material zur Sozialgeschichte des Romans beitragen können, das längst noch nicht gänzlich interpretatorisch ausgewertet ist. Allerdings haben sich im Anschluß an die Studien KÖNNECKES zur Lebensgeschichte Grimmelshausens Kurzschlüsse ergeben, da man glaubte, aus der Romanfiktion urastandslos die Biographie des Autors rekonstruieren zu können.23 Der Autor GRIMMELSHAUSEN ist jedoch nicht mit dem Helden des Romans oder mit seinem Erzähler identisch. Vielmehr ist der Weg des Helden Simplicius durch die Welt des Romans eine irritierende Spiegelung zeitgenössischer Biographien, die sich in einer ähnlichen Verschränkung von Weltzeit und Lebenszeit bewegen. Eine Rekonstruktion der fiktiven Lebensstationen des Simplicius muß sich der Differenz bewußt bleiben, die die Fiktion von der Realität scheidet und sie doch in Beziehung zu ihr setzt. Es empfiehlt sich, die Chronologie des Romans und die historische Folge der Ereignisse als zwei 22
23
Das einzige Datum, das in den fünf Büchern des Simplicissimus Teutsch erscheint, ist der 26. Juli (1636), der von ihm selbst prognostizierte Todestag des älteren Hertzbruder. Vgl. Simplicissimus Teutsch II, 23, 162, 16; II, 24, 164,21 und II, 24, 165, 11. Einen mißverständlichen Eindruck erweckt beispielsweise CURT HOHOFFS Bildmonographie über Grimmelshausen, die das Referat des Romans mit der rekonstruierten Biographie GRIMMELSHAUSENS vermengt.
352
Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
unabhängig voneinander verlaufende Zeitschienen zu betrachten, zwischen denen eine prekäre extern-interne Chronologie in der Schwebe bleibt.24 Im Für die Rekonstruktion der internen und externen Chronologie konnte ich auf die übersichtliche Zeittafel zunickgreifen, die sich in SIEGFRIED STRELLERS Ausgabe findet: Grimmelshausens Werke in vier Bänden, Erster Band, Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, Erstes bis Drittes Buch, Berlin (Aufbau) 1984 = Bibliothek deutscher Klassiker, 319/320. Die Tafel unterscheidet die erschlossenen fiktiven Lebensdaten des Simplicius durch Kursivdruck von den historischen Daten. (Zitiert als STRELLER, Simplicissimus.) Mit Gewinn herangezogen wurden auch folgende k o m m e n t i e r t e A u s g a b e n : HANS JACOB CHRISTOFFEL VON GRIMMELSHAUSEN, Der Abenteuerliche
Sim-
plicissimus Teutsch, hg. von ALFRED KELLETAT, München (Deutscher Taschenbuch Verlag 2004) 9. A u f l a g e 1 9 8 5 . (Zitiert als KELLETAT, Simplicissimus.)
HANS JACOB CHRISTOFFEL VON GRIMMELS-
HAUSEN, Werke 1.1 = Bibliothek der frühen Neuzeit 4/1, hg. von DIETER BREUER, Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1989. (Zitiert als: BREUER, SIMPLICISSIMUS.) Der Weg des Helden durch die Welt des Romans beginnt auf einem nicht näher bezeichneten Bauemhof im Spessart. Doch nicht nur der Ort hat keinen spezifischen Namen, auch der Held trägt zunächst nur die allgemeine Bezeichnung Bub. Das Abseits des Hofes liegt außerhalb aller geographischen und historischen Bestimmbarkeit und kann erst in der Retrospektive in das Beziehungsgeflecht des Romans, seine interne Chronologie und die externen Parameter des historischen Rahmens eingeholt werden. Danach wäre der Held im Umfeld der Schlacht bei Höchst (1622) geboren. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 8, 400, 9-15.) Durch einen Reiterüberfall von dem Bauernhof vertrieben, kommt der Held in einen nahegelegenen Wald, begegnet einem Einsiedler, der sich später als sein leiblicher Vater herausstellen wird, und erhält den Namen Simplicius. Nach dem Tod des Einsiedlers gelangt er über das - im Umfeld der Schlacht bei Nördlingen (1634) - zerstörte Gelnhausen in die VestungHanau. (Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 18/19, 52, 10-15 und 35.) Im folgenden Frühjahr (1635) wird Simplicius beim Eislaufen vor den Toren Hanaus von Kroaten entfuhrt und von dort über Büdingen (bei Gelnhausen) in Richtung Fulda und Hirschfeld mitgenommen. (Vgl. Simplicissimus Teutsch II, 15, 136,31-37 und II, 15, 137, 5.) Simplicius entkommt Anfang des (folgenden?) Sommers seinen Häschern in einen nicht näher lokalisierbaren Wald und erlebt zu End deß May auf einer Diebestour in einem Baum-Hof seine Mitnahme zum Hexentanz auf den Blocksberg. (Vgl. Simplicissimus Teutsch II, 16, 141, 25-37 und II, 17, 143, 5-7.) Dies dient zur Erklärung, wie er auß dem Stiffl Hirschfeld oder Fulda [...] in so kurtzer Zeit ins ErtzStiffi Magdeburg marchirt seye. (Vgl. Simplicissimus Teutsch II, 18, 147, 20-23.) Im Lager vor Magdeburg erlebt der Held die zweite Belagerung der Stadt (im Sommer 1636). Von dort zieht er mit den kaiserlichen Truppen in die Schlacht bei Wittstock (Oktober 1636), die der Roman in einer vieldiskutierten Beschreibung festhält. (Vgl. Simplicissimus Teutsch II, 24, 164, 30 und II, 27, 175 ff.) Der Realismus der Schlachtenschilderung wird diskutiert bei RICHARD ALEWYN, "Realismus und Naturalismus" : Deutsche Barockforschung, Dokumentation einer Epoche, hg. von RICHARD ALEWYN, K ö l n / B e r l i n 3 1 9 6 8 , 3 5 8 - 3 7 1 , h i e r 3 6 0 - 3 6 2 ; HANS GEULEN, "'Arcadische' S i m -
pliciana, Zu einer Quelle Grimmelshausens und ihrer strukturalen Bedeutung für seinen Roman": Euphorion 63 (1969) 426-437; UWE BÖKER, "Erzählerischer Realismus und Barockstil in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch": Neuphilologische Mitteilungen 75 (1974) 332-348. Im folgenden Winter hält sich Simplicius als Salvaguardia im Kloster Paradeis bei Paderborn auf, bevor er in Dienste des Kommandanten von Soest tritt. (Vgl. Simplicissimus Teutsch II, 29, 182, 7 - II, 29, 1884, 37 und II, 30, 185, 31.) In der Gegend um das kaiserliche Soest, das sich mit den feindlichen Guarnisonen [...] zu Dorsten / Lippstatt und Coeßfeld konfrontiert sieht, ist Simplicius als Jäger von Soest im folgenden Sommer (1637) unterwegs, um Kontributionen einzutreiben. (Vgl. Simplicissimus Teutsch II, 30, 187, 9/10. ) So gelangt er bis in die Gegend von Recklinghausen, sowie nach Rehnen, Münster und Hamm, Dorsten und in die Nähe von Paderborn. (Vgl. Simplicissimus Teutsch II, 31, 189, 2; II, 31, 196, 7/8; III, 3, 208, 19/20; III, 8, 224, 32.) Als er einen Schatz findet und sein Kapital in Köln deponiert, wird er auf dem Rückweg durch das Bergische Land von Gegnern aufgegriffen und in eine Vestung gefuhrt / die nicht gar 2. Meilen von seiner Guarnison liegt. (Vgl. Simplicissimus Teutsch III, 14, 248, 24 und III, 14, 250, 8/9.) Es dürfte sich um das bei Soest gelegene Lippstadt handeln, damals eine schwedisch-
Lebensweg und
353
Zeitgeschichte
protestantische Festung. Die Gefangenschaft dauert den folgenden Winter (1637/38) an, während dessen Simplicius durch die geselligen Feste der weiblichen Bevölkerung näherkommt und schließlich heiraten muß. (Vgl. Simplicissimus
Teutsch III, 16, 256, 20/21.) Kaum über acht
Tag nach seiner Hochzeit begibt sich Simplicius nach Cöln, um dort sein Vermögen abzuholen. (Vgl. Simplicissimus
Teutsch III, 23, 279, 16.) Die Ereignisse im Roman schreiten so rasch vor-
an, daß die Leser den Helden für älter halten müssen, als er nach den Zeitangaben sein kann. Zum Zeitpunkt der Hochzeit wäre Simplicius nach der internen Romanchronologie 16 Jahre alt. Dies wird später durch eine Abgleichung mit der externen Chronologie von 1640 nach 1645 korrigiert. A l s sich seine Geschäfte verzögern, reist er von dort nach Pariß, w o er die Faßnacht sänger und Gigolo zubringt. (Vgl. Simplicissimus
als Opern-
Teutsch IV, 1, 291, 27 und IV, 3, 300, 4.) Da
man ihm von Lippstadt aus anbietet, noch vor dem Frühling
in schwedische Dienste zu treten,
verläßt er Paris, erkrankt aber schon beim zweyten Nachtläger schlechten D o / f zubringen. (Vgl. Simplicissimus
und muß vier Wochen in einem
Teutsch IV, 6, 308, 17 und IV, 6, 309, 9- IV.
7, 311, 37.) Nun geht schon gegen den Sommer,
und Simplicius schlägt sich als Quacksalber
bis er aufgegriffen wird und als Soldat in der Festung Philippsburg
durch Lothringen,
muß. ( V g l . Simplicissimus
dienen
Teutsch I V , 7, 312, 12 und IV, 9, 316, 7 und 25.) Da eine Flucht
über den Rhein mißlingt, muß Simplicius biß in den Sommer
hinein (1638) ein
Mußquetier
bleiben, bis sein Freund Hertzbmder ihm aus der Festung heraushilft, so daß er den restlichen Sommer als unabhängiger Merodebruder am Schwarzwald, im Breisgau und im Elsaß herumstreichen kann. (Vgl. Simplicissimus 14.) A m Tag vor der Wittenweyerer
Teutsch IV, 12, 326, 18/19 und IV, 12, 329, 24-13, 330, Schlacht
(9. 8. 1638) wird der Freibeuter von Weimari-
schen Truppen irgendwo in Baden aufgegriffen und zu Wach- und Schanzdiensten herangezogen. ( V g l . Simplicissimus
Teutsch IV, 13, 333, 5-14, 333, 31.) Ungeßhr
eine Woch oder vier vor
Weyhnachten wird Simplicius auf dem W e g durch das Breisgau nach Straßburg von seinem alten Gegenspieler Olivier überfallen und hält sich als Wegelagerer in dessen Einflußgebiet auf, das sich bis an die schweizerische Grenze erstreckt. (Vgl. Simplicissimus
Teutsch IV, 14, 334, 17
und IV, 23, 360, 29/30.) Nach dem gewaltsamen Tod Oliviers entkommt Simplicius nach Villingen, w o er seinen Freund Hertzbruder wiedertriflt ( V g l . Simplicissimus
Teutsch I V , 25, 364, 8
und IV, 25, 366, 28.) Der terminus post quem der externen Datierung ist der Dezember 1638, die Verhaftung des GRAFEN GÖTZ, die im Gespräch der Freunde erwähnt wird. (Vgl.
Simplicissimus
Teutsch IV, 26, 368, 12-21.) Die beiden unternehmen eine Pilgerreise über Schaffhausen und Zürich nach Einsiedeln, w o sie vierzehn Tage zubringen. (Vgl. Simplicissimus
Teutsch V, 1,
376, 26-2, 379, 30.) Bis zum Beginn des Frühlings (1639) begeben sich die Freunde nach Baden, um dort vollends auszuwintern. (Vgl. Simplicissimus
Teutsch V, 2, 380, 4.) Eine Beschrei-
bung der dortigen Verhältnisse findet sich bei MICHEL DE MONTAIGNE, Tagebuch durch Italien,
die Schweiz und Deutschland
in den Jahren
einer
Reise
1580 und 1581, deutsch von OTTO
FLAKE, Frankfurt/M. (Insel Tb. 1074) 1988, 33-40. Dort erreicht sie die Nachricht von der Rehabilitierung des GRAFEN GÖTZ, Hertzbruders Dienstherrn (die realhistorisch allerdings erst im August 1640 stattfand: Die interne Chronologie der Lebensjahre des Helden und die externe historische Chronologie differieren von diesem Punkt an erheblich). A u f eine Ermutigung durch GÖTZ hin reisen die Freunde über Konstanz nach Ulm, von w o aus sie auf der Donau in acht Tagen Wien erreichen. (Vgl. Simplicissimus
Teutsch V, 3, 383, 2-4.) Innerhalb von acht Tagen erlangt
Simplicius in Wien eine Hauptmannsstelle unter dem Grafen von Wahl, nimmt an der Schlacht bei Jankau teil (die in der Realhistorie allerdings erst im März 1645 stattfindet) und kehrt von dort nach Wien zurück. (Vgl. Simplicissimus
Teutsch V, 4, 383, 22-4, 385, 21). Im folgenden
Mai (1640 oder 1645? Vgl. die chronologische Angabe bei KELLETAT, Simplicissimus 401.) reisen die Freunde über Ulm zum Sauerbrunnen nach Grießbach ( V g l . Simplicissimus
an dem
625, Anm.
Schwartzwald.
Teutsch V, 4, 385, 28-5, 386, 13. ) Dort absolviert Hertzbruder eine Kur
von acht Wochen, während derer sich Simplicius - in der Absicht, seine Frau in L zu besuchen - nach Straßburg aufmacht, um sich dort nach Köln einzuschiffen. ( V g l .
Simplicissimus
Teutsch V , 5, 386, 24 und V, 5, 387, 10-20.) Der externe terminus post quem für diese Reise ist das Jahr 1644, da im Gespräch zwischen Simplicius und Jupiter in Köln die Friedensverhandlungen von Münster
erwähnt werden, die 1644 begannen ( V , 5, 387, 28/29). Die externe Chronolo-
gie häuft nun also Hinweise, die die Handlung aus dem Jahr 1640 in das Jahr 1645 verlegen.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
Nachvollzug der Romanhandlung sind die durch die romaninterne und externe Chronologie erschlossenen Daten deshalb immer mit Klammern zu versehen, um den Eindruck zu vermeiden, die Figur Simplicius habe jemals tatsächlich am Kriegsgeschehen des 17. Jahrhunderts teilgenommen. Die Grenzen, die der Text sich durch seine Form als fiktive Autobiographie setzt, sind zu respektieren. Das Ende des fünften Buches setzt der Erzählung eine erste Grenze, die sich als zeitlicher Konvergenzpunkt des erzählten mit dem erzählenden Ich bestimmt. Der Erzähler spricht nun in Präsens und Futur von sich selbst, die erzählte Reise ist zu einem vorläufigen Ende gelangt. Von hier aus begründet Von Köln aus geht Simplicius durch Abweg [...] nach L. , wo er nur noch seinen Sohn vorfindet, da die Ehefrau inzwischen verstorben ist, und kehrt nach 14. Tagen zum Sauerbrunnen nach Griesbach zurück. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 5, 389,9/10 und V, 5, 391, 11-13.) Der Aufenthalt in Griesbach verschwimmt in iterativen Angaben über die täglichen Vergnügungen des Helden. Eine sommerliche Szene führt zur Hochzeit mit einer schönen Bauersfrau und zur Gründung einer Existenz. Kurz darauf triât Simplicius seinen Ziehvater aus dem Spessart, den Knan, der den Zeitraum seit dem Reiterüberfall auf ungefähr 18 Jahre ansetzt. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 8, 398, 34.) Die intern-externe Chronologie stünde jetzt plötzlich im Jahr 1652. CARL AUGUST VON BLOEDAU, Grimmelshausens Simplicissimus und seine Vorgänger, Beiträge zur Romantechnik im siebzehnten Jahrhundert = Palaestra 51, New York (Johnson Reprint) 1967 = Berlin (Mayer & Müller) 1908, 67-71, beobachtet eine Unstimmigkeit zwischen der Angabe des Knan, die Nördlinger Schlacht habe ihm den Jungen genommen, mit den Ereignissen im ersten Buch, wo die Nördlinger Schlacht erst nach dem Aufenthalt beim Einsiedler stattfindet, und kommt zu einer Datierung auf 1650. Auch mit dieser Verschiebung um zwei Jahre und die Annahme einer Urfassung, die die Einsiedlergeschichte nicht vorgesehen habe, ist die Chronologie des fünften Buches nicht in Ordnung zu bringen. Mit dem Knan reist Simplicius in den Spessart, um sich seine Herkunft bestätigen zu lassen. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 9, 402, 29/30.) Nach Griesbach zurückgekehrt, erlebt Simplicius einen Zeitraum von ungefähr einem Jahr, während dessen seine Frau und seine Magd schwanger werden. Die Ehefrau stirbt kurz nach ihrem Kind, wonach der ledig gewordene Simplicius seinen Zieheltern die Leitung des Hofes übergibt. Mit seinem Knan wandert Simplicius zum Mummelsee im Schwarzwald. Im Herbst nach dieser Reise erlebt sein Hof die Einquartierung durch Schweden und Hessen, die in Verbindung mit der Blockade einer nahegelegenen Reichsstadt (Offenburg, 1643) gebracht wird. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 20, 442, 28-32.) Von dem schwedischen Obristen läßt sich Simplicius (1644/1645/1654 ?) zu einer Reise über Liffland nach Moscau anregen, wo er in Militärdienste zu treten hofft. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 20, 444, 30 - 20, 445, 20.) Nach einem ViertelJahr der Untätigkeit in Moskau wird Simplicius gezwungen, außerhalb der Stadt eine SalpeterProduktion aufzubauen. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 21, 447, 28 - 21, 449, 32.) Nach einer Schlacht gegen die Tataren reist der Held die Wolga hinunter nach Astrachan, um dort eine Pulver-Produktion zu errichten. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 22, 453,18/19. ) Dort wird er von Tataren entführt, gelangt nach Korea, Japan, Macao, Alexandria, Konstantinopel, Venedig und Rom. Nach sechs Wochen in Rom begibt sich Simplicius nach Loreto und von dort über den Gotthart heim in den Schwarzwald. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 22, 454, 8 - 22, 455, 20). Zu Hause ist inzwischen der Teutsche Fried (24.10.1648) geschlossen. Der Erzähler gibt an, drey Jahr und etliche Monat unterwegs gewesen zu sein. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 22, 445, 23-28). Diese interne und exteme Datierung läßt sich mit einiger Mühe ungefähr mit der Belagerung OfFenburgs im Jahre 1643 synchronisieren. Die Ruhe und Sicherheit der geschichtlichen Stunde bringt auch den Weg des Helden zu einem vorläufigen Stillstand und den Roman zu einem ersten Abschluß. Als Einsiedel geht Simplicius in eine nicht näher bestimmte Wildnus, offen lassend, ob er darin verharren werde. (Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 24, 463, 21-24.)
Grenzen der Erzählung und Konturen der Romanform
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sich meine Entscheidung, die aus fünf Büchern bestehende Urform des Simplicissimus Teutsch zum Gegenstand meiner Untersuchung zu machen und nicht die Form, die sich aus der Hinzufügung der Continuatio ergibt. Bei der Continuatici handelt es sich um einen anderen Text, der sich zwar in Beziehung zu den ersten fünf Büchern setzen läßt, aber kein Teil des Zeit-Raumes ist, den die ersten fünf Bücher bilden. Die Continuatio geht von einer Erzählerfiktion aus, wonach der Erzählvorgang, also die Abfassung der Lebensbeschreibung, auf der Kreuzinsel und nicht in der Einsiedelei des fünften Buches stattfindet. Damit setzt das sechste Buch einen anderen Horizont, der gleichzeitig als Fortsetzung und Abgrenzung in Beziehung zu den ersten fünf Büchern steht. Räumliche und zeitliche Grenzen bestimmen offenbar die Form des Romans. Die Grenze, die der Erzähler durch sein Aufhören am Ende des fünften Buches setzt, schließt die ersten fünf Bücher zu einem kontinuierlichen ZeitRaum zusammen. An ihrem Schluß hat die Erzählung einen Umlauf vollendet und kehrt in die Nähe ihres Ausgangspunktes zurück. Der Endpunkt der Erzählung im fünften Buch liegt in einem ähnlich ungefähren Abseits wie der Spessarter Bauernhof und die Einsiedelei des ersten Buches. Ohne den Ort zu nennen, sagt der Erzähler, der Held habe sein Spesserter Leben wieder begonnen. Damit deutet sich eine Ringform des Weges an, die sich auf der Landkarte jedoch nicht exakt darstellen läßt. Daß die Erzählung in ihrem räumlichen Verlauf keinen geschlossenen Ring bildet, gibt einen Hinweis auf die Exzentrik ihrer Bewegung, die sich gerade nicht an abstrakte geometrische Formen angleicht.25 Von hier aus wird eine Festlegung des Romans auf die Kreisform zweifelhaft.26 Von einem Zusammenfallen des Endpunktes der Erzählung mit ihrem Ausgangspunkt kann man schon deshalb nicht sprechen, weil beide topographisch nicht genau zu lokalisieren sind. Derlei topographisches Ungefähr paßt zu der Ungenauigkeit, mit der die Erzählung historische Ereignisse und die Lebensgeschichte des Helden parallelisiert: Interne und externe Chronologie fallen um bis zu zehn Jahren auseinander, wenn man die Lebensjahre des Helden mit den erwähnten historischen Ereignissen in Beziehung setzt. Offenbar folgt die Lebensbeschreibung FRIEDRICH GAEDE betont die Distanz des Simplicissimus Teutsch zum abstrakt-geometrischen Regelbewußtsein seiner Zeit: Die Lebenslinien der Figuren gleichen keinen geometrischen Formen, da sie krumm und uneben verlaufen. FRIEDRICH GAEDE, "Signeur Meßmahl und das Regelbewußtsein seiner Zeit": Simpliciana 15 (1993) 13-26, hier 16/17. ROSEMARIE T. MOREWEDGE versucht den Raum des Romans auf die geometrischen Figuren des Kreises und des Labyrinths zurückzuführen.Gelegentlichen Äußerungen des Erzählers entnimmt sie, daß sich der Held in das diabolische Labyrinth der empirischen Erscheinungswelt verstrickt, sich aber von der Hütte des Einsiedels bis zu seiner Zuflucht auf der Kreuzinsel in einem wohlgeordneten Kosmos bewegt, der durch den geschlossenen Kreis versinnbildlicht wird. Durch diese allegorischen Raumstrukturen sei der mimetische Aspekt der Erzählung mit den religiösen und moralischen Aspekten von Mensch und Natur verbunden. Vgl. ROSEMARIE T. MOREWEDGE, "The Circle and the Labyrinth in Grimmelshausen's Simplicissimus": Argenis 1 (1977) 373-409.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
des Helden ihren eigenen Gesetzen und unterwirft sich nicht gänzlich dem historischen Ablauf. Das heißt aber nicht, daß die Erzählung an Geschichte uninteressiert wäre. Sie läßt das Ende des Reiseweges durch die Welt mit dem Westfälischen Frieden zusammenfallen und nimmt dabei hin, daß der Held viel mehr Lebensjahre hinter sich hat, als der historische Ablauf des 30jährigen Krieges tatsächlich erlauben würde. Der Krieg hat für den erzählten Lebenslauf nicht 30 Kalendeqahre, sondern ein ganzes Leben gedauert. Die Lebensgeschichte des Simplicius erscheint mit den historischen Ereignissen verknüpft, ohne zu ihrer bloßen Funktion herabzusinken. Damit gibt die Erzählung ihrem Helden eine poetische Autonomie vom Geschichtsverlauf, betont aber die Geschichtlichkeit jedes Lebenslaufs. Der Simplicissimus Teutsch nutzt die Möglichkeiten eines fiktionalen Textes, der Geschichte thematisieren kann, ohne sich ihr zu unterwerfen. Gerade die chronologischen Unstimmigkeiten der Erzählung geben einen Hinweis auf ihre Vielschichtigkeit. Die Ereignisse werden nicht einem dominierenden Weltmodell unterworfen, ihre erzählende Vergegenwärtigung reflektiert vielmehr die Konkurrenz verschiedener Weltmodelle.27 Dies offenbart die Analyse der Zeitformen des Romans. Die Erzählung ist von zwei differenten Zeit-Raum-Mustern bestimmt, die sich überschneiden, gegenseitig erhellen, zum Teil aber auch widersprechen: der zyklischen Zeitform des bäuerlichen Jahreslaufs, seiner Jahreszeiten und Feste, und der linearen Zeitform historischer Ereignisreihen. Die Sprache der ländlichen Zeitform ist die gesprochene Sprache, die das zyklisch-iterative Moment durch Angaben wie täglich ausdrückt. Wiederholbarkeit und Nicht-Datierbarkeit der Zeitangaben wird in der gesprochenen Sprache hervorgehoben durch Redewendungen, die ihre schwebende Ungenauigkeit noch unterstreichen. In der Ungenauigkeit der Alltagssprache kann etwa ein Ereignis ein oder vier Wochen vor Weihnachten datiert werdea Zeit erscheint hier an bestimmte Handlungen gebunden, ist Teil der Lebensgeschichte und wird konkret in alltäglichen Handlungen und biologischen Rhythmen. Der Simplicissimus Teutsch rekonstruiert in den ersten Kapiteln dieses Modell aus ironischer Distanz und führt es dann sukzessive in seinen historischen Dimensionen vor, indem er historische Ereignisse und Ortsnamen in die Erzählung einschreibt. Mit Hilfe dieser Hinweise wird eine Darstellung des Reisewegs auf der Karte und eine externe historische Datierung erst möglich. Natur erscheint niemals unabhängig von Geschichte, und das Leben des einzelnen ist von vornherein von den historischen Ereignissen geprägt, wenn er auch selbst keine Übersicht über den 27
Zum geschichtstheologischen Ordnungsentwurf der Erzählerkommentare, der sich angesichts des Geschehens als unangemessen erweise, gleichwohl um seiner kritischen Funktion willen im Spiel gehalten werden müsse, vgl. ANDREAS MERZHAUSER, "Ober die Schwelle gefuhrt, Anmerkungen zur Gewaltdarstellung in Grimmelshausens Simplicissimus": Ein Schauplatz herber Angst, Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert, hg. von MARKUS MEUMANN und DIRK NIEFANGER, Göttingen (Wallstein) 1 9 9 7 , 6 5 - 8 2 , hier 8 1 / 8 2 .
Grenzen der Erzählung und Konturen der Romanform
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Geschichtsverlauf hat. Die Konkurrenz romaninterner Raum-Zeit-Strukturen wird zum künstlerischen Ausdruck historischer Gegebenheiten, der Ungleichzeitigkeit von Lebenswelten. Daß Menschen gleichzeitig in verschiedenen Zeiten leben, daß Fortschritt und Beharrung Aspekte eines Zeitalters sein können, ist bereits ein historisches Faktum. Auch ländliche Abgeschiedenheit ist im Roman immer schon ein von historischen Ereignissen konturierter Raum. Dem Verhältnis zwischen ländlichen Räumen und politischen Zentren entspricht die Konkurrenz zwischen der historischen Weltzeit und der Lebenszeit des Helden. Die innere Chronologie des Romans wird durch die eingeführte Historie problematisch, da beide mehr und mehr auseinandertreten. Die in der Erinnerung aufgehobene Lebenszeit des Helden gerät in Konflikt mit der historischen Weltzeit, das Ich steht im Gegensatz zu jener Welt, die ihm fremd bleibt. Auf diese Weise zeichnet der Roman intern das problematische Verhältnis der Fiktion insgesamt zu der außerhalb ihrer selbst existierenden historischen Realität nach. Die Grenze der Fiktion zur Realität, ihr ästhetischer Rest, der sich dem Aufgehen in der allgemeinen Historie entzieht, steht ein für den Anspruch der Biographie des einzelnen, mehr zu sein als ein Teil des allgemeinen Geschichtsverlaufs. Das wechselseitige Verhältnis zwischen dem Weg des Helden und dem Raum, den er durchquert, wird zur Grenze, die beide aneinander haben. Durch den eingezeichneten Weg des Helden ist der Raum erst in Umrissen faßbar. Was auf der Karte des Reiseweges zu sehen ist, die nach der Lektüre erstellt werden kann, gibt nur ein unvollkommenes Bild von den Räumen, durch die sich der Held bewegt. Die Erzählung begnügt sich mit Hinweisen auf bekannte Ortsnamen, ohne daß die Orte und Räume durch eine Beschreibung vorstellbar und greifbar würden.28 Dies gilt mutatis mutandis auch für die erwähnten historischen Ereignisse.29 Die Räume und Zeiten der Handlung erlangen also erst in Beziehung zur erzählten Biographie des Helden eine Bedeutung. Der Held ist die zugleich kontrastierende und erhellende Instanz, in deren Horizont sich die Daten ordnen lassen. Damit nimmt GRIMMELSHAUSENS Roman eine Erfahrung auf, die bereits ALEMÁNS Held Guzmán mit einer Landkarte gemacht hatte: daß nämlich die dort versammelten Daten erst begreifbar werden, wenn sie in Beziehung zu einem wirklich vollzogenen Weg gesetzt sind.30 Guzmán hatte die Entfernungen auf seiner Karte erst 28
29
30
Vgl. ROBERT P . T . AYLETT, The Nature of Realism in Grimmelshausen's Simplicissimus Cycle of Novels= Europäische Hochschulschriften Serie I. Deutsche Sprache und Literatur 479, Bern und Frankfurt/M. (Peter Lang) 1982, 125. Die Diskussion um die Schlacht bei Wittstock wird ja gerade deshalb geführt, weil sich in der Beschreibung bei GRIMMELSHAUSEN kaum etwas findet, das sich nicht auf jede beliebige Schlacht des 30jährigen Krieges anwenden ließe. Wer hätte geglaubt, daß die Welt so groß ist? Ich hatte einige Landkarten gesehen; ich meinte, alles liege auf einem Haufen beieinander. MATEO ALEMÁN: "Das Leben des Guzmán von Alfarache", deutsch von RAINER SPECHT: Spanische Schelmenromane, hg. von HORST BAADER, Band
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einschätzen gelernt, als er sie in seine Wirklichkeit umgesetzt hatte. Genauso werden Namen wie Wittstock, Köln oder Soest erst durch das Handeln des Helden mit Bedeutung gefüllt. Doch öffnen diese Angaben die Grenze des Romans zur Erfahrungswelt der Leser, die anhand ihrer eigenen Vorstellungen und Erinnerungen die RaumZeit des Romans mit Leben füllen können. Was der Leser an ähnlichen Erfahrungen einbringt, markiert die offene Grenze der Romanwelt, ihr Angrenzen an die Lebenswelten des zeitgenössischen Publikums, so daß es zur Horizontverschmelzung31 zwischen dem Buch und seinen Lesern kommen kann. Durch seine offene Textgrenze verweist der Roman im Gestus der Indikation auf eine außerhalb des Textes gegebene Referenzebene.32 Erst da, wo die Erfahrungen des Lesers aufhören, sieht er sich wie der kleine Guzmán in die Wildnis einer unbekannten Romanwelt verbannt. Das Enden der eigenen Erfahrung markiert die Schranke, die den direkten Zugang zu bestimmten Zonen der Erzählung verschließt. Durch das gewählte Terrain nähert die Erzählung ihre Welt den Welten der Leser an, stellt der Weg des Helden sich im Umriß doch als Weg durch Mitteleuropa dar, das im Roman Teutschland genannt wird. In drei Fällen überschreitet Simplicius ausdrücklich die Grenzen dieses Raumes, womit der Roman ihn zugleich absteckt. Auch der Roman bestätigt, daß Grenzen erst durch ihre Überschreitung in den Horizont des Bewußtseins gelangen.33 Der Simplicissimus Teutsch ist ein Roman der Grenzziehung, die sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts vollzieht. In der utopischen Jupiter-Episode greift er auf eine - aktuell noch nicht vorhandene - Grenzziehung vor, die einen homogenen, parlamentarisch regierten Rechtsraum in Mitteleuropa siI, München (Hanser) 1964, 152. Vgl. MATEO ALEMAN: Guzmán de Alfarache I, ed. JOSÉ MARIA Micó, Madrid (Cátedra) 2 1992, 208. Vgl. PAUL RICCEUR, Zeit und Erzählung, deutsch von RAINER ROCHLITZ, 3 Bände = Übergänge, Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 18, München (Fink) 1988-91, hier Band 1: Zeit und historische Erzählung 122-129 zu Narrativität und Referenz. Vgl. hierzu ALEXANDER HONOLD, Die Stadt und der Krieg, Raum- und Zeitkonzeption in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" = Musil-Studien 25, München (Fink) 1995, 42. Das Wort Grenze erscheint an den Stellen, wo Simplicius ausdrücklich eine solche überschreitet: die Teutsche Grentz Frankreichs, die er von Paris kommend passiert, die äusserste Grentzen der Schweitzer, an die Oliviers Einflußgebiet stößt und die Simplicius mit Hertzbruder überschreitet, und schließlich die Reussische Grentze, über die Simplicius als Begleiter des schwedischen Offiziers gelangt. Das in sich unübersichtliche Gebiet der Erzählung, das vom Teutschen Krieg beherrscht wird, grenzt sich also durch die Nähe fremder Territorien ab. Es sind die Grenzen dieser fremden Gebiete, nicht die Außengrenzen eines homogenen Territoriums in Mitteleuropa, durch die das in ihrer Mitte liegende Gebilde abgesteckt werden kann. Mit seinen Bestimmungen nimmt der Roman Grenzziehungen vorweg, die erst später die Realität in Europa prägen sollen. Das Fremde erscheint immer schon als der Bereich, zu dem hin eine Grenze überschritten werden muß. Erst durch dieses Fremde konstituiert sich das eigene Territorium. Vgl. Simplicissimus Teutsch IV, 8, 316, 8; IV, 23, 360,29 und V, 1, 376, 5; V, 20, 445, 11.
Eingrenzung
der
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ehern soll. Dieser Raum ist aber vorerst ein Phantasiegebilde, eine Instanz der Dichtung. Die Jupiter-Gestalt unterstreicht dies, indem sie den Helicon mitten in ihre Grentzen zu setzen verspricht.34 Erst utopische Überschreitung des Bestehenden setzt die Grenzen dieses neuen Gebietes. Der Begriff der Grenze verbindet sich mit der Überschreitung bestehender Schranken. Gleichzeitig ist der Simplicissimus Teutsch in seiner Orientierung am zyklischen Modell der Wiederkehr ein Roman der Beschränkung und Beharrung. Aber der historische Rahmen setzt auch der Handlung Schranken, die indes von der Eigendynamik der Figur überschritten werden. Die Handlung spielt sich in einem Nahbereich ab, der erst allmählich in seinen historischen Dimensionen erkennbar wird. Aus diesen Gründen genügt der raum-zeitliche Nachvollzug der linearen Strecke, die der Weg des Helden zieht, nicht zur Rekonstruktion der Räume und Zeiten im Simplicissimus Teutsch. Was sich hier in Umrissen abgezeichnet hat, bedarf der Konkretion im Zusammenhang der Erzählung. Diese Konkretion jedoch kann die vorliegende Untersuchung lediglich skizzenhaft leisten. Die Fülle der Beziehungen, die dieses unerschöpfliche Welt- und Jahrhundertbuch knüpft, kann nicht mehr als ausschnittweise vorgeführt werden. Diese besondere Qualität ergibt sich vor allem aus der Ich-Form der Erzählung, die in ihrer fiktiven Abgrenzung von der Geschichte gerade ihre besondere historische Erkenntnisleistung begründet. Raum und Zeit des Vaganten - dies ist die These meiner Untersuchung des Simplicissimus Teutsch - erschließen sich hier durch die Ich-Werdung des Helden, die mit einem zunehmenden Gewinn und gleichzeitigen Verlust von Welt einhergeht. Der Roman problematisiert das Verhältnis von Ich und Welt. Gegen die sozusagen augustinistische35 Verbindung von Subjektivität, Weltbezogenheit und drohendem Weltverlust werde ich versuchen, eine unterschwellige, sozusagen aristotelische Gegenbewegung im Roman starkzumachen. Der Rückgriff auf das Konzept der substantiellen ousia bei ARISTOTELES bildet die begriffliche Grundlage für ein Weltverhältnis des Helden, der in der Unabhängigkeit und Unverfügbarkeit der Gegenstände seinen realen Ort in der Welt bestimmt und sich so dem Geländ nach wieder ein wenig erkennen kann.36 Die Vorstellung des 37 AUGUSTINUS, daß das Subjekt unabhängig von seiner Welt existiere, findet 34 33
36
"
Vgl. Simplicissimus Teutsch III, 4, 212, 35. Vgl. etwa: DIETER BREUER, "Grimmelshausens simplicianische Frömmigkeit: Zum Augustinismus des 17. Jahrhunderts": Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit, Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland = Chloe 2, hg. von DIETER BREUER, Amsterdam (Rodopi) 1984,213-252. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 18, 438, 16-22. Vgl. AUGUSTINUS, Bekenntnisse, lateinisch und deutsch von JOSEPH BERNHART, Franklùrt/M. (Insel Tb. 1002) 1987, Buch X, Kapitel 8,15, 508/509: Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluetus maris et latissimos lapsus fluminum et Oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos [...]. Und da gehen die Menschen hin und bewundern die Höhen der Berge, das mächtige Wogen des Meeres, die breiten Gefälle der Ströme, die Weiten des Ozeans und
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durch die Konzeption des ARISTOTELES, daß die Welt unabhängig vom erkennenden Subjekt substantiell gegeben sei, zur Balance. Diese Balance war freilich im 17. Jahrhundert historisch genausowenig gegeben wie heute. Deshalb bemühe ich zu ein weiteres philosophisches Gegensatzpaar. Die von HUSSERLS Phänomenologie versuchte Rekonstruktion einer selbstverständlich gegebenen Welt, in der sich der Mensch bewegt, wird mit einer kritisch-materialistischen Theorie verknüpft, die eine solche Alltagswelt als historisch greifbar und politisch zerstörbar bestimmt. ADORNOS Einspruch gegen die unhistorische Abstraktion, der die Phänomenologie zu erliegen droht, ist keine Entwertung der phänomenologischen Intention auf die Lebenswelt des Menschen, sondern ihre Rettung durch historische Konkretisierung und begriffliche Distanznahme.38 Eine ähnliche Distanz baut der Simplicissimus Teutsch auf, indem er die Ursprungswelt seines Beginns ironisch in den Blick nimmt, ohne sie zu denunzieren. Diese Distanz zu den Phänomenen bedeutet keine papierene Abstraktion. Schon in der Eingrenzung der Untersuchungsgebiete hat sich ergeben, daß der Simplicissimus Teutsch in hohem Maße Welt verarbeitet und Welt erschließt. Der Weg des Helden entfaltet eine fiktive Welt, die in ihrer Vielschichtigkeit gegen die reale zu halten ist. Beide sind geprägt von Grenzen, die sich im Widerstreit von Fortschritt und Beharrung bestimmen. Durch die Integration des physisch-geographischen Raumes und der historischen Ereignisse läßt die Erzählung den Weg des Helden als einmaliges historisches Phänomen erscheinen, und in seiner Ich-Erzählung beharrt der Held auf seiner Einmaligkeit. In der gegenwärtigen Forschung wird der Roman jedoch eher auf das Typische hin gelesen, das ihn zum Exempel seiner Epoche macht. Anhand immanenter und externer Grenzen, die den Weg des Helden konturieren, mag sich hier ein Abriß möglicher Lektüren ergeben, die bei aller bislang geleisteter Forschungsarbeit noch ausstehen.
den Umschwung der Gestirne - und verlassen dabei sich selbst. Das Zitat wird aufgenommen bei FRANCESCO PETRARCA, Die Besteigung des Mont Ventoux, übersetzt und hg. von KURT STEINMANN, Stuttgart (Reclam UB 887) 1995, Kapitel (27), 24/25. Zur Relevanz für die Grimmelshausen-Lektüre vgl. ALEXANDER WEBER, "Ober Naturerfahrung und Landschaft in Grimmelshausens Simplicissimus": Daphnis 23 (1994) 61-84. Vgl. THEODOR W. ADORNO, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 872) 1990. Ich verzichte im folgenden auf Einzelnachweise. ADORNOS Studie ist fQr meine Lektüre insofern wichtig, als sie das als Abstraktion kennzeichnet, was bei HUSSERL als Unmittelbarkeit erscheint. Damit geht ADORNO theoretisch einen Weg, den der Simplicissimus Teutsch ästhetisch durch die ironische Distanzierung von der Ursprungswelt beschreitet.
Weltrand und Horizont: Simplicius und die Rückfrage nach der Ursprungswelt Ein Gemälde des Niederländers ISAAC VAN OSTADE von 1645 gewährt dem Betrachter Einblick in das Innere eines Bauernhauses.
Abbildung 38: Isaac van Ostade, Inneres eines Bauernhauses, 1645. Reproduziert nach H E L G A M Ö B I U S , Die Frau im Barock, Stuttgart (Kohlhammer) 1982, Tafel 41.
Der betrachtende Blick hat sich, den Voraussetzungen des Bildes nach, bereits an das Dunkel gewöhnt, das in seinem direkten Umfeld herrscht, und wird vom Licht im Hintergrund angezogen, aus dem sich langsam die Konturen achtlos herumliegender Gegenstände und einiger Personen herausschälen. Dieses Licht geht von der offenstehenden oberen Hälfte einer geteilten Tür aus, die die Blätter eines draußen stehenden Baumes ahnen läßt, ohne daß dadurch eine größere Aufmerksamkeit auf dieses Draußen gelenkt würde. Eher gilt die Aufmerksamkeit dem Eindruck des geschlossenen Raumes insgesamt, in den sich Gegenstände und Personen durch fließende Übergänge einfügen, so daß es größerer Konzentration bedarf, um im hellen Hintergrund rechts
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drei Personen an einem offenen Kamin und im dunklen Vordergrund links eine weitere Person auszumachen, die mit dem Melken einer der beiden Kühe beschäftigt ist. Die Personen scheinen eher Teil des Raumes zu sein, als daß sie aus ihm hervorträten. Überhaupt werden Unterschiede in diesem Raum lediglich graduell durch Hell-Dunkel-Schattierungen wie im Weichzeichner angedeutet, verdichten sich aber nie zu deutlichen Kontrasten. Der in der Mitte des Raumes eingezogene hölzerne Stützpfeiler dient auch der Bildkonstruktion als Stütze, da sich ohne ihn schwerlich überhaupt der Eindruck räumlicher Tiefe ergäbe. Selbst die geöffnete Türhälfte gibt ja keinen Horizont frei, der den Blick aus der Nahumgebung fortzöge. Der Raum erscheint als geschlossenes Ganzes, das auch den Betrachter mit einschließt. Wo aber steht dieser Betrachter? Ist es vorstellbar, daß es in diesem Raum überhaupt einen Betrachter gibt? Der Raum verzichtet ja auf alle funktionalen Differenzierungen, er ist Stall, Scheune und Wohnung in einem? Nicht nur die bildlichen Mittel der Kontrastierung gehen ineinander über, die Existenz der Menschen und Gegenstände bildet einen Zusammenhang, der es unwahrscheinlich macht, daß sich irgendjemand innerhalb dieses Raumes aus dem Zusammenhang löste und zum Betrachter des Übrigen würde. Die Welt des Bildes weiß nicht von sich, während das Bild gerade ein Wissen transportiert. Der Betrachter ist ein unsichtbarer Fremdkörper in diesem Bild. Undenkbar, daß hier jemand mit einer Staffelei im zwielichtigen Dunkel stünde und die Szene festhielte. Die Geschlossenheit, die das Bild konstituiert, ist konstruiert. Über den Vorgang dieser Konstruktion jedoch gibt das Bild keine Auskunft. Es präsentiert die Geschlossenheit als suggestive WirklichkeitsIllusion, die über ihr eigenes Gemachtsein hinwegtäuscht. Das Bild läßt erst indirekt erkennen, daß es sich nicht in diesem Raum befindet, sondern als kontrastierender Schmuck für das wohlgeordnete Interieur eines niederländischen Patrizierhauses zu dienen hat. Die Gegensätze, die es konstituieren, verlegt das Bild aus sich heraus. In einer Prachtausgabe des Simplicissimus Teutsch würde sich VAN OSTADES Gemälde gut als Illustration der ersten Kapitel machen. Denn es setzt die dort geschilderte Welt ins Bild, die sich bei der Lektüre einer Visualisierung weitgehend entzieht. Die Wahl der Illustration rechtfertigte sich mithin durch die Ähnlichkeit des Sujets bei seiner gegensätzlichen Behandlung. Der Erzähler im Simplicissimus Teutsch unternimmt alles, um dem Leser das Gefühl zu nehmen, er befinde sich in der geschilderten Welt. In dem vieldiskutierten ersten Satz des Simplicissimus Teutsch bietet der Erzähler zu diesem Zweck nicht nur die Syntax einer Schriftlichkeit auf, die sich in ihren vielfaltigen Über- und Unterordnungen von der gesprochenen Sprache weit entfernt hat.2 1
2
Vgl. die Bildunterschrift bei H E L G A M Ö B I U S , Die Frau im Barock, Stuttgart (Kohlhammer) 1 9 8 2 , Tafel 41. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 1, 9, 2-19. Zur gegenseitigen Abgrenzung und Erhellung von oraler und schriftlicher Kultur in einem anderen Text GRIMMELSHAUSENS, dem Ewig-währenden Ca-
Romananfang: rekonstruierter Ursprung
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Der sprachlichen Form entsprechen auch die verhandelten Zeitformen. Mit der Rede von dieser unserer Zeit (von welcher man glaubt / daß es die letzte seye) wird die Frage der Eschatologie, der Endzeit angesprochen.3 Im Kontrast dazu steht der rapide Wandel einer modernen Zeit, der sich in allerhand Modetorheiten wie dem Titelkauf der neuen Nobilisten äußert. Auf diese modernen Entwicklungen reagierte die literarische Gattung der Alamode-Kritik.4 Wie die theologische Diskussion über die Endzeit war die Kontroverse um Mode und Modernität ein Bücherstreit, und in der publizistischen Auseinandersetzung mittels des gedruckten Wortes fand diese Modernität ihr geeignetes Medium. Zwei Zeitformen kommen im ersten Satz des Simplicissimus Teutsch zum Ausdruck, die heilsgeschichtliche Langzeiterwartung der theologischen Literatur und der rapide Wandel der Gesellschaft durch moderne Technik und wechselnde Moden. Die reflektierte Zeit der Schriftlichkeit schiebt sich vor das mündliche Gedächtnis der ländlichen Randgebiete. Die longue durée5 der agrarischen Welt indes ist in den ersten Kapiteln des Simplicissimus Teutsch zentrales Thema. Auch die geographischen Signale, mit denen der Erzähler seinen Diskurs eröffnet, sind Spiegelungen literarischer Vermittlung. Das Prag, in dem sich deß Zuckerbastels Zunfft betätigt, ist die Unterwelt einer Sphelmen-Novelle, die unter dem Verfassernamen N I C L A S U L E N H A R T erschien, und ihrerseits die Adaption einer Erzählung von C E R V A N T E S darstellt. Dort werden die Helden Isaac Winckelfelder und Jobst von der Schneid in die Banditen-Zunft aufgenommen, die unter der Leitung des sogenannten Zuckerbastels steht.6 Ein zweiter geographischer Hinweis, der die dunkle Ahnenreihe der Käufer von Adelstiteln mit der Schwärze der Menschen im afrikanischen Guinea vergleicht, entstammt der literarischen Verarbeitung des neuen Welthandels, wie
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lender, vgl. ITALO MICHELE BATTAFARANO, "Die simplicianische Literarisierung des Kalenders": Simpliciano 16 (1994) 45-63, vor allem 49-57. Vgl. BERND ROECK, Eine Stadt in Krieg und Frieden, Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1989, 89, wo zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel von eschatologischen Weltuntergangsvisionen zu Darstellungen der individuellen Vergänglichkeit beobachtet wird. Vgl. FRITZ SCHRAMM, "Schlagworte der Alamodezeit": Zeitschrift für deutsche Wortforschung 15 (1914) Beiheft (mit zahlreichen Abbildungen von Mode und Modetorheiten). Vgl. FERNAND BRAUDEL, "Geschichte und Sozialwissenschaften, Die longue durée"·. M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u.a., Schrift und Materie der Geschichte, Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hg. von CLAUDIA HONNEGGER, Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp 814) 47-85. Vgl. MIGUEL DE CERVANTES / NICLAS ULENHART, Historia von Isaac Winckelfelder und Jobst von der Schneidt, hg. von GERHART HOFFMEISTER, Frankfurt/M. (Röderberg) 1 9 8 3 , 6 3 u. ö. HOFFMEISTERS "Einführung" dort, 5 - 3 5 , gibt viele Hinweise zum Verhältnis zwischen dem spanischen Original und der deutschen Bearbeitung. Der spanische Originaltext und eine moderne deutsche Obersetzung liegen vor in MIOUEL DE CERVANTES SAAVEDRA, Novela de Riconete y Cortadillo, famosos ladrones que hubo en Sevilla, la cual pasó así en el año de 1589 / Ecklein und Schnittet. Eine Gaunergeschichte aus der Stadt Sevilla, vorgefallen im Jahre ¡589, deutsch von FRIEDRICH BRALITZ, München (Deutscher Taschenbuch Verlag 9 0 1 8 ) 1 9 7 3 .
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ich sie im entsprechenden Zusammenhang bei DÜRER bereits dargestellt habe.7 Der Erzähler bezieht hier also die Welt des 17. Jahrhunderts in ihrer ganzen bekannten Ausdehnung ein, wobei seine Darstellung von den technischen Möglichkeiten einer modernen Informationsvermittlung profitiert, wenn er auf gedruckte Novellen und Reiseberichte zurückgreift. Auf diese Weise distanziert sich der erste Satz des Simplicissimus Teutsch von dem ländlichen Alltagsleben, wie es in den folgenden Abschnitten und Kapiteln beschrieben wird. Literarischer Diskurs und geographische Ausdehnung des einbezogenen Raumes stehen im Dienst der Erzeugung einer Ferne, die eine Suggestion der Nähe nicht aufkommen läßt. Das Medium Buch, das über anonyme Vertriebswege verbreitet wird und sich an unbekannte Leser richtet, erzeugt Distanz, was sich implizit darin äußert, daß der Erzähler die Bezeichnung Knan für die Vätter im Spessert erläutern muß.8 Einem ortskundigen Hörer der Erzählung wäre der Dialektausdruck unmittelbar verständlich. Der Diskurs der Schriftlichkeit verweist hier auf seinen eigenen Chronotopos, der konkreter raum-zeitlicher Anbindung enthoben ist.9 Damit bringt der Text die Widersprüche zwischen den Diskursen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit strukturell zum Ausdruck und durchbricht von vornherein die Illusion des geschlossenen Raumes, die VAN OSTADES Gemälde kennzeichnet. Für Distanzen und Kontraste hat zunächst die Erzählerinstanz des Simplicissimus Teutsch zu sorgen. Denn die Romanhandlung beginnt mit einem Extremwert an Unwissenheit. Die Welt des unmündigen Buben, aus dem einmal Simplicius werden soll, schließt sich nicht etwa bewußt gegen ein bekanntes oder vermutetes Fremdes ab, sie weiß vielmehr von der Existenz all dessen schlicht nicht, was sich dem Nahbereich seines Handelns entzieht. Der Erzähler bemerkt nach dem Zerbrechen dieser Welt durch den Reiterüberfall: Kurtz
zuvor
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Bub hat keinen Horizont, seine Welt gleicht dem, was HUSSERLS genetische Phänomenologie" als Ausgangspunkt allen Weltverhaltens setzt, um von dort 7
I 9
10 II
Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 1, 9, 18. Siehe hierzu den Komplex Die Projektionen des Idealromans und die Projekte des Unternehmers im Kapitel über DÜRERS Lauf der Welt. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 1, 9, 29/30. Vgl. BATTAFARANO, "Die simplicianische Literarisierung des Kalenders" 57: Das Buch macht die mündlich überlieferte, zeit-, räum- und personengebundene Agrarkultur obsolet. Simplicissimus Teutsch 1, 4, 17, 20-25. Wie in meinem Aufsatz "Formen der Zeit in Grimmelshausens Ewig-währendem Calender, Zur Logik ihrer gesellschaftlichen Entwicklung": Simpliciana 16 (1994) 151-165, beziehe ich mich hier auf die HussERL-Interpretation bei HANS BLUMENBERG, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1986, 7-68. Dort werden Möglichkeiten und Grenzen des Begriffes Lebens-
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365
aus die Entwicklungslogik der Wahrnehmung zu rekonstruieren: eine Ursprungswelt, die auf die greifbare Nahumgebung reduziert ist, ohne daß der hier Lebende die Reduktion als solche bemerkte. Die Ursprungswelt ist eine Konstruktion, in der der unreflektierte Umgang mit den Phänomenen, wie er in den automatischen Abläufen des Alltags stattfindet, absolut gesetzt wird, um zu ergründen, was die Phänomene für den Menschen wären, wenn er sie (noch) nicht erklärend und reflektierend einordnete, sondern sie schlicht hinnähme, wie sie sich ihm darbieten. In einer solchen Welt gäbe es keine Differenz zwischen dem Anwesenden und dem Abwesenden, weil das Abwesende schlicht unvorstellbar bliebe. Die Zeit dieser Welt wüßte ebensowenig von ihren Grenzen wie der Raum, das Phänomen des Todes als letzter Grenze wäre noch nicht in ihren Horizont gelangt. Es gäbe nur die täglich gleichen oder zyklisch wiederkehrenden Handlungen, keine Geschichte, von der her erst die Berechnung eines Datums sinnvoll würde. In diesem Sinne ist die Zeit des Buben in der Erzählung reine Handlungszeit, so daß ihm noch nach dem Geschehen die Datierung des Reiterüberfalls im Gespräch mit dem Einsiedel mißlingt: Eins, wann [31] ist diß geschehen? Simpl. Ey wie ich der Schaf hab hüten sollen / sie haben mir auch mein Sackpfeiff wollen nemen: Eins. Wann hastu der Schaf sollen hüten? Simpl. Ey hörstus nicht / da die eiserne Männer kommen sind / und darnach hat unser Ann gesagt / ich soll auch weg lauffen [. ..J.n
Eine Handlung ist hier zeitlich an die andere gebunden, so daß die eine nur durch die andere datiert werden kann. Dem Sprecher fehlt der Zeitrahmen, das datierende Dritte, durch das sich die Ereignisse in ein meßbares Zeitkontinuum einfügen könnten. Deshalb kann die Zeitform des Helden nicht über sich selbst Rechenschaft ablegen, seine Ursprungszeit ist vor aller Zeit der Geschichte, erschlossenes Terrain rekonstruierender Spekulation des Autors. Tod und Geschichte wären hier noch aus der Welt ausgeschlossen, ohne daß dieser Ausschluß als Grenze sichtbar wäre. Der Erzähler markiert den Übergang, der im Zerbrechen der Ursprungswelt die Erkenntnis der Grenze ermöglicht: Aber bald hernach erfuhr ich die Herkunfft der Menschen in diese Welt / und daß sie wieder darauß müsten; [...]. 13 Die Geschichte (.Histori)
bricht als Krieg in die unberührte Welt des Kindes ein. Diese Geschichtlichkeit der neuen Erfahrung bringt den Erzähler dazu, an eine Posterität zu denken, der Erfahrungen zu hinterlassen wären14. Selbst die Extremerfahrung des Krieges begründet noch keinen Gedanken an eine Endzeit, in der Geschichte weit diskutiert, der zwischen der unreflektierten Alltagswelt und der erschlossenen Ursprungswelt changiert. Ich lehne mich hier vor allem an BLUMENBERGS Deutung der HUSSERLSCHEN Lebenswelt als Limeswert der Erkenntnis und als Ausgangspunkt der Entwicklungslogik an, wobei ich auf Einzelnachweise verzichte. Simplicissimus Teutsch I, 8,27,12-17. Simplicissimus Teutsch I, 4, 17, 25/26. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 4, 17, 10-12.
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Grimmelshausens
Simplicissimus
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wieder genauso aufgehoben wäre wie in der Ursprungswelt des unwissenden Buben. Krieg wirkt vielmehr als historische Grenzerfahrung, die der Welt Grenzlinien in Form einer Front eingezieht. Die Grenzen des Vertrauten werden plötzlich zu einem Fremden hin überschreitbar.15 In der Retrospektive erscheint die verlorene Kindheit als Paradis, das ethische Grenzen nicht kannte, weil das Kind weder Gutes noch Böses zu unterscheiden wüste. Erst im nachhinein, von außen betrachtet, wird diese Kindheitswelt differenzierbar auch in ihren Ambivalenzen: O edels Leben! (du mögst wol Eselsleben sagen) [...].16 Solange der Mensch noch nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, existieren Differenzen und Grenzen nicht. Beschreibbar und unterscheidbar wird ein Paradies erst als verlorenes. Das Paradies ist ein Phänomen der Erinnerung, nicht der Gegenwart, denn seine Gegenwart ist weder zu denken noch zu beschreiben. Deshalb erreicht die erinnernde und einordnende Erkenntnis diesen absoluten Ausgangspunkt nie, er bleibt ein extrapolierter Punkt im Unendlichen, ein Limeswert, dem sich die Beschreibung immer nur nähern kann. GRIMMELSHAUSEN führt explizit vor, was VAN OSTADES Gemälde verschwiegen hatte: daß es die Ursprungswelt der verschwimmenden Konturen vor allen Differenzierungen nur als Limes, als unendlichen Grenzwert nachholender Erkenntnisleistung gibt. Im Raum der historischen Realitäten hat sie keinen Platz, weil Geschichte die Gleichzeitigkeit verschiedener Handlungen in begrenzten Räumen und ihre Beschreibbarkeit aus der Distanz voraussetzt. Um die Ursprungswelt des Kindes ins Bild zu bringen, bedient sich der Erzähler der Ambivalenzen, die den Horizont der elterlichen Welt von Knan und Meüder bestimmen. Diese Ambivalenzen werden dadurch hervorgerufen, daß die elterliche Welt im Gegensatz zu der des Kindes eine, wenn auch kaum in den Blick genommene, Außenseite hat. Das Kind ruht in der Mitte der selbstverständlichen Lebensvollzüge des Bauernhofes wie in einem räumlich vergrößerten und zeitlich verlängerten Uterus. Die Erzählung, die ihren eigenen Versuch ironisiert, das Unerzählbare ihres sozusagen vorgeburtlichen Ursprungs zu erzählen, leistet mit den entgegengesetzten Mitteln Ähnliches wie VAN OSTADES Gemälde, das die Vorstellung eines sicheren Schoßes durch ihre rötlich-erdige Farbgebung evoziert. Nicht der identifizierenden Ausmalung bedient sich die Erzählung, sondern der distanzierend-ironisierenden Andeutimg. Die Beschreibung des Bauernhofes im ersten Kapitel parallelisiert alle Gegenstände mit ihren Pendants aus der der höfischen und militärischen Welt. Dadurch wird die kleine Welt des abgeschiedenen Hofes in ihrer Arm15
"
Die gewaltsame Grenzüberschreitung der Soldaten markiert zugleich die Grenze, die der rhetorisch-erzählerischen Vermittlung ihrer Grausamkeiten gesetzt ist. Vgl. zu diesem Aspekt, der über meine Analyse der Handlungsebene hinausgeht, MERZHAUSER, "Ober die Schwelle geführt" 80. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 1, 11,32-1, 1, 12, 5.
Limes der Erkenntnis: bornierter
Horizont
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Seligkeit greifbar und zugleich auf verschiedenen Ebenen ironisch perspektiviert. Wenn es von der Tätigkeit des Bauern heißt, daß Mist außführen / sein Fortification-wesen / und Ackern sein Feldzug gewesen sei, womit er die gantze Weltkugel / so weit er reichen konte17 bestritten habe, dann ist damit zunächst einmal festgestellt, daß die kleine Welt des direkten Handlungsbereiches in so hohem Grade sich selbst genügt, als wäre sie der ganze Globus, ökonomisch ist die agrarische Nahumgebung weitgehend autark, so daß die Enden der Hofgemarkung als finis terrae, als Weltrand erlebt werden.18 Der Rand des Handlungsbereiches fallt mit dem praktisch uniibergehbaren Weltrand insofern zusammen, als es nichts Weiteres gibt, das irgendein Interesse verdiente. Natürlich wissen Knan und Meüder im Gegensatz zum unwissenden Buben von der Existenz einer Welt jenseits des Horizontes ihrer Handlungen. Dieser Horizont jedoch bleibt - in der Terminologie H U S S E R L S - unpraktisch, da das Verhalten der Bauern diese Welt weitgehend ignoriert.19 Überschritten wird dieser Horizont durch Eindringlinge wie den Wolf, die sich von der unbekannten Außenseite der Welt nähern, so daß sie als unberechenbare göttliche Schickung erscheinen müssen. Die intime Heimwelt20 eines unreflektiert geführten Lebens fugt der Erzähler durch ihre ironische Gleichsetzung mit der Welt der Kriege und Paläste in genau den historischen Kontext ein, den sie ignoriert. Die Bauernkate als Palast hat aber noch eine weitere Sinnebene. Mit der grotesken Selbststilisierung der kleinen Welt als große versucht der Erzähler, die Bewußtseinslage des unwissenden Kindes zu rekonstruieren. Der Bub der Erzählung nimmt den Hof seines Knan als große Welt wahr, da sie sich ihm, wie der heruntergekommene westfälische Gutshof in V O L T A I R E S Candide, als beste, weil einzige aller Welten präsentiert.21 Die uneinholbare Differenz jedes Erzählens und Beschreibens zu der selbstverständlichen Welthinnahme des Kindes zeigt sich jedoch darin, daß der Erzähler zu Vergleichen greifen muß, die dem Kind niemals zu Gebote stünden. Seines Knans Hof ist dem Kind das, was anderen ein Palast wäre, gerade weil ihm die Vorstellung und das Wort fehlt. Wüßte Bub, was ein Palast ist, könnte er die Bauernkate niemals mehr als den Gipfel
17
"
Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 1, 11, 1-4. Der semantische Wechsel vom Weltrand oder finis terrae zum Horizont bezeichnet jenen Riß, der ein 'Mittelalter1 von einer "Neuzeit' trennt. Vgl. FRIEDERIKE HASSAUER, "Eine Straße durch die Zeit, Die mittelalterlichen Pilgerwege nach Santiago de Compostela": Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur und Sprachhistorie, hg. von HANS-ULRICH GUMBRECHT u n d URSULA LINK-HEER, F r a n k f u r t a m M a i n ( S u h r k a m p ) 1 9 8 5 , 4 0 9 - 4 2 3 , hier 4 1 3 , u n d KOscHORKE, Die Geschichte des Horizonts 11-48.
19
Vgl. EDMUND HUSSERL, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Texte aus dem Nachlaß, Dritter Teil: 1929-1935 = Husserliana XV, hg. von Iso KERN, Den Haag (Nijhofl) 1973, 231-233.
20 21
Vgl. HUSSERL, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität 174. Vgl. VOLTAIRE, Candide oder der Optimismus, Frankfurt Main(InselTb. 11)1972,9-11.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
jeglicher Architektur betrachten. Ohne daß die kindliche Perspektive ihr noch erreichbar wäre, rekonstruiert die Erzählung die Welt des Kindes. Schon in der Parallelisierung des bäuerlichen Geschäfts mit dem Kriegshandwerk wird auf jene Dynamik angespielt, die die ungestörte Abgeschiedenheit durch kriegerische Zerstörung beenden wird. Dadurch wird auch jede wertende Parteinahme zugunsten der großen Welt, die der kleinen überlegen ist und sie im letzten aufhebt, zweifelhaft. Die Ironie der Erzählung trifft nicht nur die Borniertheit der agrarischen Alltagswelt, ihren unpraktischen Horizont demgegenüber, was sie zuletzt doch betrifft, sondern genauso die große Geschichte, die die selbstgesteckten Grenzen der Alltagswelt einreißt und sie vernichtet. Während die Landwirtschaft sich selbst genügt und für ihre ökonomischen Bedürfnisse aufzukommen weiß, verrät ihre kriegerische Eroberung, daß die Kalkulation der Kriegsunternehmer gerade auf die bescheidene bäuerliche Prosprerität angewiesen ist. Der Einbruch der Außenwelt in die gleichförmigen, zyklisch wiederkehrenden Verrichtungen des bäuerlichen Alltags bildet eine Grenzüberschreitung, mit der die Erzählung einen neuen Erkenntnisschritt markiert. Die Möglichkeit, daß die bekannte Welt zu einem Unbekannten hin überschreitbar sei, kündigt sich durch die väterliche Warnung vor dem Wolf an, vor dem sich der Knabe beim Hüten der Schafe in acht nehmen solle. Der Junge aber verlangt nach visuellen Zeichen, um das unbekannte Phänomen in das bekannte Sichtfeld einordnen zu können: Knano / sag mir aa / wey der Wolff seyhet?22 Der Knan ist nicht in der Lage, diesem Wunsch zu entsprechen. Seine Sprache reicht nicht aus, um das Abwesende begreifbar zu machen, sie beschränkt sich auf die deiktische Funktion, den Hinweis auf das Anwesende. Für beide, den Ziehvater und das Kind, erweist sich der Rand ihrer Welt als Zeichengrenze. Für den Jungen ist das Abwesende schlicht inexistent, da es in seiner Sprache nicht benennbar ist. Das neue Wort, das er vom Knan hört, ist für ihn ebenso nutzlos wie die Landkarte für den kleinen Guzmán,23 da es nicht mit entsprechenden Erfahrungen zu füllen ist. Die Sprache des Knans hingegen verbindet das Wort mit einer Erfahrung, verfügt aber nicht über ausreichende metaphorische Mittel, das fremde Phänomen mit Bekanntem zu parallelisieren, um es dem Kind begreiflich zu machen. Die Andeutung der Vierbeinigkeit und des Gefahrlichen genügt nicht, um das Kind auf die Begegnung mit dem Unbekannten vorzubereiten.
Simplicissimus Teutsch I, 2, 14, 8/9. Wer hätte geglaubt, daß die Welt so groß ist? Ich hatte einige Landkarten gesehen; ich meinte, alles liege auf einem Haufen beieinander. ALEMÁN: "Das Leben des Guzmán von Alfarache" 152. Vgl. ALEMÁN: Guzmán de Alfarache /, 208.
Wissenshorizont als Zeichengrenze
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Dies erweist sich, als ein anderes Fremdphänomen an die Zeichengrenze des Kindes gelangt, die berittene Soldateska, die das Kind mit dem neuen Wort Wo//belegt, da ihm kein anderes zu Gebote steht: Hoho / gedachte ich / diß seynd die rechte Käutz! diß seynd die vierbeinige Schelmen und Dieb / darvon dir dein Knan sagte / dann ich sähe anfänglich Roß und Mann (wie hiebevor die Americaner die Spanische Cavallerey) vor ein einzige Creatur an / und vermeynte nicht anders / als es mästen Wölffe seyn / wolte derowegen diesen schröcklichen Centauris den Hundssprung weisen / und sie wieder abschaffen; Ich hatte aber zu solchem End meine Sackpfeiffe kaum ausgeblasen /' da erdappte mich einer auß ihnen beym Flügel / und schleudert mich so ungestüm aujf ein läer Baurenpferd /[...] daß ich auff der anderen Seiten wieder herab auff meine liebe Sackpfeiffe fallen muste / welche so erbärmlich anfieng zu schreyen / als wann sie alle Welt zu Barmhertzigkeit bewegen hätte wollen: /.../.24
Die erzählte Szene ist geprägt von verschiedenen Formen der Grenzziehung, Plötzlichkeit bricht in die in sich geschlossen ruhende 'Spessartei' ein.25 Durch den Text ziehen sich zwei Scheidelinien, die durch eine Asymmetrie im Wissensstand hervorgerufen werden. Die erste Linie verläuft im Bereich des Erzählten. Während die Soldaten wissen, daß sie einen kleinen Bauernjungen vor sich haben, und ihn mit Gewalt zum Mitkommen zwingen, wird der Junge Opfer seiner falschen Zuordnung des Gegenübers. Da er die Soldaten für Wölfe hält, glaubt er, er könne sie mit seiner Sackpfeife vertreiben. Die ganze Szene bietet ein Bild der Asymmetrie: Die Soldaten, hoch zu Roß, haben nicht nur durch ihre physische Überlegenheit eine höhere Macht; ihre Welt ist auch größer als diejenige, die mit dem jammernden Ton einer Sackpfeife zu erreichen ist. Auch zeitlich gerät der Junge durch die plötzliche Initiative der Soldaten ins Hintertreffen. Die zweite Scheidelinie zieht sich durch den Erzählerdiskurs. Einerseits rekonstruiert der Erzähler den Bewußtseinsstrom des Knaben und befindet sich sozusagen auf gleicher Höhe mit ihm. Andererseits aber fügt er in Parenthese einen Vergleich aus dem Bereich seines geographischen Wissens ein, das ihm durch den Diskurs der Schriftlichkeit zur Verfügung steht. Das Verhalten des Jungen wird mit der Hilflosigkeit der Americaner verglichen, deren falscher Erwartungshorizont zur Fehleinschätzung der Conquistadores führte. Was der Mündlichkeit des Knan nicht möglich gewesen war, das gelingt dem Erzähler: Abwesendes durch die Form des Vergleichs zu vergegenwärtigen. Das Wissen des Erzählers ist nicht nur ungleich größer als das des Jimgen, es ist bereits durch Schriftsprache vermittelt und mithin weiter verSimplicissimus Teutsch L, 3, 16, 7-20. Vgl. H A N S GEULEN, Erzählkunst der frühen Neuzeit, Zur Geschichte epischer Darbietungs weisen und Formen im Roman der Renaissance und des Barock, Tübingen (Rotsch) 1975. 218/219. GEULEN faßt die Durchbrechung der Geschlossenheit durch das Moment der Plötzlichkeit in der Szene als Ausformung einer Romankonzeption, die die Ereignisse in der Spannung zwischen Schein und Sein, Erwartung und enttäuschender Wirklichkeit gestaltet.
370
Grimmelshausens
Simplicìssimus
Teutsch
mittelbar. Dem Erzähler ist es möglich, über das historische Ereignis der Eroberung Amerikas zu sprechen, das sich auf einem fernen Kontinent abspielte und lediglich aus Büchern bekannt war. Frei kann sich der Erzähler diesseits und jenseits der Zeichengrenzen bewegen, was ihm entsprechende Macht verleiht. Diese Asymmetrie ist aber nicht nur eine der Form, sondern auch eine des vermittelten Wissens. Denn das vom Erzähler herangezogene Beispiel hat dieselbe Problematik zum Inhalt wie ihr Anlaß. Die amerikanischen Ureinwohner waren - der Analyse von TZVETAN TODOROV zufolge - den spanischen Eroberern in ihrem Umgang mit Zeichen unterlegen. Wie der Knabe der Erzählung gingen sie von einer Welt aus, in der das Neue an ein Bekanntes ohne Überraschungen anknüpft. Die Soldaten der Simplicissimus-Episode müssen Wölfe sein, da sie mit der väterlichen Ankündigung verknüpfbar sind. Das Unerwartete hat keinen Platz in einer Welt des Selbstverständlichen. Genauso verknüpfte das Reich MOCTEZUMAS die Ankunft der Spanier mit den Ankündigungen seiner Priester, die die Zeichenordnung des in sich geschlossenen indianischen Kosmos zu verwalten hatten. Die Selbstverständlichkeit der aztekischen Welt, deren Zeichen lediglich der richtigen Lektüre bedürfen, wird zerbrochen, indem das Unerwartete eintritt. So fuhrt der Überfall der Spanier nicht nur zur Vernichtung der staatlichen Struktur und zur Ausrottung der Bevölkerung, sondern auch zum Zusammenbruch des hergebrachten Systems der Weltdeutung.26 Ein solcher Systemzusammenbruch findet auch im Simplicìssimus Teutsch statt. Die Erwartung des Kindes wird enttäuscht, die vermeintlichen Wölfe entpuppen sich als Soldaten und zerstören die bislang vertraute Welt. Mit den von außen kommenden Fremden, die sich die bislang unveränderliche Welt des Spessarthofes aneignen, rückt die Erzählung das bislang von innen Wahrgenommene in eine Außenperspektive.27 Daraus ergibt sich ein dritter Erkenntnischritt, der die selbstverständlich hingenommene Natur in die Zusammenhänge von Geschichte und Kultur einbettet. Im nachhinein zeitigt der Bereich des Bauernhofes, der dem naiven Blick bislang vollkommen durchsichtig erschienen war, unter dem gewaltsamen Eingriff der Soldateska verborgene Untiefen. Sie durchstöbern das heimlich Gemach, von dem vorher nicht die Rede war, und zwingen den Knan unter der Folter, seinen verborgenen Schatz herauszugeben. Die bäuerliche Wirtschaft ist offenbar weit weniger naiv, als die Schilderung des ersten Kapitels hatte vermuten lassen. Nur zum Teil war der Bauernhof eine unmittelbare Heimwelt mit einer zyklischvegetativen Zeitform und einem unpraktischen Horizont gewesen. Der Bauer Vgl. TZVETAN TODOROV, Die Eroberung Amerikas, Das Problem des Anderen, Main (Edition Suhrkamp 1213) 1985, 80-120: Moctezuma und die Zeichen. Vgl. Simplicìssimus Teutsch I, 4, 17, 7 - 4, 19, 32.
Frankfurt am
Außenperspektive: Kultur als Naturbeherrschung
371
hatte die Möglichkeit räuberischer Eingriffe von außen in Rechnung gestellt und diese mögliche Zukunft durch Vorsorge ins Kalkül gezogen. Was der gewaltsame Zugriff der fremden Soldaten zutage fordert, ist ein auf reale Maße gebrachtes Idyll, die Kombination fragloser Alltagsbeschäftigung mit bewußter Vorsorge. Der Bauernhof erweist sich als Alltagswelt, die zum Teil von automatischen Abläufen bestimmt wird, teilweise aber auch durch Planung Struktur gewinnt. Auf den zweiten Blick wird Landwirtschaft als Ineinander zweier Handlungs- und Zeitformen beschreibbar. Die zyklische Produktionstätigkeit konzentriert sich auf die Gegenwart der sich gerade stellenden Aufgaben. Planung und Handel hingegen überschreiten den durch diese Tätigkeit gesetzten Rahmen des Hier und Heute mit einer Kalkulation auf die Zukunft. Bei näherem Hinsehen wird das vermeintliche Paradies entzaubert. Diese Entzauberung ist aber nicht dem Paradies zuzuschreiben, sondern dem Vorgang des näheren Hinsehens. Denn der Roman entlarvt dieses nähere Hinsehen als zerstörerische Gewalt, indem er den Erkenntniszugewinn auf Durchsuchung, Verhör und Folter zurückfuhrt. Die räumliche und zeitliche Feststellung der Sachlage durch juristische und technische Verfahren der Neuzeit erweist sich in ihrer Verzerrung als Krieg gegen Mensch und Natur. Diese zerstörerische Macht der instrumenteilen Vernunft über ihre Gegenstände habe ich ja bereits als Mechanik des Geschehens für D Ü R E R S Lauf der Welt aufgezeigt. Hier wie dort wird die Folter zum Inbegriff der Herrschaft über Mensch und Natur. Indem die Soldaten im Simplicissimus Teutsch sozusagen die Natur auf die Folter spannen, wie es die zeitgenössische Naturwissenschaft empfiehlt, erhalten sie zwar eine Antwort auf ihre Frage nach dem, was sie fur Reichtümer halten, Gold/Perlen und Cleinodien. Gleichzeitig aber zerstören sie die reale Grundlage des Reichtums, den Bauernhof. Der Eingriff von außen ignoriert die natürlichen und ökonomischen Zusammenhänge und wird zur Zerstörung dessen, was er sucht. Die Distanz und Ironie, mit der die Erzählung dieses Geschehen präsentiert, erscheint als Versuch, die von den Umständen erzwungene Reflexion selbst noch einmal zu reflektieren und in ihrem erzählenden Nachvollzug einzuholen. Die Künstlichkeit der Naturbeherrschung trifft auf eine höhere Künstlichkeit der Literatur. Auf diese Weise zeichnet das fünfte Kapitel den Weg des Jimgen aus seiner Ursprungswelt heraus als Weg von der naiven Welthinnahme zu bewußter Orientierung nach.28 Die Situation wird als Anfang29 erlebt, da der Held nun gezwungen ist, in der Distanzierung den un21
29
Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 5, 19, 34 - 5, 21,19. Vgl. zur Dialektik des Orientierungsverlusts als Zwang zur Orientierung RAMIN, Symbolische Raumorientierung 132. GEULEN, Erzählkunst der frühen Neuzeit 218, sieht bereits im Trab des von der Soldateska auf ein Pferd Gezwungenen, der mit dem Primum mobile verglichen wird (vgl. Simplicissimus Teutsch 1,3, 16, 26-28) den Uranfang aller Bewegung des Helden, da sein Weg in die Welt ein von vornherein aufgezwungener sei. In dieser Einschätzung kommt m. E. das Moment der Initiative zu kurz, die erst dann eine Rolle spielt, als der Held sich allein im Wald orientieren muß.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
glücklichen Zustand der Gegenwart, den er vor Augen sieht, zu betrachten und aus dieser Betrachtung sein zukünftiges Handeln zu extrapolieren, zu gedencken, wie er sich diesem Zustand entwinden könnte. Neben distanzierender Betrachtung und Planung verlangt die Situation ein Handeln, mit dem das Gewohnte zeitlich und räumlich überschritten wird. Noch allerdings ist der Junge in diesem gewohnten Chronotopos so befangen, daß er die neuen Phänomene nur mit Mühe einzuordnen weiß. Daß er sich gegen Abend in Wald davonmacht, deutet auf ein unbestimmtes Fliehen hin, so unbestimmt, daß die Angabe gegen Abend noch in ihren beiden räumlichen und zeitlichen Konnotationen ganz unbestimmt bleibt: flieht er in westlicher Richtung oder bei Sonnenuntergang, oder trifft beides zu? Der Erzähler distanziert sich von diesem Ausgeliefertsein seines Helden an die Natur, indem er für den unbekannten Weg durch den Wald einen weit hergeholten geographischen Vergleich findet: die Straß durch das gefrorne Meer / hinder Nova Zembla, biß gen China hinein. Die gerade gefundene und schriftlich bekanntgemachte Passage durch das russische Nordmeer wird zum Modell der Romanpassage, der Flucht des Helden. Diese Flucht vollzieht sich in einer Schwebe, einem Grenzgebiet zwischen der Gewalt der Geschichte, durch die gerade noch hörbar die Bauern tribuliert werden, und dem Bereich einer unbekannten Natur, die sich durch die Stimmen der Nachtigallen Gehör verschafft. In der Ambivalenz der Natur, der Lieblichkeit des Vogelgesanges, die für den Hörer etwas Unbarmherziges dem Leiden der Bauern gegenüber hat, sieht sich das ambivalente Verhältnis der Geschichte und ihrer Erzählung zur Natur gespiegelt. Die gefolterten Bauern erscheinen nun auch als Vögel, ihr Geschrei als verzerrtes Echo auf die unmittelbaren Naturlaute, die Folter als Extremfall menschlicher Naturbeherrschung und -Zerstörung. Verarbeitet wird dies durch den hochdifferenzierten Erzählerdiskurs, der gleichzeitig versucht, das undifferenzierte Erleben des Helden annäherungsweise zu rekonstruieren. In einem Erzählen, das sein Ungenügen den dargestellten Phänomenen gegenüber in Rechnung stellt, statt sie sich bedingungslos zu unterwerfen, reflektiert die dargestellte Naturbeherrschung auf ihre Grenzen. Natur und Geschichte erscheinen im Bild vom brennenden Haus unter dem flackernden Morgenstern als Bereiche, denen die Landbevölkerung wehrlos ausgeliefert ist. Deshalb erlebt der Held beide Bereiche als Bedrohung. Erst im Horizont der Erzählung als ganzer wird deutlich, daß die eigentliche Bedrohung von der Geschichte ausgeht, von den zivilisatorischen Mitteln der Naturbeherrschung wie dem Carbiner, der mit urplötzlichem Feuer und unversehnlichem Klapff auf den Jungen abgefeuert wird, als er sich unvorsichtigerweise in der Nähe des brennenden Hauses zeigt. In der unmittelbaren Konfrontation des Helden mit der Zivilisation überwiegt die Zeitform der Plötzlichkeit, das Unversehene, das sich auch durch Umsicht und
Außenperspektive:
Kultur als
Naturbeherrschung
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Vorausschau nicht kontrollieren läßt. Gerade die technischen Mittel, die eine Kontrolle und Beherrschung der Natur ermöglichen sollen, werden als unbeherrschbar und unkontrollierbar erlebt. Dem Gewehr gegenüber ist vorausschauende und umsichtige Orientierung weitgehend machtlos. Den Phänomenen der Natur gegenüber läßt sich Orientierung sehr wohl erlernen, da ihre Zeichen im Gegensatz zu denjenigen, die im Raum menschlichen Handelns gelten, eine gewisse Verläßlichkeit besitzen. Die Ambivalenz des Chronotopos, das Grenzgebiet, in dem sich der Held bewegt, zeigt sich hier dadurch, daß er sich zunächst den naturwüchsigen räumlichen und zeitlichen Signalen gänzlich ausgeliefert sieht, so daß sie zu metaphorischen Mächten aufsteigen. Die Nacht, "bedeckt' ihn zu seiner Versicherung, 'ergreift' ihn aber auch als Bereich, in dem faule Bäume unheimliche Zeichen geben und ihn desorientiert umherirren lassen, bis ihm der liebe Tag zu Hülff kommt. Der aus seiner vertrauten Umgebung gestoßene Mensch erlebt in und an der Natur seine Defizienz, seine Unterlegenheit: [...] "wann ein unverniinfftig Thier an meiner Stell gewesen wäre / so hätte es besser gewust/ was es zu seiner Erhaltung hätte thun sollen [••·]·,° Dieses Defizit ist erst durch lernenden Umgang auszugleichen. Die Naturbeherrschung, deren verheerende Wirkungen eben noch ins Bild gebracht worden waren, erscheint hier in ihrem Ursprung, in der Naturerkenntnis, die der Notwendigkeit zur Selbstbehauptung geschuldet ist. Mit diesem Rückgriff entgeht die Erzählung der naheliegenden Versuchung, auf der Folie der katastrophischen Geschichte ein Naturidyll zu zeichnen und die dialektische Widersprüchlichkeit von Natur und Geschichte einzuebnen. Indem sie die Ursprungswelt des Knaben aus der Perspektive des geschichtskundigen Erzählers rekonstruiert, leistet die Erzählung für ihren Gegenstand das, was Kritische Theorie für das Lebensweltkonzept der HUSSERLschen Phänomenologie leistete, die Rettung des Konkreten durch die Konfrontation mit seinen historischen Voraussetzungen. ADORNO bietet in seiner HussERL-Kritik den realen geschichtlichen Menschen gegen ein abstraktes Konzept zeitloser Phänomene auf, wodurch die phänomenologische Tendenz zu den Sachen erst wirklich in ihr Recht gesetzt wird. Es gibt keine Menschen außerhalb der Geschichte. Erzählbare Geschichte ereignet sich immer schon in einem Raum, der durch die Sprengung einer Sphäre der Selbstverständlichkeit entstanden ist. Wo es Menschen gibt, gibt es Kultur, ist der Bruch mit einem Ursprünglichen bereits vollzogen. JAN M. BROEKMAN bemerkt: Es gibt [...] keinen Menschen vor dem Menschen, keine Natur vor der Kultur31 Diese Erkenntnis setzt der Simplicissimus Teutsch fur die Situation des Knaben um, Simplicissimus Teutsch I, 5 , 2 1 , 1 5 - 1 7 . JAN M. BROEKMAN, "Sozialphilosophie in Phänomenologie und Marxismus": Phänomenologie und Marxismus 3: Sozialphilosophie, hg. von BERNHARD WALDENFELS u.a., Frankfiirt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 232) 1978, 8-17, hier 16.
374
Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
der den Bereich des Selbstverständlichen verlassen hat. Der im Wald umherirrende Knabe macht die Erfahrung, aus seiner vertrauten Welt ausgestoßen zu sein. Hier läge es nahe, daß die Erzählung dem Wunsch nach Rückkehr zu einem vermeintlich widerspruchslosen Ursprung das Wort redete. Doch macht sie mit den von mir beschriebenen Techniken der Distanzierung deutlich, daß ein solcher Wunsch illusorisch und seine literarische Verklärung ideologisch wäre. Kultur und Geschichte basieren auf der Erfahrung des Draußenseins, der Grenzen und Differenzen, die sich nicht durch die Flucht nach Innen, in eine vermeintlich ursprüngliche Einheit mit der Natur beheben läßt.32 Orientierung in der Natur bedeutet ihre virtuelle Beherrschung, die Kenntnis ihrer Regeln, die ihr von außen abgeschaut und abgehorcht werden müssen. Als sich der regelmäßige Vorgang wiederholt und die weiterhin mächtige Nacht ihn abermals 'ereilt', ist der Knabe der Erzählung bereits so witzig, daß er sich in einem holen Baum sein Nachtlager suchen kann. Mit diesem Akt der Vorsorge hat das Kind den ersten Schritt zur Selbständigkeit gemacht. Von nun an läßt sich sein Handeln innerhalb der Bedingungen von Natur und Geschichte in der Spannung von Anpassimg und Absetzung nachvollziehen.
Im weiteren Verlauf wird der Ausgangspunkt im Spessart aus der Retrospektive noch einmal in den Blick genommen. Dabei holt die Erzählung das bäuerliche Milieu noch konkreter in den historischen Zusammenhang ein, wenn sie im fünften Buch berichtet, wie Simplicius nach Jahren seinem alten Knan wiederbegegnet. Denn in der Unterhaltung zwischen Simplicius und seinem Knan wird die Geburt des Helden im Umfeld der Schlacht bei Höchst lokalisiert. Wieder ist es ein Kriegsereignis, das die Raum-Zeit-Bezüge schärfer konturiert, indem es Grenzen sichtbar macht und gleichzeitig wieder einreißt. Die geschlagenen Truppen wählen den Spessart als Zufluchtsort, weil sie die Büsch suchten, sich zu verbergen. Doch das Vorrücken der siegreichen Gegner macht den Rückzug in das unübersichtliche Terrain - und den gerade erreichten Gegensatz zwischen dem offenen Schlachtfeld und dem schützenden Hügelland - zunichte: [...] aber in dem sie dem Tod auff der Ebene entgiengen /fanden sie ihn bey uns in den Bergen / und weil beyde kriegende Theil vor billich achteten / einander auffunserm Grund und Boden zu berauben und nider zu machen / griffen wir ihnen auch auff die Hauben / damals gieng selten ein Bauer in den Büschen ohne Feurrohr / weil wir zu Hauß bey unsern Hauen [532] und Pflügen nit bleiben konten; /.../." 32
33
Vgl. ROLAND REUO, " '...daß man's mit Fingern läse, Λ Zu Kleists Amphitryon": Berliner KleistBlätter 4, Basel / Frankfurt am Main (Stroemfeld / Roter Stern) 1991, 3-26, hier 5/6. Simplicissimus Teutsch V, 8, 400, 18-25.
Voraussetzungen des Ursprungs: Geschichte und Erzählung
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Der erzählerischen Ursprungswelt des ersten Buches ist also eine Unübersichtlichkeit vorausgegangen, in der das Ackern keineswegs die einzige Art von Feldzug für den Knan war. Die Anwesenheit der beiden kriegführenden Armeen hatte nicht nur durch die Gegnerschaft untereinander, sondern auch durch den Gegensatz zur ansässigen Landbevölkerung zu einer unübersichtlichen Frontenbildung geführt. Der Grund und Boden der agrarischen Wirtschaft wird seiner ökonomischen Verläßlichkeit beraubt und erscheint in neuen Grenzen als zu verteidigendes Terrain. In diesem kriegerischen Tumult hat sich die Geburt des Simplicius durch eine landfremde, von den Kriegsereignissen verschlagene Edelfirau ereignet. Die durch das historische Szenario gegebene biographische Ausgangslage steht in krassem Gegensatz zu dem im ersten Buch rekonstruierten Erleben des Helden, der selbstverständlichen Hinnahme einer statisch-zyklischen Heimat. Das Paradies hatte bereits seine historischen Voraussetzungen. Damit korrigiert die Erzählung jede raunende Ehrfucht vor der angeblichen Reinheit des Ursprungs. Die Rekonstruktion des lebensgeschichtlichen Ursprungs wird im nachhinein zum erzählerischen Mittel, um den Lebenslauf des Helden von der Geschichtsdynamik kritisch abzugrenzen, die ihn gleichwohl bedingt und beeinflußt. Das in der Erzählung erschlossene Leben des Simplicius ist von vornherein mehr als eine Funktion historischer Abläufe. Indem es sich von ihnen abgrenzt, schärft es gleichzeitig den Blick für die katastrophalen Konsequenzen, die der Geschichtsverlauf für den einzelnen hat. Diese widersprüchliche Beziehung zwischen dem Leben des einzelnen und der Geschichte, die ihm fremd bleibt, obwohl er in sie verstrickt ist, findet ihren Ausdruck in der Widersprüchlichkeit, mit der die Lebensgeschichte des Simplicius mit dem historischen Ereignisraster des Dreißigjährigen Krieges im Roman verknüpft wird. Denn der Hinweis auf die Schlacht bei Nördlingen (1634) als Ereignis der romanexternen Geschichte findet seine Antwort bei Simplicius, der einen Zeitraum von ungefähr 18. JahrenM nach seiner Trennung vom Knan ansetzt. Die Chronologie der Lebensgeschichte, die Simplicius sich in seiner Erinnerung erschließt, deckt sich weder mit der internen Chronologie der Romanerzählung, in der erst ungefähr sieben Jahre vergangen wären, noch mit der intern-externen Chronologie, so daß sich eine Differenz von immerhin acht Jahren zwischen den verschiedenen Datierungen der Begegnung ergäbe. Hatte die Romanerzählung mit der Erwähnung der Schlacht von Jankau das Geschehen in die Nähe des Jahres 1645 gerückt, so führen die 18 Jahre nach der Schlacht bei Nördlingen in das Jahr 1652. Simplicius, dies wird deutlich, hat seinen Ort zunächst einmal in den widersprüchlichen Versionen seiner Geschichte. Die erzählten Räume und Zeiten sind nicht naiv mit dem zu identifizieren, was durch historische und geographische Angaben in die Darstellung eingeholt wird. War der Spessarthof des 14
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 8, 398, 34.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
ersten Buches ein literarisches Konstrukt, das seine artifizielle Gemachtheit im Zuge seiner Rekonstruktion und Destruktion selbst zu erkennen gab und reflektierte, so ist die nachgeholte Vorgeschichte des fünften Buches eine Erzählung, die das artifiziell Schwebende der Biographie zusätzlich unterstreicht. Gleichwohl wird mit historischen Versatzstücken ein Szenario entwickelt, das den fiktiven Helden mit realen Vorgängen konfrontiert. Die Erzählung erweist sich als Grenzbereich, der zwar von der Wirklichkeit different ist, sich aber zu einer Lektüre der Wirklichkeit öffnet. Die Fiktion verweist auf die raum-zeitliche Wirklichkeit, ohne mit ihr identisch zu sein. Da sie jedoch ihrerseits durch - geschriebene und schreibbare - Geschichte geprägt ist, kann auch die außertextuelle Wirklichkeit der Texte nicht entraten. Die Textgrenze des Romans wird zum Spiegel fur eine Realität, die sich anhand von Texten ihrer selbst vergewissert. Immerhin konnte die historische Umwelt des Romanautors GRIMMELSHAUSEN ja nur anhand von Texten rekonstruiert werden, beispielsweise eines Renchener Kirchbucheintrags von 1676, der den Tod des ehrenwerten Schultheißen bezeugt. Genauso macht der Romanzusammenhang die realitätsstiftende Funktion der Texte greifbar, wenn er auf den erzählerischen Exkurs des Knan eine Exkursion in das Herkunftsgebiet folgen läßt, durch die das Erzählte rechtsgültig werden soll. Der Romanheld findet die Beglaubigung seiner Herkunft in einem Spessarter Tauffbuch35 und läßt bei einem Abstecher in die frühere Heimat über seine gantze Histori auß der Zeugen Mund durch einen Notarium ein Instrument auffrichten.36 Die kulturelle Differenz der Geschichte, der Histori, zur Natur macht es notwendig, sie durch das Instrument der schriftlich fixierten und juristisch beglaubigten Zeugenaussage überprüfbar zu machen. In der Doppeldeutigkeit des Wortes Geschichte, das sowohl die Ereignisse wie ihre Erzählung bezeichnet, drückt sich das komplexe Verhältnis zwischen beiden aus. Geschichte erscheint erst in ihrer Erzählung. Mehr noch: in deklarativen Sprechakten wird Geschichte durch Texte gemacht. Die soziale Stellung des Simplicius etwa, sein Platz in der fiktionalen Realität des Romangeschehens, wandelt sich durch seine notariell beurkundete Einordnung in den Adelsstand. Indem der Roman die Wechselbeziehung zwischen der Sphäre der historischen Realität und dem Kosmos der Texte in die Begründung seines Erzählens miteinbezieht, widersetzt er sich einer bloß abbildenden Ästhetik. Texte sind bereits Teil der historischen Realität, gegen die sich der Erinnerungsraum des einzelnen, seine mündlich vermittelte Lebensgeschichte, abzugrenzen versucht. Indem aber auch die mündliche Erzählung als Zeugenaussage Eingang in die notariellen Akten findet und gleichzeitig im Roman fiktionaler Gegenstand von Literatur wird, dringt sie als widerständige Instanz in die Sphäre der Schriftlichkeit vor. Gegenstand des Ro35 36
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 8, 402, 9-13. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 9,403, 3/4.
Historischer Raum und Textlandschaft
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mans ist ein komplexes Gebilde aus mündlich und schriftlich bereits angeeigneter und durchgearbeiteter Welt. In der facettenreichen Perspektivierung und Konturierung einer eben nur scheinbar widerspruchsfreien und unmittelbaren Ursprungswelt erweist sich die barocke Mittelbarkeit des Simplicissimus Teutsch als angemessene Aneignung der komplexen zeitgenössischen Realität. In der Anordnung der textuellen Bausteine stiftet der Text selbst einen Zusammenhang kontinuierlicher und diskontinuierlicher Übergänge, eine Ordnung von Nachbarschaften und Grenzen, die als topologische Textlandschaft plastisch wird. Das Gespräch des Helden mit dem Knan, das in den Verlauf der Gesamterzählung eingeschlossen ist, ermöglicht es, die Welt des Spessarthofes und die oberrheinische Landschaft des fünften Buches als benachbart zu begreifen. Nicht nur, daß der Spessarter Bauer in dieser Landschaft plötzlich auftaucht und seßhaft wird. Der Vorgang seiner Erzählung, die die Spessarter Ursprungswelt retrospektiv betrachtet und in einen historisch-geographischen Kontext stellt, wird seinerseits eingebettet in einen Spaziergang durch das oberrheinische Thal bei Gaisbach, das zum neuen Rahmen des Geschehens wird.37 Auch die Topographie dieses Tals bildet einen Grenzbereich zwischen der Romanfiktion und einer außerhalb ihrer selbst angesiedelten Realität, handelt es sich doch nicht nur um das neue Tätigkeitsumfeld des Simplicius, sondern zugleich um den realen Kontext, die Welt des Autors GRIMMELSHAU SEN, in der der Roman entstand. Die Romanerzählung ist auf eine ähnliche Weise in die reale Topographie eingelassen wie die Erzählung des Knan in die Romanlandschaft. In beiden Fällen grenzen Erzählung und Geschichte aneinander, ohne daß sie vollständig zur Deckung zu bringen wären. Selbstverständlich ist die Topographie eines Landschaftsraumes nicht ohne weiteres in die linear-reihende Struktur eines Textes zu übersetzen. Folgt man aber dem Textverlauf, dann ergibt sich ein Schnitt durch die Erzählebenen. Landschaft ist im Simplicissimus Teutsch also für sich selbst keineswegs bedeutungslos. Vielmehr formt die Erzählung eine kunstvolle Textlandschaft, die Nachbarschaften durch die Korrespondenz der Orte herstellt und diese erzählten Orte mit dem historisch-geographischen Raum in Beziehung setzt. Im fünften Buch vergegenwärtigt das Gespräch zwischen Simplicius und seinem Knan die Spessartgegend des ersten Buches und fugt sie mit dem Gaisbacher Tal im Schwarzwald zusammen, durch das die Redenden gerade spazieren. Das Schwarzwaldtal ist darüber hinaus von Höhen eingefaßt, die angrenzende Wegstationen bilden. Damit hat die Landschaft einen Platz in der Topologie der Erzählung wie in der historisch-geographischen Topographie. Die Verteilung der Handlung auf Höhen und Niederungen ist keineswegs von einem vorgängigen mathematisch-allegorischen Modell geleitet.38 Viel37
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 8, 398, 11-21.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
mehr greift die Erzählung auf die reale Topographie zurück, in der die einsamen Gebiete auf den Höhen eine Zuflucht vor den Gefahrdungen boten, die in der Ebene drohten. Die allegorische Signifikanz der Höhen und Niederungen wird der Landschaft nicht gewaltsam aufgezwungen, sie ergibt sich aus den historischen Bedingungen, von denen die Erzählung berichtet. Der Rückzug von der Welt auf einsame Waldeshöhen nimmt seinen Ausgangspunkt nicht von den ikonographischen und literarischen Traditionen des einsamen Ortes, diese Traditionen bewahrheiten sich vielmehr angesichts einer konkreten historischen Situation. Dies zeigt ein Blick auf die Textlandschaft, die von der Erzählung entfaltet wird. Nimmt die Lektüre etwa im siebten Kapitel des fünften Buches39 ihren Ausgangspunkt vom Tod des jüngeren Herzbruder, kann sie Simplicius folgen, wie er die Gesellschaft des Sauerbrunnens hinter sich läßt, um sich ähnlich den geschlagenen Soldaten nach der Schlacht bei Höchst - in einen Busch zu retirieren. Die Einsamkeit der Schwarzwaldhöhen grenzt sich genauso von der Friedensgesellschaft des Badeortes ab, deren courtoise Reden und Complimenten hier keine Rolle spielen, wie vom gleichzeitig in der Ebene wütenden Krieg. Eine Karte des Oberrheingebietes verdeutlicht den durch den Gebirgszug gebildeten Grenzverlauf zwischen den gefährdeten Orten in der Ebene (wie Offenburg und Renchen) und den geschützten Plätzen (wie Gaisbach und Oberkirch). Die topographische Trennung der Gebirgslandschaft vom Kriegsgeschehen in der Ebene, die im Spessart nach der Schlacht bei Höchst durchbrochen worden war, bleibt im Schwarzwald beständig, so daß die Beschreibung der Schwarzwaldhöhen eine fast utopische Qualität gewinnt: [...] unversehens gedacht ich / es hättens die geringste Baurn in selbiger Gegend besser / als ein Obrister / dann in dasselbige Gebürg kamen keine Parteyen / so konnte ich mir auch nit einbilden / was eine Armee darin zu schaffen haben mäste/ dieselbe Lands-Art zu ruiniren / massen noch alle Baum-Höf gleich als zu Friedenszeiten in trefflichem Bau / und alle Ställ voll Viehe waren / unangesehen auff dem ebenen Land in den Dörffern weder Hund noch Katz anzutreffen.40
Das schroffe Niveaugefalle von den Zuständen auff dem ebenen Land konturiert den Rückzugsort topographisch und auch satzintera-topologisch. Die Virgeln zwischen den Wortblöcken dienen zugleich als Grenzen zwischen Baurn und Obristen, wenn sie nicht das unmögliche Miteinander von Gebürg und eindringenden Parteyen abzuteilen haben.41 31
35 40
"
Vgl. JEAN WEISGERBER, "A la recherche de l'espace romanesque, Lazarillo de Tormes, Les aventures de Simplicius Simplicissimus etMoll Flanders": Neohelicon 3 (1975) 213/214. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 7, 394. Simplicissimus Teutsch V, 7, 395, 1-8. Zur Erkenntnisfunktion der Virgel als Gränzstein in barocken Texten vgl. (mit Hinweis auf KASPAR STIELER) THOMAS ALTHAUS, Epigrammatisches Barock = Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 9, Berlin (de Gruyter) 1996, 16/17.
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Historischer Raum und Textlandschaft J.J. Chr. κ Grimmelshausen am Oberrhein (1639-1676)
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• Aufenthalt für Grimmelshausen belegt •
Aufenthalt für Simpticfssirnus belegt
4 Aufenthalt für Grimmelshausen und Siiiiplictssimus belegt Eohntrf E Schinkel Abbildung 39: Verteilung der Orte am Oberrhein auf Ebene und Höhen. Reproduziert nach Simplicius Simplicissimus, Grimmelshausen und seine Zeit, Ausstellungskatalog, hg. vom Westfälischen Landesmuseum und dem Germanistischen Institut der Universität Münster. Münster (Landschaftsverband Westfalen-Lippe) 1976,7.
380
Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
In der beschriebenen Gegend herrscht eine differente Zeitordnung, die der Friedenszeiten, die allerdings in der direkten Konfrontation mit der gleichzeitigen Misere die Qualität eines Als-Ob-Zustandes hat. Vor dem Hintergrund der jederzeit möglichen Grenzüberschreitung durch Parteyen steht die historische Realität unter einem beinahe fiktiven Vorbehalt.Die Friedlichkeit des locus amoenus, der als literarischer Topos etwas Unwirkliches hat, wird zum kritischen Widerlager der historischen Realität. Doch vermeidet es die Erzählung, den Topos des locus amoenus zu idealisieren. Wie ich bereits bei D Ü R E R gezeigt habe, grenzt der liebliche Ort an die Gefahren des locus terribilis an und grenzt sich zugleich von ihnen ab.42 Der Simplicissimus Teutsch deutet durch die Struktur seiner Textlandschaft an, daß die liebliche Unwirklichkeit des locus amoenus sich nicht erobern und gewaltsam in die Realität überfuhren läßt. Das utopische Gegenbild taugt nicht zu seiner Umsetzung, sondern in seiner ästhetischen Unabhängigkeit lediglich zur Kritik des Bestehenden. Wer sich dem locus amoenus nähert, um ihn für sich zu instrumentalisieren, zerstört seine Unverfügbarkeit und macht ihn zum locus terribilis. Diese Erfahrung muß Simplicius machen, als die Erzählung ihn unversehens an den locus amoenus fuhrt. Auf der anderen Seite jenes Gewässers, an dem sich Simplicius, vom Sauerbrunnen kommend, niedergelassen hat, nähert sich unter den Klängen des lieblichsten Vogelgesanges eine Schönheit im Ilabit einer Baum-Dirne, die in einem Korb Butter zum Markt bringt. Der Ablauf der Schilderung bringt die Unwirklichkeit des Geschehens zum Vorschein. Zunächst wird das akustische Erlebnis des Helden geschildert, der sich einbildete / daß die Nachtigal durch ihre Lieblichkeit andere Vögel banne still zu schweigen.43 Das Geschehen spielt sich offenbar vornehmlich im Bewußtsein des Helden ab. Zwischen ihn und den Gegenstand seiner Bewunderung legt die Erzählung das Gewässer, so daß die sich nähernde Frau lediglich in den Gesichtskreis des Betrachters gelangt, nicht jedoch in den greifbaren Nahbereich.44 Das Gewässer bildet eine Schranke, über die der Betrachter momentan nicht wirklich reichen oder gar gelangen kann. Die Frau bleibt jenseit dem Wasser, und diese Jenseitig12
" M
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 7, 395. Siehe den Komplex über Die Kulissen von Schauergeschichte und Schäferroman im Kapitel über DÜRERS Lauf der Welt. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 7, 395, 9-36. Vgl. EDMUND HUSSERL, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Zweiter Teil: 1921-1928 = Husserliana XIV, Den Haag (Nijhoff) 1973, 550/551 :Die "Ferndinge" in Ruhe und Bewegung sehen ähnlich aus wie "Nahdinge", aber "ich kann sie nicht erreichen". [...] Die Erscheinungsänderungen der "weiten Ferne" verlaufen ganz analog wie die der Nähe, und so wird allerdings auch Fernrealität und Fernbewegung ursprünglich indiziert, fast möchte ich sagen, appräsentiert. Aber die Wahrnehmung von Fernrealität in Ruhe und Bewegung setzt das Bewusstsein des Hinauskönnens etc. voraus, und fehlt das über die abgegrenzte Nahsphäre hinaus, so ist zwar dieses Fern als Realität denkmöglich, aber nur im Sinn, dass ich die analogische Möglichkeit phantasiemässig mir vorstellen kann [...].
Besitzergreifung als Zerstörung des locus amoenus
381
keit der Erscheinung spiegelt sich in der distanzierten Schilderung, die sich in literaturkonventionellen Schönheitsattributen und der Beschwörung ihrer vollkommenen Proportion erschöpft. Der Ort des Geschehens, der locus amoenus, bleibt ein Ort der Einbildung, die über die Wirklichkeit der gesehenen Erscheinung keine Rückschlüsse zuläßt. Als der Betrachter die Frau anruft, läuft sie weg und läßt den Phantasten mit der Erinnerung an sein Phantasma allein zurück. Der Phantast, der zwischen Schein und Realität nicht zu unterscheiden weiß, ist jedoch die Kehrseite des Unternehmers, der das Paradies erobert und es damit zerstört. Denn der Held versucht, im Fortgang der Erzählung sein Erlebnis festzuhalten, und schickt der schönen Butter-Verkäuferin seinen Jungen nach, sie anzupacken und mit ihr zu marckten.A> Durch die Verfolgung seiner Spur soll der schöne Schein handgreiflich gemacht werden. Indem die Erzählung das Phänomen des fiktiven Chronotops, die liebliche Schönheit des anmutigen Ortes, in die Zusammenhänge des gemeinen Handels zieht, läßt sie die Grenzen beider Orte schärfer hervortreten. Der locus amoenus wird an die ersten Erfahrungen des Knaben mit der Welt zurückgebunden. Denn die Begierden des Helden halten ihn, wie der Erzähler bemerkt, nicht in seiner Einsamkeit, die er sich gerade erst auserwehlt hatte, sondern bewirken, daß er das Gesang der Nachtigallen nit höher achtete / als ein Geheul der Wölff. Die Schönheit des einsamen Ortes wird durch den Gesang der Nachtigallen evoziert, womit der Erzähler auf die liebliche Harmonía des Gesanges KOmm Trost der Nacht anspielt, die den kleinen Bub im ersten Buch davon überzeugt hat, daß der Einsiedler nicht der Wolf sei.46 Der vorübergehende Friede, den der Knabe in der Waldeseinsamkeit beim Einsiedler gefunden hat, ist schon zu diesem Zeitpunkt verschränkt mit der kriegerischen Eroberung des Spessarthofes durch die vermeintlichen Wölfe. Diese haben ja die gefolterten Bauern wie Vögel schreien lassen, während die Nachtigallen ohne Mitleid mit ihnen nicht dazu gebracht werden konnten, ihres Unglücks halber dass liebliche Gesang einzustellen."7 Offenbar ist der liebliche Ort zweierlei: Gegenbild zur Wirklichkeit, das die Erinnerung daran wachhält, wie es sein soll, und mitleidlose Idealisierung, die das Geschrei der Opfer ignoriert. Der liebliche Ort im Simplicissimus Teutsch ist immer schon - das zeigt die Einsamkeit des Einsiedlers, die auf der Flucht vor kriegerischer Gewalt beruht - Resultat der schrecklichen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit dringt in die letzten Reservate des Unverfugbaren ein, indem sie das Geheul der Wölfe dem Gesang der Nachtigall vorzieht. Wenn Simplicius aufbricht, um mit der unbekannten Schönen auch den lieblichen Ort in Besitz zu nehmen, vollzieht er die Eroberung nach, deren Opfer er selbst zu Beginn der " 46 47
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 7, 396, 3 - 8, 398, 10. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 7, 23, 6 - 25, 1. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 5, 20, 8-13.
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Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
Erzählung war. Er ignoriert, daß die Nachtigall nur schön singt, wenn sie ungestört bleibt. Nicht, daß Simplicius den schönen Ort schön findet, ist der Fehler, sondern daß er ihn erobern und besitzen will. Die disharmonische Mitleidlosigkeit der Nachtigall stand im ersten Buch für ein Idyll, das sich im Besitz seiner selbst unempfindlich gegen die Unterwerfung der Natur und die Ausbeutung der Menschen macht. Als Beutestück wird der Nachtigallengesang zur Erkennungsmelodie derer, die mit den Wölfen heulen. Der Kitsch des Phantasten im fünften Buch ist die Kehrseite der zupackenden Wirklichkeit, in der gehandelt und gemarktet wird. Die Zerstörung des lieblichen Ortes durch seine Inbesitznahme wird Simplicius dann auch sehr schnell vor Augen geführt. Das Luftschloß des Träumers verflüchtigt sich, als das reale Projekt es in den besten Baurn-Hof in dieser Gegend verwandelt, den Simplicius erwiibt, um ihn als Ehemann mit der unbekannten Schönen zu beziehen. Doch der Handel schlägt fehl, denn die neue Wohnstätte soll dem Helden alles zugleich bieten: einen geruhigen Herren-Handel, aber auch die Nachbarschaft zum belebten Sauerbrunnen / da du wegen der zu- und abräisenden Bad-Gäst gleichsam alle 6. Wochen ein neue Welt sehen / und dir dabey einbilden kannst / wie sich der Erdkräis von einem Saeculo zum andern verändert. Die chronotopische Unlogik des Vorhabens besteht in der Verbindung literarisch vermittelter Welten mit den Realitäten agrarischer Ökonomie, der Verknüpfung von beschaulicher Abgeschiedenheit mit der großen weiten Welt, ähnlich der zeitgenössischen Reiseliteratur. Die Absurdität, mit der hier Literatur und prosaische Realität vermischt werden, emanzipiert die Lektüre von der Abhängigkeit an beide. Unversehens gerät das Leben des Simplicius mit seiner neuen Ehefrau zur Parodie auf das ländliche Idyll konventioneller Schäferliteratur. Die Reinheit des geliebten Wesens erweist sich genauso als Trug wie die Vorstellung, man könne die Haußhaltung allerdings ein gut Jahr haben lassen und sich zugleich behaglichen Wohlstandes erfreuen. Als das 'gute Jahr' ein Ende hat - so erfahrt der Leser nach der Begegnung des Simplicius mit dem Knan und der Reise in den Spessart - befindet sich der Bauernhof zwar noch am selben Ort, doch längst nicht mehr auf derselben ökonomischen Höhe. Simplicius hat inzwischen zwei außereheliche Nachkommen, während die vormals attraktive Frau sich und ihr Kind zu Tode getrunken hat.48 Indem die Erzählung zwischen Beginn und Scheitern von Ehe und Haushaltung die Begegnung mit dem Knan einfugt, stellt sie der illusorischen Ökonomie des Simplicius das Kontrastmodell einer bescheidenen, aber erfolgreichen Haushaltung entgegen. Dieses Modell, das im ersten Buch Gegenstand einer ironischen Schilderung und der Zerstörung durch kriegerische Zeitläufte gewesen war, wird auf dem Schwarzwaldhof des Simplicius nun durch Meüder 48
Vgl. Simplicissimus
Teutsch V, 9, 403, 10 - 404, 28.
Rückfrage als Revision der Geschichte
383
und Knan zum zweiten Mal realisiert.49 Sie gießen die bisherige grosse Haußhaltung, die mit vielem Viehe und Gesind beladen war, gleich in einen andern Model, indem sie sich auf das ökonomisch Naheliegende und Nützliche einschränken. Dabei hat der Grund, auf dem der Hof steht, dem Feld-bau zu dienen. Die Gemarkung wird lediglich überschritten, um mit Viehe und mit dem Holtz- und Hartz-Handel sowie mit dem Milchpfennig für finanzielle Liquidität zu sorgen. Beschränkung auf das gegebene Terrain verbindet sich mit einem vorteilhaften sparsamen Handel, so daß über die täglichen Bedürfnisse hinaus ein Vorrath fiir die Zukunft geschaffen werden kann. Die Grenzen des Hofes werden in dieser näheren Betrachtung der ländlichen Ökonomie als Selbstbeschränkung des Handelns greifbar, das seinen Spielraum nur soweit ausdehnt, wie es die Sicherung des Bestandes erfordert. Bewegung und Beharrung finden einen Ausgleich, der solange für Stabilität sorgt, wie die Grenzen nicht durch einen Eingriff von außen durchbrochen werden. Damit wird die ländliche Selbstbeschränkung zum Kontrastmodell auch für den Eroberungsgestus, der die militärischen und ökonomischen Projekte kennzeichnet. Der Simplicissimus Teutsch etabliert in historisch immer greifbareren Konturen eine Gegenbewegung zum Geschichtsverlauf. Diese Gegenbewegung vollzieht der Roman, indem er am Ende auf seinen Anfang zurückgreift und die Figuren des Beginns, Knan und Meüder, in die oberrheinische Nachbarschaft des Helden Simplicius und des Autors G R I M MELSHAUSEN einwandern läßt. Die retrospektive Ich-Erzählung wird zur Rückfrage nach ihren eigenen Ursprüngen. Es stellt sich heraus, daß diese Ursprünge niemals voraussetzungsloses Idyll waren. Sie sind vielmehr bedingt durch komplexe historische und geographische Voraussetzungen, die ihrerseits in den teils widersprüchlichen Antworten auf die erzählerische Rückfrage ihr poetologisches Korrelat finden. Geschichte gewinnt erst Kontur durch ihren erzählerischen Nachvollzug: Geschichte ist nur dort, wo sie jeweils als eigene Vorgeschichte erinnert oder rekonstruiert wird.50 In der Retrospektive bestimmt sich der Beginn auf dem abseits gelegenen Bauernhof durch seine Grenzen zu den kriegerischen Vorgängen in der Ebene, die auch ihn erreichen und die Integrität seiner Grenzen zerstören. Auch der Anfang ist gegen anderes durch Grenzen konturierbar und damit anderem gegenüber sekundär. Der Unübersichtlichkeit des zeitgenössischen Terrains entspricht die Vielschichtigkeit der textuellen Romanlandschaft. Ursprünge sind hier nicht Gegenstand ideologischer Sinnstiftung oder identifikatorischer Wirklichkeits-Illusion, ihre distanzierte Rekonstruktion erlaubt vielmehr erst, den komplizierten Verlauf der Geschichte räumlich und zeitlich zu strukturieren. Mithin erweist sich die anfangliche Reduktion auf das Elementare als 49 50
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 10, 404, 30 - 405, 31. Vgl. LUDWIG LANDGREBE, "Lebenswelt und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins": Phänomenologie und Marxismus 2: Praktische Philosophie, hg. von BERNHARD WALDENFELS u.a., Frankfurt am Main (Suhikamp Tb. Wissenschaft 196) 1977, 13-58, hier 55.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
Methode der Rekonstruktion, in der das Komplexe, Sekundäre in seinen Konturen deutlicher wird. Die Rekonstruktion hat ein Höchstmaß an Abstraktion aufzubieten, da das Unmittelbare über sich selbst keine Auskunft gibt. Der grundlegende Widerspruch der phänomenologischen Reduktion, die jene anschauliche Unmittelbarkeit niemals erreicht, die sie erstrebt, wird zum methodischen Gewinn." Die Erkenntnis, daß Künstlichkeit und Geschichte, grenzziehende und grenzüberschreitende Bewegung, schon vor allen erzählbaren Anfangen und Ursprüngen ist, bestimmt auch die Handlungsform des Bauernhofes, die von der Erzählung immer genauer konturiert wird. Die Beharrung innerhalb der Grenzen, die vom agrarischen Wirtschaften vorgegeben werden, läßt sich ja nicht als selbstverständliches In-sich-Ruhen verstehen. Durch den Handel hat auch der Bauernhof einen, wenn auch begrenzten, Anschluß an den Markt. Beharrung ist bereits eine Reaktion auf den Fortschritt, den sie zu ihrer Ursache hat. Das physikalische Prinzip der Beharrung, wie es im 17. Jahrhundert entdeckt wurde, beruht auf der Erkenntnis des Mit- und Gegeneinanders von Ruhe und Bewegung, wodurch die antik-mittelalterliche Vorstellung von der Ruhe als natürlichem Zustand abgelöst wurde. Im Gegenteil: wenn Ruhe und Unruhe, Beständigkeit und Unbeständigkeit gleichzeitig in der Welt vorkamen, dann wurden Ruhe und Beständigkeit zur bestaunenswerten Ausnahme.52 Die Beharrlichkeit, mit der Knan und Meüder auf dem oberrheinischen Bauernhof des fünften Buches an ihre Arbeit gehen, bezeichnet schon die mühevoll gehaltene Grenze gegen die Dynamik der zerstörerischen Enteignung, die sich jenseits der begrenzenden Hügelkette auf der Ebene der militärischen Transaktionen abspielt. Durch diese Grenzziehung erhält der Ort des durch die wechselvolle Geschichte beharrenden Ursprungs eine kritische Funktion gegen die potentiell unbegrenzte Bewegung, mit der die Militärs des 17. Jahrhunderts ihre Fortschritte machen. Der Gesichtskreis des Bauernhofes stellt ein Moment der Kontinuität und Widerständigkeit in der Romanlandschaft dar. Nicht zufällig verläuft die Rückfrage der Erzählung nach ihren Ursprüngen gegen den anscheinend unaufhaltsamen Zeitsinn der Geschichte, denn durch die Umkehrung der Fragerichtung läßt sich diese Geschichte gegen ihren Strich lesen. Indem die Erzählung den Leser dazu bringt, am Schluß an den Anfang zurückzukehren, läßt sie die schrittweise Horizonterweiterung des Helden noch einmal Revue
Vgl. PAUL RJCŒUR, "Rückfrage und Reduktion der Idealitäten in Husserls Krisis und Marx' Deutscher Ideologie": Phänomenologie undMarxismus 3 , 2 0 7 - 2 3 9 . Vgl. DIETRICH SCHWANITZ, "Verselbständigung von Zeit und Strukturwandel von Geschichten, Zum Zusammenhang zwischen temporalem Paradigmawechsel und Literaturgeschichte": Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachtheorie, hg. von H A N S - U L R I C H GUMBRECHT und URSULA LINK-HEER, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1 9 8 5 , 8 9 - 1 0 9 , hier 96.
Rückfrage als Revision der Geschichte
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passieren und kehrt zugleich die Perspektive des Lesers gegen diese Entwicklung. Damit folgt der Romanverlauf einer Entwicklungslogik, die von einem phänomenologisch erschlossenen Ausgangspunkt Geschichte nachvollziehbar werden läßt.53 Am Anfang steht der einsame Bauernhof, der in der Perspektive des Kindes die ganze Welt ausmacht und den Handlungshorizont der Bauersleute bedeutet. Diese begrenzte Perspektive erweist sich als trügerisch, denn die Eroberung durch fremde Soldaten zeigt, daß das ländliche Randgebiet von einer übergeordneten und einstweilen überlegenen Geschichte betroffen ist. Natur, so zeigt sich, ist im menschlichen Horizont immer schon ein kulturelles und historisches Phänomen. Die ersten Schritte des Helden in die Welt konfrontieren ihn mit dieser wechselseitigen Abhängigkeit. Seine Begegnung mit dem Knan im fiinften Buch macht ihm darüber hinaus deutlich, daß bereits seine Geburt unter den Bedingungen des Krieges, der Geschichte mithin, stand. Durch diese historische Logik wird auch die Textlandschaft als Terrain von Eroberung und Rückzug zum historischen Raum. Doch mit der Überführung von Geschichte in Erzählung nutzt der Roman seine fiktiven Möglichkeiten, um das historische Handeln als Wechselspiel von Besitzergreifung und verlogener Idealisierung der unterworfenen Natur zu kennzeichen. Der locus amoenus als literarischer Ort wird zur poetischen Laborsituation, in der die illusorischen Voraussetzungen der Naturbeherrschung deutlich werden. Die Natur verstummt auf der Folter. Von hier aus schafft sich die Erzählung ihren Angelpunkt, um die ländliche Selbstbeschränkung als Möglichkeit zu konturieren, die eine Chance hätte, wenn der Geschichtsverlauf real revidiert würde. Selbstbeschränkung meint hier nicht mehr Borniertheit gegen Geschichte, sondern den Respekt gegen Mensch und Natur, der dem eigenen Handeln die natürlichen Grenzen vor Augen führt. Damit stellt sich die Erzählung gegen die historische Logik, die sie nachvollzieht. In diesem Sinne wird die Rückfrage nach dem eigenen Beginn zu einer Form der erzählerischen Revision des Geschichtsverlaufs. Gegen die Bewegung der Geschichte, die alles Abseitige und Rückschrittliche an ihren Rändern einebnet, beharrt die Erzählung auf der Wirklichkeit ihrer Ursprünge im Kleinen und Begrenzten.
Vgl. zur Entwicklungslogik der Zeitformen in einem anderen Text Grimmelshausens CORDIE, "Formen der Zeit in Grimmelshausens Ewig-währendem Calender, Zur Logik ihrer gesellschaftlichen Entwicklung".
Offener Erwartungshorizont und geschlossener Erfahrungsraum: Simplicius, die Ruine Gelnhausen und die Festung Hanau Wer noch einmal bis zum ersten Buch zurückblättert und auf den hilflosen Jungen stößt, der im Wald seinem Geschick überlassen wurde, bemerkt vielleicht, daß es eine Rückfrage nach der Vergangenheit geben mag, aber keine Rückkehr zu ihr. Auch die Beharrung auf dem Gegebenen kann sich dem Kommenden auf Dauer nicht entziehen. Mag der Aufenthalt in der Einsiedelei dem Helden noch eine vorübergehende Zuflucht bieten, so wird doch auch dieses Domizil nach dem Tod des Einsiedels von Soldaten heimgesucht und geplündert. Der junge Simplicius sieht seine bescheidene Vorratswirtschaft für den kommenden Winter zerstört und sich selbst dadurch mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert. Die Frage nach der kommenden Zeit wird zugleich zu einer Frage nach der einzuschlagenden Richtung : Wo nun hinauß?' Die Frage des Knaben schafft einen offenen Erwartungshorizont, der durch seine folgenden Schritte sukzessiv eingeholt wird.2 Denn der vorsorgliche briefliche Rat des Einsiedels, im gegebenen Falle den Wald zu verlassen, um sich und den Pfarrer auß gegenwärtigen Nöthen zu befreien, läßt sich nicht sofort umsetzen. Da der Erfahrungsvorrat, den die Vergangenheit dem Jungen hinterläßt, mit diesem Dokument beinahe erschöpft ist, macht Simplicius sich auf einen recht unspezifischen Weg /Menschen zu suchen.3 Bislang hatte die Erfahrung der vergangenen Jahre zur Vorsorge für das kommende ausgereicht, weil die beschränkte Welt der Waldeinsamkeit von der zuverlässigen Wiederholung der Jahreszeiten geprägt war. Der unvorhersehbare Eingriff der Soldateska hat diese Zuverlässigkeit zerstört, so daß Simplicius sein Erfahrungsdefizit nur durch den Kontakt mit anderen Menschen ausgleichen kann. Die Erlebnisse auf seinem Weg decken sich indes zunächst nicht mit der Erwartung, auf Menschen zu treffen. Zwei Tage lang setzt Simplicius seinen geraden Weg fort, ohne einem Menschen zu begegnen. Er folgt der bereits bewährten Technik, zieht sich in einen holen Baum zurück, als ihn die Nacht 'ergreift', und lebt von Buchen. Auch als sich die schützende Umgebung des Waldes zur Ebene öffnet, findet er immer noch keine Menschen:
1 2
3
Simplicissimus Teutsch I, 15, 43, 14. Ich profitiere hier terminologisch von einem Begriffspaar bei REINHART KOSELLEK, '"Erfahrungsraum' und 'Envartungshorizont' - zwei historische Kategorien": Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 757) 1989, 349375. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 18, 51, 30 -1, 18, 52, 6.
Menschenleere Landschaft als historischer Raum
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[...] den dritten Tag aber käme ich ohrtweit Gelnhausen auff ein zimlich eben Feld / da genösse ich gleichsam eines Hochzeitlichen Mahls / dann es lag überall voller Garben auff dem Feld / welche die Bauren / weil sie nach der nahmhafften Schlacht vor Nördlingen verjagt worden / zu meinem Glück nicht einführen kön[65] nen [...].4 Der Held ist, wiewohl sich seine eigene Situation grundsätzlich noch gar nicht geändert hat, mit dem Schritt in die Ebene in einen anderen Chronotopos eingetreten, denn die geographische Unbestimmtheit der Waldeinsamkeit ist einem topographisch und historisch lokalisierbaren Schauplatz gewichen. Seine räumliche Bestimmung erfährt dieser Schauplatz durch die Nähe der Stadt Gelnhausen, während sich die Zeit aus dem Termin der namhafften, d.h. literarisch dokumentierten, Schlacht bei Nördlingen (am 6. September 1634) ergibt. Um diese raum-zeitlichen Parameter angeben zu können, wechselt der Erzähler, der zuvor den beschränkten Blickwinkel des erlebenden Helden eingenommen hatte, zur Einordnung des Einzelerlebnisses in größere Zusammenhänge. Der Raum der Handlung, der sich durch den auf Zukunft gespannten Erwartungshorizont des Helden geöffnet hatte, wird von den Erfahrungsdaten des retrospektiv Erzählenden wieder eingegrenzt. Diese Daten entstammen sowohl der erfahrenen als auch der schriftlich vermittelten Geschichte. Die Historie bestätigt, was der erlebende Held aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit Plünderungen vermuten konnte, daß die Menschenleere des Feldes auf militärische Ereignisse zurückzufuhren ist. Jedenfalls findet er in der menschenleeren Umgebung Gelnhausens nicht mehr rein naturwüchsige Nahrungsmittel - wie etwa Bucheckern -, sondern die Resultate menschlicher Arbeit vor. Wenn der Erzähler von einem 'hochzeitlichen Mahl' spricht, das Simplicius mit dem gefundenen Getreide hält, ist dabei nicht nur an die unverhoffte Fülle der Nahrungsmittel zu denken, sondern auch an die indirekte Vergesellschaftung mit den Produzenten der Lebensmittel, die zwar abwesend, doch mit den Produkten ihrer Arbeit zugleich präsent sind. Sowohl ihre Abwesenheit als auch ihre indirekte Präsenz sind den verschiedenen, ökonomischen und militärischen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens geschuldet, in das der Held einzutreten im Begriff ist. Obwohl er allein ist, befindet sich Simplicius in einem Raum, der von menschlicher Gesellschaft und ihrer Geschichte strukturiert wird. Dies wirft ein neues Licht auf die angeblich barocktypisch stilisierten Landschaften im Simplicissimus Teutsch. Aus dem Verzicht des Erzählers auf ihre beschreibende Zurichtung wird ja oft gefolgert, daß die Landschaften im Roman ohne eigene Funktion seien und reinen Anlaßcharakter5 für die Ver' 5
Simplicissimus Teutsch I, 18,52,9-15. Vgl. ALBRECHT KOSCHORKE, Die Geschichte des Horizonts, Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfijrt am Main (Suhrkamp) 1990, 99-102.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
mittlung eines ihnen fremden spirituellen Sinnes hätten. Die Autopsie vor Ort belegt das Gegenteil. Der Raum, den Simplicius hier betritt, steht nicht fur eine Transzendenz außerhalb der Geschichte und ihrer Erzählung. Er soll nichts anderes vermitteln als die Erfahrung, die der Held gerade hier und jetzt, an diesem Ort und zu dieser Zeit, machen kann. Weder der Held noch die Welt, in der er sich bewegt, sind zeitlose Repräsentanten einer überzeitlichen Sinnebene. Vielmehr wird die Konstellation von Raum und Zeit, in die Simplicius auf seinem Weg nach Gelnhausen eintritt, von bestimmten Konstellationen innerhalb der Gesellschaft hervorgerufen. Simplicius profitiert von zwei gegenläufigen Bewegungen innerhalb dieser Gesellschaft, und die zwei Verben, mit denen die vorausgegangenen Handlungen beschrieben werden - einführen und verjagen - deuten auf zwei Handlungsformen, die in ihrem Widerstreit die von Simplicius vorgefundene Situation herbeigeführt haben. Die eine Handlung, das jahreszeitlich obligatorische Einführen der Ernte, deutet auf die Verläßlichkeit der zyklischagrarischen Handlungsform. Die vorhersagbaren Vorgänge werden von den militärischen Aktionen jäh unterbrochen, indem die Bauern bei ihrer üblichen Arbeit aufgestört und verjagt werden. Diese zweite Handlungsform ist eine der Herrschaft, was poetologisch sein Korrelat darin findet, daß erst der arrangierende Erzähler Zugriff auf den Index der historischen Ereignisse hat. Der erlebende Held hingegen ist wie die bäuerliche Bevölkerung den Zeitläuften hilflos ausgesetzt, als handelte es sich um Naturereignisse. Das läßt den Erzähler vom Glück des Helden sprechen, der unverhofft reiche Nahrung vorfindet. Doch beruht das Glück des Vaganten auf dem Unglück der verjagten Bauern. Von einer durch die Personen nicht zu kontrollierenden Ebene her werden die Karten des Geschicks stets neu gemischt, so daß in die Handlungen ein Element der Unbeständigkeit und Unplanbarkeit eintritt. Diese Ebene wird im Roman durch die übergeordnete Instanz des Erzählers vermittelt. Das heißt nun nicht, daß die Erzählung die höhere Ebene der politischhistorischen Ereignisse gegenüber der Perspektive der Betroffenen privilegiert. In der Inkonsistenz der Erzählerebene wird vielmehr ihre Zweifelhaftigkeit manifest. Zwar verfügt der Erzähler über die nötigen Informationen, um Glück und Unglück als Folgen politischer Handlungen zu begreifen, doch macht er sich die Perspektive der Figuren zu eigen, die ihre jeweilige Situation als Glück oder Unglück erleben. Je nach Interessenlage können die Ereignisse unterschiedlich gedeutet und bewertet werden. Dieses Mißverhältnis zwischen der beschränkten Perspektive des Helden und dem Überblick des Erzählers bestimmt auch die nächsten Schritte des Helden. Indem die Erzählung diese Schritte nachvollzieht, setzt sie sich gleichzeitig mit instrumentellen allegorischen Formen auseinander, die im Handeln des einzelnen immer nur das Exempel für einen höheren Sinn erblicken, der diesem einzelnen
Ruine Gelnhausen: Allegorie, emblematisierendes Bewußtsein
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selbst dunkel bleibt.6 Schrittweise gewinnt der Held im Simplicissimus Teutsch jedoch Erkenntnisse, die das instrumentell-allegorische Schema in Frage stellen. Wenn des einen Glück des anderen Unglück sein kann, dann ergibt sich kein höherer Sinn, sondern lediglich die Bedeutung konkreter Ereignisse aus konkreten Perspektiven. In dem Maße, in dem sich der Erwartungshorizont des Helden in einen Erfahrungsraum verwandelt, kann er sein eigenes Glück als Unglück der anderen begreifen. Dies geschieht, als Simplicius nach Gelnhausen hineinkommt. Wieder sind es ungewöhnliche Umstände, die ihm den Weg erleichtern, denn er findet daselbst die Thor offen. Die Stadt öffnet sich ihm als Bühne, die seiner Beobachtung freien Zugang gewährt. Was zunächst sein Glück zu sein scheint, stellt sich als Unglück Gelnhausens heraus. Und von diesem Unglück ist der Held nun selbst betroffen, da er - entgegen seiner Absicht, Menschen zu suchen - nun keines lebendigen Menschen gewahr werden kann.7 Die ausgestorbene Stadt scheint auf den ersten Blick zu bestätigen, was die Forschung über die allegorische Landschaft im Simplicissimus Teutsch behauptet, daß nämlich die Phänomene nicht in ihrem natürlichen Zusammenhang erscheinen, sondern um höherer Bedeutung willen zu einem künstlichen Raum arrangiert werden. Hier handelt es sich ja nicht um Alltagsnormalität, sondern um ein Ensemble gewaltsam zugerichteter Requisiten, die anscheinend etwas bedeuten sollen. Dem Wanderer bietet sich die Ruine Gelnhausens dar wie die Szenerie eines barocken Trauerspiels, als erschröcklich Spectacul vor bedeutungslos gewordener Kulisse. Die Gassen liegen hin und her mit Todten überstreut. Auf kleinstem Raum ist hier versammelt, was in WALTER BENJAMINS Ursprung des deutschen Trauerspiels die barocke Allegorie kennzeichnet: die Ruine, die Leiche als Emblem, die zerstückelte und mortifizierte Natur, die in ihrer Zerstörung einen neuen Sinn freigibt.8 Und deshalb scheint sich auch die Rede von der Bedeutungslosigkeit der empirischen Phänomene angesichts eines transzendenten höheren Sinns zu bestätigen, die nach der communis opinio der GRiMMELSHAusEN-Forschung die allegorische Landschaft im Simplicissimus Teutsch kennzeichnet. Der Raum des Geschehens scheint ein barocker Handlungsraum zu sein, ein instrumentell-allegorisches Arrangement zur Belehrung des Helden und des Lesers. ' 7
*
Zur instrumenteilen Allegorie vgl. meine Ausführungen über den barocken Handlungsraum im ALBERTiNus-Kapitel. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 19, 52, 19-29. Vgl. WALTER BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. von ROLF TIEDEMANN, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 2 2 5 ) 1 9 7 8 , 1 5 5 - 1 6 7 . Zur Geistes- und kunstgeschichtlichen Rolle der Ruine in der Frühen Neuzeit vgl. PAOLO ROSSI, "Das Altern der Welt und die 'große Ruine' in der Neuzeit": Die sterbende Zeit, Zwanzig Diagnosen, hg. von DIETMAR KAMPER und CHRISTOPH WULF, Darmstadt und Neuwied (Sammlung Luchterhand 7 2 4 ) 1 9 8 7 , 34-49.
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Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
Die Erzählung geht indes ihren eigenen Weg durch die allegorische Totenlandschaft, indem sie den Schritten ihres Protagonisten folgt, der ratlos umherirrt und nach der Bedeutung des Spektakels fragt, da seine Einfalt noch nicht ersinnen kann, was vor ein Unglück das Ort in einen solchen Stand gesetzt haben könnte. Die Rückfrage des Helden findet jedoch vor Ort keine Antwort. Entscheidend bleibt einstweilen, daß der Held nach der Bedeutung der Dinge fragt, diese Bedeutung jedoch nicht abstrakt jenseits der Phänomene vermutet, sondern als Ursache, die den Stand der Dinge hervorgerufen haben könnte. Der Held fragt nicht, welchen tieferen moralischen oder religiösen Sinn das schreckliche Spektakel haben könnte, er ist vielmehr am Schicksal der Stadt und der Menschen selbst interessiert, deren Unglück er ja vor Augen hat. Damit initiiert die Erzählung ein emblematisierendes Bewußtsein des Helden, der einer Bedeutung auf der Spur ist, die die Menschen und Dinge vor seinen Augen selbst freigeben könnten.9 Zugleich aber steht er abstrakten politischen Verhältnissen gegenüber, die sich einer sinnliche Anschauung nicht unmittelbar erschließen. Erst mit zunehmender Erfahrung eröffnen sich dem Helden die größeren Zusammenhänge, die für die Zerstörung der konkreten Menschen und Dinge verantwortlich sind. Der Bruch zwischen der unmittelbaren sinnlichen Anschauung und ihrer Deutung wird von der Erzählung als zeitlicher Verzug markiert. Der Erzähler fugt die Deutung, die einstweilen mit dem Erleben des Helden unvermittelt ist, aus seinem größeren Wissenshorizont hinzu: Ich erführe aber ohnlängst hernach / daß die Kaiserliche Völker etliche Weymarische daselbst überrumpelt,10 Die Erzählung erinnert an die Form des Emblems und reagiert damit auf die Widersprüche des emblematisierenden Bewußtseins, das nach der unmittelbaren Bedeutung der vorderhand liegenden Dinge fragt, doch diese Bedeutung erst in anderen Zusammenhängen ermitteln kann. Das Emblem ist ja gekennzeichnet von einem Bruch zwischen der anschaulichen pictura, dem Bild der Dinge, und ihrer Deutung durch die subsriptio, die Unterschrift, die den Dingen fremd ist, obwohl sie behauptet, die in ihnen liegende Bedeutung zu offenbaren. Auch in der Erzählung vom Weg des Helden durch Gelnhausen folgt auf das Bild der zerstörten Stadt eine deutende Bildunterschrift durch den Erzählerdiskurs, der Informationen anfuhrt, die dem Helden zum bewußten Zeitpunkt nicht zu Gebote stehen. Doch geht die Erzählung noch weiter in der Auseinandersetzung mit den allegorischen und emblematischen Formen und ihrem instrumentellen Gebrauch. Denn die durch die Unterschrift gegebene Deutung ist überraschend und untypisch, weil hier die Bedeutung der Geschehnisse offenkundig in der 9
10
Vgl. ULRICH GAIER, "Emblematisches Erzählen bei Grimmelshausen": Simpliciano 12 (1990) 351-391, hier 374. Bei GAIER wird allerdings die Differenz zwischen der Ideologie des Emblems und den emanzipatorischen Aspekten des emblemastisierenden Bewußtseins nicht recht deutlich. Simplicissimus Teutsch I, 19, 52,29/30.
Ruine Gelnhausen: Allegorie, emblematisierendes Bewußtsein
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politisch-militärischen Produktion von Bedeutungslosigkeit liegt. Die Erzählung reflektiert sowohl die Form, in der den Dingen ein ihnen fremder Sinn aufgezwungen wird, als auch die historischen Verhältnisse, die eine solche zwanghafte Form hervorbringen. Wenn - nach W A L T E R BENJAMIN - Willkürherrschaft über Dinge11 das Wesen der barocken Allegorie ausmacht, dann ist die willkürliche Zerstörung der Dinge durch die zeitgenössische Kriegstechnik die Exekution des ihr zugrunde liegenden Prinzips. Das kulissenhafte Lokal und das in erstarrter Pose verharrende Personal sollen keinen höheren Sinn veranschaulichen, demgegenüber sie selbst wertlos wären. Sie sind vielmehr Ergebnisse historischer Vorgänge, die den Eigenwert der Menschen und Dinge mißachten und damit ihre Wertlosigkeit gewaltsam herbeiführen. Gegen diese Mechanismen wendet sich die Erzählung durch die Konfrontation des Helden mit der Ruine Gelnhausen.12 Die emblematische Folge von Erleben und Einordnen, von Beschreiben und Deuten, die als Sinn des Geschehens hier lediglich Zerstörung von Sinn aufspürt, entlarvt das instrumenteile Denken, das allegorische und emblematische Formen des Barock beherrscht. Die barocke Bildlichkeit wird selbstreflexiv. In der allegorischen Mortifikation des Lebendigen, der Leiche als Emblem,13 werden die gewaltsamen Konsequenzen jenes Denkens manifest, das in dem einzelnen unverwechselbaren Menschen und in dem einzelnen unverwechselbaren Ding lediglich Exemplare eines generalisierbaren Typus erblickt. Vor der Kulisse Gelnhausens hat sich die kaiserliche Armee mit der Zerstörung des Lebendigen ein sinnfälliges Spectacul geschaffen, das den inneren Zusammenhang der zeitgenössischen künstlerischen und technischen Verfahren offenlegt. Die In-Dienst-Nahme der Dinge für einen ihnen fremden Zweck, die das Wesen der instrumenteilen Allegorie und der Kriegstechnik ausmacht, verleiht den Dingen keinen höheren Sinn, sie nimmt ihnen vielmehr jeden Eigensinn und Eigenwert. Deshalb kann die deutende Unterschrift der Ereignisse in unserer Passage auch nicht den Anspruch einlösen, den zeitlos-allgemeinen Sinn des Geschehens zu enthüllen, sie entlarvt vielmehr die zeitlose Statik der instrumentellen Allegorie als Ergebnis gesellschaftlicher Dynamik. Es gibt keine hierarchisch höhere Ebene, von der her das Geschehen mehr Sinn hätte, als der Erfahrungszugewinn des in das Geschehen Verstrickten enthüllen kann. Die sukzessive Einholung des Erwartungshorizontes durch den Erfahrungsraum der zerstörten Stadt und die nachträgliche Erklärung der Ereignisse durch die Logik der militärischen Frontenbildung schaffen das alternative Modell eines Vgl. BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels 2 0 9 . Ich folge hier dem Versuch, eine materialistische Fundierung des Allegone-Begriffs in Anschluß an WALTER BENJAMIN ZU geben, wie er vorliegt bei HARALD STEINHAGEN, "ZU Walter Benjamins Begriff der Allegorie": Formen und Funktionen der Allegorie, Symposion Wolfenbüttel 1978 = Germanistische Symposien 3, hg. von WALTRER HAUG, Stuttgart (Metzler) 1979. 666-685. Vgl. BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels 193/194.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
emblematisierenden Bewußtseins, das der Unendlichkeit der Phänomene keinen letzten Sinn abzugewinnen weiß, wohl aber versucht, die Widersprüche zu benennen, die zum Mißverhältnis zwischen Erwartung und Erfahrung führen. Die Erzählung erinnert an die Form des Emblems, wenn sie den für sich zunächst unverständlichen Phänomenen eine Erklärung nachfolgen läßt. Diese Erklärung jedoch führt in die Deutung den Zeitaspekt ein, den das einzelne Emblem gerade auszuschalten vorgibt. Die Phänomene bergen in sich keine geschichtslose Wahrheit, die Wahrheit der Phänomene liegt im Gegenteil gerade in ihrer Geschichtlichkeit. Gekennzeichnet wird die Form des Emblems durch die unüberbrückbare Trennung zwischen dem Bild und der Unterschrift, die das Bild zu erklären vorgibt. Der Bruch zwischen den abgebildeten Phänomenen und ihrer Deutung ist Ausdruck des Bruchs zwischen der Deutungskompetenz des einzelnen und den Phänomenen, die seine Deutung niemals einholen wird. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Erzählpassage, die hier auf die literarische Tradition des barocken Trauerspiels mit seiner emblematischen Redeweise zurückgreift, zugleich die Qualität einer kritischen Stellungnahme zu dieser Tradition.14 In der Erkenntnis ihrer eigenen Insuffizienz wird die emblematische Deutung der Bilder zur Kritik an einer Ideologie, die Deutbarkeit und Beherrschbarkeit der Bilder und damit der Phänomene behauptet. Erst in der Konfrontation mit der Widerständigkeit der Phänomene, die sich den Projektionen und Erwartungen immer wieder entziehen, werden die Grenzen eines Bewußtseins deutlich, das auf die Dinge Bedeutungen projiziert. Der Grad an Widerständigkeit, die den Erwartungen von den Erfahrungen entgegengesetzt wird, folgt jedoch keinem allgemeinen, zeitlosen Gesetz, sondern ergibt sich selbst wieder aus der historischen Situation, die die Phänomene hervorbringt. Damit markiert das Mißverhältnis zwischen der Erwartung des Helden, auf Menschen zu treffen, und der zunehmend enttäuschenden Erfahrung von Tod und Zerstörung den Status, den Erwartung und Erfahrung in der historischen Situation des 30jährigen Krieges zwangsläufig annehmen müssen. In einer agrarischen Gesellschaft stimmen Erfahrung und Erwartung durch die Wiederkehr der Handlungen weitgehend überein, doch in Kriegszeiten entsprechen die Zyklen der agrarischen Ökonomie nicht mehr den Zeitformen der Herrschenden, deren kriegerische Unternehmungen auf Überraschung und Plötzlichkeit basieren.15 Noch die hilflose Gegenwehr der Zum emblematischen Moment im Barockdrama vgl. ALBRECHT SCHÖNE, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München (Beck) 3 1 9 9 3 ; STEINHAGEN, Wirklichkeit und Handeln 2 0 7 - 2 1 3 ; ALEXANDER VON BORMANN, "Emblem und Allegorie, Vorschlag zu ihrer historischsemantischen Differenzierung (am Beispiel des Reyens im humanistischen und barocken Drama)": HAUG, Formen und Funktionen der Allegorie 5 3 5 - 5 5 0 . Zum emblematisierenden Bewußtsein als Stellungnahme zur Tradition der Emblematik vgl. GAIER, "Emblematisches Erzählen bei Grimmelshausen" 356. Vgl. KOSELLEK, '"Erfahrungsraum' und 'Erwartungshorizont'" 3 6 0 / 3 6 1 .
Festung Hanau: Landschaft als Sperrgebiet
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Bevölkerung Gelnhausens, die ihre Thor zuletzt mit Mist verschantzt hatte, deutet auf die Unterlegenheit landständischer Beharrung hin, die sich der fortschreitenden kriegerischen Dynamik ergeben muß. Erwartung und Enttäuschung, die GEULEN als konstituierende Strukturmerkmale der Erzählung ausmacht, sind also nicht Ausdruck eines festliegenden Weltbildes auf der Erzählerebene, sondern Faktoren der Wirklichkeit, die sich die Erzählung aneignet.16 Es gibt kein von den Dingen unabhängiges Sein, das nach der Beseitigung jedes trügerischen Scheins ein ein für allemal verläßliches Wissen ermöglichte, vielmehr besitzen nur die Dinge selbst Wirklichkeit. Der Simplicissimus Teutsch hat keine Lehre, er exemplifiziert nicht einfach ein von vornherein festliegendes Schema von Schein und Sein, von engaño und desengaño, er problematisiert vielmehr solche Deutungsschemata angesichts einer komplexen Wirklichkeit.17 Dadurch überfuhrt der Simplicissimus Teutsch den barocken Handlungsraum, der den Bewegungen des einzelnen einen von vornherein festliegenden Sinn zuschreibt, in einen historischen Erfahrungsraum, der durch den sukzessiven Erfahrungszugewinn des Helden, durch das Wechselspiel von Erwartung, Erfahrung und Enttäuschung, geprägt ist. Die simplicianische Umformung des heroisch-allegorischen Lokals nimmt der dargestellten Gewalt alle Erhabenheit.18 Sie zeigt ihren Helden durchaus nicht geneigt, das kriegerisch inszenierte Spektakel länger als unbedingt nötig zu betrachten, da aus ihm schlechthin nichts zu lernen und keine Erbauung zu ziehen ist: Kaum zween Steinwiltff weit kam ich in die Statt / als ich mich derselben schon satt gesehen hatte / derowegen kehrete ich wieder umb / gieng durch die Au neben hin / und kam auff ein gänge Landstraß / die mich vor die herrliche Vestung Hanau trug: So bald ich deren erste Wacht ersähe /' wolte ich durchgehen / aber mitkamen gleich zween Mußquetier auff den Leib / die mich anpackten / und in ihre Corps du Guarde führten. 19
In großer Geschwindigkeit schildert die Erzählpassage den Übergang des Helden von einem Ort zum anderen, wobei sowohl der Zusammenhang der Orte wie ihr starker Kontrast deutlich werden. Die gänge Landstraß stiftet diese 16
"
"
19
Insofern ist GEULEN, ErzähUcunst der frühen Neuzeit 219, zuzustimmen, wenn er das simplicianische Erzählen nicht als Illustration einer groben Schein-Sein-Dichotomie sieht, sondern als wechselseitige Konfrontation von Erwartung und enttäuschender Wirklichkeit. Zu den Kategorien engaño und desengaño in der spanischen Pikareske vgl. etwa H A N S - G E R D RÔTZER, Picaro - Landtstörtzer - Simplicius, Studien zum niederen Roman in Deutschland Impulse der Forschung 4, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1972, 85. Vgl. ITALO MICHELE BATTAF ARANO, "Die Faszination des Monstrums Krieg in Grimmelshausens 'Simplicianischen Schriften'": Glanz des Barock, Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur = Iris 8, Bern (Peter Lang) 1994, 13-32. (Erstveröffentlichung: '"Was Krieg vor ein erschreckliches und grausames Monstrum seye': Der Dreißigjährige Krieg in den Simplicianischen Schriften Grimmelshausens": Simpliciano 10 (1988) 45-59.) Simplicissimus Teutsch I, 19, 52, 31 - 53, 2.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teulsch
Veibindung zwischen zwei sich stark unterscheidenden städtischen Räumen. An einem Ende der Straße bietet sich das vom Krieg zerstörte Gelnhausen dem Wanderer dar wie die von der cartesischen Wissenschaft zugerichtete Natur, als rein räumliche Erstreckung20 nämlich, die Simplicius zween Steinwürff weit abschreitet. Das Umhergehen des beobachtenden Subjekts stellt die einzige Bewegung dar, dergegenüber das beobachtete Objekt rein passiv bleibt. Anders dagegen die Festung Hanau, die mit dem Adjektiv herrlich belegt wird und ihre machtvolle Aktivität dem Näherkommenden sofort entgegensetzt. Als die wachhabenden Soldaten in den Gesichtskreis des Simplicius gelangen, haben sie ihn bereits erspäht und kommen ihm mit ihren Maßnahmen zuvor. Der Chronotopos der Episode hat sich mit dem Auftreten anderer Personen verkehrt. Denn nun stellt sich dem Helden eine überlegene Aktivität entgegen. Die Initiative verbleibt nicht bei Simplicius, sondern geht auf die Grenzschützer der Festung Hanau über. Eine gegenläufige grenzziehende Bewegung bringt den Wanderer zum Stehen, sein offener Erwartungshorizont stößt an eine Schranke. Dieser erste phänomenologische Befund läßt sich vorläufig bereits historisch-geographisch einordnen. Bei Gelnhausen handelte es sich nämlich um eine Stadt mit einer Mauer mittelalterlichen Typs, die den gewachsenen Siedlungsbereich umschloß, nach außen hin abgrenzte und allenfalls im Bedarfsfall durch einen weiteren Ring verstärkt wurde.21 Dieser Typ der rein passiven Abschirmung konnte seit der Erfindung der Feuerwaffen und der damit verbundenen Intensivierung der Kriegshandlungen nicht mehr genügen. Deshalb wurde der neuzeitliche Festungstyp entwickelt, dessen Verteidigungsanlagen sternförmig in das Umland ausgreifen, um einer Beschießung aktiv entgegnen zu können. Zu diesem Typ gehörte die herrliche Festung Hanaw.22 Auf einem zeitgenössischen Stich nähern sich mehrere Personen über gepflegte Wege und Straßen der eindrucksvollen Anlage, die die Landschaft beherrscht.
20
Vgl. FRIEDRICH GAEDE, Substanzverlust,
Grimmelshausens
Kritik der Moderne,
Tübingen
(Francke) 1 9 8 9 , 1 1 . 21
Vgl. EDITH ENNEN, "Die Festungsstadt als Forschungsgegenstand - die Herausbildung der Festungs- und Gamisonsstadt als Stadttyp": Beiträge zur Geschichte der frühneuzeitlichen Festungs- und Garnisonsstadt, Kolloquium Saarlouis 1980 = Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 13, hg. von H ANS-WALTER HERMANN u n d FRANZ IRSIGLER, S a a r b r ü c k e n ( M i n e r v a ) 1 9 8 3 , 1 9 - 3 3 , h i e r 1 9 - 2 5 , u n d HEINZ STOOB,
"Die Stadtbefestigung, Vergleichende Überlegungen zur bürgerlichen Siedlungs- und Baugeschichte, besonders der frühen Neuzeit": Europäische Städte im Zeitalter des Barock, Gestalt Kultur - Gefige = Städteforschung A 28, hg. von KERSTEN KROGER, Köln und Wien (Bühlau) 1 9 8 8 , 2 5 - 5 4 , h i e r 3 7 / 3 8 u n d A n m . 44. 21
Vgl. STOOB, "Die Stadtbefestigung" 41/42 und 51.
Festung Hanau: Landschaft als Sperrgebiet
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Abbildung 40: Ansicht von Hanau aus der Relation!s Historiae Continuano, 1637. Repro des Germanischen Museums Nürnberg nach seinem Exemplar.
Dieses Bild konkretisiert sich noch bei einem Blick in das Stätte-Buch des 23 ABRAHAM SAUR, das GRIMMELSHAUSEN bekannt war. Dort heißt es: Die Statt ist zu allerhand Gewerben / wegen der Landstrassen so auff Franckfort zu gehet / sonderlich wol gelegen / sampt dem Schloß gerings herumb mit Mawern / Wallen / Wasser-Gräben vnd Bollwercken bevestiget / die Gelegenheit ausserhalb aber der Graffschajft also beschaffen / daß so viel den Feld vnd Ackerbaw / auch Wein vnd Weißwachsunge / so dann Gartenwerck / Bewäldunge / Viehezucht / Wildpann vnd dergleichen Noth vnd Nutzbarkeite / Herrligkeite belangen thut / dieser Ort Lust vnd Fruchtbarkeit halben / vielen andern fürzuziehen ist.24
Der jugendliche Held im Simplicissimus Teutsch wird im Falle Hanaus also nicht mehr mit einer Stadt konfrontiert, die sich erfolglos gegen die Aggression von außen zur Wehr zu setzen versucht hatte, sondern mit einer zum großen Teil eigens für militärische Zwecke geplanten Anlage, die zugleich von den ökonomischen Vorteilen der Umgebung profitiert. Bot das zerstörte Gelnhausen mit der naheliegenden Au das Bild der von technisch-strategischem Kalkül unterworfenen Natur, so ist die Befestigung Hanaus ihrerseits ein Inbegriff von Strategie und Technik. Festungen wie Hanau dienten nicht mehr primär dem Schutz der lokalen Bevölkerung, sie waren vielmehr ein Faktor innerhalb der grenzziehenden und -sichernden Politik der entstehen23
u
Vgl. das Quellenverzeichnis in der neuesten und am besten kommentierten SimplicissimusAusgabe von BREUER. ABRAHAM/ SA URII Stätte=Buch Oder Außßhrliche und auß vielen bewehrten alten und neuen Scribenten zusammen in ein Corpus gebrachte Beschreibung der ßrnehmsten Städte / Plätz und Vestungen / meistens in Europa / auch theils in andern Theilen der Welt Wobey: Eine Continuirende Verzeichmis der jenigen notabelsten und denckwärdigsten Geschichten / so sich ein und andern Orts / ßrnehmlich circa Ortum, Brandschäden oder gäntzlichen Ruin, begeben und zugetragen: Verfaßt und fortgesetzt durch HERMANN ADOLPH UM AUTHES. Frankfurt am Main 1658, 780. (Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: M 318/50 rara.)
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Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
den Territorialstaaten.25 Der kartographisch-geometrische Blick des zentralistischen Staates auf die Landschaft wird in der barocken Festung handgreiflich: Das Umland wird zum Sperrgebiet. Für die Einwohner war diese Art Befestigung nach dem Urteil des Historikers HENNING EICHBERG kontraproduktiv, da ihr aktiver kriegerischer Charakter Kriegshandlungen eher anzog als abwehrte.26 Diese Einschätzung bewahrheitete sich im Falle Hanaus, wurde doch auch diese Festung zur "Mausefalle"fìirdas eigene Heer.21 Denn die Zustände bei der Belagerung Hanaus im Jahre 1635, als man anfing, Katzen und Hunde zu essen, belegen, wie gefährlich eine Festung für ihre eigenen Bewohner werden konnte, hatte sie den Feind erst einmal angezogen.28 Dieser grenzziehende Gestus der Festung, der die Verletzimg der Grenze antizipiert und gerade deshalb provoziert, bildet die Leitlinie meiner Lektüre der Hanau-Episode, in die Simplicius mit seiner Annäherung an die Festung nun hineingezogen wird. Denn im Textzusammenhang des Romans spielen Ort und Funktion des befestigten Hanau eine strukturierende Rolle. Da ist es kein Zufall, daß die gänge Landstraß - als Subjekt der Handlung - den Vaganten vor die herrliche Vestung Hanau trägt, bilden doch Landstraße und Festung einen Funktionszusammenhang, innerhalb dessen die Landstraße die Versorgung zu sichern hat, während die Festung diese Verkehrswege kontrolliert und im Bedarfsfalle abriegelt.29 Und auch die aktive Rolle, die der Besatzung der Festung in der Episode zukommt, entspricht der aktiven Strategie des Angriffs als bester Verteidigung, mit der aus der Festung heraus herannahende Gegner konfrontiert wurden.30 Beharrung wird hier ganz im Sinne der Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts als Eigenbewegung praktiziert, die sich der von außen kommenden Fremdbewegung entgegensetzt. Mit dieser Abwehrbewegung wird Simplicius vor und in Hanau konfrontiert. Anders als im zerstörten Gelnhausen sorgt das Hanauer Sicherungssystem für Vgl. ENNEN, "Die Festungsstadt als Forschungsgegenstand" 2 4 / 2 5 . Siehe auch IRSIGLER in der Schlußdiskussion des Kolloquiums in Saarlouis: Beiträge zur Geschichte der frühneuzeitlichen Garnisons- und Festungsstadt 229 zu Festungsstädten im engeren Sinne, d.h. als raumordnende Planungen der Territorialstaaten: Bei der Karte der eigentlichen Festungsstädte [...] würden typische Verdichtungen herauskommen, Gruppierungen in den großen Grenzräumen, und damit ein schönes Spiegelbild der großen europäischen Machtkonstellationen. Vgl. HENNING EICHBERG, "Geometrie als barocke Verhaltensnorm, Fortifikation und Exerzitien": Zeitschrift ßr historische Forschung 4 ( 1 9 7 7 ) 1 7 - 5 0 , hier 1 9 - 2 1 über Brüche im fortiftkatorischen Nutzendenken des Barock. Vgl. EICHBERG, "Geometrie als barocke Verhaltensnonn, Fortifikation und Exerzitien" 19. Vgl. den Bericht von D A V I D DALRYMPLE über das Leben des Hanauer Gouverneurs JAMES RAMSAY von 1 7 8 7 , abgedruckt bei GÜNTHER WEYDT / FRIEDRICH G A E D E , "Der Gubernator, James Ramsay": Simpliciano 4 / 5 ( 1 9 8 3 ) 1 2 3 - 1 3 6 , hier 1 3 2 . Vgl. W E R N E R HABICHT und REINHOLD ZEYER in der Diskussion zu ENNENS "Die Festungsstadt als Forschungsgegenstand" 3 7 und 39. Vgl. ENNEN in der Schlußdiskussion des Kolloquiums in Saarlouis: Beiträge zur Geschichte der frühneuzeitlichen Garnisons- und Festungsstadt 226.
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Denken
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die Arrestierung des Vaganten. Mit dieser Festsetzung geht die Feststellung der Personalien des Fremden einher. Das Vorgehen des Offiziers in der Wachstube der Stadtbefestigung kann man als Übersetzung der grenzziehenden Struktur dieser Befestigung in eine entsprechende Handlung interpretieren. Die Grenzbefestigimg steht für die Integrität des von ihr Begrenzten ein, indem sie dafür sorgt, daß jeder Grenzübertritt mit der Gesetzlichkeit des begrenzten Territoriums übereinstimmt. Deshalb muß jeder Neuankömmling auf eine mögliche Gefährdung für den begrenzten und geschützten Raum untersucht werden. Zunächst folgt die Erzählung dem Vorgang der Musterung. Dabei zeigt sich, daß die Untersuchung des Fremden der Semantik der Grenze folgt. Man schließt von einzelnen äußeren Anhaltspunkten auf das Wesen der Persönlichkeit insgesamt, wie die Grenze für die Integrität des Territoriums insgesamt einzustehen hat. Den kontrollierenden Blicken gegenüber bildet die äußere Erscheinung des Fremden sozusagen seine Grenze, von der aus auf ein Inneres geschlossen werden muß. Allerdings können die gesammelten Persönlichkeitsmerkmale nur in einem Interpretationsrahmen verarbeitet werden, der durch das grenzsetzende System der Kontrolleure bestimmt wird. Die Kontrolleure sollen ja entscheiden, ob die fremde Person in den begrenzten und zu schützenden Bereich paßt oder nicht. Wenn der Erzähler anläßlich der Musterung im Wachlokal die damalige Erscheinung des Helden Revue passieren läßt, dann rekonstruiert er jedoch nicht allein den visuellen Eindruck, er vermittelt ihn vielmehr mit zwei Perspektiven: erstens mit den Umständen, die diesen Eindruck hervorgerufen haben, und zweitens mit möglichen Vergleichen, die Außenstehende anstellen könnten, um den Eindruck in ihren Erfahrungsbereich einzuholen.31 Aus der Vorgeschichte, die dem Leser im Gegensatz zum Wachoffizier in Hanau bekannt ist, ergibt sich, daß der gerade aus dem Wald Kommende sein staubiges Haar seit dreieinhalb Jahren nicht geschnitten hat, daß er einen vielfach geflickten, vom Einsiedel geerbten Rock trägt, dessen Ärmel als Strümpfe dienen, darüber als Stilisierung seines Standes das härene Hemd und Ketten, an den Füßen Schuhe aus Holz mit Schnürsenkeln aus Rinde. Auf die innere Konsequenz der Erscheinung wird mit temporalen (noch, nicht mehr), kausalen (weit) und finalen (zu solchem Ende) Bestimmungen hingewiesen. Die Perspektive einer möglichen Außenwahrnehmung ist dagegen (durch wie und als wenn erkennbar) mit Vergleichen präsent, die die Erscheinungen interpretieren, indem sie die Haaresfulle mit dem verbergenden Federschmuck der Schleiereule und einem Turban vergleichen, so daß die Gesamtgestalt mit der Ikonographie des hl. Wilhelm und aus Türkenhaft entfohenen Bettlern parallelisiert wird. Vgl. für das folgende Simplicissimus Teutsch I, 19, 53, 3- 54, 12.
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Simplicissimus
Teutsch
bemerkt, die Ausführlichkeit der Schilderung sei in der Abweichung vom Normalen begründet, wobei er jedoch seinen Begriff von Normalität nicht problematisiert.32 Demgegenüber veranschaulicht die Szene gerade die normsetzenden und grenzziehenden Mechanismen, die zu einer Fehleinschätzung des Fremden führen. Die Norm wird durch das Außerordentliche in Frage gestellt. Der Anspruch der Grenzkontrolleure, Sachverhalte festzustellen, wird in der Erzählung durch eine Konfrontation mit der Vorgeschichte in seine Schranken gewiesen. Auch hier zeigt sich, daß die Romanwelt nicht durch eine angeblich barocke Scheidung zwischen Schein und Sein geprägt ist, denn die Phänomene sind keineswegs trügerischer Schein, der eine von ihm selbst verschiedene, angeblich tiefere Wahrheit verbirgt und verdeckt.33 Die Semantik der Tiefe, die eine von den Erscheinungen unterschiedene Essenz zur Voraussetzung hat, führt hier in die Irre.34 Für sich gesehen sind die Erscheinungen weder wahr noch unwahr, sie müssen vielmehr in Zusammenhang mit der Geschichte gesehen werden, die sie verursacht hat. Deshalb beharrt der Erzähler darauf, daß ein Verständiger aus der Erscheinung auf diese Umstände hätte schließen können, indem er aus dem magern und außgehungerten Anblick die Harmlosigkeit des Fremden gefolgert hätte.35 Allein die Holzschuhe des Vaganten geben seine Herkunft aus dem Wald bereits hinreichend zu erkennen, während jede andere Unterstellung, Simplicius sei der Garküchen, dem Frauenzimmer oder sonst der Hoflialtung eines fremden und womöglich feindlichen Herren entlaufen, an den augenscheinlichen Tatsachen vorbeigeht.36 ALEWYN
Vgl. ALEWYN, "Realismus und Naturalismus" 360. Dies wird behauptet bei KLAUS-DETLEV M O L L E R , "Die Kleidermetapher in Grimmelshausens Simplicissimus, Ein Beitrag zur Struktur des Romans": DVJs 44 (1970) 20-46, hier 32, wo der Einsiedler-Habit des Knaben als Ausdruck für eine äußerlich adaptierte, innerlich aber nicht realisierte Rolle gesehen wird. MOLLER postuliert das Schema einer Zeitdifferenz zwischen Anschein und Erfüllung, die den tieferen Sinn der jeweiligen (Ver-)Kleidung erst zeitversetzt offenbare. So fungiert bei MOLLER das Ende des Romans, d.h. die Continuatio, als Zielpunkt, der den Sinn des Gesamtgeschehens an den Tag bringe und das Einsiedlergewand nachträglich berechtigt erscheinen lasse. MOLLER (39/40) unterscheidet zwischen einer unmittelbaren Wirklichkeit, die er mit der gesellschaftlichen Rolle identifiziert, und einer Wahrheit, die sich erst in einem höheren Sinne erweise. Dies läßt die Möglichkeit unberücksichtigt, daß es jenseits gesellschaftlicher Konventionen noch eine andere, immanente Wahrheit geben könnte, die als Referenzebene f ü r Sein und Schein taugt. Die Identifizierung der Wahrheit mit dem Zustand der spirituellen Weltlosigkeit a u f der Kreuzinsel setzt fraglos voraus, daß die Continuatio zur ursprünglichen Konzeption des Romans gehört und daß in ihr der Sinn aller Ereignisse aufgehoben ist. MOLLER gibt jedoch zu, daß das Geschehen in einer allegorischen Deutung nicht aufgeht, und betont (46) die formsprengende Kraft der Wirklichkeit. M . E. kann an diesem Punkt, mit dem MOLLER schließt, die Interpretation überhaupt erst beginnen. Vgl. THEODOR W. A D O R N O , Philosophische Terminologie, Zur Einleitung, Band 1, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 23) 1973. Zur Essenz als überzeitlicher Wesenheit und der philosophischen Kritik am Essentialismus vgl. H. SCHNEIDER, "Essentialismus" und E R N S T VOLLRATH, "Essenz": JOACHIM RITTER (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2 , Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1 9 7 2 , Sp. 7 5 1 - 7 5 3 bzw. 7 5 3 - 7 5 6 . Das sei den Verfassern und Exekutoren des heutigen Asylrechts ins Stammbuch geschrieben.
Hanauer Wachstube: grenzziehendes
Denken
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Die Stadtbefestigung als Grenzlinie gerät offenbar leicht zur Projektionslinie für die Obsessionen eines auf Abwehr des Fremden eingestellten Bewußtseins. Allein die Existenz der Grenze fuhrt dazu, daß alles seine zwei Seiten hat, je nach dem, ob es aus der Innen- oder Außenperspektive gesehen wird. Auch die Entscheidung, was das Eigene, Innere sei, hängt wieder vom Standpunkt ab, der sich von der Grenze her bestimmt. Jeder, der an der Grenze steht, wird seine Seite als das Innere begreifen, das durch die Grenze von 'denen drüben' geschieden ist. Die Mißverständnisse in der Wachstube zu Hanau fuhren die Antinomien des grenzziehenden Denkens vor Augen, das auf der Unterscheidung zwischen dem vertrauten Innen und dem bedrohlichen Außen beruht und dabei dem Denkfehler erliegt, der sich aus dem angeblichen Unterschied zwischen einem an der Grenze auftauchenden äußeren Schein und dem dahinter vermuteten eigentlichen Sein ergibt. Auf diese Weise unterhält die Semantik der Grenze eine Beziehung zur Semantik der Tiefe, die sich in der Unterscheidung zwischen dem bedeutungstragenden, selbst aber bedeutungslosen und rein äußerlichen Phänomen und seiner davon geschiedenen Bedeutung ausdrückt. Grenzziehendes Denken und instrumentelle Allegorie beruhen auf ähnlichen Mechanismen. Bloß scheinbar weisen die Phänomene, die der Wachoffizier an Simplicius beobachtet, auf eine heimliche Bedeutung, die er irrtümlich hinter ihnen vermutet. Der Schein, den der Wachoffizier wahrzunehmen meint, wird von seinem eigenen Bewußtsein produziert, nicht aber von den Dingen selbst. Nähme er das Äußere des Fremden in seiner eigenen Bedeutung wahr, könnte er auf den Zusammenhang schließen, den die beobachteten Einzelheiten in Wirklichkeit haben. Grenzziehung produziert Schein. Deshalb kann die Außenperspektive, die von der Grenze hervorgerufen wird, in ihrer täuschenden Irritation sogar eine kritische Funktion gewinnen. Das wird deutlich, als die Musterung des Fremden durch diesen selbst ihr spiegelverkehrtes Pendant erhält, indem nun Simplicius versucht, vom Aussehen des Offiziers auf seine Identität zu schließen. Da der Waldbruder in der jetzigen Mode unerfahren ist, weiß er die Zöpfe und den spärlichen Bart des Offiziers nicht zu deuten und sieht ihn als Hermaphrodit an.37 Seine Interpretation der Phänomene unterliegt insofern einem Irrtum, als es sich um einen Mann handelt. Wahr ist sie hingegen in Bezug auf eine Mode, die eine rein äußerliche Hülle für ihren Träger darstellt und seine natürliche Anlage verfälscht. Innen und Außen stehen in einem Mißverhältnis zueinander. Doch gerade dieses Mißverhältnis offenbart die Wahrheit über den Träger der Kleidung. Wenn Simplicius das Aussehen des Unbekannten als Zwitterwesen deutet, wird damit auf die Ambivalenz der Grenzziehung, das Schwanken zwischen Innensicht und Außensicht noch einmal angespielt. Die modische Verkleidung variiert das Thema der seman* 37
Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 19, 54, 6-10. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 19, 54, 14 -1, 19, 55, 5.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
tischen Grenzphänomene, indem sie die einmal vorausgesetzte Unterscheidung zwischen Schein und Sein aufnimmt und in ihr Gegenteil verkehrt. Längst nicht mehr an der Aufdeckung eines angeblich Eigentlichen hinter dem Schein interessiert, inszeniert die modische Fassade vielmehr den Schein, um ihn zum wahren, gesellschaftlichen Sein werden zu lassen. Innerhalb des Regelgefiiges der Gesellschaft bestimmt der Schein die wirkliche Position, so daß die scheinhaft inzenierten Phänomene zu einer zweiten Natur, einer zweiten Wirklichkeit werden. Simplicius kennt die Konventionen nicht, auf denen dieses Spiel beruht. In seiner Außensicht 'sagt er wahr', weil er die Phänomene so beschreibt, wie er sie sieht.38 Die von Simplicius zur Kenntlichkeit mißdeutete modische Tracht des Offiziers gehört zum grenzziehenden Regelsystem, dem das gesamte Leben in der Festung unterworfen ist, hat doch Kleiderpracht die Funktion, Hierarchiegrenzen zu markieren. Diese sozialen Grenzen deuten daraufhin, daß sich die gesamten Raum-Zeit-Verhältnisse auch innerhalb der Festung vom grenzziehenden Denken her beschreiben lassen. Die Kategorien des Drinnen und Draußen, des Zentrums und der Peripherie, bestimmen die sozialen Beziehungen in der Festung Hanau, die als barocke Verhaltensnorm39 räumlich-grenzziehenden Charakter haben. Wieder greift die Erzählung zum pikaresken Mittel der Perspektivierung, wenn sie die grenzziehenden Mechanismen aus dem exzentrischen Blickwinkel des armen Lazarus beschreibt, der von der Tischgemeinschaft ausgeschlossen ist. Denn die vom Bollwerk geschützte Stadt ist kein Raum gemeinsamer, solidarischer Erfahrungen, allenthalben macht sich vielmehr das Gesetz der Grenze durch die Monopolisierung ideeller und materieller Güter bemerkbar.40 Mithin beschränkt sich die Erfahrung, drinnen zu sein, auf die Mitglieder der militärischen Hierarchie, während die übrige Bevölkerung von der Verteilung der Güter ausgeschlossen bleibt. Die Blockierung der Stadt von außen führt zu einer Verknappung der Ressourcen, was im Inneren eine Wiederholung des Festungsparadigmas auslöst. Das Logis des Gouverneurs wird zur Festung in der Festung, die ihren Bewohnern Wohlstand garantiert: DEr Pfarrer zögerte mich auff in seinem Losa- [81 ] ment biß 10. Uhr / ehe er mit mir zum Gouverneur gieng / [...] damit er bey demselben / weil er ein freye Tafel hielte / zu Mittags ein Gast seyn könne: dann es war damals Hanau blocquirt / und ein solch klemme Zeit bey dem gemeinen Mann / bevorab den geflehnten Zum Wahrsagen im Irrtum, das auf der Ironie der Naivität beruht, vgl. GEULEN, Erzählkunst der frühen Neuzeit 217 u.ö. Vgl. EICHBERG, "Geometrie als barocke Verhaltensnorm, Fortifikation und Exerzitien". Zur hierarchiebildenden und -stützenden Funktion der Kleiderordnungen vgl. VOLKER SINEMUS, "Stilordnung, Kleiderordnung und Gesellschaftsordnung im 17. Jahrhundert": Stadt - Schule Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, Symposion Wolfenbüttel 1 9 7 4 , hg. von ALBRECHT SCHÖNE, München (Beck) 1 9 7 6 , 2 2 - 4 3 , hier vor allem 2 7 und 3 6 .
Lazarus: Grenze als inneres Gesetz der Festung
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Leuten in der Festung / daß auch etliche / die sich etwas einbildeten / die angefrornen Rübschälen auff der Gassen / so die Reiche etwan hinwarffen / auszuheben nit verschmäheten: [•••]•*' Die Hierarchie in der belagerten Stadt ist nicht nur eine räumliche, die zwischen den Privilegierten im Zentrum der Macht, den eingesessenen Bürgern und schließlich den hineingeflüchteten Fremden am Rand der Gassen differenziert. Sie drückt sich auch aus in einer Hierarchie der Zeitformen. Ist die Normalbevölkerung von der 'klemmen Zeit' der Belagerung betroffen, so erscheint das Quartier des Gouverneurs als Bereich unbeschränkter Freiheit, wo die Konjunkturen der Belagerungswirtschaft ignoriert werden und der regelmäßige Gang der Mahlzeiten wie die freye Tafel unbeirrbar ihren Gang nehmen können. Das Leben der Privilegierten scheint von jeder Notwendigkeit ausgenommen, so daß auch der Umgang mit den Speisen einen extremen Grad der Beliebigkeit annimmt. Simplicius, der bislang den Umständen immer den täglich notwendigen Bedarf abgerungen hatte, beobachtet erstaunt, [...] wie man Speiß und Tranck muthwillig verderbte / unangesehen der arme Lazarus / den man damit hätte laben können / in Gestalt vieler 100. vertriebener Wetterauer / denen der Hunger zu den Augen herauß guckte / vor unsern Thüren verschmachtete / weil naut im Schranck war.41 Mit der biblischen Lazarus-Geschichte hält die Erzählung der Beliebigkeit, mit der beim Gouverneur das Wertvollste unterschiedslos vergeudet wird, ein Modell der krassen Unterschiede und ihrer Verkehrung entgegen. Berichtet doch das Lukas-Evangelium, daß der Bettler Lazarus vor dem Haus des reichen Prassers im Elend verkommt, im Jenseits jedoch für den um Hilfe flehenden Reichen unerrreichbar ist.43 Angesichts dieser Umkehrung erscheinen die realen gesellschaftlichen Verhältnisse als verkehrte Welt, weshalb G R I M MELSHAUSEN auch die Lazarus-Figur zum Ausgangspunkt seiner gleichnamigen Satire macht.44 Diese Satire spielt in der Hölle, wo die lasterhafte Normalität in der Verkehrung ihre Selbstverständlichkeit einbüßt. Die Welt ist nicht in Ordnung. Deshalb kann eine gute Ordnung nur im Negativ der verkehrten Welt erscheinen. 45 Interessanterweise wird aber gerade die Lazarus-Figur in 6 GRIMMELSHAUSENS verkehrter Welt* zum Ausgangspunkt für Überlegungen, wie man eine gute Ordnung im Diesseits auf der Grundlage einer bürgerli41 41 43 44
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Sìmplicissìmus Teutsch I, 23, 64, 4-12. Sìmplicissìmus Teutsch I, 30, 84, 15-20. Vgl. zum folgenden Lk 16, 19-31. Vgl. GRIMMELSHAUSEN, Die verkehrte Welt, hg. von FRANZ GÜNTHER SIEVEKE, Tübingen (Niemeyer) 1973. Vgl. auch die Continuano des Simplicissimus Teutsch, wo (503 [36]) der reiche Prasser Luce am 16. zum Vorbild für Aufstieg und Untergang des reichen Iulus wird. Dies gegen WERNER WELZIO, "Ordo und verkehrte Welt bei Grimmelshausen": ZfdPh 78 (1959) 424-430 und 79 (1960) 133-141, hier 430, wo die Lazarus-Figur zum Inbegriff einer vom Christen her gesehen wieder zurechtgerückten Welt gemacht wird, in der die mittelalterliche Vorstellung von einem ordo, einer göttlich geordneten Welt, zum Tragen komme. Vgl. GRIMMELSHAUSEN,/);« verkehrte Welt 44-49.
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chen Arbeitsethik, die das Elend des Bettlers überflüssig machte, herstellen könnte. In dem satirischen Text richtet ein Bettler im Jenseits sich ganz unspirituell an die Obrigkeit im Diesseits, an die also, denen Gott den Gewalt darzu gegeben und verliehen hat, die Verhältnisse zu ändern: Wann sie aber thun weiten was sie könden und selten / so könden und würden sie mehr verrichten als wann sie neue Klöster stiften [Fif] und Kirchen bauten / wann sie nemlich meines Gleichen faule und liderliche Betler und Landstörtzer ohne Barmhertzigkeit [...] arbeiten liese [...] daß beyderley Geschlecht ihr anjetzo ohne das wohlfeiles Stück Brod nicht allein wohl daran [FiifJ verdienen / sondern auch so viel Uberschus erarbeiten könden / daß die wenige Alte und Brechhafftige so sich unter ihnen befinden / erhalten / und ihre Jugend zu ehrlichen Handtierungen auf erzogen werden könden [...]. 47
Die Satire hält dem Projekt der gesellschaftlichen Modernisierung den Spiegel vor und fordert eine gute Ordnung ein, die der moderne Staat zu schaffen vorgibt, in Wirklichkeit aber den Armen vorenthält. Auch im Simplicissimus Teutsch erweist sich der mit der Lazarus-Figur angedeutete spirituelle Referenzpunkt für das Verhalten der Hofgesellschaft bei näherem Hinsehen als höchst konkret. Hier - wie bereits im spanischen Lazarillo-Roman - dient die Rezeption der biblischen Geschichte nicht dazu, die Wahrnehmung der Wirklichkeit in Weltabkehr umzubiegen48 In der biblischen Geschichte liegt vielmehr ein Modell der Perspektivierung vor, das die Dialektik grenzziehenden Denkens erkennbar macht. Bereits im LukasEvangelium ist die Lazarus-Geschichte eine Geschichte der Grenzziehung und des Wechsels der Fronten. Kann zu Beginn der biblischen Geschichte der reiche Prasser den armen Lazarus vor seiner Tür ignorieren, weil diese Tür die Integrität des wohlabgegrenzten Haushaltes garantiert, so ist unter den Bedingungen der Herrschaft Gottes der vormalige Bittsteller zu einer Instanz geworden, die durch eine unüberwindliche Grenze, einen gähnenden Abgrund, entrückt ist, so daß der in der selbstgeschaffenen Hölle schmorende Reiche vergeblich die Linderung seiner Not erfleht.49 Im Wechsel der Fronten wird die Konsequenz grenzziehenden Denkens offenkundig. Die Grenzziehung bringt erst die Ungleichheit und damit die Interessengegensätze hervor, 47
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GRIMMELSHAUSEN, Die verkehrte Welt 48/49. FRITZ RUDOLF FRIES zeigt in seinem Essay Lazarillo von Tormes oder die Listen der Selbsterhaltung, Berlin (Wagenbach Tb. 121) 1985, 112-116, daß der reformerischen erasmistischen Spiritualität des Lazarillo das konkrete tägliche Brot eine säkularisierte Hostie geworden war, in der das Antlitz Gottes erkennbar wurde. Von der Realtät der geringsten Brüder und Schwestern her kann Nachfolge Christi, die diesen Namen verdient, eigentlich nie Weltabkehr bedeuten. Daß die Hölle der biblischen Geschichte mit der Welt, der zeitgenössischen ungerechten Gesellschaft, identisch sei, war auch die Meinung einiger Almosen-Prediger der Frühen Neuzeit, die aus dieser Situationsbeschreibung via negationis vom Piatonismus beeinflußte Sozialutopien für eine aufgrund christlich-ethischer Prinzipien perfekte Gesellschaft entwickelten. Vgl. hierzu ITALO MICHELE BATTAFARANO, "Der arme Lazarus und der reiche Prasser, Theorie und Praxis der Predigt in Italien von Musso bis Campadelli": Daphnis 10 (1981) 153-192, hier 176.
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vor deren Konsequenzen sie sich zu schützen meint. Die Tragweite dessen, was der ausgrenzende Gestus der Grenze bewirkt, kann niemals aus der gesicherten Position von innen realisiert werden. Erst im Horizont der Erfahrungen, die nur die Ausgegrenzten machen, wird klar, was Grenze bedeutet: die Exkommunikation vom gemeinsamen Tisch, die Verweigerung des Anteils an den Früchten der Erde, auf die alle einen Anspruch haben. Der hungrige Blick des Lazarus-Lazarillo, der draußen vor der Tür steht und auf die Tische der Reichen sieht, ist die Urform aller Exzentrik, die die pikareske Perspektive bestimmt. Im Simplicissimus Teutsch gewinnt diese Exzentrik konkrete, geographische Gestalt. Die vor den Türen des Gouverneurs-Palastes Verhungernden stammen aus der Wetterau, einem abgelegenen Gebiet weitab der politischen und militärischen Zentren. Ihre militärische Vertreibung hat sie zu Bittstellern am Rande der Hanauer Gesellschaft werden lassen. Der Erzähler bedient sich in der Redewendung naut im Schrank der Wetterauer Mundart und verleiht damit nicht nur ihrer Not Ausdruck, sondern gibt ihnen darüber hinaus eine Stimme im Roman.50 Der pikaresken Perspektive, die den Raum des Romans organisiert, entspricht die polyphone Redevielfalt des Erzählerdiskurses, der sich die Sprache der Marginalisierten zu eigen macht.51 Denn hinder den Bergen wohnen auch Leut, heißt es einmal, wobei wiederum ein Sprichwort den Diskurs der Mündlichkeit anzitiert und die zentrale Perspektive des absolutistischen Staates samt der damit verbundenen Schriftsprache konterkariert.52 Der Simplicissimus Teutsch denkt und spricht von den Rändern der Sprache her und nimmt so die exzentrische Perspektive der Marginalisierten ein.53 Nicht allein der Vorführung artistischer Virtuosität dient also die Redevielfalt des Romans, hier wird nicht bloß mit den Möglichkeiten schriftlicher und mündlicher Sprache jongliert. Aus dem Stimmengewirr der Erzählung wird vielmehr die Konkurrenz verschiedener gesellschaftlicher Praxisarten54 vernehmbar, die in der Realität keineswegs in einem freien, 50
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Vgl. ALBERT Hin, "Volksweisheit in den Sprichwörtern und Redensarten des Simplicissimus von J. J. Ch. von Grimmelshausen": Um Renchen und Grimmelshausen, Renchen (Stadtverwaltung) 1976, 1-91, hier 53/54. Vgl. THEODOR VERWEYEN, "Der polyphone Roman und Grimmelshausens Simplicissimus": Simpliciano 12 (1990) 195-228, zar Exzentrizität und der Verbindung zur Utopie dort 202-205. Vgl. Simplicissimus Teutsch II, 7, 113, 31/32. Siehe hierzu auch Hiß, "Volksweisheit und Sprichwörter" 47. Vgl. WALTER BENJAMIN, "Gottfried Keller": Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, 384-395, hier 390, wo es über KELLER heißt, daß kein andrer Deutscher seit Grimmelshausen so gut um die Ränder der Sprache Bescheid wußte, so frei das ursprünglichste Dialekt- und das späteste Fremdwort handhabt. Ich beziehe mich in diesem Abschnitt auf den Versuch ANTONIO GRAMSCIS, komplexe gesellschaftliche Konstellationen in ihrem historischen Status zu bestimmen. Vgl. JORGEN LINK UND URSULA LINK-HEER, Literatursoziologisches Propädeutikum, München (Fink/UTB 799) 1980, 280-282. GRAMSCI versucht, wenn ich es richtig sehe, dem vulgärmarxistischen Geschichtsbild, das von ei-
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spielerischen Austausch stehen. Die konkurrierenden Formen der Weltaneignung und Weltgestaltung, die im Kontrast zwischen Gelnhausen und Hanau, zwischen gewachsenen regionalen Strukturen und forcierter territorialer Planung begegneten, schieben sich zu einem gesellschaftlichen Relief übereinander, wobei dem letzeren Paradigma aus seiner strategischen Logik heraus die Rolle des formierend-historischen Blocks zufällt. Und diese formierende Funktion kann historisch-geographisch verstanden werden, besteht doch das Projekt der Planung und Grenzziehung in einer formenden Umgestaltung des Gewachsenen, das dadurch eine neue Qualität gewinnt. Wer am Rand steht, das entscheidet sich vom Zentrum her, und Ränder entstehen überhaupt erst dadurch, daß sich Zentren bilden. Erst die Semantik der Zentren und Grenzen also drängt die Randgebiete vollends ins Abseits, und eine exzentrische Perspektive wird dann möglich, wenn die Zentren sich als solche definiert haben. Simplicius kommt in Hanau vor allem die Rolle des Beobachters zu, der den inneren Zusammenbruch der zentralistischen Ordnungsmodelle konstatiert und dokumentiert. Sein Auftreten geschieht in Räumen, die vom Ineinander der Modelle und Perspektiven bestimmt sind. Da öffnet sich nicht in repräsentativer Ordnung, was sich als Zentrum zu stilisieren pflegt, wenn Simplicius die Unterkunft des Gouvereurs in Hanau durch den Dienstboteneingang betritt, um die Folgen einer durchzechten Nacht zu begutachten. Weil er nicht zur offiziellen Besuchszeit, sondern während der Arbeitszeit der Dienstboten erscheint, stört nichts die ernüchternde Bestandsaufnahme: Ich gieng in meines Herrn Quartier / darinn noch alles steinhart schließ" / biß auff den Koch und ein paar Mägd / diese butzten das Zimmer / darinnen man gestern gezecht / jener aber rüstete auß den Abschrötlin [127] wieder ein Frühstück/ oder vielmehr ein Imbis zu; Am ersten kam ich zu den Mägden / bey denen lag es hin und wider voller zerbrochener so Trinck- als Fenster-Gläser / an theils Orten war es voll dem / so unden und oben weg gangen / und an andern Orten waren grosse Lachen von verschüttetem Wein und Bier / also daß der Boden einer Land-Karten gleich sähe / darinnen man unterschiedliche Meer / Insuln und trukkene oder Fußveste Länder hätte abbilden / und vor Augen stellen wollen.55
In der grotesken Land-Karten, die keiner planerischen Projektion auf die Wirklichkeit dienstbar scheint, wo vielmehr verschiedene reale Substanzen zu einem Mikrokosmos eigener Art zusammenfließen, wird der innere Widerspruch des Festungsparadigmas plastisch, das in sein verdrängtes Gegenteil
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ner linearen Abfolge der Produktionsweisen und Gesellschaftssysteme ausgeht, die Realität ungleichzeitiger Praxisarten entgegenzusetzen. So ist die Welt der Frühen Neuzeit keineswegs durchgängig frühkapitalistisch, in ihr steht vielmehr das überkommene feudal-agrarische Modell in Konkurrenz mit einem absolutistischen Planungmodell, das sich zweifellos wissenschaftlicher Innovationen und bürgerlich-rationaler Handlungsformen bedient Dem absolutistischen Modell kommt hier die Rolle des formierend-historischen Blocks zu, dessen Praxis das gleichzeitig weiterexistierende regional-agrarische Modell dominiert. Vgl. Simplicissimus Teutsch II, 2, 99,3-15.
Groteske Landkarte: Auflösung der Substanz
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umschlägt. Die Mischung von Getränken und Körperflüssigkeiten, aus denen das kleine Weltmodell auf dem Fußboden Gestalt annimmt, erinnert an ein Aneignungsmuster der Ähnlichkeiten, das den menschlichen Körper zum Maß aller Dinge nahm. Raum und Zeit des feudal-agrarischen Wirtschaftens wurde in Fuß und Morgen gemessen, wobei der Körper des Messenden nicht nur Maß der gemessenen Welt war, sondern auch Teil von ihr.56 Seine literarische Form hat dieses Aneignungsmodell in der grotesken Landschaft der gefräßigen Riesenkörper bei RABELAIS gefunden,57 dessen Phänomenologie Mi CHAIL BACHTIN beschrieben hat. Das Ineinanderübergehen von menschlichem Körper und Welt hat sein Pendant in der Verbindung von Pflanzen-, Tierund Menschenteilen, die in der bildenden Kunst den Begriff des Grotesken geprägt hat. Bei RABELAIS stehen die Körperausscheidungen des Riesen in enger Verbindung zur Gestalt der Landschaft, so daß etwa durch sein Harnen eine Sturmflut ausgelöst werden kann.58 Welt und Mensch sind hier durch Stoffwechsel miteinander verbunden. Denn der Gigantenkörper ist von dem topographischen Relief nicht zu trennenWird die Landschaft bei RABELAIS nach dem Bild des menschlichen Körpers gemodelt, so ist es dort umgekehrt auch möglich, etwa im Bart eines Menschen wie in einer Weltkarte zu lesen.60 Es scheint mir bezeichnend, daß die Leibeslandschaft der Exkremente im Simplicissimus Teutsch repressiv, angstbesetzt und herrschaftsbestimmt ist, während die Körper bei RABELAIS ihren Austausch mit der Welt zur eigenen Lust und Freude pflegen. Gerade die Unordnung der grotesken Karte im Simplicissimus Teutsch ist von ihrer Beziehung zur Ordnung der Festung geprägt. Denn die verschütteten und erbrochenen Reste, die noch ihrer Beseitigung durch das aufräumende Personal harren, konterkarieren ironisch die repräsentativen Festungsmodelle und Landschaftsreliefs, mit denen sich die Zentren fürstlicher Macht seit der Renaissance schmückten. Dabei handelte es sich teils um Abbildungen bereits verwirklichter Planungen, teils aber auch um Idealpläne, die den projizierenden Charakter des zentralistischen Modells " s
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31
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Vgl. AARON J . GURJEWITSCH, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. Deutsch von GABRIELE LOBACK, Dresden (Verlag der Kunst) = Gütersloh (Bertelsmann) o. J„ 77. Vgl. FRANÇOIS RABELAIS, Gargantua: Gargantua und Pantagruel, verdeutscht von GOTTLOB REGIS, hg. von LUDWIG SCHRÄDER, München (Hanser) 1964 = Frankfurt am Main (Zweitausendeins) o . J . Der französische Text wurde mitverglichen: RABELAIS, Œuvres complètes, ed. JACQUES BOULENGER/LUCIEN SCHELER, Paris (Gallimard) 1955. So in Kapitel 17 und 36 des Gargantua. Vgl.RABELAis, Gargantua und Pantagruel Band 1, I, 17, 50, und I , 36, 96; Œuvres complètes I, 17, 53/54 und I, 36, 109-111. Vgl. MICHAIL BACHTIN. Rabelais und seine Welt, Volkskultur als Gegenkultur, deutsch von GABRIELE LEUPOLD, Frankfurt am Main (Suhlkamp Tb. Wissenschaft 1187) 1995, 216/217. Siehe auch GURJEWITSCH, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen 54. Das Verhältnis des RABELAisschen Kunstwerks zu den volkstümlichen Riesensagen behandelt HELGA MILITZ. "François Rabelais: Vom Volksbuch zum Weltbuch": WEIMANN, Realismus in der Renaissance 437-521, hier 452-458. Vgl. BACHTIN, Rabelais und seine Welt 370. Vgl.
RABELAIS,
Gargantua und Pantagruel Band 1,111, 28, 357.
406
Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
hervorheben.61 Diese Pläne, die den Besuchern der Höfe zu politischen Zwekken präsentiert wurden, finden nun ihr drastisches Pendant in den Exkrementen, die sich den aufräumenden Dienstboten daibieten, wenn die Zeit für Besuche und Gelage noch nicht gekommen ist. Das Weltmodell der Substanzen hat mit den Festungsmodellen gemeinsam, daß beide Welt in verkleinertem Maßstab abbilden. Doch handelt es sich bei dem von Simplicius Gesehenen nicht um eine geometrische Vorausprojektion zentralistischer Ordnung, sondern um die Miniaturversion einer ungeordneten Landschaft mit Meeren, Inseln und Festland. Die Erzählung ist indes weit davon entfernt, mit dieser quasi-natiirlichen Landschaftsformation das zentralistische Paradigma schlicht durch sein grotesk-exzentrisches Widerspiel zu ersetzen. Man muß die Substanzen am Boden nicht notwendig als Landkarte identifizieren, dies bedarf vielmehr des vergleichenden Blicks, der eine Ähnlichkeit der Lachen mit Gewässern und der Exkremente mit Festland konstatiert. Durch die verbalen Ausdrücke abbilden und vor Augen stellen nimmt der Erzähler direkt auf die Techniken Bezug, mit denen projizierendes Bewußtsein Wirklichkeit in die Formen ihrer Repräsentation zu überfuhren versucht. Das attackierte Modell der wissenschaftlich-kartographischen Projektion ist in seiner grotesken Verfremdung gleichwohl mit anwesend, so daß auch hier das ironische Spiel der Gegensätze die Erzählung vor einem reaktionären Rückfall in angebliche Naivität bewahrt. In seiner kunstvollen Ironie nimmt das Erzählen hier etwas von der entfremdeten Künstlichkeit dessen wahr, was in seinen Blick gelangt. Wenn der verfremdende Blick des Simplicius die Substanzen auf dem Fußboden für etwas anderes nimmt, als sie sind, enthüllt er indirekt auch die künstliche Verfremdung, der ihre Lage geschuldet ist. Was sich da am Boden sammelt, mischt und trennt, ist ja nicht zufallig Verschüttetes oder spontan Erbrochenes, hier präsentieren sich vielmehr die Folgen eines mit Methode inszenierten Wettessens und Kampftrinkens. Auf eine indirekte Weise bewahrheitet sich die Rede von der abbildenden Funktion der grotesken Karte, hat sie doch ihre Ursache in gezielten Handlungen, deren Ergebnissse sie auf drastische Weise kenntlich macht. Die Landkarte, so lautet der überraschende Befund der Erzählung, gibt vor, das Ergebnis einer Konstruktionsleistung zu sein, die die Wirklichkeit dem Betrachter als geordnete vor Augen stellen soll, während sie in Wahrheit das Ergebnis von Destruktion ist. Sie fuhrt das Verarbeitete nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammen, sondern trennt es, so daß es sich an theils Orten als Verlorengegangenes und an anderen Orten als Verschüttetes findet. Der Blick des Beobachters findet die Substanzen nicht an ihrem Ort vor, Vgl. GERHARD EIMER, "Die Barockstadt und ihr künstlerisches Erscheinungbild, Zur Entstehung der frühesten Modellsammlungen": KRÖGER, Europäische Städte im Zeitalter des Barock 3 - 2 4 .
Groteske Landkarte: Auflösung
der
Substanz
407
sondern am Boden liegend, in Trennung und Auflösung begriffen. Die grenzziehende Bewegung der Kartographie wird in der Erzählung zum Bruch radikalisiert, dem sowohl die Trinkgefaße als auch die Fenstergläser zum Opfer fallen. In dem wabernden Gekröse am Fußboden, das sich dem ironischen Blick als Karte der Realitäten erschließt, wird erkennbar, daß die Festung im Widerspruch zu ihrer Bezeichnung - keine festen und verläßlichen Verhältnisse garantieren kann. Die Festung zerstört die Substanz, die zu bewahren sie vorgibt.62 Darauf weist auch die Vorgeschichte der zuletzt in Augenschein genommenen unappetitlichen Landkarte hin, die Stelle nämlich, wo das nachmalig Verschüttete und Erbrochene an der Tafel des Gouverneurs serviert wurde. Doch schon hier ist von der Substanz im Negativ die Rede, da die Speisen durch künstliche Zubereitungen und ohnzahlbare Zusätze, mithin durch solche zufällige Sachen und Gewürz mit ihrer Substanz sich weit anders verändert hätten, als sie die Natur anfänglich hervor gebracht habe.63 Die Erzählung gibt keine Definition dessen, was mit Substanz gemeint ist. Wohl aber ist zu erfahren, was die Manipulation der Dinge in ihrer Substanz bei den Personen bewirkt: eine Zerstörung ihrer fünff Sinn, so daß sie weder die Dinge noch ihre eigenen Handlungen zu unterscheiden wissen.64 Die Manipulation der Sinne / welcher sich ihre Seelen bedienen sollen, läßt eben auch diese Seelen Schaden nehmen. Sinne und Seelen stehen in der vorliegenden Episode in einem physischen Funktionszusammenhang, der den Körper als kartographierbaren Mikrokosmos erscheinen läßt. Für die sinnliche Welt im Kleinen, die der einzelne Mensch darstellt, dienen die Mägen als Festungsbollwerke, die der Generalangriff von übermäßig gewürzten Speisen und unmäßig genossenem Alkohol mit Gewalt einnemmen muste, was wiederum die hierarchisch höhere Ebene der Leibeslandschaft berührt, indem sich die Würkungen des Genossenen gleich oben im Kopff verspüren Hessen. Wo die Köpff auch doli werden, ist mit der Führungslosigkeit des Ganzen zu rechnen. In Umkehrung des Festungsparadigmas vergleicht die Episode die korrumpierten Körper mit ßnstern Gefängnussen und Ungeziejfer=mässigen Diebs= Thürnen, in denen nicht nur die Seelen gefangen liegen, sondern auch die Sinne / welcher sich ihre Seelen bedienen solten [...] begraben sind. Die a
° 64
Vgl. FRIEDRICH GAEDE, Substanzverlust, Grimmelshausens Kritik der Moderne, Tübingen (Francke) 1989. Ich halte GAEDES Arbeit für den wichtigsten Versuch einer Gesamtinterpretation des Simplicissimus Teutsch in der Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte. Eine Auseinandersetzung mit seiner Begrifflichkeit kann der Klärung meiner eigenen Position dienen. Ganz einig bin ich mit GAEDE in der Bestimmung des Problemhorizontes, in dem der Simplicissimus Teutsch entstand, in der Auseinandersetzung mit einer zerstörerischen instmmentellen Vernunft nämlich, die seit dem Beginn der Neuzeit Mensch und Welt zu Objekten einer Ausbeutung durch die Techniken von Herrschaft und Wissenschaft gemacht hat. Ich stimme GAEDE zu, wenn er gleich zu Beginn seines Buches betont: Grimmelshausen ist ein aktueller Dichter. Substanzverlust 9. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 30, 82, 7-12. Vgl. zum folgenden Simplicissimus Teutsch I, 30, 82, 15 - 84, 12.
408
Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
Festung des Körpers wird, ihrer Funktion der Sicherung seiner Integrität beraubt, zum Gefängnis dessen, was sie garantieren soll. Im menschlichen Mikrokosmos spiegelt sich die Korruption des Ganzen. Der zerstörte Zusammenhang des Substantiellen im einzelnen Menschen wird zur Kartographie des zerklüfteten gesellschaftlichen Reliefs. In ihrem Orientierungsverlust wird der gestörte Welt- und Selbstbezug der Personen sinnfällig, wenn der erstaunte Simplicius die Zechgenossen hin und her dorckeln sieht. Nicht irgendetwas Abstraktes in oder hinter den Personen und Dingen bildet ihre Substanz, von deren Zerstörung hier die Rede ist, vielmehr verbindet sich Substanz offenbar notwendig mit dem Platz, den Menschen und Dinge in Raum und Zeit einnehmen. Wenn der Simplicissimus Teutsch die Zerstörung menschlicher Substanz als einen quasi-militärischen Angriff auf den Leib als Naturfestung beschreibt, dann stellt er die Begrifflichkeit der zeitgenössischen Schulmetaphysik wieder vom Kopf auf die Füße und rehabilitiert den dynamischen Begriff der Substanz (ousia) bei ARISTOTELES.65 Die Schulmetaphysik, das lehrt etwa ein Blick in das Lexicon Philosophicum des RUDOLPH GOCLENIUS von 1 6 1 3 , entfaltet ihren Begriff der substantia vom Gottesbegriff her.66 Noch radikaler setzen viele Lehrbücher der Schulmetaphysik den Begriff der Substanz praktisch mit dem scholastischen ens realissimum, Gott, gleich, so daß sie sich ganz auf diese Fragen beschränken und die körperliche Substanz überhaupt "
Vgl.
Über die Seele, griechisch-deutsch, mit Einleitung, Obersetzung (nach W . THEIKommentar hg. von HORST SEIDEL = Philosophische Bibliothek 476, Hamburg (Meiner) 1995; ALBERT SCHWEGLER (Hg.), Die Metaphysik des Aristoteles, Grundtext, Übersetzung und Commentar, 2 Bände, Reprint Frankfurt am Main (Minerva) 1960. Eine Einführung in die aristotelische Denkbewegung, die es vermeidet, eine Lehre zu präsentieren und die dynamischen Begriffe zu verfestigen, liegt vor bei GEORG PICHT, Aristoteles' "De anima", hg. von CONSTANZE EISENBART, mit einer Einführung von ENNO RUDOLPH, Stuttgart (Klett-Cotta) 1987. Einen knappen und klaren Überblick über das Konzept der ousia bei ARISTOTELES gibt WERNER JAEGER, Aristoteles, Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin (Weidmann) M955, 400/401 und 406-411. Der ousia-Begriff in seiner Bewegung wird entfaltet bei WERNER STEOMAIER, Substanz, Grundbegriff der Metaphysik = problemata 63, Stuttgart-Bad Cannstatt (FrommanHolzboog) 1977. Zur linksaristotelischen Tradition, die die Materie rehabilitiert, vgl. ERNST BLOCH, Avicenna und die aristotelische Linke, Berlin (Rotten & Loening) 1952. Eine Würdigung des BLocHschen Ansatzes findet sich bei HEINZ HAPP, Hyle. Studien zum aristotelischen Materie-Begriff Berlin und New York (de Gruyter) 1971, 814/815. Vgl. RUDOLPH GOCLENIUS, LEXICON PHILOSOPHICVM, QUO TANQUAM CLA VE PHILOSOPHIAE FORES APERIVNTVR [...]. Frankfurt 1613 = Reprint, Hildesheim (Olms) 1964, 1097, s.v. SVBSTANTIA: Substantia primum accipitur generaliter, vt etiam Deo conueniat. 2. Specialiter, vt tantum conueniat creaturae. 3. Specialius, vt significet substantiam complectentem materiam & formam. [...]. Der reformierte Metaphysik-Lehrer GOCLENIUS eignet sich als Gewährsmann für die Bandbreite der akademischen ARisTOTELEs-Rezeption im 17. Jahrhundert. Er rezipiert gegensätzliche Strömungen, etwa die des PETRUS RAMUS oder die MELANCHTHONS. Dies brachte ihm den Ruf eines "Synkretisten" und "Conciliator philosophicus" ein. Vgl. hierzu PETER PETERSEN, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Hamburg (Meiner) 1921 = Stuttgart-Bad Cannstatt (Frommann-Holzboog) 1964, 135, und MAX WUNDT, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts = Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte 29, Tübingen (Mohr/Siebeck) 1939, 57. ARISTOTELES,
LER) und
M
Groteske Landkarte: Auflösung der Substanz
409
nicht behandeln.61 M A X WUNDT weist auf den Zusammenhang hin, den die Beschränkung der Metaphysik aufs Theologische mit der Entstehung der Physik als einer selbständigen Wissenschaft hat.68 Das Absinken des nur Irdischen und bloß Sinnlichen zur interesselosen beliebig verfugbaren Materie ist keineswegs das Werk des Materialismus, sondern die Folge einer dualistischen Arbeitsteilung zwischen Geist und Welt, die damit beide preisgibt. Der Preisgabe des Sinnlichen durch die Schulmetaphysik arbeitet der Simplicissimus Teutsch in seiner erzählerischen Darstellung der sinnlichen Welt und ihrer Zerstörung entgegen. Wenn Gott im Horizont der Erzählung erscheint, dann haben die menschlichen Seelen / die Gottes Ebenbild seyn,69 und nicht außerweltliche Abstraktionen für den spirituellen Wahrheitsgehalt einzustehen. Bei dem Zustand der Welt, den der Roman vorfindet und aus der Perspektive des armen Lazarus schildert, kann es deshalb nicht verwundern, daß die an menschliches Handeln gebundene Erscheinung des Transzendenten in der Immanenz fast nur in der Form der negativen Existenzaussage70 vorkommt. Die Rede von Gott in einer gottverlassenen Welt ist konsequenterweise die von Gottes Abwesenheit im Tun und Reden der Frommen.71 Nicht umsonst lautet die Antwort des Pfarrers in Hanau auf das, was Simplicius zum Substanzverlust beobachtet und äußert: Halts Maul [...] hier ist kein Zeit zu predigen / ich wolts sonst besser als du verrichten,n Die Selbstabdankung eines auf Welt bezogenen Redens, das hier ironischerweise von einem Pfarrer mit dem Ausdruck predigen denunziert wird, grenzt die Realitäten aus, die sich jedem, der seine fünf Sinne gebraucht, vor den eigenen Thüren auftun: in Gestalt der dort ausharrenden und verschmachtenden Wetterauer nämlich, in denen Simplicius die Substanz des Evangeliums wiedererkennt, den armen Lazarus, den geringsten seiner Brüder.73 Substanzverlust ist hier die Konsequenz eines grenzziehenden, weil ausgrenzenden Denkens. 47
" " 70
"
72 73
W U N D T , Die
deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts 2 2 1 . Vgl. W U N D T , Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts 221/222. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 30, 84, 5. Vgl. SPINRATH, "Liebe im Sprachgebrauch von Simplicissimus Teutsch und Continuatici" 5 7 / 5 8 , wo die Beobachtung gemacht wird, daß Liebe zu Gott im Roman nur als negative Existenzaussage erscheine: Das bedeutet, daß in der verneinten Aussage die Möglichkeit der Existenz des Verneinten vorausgesetzt ist. Mit dieser nur noch sehr vermittelt beglaubigten Aussageweise kontrastieren die Realitäten, von denen der Roman spricht: Angst und Furcht. Deshalb ist auch WERNER WELZIG, "Ordo und verkehrte Welt bei Grimmelshausen": ZfdPh 7 8 (1959) 424-430 und 79 (1960) 133-141, hier 79 (1960) 134/135, zu widersprechen. WELZIG sucht in Aristoteles, den die Enzyklopädien des 17. Jahrhunderts wieder zu ihren "auctores" zählen, seinen Gewährsmann dafür, daß Grimmelshausen, wenn auch im Negativ der verkehrten Welt, den mittelalterlichen ordo-Gedanken wiederbelebt. Ein kontrastierend anzitierter ordo ist keiner, denn ordo ist die funktionierende, von Gott garantierte Ordnung der Welt. Im Simplicissimus Teutsch jedoch funktioniert keine Ordnung, weswegen seine Welt als von Gott und allen guten Geistern verlassen erscheint. Simplicissimus Teutsch 1,30, 84, 12-14. Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 30, 84, 15-20.
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Grimmelshausens Simplicissimus
Teutsch
Dieser Substanzverlust, die Blindheit für das zu bewahrende Besondere, wird anschaulich in einer Skizze, die sich aus dem Umfeld des Regimentsschreibers GRIMMELSHAUSEN in Offenburg erhalten hat. Hier nämlich ist die von den Festungsanlagen zu schützende Stadt nichts weiter als ein blinder Fleck innerhalb des Rahmens, der von der Grenzbefestigung vorgegeben wird.
Abbildung 41: Plan der Festung Offenburg vom Jahre 1645. Reproduziert nach G U S T A V KÖNNECKE, Quellen und Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens, Band 2, Weimar (Gesellschaft der Bibliophilen) 1926,Tafel VI im Anhang.
Von der Stadt selbst ist in der Skizze nichts übriggeblieben als die sie begrenzenden Linien. Nichts könnte das Verfahren der Reduktion besser exemplifizieren, auf dem die kartographische Erfassung der Realität beruht. Nicht für die Dinge an sich zeigt sich dieses Verfahren der Reduktion interessiert, sondern fìir Beziehungen, die einen Vergleich implizieren. Die kartographische Erfassung des Raumes geht von Differenzen aus, die sich als Linien in eine Karte eintragen lassen.74 Kartographische Projektion, das wird anhand des Plans der Offenburger Grenzanlagen deutlich, steht selbst immer schon unter dem Gesetz der Grenze, insofern sie die Realität einer zweidimensionalen Anschauung unterwirft, einer Festlegung von Linien, an denen binäre Differenzen sichtbar gemacht werden können. Die Karte fokussiert das in den Vgl. M A T T H I A S BAUER, Im Fuchsbau der Geschichten, Anatomie des Schelmenromans, Stuttgart und Weimar (Metzler) 1993, 8: Was [...] von einem Territorium in die Karte gelangt, sind zunächst einmal Unterschiede - Höhendifferenzen, Abstände usw.-, die maßstabsgerecht wiedergegeben werden müssen [...].
411
Festung Hanau: Geometrie als Verhaltensnorm
Blick genommene Territorium unter einer erkenntnisleitenden Frage, die jeweils nur ein Entweder-oder zuläßt: höher oder tiefer, näher oder ferner, drinnen oder draußen. Insofern ist MATTHIAS BAUER zuzustimmen, wenn er formuliert, erst die Karte konstruiere das Territorium, solange man dies in dem Sinne versteht, daß es sich bei einem Territorium um einen von menschlichen Zeichenhandlungen abgegrenzten Raum handelt. Es muß jedoch hinzugefügt werden, daß diese Abgrenzung trotz ihrer Künstlichkeit an die physische Realität des Raumes gebunden bleibt und gleichzeitig, etwa in Form von Festungsanlangen, in diesen Raum physisch einzugreifen vermag. Kartographie ist also Teil eines Aneignungsprozesses, der eine außerhalb ihrer selbst gegebene Realität verarbeitet und umgestaltet. Deshalb sind ihr Wahrheitsanspruch und ihre faktischen Folgen anhand dieser Realität nachprüfbar. Keineswegs bewegt sich menschliche Erfahrung und menschliches Handeln in einem Kosmos von fiktiven Versionen, so daß seine geistige Welt nur aus Karten von Karten ad infinitum bestünde.75 Denn die Konsequenz daraus wäre, daß jede Version in ihrem Status zur Wirklichkeit gleich wäre, und BAUER zieht j a auch die Schlußfolgerung, daß derart unterschiedliche Modi der Erkenntnis wie Karte und Erzählung ineinander übersetzbar seien. Sicherlich sind beide Aneignungsformen dadurch gekennzeichnet, daß sie Komplexität, wie sie real gegeben ist, reduzieren.7δ Die Form der Reduktion jedoch ist jeweils eine entgegengesetzte: Während die Karte einen gegebenen Raum durch maßstäbliche Verallgemeinerung und entzeitlichte Simultaneität festlegt, konzentriert sich die Erzählung auf die Handlungen einzelner Personen und ihre zeitliche Folge. Dadurch nimmt die Erzählung das Besondere und Irreguläre wahr, das durch die Karte ausgegrenzt wird. Diese Möglichkeiten der Erzählung nutzt GRIMMELSHAUSENS Roman in der Hanau-Episode, um die in den Festungsanlagen manifesten Strukturen der Grenzsetzung zu konterkarieren. Denn die Festung ist nicht nur Schauplatz der Handlung, die Handlung ist vielmehr ein Ab- und Gegenbild der Strukturen, auf denen das Festungsparadigma beruht. Dieses Paradigma zeichnet die Erzählung durch die Bewegungen des Helden nach und unterzieht es damit zugleich einer kritischen Gegenperspektive. An einer bezeichnenden Stelle der Hanau-Episode macht die Erzählung mit dem Helden eine Bewegimg vom hierarchischen Zentrum der Festung, der Unterkunft des Gouverneurs, an ihren Rand, die Fortifikationsanlagen, womit sich die anfänglichen Beobachtungen des Simplicius, der von außen ins Zentrum gelangt war, in ihrer Umkehrung wiederholen. In dieser Umkehrbewegung könnte die Erzählung nun dem öffnenden Blick des Außenstehenden die abschließende Perspektive der privilegierten Einwohner entgegenstellen und 75 76
Dies behauptet BAUER, Im Fuchsbau der Geschichten 8 im Anschluß an Vgl. BAUER, Im Fuchsbau der Geschichten 9.
GOODMAN.
412
Grimmeishausens
Simplictssimus
Teutsch
damit den umschließenden Gestus der Festung bestätigend nachvollziehen. Doch nimmt der Roman abschließend die Festungsanlagen aus der Perspektive eines unbedeutenden Grenzpostens in den Blick und konfrontiert das System im Großen mit der Biographie einer einzelnen Randfigur im Kleinen, wodurch sich ein erkenntnispraktisches Gegenmodell zur Kartographie und zum Festungsbau ergibt. Denn die Karte abstrahiert ja von lokalen Besonderheiten, und der Festungsbau ignoriert die Interessen derer, die er zu schützen vorgibt. Die Substanz, die beiden aus dem Blickfeld zu entschwinden droht, wird nun greifbar in der Lebensgeschichte eines einzelnen unbedeutenden Menschen, die von der Erzählung aufgegriffen wird. Die Szene um die Schildwacht bei Hanau77 beginnt mit der Erinnerung an das Gelage, dessen Kontrast zur Not der Wetterauer und dessen Resultate in Form der gastronomisch-gastroenterologischen Landkarte zuvor behandelt wurden.78 Wie gester habe man sich wieder beim Gouverneur versammelt, als die Wacht mit Einhändigung eines Schreibens einen schwedischen Commissarium anmeldet, der die Guarnison zu mustern / und die Vestung zu visitiren gekommen ist. Die schriftliche Form der Anmeldung entstammt dem Diskurs der zentralistischen Verwaltung, die vermittelt überall gegenwärtig werden kann und somit Raum und Zeit homogenisiert. Der Eintritt des Wachmanns beim Gouverneur hingegen erinnert an den hierarchisch gestaffelten Raum der Festung. In der Hierarchie der Zeiten und Räume ist der schwedische Visitator nicht allein der von außen Kommende und vor dem Thor Stehende, er reklamiert fur sich vielmehr einen olympischen, sozusagen kartographischen Überblick, der erst eine Musterung der ganzen Festung erlaubt. Die übergeordnete militärische Ebene, die den Commissarius entsendet, behält die Intiative, was ihr die zeitliche Präzedenz sichert. Das drückt sich auch syntaktisch als Vorzeitigkeit (abgeordnet war) aus, die als präsente Plötzlichkeit (meldet [...] an) in den raum-zeitlichen Rahmen des vor Ort Gewohnten (Wie man nun also schlampamte) einbricht. Der geplante Zugriff der höheren Hierarchieebene hat die überstürzte und unkontrollierte Reaktion der Musicanten und Gast zur Folge, die wie Toback-Rauch zerstieben und verschwinden. Der Gouverneur hingegen macht sich daran, eine zeremonielle Ordnung herzustellen, die sowohl dem Zeitpunkt als auch dem Ereignis angemessen ist, und begibt sich, wenn auch unwillig, mit dem Adjutanten / der die Schlüssel trug / sampt einem Außschuß von der Hauptwacht und vielen Windliechtern dem Thor zu. Solange der Gouverneur sich noch innerhalb der Mauern befindet, während der ungebetene Gast davor steht, muß sich der Heimgesuchte noch keinem zeremoniellen Schein unterwerfen und kann sein Inneres nach außen kehren. Deshalb äußert er den hilflosen Wunsch, der zeitliche Vgl. ITALO MICHELE BATTAFARANO. "Die Schildwacht bei Hanau, Beitrag zur Definition des Realismus bei Grimmelshausen": Annali - Studi Tedeschi (1976) 7-21. Vgl. zum folgenden Simplicissimus Teutsch II, 4, 103, 18- 104, 5.
Festung Hanau: Geometrie als
Verhaltensnorm
413
Vorsprung des Visitators möge sich in sein Gegenteil verkehren: Er wünschte/ daß ihm der Teufel den Hals in tausend Stück brechen / ehe er in die Vestung käme. Der Commissarius hatte bereits seine Aufträge und Pläne, ehe er nach Hanau kam, während diese Kalkulationen dem Gouverneur verborgen blieben. Dieser wünscht nun, daß ihm ein unglückliches Geschick des Visitatore zu Hilfe eile, um die Ausgangslage umzukehren. Zeitliche Präzedenz entspricht im Vorgehen des Visitators dem arrangierten Schein, der erst dann durchbrochen wird, wenn die Gelegenheit für den Agierenden günstig ist. In der Durchschreitung der Grenzbefestigung gewinnt diese Durchbrechung des Scheines Gestalt. Diesen Gestus von Antizipation, arrangiertem Schein und Verteidigung der Grenze durch ihre Überschreitung spiegelt der hilflose Wunsch des Gouverneurs nach vorzeitiger Vernichtung des Kontrahenten, zugleich aber unterwirft er sich gedanklich dem Gesetz des Zuvorkommens, das ihm von der Initiative des Agierenden aufgezwungen wird. Das Zeremoniell, das sich beim Eintritt des Visitators entfaltet, steht unter den gerade beschriebenen Gesetzmäßigkeiten, wenn auch in ihrer scheinhaften Inversion. In diesem Zeremoniell bestätigt sich, daß die Festung der sinnliche Ausdruck für die Geometrie als Verhaltensnonn ist, eine Inszenierung der Abgrenzimg. Folglich zeigt der Gouverneur eine freundliche Außenseite, als er den Commissarius in den Bereich der Festung eingelassen hat und zelebriert die erzwungene Unterwerfung als Devotion und Ehrerbietung. Die Szene, in der der Visitator hoch zu Roß sitzt, so daß der Gastgeber beinahe in die Rolle des Lakaien gerät, der an Stegräiff zu greifen und dem hohen Gast herunterzuhelfen hat, drückt in ihrer Raumsymbolik die wahren Machtverhältnisse aus, während das unaufgeforderte Absteigen des Visitators, der dem Gouverneur zu Fuß zu seinem Losament folgt, eine höfliche Verschleierung dieser Realitäten darstellt. Gegenseitige Fassade bleibt der zeremonielle Raumgestus, bei dem jeder die lincke, d.h. weniger prestigeträchtige, Hand haben zu wollen vorgibt, denn der zuvorkommenden Zeichensprache entsprechen feindselige Intentionen. Die Rede von der augenblicklich geleisteten Zuvorkommenheit drückt in ihrem Zeitaspekt den stillen Kampf um Präzedenz aus, denn noch im Nachgeben will der eine dem anderen zuvorkommen und damit seine Überlegenheit demonstrieren. In ihrem Raumaspekt hingegen verweist die Augenblicklichkeit wortwörtlich auf den Blick in die Augen des Kontrahenten, der ein Einverständnis über die zugleich verborgenen und offenen Intentionen herstellt. Die ganze Szene spielt sich auf der Grenze zwischen Verstellung und Entlarvung, zwischen innen und außen ab, was sich in der Lokalisierung auf der inneren Fallbrücken ausdrückt Diese Brücke zwischen der äußeren und der inneren Begrenzungsmauer gehört noch zu den nach außen gerichteten Verteidigungsanlagen, stellt aber gleichzeitig schon einen ersten Innenraum der Festung dar.
414
Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
Die Verschränkung von Innen und Außen, das Gesetz der Grenzziehung, beherrscht auch den ganzen von den Begrenzungsanlagen eingefaßten Raum der Stadt. Denn dieser Raum, der ja in der Skizze von Offenburg bezeichnenderweise leer und damit bedeutungslos blieb, erhält seine ganze Bedeutung von der Verteidigungsfunktion der Stadt her. Der Besuch des Commissarius offenbart, daß sich diese Verteidigungsfunktion nicht nur auf den äußeren Gegner richtet, sondern als Gesetzmäßigkeit auch die innere Gestaltung der militärischen Hierarchie bestimmt.79 Der Commissarius ist zugleich Vorgesetzter und verhaßter Fremder, der von außen kommt. Genauso wird das Leben im Inneren der Stadt - wie bereits gesehen - von Begrenzungen zwischen hoch und niedrig, zwischen dem inneren Kreis des Gouverneurs und den randständigen Flüchtlingen geprägt. Im Falle Hanaus gewinnen die inneren Grenzen topographische Gestalt. Hanau bestand zur Zeit des Gouverneurs Ramsay aus einer Altstadt im Norden und einer gänzlich nach militärischen Gesichtspunkten geplanten Neustadt im Süden, die jeweils eigene Befestigungsanlagen besaßen und nur durch das Schützentor miteinander verbunden waren. In der Nähe dieses Schützentors befand sich auf dem Gebiet der Altstadt die Haupt-Wacht, wo im Roman der zeremonielle Zug des Begrüßungskommitees seinen Ausgang genommen hat und die der Gouverneur und sein Gast auf ihrem Weg zum Gouverneursquartier, das in der Neustadt im "Weißen Löwen" untergebracht war, wieder zu passieren haben.80 Auf einem Stadtplan von MATTHÄUS M E R I A N aus dem Jahre 1632 liegt die Hauptwacht auf dem linken oberen der drei Halbrunde, die Altstadt und Neustadt gegeneinander abgrenzen. Der "Weiße Löwe" liegt in der ersten Häuserreihe der Neustadt von der Altstadt aus betrachtet. An der Hauptwacht, die topographisch ungefähr in der Mitte des gesamten Stadtgebietes, aber auf der Grenze zwischen Alt- und Neustadt liegt, begegnet der Zug einer Schildwacht, die auch der räumliche Gestus der Episode zugleich an den Rand und in die Nähe der städtischen Mitte plaziert.81 Ort der Schildwacht ist also die Grenze, die zugleich die Mitte der Stadt markiert, direkt gegenüber dem Quartier des Gouverneurs im nördlichen Teil der Neustadt, der - auf das Gesamtgebiet der Stadt bezogen - ebenfalls zentral gelegen ist. 75
Vgl. die Bemerkung in der Episode um den Jäger von Soest, Simplicissimus Teutsch III, 3, 208, 7-9, w o es heißt, daß Simplicius mehr Feind in derselben Statt und unter seinem Regiment / als ausserhalb und in den feindlichen Guarmsonen hätte [...].
80
Vgl. z u m folgenden Simplicissimus Teutsch II, 4, 104, 6- 26. Die historisch-geographischen Angaben verdanke ich einer freundlichen Auskunft von MONIKA RADEMACHER beim Stadtarchiv Hanau. Insofern ist auch BATTAFARANOS Bezeichnung Schildwacht bei Hanau nicht ganz korrekt. Die Schildwacht steht in Hanau, wenn auch notgedrungen am sozialen Rand. Von daher ergibt sich eine halbe Außenperspektive, die sich mit der pikaresken Perspektive an der Grenze zwischen innen u n d außen deckt.
"
Grenzposten von Hanau: innerer
Widerspruch
Abbildung 42 : Plan der Stadt Hanau aus Matthäus Merians Topographia Hassiae, 1632. Repro der ULB Bonn nach dem Reprint, Frankfurt am Main (Frankfurter Kunstverein) 1924.
Dem topographischen Ort entspricht der Chronotopos der Episode, die Grenzlage der Schildwacht, die an die innere Hierarchie der Festung gebunden ist und sie zugleich kritisch von außen wahrnimmt. Die kritische Außenwahrnehmung des Grenzpostens erweist sich als authentische Innensicht auf die scheinhafte Äußerlichkeit, die von der Hierarchie der Grenzziehungen aufgerichtet wird. Auf der Grenzposition, die von der Schildwacht bezogen wird, schlagen die Gegensätze, die durch die Hierarchiegrenzen erzeugt werden, in ihr Gegenteil um. Der Text bringt die inneren Widersprüche des Festungsparadigmas zur Sprache, indem er die Hanauer Schildwacht an zwei widerstreitenden Diskursen teilnehmen läßt. Auf der einen Seite unterwirft sich der Wachsoldat dem äußeren Ritual und ruft der ihm wohlbekannten Person des Visitators ihr Wer da? zu. Die Antwort des Commissarius jedoch (Der Mann ders Geld gibt!) wird zum Anlaß der Umkehrung, die der Soldat jedoch nur leise zu brumlen wagt: Ein Schindhund ders Geld nimmt! das bist du; So viel Geld hastu mir abgeschweist / daß ich volte / der Hagel erschlüg dich / ehe du wieder auß der Stadt kämest,82 Der Grenzposten kann der Selbsteinschätzung des hohen c
Simplicissimus
Teutsch II, 4, 104, 17-20.
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Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
Militärs die ökonomische Realität entgegensetzen, da er auf zwei entgegengesetzten Positionen innerhalb der Kriegsökonomie Erfahrung hat: als Bauer aus dem randständigen Vogelsberg, der die Grundlage für die Kriegsfiihrung zu erwirtschaften hatte und dem sein Eigentum abgeschweist worden war, und als Soldempfanger, der ja nur Bruchteile dessen zurückerhält, was ihm vorher genommen wurde. Einerseits gehört der Soldat zur ausgebeuteten Landbevölkerung und andererseits zu der ausbeutenden Macht. Die Person der Schildwacht macht nicht nur die Sozialbiographie eines Bauern greifbar, der die ökonomisch produktivste und wichtigste Klasse der Ständehierarchie repräsentiert.83 In dieser Figur gewinnen vielmehr die Widersprüche des Gesamtsystems Gestalt, da der zum Soldaten gewordene Bauer zwei Rollen beiderseits der Grenzen von agrarischer Produktion und militärischer Enteignung zu spielen hat. Der formierende gesellschaftliche Block, das System von zentraler Planung und Grenzziehung, wäre ohne die von ihr unterworfene ländliche Peripherie buchstäblich mittellos. Was, so ließe sich mit dem Bauern und Wachsoldaten fragen, wäre die herrliche Vestung Hanau ohne die Gelegenheit ausserhalb und ohne die Wetterauer und Vogelsberger, die als Flüchtlinge nun zu Randfiguren im Leben der befestigten Stadt geworden sind? Die Hierarchiegrenze zwischen Stadt und Land, zwischen außen und innen, wird durch den Diskurs des randständigen Bauern und Zwangsrekrutierten zur Linie der Inversion, an der die offizielle Inszenierung des Scheines sich selbst entlarvt. Indem die Erzählung in eine einzelne Figur die Widersprüche der Gesamtgesellschaft hineinlegt, wird die Episode zum Widerstand gegen die herrschenden grenzziehenden Mechanismen. Mit dem Grenzposten, der als Bauer und Soldat zwei Formen der Weltaneignung verbindet, läßt sich auf die Episoden um Gelnhausen und Hanau zurückschauen. Denn das Wechselspiel zwischen den grenzziehenden Verfahren des formierend historischen Blocks und dem schrittweisen Erfahrungszugewinn des Helden bestimmte von Beginn an den Weg der Erzählung zwischen der Waldeseinsamkeit, der Ruine Gelnhausen und der Festung Hanau. Die menschenleere Landschaft, die der Held zu Beginn betritt, erwies sich als historischer Raum, dessen Gestalt von den Kriegsereignissen bestimmt ist. Diese Überformung des Raumes durch die Mechanismen der Herrschaft war noch drastischer im Fall der Ruine Gelnhausen. Das Szenario der toten Stadt konfrontiert den Helden mit einem Deutungsbedarf, den erst sein schrittweiser Erfahrungszugewinn befriedigen kann. Nicht nur die Folgen des politischen Handelns wurden kritisierbar, sondern auch die instrumentell-allegorischen Verfahren, die fiktive Räume einer vorgängigen Deutung unterwerfen. Wahrheit, so ergab sich, wird erst in der Erarbeitung historisch-politischer Wirklichkeit zugänglich. Der historische Erfahrungsraum des Helden konturiert sich in Abgrenzung vom barocken Handlungsraum der instrumenteilen D
Vgl. BATTAFARANO, "Die Schildwacht bei Hanau" 21.
Grenzposten von Hanau: innerer Widerspruch
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Allegorie. Nicht die fiktiven Räume der Erzählung erwiesen sich als künstlich zugerichtet, sondern die historischen Räume, die das Ergebnis militärischer Planung und kriegerischer Handlungen sind. Dies wurde noch deutlicher im Fall der Festung Hanau, die dem Helden sofort mit militärischen Sicherungsund Abgrenzungsmaßnahmen begegnet. Der Gestus der Abgrenzung, der auch die innere Hierarchie der Festungsgesellschaft bestimmt, wurde durch den von der Erzählung bezogenen Standpunkt der Ausgegrenzten, der Leute hinder den Bergen, kritisierbar. Auch der spirituelle Referenzpunkt der Erzählung, die Perspektive des ausgegrenzten armen Lazarus, erwies sich sowohl von den historischen Verhältnissen bestimmt als auch durch die pikareske Tradition vermittelt. Im Lazarus des Evangeliums und im Lazarillo des spanischen Schelmenromans hat die pikareske Perspektive ihre Wurzeln. Die Mißachtung des Einzelmenschen, seiner konkreten sinnlichen Existenz, führt der Begriff des Substanzverlusts auf die Problematik der Gesamtepoche zurück. Seinen Ausdruck findet Substanzverlust in der Kartographie, der Beherrschung des Raumes durch seine geometrische Abstraktion, und im Festungsbau, der die Geometrie handgreiflich in die Landschaft eingräbt. Der Festungsbau erschien als Rahmen für zeremonielle Inszenierungen von Herrschaft, in denen Grenzziehung als geometrische Verhaltensnorm exerziert wird. Diese Inszenierung wurde wirkungsvoll durch die Grenzposition der Schildwacht bei Hanau kontrastiert. Der einfache Soldat ist zum Instrument der militärischen Grenzsicherung geworden, weil das Militär zuvor die Integrität seines Besitzes zerstört hat. Die Episode entlarvt den angeblich sichernden Charakter von Grenzziehung und Festungsbau als Gestus der Eroberung und Zerstörung. Hinter der scheinbaren Ordnung und Solidität der Festung, das verdeutlichte die groteske Landkarte der Exkremente, verbirgt sich die Auflösung der Substanzen. Die Schritte des Helden durch die militärisch geplante und kriegerisch zerstörte Welt werden in der Zusammenschau als Gegenbewegung zur Dynamik der Vernichtung deutbar. Mit ihrem Blick auf den Menschen am Rand revidiert die Erzählung die zentralistische Perspektive, von der die Welt des Geschehens beherrscht ist. In der Frage des Helden nach den Ursachen des Geschehens und in der Rückfrage der Erzählung nach dem Widerständigen und Beharrenden ist in Umrissen eine poetische Rettung der Substanz zu erahnen.
Experimentelle Grenzüberschreitung und Grenzen der Utopie: Simplicius, die Expedition zum Mummelsee und die Gratwanderung zwischen den Welten Simplicius überschreitet im Verlauf der Erzählung Grenzen zwischen verschiedenen Welten. Da ist die kleine, randständige Welt der Leut, die hinder den Bergen wohnen, und die große Welt der politisch-ökonomischen Projekte und der wissenschaftlichen Projektionen. Wie der Held wechselt der Roman ständig die Perspektiven und lenkt den Blick des Lesers auf den historischen Prozeß, in dem der Zentralstaat seine Randgebiete der Modernisierung unterwirft. Die große Welt schiebt sich als formierend-historischer Block über die kleine. Doch diese kleine Welt beharrt auf ihrem Recht und sucht sich gegen die Übermacht zu behaupten. Bei diesen gegenläufigen Bewegungen haben wir es nicht nur mit konträren politischen Strömungen zu tun. Es handelt sich vielmehr um zwei Arten, sich zur Wirklichkeit zu verhalten, um zwei Epistemen. Mit Episteme ist hier die spezifische Form des Verstehens gemeint, in der sich die verschiedenen Informationen zu einem Weltbild zusammenfügen. Im wesentlichen basiert das zentralistische Weltmodell auf einer Episteme der Repräsentation, während die randständige Welt der Landbevölkerung von einer Episteme der Ähnlichkeiten bestimmt ist.1 Die Koexistenz der Epistemen hat eine Ungleichzeitigkeit zur Folge; zur gleichen Zeit leben die Herrschenden und die Untertanen des 17. Jahrhunderts in unterschiedlichen Welten. Die einen planen ihre Welt nach Repräsentationen und Modellen, während die anderen ihre Welt als gegeben hinnehmen. Den Epistemen, die ein Bild der Wirklichkeit formen, entsprechen im Roman verschiedene Chronotopoi. Die Welten des Romans grenzen wie die historischen Formationen des 17. Jahrhunderts aneinander und gehen ineinander über. Wir haben gesehen, daß etwa Simplicius und sein Knan gleichzeitig in verschiedenen Welten zu Hause sind, daß sie die Diskurse über die Wirklichkeit anders anordnen und trotzdem zu einem Austausch und gegenseitigen Bezug in der Lage sind. Selbst die anscheinend unüberschreitbare Welt der Nähe und der Ähnlichkeiten, die der Simplicissimus Teutsch als seinen Ursprung setzt, erwies sich ja bereits als Ergebnis militärischer Konfrontation und konnte in das komplexe Beziehungsgeflecht historischer Ereignisse eingeholt werden. Nirgendwo im Roman bleibt die abseitige Welt der kleinen
1
Vgl. zur Begrifflichkeit MICHEL FOUCAULT, Die Ordnung der Dinge, Eine Archäologie der Humanwissenschaften, deutsch von ULRICH K O P P E N , Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaften 96) "1994.
Simplicius als Wanderer zwischen den Welten
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Leute von der Welt der großen Geschichte unberührt, das Gesetz der Grenze beherrscht Zeit und Raum des Romans. Was Welt bedeutet, hängt sowohl von der physischen Realität als auch von den Strategien ab, diese Realität zu interpretieren, zu gestalten oder zu zerstören. Die Welt und ihre Aneignung sind zwei verschiedene Größen, doch bestimmt die Form der Aneignung auch die Gestalt der Welt. Daß die Welt nur in ihrer Vermittlung durch Weltaneignung gegeben ist, wird in der Frühen Neuzeit verschärft bewußt. Im Barock findet diese Erfahrung ihren Ausdruck in der Fülle religiöser, literarischer und naturwissenschaftlicher Diskurse über die Welt, die sich zu unterschiedlichen Epistemen gruppieren. Der Simplicissimus Teutsch ist gerade darin ein barockes Weltbuch, daß er nicht nur die Umwelt seines Helden abschildert, sondern sich eine Fülle konkurrierender und widerstreitender Diskurse einverleibt. Dabei durchbricht er Diskursgrenzen, die wir uns als selbstverständlich hinzunehmen angewöhnt haben, etwa zwischen Naturwissenschaft und Literatur, Rationalität und Spiritualität oder Seriosität und Kuriositäten, womit er uns Heutige in ähnlicher Weise irritiert, wie es die fachwissenschaftlichen Werke seines Jahrhunderts tun, die ihrerseits mit Leichtigkeit die Grenzen zur Literatur oder zur Mystik überwinden.2 Wenn sich etwa Simplicius im fünften Buch des Simplicissimus Teutsch auf seinen vielbesprochenen Weg zum Mummelsee macht, dann ist er nicht nur mit den Fabuln und Mährlein der Bauersleut aus der Nachbarschaft ausgestattet, sondern zugleich mit den naturwissenschaftlichen Methoden seiner Zeit. Genauso mischt die Erzählung Quellenmaterial höchst unterschiedlicher Provenienz.4 Die Welt des Romans wird aus diskursiven Versatzstücken montiert, weil auch die Realität der Zeit von höchst unterschiedlichen diskursiven Strategien geprägt ist. Ich möchte die Quellenlage zur Mummelsee-Episode hier nicht nachvollziehen. Vielmehr nehme ich die erzählte Welt als in sich strukturierten Kosmos, der sich in Nachbarschaft und Abgrenzung zur Welt seines Autors und seiner Leser bestimmt. Die Strategien jedoch, mit denen sich Simplicius in der Romanwelt zurechtzufinden versucht, haben ihre Parallelen in den zeitgenössischen Aneignungsformen. Deshalb gebe ich dem Helden auf seiner Expedition zum Mummelsee zwei Reisebegleiter aus der zeitgenössischen Fach2
3 4
Vgl. JÖRG JOCHEN BERNS, "Naturwissenschaft und Literatur im Barock, Unter besonderer Berücksichtigung der Sulzbacher Kulturregion zwischen Amberg, Altdorf und Nürnberg": MorgenGlantz, Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth Gesellschaft 5 (1995) 129-173. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 10, 406,4-9 und 407, 8/9. Diese Quellen müssen hier nicht im einzelnen besprochen werden, da sie bereits von anderer Seite ausführlich dokumentiert wurden. Vgl. etwa HARRY MIELERT, "Der paracelsische Anteil an der Mummelsee-Allegorie": DVJs 20 ( 1 9 4 2 ) 435-451; GÜNTHER W E Y D T , Nachahmung und Schöpfiing im Barock, Studien um Grimmelshausen, Bern und München (Francke) 1968, 20-43; ders., "Neues zu Grimmelshausen": Simpliciano 6/7 (1985) 10-17; JOHANNA BELKIN, "Ein natur- und quellenkundlicher Beitrag zur Mummelsee-Episode im Simplicissimus": Simpliciano IX (1987) 101-138.
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Grimmelshausens
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prosa mit auf seinen Weg. Für die Lektüre, die dem Weg des Simplicius zum Mummelsee folgen soll, bieten sich zwei zeitgenössische Texte als Orientierungshilfe an, die nicht unbedingt zu den direkten Quellen des Simplicissimus Teutsch gehören, durch ihre inhaltliche Verwandtschaft jedoch einen Vergleich nahelegen. Der eine Text entstammt dem Weltpanomara Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts ( 1 6 1 0 ) des Tiroler Arztes HIPPOLY5 TUS GUARINONIUS, von dem im ALBERTiNus-Kapitel bereits die Rede war. Die bei GUARINONIUS beschriebene Tour zu einem Bergsee stellt eine frühe Landschaftsschilderung dar, die durch ihre Beobachtungsgabe und Erzählkunst beeindruckt.6 Daß hier das Exempel zum plastischen Erlebnisbericht ausufert und damit den Rahmen einer reinen Darlegung medizinischer Aspekte der Lebensführung sprengt, verweist bereits auf die Mischung der Gattungen und Diskursformen, die auch dieses populärwissenschaftliche Werk auszeichnet. Ein zweiter Text kommt dem Unternehmen des Simplicius in raumzeitlicher Hinsicht noch näher, so daß er zuweilen unter die Quellen der Mummelsee-Episode gerechnet wird. Es handelt sich um die Relatio des ELIAS GEORG LORETUS über eine Wanderung zum Mummelsee und zum Wildsee, die in der zweiten Auflage von ATHANASIUS KIRCHERS Mundus subterra7 neus (1678) abgedruckt wurde. Dieser Kontext für LORETUS' Reisebericht ist nicht unerheblich, spiegeln doch die weitgespannten Interessen des Herausgebers KIRCHER zwischen kabbalistischer Mystik, Sprachwissenschaft, Akustik, Optik, Geometrie, Geographie und Medizin genau die diskursive Grenzüberschreitung, die auch der Simplicissimus Teutsch immer wieder unternimmt. Welt kommt bei KIRCHER - dem Titel des Werkes nach - per Artis & Naturae 5
'
7
Vgl. HIPPOLYTUS GUARINONIUS, Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts, Reprint der Ausgabe Ingolstatt 1610, hg. von ELMAR LOCHER, 2 Bände, Bozen (Edition Sturzflüge) 1993/1994. Siehe die Ausführungen über Text und Vorlagen, Tirol bei GUARINONIUS, Gusman in Innsbruck und Gusman bei den Komödianten im Kapitel über ALBERTINUS. Den Hinweis auf diese Parallele zur Mummelsee-Episode verdanke ich dem Stellenkommentar in: BREUER, Simplicissimus 960. Eine ausführlichere Besprechung der Bergtour findet sich bei DIETER BREUER, "Hippolytus Guarinonius als Erzähler": Die österreichische Literatur, Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung, Teil 2, hg. von HERBERT ZEMAN, Graz (Akademische Druck- und Verlagsanstalt) 1986, 1117-1133. Vgl. ATHANASIUS KIRCHER, MUNDUS SUBTERRANEUS [...] Quo Divinum subterrestris Mundi Opificium, mira Ergasteriorum Naturae in eo distributio, verbo pantamorfon Protei Regnum, Universae denique Naturae majestas & divitiae summa rerum varietate exponuntur, Abditorum causae acri indagine inquisitae demonstrantur, cognitae per Artis & Naturae conjugium ad Humanae vitae necessarium usum vario Experimentorum apparatu, necnon modo & ratione applicantur. [...]. 2 Teile, Amsterdam 3 1678. (Benutzte Ausgabe: ULB Bonn, Signatur: Q b 132.) Der Bericht von LORETUS findet sich dort in Teil 2, 109-118. Weitere Standorte des Werkes in: Universale Bildung im Barock, Der Gelehrte Athanasius Kircher, Ausstellungskatalog Rastatt (Stadt Rastatt) und Karlsruhe (Badische Landesbibliothek) 1981, 118, Nr. 17. Zu KIRCHER vgl. JOHN FLETCHER (Hg.), Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit = Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 17, Wiesbaden (Harrassowitz) 1988. Leicht zugänglich ist LORETUS' "Relatio" durch den Nachdruck bei BECHTOLD, "Zur Quellengeschichte des Simplicissimus" 533-537. Nach BECHTOLDS Nachdruck wird LORETUS hier zitiert.
Vorläufige Berichte über den
Mummelsee
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conjugium in den Blick und erscheint damit bereits durch Weltaneignung vermittelt. Simplicius' Grenzüberschreitungen sind am besten zu verfolgen, wenn man von der Situierung der Episode in der bereits beschriebenen Textlandschaft des fünften Buches ausgeht.8 Simplicius geht in der unmittelbaren Nachbarschaft seines Hofes spazieren, da er die Hauswirtschaft nun bei Knan und Meuder in guten Händen weiß, und wartet allerhand Contemplationen ab. Den benachbarten Sauerbrunnen sucht er nicht mehr zu Vergnügungszwekken auf, da er die Selbstbeschränkung und Kargheit seiner Pflegeeltern nachzuahmen begonnen hat. Gleichwohl besteht zwischen der Handlungsform der Pflegeeltern, die für die überschaubare Wirtschaft des Hofes zuständig sind, und der kontemplativen Haltung des nun ja als Adligen etablierten Simplicius ein grundlegender Unterschied. Er befindet sich zwar in der Umgebung seines Hofes, doch überschreitet er gedanklich bereits die Grenzen der Gemarkung. Im Sauerbrunnen hört er einer Gesellschafft zu, die von dem Mummel-See discurirten / -welcher unergründlich / und in der Nachbarschafft auf einem von den höchsten Bergen gelegen sey. Der Mummelsee liegt also räumlich nahe, ist aber durch seine gebirgige Lage schwer zu erreichen und in seiner Tiefe unergründlich. Mit dieser Verschränkung von Ferne und Nähe bietet er Anknüpfungspunkte für Spekulationen und Fabuln, die den Bereich des Gewohnten verlassen und kontrastieren. Aus dem, was unterschiedliche alte Bauersleut über den Mummelsee berichten, gewinnt Simplicius nach und nach eine Vorstellung von dem unbekannten Phänomen. Die zuerst vorgetragenen Geschichten, die von Begegnungen mit den Wassermännlein des Sees berichten, hält er für Mährlein, ja er bezweifelt zunächst, daß ein solcher unergründlicher See auff einem hohen Berg seyn könte.9 Märchenhaft ist hier vor allem die Verwandlung der Ferne von wunderbarlichen Spectra in die Nähe eines beinahe vertrauten Umgangs mit den rätselhaften Erd- und Wassermännlein, die mit den Leuten geredet haben sollen. Hier scheint die Episteme der Ähnlichkeit am Werk, die das Unbekannte vertrauten Formen anähnelt, um es sich so einzuverleiben. Im nächsten Schritt jedoch wird Simplicius mit Berichten konfrontiert, deren Grad an Beglaubigung höher ist, denn die Berichtenden sind alte glaubwürdige Männer und erzählen von Ereignissen, die historisch dadurch verbürgt sind, daß sich noch heut zu Tags, zur Zeit der Sprecher also, Zeugnisse für sie finden lassen.10 Dieser objektivierenden Tendenz der Berichte entsprechen die Gegenstände, handeln sie doch von der Konfrontation der bäuerlichen Bevölkerung mit einer Obrigkeit, die in dem einen Fall darange' ' ,D
Vgl. zum folgenden Simplicissimus Teutsch V, 10. 405, 22 - 406, 9. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 10, 406, 10 - 407, 12. Vgl. Simplicissimus Teutsch V. 10, 407, 12 - 408, 3.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
gangen ist, die Tieffe des Sees abzumessen, und in dem anderen Fall den See gar hätte abgraben lassen wollen. In den Erfahrungsberichten, die durch Zeugnisse und Zeugen in einem höheren Maß zur Objektivierung tendieren, treffen die wirkliche oder vermeintliche Erfahrung der Nahumgebung auf die Vermessung der Natur, mithin auf den distanzschaffenden und repräsentierenden Diskurs des absolutistischen Herrschaftsapparats und der ihm zu Gebote stehenden Wissenschaft. Doch bleiben alle Techniken der Naturerkundung und -beherrschung in bezug auf das Phänomen des Mummelsees erfolglos. Die Messung führt zu keinem Resultat, und die Abgrabung wird durch Bitt der Landleute am Ende doch hintertrieben, weil man befürchtet, das gantze Land möchte untergehen und ersauffen. Deshalb bescheiden sich die Fürsten mit einem Experiment kleineren Umfangs, der Aussetzung von Forellen in den See; die Fische jedoch beenden in weniger als einer Stund die künstliche Versuchsanordnung und verlassen das Gewässer, dessen Wasserqualität ihnen wohl nicht zuträglich ist. Auch dieser kleinen Manipulation verweigern sich die Phänomene. Die anfangliche Distanz des Zuhörers zu den Berichten über den Mummelsee schwindet, so daß Simplicius durch die Glaubwürdigkeit der zuletzt vorgetragenen Berichte bey nahe geneigt ist, sogar den zuerst erzählten Geschichten völligen Glauben zu schenken. Die Ambivalenz der erzählerischen Vermittlung, die das Entfernte in die Nähe holt und doch auf Annäherung des Zuhörers an das Gehörte angewiesen ist, drückt sich in diesem bey nahe aus. Simplicius, aus seiner Reserve gelockt, sieht seinen Fürwitz geweckt, den wunderbaren See zu beschauen.11 Seine curiositas wird nicht zuletzt dadurch provoziert, daß die Berichte und Erzählungen für die Zuhörer vor allem Rätsel aufwerfen: Von denen / so neben mir alle Erzehlung gehört / gab einer diß / der ander jenes Urtheil darüber / darauß denn ihre unterschiedliche und widereinander lauffende Meynungen genugsam erhellten; [...]. 12
Das Gespräch der Sauerbrunnengäste bringt durch den Widerstreit der Meinungen die Problematik der Urteilshaltung angesichts eines rätselhaften Gegenstandes zum Ausdruck. Was über den Mummelsee vorliegt, sind zunächst einmal Erzählungen, deren Glaubwürdigkeit Simplicius mit der Zeit unterschiedlich beurteilt.13 Eine Erzählung gibt durch ihre Form nicht zu erkennen, ob sie unglaubwürdige fabula oder verläßliche relatio ist. Erst das Urteil des Zuhörers verleiht ihr den einen oder den anderen Status. Simplicius aber schwankt in seinem Urteil, was im Widerspruch zum Anspruch des Urteils steht, etwas bleibend Gültiges über den Gegenstand auszusagen.
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 11,408, 5-8. Simplicissimus Teutsch V, 11,408, 8-11.
Vgl. GAEDE, Substanzverlust 84.
Vorläufige Berichte über den Mummelsee
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Dieses Mißverhältnis von zeitlicher Sukzession, in der mehrere widersprüchliche Urteile möglich sind, und der intendierten Endgültigkeit jedes einzelnen Urteils bestimmt dann aber auch die Bewertung der erzählten Phänomene, nachdem erst einmal ihre Glaubwürdigkeit vorausgesetzt ist. Denn auch die erzählten Tatsachen selbst erzwingen keineswegs ein bestimmtes Urteil. So kommt es, daß der Widerstreit der Meinungen wieder die Dynamik freisetzt, die dem Erzählen zugrundeliegt. Die seltsamen Veränderungen, die durch die Begegnungen mit dem See hervorgerufen werden und die den Stoff für die Wundergeschichten hergeben, lassen sich ihrer Natur nach nicht begrifflich fixieren.14 Wie die zeitliche Sukzession der Erzählung bringt auch der Widerstreit der Meinungen die Ambivalenz einer Realität zum Ausdruck, die sich endgültigen Urteilen entzieht. Erzählung und Streitgespräch sind nicht nur literarische Gattungen, sie entsprechen vielmehr einer ambivalenten Realität, die durch den Wahrheitsanspruch des Urteils nicht zu erschließen ist.15 Von hier aus wird zugleich verständlicher, warum sich auch die naturwissenschaftlichen Autoren GUARINONIUS und L O R E T U S verschiedener, namentlich aber erzählerischer Präsentationsformen bedienen. L O R E T U S beginnt seinen Bericht mit dem Referat von Erzählungen über unterirdische Wesen im allgemeinen und Seebewohner im besonderen, bevor er mit seinen Lesern darangeht, sich an den Mummelsee mit Fuß und Augen näher heranzubewegen.16 Und bei GUARINONIUS findet sich eine ästhetische und erkenntnistheoretische Reflexion über die erzählerischen, diskursiven und dialogischen Präsentationsformen seines universalen Hausbuchs. Zur Erzählung der beschehenen dingen führt er zunächst ein Cicero-Zitat an, das den Wert der historia unterstreicht, denn sie sei ein Zeugnus der Zeit / ein Liecht der warheit / ein vbung der Gedächtnus / ein zuchtmeisterin vnsers lebens / ein verkündigerin der alten geschichten. Dann aber kommt er in Hinblick auf umlaufende Lügen Zeitungen auf die Möglichkeit der Unwahrheit zu sprechen, die aus der historia eine fabula macht.17 Wohl kann eine Erzählung nicht für die Wahrheit des Erzählten einstehen, doch ist nur sie einem bestimmten Aspekt der Wirklichkeit adäquat, der Erstreckung und Entwicklung in der Zeit. Erzählen und Realität haben die Zeitlichkeit gemeinsam. Bei GUARINONIUS hat das Erzählen seinen Platz als Voraussetzung der Meinungsbildung, die sich im Diskurs Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 10, 406, 10-13: Einer sagte / wenn man ungerad / es seyen gleich Erbsen / Steinlein oder etwas anders / in ein Nastüchlein binde /und hinein hencke / so verändere es sich in gerad; also auch / wenn man gerad hinein hencke / so finde man ungerad. Zum Urteil als Denkform der Neuzeit vgl. FRIEDRICH GAEDE, Poetik und Logik, Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert, Bern und München (Francke) 1978, 26-33. Zur Wechselrede im Drama, der Stichomythie, als Ausdruck der Ambivalenz vgl. STEINHAQEN, Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama 49-52. Vgl. BECHTOLD, "Zur Quellengeschichte des Simplicissimus" 535. Vgl. GUARINONIUS, Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts, Band 1, II. Buch, Kapitel 15, Seite 197/198.
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oder im Streitgespräch äußert. Ohne die im Gedächtnis des Erzählers aufgehobene und aufgespannte Abfolge der Zeit kann es offenbar keine gültigen Meinungen über die Dinge geben.18 Die Dinge selbst geben in ihrer momentanen Präsenz und Veränderlichkeit ihre sinnliche Wahrnehmung vor, die jeder theoretischen Verallgemeinerung vorausgeht. In einem erzählten Streitgespräch über die Präferenz der spekulativen oder der praktischen Erkenntnis führt GUARINONIUS den Satz des ARISTOTELES an, es sei nichts im Intellekt, das nicht zuvor mit den Sinnen erfahren worden sei. Und er ergänzt seine Argumentation launig dadurch, daß er seinen Gesprächspartner bei der Mahlzeit auffordert, er solle doch speculatine essen und sich dadurch sättigen, wenn die Theorie der Praxis so weit überlegen sei, daß sie auch von weitem die Sachen verrichten könne." Immer wieder wird auch der (populär-)wissenschaftliche Diskurs auf die konkrete Präsenz der Phänomene und ihre Präsentation in der zeitlichen Abfolge des Erzählens zurückverwiesen, so trügerisch beide im Einzelfall auch wirken mögen. Wenn aber Simplicius den Schluß zieht, daß es um den Mummelsee wie umb eine Mascarade, ein verkapptes Wesen seye / also daß nicht jeder seine Art so wol als seine Tieffe ergründen könne, dann macht er sich die dualistische Semantik von Fassade und Tiefe zu eigen, die hinter der Erscheinung nach dem wahren, unveränderlichen Wesen sucht.20 Auf diese Weise mag nun tatsächlich keiner das Phänomen des Mummelsees ergründen. Da wundert es nicht, daß sowohl Art als auch Tiefe des Sees noch nicht erfunden worden sind. Die Veränderlichkeit der Phänomene erscheint in der Rede des Simplicius als Maskerade, mit der sich die Realitäten der Erkenntnis entziehen. Dies gilt mutatis mutandis auch für die Selbsterkenntnis des Helden, der vor der Veränderung zu kapitulieren droht.21 Wohl nicht zufallig begibt sich Simplicius nach seinem apodiktischen Schluß über den Mummelsee an jenen Ort, wo er vor Jahresfrist seine nun bereits verstorbene zweite Ehefrau getroffen hat, um dort alle Veränderungen Revue passieren zu lassen, die ihn in dem vergangenen Jahr betroffen haben. Die Hilflosigkeit seiner Bilanz drückt sich in den jähen Umschwüngen des Rückblicks aus. Simplicius gewinnt hier keinen Zugriff auf seine Biographie, weil er sie auf der Suche nach dem eigentlichen Wesen nur in der Form von Täuschungen und Brüchen wahrnehmen kann. Die Veränderungen, denen sich Simplicius sein Lebtag unterworfen sieht, werden nicht auf ihre Geschichte, auf Agenten, Mitbeteiligte und Folgen hin untersucht, sondern als anonymes fatum hingestellt. Nach dieser " " 20
"
Vgl. hierzu die Konfrontation der augustinischen memoria-Spekulation mit der aristotelischen Poetik bei RICEUR, Zeit und Erzählung, Band 1. Vgl. GUARINONIUS, Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts, Band 1, I I , 1 6 , 200-202. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 10,406, 10-13. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 11, 408, 16 - 409, 5.
Knan und Simplicius: Epoché und Experiment
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fruchtlosen Selbstbespiegelung stürzt sich der Held in die Untersuchung des Mummelsees. Damit wird der unbekannte See, Gegenstand seiner Spekulation, zum speculum, zum Spiegelbild einer mißglückten Suche nach der eigenen Geschichte. Im Zuge der weiteren Annäherung an den Mummelsee entwickelt die Erzählung ein Kontrastmodell zur einsamen Selbstreflexion des Helden, indem sie ihm den Knan als Wegbegleiter und Widerpart an die Seite stellt. Der Knan kann auf eigene Erfahrungen mit dem Mummelsee verweisen und rät dem Pflegesohn aufgrund dieser Erfahrungen von der Expedition ab: [...] der Herr Sohn und Petter wird nichts anders sehen als ein Ebenbild eines Weyers / der mitten in einem grossen Wald ligt / und wann er seinen Lust mit beschwerlichem Unlust gebüßt / so wird er nichts anders als Reu / müde Füß / (dann man kann schwerlich hin reuten) und den Hergang vor den Hingang darvon haben; Es solte mich kein Mensch hingebracht haben / wann ich nicht hett hinfliehen müssen / als der Doctor Daniel (er wolte Duc d'Anguin sagen) mit seinen Kriegern das Land hinunder vor Philipsburg zog; [...] 11
Die Rede des Knan stellt dem spekulativen Vorwitz des Simplicius eine pragmatische Abwägung entgegen. Aus den eigenen Erfahrungen in der Vergangenheit versucht der Sprecher, den zukünftigen Nutzen des Unternehmens abzuschätzen. Diese Erfahrungen wurden nicht aus einem spekulativen Vorgriff auf Unbekanntes gemacht, sondern aus den Zwängen einer bestimmten historischen Situation heraus, die mit der volkstümlich verzerrten Nennung eines Heerführers und seines (in das Jahr 1644 datierbaren) Kriegszuges nach Philippsburg hinreichend genau umrissen ist. Der Knan schildert sein historisches Umfeld mit der gleichen Nüchternheit wie die Lage des Sees in einem abgelegenen, nur mühselig zu erreichenden Bergwald. Seine Rede evoziert einen pragmatischen Chronotopos, in dem lediglich das in Erscheinung tritt, was für den Erfolg oder Mißerfolg einer Handlung von Bedeutung ist. Die phänomenologische Epoché des Knan, die Selbstbeschränkung seiner Erkenntnis, erscheint in der Erzählung keineswegs als bloße Beschränktheit, der gegenüber der Blickwinkel des Simplicius umfassender und damit zu privilegieren wäre. Deshalb kann die Deutung auch nicht dabei stehenbleiben, im Knan die Verkörperung für das konservative Prinzip und in Simplicius den Vertreter des progressiven Prinzips zu erblicken, wie JAN KNOPF vorgeschlagen hat.23 Vielmehr wäre zu zeigen, wie die Erzählung die beiden Prinzipien von Fortschritt und Beharrung aufeinander bezieht und die Konkurrenz der verschiedenen Standpunkte zur Perspektivierung der Romanwelt einsetzt. Der Knan denkt ausschließlich an das Lebensnotwendige, und auch die 22
°
Simplicissimus Teutsch V, 12, 410, 16-25. Vgl. JAN KNOPF, Frühzeit des Bürgers, Erfahrene und verleugnete Realität in den Romanen Wickrams, Grimmelshausens, Schnabels, Stuttgart (Metzler) 1978, 71.
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vermeintlich freie Spekulation hat sich an den äußere Notwendigkeiten und Grenzen zu orientieren. Simplicius ist, will er seine Unternehmung durchführen, notwendig auf einen ortskundigen Begleiter wie den Knan angewiesen. LORETUS nennt einen Jäger, dessen Geschäft ihn einmal zum Mummelsee geführt hatte, als Führer und Begleiter, doch finden die Erfahrungen dieses Ortskundigen dort sonst keine Erwähnung. Dafür ergeht sich LORETUS in einer rhetorischen Ausschmückung der Beschwerlichkeit des Weges und der Erschöpfung, die er den Wanderern verursacht.24 Und GUARINONIUS liefert gar eine eingehende Beschreibung der Landschaft am Wege sowie der Eindrücke und Stimmungen, denen die Gruppe der namentlich genannten Wanderer zum Bergsee unterworfen ist.25 In der Erzählung des Simplicissimus Teutsch hingegen findet sich weder rhetorisches Ornat noch eine Erlebnisschilderung, um den durchmessenen Raum und die verstrichene Zeit zu veranschaulichen. Es ist, als sei der Blick der Erzählerinstanz auf das Notwendigste konzentriert, so daß sie sich mit dem Hinweis auf die Dauer von sechs Stunden, die gute Kondition des Knan und einen Imbiß am Ziel der Wanderung begnügt.26 Was sollte hier Weiteres berichtet werden, da beide Wanderer erfolgreich an ihr Ziel gelangt sind? An diesem Ziel indes laufen die Wege des Alten und des Jungen mehr und mehr auseinander. Während der Knan in den Grenzen seines Chronotopos verharrt, die durch die unmittelbar gegebenen Notwendigkeiten umrissen werden, überschreitet Simplicius sukzessive diese Grenzen. Zunächst beschaut Simplicius den See, wobei er etliche gezimmerte Höltzer darinn liegen sieht, die er in Übereinstimmung mit dem Knan für die Spuren des Flosses hält, das bei der obrigkeitlichen Vermessung des Sees benutzt worden war.27 Diese erste Untersuchung bewegt sich einstweilen im Bereich der unmittelbaren Anschauung und kann vom Knan nachvollzogen und überprüft werden, so daß beide Wanderer zu einem übereinstimmenden Urteil gelangen. Gemeinsames Vorwissen und die Evidenz der Phänomene garantieren hier noch einen Raum von Intersubjektivität und Nachprüfbarkeit, der den Alten wie den Jungen umfaßt. Die Lage des Sees aber, die es beschwerlich macht, umb den See zu gehen und denselben mit Schritten oder Schuhen zu messen, veranlaßt Simplicius zu einer vermittelten Form der Naturaneignung. Der Held muß die Episteme der Ähnlichkeit verlassen, innerhalb derer eine Entfernung identisch mit den real zurückgelegten Schritten des Messenden ist. Simplicius mißt die Länge und Breite des Wassers vermittelst der Geometria und bringt seine Beschaffenheit vermittelst deß verjüngten Maaßstabs in sein Schreibtäfelelein.2S Durch die " 23
26 27
Vgl. BECHTOLD, "Zur Quellengeschichte des Simplicissimus" 535. Vgl. GUARINONIUS, Die Grevel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts, 1206-1208. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 12, 411, 1-7. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 12, 411, 7-10.
Band 2, VI, 14,
Knan und Simplicius: Epoche und Experiment
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zweifache Nennung des Wortes vermittelst unterstreicht die Erzählung diesen Schritt von der Unmittelbarkeit zur Mittelbarkeit. Zudem deutet die Erwähnung des Schreibtäfelchens auf den Diskurs der Schriftlichkeit, der eine epistemische Grenze zwischen dem Helden und seinem Pflegevater aufrichtet. Anstatt sich den Phänomenen selbst nähern zu können, muß der Forscher nun mit ihrem geometrischen Abbild operieren, das diese Phänomene im veijiingten Maßstab repräsentiert. ALEXANDER WEBER hat in seinem Forschungsbeitrag zu Naturerfahrung und Landschaft die technischen Hilfsmittel dokumentiert, die im 17. Jahrhundert für eine solche Vermessung zur Verfügung standen.29 Daß WEBER dabei auf eine Fortentwicklung des Meßtisches zu sprechen kommt, das Pantometrum ATHANASIUS KIRCHERS und seines Schülers GASPAR SCHOTT, ist aufschlußreich, weil sich das simplicianische Unternehmen der Mummelsee-Erkundung in direkter Nachbarschaft zum KmcHERSchen Wissenschaftsprojekt bewegt, in dem ja auch der Bericht von LORETUS Platz hatte. WEBER beschreibt die Funktionsweise des Gerätes, mit dem sich anhand zweier bekannter Punkte, also zum Beispiel zweier abschreitbarer Marken am Ufer des Mummelsees, ein dritter Punkt konstruieren läßt, und fährt fort: Das Bemerkenswerte am "Pantometrum" ist, daß die vielen unterschiedlichen Operationen auf diesem einen Prinzip, nämlich der Gleichheit eines großen imaginären Dreiecks mit dem wirklichen kleinen Dreieck auf dem Meßtisch, beruhen.™
Zum einen macht WEBER hier auf den Vorgang der Abstraktion und Reduktion aufmerksam, auf dem die vermittelte Naturaneignung beruht. Die Phänomene müssen auf ein Prinzip zurückgeführt werden, damit sie vermittelt dargestellt und in eine maßstäbliche Repräsentation überführt werden können. Zum anderen aber übernimmt WEBER aus seiner Quelle, der Darstellung bei GASPAR SCHOTT, ein Urteil über die Realität der Phänomene, dessen Tragweite ihm offenbar nicht aufgeht. Für den Landvermesser, der sich der geometrischen Konstruktion bedient, wird nämlich das gezeichnete Dreieck zum wirklichen Gegenstand seiner Aneignung, während die zu messende Entfernung innerhalb der Landschaft zur imaginären Konstruktion und Projektion herabsinkt. In einem Akt der Inversion wird die Repräsentation zur Wirklichkeit, während die Wirklichkeit den Status der Imagination annimmt. Die Reduktion der Phänomene auf ein Prinzip wird damit erkauft, daß nun das Prinzip den Vorrang vor der Vielfalt hat, von der es abstrahiert wurde. Mit dieser Inversion wird auch das zeitliche Schema von Erfahrung und Schlußfolgerung umgekehrt, das dem Handeln und Denken des Knan zugrundeliegt. Die neue Wissenschaft, der sich Simplicius hier bedient, basiert auf M
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Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 12, 411, 11-15. Vgl. WEBER, "Ober Naturerfahrung und Landschaft in Grimmelshausens Simplicissimus" 64. WEBER, "Ober Naturerfahrung und Landschaft in Grimmelshausens Simplicissimus" 7 1 .
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Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
der methodischen Präferenz und zeitlichen Präzendenz der Konstruktion, die erst im nachhinein durch die erfahrbaren Phänomene eingeholt werden soll. Zur nachträglichen Beglaubigung des Erkenntnisurteils müssen die Phänomene jedoch erst künstlich veranlaßt werden, sie müssen experimentell auf die Prob gestellt werden, um die Tragfähigkeit der vorgängigen Konstruktion zu bestätigen. Manchmal genügt es freilich auch, der vorgefaßten Meinung eine weitere Konstruktion an die Seite zu stellen, die diese Anfangsvermutung wahrscheinlicher macht, hat das Erzählen Für Simplicius bestätigt sich die Hörsag / daß der See keine Forellen leide dadurch, daß er sie mit dem Mineralischen Geschmack des Wassers vereinbar findet.31 Zu einem eingreifenden Experiment entschließt sich Simplicius, um die Sagmehr zu überprüfen, daß ein Ungewitter entstehe / wann man einen Stein in den See werfe. Diesen Eingriff empfindet der Knan als Grenzüberschreitung und warnt seinen Pflegesohn vergeblich davor. Die Erzählung verdeutlicht den epistemischen Abstand zwischen beiden Personen, indem sie den Knan jenseit des Sees dem Experiment zuschauen läßt. Noch einmal werden die kontrastierenden Denk- und Handlungsmuster einander gegenübergestellt. Die theoretische Neugier des Simplicius ist ganz auf die Zukunft gerichtet, von der sie die Einlösung einer vorgängigen Hypothese erwartet, und will deshalb des Ends erwarten. Diese Zukunft hingegen ist für den Knan der Bereich des Unverfügbaren und Bedrohlichen, vor dem nur ein vorsichtiges Beharren auf dem Bewährten Sicherheit bieten kann. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben die Heuristik der Furcht52 eingeholt, die den Knan vor den unkontrollierbaren Folgen des Experiments warnen läßt, wenn er den vorwitzigen Experimentator unter die verwegene Buben rechnet, die sich nichts darum geheyen / wann gleich die gantze Welt untergingt An diesem Punkt trennen sich die Wege der Erkundung und der Beharrung. Zwar erleben beide noch das Unwetter, das im Bezugsrahmen der vorgängigen Wundergeschichten als Reaktion der Wassermännlein erscheinen muß, doch beschränkt sich die Zeugenschaft des Knan auf den Bereich oberhalb deß Wassers, während Simplicius mit einem aufgetauchten froschähnlichen Wesen in der Tiefe des Sees verschwindet.34 Offenbar stellt das Untertauchen des Helden unter die Seeoberfläche eine Grenzüberschreitung dar, die den endgültigen Bruch der verschiedenen Erkenntnissysteme markiert. Dies zeigt auch ein Blick auf die Vergleichstexte bei GUARINONIUS und L o RETUS. Bei GUARINONIUS beginnen die Wanderer am Bergsee das Experiment, ob auß demselben dem gemeinen Geschrey nach / von eingeworffnen Stein 31 32
33 34
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 12, 411, 20-22. Vgl. HANS JONAS, Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische lisation, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. 1085) 1984, 63/64 u.ö. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 12, 411, 2 3 - 412, 8. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 12, 413, 21-23.
Zivi-
Knan und Sìmplicius: Epoche und Experiment
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ein Wetter auffgienge, wenden sich aber dann wie der Knan dem Naheliegenden zu, der Rückkehr nämlich, ohne das Ergebnis der Probe zu erwarten.
Abbildung 43: Der Mummelsee in Kirchers Mundus subterraneus. Aus der Ausgabe Amsterdam 3 1678. Repro der ULB Bonn nach ihrem Exemplar, Signatur: Q b 132.
Der Bericht des GUARINONIUS orientiert sich so eng an den Grenzen der Erfahrung und der intersubjektiven Nachprüfbarkeit, daß er seine Leser am Schluß auffordert, ihn im Sommer nach Erscheinen des Buches auf der gleichen Tour zu begleiten.35 Damit wird sein Bericht vollständig an die nachprüfbare Erfahrung zurückgebunden. GUARINONIUS' Erzählung, die sukzessiv die zeitliche und räumliche Wirklichkeit aufnahm, kann in diese ohne weitere Vermittlung wieder rückübertragen werden. Aus der Erfahrung des Wanderers und Erzählers ergibt sich zwanglos die Erfahrbarkeit für jeden, der denselben Weg gehen möchte. Auch LORETUS vollzieht das Experiment des Steinwurfs am Mummelsee und kann nach dem Zeitraum von kaum einem halben Stündchen eine Verdüsterung des bislang seit mehr als einem Monat heiteren Himmels beobachten, der ein schweres Unwetter mit Hagelschlag folgt. Doch bleibt ihm natürlich das Abenteuer des Simplicius versagt, zu den Wassermännlein in den See zu 15
Vgl. GUARINONIUS, Die Grewel der Verwüstung Menschlichen 1207/1208.
Geschlechts,
Band 2, VI, 14,
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
gelangen. Über diese Wesen weiß LORETUS vielmehr recht Nüchternes zu sagen. Er findet im See verschiedene Arten von Kröten und echsenähnlichen Tieren, die bei näherem Hinsehen menschenähnliche Körperteile haben, so daß ihm ein herausgenommenes Weibchen die abergläubische Identifikation mit einer verwunschenen Jungfrau nachvollziehbar erscheinen läßt.36 Eine in KIRCHERS Mundus subterraneus beigefügte Abbildung des Mummelsees zeigt die auf dem See schwimmenden Wesen in starker Vergrößerung, um diese anatomischen Betrachtungen von LORETUS ZU illustrieren. Durch seinen Eintritt in die Unterwasserwelt verläßt Simplicius den Bereich intersubjektiver Erfahrbarkeit. Nachdem sich die Wege der Personen und Diskurse getrennt haben, betritt Simplicius mit einer letzten Grenzüberschreitung den neuen Raum nun ganz auf sich gestellt. Sein Erlebnis entzieht sich sowohl der komplementären Erfahrungswelt des Knan als auch einem Vergleich mit den Berichten zeitgenössischer Reisender. Die Welt unter der Oberfläche des Mummelsees läßt sich nicht mit den Kriterien der Erfahrungswirklichkeit bestimmen und nicht von deren notwendigen Grenzen her beschränken. Simplicius hat, als einsamer Reisender, den Bereich des Möglichen betreten, vergleichbar den fiktiven Mondreisenden seiner Zeit, deren virtuelle Reisen sich dem intersubjektiven Erfahrungsraum entziehen. Die Reiseutopien konstruieren neue Räume des Möglichen und konstituieren einen Horizont, der erst im Nachvollzug durch das Experiment eingeholt werden soll, wie es beispielsweise durch die Mondflüge unseres Jahrhunderts geschehen ist. Mit entsprechendem Optimismus rechtfertigt die Vorrede der deutschen Ausgabe von FRANCIS GODWINS Fliegendem Wandersmann nach dem Mond (1659) das Verfahren der Reiseutopie durch die erfolgreichen Entdekkungsreisen der Frühen Neuzeit: Es mag nun diese Beschreibung vor ein Gedicht oder Geschieht gehalten werden / so -wird doch der Leser mit Verwunderung sehen / wie artig der Author alles mit scheinbaren Umständen beschrieben. Es mag vor Columbi Zeiten ebenso ungläublich gewesen seyn / daß noch ein ander Theil der Welt als America solte können auffgesuchet werden / welcher gleichwohl gefunden worden ist / und jetzund niemand mehr daran zweifelt.37 Bevor es Amerika für die Europäer gab, gab es àie, Amerikafahrer des Kopfes, die die für andere unvorstellbare Entdeckung des neuen Kontinents in ihren Köpfen vorbereiteten. 38 Das Verhältnis von Geschieht und Gedicht, von M 3
"
'
Vgl. BECHTOLD, "Zur Quellengeschichte des Simplicissimus" 5 3 6 . FRANCIS GODWIN, Der fliegende Wandersmann nach dem Mond, Faksimiledruck nach der ersten deutschen Obersetzung Wolfenbüttel 1659, Wolfenbüttel (Herzog August Bibliothek) 1993, Ajj. Der Held in Cyranos Reise zum Mond fliegt gar erst nach Amerika, ehe er zum Mond aufsteigt. Vgl. CYRANO DE BERGERAC, Die Reise zum Mond, deutsch von MARTHA SCHIMPER, Frankfurt am Main und Leipzig (Insel-Bücherei 1 1 2 5 ) " 1 9 9 3 . MARTIN BURKARDT, Metamorphosen von Raum und Zeit, Frankfurt (Campus) 1 9 9 4 , 1 5 8 / 1 5 9 .
Grenzübertritt: Konstruktion des Möglichen
431
Wirklichkeit und Möglichkeit, ist hier kein ausschließendes, sondern das eines zeitlichen Übergangs vom Suchen zum Finden, wobei die Projektion des utopischen Gedichtes der nachvollziehenden Realisierung durch die Geschichte vorausgeht. Die Utopie als Vorausprojektion, die den Horizont für den schrittweisen Vollzug eines Fortschritts öffnen soll, bildet das literarische Pendant zu den Verfahren von Messung und Experiment. In beiden Fällen nimmt Imagination und Konstruktion ihren experimentellen Nachvollzug in der Realität vorweg.39 Wie die Fabeln der Bauern der simplicianischen Erkundungsreise zum Mummelsee vorausgingen, so geht die utopische Literatur der konstruktiven Umgestaltung der Natur im Zuge der Moderne voraus. Literatur bildet hier nicht Wirklichkeit ab, sie wird vielmehr zum Vorbild für Wirklichkeiten, die erst noch zu entdecken und zu schaffen sind. Die Konstruktion des Möglichen, wie sie auch in der MummelseeEpisode vorgeführt wird, basiert dabei auf dem Material des Wirklichen.40 Dieses Material wird jedoch, getreu den Verfahren der entstehenden Naturwissenschaft, durch konstruktive Ordnungsentwürfe gruppiert. Wohl nicht zufallig findet sich in der Episode eine ganze Reihe von Katalogen, mit denen die Vielfalt wirklicher und möglicher Phänomene zusammengefaßt wird. Der Mummelsee-Prinz, der Simplicius in die Unterwasserwelt einführt, beginnt mit einer Hierarchie der Wesen von den Engeln über die Menschen bis zu den Tieren, in die dann auch die Wassermännlein (oder Sylphen) als sündelose, aber sterbliche Gegenbilder des Menschen eingefugt werden.41 Daneben gibt es einen Gewässerkatalog, einen Mineralienkatalog, einen Trachtenkatalog mit den Kleidungen verschiedener Völker und, aus dem Mund des Simplicius, eine Ständetafel, in der die Klassen der menschlichen Gesellschaft vom höchsten bis zum letzten Bettler in satirischer Verkehrung der Wirklichkeit durchgegangen werden.42 39
40
41
42
Vgl. CONRAD WIEDEMANN, "Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität, Perspektiven der Forschung nach Barners Barockrhetorik": Dokumente des internationalen Arbeitskreises fir deutsche Barockliteratur, Band 1, Wolfenbüttel (Herzog August Bibliothek) 1973, 21-51, hier41. Vgl. BELKIN, "Ein natur- und quellenkundlicher Beitrag zur Mummelsee-Episode im Simplicissimus" 112: [...] bezeichnenderweise sind fir Grimmelshausen, den Dichter des 17. Jahrhunderts, Kontemplationen nur dann von Wert, wenn sie aus Beobachtung kommen; Erkennen und verstehen, ohne zu sehen, probieren und erfahren, sind nicht mehr möglich. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 1 3 , 4 1 6 , 3 - 4 1 9 , 1 3 . Ähnliche Spekulationen über eine Welthierarchie, die Rolle der Engel, das Verhältnis von Geist und Materie finden sich in der reichen theosophischen Literatur der Epoche, zu der auch KIRCHERS Oedipus Aegyptiacus zählt. Vgl. ATHANASIUS KIRCHER, Oedipus Aegyptiacus, drei Bände, Rom 1 6 5 2 - 1 6 5 4 . Benutztes Exemplar: U L B Bonn, Signatur: 4 ° Ls 1 1 2 5 / 5 0 rara. Siehe hierzu auch JOSCELYN GODWIN. "Athanasius Kircher and the Occult": FLETCHER, Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit 1 7 - 3 6 , hier 1 7 / 1 8 . Zum Gewässerkatalog vgl. Simplicissimus Teutsch V, 14. 420, 19 - 421, 9. Zum Mineralienkatalog vgl. Simplicissimus Teutsch V, 14, 421, 10 - 422, 19. Vgl. hierzu BELKIN. "Ein natur- und quellenkundlicher Beitrag zur Mummelsee-Episode im Simplicissimus" 103: Das Bestreben nach Anordnung und Zusammenfassung einzelner Gegenstände in Kategorien, das Etablieren des Typus, all das manifestiert eine Naturwissenschafllichkeit der Denkweise und Erklärung,
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Grimmelshausens Simplicissimus
Teutsch
Diese Verkehning der Wirklichkeit im Raum des Möglichen wirft die Frage nach dem Status des neu erschlossenen Raumes auf. In welchem Verhältnis steht das Mögliche zum Wirklichen, welche Rolle spielen die wirklichen Menschen und Dinge, die jenseits der Grenzen dieses Wirklichen zu neuer Bedeutung gelangen? Folgt man den gängigen Stereotypen über die Barockliteratur, dann liegt die Vermutung nahe, das Wirkliche werde aufgeboten, um einen verborgenen, transzendenten Sinn auszudrücken. Dieser Spur folgen so gut wie alle Interpretationen, die die Mummelsee-Episode als Allegorie behandeln, wobei von den Interpreten unter Allegorie die Instrumentalisierung eines Phänomens für eine nicht aus dem Phänomen evidente Bedeutung verstanden wird. Allegorie ist fiir die GRiMMELSHAusEN-Forschung zumeist gleichbedeutend mit instrumenteller Allegorie. Nun macht aber A L E X A N D E R W E B E R die Beobachtung, daß im Falle der Mummelsee-Episode die Fülle des verarbeiteten Materials nicht im allegorischen Verweiswert aufgeht, wenn er bemerkt, der erwähnte Abstand zwischen dem Zentrum und der Oberfläche der Erde sei für den allegorischen Sinn der Episode freilich ganz belanglos. WEBER behilft sich damit, daß er die Erwähnung all dieser Naturphänomene und -Spekulationen dem ins Leere laufenden Forscherdrang des Helden zurechnet.43 Demnach wäre das empirische Material, das hier der Errichtung einer virtuellen Welt dient, für sich selbst ohne Bedeutung. Wie alle dualistischen Interpretationen entwertet auch W E B E R S Deutung das Sinnliche zu einem bloßen Vehikel und gerät damit in den Erklärungszwang, warum ein Autor eine beträchtliche Anzahl von Druckseiten mit einer komplexen sinnlichen Welt anfüllt, um eine Botschaft zu transportieren, die auf der Hälfte eines Flugblatts Platz hätte. Die Vermittlung des Ästhetischen und des Empirischen, des Möglichen und des Wirklichen, muß indes von ihrem gemeinsamen Aspekt, dem Sinnlichen, ausgehen, um in diesem Sinnlichen gut aristotelisch das Substantielle, den Gehalt, zu bestimmen. Welche Bedeutung aber geben die Menschen und Dinge, die hier aus ihrem realen Kontext gelöst und in einen neuen übertragen erscheinen, von sich aus frei? Sie verschaffen dem Reisenden in der Welt des Möglichen eine virtuelle die sich vor allem darin zeigt, daß der Mummelseefirst die Mineralien in drei Gattungen aufgliedert.: die der Steine, der Metalle und der halben Mineralien (421, 16-32). Zum Trachtenkatalog vgl. Simplicissimus Teutsch V. 15, 423, 34 - 424, 20. Simplicius sieht die verschiedenen submarinen Fürsten gekleidet wie in einem Trachten-Buch. Zu denken ist hier wohl an ein Pendant zu JOST AMMAN, Frauentrachtenbuch. Faksimile der Ausgabe Frankfijrt am Main 1586, Leipzig (Insel) 1971. Dort finden sich, von der Keyserin angefangen, die Trachten verschiedener Stände, Gegenden und Reichsstädte, über die Türckische Hur bis hin zum Habit der Ordensfrauen und Beginen. Zum Ständekatalog vgl. Simplicissimus Teutsch V, 15, 426, 6 - 427, 33. Die Technik, dem unwissenden Mummelsee-Fürsten die Welt in lügenhafter Verkehning zu präsentieren und so die Mißstände in eine Idealgesellschaft zu transformieren, gleicht den Antworten, die der Erzähler in GRIMMELSHAUSENS Verkehrter Welt den Verdammten in der Hölle gibt. 43
Vgl. WEBER, "Ober Naturerfahrung und Landschaft im Simplicissimus"
62.
Schöne Landschaft: Utopie der geretteten Substanz
433
Erfahrung, die der realen Erfahrung des realen Reisenden analog ist, wie auch der Hinweis auf Columbus in GODWINS Reiseutopie zeigte. Und umgekehrt enthält auch die Erfahrung realer Reisender ein virtuelles Moment. Die gemeinsame Erfahrung realer und virtueller Reisender lautet nämlich schlicht, daß es anderswo anders ist, anders als erwartet und anders als zu Hause, daß also etwas anderes möglich ist als das vorderhand Gegebene. Simplicius macht diese Erfahrung des Fremden, wenn er sich durch die Reise in den Mummelsee auf einen allen Menschen ohngewöhnlichen Weg44 gebracht sieht, während der Knan ihm doch nichts anderes als die Wiederholung des sattsam Bekannten, das Ebenbild eines Weyers prophezeit hat, der ihm keinen anderen Erfahrungszugewinn als den Hergang vor den Hingang bringen werde.45 In der Transzendierung des pragmatischen Chronotopos, in dem der Knan lebt, liegt eine Entfernung von der Realität und zugleich ein neuer Zugriff auf sie. Auf die produktive Spannung des Wirklichen und des Möglichen wird auch MICHEL DE MONTAIGNE durch die Existenz jener andern Welt gestoßen, die in seinem Jahrhundert entdeckt worden ist. In seinem Essay Von den Menschenfressern weist MONTAIGNE auf die Abhängigkeit der Maßstäbe vom Zustand der Dinge in einem bestimmten Land hin.46 Durch die Erfahrung der andern Welt sieht er sich mit der Möglichkeit konfrontiert, daß anderswo andere Maßstäbe herrschen könnten. Es ist wohl auch kein Zufall, daß die Berichte von dieser neuen, anderen Welt jenseits des Atlantiks im 16. Jahrhundert die Entwicklung der utopischen Literatur forderten, weil die reale Erfahrung, daß es anderswo anders ist, zugleich die Möglichkeit eröffnet, daß es auch in der eigenen Umgebung anders sein, anders werden könnte. Jene anderen Maßstäbe kommen in der Mummelsee-Episode durch die Sylphen in den Blick, die unter anderen Bedingungen - denen der apriorischen Siindlosigkeit - leben und so die Qualitäten eines Lebens genießen, in dem einer nicht des anderen Wolf wäre und deshalb Machtausübung nicht mehr Willkür und Zerstörung, sondern Dienst an der Gemeinschaft wäre.47 Ganz deutlich ist diese Welt des Möglichen im Negativ auf die Realitäten bezogen, denen die Welt des Autors und seiner Leser unterworfen ist. Und genauso besteht auch die verkehrte Welt, die Simplicius dem Sylphenkönig als " " "
47
Vgl. Simplicissimus Teutsch V. 1 3 , 4 1 4 , 3 1 / 3 2 . Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 12,410, 17 und 21. Vgl. MICHEL DE MONTAIGNE, "Von den Menschenfressern": Essays, Auswahl und Obersetzung von HERBERT LOTM, Zürich (Manesse) 1 9 5 3 , 2 2 9 - 2 4 3 . Zu MONTAIGNES vermitteltem Blick auf das Fremde, das sich die Besitzergreifung bewußt versagt, vgl. STEPHEN GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer, Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, deutsch von ROBIN CACETT, Berlin (Wagenbach) 1 9 9 4 , 2 2 1 - 2 2 7 . Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 13, 418, 8-11 : Darauff antwortet mir das Printzlein / sie hätten ihren König nicht / daß er Justitiam administriren / noch daß sie ihm dienen solten / sondern daß er wie der König oder Weissel in einem Immenstock / ihre Geschäfte dirigiré: [...].
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Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
Wirklichkeit schildert, in einer spiegelverkehrten Darstellung der realen Mißstände innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaft. Die realen Mißstände sind von der virtuellen Idylle des Unterwasserreiches so grundsätzlich geschieden, daß ein Weg vom Wünschbaren zu seiner Verwirklichung, ein Nachvollzug des Denkens durch das Handeln, unmöglich scheint. VOLKER M E I D weist darauf hin, daß die Freiheit der Sylphen von der Erbsünde - der zeitgenössischen Vorstellung nach - den utopischen, also uneinholbaren Status des Gesellschaftsideals begründe. Die Menschen könnten niemals die naive Freiheit der Sylphen erreichen, weil ihr Zusammenleben seit dem Sündenfall korrumpiert sei. Gleichwohl sieht M E I D in der Utopie eine regulative, kritische Instanz, der sich das Handeln annähern soll.48 Welche Wege aber fuhren dann von der erdachten Möglichkeit zur erfahrbaren Wirklichkeit, wenn die Oberfläche des Mummelsees sich nicht als graduelle Wegmarke, sondern als unüberschreitbare kategoriale Schranke erweist? Die Mummelsee-Episode selbst fuhrt verschiedene Formen der Weltaneignung vor, die im Bereich des Möglichen modellhaft für das Wirkliche werden. Simplicius erhält die Möglichkeit, statt des direkten Heimwegs (den sein Knan sicherlich wählen würde) einen Ausflug in eine phantastische Unterwasserlandschaft zu machen, um sie zu beschauen. Das, was Simplicius im Licht des hereinscheinenden Vollmondes sieht, ist um vieles weitläufiger und prächtiger als vergleichbare Landschaften über Wasser, denn die Welt des Bekannten muß der Beschreibung des Unbekannten ja als Vergleichspunkt dienen. Das ihn begleitende Wassermännlein steigert die Pracht des Möglichen gegenüber dem Wirklichen noch, indem es der nächtlichen Pracht den Eindruck entgegenhält, den die Landschaft bei Tage hervorrufen kann. Er spricht von Landschaften, deren Schönheit weit über das hinausgeht, was Simplicius im Augenblick sieht: Aber der / dem ich in seine Obhut befohlen war / sagte mir / wann wir so wo/ den Tag hätten als die Nacht / so würde mir alles noch verwunderlicher vorkommen / dann man könte alsdann von weitem sehen / wie es so wol in Abgrund des Meeres als auff dem Land schöne Berg und Thäler abgebe / welches schöner schiene / als die schönste Landschafften auff dem Erdboden; /·../.49
Das Erdachte überbietet sich im Hinblick auf ein Denkbares selbst noch einmal. ALEXANDER WEBER hat auf diese sonst wenig beachtete fiktive Landschaft hingewiesen, deren Bezug zur Wirklichkeit in der Überbietung realer Landschaftsbeschreibungen bestehe. WEBER sieht sie darüber hinaus noch in einer anderen Weise auf die Realität bezogen:
48
49
Vgl. VOLKER MEID, "Utopie und Satire in Grimmelshausens Simplicissimus": Utopieforschung, Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, hg. von WILHELM VOOKAMP, Band, 2, Frankfurt a m Main (Suhrkamp Taschenbuch 1159) 1985, 249-265, hier 253/254 und 257-259. Simplicissimus Teutsch V, 16, 429, 10-16.
Schöne Landschaft: Als
Teil der Allegorie
bloßes
Mittel,
um ihrer selbst durch Gottes
ist sie der
willen
genossen.
zu verweisen.
Der Held
geführt:
ist, wie seine Begierde
Äußeres
entgegengesetzt, Die Landschaft
des Romans
um zu zeigen,
435
Substanz
Wirklichkeitsebene
um auf etwas anderes
die Wunderlandschaft
abgelenkt
Utopie der geretteten
mithin
wird nur zu einem
wie er von seiner
zu schauen
ihn vom
ein
wird also
inneren
nicht Zweck
Bestimmung Anblick
abbringt.50
Diese Interpretation greift zu kurz, weil sie sich an den Phänomenen uninteressiert zeigt und sich ausschließlich auf die innere Entwicklung des Helden konzentriert. Nun ist dieser Held aber in der Wunderlandschaft nicht allein; wie die realitätsnäheren Landschaften des Romans ist auch dieser Raum eingebunden in ein Geflecht sozialer Handlungen. Immerhin haben die Sylphen, in deren Begleitung sich Simplicius befindet, die phantastische Umgebung aufgesucht, weil sie aus ihr wie auß einem Garten / und wie von einer Jagd / Nahrung holen wollen.51 Simplicius befindet sich auff dem Grund eines fridsamen Meers, das von den Sylphen maßvoll zu ihrer Ernährung genutzt, nicht aber ausgebeutet und in seiner Substanz gefährdet wird, weil auch sie die wunderbare Schönheit der Landschaft wahrnehmen52 Die Selbstbeschränkung der Sylphen in der Naturaneignung bewahrt sie vor kontroversen Besitzansprüchen und Grenzziehungen, so daß ihnen eine grenzüberschreitende Universalsprache zur Verfügung steht. Da sie mit der menschlichen Selbstüberschätzung, der Thorheit so bey dem Babylonischen Thum vorgangen / nichts zu schaffen haben, sind sie auch von der Sprachverwirrung verschont geblieben, die die Menschheit in konkurrierende Völker gespalten hat.53 Von Natur aus herrschen unter den Sylphen Zustände, die barocke Wissenschaft durch die Rekonstruktion der Universalsprache wiederherzustellen bemüht war.54 Der Genuß einer schönen Landschaft ist also keineswegs ein Abweg von der ursprünglich intendierten guten Ordnung der Schöpfung und von der Selbsterkenntnis des Menschen. Unschuldige Bewunderung des Schönen ist vielmehr Folge einer maßvollen Aneignung der Welt. 30 51 32 53
*
WEBER, "Ober Naturerfahning und Landschaft in Grimmelshausens Simplicissimus" 83. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 16, 428, 11/12. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 16, 428, 20. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 16, 429, 24/25. Der Zustand unter den Sylphen ist, das beweist die Situierung anhand des Turmbaus, außerhalb aller Geschichte. Deshalb kann das Sylphenreich auch nicht mit einer bestimmten Produktionsweise identifiziert werden. Wenn GERD HILLEN in seinen "Prolegomena zu einer Analyse des Abentheurlichen Simplicissimus aus literatursoziologischer Sicht": Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext, Rezeption, Interpretation. Bibliographie = Chloe 5. hg. von GERHART HOFFMEISTER, A m s t e r d a m ( R o d o p i ) 1 9 8 7 , 7 9 - 9 2 , h i e r 8 6 / 8 7 , a u s d e r a n g e b l i c h
vor-
agrarischen Wirtschaft des Sylphenreiches Grimmelshausens Konservativismus abzuleiten versucht, dann ignoriert er die Scheidelinie, die die Fiktion des Möglichen vom gesellschaftlich Wirklichen trennt, und gerade so einen Perspektivenwechsel ermöglicht. Die dargestellte Utopie ist eben keine konservative oder progressive reale Gesellschaftsform, sondern die Kritik des Bestehenden aus der Perspektive einer fundamental anderen Praxis. Hier gilt, was HILLEN selbst in seinen methodologischen Vorbemerkungen (S. 80) festhält: Die Fiktionalität literarischer Texte befreit die literarische Figur vom unmittelbaren Zwang sozio-ökonomischer Determinanten.
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Grimmelshausens Simplicissimus
Teutsch
Ästhetik ist hier an Ethik zurückgebunden, insofern ethisch richtiges Verhalten der Schönheit und dem Eigenwert der Phänomene zu ihrem Recht verhilft. Und zugleich geht Ästhetik der Ethik voraus, denn die Wahrnehmung der Schöpfung in ihrer Schönheit bildet die Grundlage fur das Ethos ihrer Respektierung. Selbsterkenntnis kann niemals mit Weltverlust erkauft werden, denn erst die Welt naturwüchsiger Voraussetzungen und die Mitwelt anderer Subjekte machen das Subjekt überhaupt möglich. Die Welt des Mummelsees ist also keine rein geistige Gegenwelt zur empirischen Welt der Einzelobjekte, wie FRIEDRICH G A E D E meint.55 Das Substantielle liegt auch hier nicht in einem Reich des Logos unter oder hinter den Dingen, wo alles Erscheinende nur Träger des dominanten 'sensus metaphysicus' wäre, sondern gerade in der Respektierung der Einzeldinge und ihrer sinnlichen Erscheinung, deren Schönheit ihrem Eigenwert entspricht. Die metaphysische Grenzenlosigkeit, die G A E D E der physischen Meßbarkeit gegenüberstellt, ist im Reich der Sylphen der respektvollen Zuwendung zum Wert des einzelnen Gegenstandes und einer damit verbundenen Selbstbeschränkung geschuldet. Der Versuch des Subjekts, seiner selbst ohne Anschauung der Welt habhaft zu werden, fuhrt zu Selbstbespiegelung und Weltverlust. Dieser Weltverlust stellt sich da ein, wo das Subjekt die Welt nicht um ihrer selbst willen wahrnimmt, sondern zum bloßen Objekt seiner Projektionen und Projekte erniedrigt. Der Edelstein, den Simplicius vom Sylphenkönig für seinen erlogenen Bericht über den Zustand des Menschengeschlechts erhält, wird - um ein Wort von JO56 HANNA B E L K I N aufzugreifen - zum Probierstein seines Weltverhaltens. Dieser Edelstein soll Simplicius zu einem Gesund-Brunnen auf seinem Hof und damit zu einer lukrativen zusätzlichen Einnahmequelle verhelfen.57 Gleichzeitig stellt er eine mögliche Verbindung zwischen dem virtuellen Sylphenreich und der Menschenwelt dar, denn Simplicius nimmt ihn ja aus der einen Sphäre in die andere mit, um ihn an einer geeigneten Stelle abzulegen, von wo sich der Stein seinen Weg zurück zu den unterirdischen Wasserreservoirs suchen soll, die dann den Heilbrunnen speisen. Damit wird der Stein zur Probe aufs Exempel für die Umsetzung des Möglichen im Wirklichen, und Simplicius' Scheitern gerät zum Lehrstück darüber, wie die Utopie in der Realität verspielt wird.
Vgl. GAEDE, Substanzverlust 83-86. Vgl. BELKIN, "Ein natur- und quellenkundlicher Beitrag zur Mummelsee-Episode im Simplicissimus" 118. Ich stimme ihr allerdings nicht zu, daß Simplicius' Verhalten einen Rückfall in das uneinsichtige Naturverhaftetsein des Knan darstelle. Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 16, 430, 8/9. Zum zeitgenössischen Badebetrieb vgl. PETER LAHNSTEIN, Das Leben im Barock, Zeugnisse und Berichte ¡640-1740, Stuttgart (Kohlhammer) 1974, 220-227.
Orientierungsverlust:
Sauerbrunnen
als
437
Probierstein
Bereits auf Simplicius' Rückweg zur Oberfläche des Sees deuten sich die Gründe an, die zu seinem Scheitern führen. 58 Sie liegen vor allem in der raum-zeitlichen Desorientierung des Helden, der nur noch mit seinem Sauerbrunnenprojekt befaßt ist. Schon wird ihm die Zeit so lang, weil er sich kaum mit seinem Begleiter unterhält. Simplicius hat die Gegenwart zugunsten seines zukünftigen Projektes aufgegeben, so daß ihm auch die Bedeutung dessen entgeht, was sein Gesprächspartner ihm noch mitteilt. Wohl nicht umsonst ist von dem langen Leben der Sylphen die Rede, das sich als sorglose Zeit ohn alle Kranckheit über drei- bis fünfhundert Jahre erstreckt. Zeit bedeutet für die Sylphen ungestörte Freude an der Gegenwart, die deshalb weder zu lang noch zu kurz erscheint. Simplicius hingegen, der bereits mit der Zukunft befaßt ist, sieht die Gegenwart lediglich als Hindernis auf dem Weg zu dieser Zukunft. Das gerade ablaufende wirkliche Leben fällt den Zukunftsplänen zum Opfer. Auch in räumlicher Hinsicht nimmt das Sauerbrunnenprojekt bereits virtuelle Gestalt an, so daß es den Träumer aus der gegenwärtigen Umgebung an einen anderen Ort versetzt. Simplicius malt sich einen Platz aus, auf dem er mitten im wilden Gebürg in der Nähe seines Hofes einen schönen ebenen Lust-Garten anlegt. Er ist sogar mit der Beseitigung möglicher Hindernisse befaßt und macht im Kopf schon gantze Berg eben / damit sich die Ab- und Zufahrende über keinen müheseligen Weg beschwereten. Simplicius ist gänzlich in den Diskurs der Konstruktion und Planung eingetreten, zu dem auch die kartographische Projektion und Repräsentation gehört. Folgerichtig will er ein Prospekt drucken lassen, das durch ein Kupferstück geziert wird, in dem ein Baurn-Hof entworffen und in Grund gelegt ist, wodurch die räumlichen Gegebenheiten maßstäblich abgebildet werden.59 Die Vermittlung in Wort und Bild, aus der ein abwesender Krancker sich gleichsam halb gesund lesen und hoffen könnte, deutet noch einmal darauf, daß die neuen Techniken und planerischen Diskurse von der realen Umwelt der Menschen abstrakt sind. Schon in Abwesenheit wird der Patient oder Kunde zum Gegenstand der Kalkulation und Manipulation. Unter diesen verheißungsvollen Überlegungen sieht sich Simplicius am Ende aus dem Mummel-see ans Land gesetzt.60 Doch die Freude des eifrigen Planers währt nicht lange, denn in kurzer Zeit verirrt er sich im unwegsamen Gelände. Der Grund für dieses Mißgeschick ist aufschlußreich, hat Simplicius doch nicht auf den Weg geachtet, auf dem der Knan ihn zum Mummelsee geführt hatte. Dem vorwärtseilenden theoretischen und planerischen Verstand fehlt das vom Knan verkörperte Korrektiv, der Blick fürs Naheliegende. Deshalb findet sich Simplicius hilflos dort wieder, wo sein Weg in die Welt " " 60
Vgl. zum folgenden Simplicissimus Teutsch V, 17. 432, 32 - 433, 35. Auf die Beziehung dieses Kupferstichs zu zeitgenössisches Meßverfahren weist Naturerfahrung und Landschaft in Grimmelshausens Simplicissimus" 69 hin. Vgl. zum folgenden Simplicissimus Teutsch V, 17. 433, 36 - 435, 34.
WEBER,
"Über
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
einmal begonnen hatte, in einem fremden, ungeheuren Wald und er steht mitten in einer Wildnus wie Matz von Dresden. Zu spät sieht sich Simplicius auf die Realitäten verwiesen, die vor die Verwirklichung aller Planungen gesetzt sind: gut Ding will Weil haben / und vortreffliche Sachen werden ohne Mühe und Arbeit nicht erworben. Daß der Held hier zum Sprichwort greift, zum Diskurs der Mündlichkeit also, unterstreicht die Abhängigkeit aller Theorie von der alltäglichen Praxis. Eine erste Orientierung findet Simplicius denn auch durch ein nächtliches, von Wald-Bauren unterhaltenes Feuer. Auch hier gibt die Mündlichkeit, der schwäbische Dialekt der Bauern, einen räumlichen Anhaltspunkt, um sich zu orientieren. In dem folgenden Gespräch61 werden die konkurrierenden Formen der Weltaneignung noch einmal miteinander konfrontiert. Simplicius gibt sich für einen fahrenden Studenten aus, dessen fürwitzige Wahrsagekünste, vorgebliche Ausblicke auf die Zukunft also, für die Bauern von exotischen Interesse sind. Als Gegenleistung erhält Simplicius ein Stück schwartz Brod und [436] magern Küh-Käß, deren Notwendigkeit für den täglichen Bedarf und sofortiger Nutzen nicht zu bestreiten sind. Doch ist dieser Handel weit entfernt von einer gedeihlichen Kooperation der Gesellschaftsschichten und ihrer Diskurse. Der einsame Wanderer und die seßhaften Bauern mißtrauen einander, weswegen Simplicius sich in ihrer Mitte nicht sicher fühlt, sondern sich ein wenig beyseits zur vorgeblichen Nachtruhe begibt. Der Argwohn eines möglichen Interessengegensatzes läßt beide Parteien Mutmaßungen über eine Gefahrdung durch die andere Seite anstellen. In dieser Konzentration auf die Selbstbehauptung achtet Simplicius nicht auf seinen Edelstein, so daß er ihm entgleitet und an Ort und Stelle einen Brunnen entstehen läßt. Die Energie, die beide Seiten aufwenden, um die eigenen Interessen zu schützen, geht dem utopischen Projekt verloren. Es gerät außer Kontrolle, weil unter den obwaltenden Bedingungen der Grenzziehimg und Grenzbehauptung nicht an eine Verwirklichung zu denken ist. An dem neuentstandenen Brunnen, der nach utopischer Intention ein Segen fur seine Nachbarn sein soll, werden die Fronten, die sich durch die Romanlandschaft ziehen, noch einmal sichtbar. Denn die Bauern sind über die Heilquelle keineswegs glücklich: Sie wolten, daß ich mit meinem Saurbrunnen an ein ander Ort gerathen wäre / dann solte ihre Herrschafft dessen innen werden / .so miist das gantze Ampt Dornstettfrohnen / und Weg darzu machen [...].62
Die Perspektive der Bauern macht die Kehrseite der profitablen Projekte sichtbar, die Simplicius im Auge hatte. Die Einebnung der Hindernisse, die für Unternehmer und Badegast das Leben bequemer macht, sieht aus der Sicht derer, die alle physischen Konsequenzen zu tragen haben, anders aus. Auch die Einwände des Simplicius nützen nichts, der - ganz auf der Linie 61 62
Vgl. zum folgenden Simplicissimus Teutsch V, 18,435, 36 - 437, 3. Simplicissimus Teutsch V, 18, 437, 29-33.
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unternehmerischen Fortschrittsgeistes - den ökonomischen Aufschwung beschwört, den ein Heilbad in die nähere Umgebung brächte. Die Erfahrung vor Ort weiß es besser: Nein! die Herrschafft setzt einen Wirth hin / der wird allein reich / und wir müssen seine Narren seyn / ihm Weg und Steg erhalten / [438] und werden noch keinen Danck darzu haben!61
Die Kenntnis der Wege und Stege verschafft eine nüchterne Perspektive auf die obrigkeitlichen Vorhaben, die in ihrer kartographischen Repräsentation so klar und in ihrer schriftlichen Propagierung so menschenfreundlich erscheinen. In einem zeitgenössischen Text heißt es etwa, es sei dem Christlichen mitleyden des Herren Jacoben von Hohen Gerolzeck zu verdanken, daß der Heilbrunnen im Schuttertal zum Badeort ausgebaut worden sei.64 Die Stimme der Bauern im Simplicissimus Teutsch lehrt, an solche Texte die Frage zu stellen, ob es wirklich der hohe Herr allein gewesen sei, der die Leistung vollbracht habe, und ob es niemanden gegeben habe, der die Zeche fur das hochherzige Projekt habe zahlen müssen. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, daß Simplicius, der ja - momentan völlig hilflos - auf die Ortskenntnisse der Bauern angewiesen ist, ihnen unterwegs noch einmal die Vorteile aufzählt, die ein Heilbad hätte, das an ein überörtliches Verkehrsnetz angebunden und von überregionaler Bedeutung wäre. Sein Unternehmergeist sieht sich dabei einig mit dem Interesse des regierenden Fürsten. Denn dieser werde das Heilbad zur Zierd und Nutz des Lands auf/bauen / und zur Vermehrung seines Interesses aller Welt bekannt machen,65 Für den Diskurs der zentralstaatlichen Planung spielen lokale Erwägungen und Einwände eine zu vernachlässigende Rolle. Der Nutzen des Landes und das Interesse seiner Obrigkeit fallen in dieser zentralen Perspektive vielmehr zusammen. Angesichts der zerklüfteten Realität jedoch, in der sich der gebildete Reisende der Führung illiterater, aber ortskundiger Bauern anvertrauen muß, wirkt das Projekt zentraler Planung als blasse Abstraktion, die den lokalen Gegebenheiten Gewalt antut. Simplicius trägt diese Widersprüche seiner Zeit in seiner sprunghaften Entwicklung aus, die ihn bald diesseits, bald jenseits gesellschaftlicher und diskursiver Grenzen zeigt. In der Mummelsee-Episode nimmt er die Rollen des Forschers und des Unternehmers an, dessen Projektionen und Projekte jedoch ° 64
"
Simplicissimus Teutsch V, 18,437, 36 - 438, 1. Vgl. JOHANNES SALTZMANN, Kurtze und eygentliche Beschreibung Des heylsamen Bads daß Hehlbacherbad oder der Sahlbronnen genant / Auch eigentliche erzehlung seines gehalts krafft und würkung vnd Weichermassen dasselb zu vielen vnderschiedlichen kranckheiten vnd Gebrechen deß Leibs mit nutz zugebrauchen seye: LEONARD THURWEISSER ZUM THURN, Zehen Bücher von kalten, warmen, minerischen [...]. Straßburg 1612. (Benutztes Exemplar: Bayerische Staatsbibliothek Manchen, Signatur: 2° M med 107.) Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 18, 438, 22-28.
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Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
auf die räumlichen und zeitlichen Bedingungen seiner direkten Umgebung zurückgeführt werden. Der planende Geist ist auf die widerständige Beharrung der Realitäten angewiesen, will er nicht zur leeren Selbstbespiegelung werden. Und deshalb sieht sich auch die Selbsterkenntnis des Helden mit dem Selbstverlust konfrontiert, der eine Folge des Weltverlustes ist. Wie ein unfreiwilliges Zugeständnis wirkt deshalb auch die Formulierung, mit der der Erzähler die Annäherung seines Helden an die vertraute Umgebung seiner Nachbarschaft markiert. Mit Hilfe der Bauern gelangt der Held aus der fremden Gegend, von der es heißt, er habe alle Hoffnung daselbst verloren, endlich auff die Höhe des Gebürgs, wo er sich dem Geländ nach wieder ein wenig erkennen konte.66 Simplicius kennt sich wieder aus in der Welt, da er bekannte Anhaltspunkte wiedererkennt, aber er kennt auch sich selbst wieder, weil eine bedrohliche Umgebung ihn nicht länger zum hilflosen Reflex fremder Handlungen macht. Selbsterkenntnis resultiert aus einem handelnden Verhältnis zur Welt, das die Wege einschlägt, deren Umstände aus eigener Erfahrung einschätzbar sind. Man kann mit seiner Welt sehr unterschiedlich umgehen, man kann sich vorsichtig in ihr einrichten wie der Pragmatismus des Knan oder sie seinen Plänen unterwerfen wie der Forscher- und Unternehmergeist des Simplicius. Man könnte schließlich auch ihren Eigenwert respektieren und ihren Nutzen mit ihrer Schönheit vermitteln wie die - freilich utopische - Praxis der Sylphen. Ihren literarischen Ausdruck finden diese Erkenntnis- und Handlungsformen in der Berichtserzählung, die reale Erfahrungen in narrative Zeitlichkeit umsetzt, und der utopisch-allegorischen Erzählung, die einen Vorgriff auf bislang unausgeschöpfte Möglichkeiten macht. Der Allegorie kommt dabei eine zwiespältige Rolle zu, weil sie ja auch in der Vermittlung von Zwiespältigem, von diskursiver Idee und einzelnen Phänomenen besteht. Sie kann die Phänomene, die sie arrangiert, der arrangierenden Idee gänzlich unterwerfen, um so zur instrumentellen Allegorie zu werden. Sie kann aber auch die Möglichkeiten, die in den Phänomenen liegen, in eine konstruktive Spannung zu den Ideen bringen, die in ihr geäußert werden. Der Bruch zwischen Mensch und Welt, der die Welt der absoluten Verfügung des Menschen entzieht, wird im Bruch zwischen Bildern und allegorischen Verweismöglichkeiten sichtbar. Dies kann die Allegorie leisten, wenn sie nicht einer Perspektive und einer Deutung unterworfen wird. In der Mummelsee-Episode melden sich verschiedene Diskurse zu Wort, um den Phänomenen Sinn abzugewinnen. Auf diese Weise kommt es zu einer Perspektivierung der Wirklichkeit, die aus dem Blickwinkel verschiedener Epistemen betrachtet wird, die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst erweist sich als spannungsreiches Gegeneinander verschiedener Handlungs- und Erkenntnisformen, die sich gegenseitig reflektieren. Durch die literarisch gestaltete Spannung zwischen pragmatischem 66
Vgl. Simplicissimus
Teutsch V, 18,438, 16-22.
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Wirklichkeitssinn und utopischem Möglichkeitssinn kann keine Perspektive zur Herrschaft über die andere gelangen. Die sich selbst reflektierende Allegorie bricht die Macht des Instrumentellen, die ihr zugrunde lag. Keine Idee legt den letzten allegorischen Sinn der Phänomene fest, und keine Utopie setzt sich restlos über die Strukturen des Wirklichen hinweg. Dieses Wirkliche, der konkrete Erfahrungsraum, bildet den Ausgangsund Endpunkt der Forschungsreise des Simplicius. Sie beginnt - wie ich gezeigt habe - mit Berichten, die die Erfahrungen verschiedener Menschen mit dem Mummelsee reflektieren. Das Wirkliche, so zeigte sich, ist immer schon durch die Erkenntnis- und Handlungsformen der Menschen vermittelt. Diese Verschränkung von physischer Realität und ihrer diskursiven Vermittlung bringt die Mummelsee-Episode im Simplicissimus Teutsch zum Ausdruck. Im Streit um seine Eigenschaften und in der zeitlichen Abfolge des Erzählens kommt das Geheimnisvolle zur Sprache, mit dem sich der Gegenstand seiner Fixierung entzieht. Von diesem durch Berichte vermittelten Blick auf das ferne Phänomen des Mummelsees aus sind alle weiteren Schritte des Helden als Annäherung an das Fremde zu verstehen. Der gemeinsame Weg von Simplicius und Knan zum Mummelsee zeigt, daß den Verfahren der Messung und des Experimentes immer eine letzlich unverfugbare Wirklichkeit gegenübersteht, die der Mensch zu respektieren hat. Die Welt läßt sich manipulieren und zerstören, aber gerade darin zeigt sie dem Menschen die Grenzen seiner Macht. Indem sein Handeln zur Verfremdung der Objekte ftihrt. führen die Objekte ihm ihre Fremdheit und Unverfügbarkeit vor Augen. Mit den Ausgangspositionen der beiden Reisegefährten, theoretischer Neugierde und praktischer Selbsterhaltung, eröffnen sich zwei konkurrierende Perspektiven auf die Romanwelt, denen die anfangs skizzierten Epistemen der Repräsentation und Distanz sowie der Nähe und Ähnlichkeit entsprechen. Simplicius erkundet das unbekannte Terrain durch Vermessung und Experiment, während der Knan diese Methoden des Eingriffs und der Grenzüberschreitung in den kritischen Blick seines Alltagsverstandes nimmt. In einem weiteren Schritt löst sich Simplicius von der kritischen Instanz des Realitätssinnes, indem er die für den Knan greifbare Welt verläßt. Mit seinem Eintritt in den Mummelsee betritt Simplicius eine literarisch gestaltete Welt des Möglichen, ein sozusagen wissenschaftlich erarbeitetes Szenario, das gleichwohl aus Versatzstükken des Wirklichen konstruiert ist. So wird es möglich, auch die Welt des Wirklichen mit einer kritischen Gegenperspektive zu versehen. Denn die Ambivalenz der Grenzüberschreitung tritt radikalisiert in Simplicius' Erkundung der Unterwasserweit vor Augen. Sie läßt einerseits ihre Künstlichkeit erkennen, die auf das utopische Vermögen des Menschen verweist. Andererseits aber stellt sie in ihrer Verfremdung ein Modell des Reisens bereit, mit dem das Unbekannte den Respekt vor dem Fremden und Unverfugbaren erzwingt. Auf seinem Rückweg vom Mummelsee erhält Simplicius die Gelegenheit, ein
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Stück der Utopie in der Wirklichkeit umzusetzen. Mit dem Scheitern des Sauerbrunnenprojektes geht die Erzählung einen Schritt über die Utopie hinaus, denn nun wird sie selbst auf ihre Tauglichkeit in der Realität hin überprüft. Utopie und Realität stehen in einer Wechselbeziehung, die dem Wechselspiel der Perspektiven und Epistemen am Beginn des Kapitels entspricht. Die Rückbindung der Utopie an die Wirklichkeit wird in einem letzten Schritt für Simplicius konkret, als er sich erst im vertrauten Gelände weder orientieren kann. Damit erscheint die Grenzüberschreitung zwar als unbegrenzte Möglichkeit des Subjekts, doch bleibt sie an das konkrete Terrain gebunden, in das die Grenzen des Fortschritts eingeschrieben sind. Wie die Forschungsreise dem Helden ein vorzeigbares Ergebnis verweigert, so verweigern die realistischen und die utopischen Passagen der Erzählung einen ausmünzbaren allegorischen Sinn, der den Phänomenen aufgezwungen werden könnte. Simplicius macht eine Selbsterfahrung, wenn er Grenzen überschreitet, doch erfährt er mit sich selbst auch die Welt, die sich den eigenen Intentionen nicht gänzlich unterwerfen läßt.
Dieseits und jenseits der Grenze: Das Erzählen als Positionsbestimmung und Grenzüberschreitung Der Simplicissimus Teutsch hat keinen Schluß. Was sich als solcher ausgibt, gleicht eher dem hilflosen Versuch, da eine Grenze zu ziehen, wo sich ein Abschluß nicht wirklich ergibt. Und die Erfahrung der Grenze lehrt, daß sich auf ihrer anderen Seite immer noch etwas erstreckt, das über diese Grenze hinausgeht. Zwar endet das fünfte Buch an einem Konvergenzpunkt von erzählter Vergangenheit und erlebter Gegenwart. Doch wird der Positionsbestimmung des Erzählers im Präsens, die den Rückzug des Helden in die Wildnus markiert, eine futurische Komponente hinzugefügt, die das Verharren des Helden an dem einmal erreichten Punkt durch die Möglichkeit einer zukünftigen Veränderung wieder einschränkt. Die Vollendung der Gegenwart stehet noch dahin, und das End liegt in einer unbestimmten Zukunft 1 Simplicius ist zwar mit seiner Erzählung bei dem Zeitpunkt angelangt, zu dem er die Geschichte erzählt, so daß alles weitere in der Zukunft liegt. Doch die Begrenztheit der gegenwärtigen Perspektive öffnet gerade ihren Horizont für dieses Neue, das sie noch nicht absehen kann. Auch der Hinweis auf das Spesserter Leben der Vergangenheit das Simplicius mit seinem erneuten Einsiedlerdasein wieder aufnimmt, ist mit der Erfahrung verbunden, daß die Beharrung in der Einsamkeit durch die Dynamik der Ereignisse überholt werden kann, solange der Held noch nicht an sein letztes unüberschreitbares End gelangt ist. Dieses Ende jedoch liegt jenseits aller Darstellbarkeit, die im Falle der IchErzählung ja immer voraussetzt, daß der, der da von seinem Leben berichtet, auch noch am Leben ist, daß mithin alles, was er erreicht zu haben vorgibt, durch ein künftiges Geschehen revidiert werden kann.2 Die vom Ich angestrebte Beharrung zielt im letzten auf eine vollkommene Gegenwart, die aller Veränderung entzogen ist und ganz der Kontrolle des einmal gefaßten Entschlusses unterliegt. Eine solche absolute Gegenwart wäre nach der Vorstellung des AUGUSTINUS das einmal und endgültig gesprochene Schöpfungswort Gottes, das in seiner Ewigkeit verankert ist.3 Diese Ewigkeit jedoch ist nicht mit der Zeit in Einklang zu bringen. Denn zum einen wäre sie als Negation der Veränderung auch Negation aller Dinge, die sich in der Zeit verändern. Ewigkeit ist ontologisch negativ. Zum anderen aber ist 1 1
3
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 2 4 , 4 6 3 , 2 1 - 2 6 . Zur Unerzählbarkeit des eigenen Endes vgl. GERHART VON GRAEVENITZ, "Das Ich am Ende. Strukturen der Ich-Erzählung in Apuleius' Goldenem Esel und Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch": KARLHEINZ STIERLE / RAINER WARNING (Hgg.), Das Ende. Figuren einer Denkform = Poetik und Hermeneutik 1 6 , München (Fink) 1 9 9 6 , 1 2 3 - 1 5 4 . Vgl. AUGUSTINUS, Bekenntnisse X I , 1 - 9 , 6 0 2 - 6 2 1 .
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
nicht ersichtlich, wie das ewige Schöpfiingswort eine Schöpfung hervorgebracht haben kann, die veränderlich und endlich ist und deshalb nichts mit ihrem Ursprung gemein hat. Ein unüberwindlicher Bruch scheint das Zeitliche von der Vorstellung des ewig Beständigen zu trennen, und so nimmt diese Vorstellung den Charakter eines Extremwertes an, einer Grenzvorstellung, die die Unbeständigkeit alles in der Zeit Erfahrenen schärfer konturiert.4 Von daher wird einsichtig, warum sich der Erzähler zu Beginn der Continuatio gegen die Vorstellung verwahrt, seine Erzählung intendiere, einem und anderem die Zeit zu kilrtzen, denn das Verstreichen der Zeit und ihr Verlorengehen ist ja eben das, wogegen das Erzählen angeht 5 Die Erzählung ist vielmehr dazu angetan, die edle ohnwiederbringliche Zeit durch den Vorgang des Erzählens noch einmal zur Anschauung zu bringen und damit dem Bewußtsein zugänglich zu machen. Ort dieser Vergegenwärtigung des Unwiederbringlichen ist nach AUGUSTINUS die Seele, die in der ausgreifenden Bewegimg der Erinnerung einen Zugriff auf das vergangene Leben hat. Das Erzählen verschwendet also die Zeit nicht ohnniitzlich, wie etwa der Diskurs der protestantischen Romankritik behauptet.6 Es geschieht vielmehr zu unserer Seelen Hail, denn es ist die ureigenste Aufgabe der Seele, im Raum des Gedächtnisses die vergangene Lebenszeit nachzuvollziehen. Deshalb soll die Erzählung nicht etwa durch eine kurzweilige Ablenkung das Verstreichen der Zeit im Bewußtsein der Leser beschleunigen, sondern im Gegenteil dieses Bewußtsein in die erinnernde Revision und Wiederaufnahme der Lebenszeit einüben, für die die Romanerzählung ein Modell abgibt. Dabei bedient sie sich immer wieder der Limesvorstellung eines beständigen Lebens. Das Ich ringt um Beständigkeit in einer unbeständigen Welt, wodurch die Vorläufigkeit jedes gefaßten Standpunktes umso deutlicher wird. Der Extremwert der Beständigkeit verschärft die Erfahrung von Zeit und Vergänglichkeit, die in der Erzählung zum Ausdruck kommt. Die spirituellen Interpretationen des Simplicissimus Teutsch haben also recht, wenn sie die veränderliche Welt der Phänomene im Roman antithetisch auf den Gedanken der Ewigkeit und Beständigkeit bezogen sehen. Doch nimmt diese Antithese in der Ich-Erzählung die Form eines dialektischen gegenseitigen Bezugs an, der Raum und Zeit der Erzählung nicht einer weltlosen spirituellen Selbstfindung gegenüber degradiert. Der Kern der Erzählung besteht nicht in einer Lehre des Romans, die unabhängig von der Hülle der erzählten Welt und dem Vorgang des Erzählens zu haben wäre. Vielmehr 4
' 6
Vgl. zu diesen Aponen RICOEUR, Zeit und Erzählung, Band 1, 40-53. Vgl. zum folgenden Continuatio 1, 472, 1 - 473, 19. Vgl. etwa GOTTHARD HEIDEGGER, Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten Romans, Faksimileausgabe nach dem Originaldruck von 1698, hg. von WALTER ERNST SCHAFER, Bad Homburg v.d.H. / Berlin / Zürich (Gehlen) 1969, 12 u.ö. Zur poetologischen und gesellschaftlichen Rolle dieser Kritik am Roman vgl. ANSGAR M. CORDIE, "Der Roman als faux pas Simplicius, Joseph, fiktive Fehltritte und reale Fettnäpfe": Simpliciano 15 (1993) 229-239.
Gedächtnis als Schauplatz der Welt
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kommt dem Erzählen selbst eine spirituelle Funktion zu, weil es dem Subjekt bei dem Versuch dient, im Raum des Gedächtnisses einen Zugriff auf die eigene Lebenszeit zu erhalten. Diese erzählbare Lebenszeit bewegt sich dabei zwischen zwei Limeswerten des Nichtdarstellbaren, zwischen dem Ursprung im Selbstverständlichen und Selbstvergessenen, in dem das Ich sich seiner selbst und seiner Welt noch nicht bewußt geworden war, und dem Extremwert des endgültigen und vollständigen Zugriffs auf das eigene Leben. Die Ursprungswelt kann zwar im Roman nicht dargestellt werden, wird aber im abgelegenen Spessarthof des ersten Buches zum Gegenstand einer nachträglichen Rekonstruktion, so daß sie als nicht einholbarer Horizont in der Erzählung erscheint. Einen solchen Horizont bildet auch die Utopie eines letzten Zugriffs auf das eigene Leben im Gedächtnisraum, in dem die Phänomene jenseits aller Unverläßlichkeit dem Subjekt durchsichtig wären. Auch dieser Horizont ist nicht einholbar, denn sonst wären die Phänomene nicht mehr das, was sie sind, lebendig und veränderlich. Der Prozeß der Selbstermächtigung über das eigene Leben ist unabschließbar und bleibt, solange die Erzählung im Bereich des Erzählbaren verharrt, auf die Welt, in der das Subjekt lebt, verwiesen. Wenn also das Erzählen beharrlich der Vergänglichkeit der Phänomene entgegenarbeitet, indem es ihnen einen Platz im Raum des Gedächtnisses zu sichern sucht, dann wird es doch zugleich von ihrer Dynamik erfaßt. Der erzählende Nachvollzug der Zeit sieht sich ein zweites Mal von ihrem Strom fortgerissen, und die kuriose Welt findet Eingang in den Erinnerungsraum. Diese Dialektik von memoria und curiositas kommt im ersten Kapitel der Continuatio zum Ausdruck, wenn Simplicius seine Ruhe gerade darin zu gewinnen sucht, daß er sein Gedächtnis zum Schauplatz der zurückgelegten Irrwege macht: Daselbst hat der geliebte Leser verstanden / daß ich widerumb ein Einsiedler 1 worden [...] gebühret mir derawegen [A 4 b] nunmehr zuerzehlen / wie ich mich in solchem Stand verhalten; die erste baar Monat alldieweil auch die erste Hitz noch tauret /giengs trefflich wol ab [...]; aber damit war ich drumb bey weitem nit vollkommen / sonder hatte stündlich tausendfältige Anfechtungen; wann ich etwan an meine alte begangne Stücklein gedachte umb eine Reu dardurch zuerwecken / so kamen mir zugleich die Wollüste mit ins Gedächtnuß / deren ich etwan da und dort genossen [...]?
Der Gedächtnisraum macht das Subjekt keineswegs zum Herren über die Phänomene, die in ihm aufgehoben sind. Sie drängen sich mit all ihrer sinnlichen Ambivalenz in die Gedanken des Erinnernden, so daß er die kategoriale Scheidung zwischen guten und schlechten Gedanken nicht durchhalten kann. Auf diese Weise nimmt der Gedächtnisraum die Gestalt der Welt an, in der 7
Continuatio
1,473,20-34.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
Simplicius lebt. Die vergangenen Stücklein verbinden sich mit den gegenwärtigen Affekten. Simplicius kann der Sinnlichkeit nicht entfliehen, die Teil seiner selbst ist und ihn zum Teil der sinnlichen Welt macht. Dies zeigt auch ein Blick auf den Beginn des einsiedlerischen Projektes. Denn auch hier spricht der Erzähler von einem sinnlich-affektiven Impetus, der Hitz, die freilich nur die ersten baar Monat anhalten kann, da Simplicius als lebendiger Mensch auch in seinen Affekten einer ständigen Wandlung unterworfen ist. Der Stand, in den Simplicius getreten ist, bleibt von der angestrebten Vollkommenheit weit entfernt und erweist sich als vorübergehendes Stadium in der Entwicklung des Helden. Die ihn stündlich heimsuchenden Anfechtungen verweisen Simplicius darauf, daß er der Gesetzmäßigkeit von Raum und Zeit nicht entkommen kann, indem er sich räumlich absetzt und seine Tätigkeiten weitgehend einstellt. Der Erzähler der Continuatio zieht aus dem Scheitern dieser Weltflucht Konsequenzen für einen geistlichen Fortgang, der diesen Antinomien hätte entgehen können. Er sieht im Müssiggang den größten Feind des Helden und in der Freiheit die Ursach dafür, daß er nicht in seinem angefangenen Leben beständig verharret habe.8 Diese Schlußfolgerungen können aber kaum als endgültige Lösung betrachtet werden, die dann in der isolierten Existenz auf der Kreuzinsel realisiert würde. Zweifellos wird sich der Simplicius der Insel-Episode seine Umgebung durch Arbeit unterwerfen, so daß sie zum sinnbildlichen Ausdruck geistlich-erbaulicher Maximen, zum Garten der Embleme9 werden kann, womit sie im übrigen die Verwandtschaft des Emblems mit den Verfahren der zeitgenössischen Naturwissenschaft und Technik belegt. Aber diese Insel verdankt die Möglichkeit ihrer widerspruchsfreien Gestaltung durch das Subjekt ihrer Isolation. Insel wird sie dadurch, daß sie keine angrenzende Umwelt hat, die zu einer Auseinandersetzung aufforderte. Und auch die verhängnisvolle Freiheit des Helden wird ja auf der Kreuzinsel nicht beseitigt, denn auch dort steht ihm die autoritative Führung durch einen Geistlichen nicht zu Verfügung, die der Erzähler zu Beginn der Continuatio für erforderlich hält. Vielleicht aber lassen sich die Begriffe Müssiggang und Freiheit noch in anderer Weise für das Scheitern der Weltflucht in Anschlag bringen. Der Müßiggang verstrickt das Subjekt ja in seine Erinnerungen, weil diese Erinnerungen zum beherrschenden Moment der Gegenwart werden können. Indem der Held seine sinnliche Existenz in Zeit und Raum ignoriert, gelangt diese Sinnlichkeit im Gedächtnisraum zu machtvoller Präsenz. Die Freiheit des Müßiggängers hat eine Beliebigkeit des im Gedächtnisraum Auftauchenden zur Folge, und der Erinnernde ist seinen Erinnerungsbildern machtlos ausgeliefert, da er ihnen keine konzentrierte Aktivität entgegensetzen kann. Eman8
'
Continuatio 1, 473, 35 - 474, 2. Vgl. Koschorke, Die Geschichte des Horizonts 100.
Mooskopf: Betrachter als Teil der Welt
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zipatorisch kann die Erinnerung erst werden, wenn das Subjekt sich ihr nicht müßig aussetzt, sondern sich Zeit und Raum seines Lebens durch seine Erinnerungsarbeit aneignet und damit seine gegenwärtige Existenz mit der erinnerten Vergangenheit in Beziehung setzt. Die Erinnerungsarbeit, in der sich das Subjekt ein zweites Mal mit den Ereignissen seines Lebens auseinandersetzt, ist das Erzählen. Deshalb wird in der Continuatio gerade die gescheiterte Weltflucht durch den Versuch aufgearbeitet, sie zuerzehlen. Das Erzählen kann von den Dingen nicht absehen, die ihm unterkommen, selbst wenn der Erzähler den Wunsch äußert, sich von ihnen zu lösen. Die Geschichte des Helden läßt sich niemals abgeschottet von seiner Welt, von Raum und Zeit seines Handelns erzählen, und umgekehrt gewinnt die Identität des Helden und seiner Geschichte erst Gestalt in dieser raum-zeitlichen Umgebung. Die Grenze, die das Subjekt von den Gegenspielern und Gegenständen seiner Geschichte scheidet, konturiert dieses Subjekt erst. Darauf wies ja schon die Formulierung hin, die sich für die vertrauter werdende Landschaft auf dem Rückweg vom Mummelsee fand, daß nämlich der Held sich dem Geländ nach habe erkennen können.10 Ein solches Geländ bildet auch die Umgebung des Mooskopfes, auf dem Simplicius in der Einsiedelei der Continuatio seine Betrachtungen anstellt." Schrittweise ergibt sich mit dem Bild der Landschaft auch das Bild ihres Betrachters. Zunächst einmal bestimmt die Erzählung die Lage der Erhebung, auf der Simplicius sich niedergelassen hat, mit der Nähe des Schwarzwaldes und beschreibt ihre physische Beschaffenheit, die sich durch Höhe und einen Bewuchs mit einem finstem Dannen-Wald auszeichnet. Diese Erläuterung des Lokals hat mithin zwei Aspekte: den unmittelbaren optischen Eindruck und das ungefähre Bewußtsein einer geographischen Lage, die sich durch die benachbarte Landschaft ergibt. Beides, der aktuelle Eindruck und das geographische Vorwissen, lassen sich von eigenen Erfahrungen ableiten, die der Held mit seiner physischen Bewegung innerhalb dieser Landschaft gemacht haben kann, vermittelt durch die Bezeichnungen, die die Einwohner bei ihren alltäglichen Verrichtungen verwenden. Die ersten Angaben entstammen also einer Episteme, die auf Nachbarschaft, eigenem Augenschein und mündlicher Vermittlung beruht. Der nächste Schritt ist dann bereits bewußter und gezielter. Simplicius betrachtet die unter ihm liegende Landschaft, indem er sie einem geographischen Raster unterwirft, das allerdings immer noch dem Bereich der unmittelbaren Naturanschauung entnommen ist. Er wendet sich nacheinander den 10 11
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 18,438, 20-22. Vgl. zum folgenden Continuatio 1, 474, 2-18. Vgl. zu dieser Landschaftsschilderling JORG WAGNER, Barockraum und Barockroman, Studien zu Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig 'Aramena', Zürich (Schippert & Co.) 1971, 56-58.
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
vier Himmelsrichtungen zu, die ihrer Bezeichnung nach an den Sonnenaufund -Untergang und an den höchsten bzw. niedrigsten Sonnenstand gebunden sind. Die vier Segmente, die Simplicius in sein Blickfeld nimmt, deuten eine Überschreitung der physischen Phänomene auf ihre theoretische Einordnung hin an. Im Osten wird das Oppenauer Thal und dessen Neben-Zincken erwähnt, wobei sich der physische Landschaftseinschnitt mit dem Namen eines Ortes verbindet. Das Kintziger Thal im Süden, das sich nach dem die Landschaft prägenden Fluß benennt, wird mit einem politischen Gebilde, der Graffschafft Geroltzeck verbunden, die optisch durch das hohe Schloß repräsentiert wird. Ihren physischen Ausdruck findet die politische Struktur in der Dominanz dieses Schlosses, das zwischen seinen benachbarten Bergen [...] wie der König in einem Kegelspiel hervorragt. Diese Wechselbeziehung zwischen historisch-politischen Grenzziehungen und physisch-geographischen Einschnitten wird im Falle des Ober und UnterElsaß im Westen nicht explizit, da der Hinweis auf die Landschaft sich mit der Nennung der Landgrafschaften begnügt. Erst der Blick nach Norden offenbart wieder dieses Ineinander der natürlichen und gesetzten Grenzen. Denn hier schiebt sich die die Statt Straßburg mit ihrem hohen Münster-Thum , die aus ihrem Umland als Hertz mitten mit einem Leib hervortritt, in optischer Verkürzung vor das Gebiet der Niedern [A5J Marggraffschafft Baaden, die eine beträchtliche Strecke den Rheinstrom hinunter noch zu sehen ist. Was hier aufgerufen wird, sind neben den Tälern und Hügeln die politischen und konfessionellen Grenzen, denen sich Simplicius nicht entziehen kann. Zugleich aber spielt die Perspektive des Beobachters eine wichtige Rolle. Dank ihrer imposanten Burg Hohengeroldseck wirkt die Grafschaft Geroldseck weit dominanter, als sie es in Wirklichkeit ist, denn ihr kommt lediglich der Rang einer Herrschafft12 zu, deren es in dem überschauten Gebiet viele gibt. Die Landschaftsrevue des Simplicius gewinnt so den Charakter einer Klimax, die das bedeutendste zum Schluß benennt: die evangelische Reichsstadt Straßburg und ihr Umland, das an die Gebiete des vom katholischen Bischof regierten Hochstiftes angrenzt.13 Diesem Hochstift gehört auch das rechtsrheinische Amt Oberkirch an, in dem der Autor des Simplicissimus Teutsch als Schultheiß von Renchen wirkt. Optischer Eindruck der Romanfigur und historischer Ort des Autors verschmelzen im Bild des Straßburger Münsterturms, der im zeitgenössischen Streit um die Herrschaftsgrenzen Vgl. JOHANN HEINRICH ZEDLER, Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafflen und Künste [...]. Band 10. Halle und Leipzig 1735, 1162. Vgl. FRANCIS RAPP, "Straßburg, Hochstift und Freie Reichsstadt": Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Land und Konfession 1500-1650, Band 5: Der Südwesten = Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 5 3 , hg. von ANTON SCHINDUNG und WALTER ZIEGLER, Münster (Aschendorff) 1 9 9 3 , 7 2 - 9 5 , hier besonders die Karte auf S. 72.
Mooskopf: Betrachter als Teil der Welt
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zugleich die Unabhängigkeit der Freien Reichsstadt und die kirchenpolitischen Ansprüche des Bischofs auf Rekatholisierung dieser Hauptkirche zu versinnbildlichen hat.14 Die beschriebene Landschaft ist nicht nur eine geschaute, sondern auch eine gewußte, gewinnt mithin ihre Konturen aus dem Vorwissen dessen, der sie betrachtet und beschreibt. Mit diesem Wissen hat das betrachtende und beschreibende Subjekt zugleich teil an den landschaftsprägenden Diskursen und Realitäten. Zwar gewinnen die politischen Grenzen noch nicht eine physische Präsenz wie etwa die innerdeutsche Grenze im 20. Jahrhundert. Doch verweisen die gesehenen Bauwerke auf die politischen Handlungen und Handlungsspielräume in der beschriebenen Weltgegend. Natürliche Kleinräumigkeit der reich in Berg und Tal gegliederten Landschaft korrespondiert mit den kleinräumigen politischen Strukturen, die die Lands-Gegend zum Grenzgebiet par excellence machen. Die übliche Perspektive der Betroffenen auf diese Realitäten ist der begrenzte Blick von unten. Simplicius überschreitet diese Einschränkung durch seinen Gang auf den Mooskopf. Und im nachhinein fugt die Erzählung hinzu, daß er sich zur Weitung und Präzisierung seines Überblicks eines Perspectivs, eines Fernrohrs, bedient hat. Das optische Hilfsmittel bietet die Möglichkeit, das Beschränkende der alltäglichen Rahmenbedingungen für einen Augenblick zu überwinden. Doch zugleich ist dieses Erkenntnisinstrument Teil der Realitäten, denen Simplicius zu entkommen sucht. Mehr noch: das Fernglas stellt, wie die Erzählung, die aktuelle Nähe dieser Realitäten zum zweiten Mal her. Mit beiden, dem Fernrohr und der Erzählung, ergeben sich zwei widerstreitende Aspekte der Auseinandersetzung zwischen dem Subjekt und seiner Welt. Einerseits erlauben sie die Möglichkeit einer ungewöhnlichen Perspektive von oben oder im nachhinein auf die Welt. Das Subjekt hat die Chance, die Dinge jenseits seiner eigenen Involviertheit wahrzunehmen. Andererseits aber verweisen sie das Subjekt auf diese Involviertheit zurück. Auch die privilegierte Perspektive des Bergsteigers oder des Erzählers schottet das Subjekt nicht von der geschauten Welt ab, denn auch die Mittel, deren es sich bedient, entstammen den Kontexten dieser Welt und sind in ihre Problematik verwickelt. Wohl bergen die Erkenntnisinstrumente, die Simplicius nutzt, um das bewußt zu betrachten, was er sonst - wie etwa der Knan - hinzunehmen hat, und das zu erzählen, was er nicht mehr ändern kann, die Gefahr der Allmachtsphantasie dessen, der Zugriff auf die wahrgenommenen Phänomene zu haben glaubt. Das Fernrohr suggeriert, man könne die Dinge beliebig heranholen, um sich ihrer zu bedienen. Und die Erzählung suggeriert, man könne den Dingen eine Ordnung auflegen, die sie aus sich selbst heraus verweigern. Die Ideologien der Zeit, die den Dingen diese Ordnung verordnen und die die 14
Vgl. RAPP, "Straßburg, Hochstift und Freie Reichsstadt" 91.
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Grimmelshausens
Simplicissimus
Teutsch
Natur mit technischen Mitteln zu manipulieren beginnen, zeugen von den Risiken der Grenzüberschreitung. Zugleich aber liegt in den Medien der Erkenntnis für Simplicius die Chance, gerade die Grenzen schärfer zu sehen, innerhalb derer er sich bewegt, und diese Grenzen als notwendige Voraussetzung seiner Selbsterkenntnis zu verstehen. Simplicius ist nicht nur der Olympier, der die Landschaft betrachtet, sie nach seinem Bilde strukturiert und ihr aus dem Vorrat seines Wissens Namen gibt. Er ist auch Teil dieser Landschaft, bezieht sein Wissen aus der unmittelbaren Erfahrung oder aus den vermittelten und komplizierten Strukturen seiner Zeit. Aus der Involviertheit des Zeitgenossen und seiner zeitweiligen Distanznahme ergibt sich nicht nur ein Blick auf die eigene Zeit und Welt, sondern auch die Chance, sich dem Geländ nach zu erkennen. Als Blick von der Außenseite der gewählten Buchgrenze her macht die Continuano den Erzählvorgang explizit, der den Zeit-Raum des Simplicissimus Teutsch in seinen fünf Büchern hatte entstehen lassen, und wird auf subtile Weise tatsächlich zur Geheimpoetik15 des Simplicissimus Teutsch. Diese geheime Poetik besteht aber eben nicht in der instrumentell-allegorischen Veranschaulichung einer feststehenden Lehre, sondern in der Erzeugung eines Erfahrungsraumes, der den Helden mit fremden und eigenen Grenzen konfrontiert. Im Rückblick auf den Verlauf der Erzählung und den Gang der Untersuchung wird der Erfahrungsraum deutlicher sichtbar. Die Form der Räume und Zeiten im Roman ist an den Weg des Helden gebunden. Zu Beginn dieses Weges erwies sich die Welt des unwissenden Knaben als Extremwert der Erkenntnis, der von der Erzählung als Ausgangspunkt der Lebensgeschichte und als Kontrast für die historischen Ereignisse konstruiert wird. Die Welt des Hier und Jetzt, die nur von sich selber weiß, ist durch einen radikalen Bruch, durch einen Weltrand, von der Welt der Geschichte geschieden, zu der auch der Erzähler gehört. Mit diesem Kunstgriff gelingt es der Erzählung, die bekannten historischen Ereignisse sozusagen von außen zu betrachten, aus der konstruierten Perspektive eines Knaben, der nicht von dieser Welt ist. Die Lektüre konnte aber zeigen, daß sich die Erzählung durch diesen künstlichen Naturzustand nicht zu einer reaktionären Verweigerung gegen Geschichte und Kultur verleiten läßt. Der Weg des Helden in die Welt hinein zeigte sich vielmehr durch die historischen Verhältnisse bedingt, und die Welt des Spessarthofes wurde im Verlauf der Lektüre in die Landschaft Mitteleuropas im 30jährigen Krieg situiert. Durch die Konfrontation mit ihrem Abbild im Schwarzwaldhof des fünften Buches erhielt die ländliche Abgeschiedenheit des ersten Buches im nachhinein gar nüchterne ökonomische 13
In ganz anderem Sinne wird das sechste Buch als poetologischer Schlüssel verstanden bei HUBERT GERSCH, Geheimpoetik, die Continuatici des abentheurlichen Simplicissimi interpretiert als Grimmelshausens verschlüsselter Kommentar zu seinem Roman = Studien zur deutschen Literatur 35, Tübingen (Niemeyer) 1973.
Weltbezug und Selbstreflexion des Grenzgängers
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Konturen. Ähnliche Beobachtungen ergaben sich auf dem Weg des Simplicius zwischen Gelnhausen und Hanau. Selbst die allegorische Stilisierung der Landschaften erwies sich nicht als zeitlose Typisierung, sondern als Möglichkeit, den für den einzelnen undurchschaubaren Geschichtsprozeß nachzuvollziehen. Das emblematisierende Bewußtsein des Helden hat seinen Grund in einer Vernichtung alles Besonderen durch Politik, Militär und Wissenschaft. Geometrische Künstlichkeit beherrscht nicht etwa die literarische Aneignung, sondern die angeeignete Landschaft. Geometrie als Verhaltensform begründet die Ausgrenzungsmechanismen der Festungsgesellschaft in Hanau. Dem Helden kommt hier die Rolle eines Beobachters zu, der den komplizierten gesellschaftlichen Strukturen und landschaftlichen Formationen durch einen sukzessiven Erkenntniszugewinn beizukommen sucht. Seine Beobachtung der Einzelheiten am Rande lenkte den Blick der Lektüre auf das ausgegrenzte und zerstörte Besondere, auf die Substanz, die durch ein Zweck- und Funktionsdenken ausgehöhlt wird. Simplicius bezieht aber - wie die historische Gestalt GRIMMELSHAUSEN - nicht etwa endgültig Position zu den Verhältnissen seiner Zeit. Als unzuverlässiger Schelm ist er ein Grenzgänger, der bald diesseits und bald jenseits der Fronten anzutreffen ist. Die Expedition zum Mummelsee, die Simplicius in Begleitung des Knan unternimmt, vollzog die Lektüre als Wechselspiel zwischen dem wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritt einerseits und pragmatischem Beharren auf den Alltagserfahrungen andererseits nach. Dabei zeigte sich, daß die Erzählung keiner Perspektive den Vorrang zuweist, daß Fortschritt und Beharrung vielmehr aufeinander bezogen bleiben. Für den Weg des Helden hieß das, daß sein Ausflug in die utopische Überschreitung des Wirklichen durch das Mögliche an die konkrete Wahrnehmung des Wirklichen rückgebunden wurde. Dem Weltverlust, den Simplicius zeitweise erleidet, entspricht sein Selbstverlusts. Am Schluß seines Weges ist der Held nicht mehr unreflektiert Teil seiner Welt. Doch bleibt seine Selbstreflexion an seinen Weltbezug gebunden. Raum und Zeit sind im Simplicissimus Teutsch konstituierend für die Gestalt des Vaganten. Simplicius ist ein Schelm, da er gegen seinen Willen in die Welt gestoßen wird und sich in Auseinandersetzimg mit ihr seiner selbst bewußt wird. Die Erzählung seines Lebens bleibt nicht reine Selbstbetrachtung, sondern erschafft eine Welt, die mit Gewinn zum Kontrast und Vergleich gegen die Welt des 30jährigen Krieges gehalten werden kann. Die Welt des Romans ist keine beliebige Kulisse für den Weg des Helden, sondern seine Welt, wenn sie sich auch zerstörerisch und feindlich präsentiert. Simplicius ist mit seiner Herkunft vom kriegerisch umkämpften Bauernhof, seiner Sozialisation in der Festungsstadt und den wissenschaftlichen und spirituellen Formen seiner Weitbetrachtimg und -erforschung zu keiner anderen Zeit und an keinem anderen Ort denkbar. Gerade das aber hat die Erzählung seines Lebenslaufes zum beständigsten Zeugnis seines Jahrhunderts gemacht, zum
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Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
beinahe zeitlos gültigen Weltbuch. Nur das Erzählen, das dem Vergessen beharrlich entgegenarbeitet, überdauert die Zeitläufte, gerade weil es der Dynamik der Veränderung Rechnung trägt.
Heimliche Schelmerei: Verschlossene Räume und vertauschbare Lebenszeit in Beers Corylo
Verbannung aus dem Gesichtskreis: Verheimlichte Romane und mythische Räume des Erzählens Am Dienstag, dem 17. Juni 1679, hält der herzoglich-sächsische Hofinusikus wie er später selbst in seinem Diarium vermerkt, mit der Junkfrauen Rosinen Elisabeth Brehmerin [...] zu Halle im Gasthoff zum schwartzen Bähren Hochzeit, und gut neun Monate später, am 22. März 1680 wird dem jungen Paar eine Tochter, Nahmens Rosina Elisabetha geboren1 Der Verfasser der lakonischen Notizen versäumt es nicht, die räumlichen und zeitlichen Umstände der Ereignisse genau festzuhalten. So erfahren wir, daß die Trauung in der obern Stube über dem Thorweg vorgenommen worden sei und daß die Geburt der Tochter sich Montags nachmittags um glok halb Eins im Zeichen des Stiers zugetragen habe. Derlei Präzision läßt es umso befremdlicher wirken, daß die autobiographischen Notizen BÄHRS, den wir BEER zu schreiben uns angewöhnt haben, sich über einen Großteil seiner Tätigkeit beharrlich ausschweigen. Beispielsweise hätte man erwarten können, im Diarium das Erscheinen der beiden Teile der Vollkommenen Comischen Geschieht Des Corylo angezeigt zu finden, eines pikaresken Romans, den BEER im Heibst 1679 und Frühjahr 1680, freilich unter dem Pseudonym Der Neue Ehemann, bei Johann Hofmann in Nürnberg vorlegte.2 Nur zu verständlich ist da die Enttäuschung, die auch der Herausgeber der Lebensbeschreibung, ADOLF SCHMIEDECKE, darüber äußert, daß der Leser die erwarteten Mitteilungen über Beers Romanschriftstellerei dort vergeblich suche, war doch die Entdeckung des Manuskripts durch das Erfurter Stadtarchiv im Jahre 1963 eine kleine Sensation.3 Mit dem außergewöhnJOHANN BAHR,
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Vgl. JOHANN BEEK, Sein Leben, von ihm selbst erzählt, hg. von ADOLF SCHMIEDECKE, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1965,23. Vgl. JOHANN BEER, Sämtliche Werke, hg. von FERDINAND VON INGEN und HANS-GERT ROLOFF, Band 3: Corylo = Mittlere Deutsche Literatur 3, Bern/Frankfurt am Main/New York (Lang) 1986. zur Überlieferung 183-186.
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Beers
Corylo
lichen Glücksfall, daß nun von einem Romanautor des 17. Jahrhunderts Zeugnisse vorlagen, in denen die eigene Biographie reflektiert wird, verband sich die ernüchternde Erkenntnis, daß der Zeitgenosse JOHANN BÀHR seine bürgerliche Existenz sorgfaltig von einer pseudonym umlaufenden Romanproduktion geschieden wissen wollte, die erst RICHARD ALEWYN im Jahre 1 9 3 2 dem Autorennamen JOHANN BEER zuordnete.4 Es hatte offenbar seine Konsequenz, daß die weitgestreuten phantastischen, satirischen und pikaresken Schriften nicht unter dem Namen dessen bekannt gewesen waren, der ihre Urheberschaft selbst in seinen persönlichen Aufzeichnungen verleugnete. Das Leben des Bürgers und das Werk des Romanautors sind radikal voneinander geschieden, womit beide ein Gestus der Verheimlichung und des Verschwindens verbindet. Genau wie das Werk im Leben des Autors ist auch der Autor im Werk nur verborgen präsent. Pseudonyme auf den Titelblättern richten eine trennende und schützende Wand zwischen dem Bürger BAHR und dem Werk JOHANN BEERS auf. Durch dieses Ineinanderfallen der Gegensätze zwischen Person und Werk werden die Konturen einer Gestalt faßbar, die in den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Zeit aufzugehen schien und sich zugleich schreibend gegen sie abschloß. Ihre öffentlich sichtbare Existenz wurde erst nachträglich mit den Dimensionen der Autorschaft konfrontiert, die ihr heimliches Widerlager bilden. Insofern kann man sagen, daß der Romanautor JOHANN BEER erst mit seiner Entdeckung durch RICHARD ALEWYN geboren wurde, daß mithin die spannungsreiche Geschichte von Leben und Werk JOHANN BEERS sich retrospektiv als Geschichte seiner Erforschung schreiben läßt. Und diese Forschungsgeschichte läßt sich wiederum als Auseinandersetzung mit ihrem Begründer und mit seiner Realismusthese begreifen, die das Bild der Werke JOHANN BEERS auch noch da beherrscht, wo sie energisch bestritten wird. Je mehr wir über die bürgerliche Person BAHR erfahren, desto undeutlicher wird das Bild des Autors BEER, das sich aus den Romanen ergibt. Und doch läßt sich ein genaueres Bild der historischen Räume und Zeiten, in denen BEERS Romane entstanden, erst durch die nähere Betrachtung dieses Widerspruchs zeichnen. Für ALEWYN standen allerdings die Lebensdaten seines Autors, die er zu sichern wußte, noch mit der Werkgeschichte der Romane in vollem Einklang, handelte es sich doch seiner Ansicht nach um realistische Texte, die aus der Fülle des erlebten Lebens schöpften. Umstandslos setzt der Forscher die oberösterreichische Heimat BEERS, wo sich dessen erste zehn Lebensjahre zwischen 1655 und 1665 abspielten, mit den ländlichen Schauplätzen der späteren Romane gleich, so daß er Lücken in der erschlossenen Biographie mit 3 4
Vgl. ADOLF SCHMIEDECKE in seiner Einleitung: BEER, Sein Leben 1. Vgl. RICHARD ALEWYN, Johann Beer, Studien zum Roman des 17. Jahrhunderts, & Müller) 1932.
Leipzig (Mayer
Welt des Autors und Welt der Romane
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Passagen aus den Romanen schließen zu können glaubt. ALEWYN entwirft das Bild einer Entsprechung von Leben und Werk, in das sich Momente der Heimlichkeit und des Verbergens schlecht einfügen. Gleichwohl bestimmt bereits Heimlichkeit die Kindheit BÄHRS in einem Elternhaus, das sich zu seinem Protestantismus nicht offen bekannte. 5 Konsequenterweise entgeht ALEWYNS biographischer Spurensicherung auch das Mißverhältnis dieses Kryptoprotestantismus mit der Ausbildung des jungen Musikers im katholischen Benediktinerkloster Lambach (1662-1665). 6 Der Schüler dürfte in diesem Umfeld seine konfessionelle Herkunft verheimlicht haben. Doch nicht das Motiv des Verbergens und der Verschlossenheit, das der Biographie schon von den ersten Schüleijahren an eingeschrieben ist, findet die Aufmerksamkeit ALEWYNS, sondern die scheinbare Evidenz der erzählten Romanwelt, die ihn folgern läßt: Die Motive seiner Romane - ohne daß sie im einzelnen "erlebt" zu sein brauchen zwingen geradezu dazu, ihn längere Zeit und in erlebnisfähigem Alter auf einem adligen Landsitz zu denken.1 Diese Annahme ist seit Schließung der biographischen Lücke zwischen 1665 und 1670, in der BAHR seine Ausbildung im bayerischen Kloster Reichersberg fortsetzte, sehr unwahrscheinlich geworden. Erst mit Beginn der Schulzeit am Gymnasium poeticum in Regensburg, das protestantischen Glaubensflüchtlingen aus Österreich Aufnahme gewährte, hat ALEWYNS biographische Rekonstruktion wieder den festen Boden dokumentierbarer Archivalien unter den Füßen.* Die Engführung von Leben und Werk profitiert hier von dem Umstand, daß mit dem Schulort nicht nur ein bevorzugter Schauplatz der Erzählungen gegeben ist, sondern auch ein biographischer Ort für die mündlichen Anfänge des BEERSchen Erzählens. Auf diese ersten Gehversuche des Erzählers BEER wird in späteren Romanvorreden und Widmungsbriefen zwischen dem Autor und seinen ehemaligen Mitschülern angespielt. Da heißt es etwa im Titelblatt der Erzählung Printz Adimantus, die kleine Geschichte sei vor diesem in denen nächtlichen Conclav-Erzehlungen präsentiert worden, womit 9 BEER auf die gemeinsame Zeit im Internat anspielt. Eine im engeren Sinne literarische Tätigkeit nimmt BEER erst an seinem Studienort Leipzig auf. Dies begründet ALEWYN mit der Einsamkeit des jungen Autors, was jedoch in Kontrast zu dem blühenden Studentenleben dieser 1 6
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Vgl. ALEWYN, Johann Beer 10. Vgl. ALEWYN, Johann Beer 15-18. Die korrigierten Jahreszahlen zum Aufenthalt in Lambach wurden nach der Tafel der Lebensdaten in BEER, Sein Leben 1 1 ergänzt. ALEWYN, Johann Beer 18. Vgl. ALEWYN, Johann Beer 18-40. Vgl. JOHANN BEER, Printz ADIMANTUS und der Königlichen Princeßin ORMIZELLA Liebes=Geschicht Worinnen ausßhrlich beschrieben wird Die wunderbahre Arth Des Verzauberten Castells in Hircania. [...]. . Zitiert wird nach dem Neudruck: Printz Adimantus und der Königlichen Princeßin Ormizella Liebes-Geschicht, hg. von HANS PÖRNBACHER, Stuttgart (Reclam Universal-Bibliothek 8757) 1967,Titelblatt.
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Beers Corylo
Universitätsstadt par exemple steht.10 Auch die inneren Widersprüche der Lebenssituation in Halle und Weißenfels, wo der Musiker zwischen 1678 und seinem Tod im Jahr 1700 in Diensten des Herzogs von Halle-WeißenfelsQuerftut zu finden ist, läßt ALEWYNS Darstellung außer acht." Der Forscher sieht seinen Autor als hochangesehenes Mitglied einer gebildeten Gesellschaft zahlreicher Literaten und Künstler, die sich um die Höfe sammelten, wobei Kirche, Tafel und Theater als drei Seiten seiner amtlichen Verpflich-
tung figurieren, in der sich künstlerische und bürgerliche Existenz zu einem vitalen Gesamtkunstwerk vereinen sollen.12 Zwischen den Lebensumständen des Zeitgenossen und der erzählten Welt der Romane scheint es keine Widersprüche zu geben, ALEWYN sieht vielmehr in BEERS Realismus den Geist reiner und uneingeschränkt bejahter Wirklichkeit am Werk.13 Realismus heißt für ALEWYN hier zweierlei: die Identifikation des Autors mit seinem Werk (auf der Produktionsebene) und das Einvernehmen des Helden mit seiner Welt (auf der Textebene).14 Neuere Lektüren der Romane BEERS und die weitere Erforschung ihrer sozialgeschichtlichen und biographischen Bedingungen haben die inneren Widersprüche des von ALEWYN inaugurierten Realismusparadigmas stärker hervortreten lassen. Seit JÖRG-JOCHEN MÜLLERS (d.i. JÖRG JOCHEN BERNS) Dissertation zu BEERS Willenhag-Romanen, die sich vor allem mit den textinternen RaumZeit-Strukturen befaßt, sind eine Reihe von Studien zur Erzähltechnik und immanenten Poetik bei BEER erschienen, die eher der artifiziellen Literarizität des Erzählens als der Realität des Erzählten Rechnung tragen.15 Realität 10 11 12
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Vgl. ALEWYN, Johann Beer 40-42. Vgl. ALEWYN, Johann Beer 4 3 - 6 1 . Vgl. ALEWYN, Johann Beer 55 und51/52. Vgl. das Resümee bei ALEWYN, Johann Beer 246. Für ARNOLD HIRSCH etwa wird auch der Corylo zum künstlerischen Ausdruck eines bürgerlichen Weltbilds, innerhalb dessen autonome Subjektivität sich nicht im Gegensatz zu gesellschaftlichen Normen, sondern im Einklang mit ihrer Umwelt erfährt. Vgl. ARNOLD HIRSCH, Bürgertum und Barock im deutschen Roman, Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes, hg. von HERBERT SINOER, Köln/Graz (Böhlau) 2 1957, Ί 9 7 9 , 34/35. HIRSCH sieht die Romanwelt des Corylo befreit von den vorgängigen religiösen Setzungen des Barockromans, so daß sie zum Feld der authentischen Erfahrungen des Helden werden kann. Der Lebenslauf des Helden sei an der eigenen Persönlichkeit orientiert und nicht an den anonymen Mächten der Fortuna: das Leben ist sein Wagnis, er soll sein eigenes Leben erfahren. Dabei wird aber nicht klar, inwieweit sich das Leben auch des BEERSchen picaro gegen gesellschaftliche Fremdbestimmungen zu behaupten hat. HIRSCH beobachtet zwar, daß sich der Held des Romans zufällig in die Angelegenheiten anderer verstricke, zieht aus diesem Befund jedoch keine interpretatorischen Konsequenzen. Vielmehr bricht er an dieser Stelle seinen Vortrag der Romanhandlung, drei Punkte setzend, ab. Vgl. JÖRO-JOCHEN MOLLER, Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers = Marburger Beiträge zur Germanistik 9, Marburg (Elwert) 1965. Ein breites Spektrum von Forschungsbeiträgen enthält der Band 13 (1991) der Simpliciano, der die Tagung Johann Beer & Grimmelshausen, Deutsche Prosasatire an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert dokumentiert. Einen Oberblick über die Forschungsgeschichte gibt ANDREAS SOLBACH, "Die Forschungsliteratur zu
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Bähr in Weißenfels: Anonymität des Autors
bedeutet hier nur mehr das zeitgenössische Literatursystem, innerhalb dessen 16 BEERS Romane eine spezifische Oppositionsstellung einnehmen. Freilich ist das Literatursystem niemals unabhängig von den übrigen Strukturen der Gesellschaft beschreibbar, denn den literaturimmanenten Wechselbeziehungen gehen gesellschaftliche Bedingungen der Produktion, Vermarktung und Rezeption voraus.17 Für JÖRG KRÄMER fällt BEERS Romanproduktion in die Zeit einer Dynamisierung des Buchmarktes, die durch häufige Neuerscheinungen und schnell wechselnde literarische Moden - Simpliziaden, politische Romane oder Robinsonaden - geprägt war. Geschäftstüchtige Verleger gingen auf die Suche nach Autoren, die die gestiegene Nachfrage nach neuen und unterhaltsamen Texten befriedigen konnten, um diese Texte in relativ billigen und kurzlebigen Duodez-Ausgaben herauszubringen. Zu diesen Autoren im Umfeld der Leipziger Verlagslandschaft gehörten neben BEER auch seine Weißenfelser Mitbürger CHRISTIAN WEISE und JOHANN RIEMER. Sie erscheinen als gewerbsmäßige Fabricanten populär-aufklärerischer Publikationen, die durch packende, anreizende Titel vermarktet wurden.18 Anhand von Archivalien hat ROSWITHA JACOBSEN die Lebenssituation WEI19 SES, RIEMERS und speziell BÄHRS in Weißenfels untersucht. Sie weist auf die Geringschätzung hin, die ihre Romane vor Ort erfuhren. Geradezu gespenstisch mutet es an, daß ihre Romanproduktion in dem relativ kleinen Ort anscheinend weitgehend unbekannt blieb und daß ihre Werke mit Ausnahme von RIEMERS Politischem Maul-Affen in keinem Bibliotheksverzeichnis der Stadt zu finden sind.20 Die Ausnahme betrifft einen Text, der seinem Autor RIEMER Anfeindungen von Seiten der städtischen Oberschicht eintrug, weil sie sich durch den Politischen Maul-Affen karikiert fühlte, so daß sich das Interesse eher aus persönlichen Zwistigkeiten als aus literarischen Motiven erklärt.21 Romane zu lesen war auch in den höchsten Kreisen der Gesellschaft durchaus üblich; Romane zu schreiben jedoch, wenn es sich nicht gerade um
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Johann Beer 1932-1992, Ein Literaturbericht": IASL Sonderheft 6 (1994) 27-91. Von SOLBACH nicht mehr erfaßt ist die Dissertation von KUNO GURTNER, "Ich hab ein Korb voll Obst beisammen", Studien zur Poetik der Romane Johann Beers = Deutsche Literatur von den Anfangen bis 1700 16, Bern (Lang) 1993. JÖRG KRAMER, Johann Beers Romane, Poetologie, immanente Poetik und Rezeption 'niederer' Texte im späten ¡7. Jahrhundert = Mikrokosmos 28, Frankfurt am Main (Lang) 1991, 213/214.
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Vgl. KRAMER, Die Romane Johann Beers 229-266. So A. KIRCHOFF (1883), zitiert bei MARTIN BIRCHER. "Neue Quellen zu Johann Beers Biographie" ZfdA 100 (1971) 230-242, hier 233. Vgl. ROSWITHA JACOBSEN, "Johann Beer in Weißenfels, Auseinanderfall von Autorität und Disk u r s " : Simpliciano 13 ( 1 9 9 1 ) 4 7 - 8 0 . Vgl. CLEMENS EPHORUS ALBILITHANUS (d.i. JOHANN RIEMER), Der Politische
Maul-Affe,
Nachdruck
der Ausgabe Leipzig 1680, Hildesheim (Olms) 1979. Das Werk war vorhanden in der Fürstenbibliothek, vgl. JACOBSEN, "Johann Beer in Weißenfels" 61. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung HELMUT KRAUSE, Feder kontra Degen, Zur literarischen Vermittlung des bürgerlichen Weltbildes im Werk Johann Riemers = Deutsche Sprache und Literatur 2, Berlin (Hofgarten) 1979, 57-63.
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Beers Corylo
repräsentative Monumentalwerke wie die Herzog ANTON ULRICHS handelte, galt gesellschaftlich als faux pas, zu dem man sich unter bürgerlichen Intellektuellen wohl genausowenig bekennen konnte wie heute zur gewerbsmäßigen Produktion von Trivialliteratur.22 Die Stellung BÄHRS innnerhalb der Kommunikationsräume des Hofs, des Gymnasiums, der Stadt23 scheint noch unbedeutender gewesen zu sein als im Falle von WEISE und RIEMER. Gelangten RIEMERS Theaterstücke immerhin zu einer öffentlichen Aufführung in Weißenfels, so war der Autor JOHANN BEER zu keiner repräsentativen literarischen Äußerung zugelassen. Seine soziale Stellung als subalterner Bedienter des Hofes verbot ihm eine Profilierung in den sozial anerkannten Literaturgenres. BEERS Romane dienen nicht der Erschließung einer literarischen Öffentlichkeit, sie sind vielmehr von einer Bewegung in die Anonymität gekennzeichnet, die sich seinen Mitbürgern in Halle und Weißenfels gegenüber verschließt. Der marktökonomische Aspekt der Romane deutet auf eine Entfremdung des Autors von seinen Texten hin. Er erkennt sie nicht als sein Eigenes an, sondern überantwortet sie als etwas Fremdes dem Konsum einer anonymen Käufer- und Leserschaft. Daß die Erzählerfiguren der Romane ihre Erzählungen als persönlichen Zeitvertreib und Spielraum der privaten Phantasie ausgeben, wäre dann nicht als Selbstbekundung des Autors, sondern als werbewirksame Rhetorik zu verstehen, mit der BEER die Unterhaltsamkeit des Produktes unterstreichen wollte. Gegen diese ausschließliche Bewertung der Romane BEERS als entfremdetes Produkt einer Auftragstätigkeit, als veräußerbare und damit austauschbare Handelsware, läßt sich jedoch das Wechselspiel der Erzählungen mit einem bislang kaum gewürdigten literarischen Lebenszeugnis anfuhren. BEERS Romane tragen eine bestimmte, unverwechselbare Handschrift, die sich etwa von der literarischen Strategie RIEMERS deutlich unterscheidet, der eine vorangestellte pädagogisch-politische Idee durch ihre rhetorisch-erzählerische Explikation veranschaulicht.24 BEERS Erzählweise läßt sich genauer in ihr Umfeld einbetten, wenn man ein privates Gedicht an seine Regensburger Schulkameraden heranzieht.25 In dieser Beschreibung der Statt Regenspurg von 1676 gibt BEER nicht nur eine topographische Schilderung der Stadt, die sich an einem nostalgisch imaginierten Rundgang des Erzählers orientiert, er erinnert seine Schulkameraden auch an die gemeinsame Schulzeit auf dem Gymna22
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Vgl. ANSGAR M. CORDIE, "Der Roman als faux pas, Simplicius, Joseph, fiktive Fehltritte und reale Fettnàpfe": Simpliciano 15 (1993) 229-239. Zu dieser dreigeteilten Soziologie der Stadt Weißenfels vgl. JACOBSEN, "Johann Beer in Weißenfels" 49. KRAUSE, Feder kontra Degen, 301-400 liefert eine Analyse der rhetorischen Erzählstragien RIEMERS, die er mit den pädagogischen Intentionen und dem historischen Ort des Autors zu vermitteln weiß. Vgl. HERBERT W. WURSTER, "Johann Beers Beschreibung der Statt Regenspurg, Ein wiedergefundenes Lobgedicht": Daphnis 9 (1980) 163-190. Das Gedicht dort 170-190.
Beer und Regensburg: Erzählen als Fluchtraum
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sium poeticum. Für den Erzähler BEER hatte die Gemeinschaft der Mitschüler ein dankbares Publikum geboten, dem er sich mit seinen Geschichten präsentieren konnte: Bey dieser Compagnie kam ich offt aufgezogen, mit viel Historien, so mehr alß halb erlogen, und sagte etzlich mahl von grosßen Abentheur •wie dort in einem Berg ein grosßes Höllenfeuer Geschlagen aus der Erd, da must es Ritter regnen die diesen Abentheuer gantz ritterlich begegnen, Hab also manche Stund der unbesternten Nacht mit meiner Phantasie gantz lustig durchgebracht Herr Meischner ist gar offt in grosse Lust gerathen, wann ich zu weil erzehlt vom kargen Ertz Praelaten Wie Er so manchen Fund ingenuos erdacht, durch welchen Er den Geitz ein Anstrich hat gemacht.26
Die Schulszene gibt ein Grundmuster der BEERSchen Romane wieder: Da ist ein Erzähler, der sich selbst und einer vertrauten Compagnie mit abenteuerlichen Historien die Zeit verkürzt. Dabei greift dieser Erzähler auf literarische Spielarten wie Rittergeschichten oder die satirische Darstellung der Geistlichkeit zurück. An diese hier biographisch verbürgte Grundsituation schließt die Thematik der ersten Veröffentlichungen BEERS an, handelt es sich doch um phantastische Rittergeschichten, die einer unbeschwerten Phantasie entsprungen zu sein scheinen.27 Doch auch die Schulszene selbst findet sich später literarisch verarbeitet wieder, wenn im Corylo ein Reisender auf dem Weg von einem Gymnasium [...] auff eine benachbarte Universitet einer Reisegesellschaft von seiner Schulzeit berichtet.28 Auch hier wird vom Erzählen im Kreis der Mitschüler erzählt, wobei die Situation dahingehend konkretisiert wird, daß sich das nächtliche Fabulieren im Conclav, im verschlossenen Schülerschlafsaal, abspielt.29 Das Erzählen steht hier im Zusammenhang nächtlicher Ausbruchsversuche aus der klosterähnlichen Klausur. Wenn es wegen der 24
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Beschreibung der StattRegenspurg 182, Vers 397-408. Vgl. neben dem Printz Adimantus auch JOHANN BEER, Der Abentheuerliche / wunderbare / und unerhörte RITTER Hopffen-Sack von der Speck-Seiten /Bestehend In allerhand Begebenheiten zerrissenen Castellen/Einöden / Gespenstern /Abentheuern/Duellen / Turnieren / Verzauberungen und dergleichen. [...]. Neudruck nach der Ausgabe Halle 1678. München (Renner) 1981. Vgl. Corylo Teil II, Kapitel 15, Seite 142, Zeile 29-38. Die Erzählung füllt dann die Seiten 142 bis 163. Vgl. Corylo II, 19, 149, 2-5 und SOLBACH, "Die Forschungsliteratur zu Johann Beer" 37, Anm. 58. Was SOLSACH aber meint, wenn er feststellt, daß BEER den Schülerschlafsaal [...], anders als die Literatur späterer Jahrhunderte, nicht zum literarischen Ort erhebt, ist mir nicht deutlich, handelt es sich doch um einen äußerst signifikanten Chronotopos, in dem sich der Gestus der Verschlossenheit und des heimlichen Ausbruchs manifestiert. Vgl. das Titelblatt des Printz Adimantus: Zu sonderlicher Ergötzung und Belustigun der Geschicht=Liebenden / vor diesem in denen nächtlichen Conclav-Erzehlungen / anitzo aber im öffentlichen Druck jedermänniglich vorgestellet und beschrieben [...].
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Beers Corylo
Auffsehenden zu unsicher erschien, das Gebäude heimlich zu verlassen, habe man zu schwatzen angefangen. Die Welt draußen und die Zukunft auff der Universitet erschien einigen der Schüler in ihrer Eingeschlossenheit als erstrebenswertes Wunschland, in das der erzählende Protagonist sie entführen konnte: Andere entschlossen sich / Ritter zu werden / und in der Welt auff Abentheuer herum zu ziehen / dann sie lasen anstatt der Grammatica in denen HistorienBüchern der herumwallenden Ritter / in welchen sie gar manche Abentheur anfraßen / und sich einbildeten / es were so warhafftig geschehen / als die Schlacht vor Litzen / derowegen Hesse ich zur Versterckung ihres Wohnens gar nichts ermangeln / sondern bekräfftigte es mit vielen Autoribus / dann ich gäbe vor / wie dieser und jener Autor darvor hielte / daß es die gäntzliche Warheit seye [...]. Wann nun die Jungen / die nicht fleisig zu studieren gewohnet waren / meinen Reden zuhörten / da dachten sie / sie wolten ßuchs morgen in Britania reisen / und Abentheur anfangen / [...] ,30
Ironisch werden hier die erlogenen Geschichten aus der weiten Welt mit der beengenden Situation der zuhörenden Schüler konfrontiert. Die Eigenschaft des Erzählens, räumlich und zeitlich Abwesendes zu vergegenwärtigen, läßt eine Erzählung von Realität nicht zu, wenn man unter Realität das versteht, was für den Erzähler und seine Zuhörer hier und jetzt der Fall ist. Diese Erkenntnis wird durch die hochgradig vermittelte Erzählsituation im Corylo unterstrichen, handelt es sich doch um den Bericht des fiktiven Ich-Erzählers Coiylo von einer Reisebekanntschaft, die davon erzählt, wie sie zu Schulzeiten Geschichten erzählt hat. Die Retrospektive des fahrenden Studenten biegt lediglich die Zeitschiene um. War es für die faszinierten Schüler eine erträumte Zukunft außerhalb der Schulmauern, die in den Erzählungen Gestalt annahm, so ist es für den, der die Schule verlassen hat, die nostalgisch erinnerte Vergangenheit, die den Kontrastraum zur Gegenwart abgibt. Dies markiert die Übereinstimmung der realen Sprechsituation des aus Regensburg nach Leipzig abgereisten BEER mit der Situation der Reisegesellschaft im Roman, die sich von einem fahrenden Studenten von der Melancholey der Gegenwart abhalten läßt.31 Und auch der fahrende Scholar betont die Attraktion, die gerade der räumliche und zeitliche Abstand des Erzählten zur Gegenwart hervorruft: Ihr Herren / so ich mir selbige Lebens-Luft noch vor Augen stelle / derer ich mich ohne Unterlaß zugebrauchen wüste / muß ich bekennen / daß ich diese gern mit jener vertauschen wolte / in Ansehung / daß die Freyheit der Jugend erst alsden golden ist / wann man sie in dem Alter urtheilen lernet; Dazumal wündschte ich mir zwar von denen abentheurlichen Possen des Emilius Brutus entfernet und abgeschieden zu seyn / aber anitzo sehe ich / welch einen pössirlichen Menschen ich 30 31
Corylo II, 19, 150, 27 - 151, 2. Vgl. Corylo II, 25, 163, 7.
Beer und Regensburg: Erzählen als Fluchtraum
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verfahren / an welchem ich mich so offt ergötzen können / als offt ich ihn nur angesehen Die in der Erzählung vor Augen gestellte Vergangenheit erhält ihren Reiz gerade dadurch, daß sie vergangen ist und die - tatsächlich vor Augen stehende - Gegenwart verdrängen kann. Erst in der nostalgischen Reminiszenz scheint gölden, was in seinem Verlauf seinerseits Anlaß zu Fluchtphantasien war, durch die der Erzähler versuchte, von der damaligen Gegenwart entfernet und abgeschieden zu sein. BEERS Erzählen, so läßt sich das Regensburger Dokument im Vergleich mit den korrespondierenden Passagen im Corylo vorläufig deuten, hat seine Verankerung in der Realität gerade dadurch, daß es Zeit verkürzt und reale Räume aufbricht, die gegenwärtige Wirklichkeit mithin zum Verschwinden bringt. Der Verschlossenheit des Autors gegenüber seiner zeitgenössischen Umgebung entspricht die Verschlossenheit der Erzählung gegen die zeitgenössische Realität. Was erzählt wird, ist immer abwesend. Wie der Romanautor BEER in Halle und Weißenfels nicht präsent ist, wird auch die Hallische und Weißenfelsische Umgebung des Hofbediensteten BÂHR nicht zum direkten Gegenstand des Erzählens. Dieser Gestus der Verheimlichung, der Abgeschlossenheit und des Verschwindens jedoch ist der innerfiktionale, strukturelle Ausdruck einer gesellschaftlichen Realität, die auf der Verschlossenheit der Individuen beruht." In der Sehnsucht des Erzählers nach dem Abwesenden wird die unerreichbare Abwesenheit des Erzählten manifest, so daß der Raum des Gegenwärtigen als Einengung erlebt wird, die erst durch das Erzählen überwunden werden kann. Fernweh und Heimweh verweisen auf die ernüchternde Realität der Gegenwart. BEER spricht in der Beschreibung der Statt Regenspurg von seinem Schmertz und seiner Quali, weil er von den Freunden weit abgeschieden seyn müsse.34 Die Phantasie wird zum Medium, in dem sich der Raum umfasßen läßt, dem der Sprecher erst vor wenigen Wochen sein letztes Valet gesagt hat. Ausdrücklich schreibt BEER die Möglichkeit dieses mentalen Ortswechsels der grosßen Macht seiner Gedancken zu.3i Diese rein gedankliche Transferleistung spielt sich im Regensburger Dokument jedoch noch in einem Kommunikationsrahmen ab, der von persönlicher Bekanntschaft und dem Diskurs der Mündlichkeit gestützt wird. Im Text gibt es Anspielungen, die Außenstehende nicht verstehen könnten, und das Gedicht endet mit der Bitte, über die Entfernung hinweg auch einen physischen Kontakt herzustellen, indem man dem Autor ein Regenspurger Kipf zusende.36 32 33
M 15
Corylo II, 18, 147, 28-36. Zum Phänomen der Verschlossenheit vgl. HARALD STEINHAGEN, Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, Historisch-ästhetische Studien zum Trauerspiel des Andreas Gryphius = Studien zur deutschen Literatur 51, Tübingen (Niemeyer) 1977, 57-59. Vgl. Beschreibung der Statt Regenspurg 182,409-412. Vgl. Beschreibung der Statt Regenspurg 190, 417-420.
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Mit dieser Verschränkung von Ferne und Nähe stellt die Beschreibung der Statt Regenspurg ein Übergangsphänomen zwischen mündlichen und schriftlichen Diskursformen dar. Wie bereits angemerkt, spielt noch das Titelblatt eines der ersten Ritterromane, des Printzen Adimantus, auf das Conclav des Schülerschlafsaals an und stellt somit eine Brücke zwischen dem internen Publikum der mündlichen nächtlichen Conclav-Erzehlungen und der anonymen Öffentlichkeit des vermarkteten Verlagsproduktes her, durch das die Geschichten anitzo aber im öffentlichen Druck jedermänniglich vorgestellet werden.37 Erst in diesen gedruckten Erzählungen wird der zeitliche Graben zwischen dem abgeschlossenen Vorgang des Erzählens und der Rezeption fundamental. Die gedruckten Romane BEERS distanzieren sich zweifach von der Gegenwart ihrer Leser: Einmal ist der Vorgang des Erzählens immer schon vergangen, wenn der Leser die Erzählung wahrnimmt; an der geselligen Mündlichkeit und der einsamen Schriftlichkeit des Autors nimmt kein Leser aktuell teil. Und dann ist der Erzählvorgang selbst von der unbestimmten Zeit des Erzählten, dem epischen Präteritum,38 unüberbrückbar entfernt. Die Drucklegung schließt die Zeiten der Erzählung und des Erzählens endgültig gegen ihre Leser ab. Die erzählten Räume und Zeiten werden zu hermetischen Gegenwelten, in die der Leser aus seiner Realität entflieht. Durch die Drucklegung, die den Namen des Verfassers in seiner pseudonymischen Vermummung aus dem Text entfernt, sieht sich der Autor unwiederbringlich aus dem Raum des Erzählten exiliert. Inhaltlich findet diese Kommunikationssituation ihre Entsprechung darin, daß in die fiktiven Räume der Erzählungen mehr und mehr die erinnerten Kindheitsräume des Autors einfließen, von denen der protestantische Exilösterreicher real abgeschnitten ist. Die oberösterreichische Landschaft ob der Enns, in der BAHR seine Kindheit verbracht hat, wird in den Romanen nicht realistisch geschildert, sondern in einer nostalgischen Verzerrung präsentiert. Nicht der historische Raum als solcher findet Interesse, sondern das in ihm gelebte Leben, so weit es der Erinnerung noch zugänglich ist. In BEERS Kurzweiligen SommerTägen antwortet ein Gesprächspartner auf eine detailreiche Schilderung des Landes ob der Enns:
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M
Vgl. Beschreibung der Statt Regenspurg 190, 624. Die Romane Johann Beers 2 3 3 nennt die Erzählungen Schlüsseltexte fur einen Kreis eingeweihter Rezipienten. Dies in Anlehnung an die Terminologie von KÄTHE HAMBURGER. Vgl. dazu ANDREAS SOLBACH, Evidenza und Erzähltheorie, Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen, München (Fink) 1993, 123, Anm. 223. Meine Verwendung des Terminus episches Präteritum im Zusammenhang mit BEERS Œuvre mag befremden, da hier IchErzählungen überwiegen, die nach HAMBURGERS Terminologie nicht dem Bereich des EpischFiktionalen zugehören. Doch werde ich im folgenden darlegen, daß BEER mit der Verunsicherung seines Ich-Erzählers das quasi-autobiographische Moment der Pikareske an seine Grenzen fuhrt und auch den Ich-Erzähler mit den mythischen Ursprüngen des Erzählens konfrontiert. KRAMER,
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Mein lieber Paul, [...] von diesen Dingen kann man genug in der Topographia Austriae zu lesen bekommen, darum erzähle mir vielmehr, wie dirs in deinem Heimat gegangen und was du vor Herren daselbst aufgewartet hast.39
Die besprochene Heimat kommt durch das erinnerte Tun und Ergehen des Sprechers in den Blick. Dieser Blick der Erinnerung ist gelenkt durch die Selektionsökonomie der subjektiven Wahrnehmung, der Raum bildet sich nach der Reizstruktur dessen, der ihn erlebt hat. Diese Schlußfolgerungen zieht jedenfalls JÖRG JOCHEN BERNS in einer Untersuchung zu Reflex und Reflexion der oberösterreichischen Bauernaufstände im Werk Johann Beers.40 Diese europaweit mächtigste bäuerlich-sozialrevolutionäre Erhebung nach dem großen deutschen Bauernkrieg berühre die Vordergrundszenarien der Romane nur peripher,41 In anekdotischer Raffung schrumpfen die historischen Ereignisse auf vereinzelte kriminelle Delikte zusammen, deren Abstrafung die unwirklich-friedliche Welt des dargestellten Landadels wieder in Ordnung bringen soll. BERNS macht die Eigengesetzlichkeit der kindlichen Wahrnehmung für die fiktive Verzerrung der Realität verantwortlich und weist darauf hin, daß der erwachsene BEER die Informationsmöglichkeiten, die die Publizistik seiner Zeit bereitstellte, nicht nutzte, um das verzerrte Bild der Ereignisse, das ihm aus der Kindheit geblieben war, zu korrigieren: Merkwürdig ist, daß dem Bibliothekar des Weißenfelser Hofes keine besseren Quellen zur Verfügung standen,42 Die Regression des Erzählers, die BERNS als Unreife von Autor und Werk diagnostiziert,43 ist aber mehr als ein individuelles Persönlichkeitsmerkmal des JOHANN BAHR/BEER. Vielmehr ist die Unmöglichkeit, die Welt der erzählten österreichischen Kindheit mit der realen Umwelt des sächsischen Hofbediensteten zu vermitteln, in den Widersprüchen einer Gesellschaft begründet, die bürgerliche Existenz und literarische Produktion repressiven Regeln unterwirft. *
Der erstaunliche Befund, daß der Autor BEER in der erzählten Welt der Romane genauso abwesend ist wie die Romane in der Umwelt des Bürgers BÄHR, verlangt nach einem Lektüremodell, das dieser wechselseitigen Verschlossenheit gerecht wird. Gesucht ist nach einem Beschreibungsverfahren, das die 39
40
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JOHANN BEER, Die teutschen Winter-Nächte & Die kurzweiligen Sommer-Täge, Zwei Romane, hg. von RICHARD ALEWYN, Frankfurt (Insel Tb. 872) 1985. Die kurzweiligen Sommer-Täge. Buch V, Kapitel 19,764. Vgl. JÖRG JOCHEN BERNS, "Reflex und Reflexion der oberösterreichischen Bauernaufstände im Werk Johann Beers": Die österreichische Literatur, Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050-1750), Teil 2, hg. von HERBERT ZEMAN, Graz (Akademische Druck- und Verlagsanstalt) 1986, 1149-1179, hier 1158. Vgl. BERNS, "Reflex und Reflexion der oberösterreichischen Bauernaufstände" 1159 und 1149. BERNS, "Reflex und Reflexion der oberösterreichischen Bauernaufstände" 1158. Vgl. BERNS, "Reflex und Reflexion der oberösterreichischen Bauernaufstände" 1176-1179.
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fiktiven Räume und Zeiten der Erzählung gerade in ihrer Abgrenzung gegen die historische Realität als historische Fakten begreifbar macht. Die Lektüre muß sich zu diesem Zweck ganz auf die Eigengesetzlichkeit des Erzählens einlassen, auf die zeitliche Abfolge des Geschehens und seine vom Erzähler festgelegte Ordnung. Für diese doppelte Erscheinung der Zeit in der Erzählung steht uns bereits ein Begriff zur Verfügung. Ich habe in meinen Ausführungen über die Mechanik des Geschehens in DÜRERS Lauf der Welt den griechischen Begriff des mythos eingeführt, der sowohl einen Sachverhalt bezeichnet als auch die Erzählung davon, wie sich die Sache verhält.44 Zeit ist hier die Zeit des Geschehens und des Erzählens. Für meine Lektüre von BEERS Corylo möchte ich diesen Mythos-Begriff nun noch präzisieren und seine Möglichkeiten erweitern. Zunächst einmal hat jedes Erzählen eine mythische Qualität, weil es die Vergangenheit des Erzählten mit der Gegenwart des Erzählens verknüpft. Das erzählte Vergangene ist abwesend, doch wird es zugleich durch das Erzählen vergegenwärtigt. Durch die Gegenwärtigkeit des Abwesenden konstituiert sich die mythische Gegenwart der Vergangenheit, die durch den aktuellen Erzählvorgang heraufbeschworen wird. Der gegenwärtige Erzähler erschafft eine epische Vergangenheit und spricht ihr zugleich die Objektivität eines Sachverhaltes zu, wenn er bekundet, die Sachen hätten sich so verhalten, wie er sie erzählt. Dies berührt auch die Gegenwart, denn die epische Vergangenheit wird als mythische Gegenwart präsent. Mythische Gegenwart meint hier die sinnstiftende, gegenwartsbestimmende Macht der erzählten Zeiten, die sich durch das vergegenwärtigende Erzählen herstellt. Die erzählte Vergangenheit wird zur möglichen Begründung für die Gegenwart. Damit suggeriert die Erzählung nicht nur ein 'So war es', sondern auch ein 'So ist es nun einmal', ein 'So geschieht es immer wieder' und ein 'So wird es immer bleiben'. Das mythische Element des Erzählens verweist in seinem Geschehen auf die mythischen Strukturen der Gesellschaft. Alles, was in einer Gesellschaft auf Wiederholung, Symmetrie und Tausch beruht, bestätigt sich durch die wiederholende und begründende Macht des Erzählens. Zwischen den drei Aspekten des Mythos besteht eine innere Verbindimg: zwischen den mythischen Strukturen der Gesellschaft, dem mythischen GescheZum Begriff des Mythos vgl. WILHELM NESTLE, Vom Mythos zum Logos, Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens, Stuttgart (Kröner) 2 1975; JEAN-PIERRE VERNANT, "Der Mythos": Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland. Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp 1381) 1987, 188-242; ANDRÉ JOLLES, Kleine Formen, Legende /Sage/Mythe /Rätsel /Spruch/Kasus /Memorabile /Märchen / Witz = Sächsische Forschungsinstitute in Leipzig, II. Neugermanistische Abteilung, Heft II, Halle (Niemeyer) 1930; HARALD WEINRICH, "Erzählstrukturen des Mythos": Literatur für Leser, Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, Stuttgart (Kohlhammer) 1 9 7 1 , 1 3 7 - 1 4 8 u n d 1 9 8 - 2 0 0 ; FRANZ FOHMANN, " D a s m y t h i s c h e E l e m e n t in der Literatur": Es-
says, Gespräche, Aufsätze 1964-1981. Rostock (Himstorfl) 1986, 82-140. Einen ersten Versuch zur mythischen Qualität des Erzählens habe ich bereits vorgelegt: ANSGAR M. CORDIE, "Modi des Handelns und Erzählens in Grimmelshausens Erstem Beernhäuter": Simpliciano 19 (1997) 9-28.
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hen der Erzählung und der Mythenerzählung selbst. Die Mythenerzählung berichtet von einem mythischen Sachverhalt, der in einer epischen Vergangenheit liegt und doch vergegenwärtigt wird. Diese Macht des Wiederholens bestätigt die Herrschaft des Immergleichen, die mythischen Strukturen der Gesellschaft. Im Begriff des Mythos liegt ein Moment von ideologischer Affirmation des Bestehenden. Geschichte wird bestätigt, indem eine grundsätzliche Veränderung angesichts des Immergleichen geleugnet wird. Für BEERS Erzählen ist die mythische Qualität des Erzählens umso bedeutsamer, als die fiktiven Zeiten des Erzählten sich fast vollständig vor den aktuellen historischen Erfahrungsraum des Autors schieben können. BEERS Erzählen bringt epische Vergangenheit in Spannung zur Geschichte, die nur noch in rudimentären Spuren das Geschehen der Erzählung bestimmt. In den folgenden Analysen jedoch zeigt sich, daß die mythische Qualität des Erzählens sich gegen sich selbst wenden kann. Indem die Erzählung das Augenmerk auf einen bestimmten Sachverhalt richtet, widersetzt sie sich der Macht der Wiederholung, die sie zum Ausdruck bringt. Die Eigendynamik des Erzählens, das Erscheinen eines besonderen Helden in der Zeit, durchbricht die mythischen Strukturen von Wiederholung, Tausch und Symmetrie. Dieses spannungsreiche Verhältnis drückt sich romanintern in der Frage des pikaresken Helden nach seinen Ursprüngen aus, im Verhältnis zwischen Ich und Wir. Am Anfang der Erzählung sind mythische Strukturen in eine Relation zu jener Komplexität gebracht, die die schelmische Existenz des Einzelgängers überhaupt erst freisetzt. Durch ihre inneren Verweisbeziehungen hat auch die Zeit der Erzählung eine mythische Qualität. Indem sie eine zeitliche Abfolge von dem Beginn des erzählten Geschehens bis zu seinem Schluß herstellt, macht die Erzählung implizit die Setzung eines zunächst willkürlichen Ausgangspunktes, dem sie erst sukzessive durch das erzählte Geschehen eine Begründung nachzureichen hat. Der analytische, kriminalistische Rückgriff auf eine Vorgeschichte, die das Geschehen der laufenden Zeit begründen könnte, wird zu einem Blick in den unergründlichen Brunnen der Vergangenheit.45 Damit bestimmt sich Mythos, die aitiologische Auskunft über die Ursachen eines Sachverhaltes, als Grundform allen Erzählens. Das Erzählen soll begründen, warum die Dinge so gekommen sind. Zugleich aber erweist der ins Leere fassende Rückgriff auf die Ursprünge des Geschehens nicht nur die Unerreichbarkeit eines widerspruchsfreien Beginns, sondern sogar seine Nichtexistenz. Mythos in diesem poetologischen Sinne ist keineswegs raunende Ideologie des reinen Ursprungs, sondern Ausdruck von Komplexität. In diesem strengen, griechischen Sinn des Wortes ist Mythos Aufklärung im Medium des Erzählens.46 Indem die Erzählung nicht Eindeutigkeit an ihren Vgl. THOMAS M A N N , Joseph und seine Brüder, Erster Band, Die Geschichten Jaakobs - Der junge Joseph, Frankfurt am Main (Fischer Tb. 1183) 1978, 5-39: Vorspiel Höllenfahrt.
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Beginn setzt, sondern diesen Beginn immer schon von Komplexität bestimmt zeigt, klärt sie noch im Rückgriff auf eine fiktive Ausgangswelt über die komplexe Unübersichtlichkeit der Realität auf. Darin unterscheidet sich der aufklärende Gestus des Erzählens von hagiographischer Ideologie. Die Frühe des Beginns bedeutet der Ideologie den Nachweis der Eindeutigkeit, den die Realität notwendig schuldig bleiben muß. Dagegen setzt das Erzählen einen Beginn, der immer schon mitten in den Widersprüchen der Wirklichkeit steht. Wenn von der mythischen Qualität des Erzählens die Rede ist, dann ist damit zugleich die Grundproblematik der BEERSchen Erzählungen benannt. Denn BEER ist entschiedener als die meisten seiner Zeitgenossen ein erzählender Autor, der einer raum-zeitlichen Veranschaulichung des erzählten Geschehens den Vorzug vor seiner diskursiven Ausdeutung gibt. JOHANN BEERS Roman Corylo beginnt in einem mythischen Verfahren mit den allereinfachsten Strukturen, mit den familiären Grundformen des sozialen Lebens und der Sozialisation, um dort bereits die handlungsstiñende Komplexität auszumachen.47 Die Erzählung greift auf eine mythische Form zurück, auf die kleine Form der Sage, in der Geschichte nur als Familiengeschichte existiert,48 Das erzählte Ich taucht im Alter von 5. Jahren im Horizont der Erzählung auf, in einem Alter, wo es gemeinsam mit seinem Bruder und zwey Schwestern zum ersten Mal das elterliche Schloß verläßt, weil es in eine Schuel geschicket wird. Damit markiert der Beginn der Erzählung bereits die Überschreitung der familiären Ausgangssituation, widmet allerdings diesem Vorgang kaum Aufmerksamkeit, sondern kehrt rasch zu der Figurenkonstellation der Familie zurück. Die beginnende Schulzeit bleibt lediglich ein erstes Moment, das Bewegung in die Statik der Ausgangsverhältnisse bringt. Diese Verhältnisse innerhalb der Familie bilden zunächst eine fast schon mythische Welt, eine Welt also, die in ihrer Abgeschiedenheit sich selbst anscheinend vollkommen genügt, so daß sie alle sinnstiftenden Momente aus ihrer eigenen Struktur bezieht. Beinahe ist die kleine Welt der Familie auf dem Schloß die Welt überhaupt, ähnlich der Welt des Spessarthofes fiir den unwissenden Knaben zu Beginn des Simplicissimus Teutsch. In BEERS Corylo hat der Herr Vater nahezu unbeschränkte Bedeutung für den erzählten Kosmos, wird er doch fast in der gantzen Welt der reiche Holtz-Graf genant. Dies liegt daran, daß der Einflußbereich der väterlichen Gewalt beinahe mit der Welt überhaupt identisch ist, denn der Umkreiß der väterlichen Wälder ist - der Auskunft der Erzählung nach - fast unermeßlich. Eine Begrenzung, die im Simplicissimus Teutsch durch die ironische Konfrontation der Figuren- und der
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Mythos ist eine Form des Logos, die erst durch ihre vorübergehende Zeitlichkeit aus dem logischen Diskurs und durch ihre Abgeschlossenheit aus dem historischen Diskurs geschieden wurde. Vgl. VERNANT, "Der Mythos" 188-194. Vgl. zum folgenden Corylo Buch I, Kapitel < 1 >, Seite 17, Zeile 32, - Seite 18, Zeile 19. Vgl. JOLLES, Kleine Formen 72.
Mythische Wir-Strukturen undpikareske
Ich-Aussage
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Erzählerebene in das scheinbar widerspruchsfreie Bild der Ausgangswelt gelangte, wird hier lediglich durch das einschränkende, zweimal auftauchende Wort fast eingebracht. Die Welt des Romananfangs ist eben nur beinahe mythisch, sie steht nicht für die Welt überhaupt, nähert sich diesem modellhaften Gegenbild jedoch. Der Vater ist eben nur fast identisch mit einer mythischen Gestalt, beinahe ist er der Herr des Waldes. Einem Mythos im engsten Sinne des Wortes wäre der Wald identisch mit der Welt. Das wird jedoch durch die unbestimmte Angabe relativiert, der Schauplatz der Handlung befinde sich in einer bekandten Gegend des Teutschlandes. Damit wird eine Annäherung der erzählerischen Ausgangssituation an die historisch-geographische Welt der Leser ermöglicht, wie ja auch die griechischen Mythenerzählungen historische Städte zu den Schauplätzen der Handlung und die mythischen Gestalten zu Vorfahren der Lebenden machen. Jede Mythenerzählung ist schon auf dem Weg zur historischen Erzählung.49 Beiden ist es um die Begründung der geltenden Verhältnisse zu tun. In B E E R S Corylo bezieht sich diese Begründungsleistung auf die fiktive Welt der Erzählung, die durch die Strukturen des Ausgangs ihre eigene Semantik der Wahrscheinlichkeit entwickelt. Diese Semantik der Wahrscheinlichkeit entsteht durch die Familienkonstellation, in der der Held aufwächst. Der Schelm, so einsam er in der Welt sein mag, muß ja Vorfahren gehabt haben, durch die seine physische Herkunft erst wahrscheinlich wird. Diese Bestimmung der Herkunft trägt im Corylo mythische Züge. Die Geschwisterkonstellation der Herkunftsfamilie ist gekennzeichnet von einer zweifachen Verdoppelung, denn Corylo ist einer von zwei Brüdern, die wiederum zwei Schwestern haben. Damit bezieht sich die Erzählung auf eine Grundform des Erzählens, auf das Zählen, das Aufzählen genealogischer Reihen: 'Ein Vater hatte vier Kinder, zwei Soline und zwei Töchter...' Aus dieser zählbaren Gruppe tritt der Held Corylo erst langsam heraus. Zunächst ist nur von der Gruppe der Kinder als wir die Rede. Erst nach und nach wird Corylo in den Oppositionen der Geschwisterkonstellation sichtbar. Hier wirkt die Logik, die dem Aufzählen entspringt. Denn jedes aufgezählte Einzelne muß ja mit Bestimmungen versehen werden, um es von den anderen Exemplaren zu unterscheiden. Individualität der einzelnen Figur, dies wäre die erstaunliche Erkenntnis einer strukturalen Semantik mythischen Erzählens, hat ihre Wurzeln in der Gruppe, die Unterschiede zu ihrer inneren Strukturierung benötigt. Zunächst einmal sind dabei recht unindividuelle Bestimmungen hinreichend, wie etwa die Unterscheidung nach dem Alter. In einer solchen überindividuellen Gruppe geht Corylo zuerst fast völlig auf, er verschwindet sozusagen im Kollektiv und zeigt auch später immer wieder die Tendenz, in einer Gruppe zu verschwinden. Zur Verbindung von Mythos und Geschichte vgl. ein Zitat von FRIEDRICH C H R I S T O P H D A H L M A N N in JOLLES, Einfache Formen 92/93. Das kollektive, zyklische Gedächtnis bewahre Geschichte auf und die mythische Erzählung verzeitliche die mythologischen Grundsituationen.
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Der unpikareske Gestus des gänzlichen Verschwindens, der dem Erscheinen des Schelmen, seiner emphatischen Ich-Aussage, widerspricht, weist auf ein Moment des Romans hin, das gegenläufig zur pikaresken Form ist. Die Pikareske bestimmt sich innerhalb dieses Gegensatzes als Aufbrechen von WirStrukturen durch das Auftreten des einzelnen, bindungslosen Helden. Gleichzeitig aber ist die vorübergehende Bindung an Wir-Strukturen, sein zeitweiliges Verschwinden darin, für den picaro eine Voraussetzung des Überlebens. Der eigenartigen Kooperation des Schelmen mit der Gesellschaft, an deren Rand er steht,50 entspricht strukturell die Wechselbeziehung zwischen der pikaresken Ich-Form und den mythischen Strukturen der Gesellschaft. Entscheidend für den Status der Erzählung im Corylo ist schon von ihrem Beginn her das spezifische Verhältnis von Ich und Wir. Die Oppositionsstellung von Ich und Wir wird in Beers Corylo durch die inneren Widersprüche der anfangs so homogen scheinenden Familienstruktur motiviert. Der Held verbleibt nämlich nicht als unscheinbarer Faktor innerhalb der Geschwisterkonstellation, er durchbricht gewisse Gräntzen durch das Laster einer unzimlichen Liebe zu seiner Eltern Schwester.51 Nachdem der Herr Vater von der unzulässigen Liebe der Geschwister Kenntnis erhalten hat, verstößt er den Missetäter, wobei er ihm noch mitteilt, er sei nicht sein leiblicher Sohn. Vielmehr habe er ihn auf der Jagt in einer Hole eines Beeren angetroffen. Die Verknüpfung der Motive erstaunt zunächst. Denn die Übertretung des Inzest-Veibotes steht hier nicht im Zusammenhang mit einer Verbindung zwischen Blutsverwandten, sondern im Gegenteil mit der ungeklärten Herkunft Corylos, die in das bekannte Mythenmotiv des in der Wildnis gefundenen Kindes gekleidet ist. Als regulatives Moment der Familienbeziehungen verweist das Inzest-Verbot auf die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, die die innere Stabilität der Gruppe und ihre äußere Handlungsfähigkeit garantieren sollen.52 Durch seine Übertretung schließt 50
Der Schelm ist ein Halbaußenseiter, der die verborgenen Regeln der Gesellschaft imitiert und sie dadurch entlarvt. Zum Streben des Schelmen nach Assimilation und seiner Rolle als Figuration des getarnten Widerspruchs vgl. DIETER ARENDT, Der Schelm als Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums, Vorarbeiten zu einer literatur-soziologischen Analyse der Schelmenliteratur, Stuttgart (Klett) 1974, 114-120. Zur Rolle des halben Außenseiters, der als Spielverderber die inoffiziellen, konstitutiven Spielregeln entlarvt und damit die offiziellen, regulativen Spielregeln verletzt, vgl. MATTHIAS BAUER, Im Fuchsbau der Geschichten, Anatomie des Schelmenromans. Stuttgart und Weimar (Metzler) 1993, 96/97. Zur affirmativen Funktion des modernen intellektuellen Pseudo-Außenseitertums vgl. CLAUDIA ERHART-WANDSCHNEIDER, Das Gelächter des Schelmen, Spielfitnktion als Wirklichkeitskonzeption der literarischen Schelmenfigur, Untersuchungen zum modernen Schelmenroman = Europäische Hochschulschriften I, I, 1510, Frankfurt am Main (Lang) 1995, 268/269.
51
Vgl. Corylo 1,, 18,27- 19, 17. Vgl. zur Stabilität der Familie nach außen CLAUDE LÉVI-STRAUSS, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, deutsch von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1981, 639-663. Eine Umsetzung der von LÉVI-STRAUSS erarbeiteten Familienstrukturen fur die genderAnalyse der Willenhag-Romane findet sich bei LYNNE TATLOCK: "Männliches Subjekt, weibliches Objekt: Zur Geschlechterdifferenz in Johann Beers Willenhag-Romanen": Weißenfels als Ort Ii-
11
Mythenerzählung:
Durchbrechung
mythischer
Strukturen
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sich Corylo aus der Solidargemeinschaft seiner Familie aus. Dieser Ausschluß erhält mit dem Rätsel seiner Herkunft zusätzlich noch eine zweite Motivation. Als Familienmitglied könnte er keine legitime Verbindung mit Sancissa, der älteren Schwester, eingehen. Als Fremder hingegen verfügt er nicht über den familiären Hintergrund, der ihn zum gleichberechtigten Tauschpartner im Ehegeschäft machte. Das Inzest-Verbot, so die These von LÉVI-STRAUSS, dient nicht der Verhinderung einer Verbindung zwischen leiblichen Verwandten, das wäre ja auch in der vorliegenden Erzählung absurd, sondern der Bereitstellung von Frauen als Tauschgüter zum Aufbau interfamiliärer Allianzen." Wer die Frauen der eigenen Familie nicht selbst antastet, kann im Tausch für sie Schwiegersöhne und Schwäger aus mächtigen und reichen Familien gewinnen. Zugleich verletzt die Regelwidrigkeit die Autorität des Vaters, der den inneren Zusammenhalt der Familie und ihre hierarchische Struktur verkörpert.54 Vor dem Hintergrund dieser mythischen Struktur erscheint Corylo nach innen als unterlegen und nach außen als nicht gleichberechtigt, da er keine eigene Familie und somit keine finanziellen Sicherheiten in eine Verbindung einbringen kann. Plötzlich hat sich Corylos Situation grundsätzlich gewandelt, denn die Tauschbeziehungen haben sich verändert, die den Wert des Helden nun bemessen. Bei seiner Abstrafung durch die Rute sinkt Corylo auf den Wert des ihn prügelnden Lakaien, von dem es heißt, er tränckte mir dazumahl ein / was ich ihm zuvor offt zuwider gethan / indeme ich dem Grafen öffters angedeutet/daß er bei der Köchin geschlaffenDie gewaltsame Revanche des Untergebenen zeigt, daß der Tausch unter Gleichen auf Ungleichheit basierte, daß mithin die schöne Symmetrie bloßer Schein war. Der Held zerstört durch seinen Fall die geordnete Symmetrie der Geschwisterkonstellation und beleuchtet zugleich die bislang unberücksichtigten Tauschinteressen der Benachteiligten, die nicht über Familie und Besitz verfügen. In die erzwungene Übersichtlichkeit der Verhältnisse kommt damit ein Moment der Komplexität, wodurch sich ergibt, was Komplexität bedeutet: die Unmöglichkeit, jedes Element eines Systems mit jedem anderen zu verknüpfen.56 Komplexität, so
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54
" 56
terarischer und künstlerischer Kultur im Barockzeitalter = Chloe 18, hg. von ROSWITHA JACOBSEN, Amsterdam (Rodopi) 1994, 217-239, hier 223/224. Den Zusammenhang der hierarchischen Binnenstrukturen der Familie und ihre Bündnisfähigkeit nach außen betont jn der Konfrontation anthropologischer und historischer Forschungen BERNARD VERNIER, "Théorie de l'inceste et construction d'objet, Françoise Héritier, la Gèce et les Hittites": Annales 51 (1996) 173-20. vor allem 199/200. Dies gegen JOLLES, Einfache Formen 8 1 , wo die Bedeutung der Blutschande für die Sage überbetont wird, und zugunsten von JOLLES, Einfache Formen 90, wo das Gewicht auf das Erbe gelegt wird: Immerhin, als Einfache Form steht sie vor uns, sowohl in ihrer sprachlichen Form, wie in ihren Personen, die hier Erben , und in ihren Gegenständen, die das Erbe bedeuten. Vgl. VERNŒR, "Théorie de l'inceste" 199/200. Corylo I, , 19, 15-17. Vgl. NIKLAS LUHMANN, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der
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sehen wir, war immer schon vorhanden. Sie wurde aber durch den künstlichen Ausschluß potentieller Tauschpartner in eine mythische Übersichtlichkeit der Verhältnisse verwandelt. Die Beliebigkeit des Ausschlusses impliziert mithin, daß die mythische Geschlossenheit jederzeit aufgebrochen werden kann. Die gewaltsame Ordnung von Tausch und Symmetrie hat in ihrem Horizont bereits ihren gewaltsamen Umsturz. Die innere Dialektik der mythischen Gesellschafisstrukturen findet ihren Ausdruck in der Eigendynamik der Mythenerzählung. Denn die Erzählung tendiert ja in ihrem Interesse an dem einzelnen besonderen Fall bereits zur Durchbrechung der Wir-Strukturen durch ein Ich. Von BEERS Corylo wird das am Fall des Helden exemplarisch vorgeführt. Die Zeitlichkeit der Erzählung thematisiert den Zusammenbruch der mythischen Statik aus den eigenen Widersprüchen heraus. Indem der Mythos von einem Sachverhalt erzählt, deutet er schon seine Veränderbarkeit an. Immerhin erzählt der aitiologische Eingangsmythos des Cory/o-Romans vom Zerbrechen der Familienstruktur, wodurch die Figur des Schelmen freigesetzt wird. Zugleich gibt das Geschehen dem Schelmen die Aufgabe mit, nach der eigenen Vorgeschichte zu forschen, um sich mit einem familiären Hintergrund zu versehen. Das pikareske Moment der Selbsterhaltung des Einzelnen, das auf die Zukunft des Individuums gerichtet ist, verbindet sich mit dem gegenläufigen analytischen Motiv der Frage nach Ursprung und Herkunft. Auch seine Rückfrage nach der Vergangenheit hat für Coiylo Zukunftsbedeutung, soll sie ihn doch wieder in ein funktionierendes soziales Gefüge eingliedern. Die beiden miteinander verknüpften Handlungs- und Zeitformen verpflichten die Erzählung auf eine Erzählweise, die dem langsamen Fortkommen des isolierten einzelnen in der Welt gerecht wird. Statt der Statik der Ausgangssituation, in der geraume Zeit unter den immer gleichen Abläufen verflossen war, bedingt die unmittelbare Bedrohung des Helden eine neue Dynamik. Seine Handlungsperspektive reicht plötzlich über diesen Tag der Vertreibung, die Zehrung von zwölf Groschen und die ungünstige Witterung nicht mehr hinaus und bringt ihn in ein neues Verhältnis zur ungewissen Zukunft, die ihre Unwägbarkeiten aus einer unbekannten Vergangenheit und einer ungesicherten Gegenwart bezieht. Unversehens sieht sich der Held aus dem mythischen Chronotopos in den pikaresken gestoßen. Denn das Zerbrechen der Ausgangsstruktur bedingt eine Verzeitlichung und Individualisierung des Raumes, der nun vom Helden durchmessen werden muß. Das erste Wegstück des Helden vollzieht sich als optische und affektive Trennung vom Schloß seiner Kindheit:
modernen Gesellschaft, 1091) 1993,21.
Band 1, Franklürt am Main (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft
Mythenerzählung: Durchbrechung mythischer Strukturen
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Auf diesem Wege sähe ich mich noch vielmahl zurück / und zwar so lang / als lang ich noch eine Spitze von dem Schloß erblicken können / nur aus innerlicher Affektion, welche ich zu der Sancissa trüge [...].sl
Der Held ist nicht länger bloßer Teil eines festumrissenen Raumes, der Raum wird von ihm vielmehr affektiv besetzt und schrittweise erfahren. Jeder neue Ort verbindet sich jetzt mit den (Über-)Lebensvollzügen des Vaganten, die durch die Verknappung der Ressourcen eine große Bedeutung und Dichte erhalten. Ein grosses Baum-Dorf wird zum Schauplatz der ersten MittagsMahlzeit auf dem Weg.58 Corylo sieht sich zum ersten Mal unter das Niveau des geringsten Tauschpartners gebracht, als selbst ein Taglöhner ihm mit spendiertem Ziegen-Käse aushilft. Dieser Taglöhner gibt ihm dann die Bestätigung der Herkunfts-Erzählung, mit der er versehen ist. Als Augenzeuge verifiziert er di e Aussage des Grafen über den Fund eines Knaben in einer Bärenhöhle, wobei die Übereinstimmung der Zeit für Corylo das Indiz der Wahrheit darstellt. Sicherheit bezieht der bindungslose einzelne nicht mehr aus selbstverständlichen, wiederholten Alltagsvollzügen, die ihn in das Beziehungsgeflecht der Familie einfügen. Zeit ist ist nun vielmehr eine Linie von Ereignissen, anhand derer er zu eigenen Urteilen und Entscheidungen finden muß. Corylos Urteilsleistung erstreckt sich auch auf den unbekannten Raum, den er zu durchmessen hat. Zukunft ist nicht zuletzt der Weg, der vor ihm liegt. Dieser Weg konkretisiert sich im Eingangskapitel des Co^/o-Romans als großer Wald, in dem sich der Held verirrt, da auch der Tagelöhner mit seiner begrenzten Ortskenntnis ihm keine genaue Wegbeschreibung geben kann.59 An die Stelle solcher Informationen treten literarische Reminiszenzen an die gedruckte Historia über das Schicksal des Fortunati mit dem Sekel und dem Wünsch-Hütlein60 und Erinnerungen an mündliche Erzählungen von denen alten Weibern. Das Reservoir des Wissens, das in der Form von Erzählungen vorliegt, erweist sich als untauglich, da die erfundenen Geschichten dem eigenen Geschick nicht als Folie unterlegt werden können. Die suggestive Macht der Erzählungen versetzt ihn lediglich in eine Furcht, die ihn noch weiter in die Tieffe des Waldes hineintreibt. Noch ist Corylo abhängig von einer erzählten Vergangenheit, die über seine Gegenwart mythische Macht gewinnt. Der aus dem mythischen Bereich der Familie Verstoßene versteht sich noch nicht auf die Erkenntnisform der Erzählung, die den Hörer nicht auf das 37
Corylo I, , 19,24-27.
" "
Vgl. Corylo I, , 19, 33 - 20, 7. Vgl. Corylo I, , 20, 8-37. Bei entsprechender Lektüre hätte die Forfunams-Geschichte ihren Leser Corylo mit der Erfahrung der Ambivalenz ausstatten können, die in der Gefahr auch immer noch eine Chance eröffnet. Fortunatus wird im Wald nämlich nicht nur mit dem bedrohlichen Bären konfrontiert. Er trifft dort auch seine Schutzherrin Fortuna, die ihm das Glücks-Säckel schenkt. Vgl. Fortunatus, Studienausgabe nach der editio princeps von 1509. hg. von HANS-GERT ROLOFF, Stuttgart (Reclam
60
U B 7 7 2 1 ) 1981,42-49.
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Beers Corylo
Erzählte festlegt, sondern die Zeitlichkeit aller Erfahrung als individuell und unwiederholbar vermittelt. Aus der Eigendynamik des Erzählens wird der Schelm erst geboren. Der Schelm ist die Geschichte seines Lebens und nimmt zugleich Distanz zu ihr. Sein zeitweiliges Verschwinden in den Geschichten der anderen durchbricht und perspektiviert den pikaresken Gestus der Selbstbehauptung und Selbsterkenntnis. Durch das Handeln und Erzählen der anderen deutet die Erzählung auf ihren mythischen Ausgang vom Kollektiv. Das Verhältnis von Ich und Wir wird zum Grundproblem des Geschehens und seiner Erzählung in BEERS Corylo.
Schloß und Stundenschlag: Das Ganze Haus und Corylos Platz darin Die Geschichte des Corylo hätte im dichten Wald des ersten Kapitels bereits ihr einsames, vorzeitiges Ende nehmen können. Der Leser erinnert sich, daß dieses Schicksal in der Wildnis dem Helden bereits ein zweites Mal droht. Hatte der Holzgraf ihn am Beginn seines Lebens in einer Bärenhöhle angetroffen und ihn auf seinem Schloß aufgezogen, so verlangt auch diesmal die Isolation des Helden seine Rettung durch die menschliche Gesellschaft. Der Weg des einzelnen aus den sozialen Bindungen heraus erweist sich als Sackgasse, bedingt durch die Unmöglichkeit, sich mit eigenen Mitteln selbst zu erhalten. Von vornherein ist das Ich auf das Wir bezogen; der einzelne Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, ein zòon politikón. Deshalb konfrontiert das zweite Kapitel den Weg des Helden unversehens mit Spuren menschlicher Gesellschaft, auf die er zu seinem Überleben angewiesen ist. Diese Hilfe in größter Verlassenheit erscheint just in dem Moment, wo sich vor Corylo ein großer, anscheinend unüberwindlicher Graben auftut. Auf der anderen Seite, jenseit des Grabens, wird ein alter Mann mit einem Diener sichtbar. ' Über den Graben hinweg, der eine Annäherung auf Sicht- und Hörweite zuläßt, entspinnt sich eine Kommunikation, wobei der Graben zugleich als kategoriale Trennlinie zwischen zwei gegensätzlichen Chronotopoi verläuft, zwischen der Eigenzeit des Helden und der gesellschaftlichen Zeitordnung. Corylo argumentiert in der Linearität seiner Eigenzeit, für die zweierlei charakteristisch ist: der minutiöse Ablauf der überlebenswichtigen vergangenen Stunden und die Orientierung an einem Weg, der den einsamen Helden aus seiner Misere herausfuhren soll: "Liebe Herren" sagte ich: "Es ist nunmehr schon die sechste Stunde da ich in diesem Wald gäntzlich verirret / und weil ich von der rechten Strassen abgewichen / weis ich keinen Weg daraus zu gelangen / bitte sie derowegen nach Vermögen und Schuldigkeit / sie führen mich mit sich / damit ich die Nacht nicht hierinnen verbleiben dörffe".1
Das gefährdete Ich erweist sich als organisierendes Zentrum von Raum und Zeit, so daß Wald, Weg und Tageszeiten ausschließlich in ihrer Auswirkung auf sein Überleben in den Blick kommen. Gleichwohl streckt der Sprecher verbal die Hand zu seinen Gesprächspartnern aus, indem er sich durch die Anrede Liebe Herren in ein hierarchisches Verhältnis der Unterordnung zu ihnen setzt und an die gesellschaftlichen Tauschbeziehungen appelliert, die 1 2
Vgl. Corylo 1,2, 21, 19-36. Corylo 1,2,21,24-29.
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eine Hilfe nach Vermögen und Schuldigkeit implizieren. Denn Herr und Diener auf der anderen Seite des Grabens repräsentieren bereits durch die unter ihnen herrschende Hierarchie die Gesellschaftsordnung, aus der Corylo soeben herausgefallen ist. Dies wird in der Reaktion des alten Mannes deutlich, von dem Corylo sich gefragt sieht, wer ich wäre / oder wo ich hin wolte? Der Herr fragt nach dem Ort, an den Corylo gehört, und nach der Ordnung, zu der Corylo zählt. Coiylo benennt seine Herkunft als räumliches Herkommen: "Ich komme auß dem Schloß des Grafens von N. der mich heute wegen einer Sache verjagt / die ich Euch schon kund thun werde / indessen bitte ich / lasset mich über diesen Graben hinüber bringen / ich will sehen wo ich hinkomme / daß ich einem Herren dienen möge.,a
Das Herkommen geht in dieser Rede unmittelbar in die Frage nach dem Hinkommen und Auskommen des Sprechers über. In diesem temporalen Gestus drückt sich die Überlebensstrategie des Schelmen aus, der seine Gegenwart immer schon von der Sorge um das künftige Überleben bestimmt weiß, da er sich nicht in festen, verläßlichen Bezügen befindet, die von den wiederkehrenden Leistungen und Gegenleistungen eines funktionierenden Kollektivs geprägt werden. Die Eingliederung in das Kollektiv jedoch, der Dienst bei einem Herren, ist das Ziel seiner Aussage. In ihrer Zukunftsintegration ist die Zeitform des Schelmen intentional auf Gesellschaft ausgerichtet. Auch und gerade der einsame Schelm ist ein zôon politikón, da er den Mangel an Gesellschaft als Bedrohung seiner Existenz erlebt. Mithin versinnbildlicht der Graben die Wechselbeziehung der kategorial getrennten Bereiche des bindungslosen einzelnen und der hierarchischen Gesellschaftsformation. Auch die Wildnis ist - wie im Simplicissimus Teutsch - kein einsamer Ort ohne Verbindung mit der Gesellschaft. Auch hier gibt es keine Natur vor der Kultur. Noch in der radikalen Abgeschiedenheit erscheint die Bindungslosigkeit des Einsamen durch gesellschaftliche Bindungen und infrastrukturelle Verbindungen vermittelt: Es ist aber um uns Menschen gemeiniglich so bestellet / daß wann wir am wenigsten uns zu helffen wissen / sind wir ausser der Gefahr / und da wir meynen verirret zu seyn / finden wir uns auf der rechten Strassen / und wissen nicht / daß wir offt nur bloß mit denen Gedancken irre gehen [•••] *
In der vermeintlichen Einsamkeit seiner Gedanken findet sich das Individuum noch als gesellschaftliches Wesen vor. Ausdruck dieser Realität ist das Netz der Straßen, das den Schelmenroman durchzieht, und den Schelmen in Verbindung mit anderen Menschen bringt. Wenn Corylo nun durch die befohlene Hilfe des widerstrebenden Knechtes aus seiner Misere befreit und in das Schloß des fremden Herren geführt wird, dann bleibt die Spannung zwischen den dort vorfmdlichen sozialen 3 4
Corylo 1,2, 21, 32-36. Corylo I, 2, 21, 12-16.
Ganzes Haus als sozialer Raum
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Räumen und der individuellen Zeiterfahrung des Neuankömmlings. Das Verhältnis dieser beiden Größen wird in der räumlichen Erstreckung des Edelhofes und in den Handlungszeiten des Helden sinnfällig. Der Edelhof bildet nicht nur den äußeren Rahmen der Romanhandlung im ersten Teil, sondern ist an das idealtypische Modell des 'Ganzen Hauses' angelehnt.5 Dieses Modell, das durch die Hausväterliteratur verbreitet war, bezog die Handlungen aller Familienmitglieder und Angestellten in einem ländlichen Haushalt auf die leitende Position des Hausvaters.6 Entscheidend für das Idealbild des Ganzen Hauses ist die innere und äußere Geschlossenheit, die Vorstellung von Autarkie, die es zu einem sozusagen mythischen Ort, zu einem vollständigen Bild der Welt macht. Mit der erzählerischen Umsetzung dieses Modells leistet der Co/y/o-Roman die Transformation statischer Gesellschaftsstrukturen in räumliche und zeitliche Dynamik. Der literarisch vermittelte Typus des Ganzen Hauses ist eine mythische Struktur, die durch das Schicksal des Helden einer Nachprüfung unterzogen wird. Am Modell des Ganzen Hauses wird die Wechselbeziehung zwischen den mythischen Strukturen der Wiederholung und dem Einzelfalldenken der Mythenerzählung deutlich. Bei Coiylos Ankunft im Edelhof zeichnen seine Bewegungen und Beobachtungen sowohl den äußeren Rahmen als auch die innere Ordnung dieses Raumes nach. Er wird von der Erzählung zunächst summarisch umfaßt, indem die Lage des Schlosses durch zwei Landmarken angedeutet wird: es sei unter einem hohen Berge gelegen / und mit einem breiten Fisch-Teich rings herum UmgebenJ Diese Angaben bezieht die Erzählung aus zwei verschiedenen Bereichen, der Natur und der zivilisatorischen Raumplanung. Handlungsrelevant wird im folgenden jedoch nur der Fischteich, der um das Schloß einen schützenden Graben bildet. Handlungsleitend sind die gesellschaftlichen Bezüge, die in Raum und Zeit organisiert sind, nicht die Natur. Dem Helden eröffnet sich sofort bei seinem Eintreffen in den Innenhof des Schlosses ein in sich gegliederter sozialer Raum.8 Er wird in die Türnitz 5
Der Begriff Ganzes Haus (von mir als feststehender Ausdruck groß geschrieben) wurde Mitte des 1 9 . Jahrhunderts von WILHELM HEINRICH RIEHL geprägt. Vgl. OTTO BRUNNER, "Das 'ganze Haus' und die alteuropäische 'Ökonomik'": FERDINAND OETER (Hg.), Familie und Gesellschaft, Tübingen (Mohr / Siebeck) 1 9 6 6 , 2 3 - 5 6 , hier 2 4 . Vgl. auch MICHAEL MITTERAUER, "Vorindustrielle Familienformen, Zur Funktionsentlastung des 'ganzen Hauses' im 17. und 18. Jahrhundert": Fürst, Bärger, Mensch, Untersuchungen zu politischen und soziokulturellen Wandlungsprozessen im vorrevolutionären Europa = Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 2 , hg. von FRIEDRICH ENOEL-JANOSI, GRETE KLINGENSTEIN und HEINRICH LUTZ, München (Oldenbourg) 1 9 7 5 , 1 2 3 - 1 8 5 ; BARBARA BECKER-CANTARINO, "Vom 'ganzen Haus' zur Familienidylle, Haushalt als Mikrokosmos in der Literatur der frühen Neuzeit und seine spätere Sentimentalisierung": Daphnis 1 5 ( 1 9 8 6 ) 509-533.
6
Ländliche Ausprägung des patrimonialen Haushaltes, den ich als antipikaresken Chronotopos in Landstörtzer Gusmann untersucht habe. Vgl. die Ausfuhrungen zur haushälterischen Verhaltensforai im Abschnit "Vor die Kirche, ins Wirtshaus und aus dem Haus". Vgl. Corylo I, 2, 22, 2/3.
ALBERTINUS' 7
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(so wird auf dergleichen Orthen die Stube genennet / da man das Gesind speiset.) geführet, und lernt dort die verschiedenen Gruppen der Knechte und Mägde kennen, deren Dienst sich entweder in Haus und Hof oder in Feld und Stall abspielt. Noch bildet sich eine deutliche Trennlinie zwischen der Zeitform des Neuankömmlings und den alltäglichen Verrichtungen des Hofgesindes. Der Erzähler registriert, er habe eine gantze Stunde in der Finster gesessen, während einige der Bediensteten mit ihrem ersprießlichen Diseurs scilicet die Zeit bey dem warmen Ofen paßirten. Auch in der Kommunikation zwischen den Knechten und Corylo ist das Mißverhältnis zwischen dem exotischen Interesse an dem Fremden und seiner Relevanz für ihr alltägliches Leben zu spüren, da sie doch - wie der Erzähler betont - schon lange ohne meiner Person / und dero Erkundigung geackert /gesäet /gepflüget und gearbeitet hatten. Unvermittelt ist ein Fremder da, dessen Schicksal zwar eine interessante Abwechslung darstellt, für das immergleichen Alltagsgeschäft jedoch ohne Belang ist. Derlei Unvermitteltheit schwindet schrittweise mit dem weiteren Eintreten des Helden in seinen neuen Lebensbereich. Mitten im Gespräch mit den Knechten wird Corylo von einem Diener abberufen, der ihn über den Hof durch einen Schnecken in ein Vorgemach führt, darinnen der Alte samt seiner Frauen und Kindern das Abend-Essen zu sich nähme.9 Um den Innenhof gruppieren sich die Gebäude, in denen die verschiedenen Funktionen des Wohnens und Wirtschaftens, der Repräsentation und des Dienstes ineinandergreifen, Inbegriff für den Zusammenhang des Ganzen Hauses als ökonomische Einheit von landwirtschaftlicher Produktion, Familie und Angstellten. Wenn Coiylo eine räumliche Distanz zwischen Gesindestube und dem Vorgemach der adligen Familie zurücklegt, die sich zudem mit einem Aufstieg durch ein schneckenförmiges Treppenhaus10 verbindet, bildet sich darin die herausgehobene und zentrale Position des Bereiches um den Hausherrn ab, auf den alle Bezüge und Vollzüge der Hofwirtschaft hinzielen, bis hin zur besitzanzeigenden Nennung 'seiner Frau und Kinder'. Alle Handlungen in Haus und Hof lassen sich als Filialhandlungen des Hausherrn begreifen." Wo dies nicht geschieht, entstehen Formen der Heimlichkeit und der Delinquenz. Mit der Gesindestube und dem Eßraum der adeligen Familie hat die Eingangsszene bereits die zwei ökonomischen Grundbereiche vorgestellt, über die der Hausherr verfügt. Durch den bei der Familie an einem besonderen SchreibTisch sitzenden Schreiber ist auch schon der Zwischenbereich der Verwal' ' 10
11
Vgl. Corylo I, 2, 22, 6-23. Vgl. Corylo I, 2, 22, 24 - 23, 15 Vgl. JACOB UND WILHELM GRIMM, Deutsches Wörterbuch. Band 15, Leipzig (Hirzel) 1899 = München (Deutscher Taschenbuchverlag) 1984, Sp. 1215, s.v. SCHNECKE. Zur Rolle des Hausherren im Ganzen Haus vgl. BECKER-CANTARINO, "Vom 'ganzen Haus' zur Familienidylle" 513 (zu LUTHER): Diese Bezüge sind hierarchisch, vom Hausvater herab, gegliedert in "weyb und kind, knecht und magd, vieh undfiitter".
Uhr als Metapher
der
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Gesellschaft
tung präsent, der dem Hausherrn administrativ zur Seite steht und sein besonderes Vertrauen genießt. Corylo wird dem Schreiber als Schlaf- und Arbeitsgenosse zugeordnet und genießt, aufgrund seiner Erziehung auf einem gräflichen Hof, eine privilegierte Stellung gegenüber den übrigen Bediensteten. Die folgende Handlung differenziert diese räumliche und soziale Grundstruktur lediglich aus. Das Arbeitsfeld der Knechte und Mägde gelangt mit Feld, Stall, Garten und Küche näher in den Blick, während sich der Wohnbereich der adligen Familie neben dem Eß- und Vorgemach noch durch die eheliche Schlafkammer, die Schlafräume der Töchter, ein Obergemach und ein besonderes Zimmer fur Kleinodien spezifiziert. Schließlich hat der Bereich der Verwaltung in der Kanzlei seinen Platz. Ihr sind offenbar Dienst und Amtsräume des Türhüters zugordnet. All diese Räume erscheinen im Verlauf der Handlung, was ihre Handlungsrelevanz unterstreicht. Da sich in den Räumen die hochdifferenzierten sozialen Beziehungen manifestieren, ist es nicht gleichgültig, wo etwas passiert. Dasselbe gilt für die Zeiten, die zunächst einmal in den Zyklen von Arbeitsund Festtagen organisiert sind. Durch die schönen Abwechslungen der Zeiten11 ergibt sich eine vorgegebene Struktur, in die sich das Handeln des einzelnen einfügt. Der engere Tagesablauf wird durch die gemeinschaftlichen Mahlzeiten bestimmt, zu denen die Hofbewohner durch einen Pistol-Schuß13 zusammengerufen werden. Besondere Tätigkeiten werden zudem anhand der Schloß-Uhr14 genauer terminiert und mit dem Handeln der übrigen Bewohner, namentlich aber mit den Weisungen des Hausherren abgestimmt. Mit der Uhr kommt ein modernes Moment in die zunächst urtümlich wirkenden ländlichen Abläufe. In diesem Instrument reflektiert sich ein Modernisierungsschub, der zugleich aber ideologisch mit dem Modell des Haushaltes und seiner Einheit verknüpft werden kann. In einem zeitgenössischen Text wird der Hausherr gar mit zur Verkörperung der geregelten Zeitform. Die Geórgica curiosa ( 1 6 8 2 / 8 7 ) des WOLF HELMHARD VON HOHBERG, der als protestantischer Exilösterreicher gleichzeitig mit BEER in Regensburg lebte, skizzieren eine Typologie des Ganzen Hauses, die sich als sozialgeschichtliche Parallele zu der BEERSchen Romanwelt anbietet: Ein
Hausvater
Schlafengehen, 12
° 14 u
gleichet
einer
Arbeiten,
Essen
Hausuhr, und allen
darnach Geschäften
sich jedermann richten
muß
mit
Aufstehen,
f...J.ls
Vgl. Corylo l, 3 , 2 5 , 3 . Vgl. Corylo l, 9, 37, 22. Vgl. Corylo 1 , 1 2 , 4 6 , 3 5 . Vgl. OTTO BRUNNER, Adeliges Landleben und europäischer Geist, Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688, Salzburg (Müller) 1949, 284/285. Bei BRUNNER ist HOHBERGS Werk ausführlich dokumentiert: Geórgica curiosa, das ist umständlicher Bericht und klarer Unterricht von dem adelichen Land- und Feldleben auf alle in Teutschland üblichen Landund Forstwirtschaften gerichtet, hin und wieder mit vielen untermengten raren Erfindungen und Experimenten versehen [...].
478
Beers Corylo
Zweierlei kommt hier zusammen: die agrarische Handlungszeit der alltäglichen Verrichtungen, in denen sich jedes Mitglied des Haushaltes als ausführendes Organ des Hausherrn fühlt, und die neue Vorstellung einer mechanischen, objektiven Präzision, durch die komplexe Arbeitsabläufe miteinander koordiniert werden sollen. Bei HOHBERG wird dieser Gegensatz im Problem der Anwesenheit und Abwesenheit des Hausherrn von seinem Gut thematisiert.16 Nur durch unmittelbare soziale Kontrolle kann der Herr die Uhr verkörpern, die den Bediensteten ständig angibt, was die Stunde geschlagen hat. Tritt an seine Stelle das Instrument, dann ist dies bereits einer Unübersichtlichkeit der Verhältnisse geschuldet und widerspricht dem idealtypischen Modell des Ganzen Hauses als Einheit seiner Teile.17 Wenn in BEERS Erzählung Uhren auftauchen, dann deutet das auf die schwindende Selbstverständlichkeit von Abläufen und ihre höhere Komplexität, auf die Entstehung einer modernen, funktional gegliederten Gesellschaft. Die größere Präsenz der Uhr im sozialen Leben hat der Bürger JOHANN BAHR in seinem eigenen Umfeld registriert. Im Jahr 1690 notiert er in seinem Diarium: Den 2. Novemb. dieses Jahres hat H: Christian Richter den neuen Rathhauß Thurm allhier aufgerichtet, und hat also der dritte Seiger zu schlagen angefangen.18
Doch bereits wesentlich früher, ein Jahr vor dem Erscheinen des CoryloRomans, hat sich BÄHRS Mitbürger JOHANN RIEMER mit einem ComplimentGedichte vernehmen lassen, als der Weißenfels-Hallische Landesherr das künstliche rare Uhr-Werk auff die Augustus-Burg als allegorisches Sinnenbild für ein wolbestaltes
setzen ließ. 19 Das, was sonst Regiment dient, ist nun in
Natur und in der Wirckligkeit zu sehen, so daß die Uhr zur Realmetapher der durch sie versinnbildlichten staatlichen Ordnung werden kann. Folgerichtig wird die Uhr mit der sie schmückenden Hoffstatt verglichen, wobei die auffgehängte
Glocken mit ihrer Harmoni das Bild f ü r die Eintracht
des Herr-
schers mit denen Unterthanen abgeben. Wie in der idealen Konstruktion des Ganzen Hauses bei HOHBERG sind auch hier alle Handlungen der Bediensteten auf die regulierende Gewalt des väterlichen Herren bezogen. Die Gesellschaftsordnung des Absolutismus wird zu einem überhöhten Ganzen Haus, in dem der regierende Fürst die Aufgaben des Hausvaters wahrnimmt. Zugleich aber gerät mit dem Bild der gegeneinander laufenden Räder ein Moment von " "
" "
Vgl. BRUNNER, Adeliges Landleben und europäischer Geist 44. Vgl. BRUNNER, "Das 'ganze Haus' und die alteuropäische 'Ökonomik'" 3 8 / 3 9 . Der idealtypische Charakter erweist sich auch bei empirischer Untersuchung der frühneuzeitlichen Haushalte. MITTERAUERS Studie kommt zu dem Ergebnis, daß Großfamilien vom Typ des Ganzen Hauses nicht durchgängig das Modell für die ländliche Wirtschaft im vorindustriellen Österreich abgegeben haben. Sein Leben von ihm selbst erzählt 31. Vgl. JOHANN RIEMER, Uber-Reicher Schatz-Meister Aller Hohen / Standes und Bürgerlichen Freud- und Leid-Complimente: Werke, Vierter Band: Vermischte Schriften, hg. von HELMUT KRAUSE, Berlin/New York (de Gruyter) 1 9 8 7 , 1 3 3 - 2 3 6 , hier 1 8 2 - 1 8 6 .
Uhr als Metapher der Gesellschaft
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Komplexität in die Vorstellungen, das dem Ideal der ländlichen Ökonomie fremd ist: Die Räder in der Uhr / ob sie gleich wider und gegen einander gehen / so arbeiten sie doch alle zu einem Zwecke / nemlich zu Richtigkeit der Zeit. Alle getreuen Diener eines großen Herrn / ob sie gleich in ihren Verrichtungen von einander unterschieden / und offt wieder ein ander lauffend scheinen / so suchen sie doch alle einerley Ziel / nemlich den Wohlstand des Landes und das Interesse ihres Fürstens.20 Was in HOHBERGS idealtypischer Beschreibung des Ganzen Hauses als immanenter Widerspruch erschien, daß nämlich das Bild der Uhr schon eine über die agrarische Zeitform hinausgehende Komplexität anzeigt, wird an diesem Dokument der Sozialgeschichte manifest. Die hohe Regelungsdichte, die auch in BEERS Cory/o-Roman durch die Realmetapher der Uhr Gestalt annimmt, dementiert das idealtypische Bild des Ganzen Hauses als ländliches autarkes Gebilde, das von den historischen und sozialen Entwicklungen unabhängig ist. Mag auch das Bild eines erinnerten oberösterreichischen Landadels die Welt des Romans vordergründig bestimmen, so ist doch die reale Umgebung des Weißenfelsischen Hofbediensteten BÄHR verborgen in den Handlungsstrukturen anwesend. In diesem Sinne ist nicht nur das spezielle Adelsbild der BEERSchen Erzählungen, sondern auch ihr gesamter ökonomischer Rahmen ein compositum mixtum21 aus traditionell-agrarischen und städtisch-absolutistischen Elementen, die sich überlagern und erst durch trennscharfe Analyse aus ihrer ideologischen Vermischung gelöst werden können. Die Ordnung des Hauses verkörpert die Ordnung der Gesellschaft insgesamt, und ihre Mechanismen und Gefährdungen werden an den Handlungen der Romanfiguren manifest, wenn sie sich durch die Uhren einerseits an allgemeinen Ordnungsmustern orientieren, andererseits aber auch ihre individuellen Handlungsoptionen durch uhrzeitgestütztes Timing wahrnehmen. Die Allegorie der Uhr ist hier mehr als ein beliebiges Requisit, sie wird in den Augen RIEMERS und BEERS zur Realmetapher, die das ihr zugrundeliegende Prinzip in Natur und in der Wirckligkeit versinnbildlicht. Der Gegenstand versinnbildlicht nicht etwas von ihm Verschiedenes, sein Mechanismus ist vielmehr Teil des Ordnungssystems, das sich in ihm konkretisiert. Auch Corylo weiß, daß hinter dem Bild der Uhr kein tieferes Geheimnis steckt als ihre Funktionalität. In einer Szene wird er von den Frauen des Hauses gebeten, nach einem Traum-Buch nächtliche Gesichte auszulegen, etwa was es bedeute wann man Haberstroh freße / Kohlen verschlucke / Pferd sattle / junge Gesellen küßte / die Leute nackicht sehe / die Uhr schlagen hörte und dergleichen?22 Der Schelm konterkariert nun das zeitgenössische Bestre20
21
n
RIEMER, Uber-Reicher Schatz-Meister 183. Vgl. BERNS, "Reflex und Reflexion der oberösterreichischen Bauernaufstände im Werk Johann Beers" 1166. Vgl. Corylo I, 19, 62, 14-20.
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Corylo
ben, diese Bilder aus ihrem lebensweltlichen Zusammenhang zu reißen und ihnen angeblich höhere, allegorische Bedeutungen zu unterlegen. Er erkennt, daß sich in ihrer ganz vordergründigen Funktion bereits ihre realmetaphorische Bedeutung erschließt. Deshalb gibt er den Frauen seines Hauses ohne dem Buch auswendig die gar nicht tiefsinnige Deutung des letzten in ihrem Traum aufgetauchten Gegenstandes: Die Uhr schlagen hören / were auch gar gut / denn dadurch könte man gar perfect wissen /wie viel und umb welche Zeit es wäre.23
Und da mag es auch nicht nur um den emblematischen Verweisungswert gehen, wenn das Titelkupfer zu BEERS Teutschen Winter-Nächten eine Wanduhr mit Pendeln zeigt, unter der fleißige Spinnerinnen in ihrer Stube bei der Arbeit sind.24 Die Intimität der Stube deutet auf ein enges Zeitmuster, dem sich der einzelne kaum entziehen kann. In die dichtgefügten kollektiven Arbeitsabläufe des Ganzen Hauses sind die Handlungen der Personen eingefaßt. Bis ins einzelne bestimmt der raum-zeitliche Rahmen des Edelhofes die Bedingungen, unter denen etwas geschieht. Wo und wann es geschieht, ist niemals gleichgültig. Der Chronotopos des Ganzen Hauses stellt gleichzeitig ein sozialgeschichtliches und ein literaturimmanentes Phänomen dar. Die Vermittlung zwischen beiden Ebenen besteht in dem handlungsleitenden Ideal des Ganzen Hauses.25 Beides, sowohl das Ideal als auch seine immanten Brüche, spiegelt sich in den Handlungsstrukturen der BEERSchen Erzählung, die die alltäglichen Vollzüge mit der Präzision eines Uhrwerks auf die einheitsstiftende Instanz des Hausvaters ausrichten, unvorhergesehene Handlungen jedoch im Widerspruch zu dessen Autorität entwickeln. Damit wird das bei HOHBERG vorgeführte Modell des Ganzen Hauses zum Rahmen für die Romanhandlung, auf den sie sich gerade da bezieht, wo sie ihn überschreitet. Das Ganze Haus als in sich geschlossene Einheit, als autarkes Gebilde, bietet eine immanente Poetik für den ersten Teil des Cory/o-Romans. Der strukturelle Zusammenhang der Erzählung und ihr unrhetorischer, sozusagen ökonomischer Gestus deuten darauf hin, daß auch sie sich selbst genügen soll und keinen ideologischen Überschuß zu produzieren beabsichtigt.26
23
" 23
26
Corylo I , 1 9 , 6 2 , 2 9 - 3 1 . So die Deutung bei INGRID H Ö P E L . "Der Autor in der Spinnstube, Zu einem Titelkupfer Johann Beers": Simpliciano 1 3 ( 1 9 9 1 ) 3 0 3 - 3 3 0 , hier 3 1 0 . Vgl. zur empirischen Realität die Ergebnisse bei MITTERAUER, "Vorindustrielle Familienformen" und zur mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung der Hausväterliteratur BECKER-CANTARINO, "Vom 'ganzen Haus' zur Familienidylle" 5 1 1 / 5 1 2 . Eine solche ökonomische Poetik meint jedenfalls auch BRUNNER in den Schriften HOHBERGS ausmachen zu können, die sich von unnotwendigen Prachtgebäuen distanzieren. Vgl. BRUNNER, Adeliges Landleben und europäischer Geist 58.
Uhr als Metapher der Gesellschaft
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Abbildung 44: Die Teutschen Winter-Nächte 682), Titelkupfer. Reproduziert nach JOHANN B E E R , Die teutschen Winter-Nächte & Die kurzweiligen Sommer-Täge, hg. von RICHARD ALEWYN, Frankfurt am Main (Insel Tb. 872) 1985.
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Die Erzählung folgt damit einem poetologischen Hinweis in BEERS Teutschen Winter-Nächten, wo gefordert wird, die Sach solle nicht mit Worten, sondern die Wort mit Sachen angefüllet sein.27 Was der Erzählung an Gehalt abzugewinnen ist, ergäbe sich bei solcher Einschätzung aus den Sachen, aus den Strukturen des Erzählten selbst und den Widersprüchen, die im Handeln der Figuren greifbar werden. Was sich als Paradigma des Ganzen Hauses darbietet, besteht aus einem Geflecht wiederkehrender Verrichtungen, in die das Handeln der Haushaltsmitglieder eingebunden ist. Auch das Handeln des Helden, das lineare Syntagma seiner Bewegung in Raum und Zeit, ist von den paradigmatischen Strukturen bestimmt, verändert aber zugleich auch seine Umgebung. Wo der Schelm in Widerspruch zu seiner Umgebung tritt, ergibt sich eine gegenseitige Erhellung von Ich und Wir. Die Widersprüche betreffen niemals nur den einzelnen, sondern immer auch den Haushalt in seiner Gesamtheit, da sich seine funktionelle Einheit aus der Beziehung aller Teile auf die Instanz des Hausvaters bestimmt. Corylo selbst wird diesem Hausvater als Page besonders zugeordnet und hat in dieser Funktion Teil an der Überschau des Herren über Dörffer, sowie die Fisch-Wasser oder den Forst, wenn er den Herren auf seinen Visitationen begleitet.28 Erst die Abwesenheit des Herrn von seinem Einflußbereich, die durch eine dienstliche Reise in eine weit-abgelegene Stadt29 bedingt ist, setzt ein Potential an Widersprüchen frei, das den Stand der Dinge in Bewegung setzt. Der Hausherr hat im Streit um etliche LandAcker das Gericht in der Stadt bemüht und damit eingestanden, daß seiner Souveränität über den Besitz und der Autarkie des Haushaltes Grenzen gesetzt sind, die sich aus der Unterordnung unter zentralstaatliche Prinzipien ergeben. Zudem zwingen die Regelmechanismen des bürokratischen Staates den Hausherrn offenbar zur Wahrung seiner Interessen durch Bestechung der Behörden, was seine moralische Autorität ins Zwielicht setzt.30 Bestechung von Subalternen wäre jene Art von Heimlichkeit, die der Hausherr in seinem eigenen Haushalt nicht dulden dürfte, weil sie die betreffenden Vorgänge seiner Kontrolle entzöge. Dieses grundsätzliche Eingeständnis der Bedingtheit und Widersprüchlichkeit wird durch die folgenden Ereignisse unterstrichen, führt doch - wie auch HOHBERG warnend hervorhebt - die Abwesenheit des Hausherrn zur Vakanz seiner Position und damit zur Umbesetzung aller Positionen im Funktionszusammenhang des Ganzen Hauses. 27
Vgl.
21 29 30
Die teutschen Winter-Nächte & Die kurzweiligen Sommer-Täge, hg. von R I Frankfurt am Main (Insel Tb. 872) 1985: Winter-Nächte, Buch V, Kapitel 12,
JOHANN BEER,
CHARD ALEWYN,
Seite 339. Vgl. Corylo 1,3, 24, 31-34. Vgl. Corylo I, 4, 25, 26-30. Vgl. Corylo I, 7, 34, 42-44.
Syntax des Erzählens: Gleichzeitigkeit und Komplexität
483
Auch die Töchter des Hauses folgen desselbigen Tages einer Einladung auf einen benachbarten Edelsitz, und die Hausfrau nutzt die sich bietende Gelegenheit, um sich der Dienste des jungen Pagen ganz privat zu bedienen.31 Schon während des Abendessens, das gegen den üblichen kollektiven Ablauf in trauter Zweisamkeit genossen wird, muß Corylo wider seinen Willen der Herrin zuprosten. Auch der nächste Punkt der Tagesordnung erfährt eine Abänderung der Gepflogenheiten, da Corylo, als es Zeit ware schlafen zu gehen, der Frau in ihre Cammer folgen muß. Das zugewiesene Matratzenlager erweist sich als unbequem, zudem erbittet die Hausfrau Hilfestellungen, die eine größere Nähe verlangen, so daß der junge Page sich unversehens im Bett seiner Herrin wiederfindet. Diese Veränderung betrifft nicht nur das Gemüth des Bediensteten, sie modifiziert auch die Funktionen der Figuren im Zusammenhang des Ganzen Hauses. Die eindeutig-zweideutige Situation läßt den Diener in die Rolle des dominierenden Mannes und die Herrin in die Position der ihm dienenden Sclavin geraten. Diese Umbesetzung der Position ist freilich nur von kurzer Dauer, denn eine unverhoffte Begebenheit, die Rückkunft des Hausherrn, läßt den Ausgangszustand, die Unterordnung der Hausfrau unter den Hausvater und die Unterordnung des Dieners unter beide, wieder eintreten. Da Corylo als Diener beiden zugeordnet ist, gerät er nun in einen Loyalitätskonflikt, da die Hausfrau gegen die Interessen des Hausherrn operiert. Coiylo hat sich an ihrem Loyalitätsbruch beteiligt und muß nun den Weisungen der Hausfrau folgen, um sich vor der Bestrafung durch den Hausherrn zu schützen. Die Herrin läßt den Pagen sich geschwinde ankleiden / und unter die Bett-Statt kriechen, und Corylo folgt dieser Aufforderung augenblicklich. Die zeitliche Präzision von Befehl und Gehorsam erinnert wieder an die Uhrmetapher und verarbeitet die erhöhte Komplexität, die sich durch Konkurrenz zwischen Hausherr und Hausfrau für den Bediensteten ergibt. Das Ideal des Hauses als Einheit, in der jeder einzelne lediglich der verlängerte Arm des Hausherrn ist, wird durch den Gestus des Verbergens konterkariert. Dieses Verbergen geschieht jedoch nicht aus eigenem Antrieb. Coiylo hat lediglich die Adresse seiner Loyalität gewechselt, gezwungen durch die Veränderung, die der Funktionszusammenhang des Hauses durch die Abwesenheit des Herrn erfahren hatte. In seinem Versteck muß Corylo lange ausharren, da der Hausherr wegen eines Unfalls mit einem gebrochenen Bein heimgekehrt ist und nun in eben dem Bett gepflegt wird, unter dem Corylo verborgen ist.32 Der Kranke wird ständig bewacht, und deshalb bedarf es großen organisatorischen Geschicks, um dem Gefangenen in seiner mißlichen Lage beizustehen. Inzwischen ergibt sich eine Disharmonie der Zeiten, in der sich der Interessengegensatz zwischen Hausherr und Diener ausdrückt. Während dem Herrn die Zeit durch 31 32
Vgl. zum folgenden Corylo I, 4, 25, 39 - 27, 35. Vgl. Corylo 1,4, 28,4-5, 30, 16.
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Beers Corylo
das Vorlesen aus denen Historien und anderen kurtzweiligen Schrifften verkürzt werden kann, ist es kaum möglich, Corylo in seinen elementaren Bedürfnissen über die Zeit zu retten. Da muß die Hausfrau sein Essen, das er nach Ablauf von fast in die etlich 30. Stunden erhält, als Katzenfutter deklarieren. Die Unvermitteltheit der eng benachbarten Räume und Zeiten von Herr und Knecht deutet auf die Risse, die in der Einheit des Ganzen Hauses eingetreten sind. Diese Risse im Gefüge der alltäglichen Verrichtungen fuhren zu einer höheren Komplexität der Handlungen. Da verlangt die endliche Befreiung des Helden eine äußerst dichte raum-zeitliche Koordination." Die Hausfrau wartet die Nacht ab, setzt sich zu den kartenspielenden Nachtwachen des Kranken und täuscht vor eingeschlafen zu sein, nachdem sie eine halbe virtel stund denen spiellenden zu gesehen und einen engkalkulierten Zeitraum zu ihrer Sicherheit investiert hat. In scheinbarer Schlaftrunkenheit reißt sie die Lampe der Wachen um und lotst den Pagen in dem entstandenen Durcheinander aus dem dunklen Zimmer, wobei sie indessen den geschwinde reagierenden Koch mit Rufen nach dem vermeintlichen Kater täuscht. Der räumlichen Dichte des Geschehens entspricht die zeitliche Dichte der Koordinationsleistung. Auch das Ziel des Unternehmens ist bedacht, das obere Gemach der Frauen dient dem Schelmen als Zuflucht. Die Hausfrau selbst kontrolliert in der Zwischenzeit das Geschehen im unteren Schlafiraum und bleibt etwan eine halbe Stunde bei ihrem Gatten sitzen, bis er sie schlafen schickt. Nun muß Corylo noch aus dem Schloß gelangen, um seine scheinbare Abwesenheit im Nachhinein vorzutäuschen. Er wird an Bettüchern aus dem Fenster in den Garten abgelassen, verläßt von da aus über den Teich das Schloßgelände, um sich dann an der Schloß-Pforte als Rückkehrer einzustellen. Auch in dieser Übertretung des engeren Hofbereiches drückt sich noch einmal die Übertretimg der Einheit des Ganzen Hauses aus. An die Stelle seiner Transparenz ist nun die Undurchschaubarkeit vieler Einzelaktionen getreten, die sich der Kontrolle des Hausherren entziehen. Folgerichtig inszeniert die Hausfrau Corylos angebliche Rückkehr als Spektakel für den Hausherren, indem sie den Pagen wegen seiner langen Abwesenheit ausschilt.34 Ausdruck dieses arrangierten Scheins ist die Rolle des Fremdlings, die Corylo einnimmt, so daß sein Ausbleiben mit der Reise nach America oder nova Zembla verglichen wird. Auch die Zuflucht des Gescholtenen in der Cantzley-Stube deutet auf die quasi-literarische Inszenierung hin. Denn dort sieht sich Corylo üblicherweise die Woche aufs höchste zwey mahl um, was etwan gutes in der Welt paßirte. Diese Welt ist nicht in erster Linie vom Gegensatz zwischen real und fiktiv geprägt. Sie besteht vielmehr in einem Kosmos von Regeln, in denen sich der einzelne durch Simulation und 33 34
Vgl. Corylo I, 5,30, 21 - 6, 32, 6. Vgl. Corylo I, 6,32, 6 - 33, 29.
Syntax des Erzählens: Gleichzeitigkeit und Komplexität
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Dissimulation der Umgebung anzupassen hat, will er sich recht in die Welt schicken. Die Regeln, in die sich der Schelm zu schicken hat, sind ihm von außen oktroyiert. Eine besondere Qualität der Situation, in der sich Corylo hier befindet, besteht jedoch darin, daß der Hausfrau die aktive Rolle zufällt. Sie bedient sich der pikaresken Zeitform der Gelegenheit, um ihre Eigeninteressen im Rahmen des vom Hausvater bestimmten Ganzen durchzusetzen " Corylo erscheint hingegen lediglich als ihr Werkzeug, dessen sie sich entledigt, als sich die Situation ändert. Als Werkzeug wandert Corylo von Hand zu Hand. In der erneuten Abwesenheit des gesundeten Hausherrn wird die Kanzlei, in der Corylo sich aufhält, zum beliebten Treffpunkt der Hausfrau und der ältesten Tochter, die sich beide um die Gunst des jungen Mannes bewerben und sich zugleich gegenseitig beargwöhnen.36 Dadurch kommt es zur Potenzierung der bereits zwischen Hausfrau und Hausherr bestehenden Gegensätze. Die erhöhte Komplexität der Handlung geht mit einer verstärkten gegenseitigen Kontrolle einher, so daß die Heimlichkeit nicht nur vor einer Instanz gewahrt werden muß. Räumlicher Ausdruck der Heimlichkeit ist der Boden, auf den die Tochter den Pagen lockt, um ihn dort zu küssen. Bei anderer Gelegenheit überrascht die Mutter ihre Tochter mit Corylo in der Kanzlei und zwingt die beiden zu immer geschickteren Ausweichbewegungen. Durch das Netz der sich überschneidenden Interessen werden die Spielräume enger. Auch auf der sprachlichen Oberfläche der Erzählung findet die Komplexität der Handlungsstrukturen ihren syntaktischen Ausdruck. Der Erzähler gibt seine Mühe zu erkennen, die verschiedenen gleichzeitigen Handlungsstränge miteinander zu koordinieren. Deshalb beginnt der Erzähler das achte Kapitel des ersten Buches damit, daß er sich im Präsens einschaltet und als Arrangeur der Handlung zu erkennen gibt, um die Vordergrundhandlung - den Konflikt zwischen Mutter und Töchtern - vor die Hintergrundhandlung - die Abreise des Hausherren - zu plazieren: ICh lasse den alten Edelmann / seinen Schreiber und den Reit-Knecht indessen ihrer Gerichts-sache abwarten / und sage vielmehr von dem Duell, welchen Cupido in denen Gemüthern der adelichen Frauen und ihren Töchtern gegen mich erreget / [...].37 15
34
Vgl. KRÄMER, Johann Beers Romane 120: Die Adelsfrauen verßgen über Besitz und einen festen semantischen Raum [...]. Auch als Verheiratete behalten sie großen Freiraum. Sie sind partiell beweglich und können daher z.B. auf der Lebenslauf-Ebene des figuralen Erzählers erotisch aktiv werden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese Handlungsspielräume aus der männlichen Erzählerperspektive als bedrohlich empfunden und gestaltet werden. Trotzdem steht eine Auswertung dieses objektiven Potentials an Selbständigkeit fur eine gender-Analyse des Corylo noch aus. Zur gender-Analyse der Willenhag-Romane vgl. TATLOCK, "Männliches Subjekt, weibliches Objekt". Auf der Handlungsebene des Corylo jedenfalls sind Frauen keineswegs nur Objekte. Dazu werden sie erst durch die erzählerische Zurichtung der Handlung. Vgl. Corylo 1,8,35, 7 -37, 19.
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Beers Corylo
Dieses Verhältnis von Hintergrund und Vordergrund wiederholt sich noch einmal in der eigentlichen Erzählung, wobei die Abreise in einem elliptischen Plusquamperfekt vorausgeschickt wird, um dann im Präteritum auf die atemlose Geschäftigkeit der Hausfrau zu kommen, die in den Lebensvollzügen des Haushaltes nach einer Gelegenheit für ihre Liebeshändel sucht. Diese Atemlosigkeit findet ihren Ausdruck in der Reihung von Tätigkeiten, die durch das wiederholte bald den Eindruck rascher Wechsel hervorruft: [...] dann als mein Herr das Schloß verlassen / suchte meine Frau allerley Gelegenheit mich bey sich zu behalten / bald muste ich ihr das Koch-Buch / bald Lieder/ bald wieder etwas anders schreiben / [...J.ls
Diese Aufträge an den Pagen muß die Hausfrau gleichzeitig mit Aufträgen an die Töchter koordinieren, um ihrer Heimlichkeit einen von der Sozialkontrolle ungestörten Raum zu schaffen. Die Gleichzeitigkeit und räumliche Abgeschlossenheit drückt sich in dem unvermittelten, asyndetischen Anschluß aus, mit dem der Erzähler fortfahrt: [...] eine Tochter schickte sie da / die andere dorthin / dieser befahle sie dieses einer andern eine andere Post und Verrichtung / damit sie nur von ihnen abgesondert ihre Händel mit mir treiben konnte /·•·_/."
In der Parallelität des Satzbaus zwischen dieser und die andere spiegeln sich die gleichzeitigen Handlungen, die die Hausfrau bei ihren Töchtern initiiert. Doch die Parallelhandlungen lassen sich nicht reibungslos koordinieren, ein entgegensetzendes aber bringt in den Satz die Komplexität ein, die die Mutter mit ihren gleichzeitigen Initiativen nicht zu beherrschen vermag: [...] aber es wollte niemalen zu ihrem gewünschten Zweck ausschlagen / dann da kam diese wieder zurück oder jemand anders in den Weg / /.../.40
Doch nicht genug. Der Erzähler knüpft mit einem vergleichenden und parallelisierenden so noch einen Zwiespalt an, der durch die beständige Sozialkontrolle in die Handlungen der Hausfrau eingeht, denn sowohl allzugroße Öffentlichkeit als allzugroße Heimlichkeit könnten sie in Verdacht bringen: [...] so dötffie sie auch mit mir nicht alleine umbgehen / weil solches gar zu mercklich schiene / doch unterliesse sie nicht mich öffters zu küssen / doch also / daß solches die Kinder nicht möchten gewar werden / f··.]4'
Der Zwiespalt der Handelnden äußert sich hier in dem zweifachen doch, an das die Einschränkung mit also / daß angefugt ist. Dies alles veranschaulicht das atemlose Tempo der Versuche und Vereitelungen die schließlich auch den Erzähler zu einem erschöpften Resümee bewegen. 37
" 39 40 n
Corylo Corylo Corylo Corylo Corylo
I, 8, 35,7-9. I, 8, 35, 10-13. I, 8, 35, 13-15. 1, 8, 35, 16-18. I, 8, 35, 18-21.
Syntax des Erzählens: Gleichzeitigkeit und Komplexität
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[...] und mit einem Wort zu sagen / viel tausend Arthen konte sie erdencken / dadurch sie mir ihre grosse Liebe zu verstehen geben.*2 Mit einem Wort hat der Erzähler der langen Rede kurzen Sinn zusammengefaßt. Wozu also die Mühe der umständlichen Übersetzung komplexer Gleichzeitigkeit in die syntaktische Linearität der Sprache? Weil das Ziel der Rede hier offensichtlich über die Feststellung des moralischen Faktums hinausgeht, weil sie sich bemüht, die Komplexität der Handlungen zu veranschaulichen. Ziel des BEERSchen Erzählens ist Anschaulichkeit, evidentia, und zwar nicht als rhetorische Veranschaulichung einer a priori festliegenden, allgemeinen Erkenntnis, sondern als Umsetzung der Zeitlichkeit des Handelns in die Zeitlichkeit der Sprache. In der Verzeitlichung, die die mythische Qualität des Erzählens ausmacht, kommt die Ambivalenz des Handelns zum Vorschein, die sich nicht in endgültige Aussagen übersetzen läßt. Der komplexen Gleichzeitigkeit der Handlungen entspricht die Komplexität der Räume, die erst konkurrierende Handlungen ermöglichen. Die Organisation der erzählten Zeiten spiegelt insofern die Organisation der Räume im Ganzen Haus, als sich durch die Ein- und Ausblicke und die Rückzugsmöglichkeiten der Handelnden klärende Rückgriffe und handlungsleitende planerische Vorgriffe ergeben. Corylo ist von den hierarchischen Strukturen im Haushalt abhängig. Daß der Held vor allem reagiert anstatt zu agieren, liegt nicht zuletzt an den Räumen, in denen er sich bewegt. Die räumliche Enge im Ganzen Haus unterwirft den Helden ständiger Sozialkontrolle, die seine Loyalitätskonflikte offenbar macht. Da läßt ihn die eifersüchtige Tochter des Hauses gantz geheim wissen, sie wisse wie ers mit ihrer Frau Mutter getrieben. Die heimliche Form der Mitteilung und ihr Inhalt, das Wissen um einen geheimgehaltenen Vorgang zwischen Hausfrau und Diener nämlich, widersprechen sich. Die beteiligten Personen stehen in heimlichen Beziehungen zueinander, werden aber auch Zeugen anderer Beziehungen und versprechen sich zugleich, sie wollten der jeweils anderen Partei die eigene Beziehung verborgen halten. Die wechselseitige Bezogenheit von Heimlichkeit und Öffentlichkeit, von Verbergen und Enthüllen basiert auf den Gegebenheiten des Raumes, hat doch die Cantzley als Ort des Geschehens nechst an der Treppe ein kleines mit einem Eisern Gitter verwahrtes Fenster, durch das die Zeugin die Vorgänge hat beobachten können. 43 Auch Corylo lernt, einen sichere Beobachterposten einzunehmen, selbst im Verborgenen zu bleiben und sich dadurch einen handlungsrelevanten Informationsvorsprung zu verschaffen. In den folgenden Episoden gelangt der Held schrittweise von einer reinen Innenschau über die Beobachter- und Zuhörerposition zu eigenem - wenn auch nicht selbständigen - Handeln. Die 42
°
Corylo I, 8,35,21-23. Vgl. Corylo I, 9, 37, 26-37.
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Beers
Corylo
eigene Schlafkammer als Beobachtungposten und als heimlicher Ort des Informationsaustausches mit dem Schreiber wird schrittweise zur Operationsbasis, als sich Coiylo an der Wiederherstellung der hierarchischen Ordnung im Ganzen Haus beteiligt. Dem langsamen Weg von der beobachtenden Passivität zur Aktion entspricht dabei die Rolle, die Corylo im Zusammenhang des Ganzen Hauses einnimmt. Erst beobachtete und gehörte Fakten über die beiden Frauen veranlassen ihn zu seinem Positionswechsel innerhalb der häuslichen Hierarchie. Als Mutter und Tochter die Komplexität weiter erhöhen, indem sie sich neben Corylo anderer Liebhaber bedienen, bietet das einen Anlaß, in das ursprüngliche Loyalitätsverhältnis zum Hausherrn zurückzukehren und sich gegen die Interessen der Frauen zu wenden. Zu diesem Zweck verbindet sich Coiylo mit dem Schreiber, der als Vertrauter des Hausherrn größere Einflußmöglichkeiten besitzt. Aus Schutzräumen heraus hat Corylo die Gelegenheit, das Treiben seiner beiden Liebhaberinnen ungestört zu beobachten und seine eigene Rolle besser einzuschätzen. Der wichtigste dieser Rückzugsräume ist die Cammer, die Corylo mit dem Schreiber teilt. Als dieser mit dem Hausherrn zum zweiten Mal in die Stadt zum Gericht abgereist ist und Corylo wieder zwischen die konkurrierenden Interessen von Mutter und Tochter gerät, zieht er sich in diese Cammer zurück, um seinen Gedancken ungestört Audienz er(heilen zu können.44 Die Kammer als Audienzraum der Gedanken bildet den chronotopischen Ausdruck für den potentiell unbegrenzten Gedächtnisraum (memoria), der in der Konzeption des AUGUSTINUS der realen Außenwelt als ebenbürtig, wenn nicht überlegen gegenübertritt. AUGUSTINUS hatte die Überlegenheit der memoria gegenüber der Realität damit begründet, daß der Gedankenraum einen unbeschränkten Zugriff auf die Zeiten und Räume des eigenen Lebens ermögliche.45 Coiylo hingegen erfährt nicht nur die Macht, sondern auch die Ohnmacht der Gedancken, wenn er sich ihnen in seinem verschlossenen Rückzugsraum hingibt. Freilich erlebt auch Coiylo seine Innenwelt als Gegenwelt, die dem Denkenden Macht über die begrenzten Räume seines Lebens verleiht. An späterer Stelle heißt es dazu: Hierauf schlösse ich mich in ein abgelegenes Zimmer ein / daselbsten hatte ich tausend Schock Gedancken / und hundert Mandel Grillen auf einem Haujfen beysammen / ich glaube nicht / das etwas denckwiirdiges in der Welt mag geschehen seyn / welches ich nicht mit meinen Gedancken berührt und durchlaujfen habe. Ich dachte in alle Königreich und zugleich in eine jede Stadt insonderheit / bald war ich mit meinen Mücken zu Weiden in der Pfaltz / bald zu Londen in Engelland / bald wieder anders wo / und konte weder wissen noch rathen / wie mir
" 45
Vgl. Corylo I, 9, 37, 38 - 38, 3. Vgl. AUGUSTINUS, Bekenntnisse, lateinisch und deutsch von JOSEPH BERNHART, Frankfiirt/M. (Insel Tb. 1002) 1987, X, 8, 15, 508: Magna ista vis est memoriae, magna nimis, deus meus, penetrale amplum et infinitum.
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selbst ware. Als ich dergestalten eine gute viertel Stunde meditiert /[•••] nähme ich folgende Capritze zu handen46 Durch die Macht seiner Gedancken gelingt es Corylo, Geschehnisse und Orte der Welt zu berühren, die seinem realen Aktionsradius momentan entzogen sind. Zudem ermöglicht die Distanzierung von den gegenwärtigen Umständen eine kreative Ausdehnung des gedanklichen Innenraumes auf die Außenwelt. Dies äußert sich in den Capricen des Schelmen, der seine heimlichen Launen und Pläne in die Tat umsetzt. Die räum- und zeitentrückte Welt der Gedanken gewinnt Macht über das zukünftige Handeln. Über eine solche machtvolle Souveränität verfugen die Liebes-Gedancken im jungen Geist des unerfahrenen Liebhabers indes noch nicht. Einstweilen bleibt Corylo unter dem widersprüchlichen Einfluß verschiedener Frauen bezaubert und gefangen, wodurch er in einen Konflikt zwischen Vergangenheit und Gegenwart gerät: Eines Theils gedachte ich zurücke auf die Sancissam, andern Theils betrachtete ich meinen gegenwärtigen Zustand / und konte doch beyderseits keinen gewissen Entschluß finden.*1 Der Rückzugsraum der Gedanken genügt nicht, um die Fäden zwischen dem vergangenen Erlebnis und den Ansprüchen der Gegenwart zu entwirren. Deshalb kann Corylo zu keinem zukunftsverbindlichen Entschluß kommen, der aus Vergangenheit und Gegenwart tätige Konsequenzen zieht. Innerhalb der Terminologie des AUGUSTINUS läge die Lösung des Problems in der Ablösung der memoria von den gegenwärtigen Begierden, von der curiositas und anderen Affekten, die das Subjekt in die Widersprüche und Gefährdungen einer als scheinhaft erlebten Realität verstricken. Dies aber ist nicht die Lösung, die von der Handlungslogik der Erzählung und ihren raum-zeitlichen Voraussetzungen nahegelegt wird. Es bedarf eines von außen kommenden Anstoßes, um die Antagonismen einer in die curiositas verstrickten memoria aufzulösen und den Gegebenheiten gantz eine andere Beschaffenheit zu verleihen.48 Diesen Anstoß erhält Corylo von einem Blick durch das Kammer-Fenster, der Öffnung also, die der verschlossene Innenraum nach außen hat. Zunächst vernimmt der Einsame lediglich Rudergeräusche vom Schloß-Teich unter dem Fenster. Diese Geräusche ordnet er falsch ein, weil er vermutet, der Torwächterssohn nutze das Gewässer nach seiner Gewohnheit zu einem heimlichen Fischzug. Erst eine längere Beobachtung des Geschehens läßt Corylo ein gantz frembdes Schiflein mit einem rudernden Gavallier gewahr werden, das sich unter dem KammerFenster an die Mauern anhängte. Aus der beobachtenden Zeugenschaft wird heimliche Nachbarschaft mit dem fremden Eindringling, der sich nun mittels 46
"
41
Corylo 1,23,76,24-36. Corylo 1,9,38,1-3. Vgl. zum folgenden Corylo 1,9, 38,4 -10,39, 25.
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Beers Corylo
einer augenblicklich herabgelassenen Strick-Leiter Zugang zum geschützten Bereich des Hauses verschafft. Ziel ist ein Zimmer, das anscheinend zum Beutezug wie zum Versteck geeignet ist, weil dort die Herrschaft ihre Kleinodien verschlossen hält. Aus dem verborgenen Beobacher wird im nächsten Schritt ein Akteur. Eine Heimlichkeit begegnet der anderen. Corylo ist zum Zeugen eines heimlichen Eindringlings geworden, der sich ein verschlossenes Zimmer mit Fenster zunutze macht. In seiner Gegenaktion läuft Corylo augenblicklich zum Zimmer der Hausfrau, doch er muß feststellen, daß auch diese Thür schon zugeschlossen ist. Durch die solchermaßen offenbar werdende Heimlichkeit der Hausfrau fängt der Bedienstete an, den Braten zu riechen und greift nun seinerseits zur Strategie der diskreten Indiskretion. Er begibt sich gantz in der Still an die Pforte des vorerwehnten Zimmers und hält sein Ohr gar nahe an das Schlüssel-Loch, wodurch er zum Zeugen der Heimlichkeit zwischen seiner Hausherrin und dem Fremden wird. Corylos Wissensvorsprung kann aber für den Augenblick nicht handlungsleitend werden, da die Hausfrau mit ihrer Schlüsselgewalt die Kontrolle über die verschlossen Räume besitzt und Corylo sich erst eine Operationsbasis für wirksame Gegenmaßnahmen verschaffen muß. Immerhin aber hat er nun gesehen / wie viel es geschlagen hat, so daß er darangehen kann, genauere Informationen über Ort und Zeit der illoyalen Aktionen seiner Hausherrn einzuholen. Die metaphorische Reminiszenz an das Schlagen der Uhr verweist noch einmal auf die kollektive Regelung der Zeit durch den Stundenschlag einerseits und die Möglichkeiten, die sich andererseits für das regelwidrige Timing des einzelnen durch die genaue Zeitmessung ergeben. Die Handlungsform der Hausfrau bestimmt sich auch hier als pikareske Gelegenheit, die in den engen Maschen der geregelten Zeit ergriffen wird. Doch die Dialektik der künstlich verdichteten Zeit schlägt auf die zurück, die sich ihrer mißbräuchlich bedient, verpflichtet doch die Zeitordnung die Hausfrau auf eine gewisse Regelmäßigkeit ihrer Heimlichkeiten, so daß es nicht schwerfallt, ihr auf die Schliche zu kommen, wenn der Beobachter erst einmal das Zeitmuster durchschaut hat. Es vergeht nämlich keine Nacht, in der Corylo nicht das kleine Pfeifflein auf dem Teiche wahrnimmt, bis der Herr des Hauses von seiner Rechts-Sache erfolgreich zurück gelanget ist, und nach dieser Sicherung der Besitzgrenzen nach außen den inneren Vorgängen im Haushalt durch seine Anwesenheit wieder Grenzen setzen kann. Aber auch den Plänen und Vorstellungen des Hausvaters sind selbst Grenzen gesetzt, wie das Projekt der Verheiratung der ältesten Tochter zeigt, für die er einen begüterten jungen Freyer von der Reise mitgebracht hat.49 Denn auch in diesem Fall wird Corylo zum Zeugen der Heimlichkeiten, die *
Vgl. zum folgenden Corylo I, 10, 39,25 - 41, 14.
Vorgeschichte als ordnungsstiftender
Mythos
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alle hausväterlichen Ordnungsvorstellungen hintertreiben. Diesmal sind die Voraussetzungen der Zeugenschaft schon in einer Eigenbewegung des Schelmen begründet, der in seiner Eifersucht auf den glücklichen Verlobten nach einer Gelegenheit trachtet, die verborgene Verbindung zur Braut durch ein letztes vertrauliches Gespräch zu beenden. Diese Gelegenheit sucht Corylo, indem er die stillen Stunden des Abends nutzt, um sich heimlich in ihre Kammer zu verstecken. Als Rückzugsraum innerhalb des fremden Gemachs dient ihm ein aufgerichtetes Faß, in dem ein Spunt-Loch die Rolle des Fensters einnimmt, durch das man hinaus gucken und alles ausführlich ersehen kann. Die nun gezielt vorgenommenen Beobachtungen korrigieren Corylos Vorstellungen, da sich die Jungfer keineswegs zu einer Unterredung mit ihrem Bräutigam trifft, sondern den Stall-Knecht zu weit handfesteren Unterhaltungen empfängt. Der Knecht erscheint kaum eine halbe Viertel-Stund nach ihrer ländlich-derben Abendtoilette. Angesichts dieses Organisationsaufwands erweist sich die Zeitform des blind verliebten Corylo als illusorisch, da er die edle Zeit und Goldgeschätzte Stunden auf ein offenbar unwürdiges Ziel verwendet hat. Hier jedenfalls findet der Enttäuschte Gelegenheit zur sofortigen Reaktion, indem er das ungleiche Paar durch ein Gerumpel mit seinem Faß erschreckt und vertreibt. Die Flucht der Überraschten deutet auf einen Machtzuwachs für Corylo hin. Sein Wissensvorsprung verschafft ihm erste Handlungsoptionen, um dem Knecht so wohl als dem aufsteigenden Edelmann einen Possen zu reissen /doch alles in höchster Geheim. Zu diesem Zweck verbündet er sich mit dem mächtigeren Schreiber zu dem er sich geschwind in das gemeinsame Bett begibt, um ihn über seine Beobachtungen zu informieren. Die Person des Schreibers verbindet Corylo mit dem Modell der Ordnung des Haushaltes, die auf der mythischen Macht der Wiederholung beruht. Denn der Schreiber hat seinerseits einen großen Informationsvorsprung, da ihm der Lebenswandel der Edel-Frauen nur allzu bekannt ist. Durch die Unterredung zwischen Corylo und dem Schreiber wird die Kammer der Bundesgenossen zum Echoraum des geäußerten Gedächtnisses, da nun der Schreiber die Vorgeschichte des ordnungswidrigen heimlichen Liebeslebens seiner Hausherrin mitteilt.50 Memoria kann hier handlungsleitend werden, denn die Erzählung vergangener Ereignisse bereitet die Gegenaktionen vor, mit denen der Schreiber und Corylo dem Loyalitätsbruch von Hausfrau und Liebhaber begegnen wollen. In der Schilderung des Schreibers wird das Handeln sowohl der ungetreuen Hausfrau als auch ihres Kavaliers zum Gegenbild der Ordnung des Ganzen Hauses. Frauenfeindlicher Stereotypen bestätigen die patriarchalische Ordung des Hauses noch da, wo die Ereignisse längst diese Ordnung zweifelhaft erscheinen lassen. An der Hausherrin mißfallt dem Schreiber ihre leichtM
Vgl. Corylo I, 11,41, 15-45,33.
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fertige alamodische Geschwätzigkeit, die weder die hergebrachte Ordnung des Hauses noch die analog begründete Staatsordnung unberührt läßt: Alle löbliche Ordnung und Landes Statuten sollen ihr anders gebacken werden / und wird kein Regiment so klug geführet / sie will es doch in einen andern Model giessen.5'
Dieser Untergrabung des Bestehenden entspricht, daß sie ihre meiste und angenehmste Zeit nicht zu Hause sondern mit an abgelegenen Orten wohnenden Weibsbildern und plauder-Candidatinen verbringt. Dort wird die edle Zeit mit Dischen / Daschen / Häuselbauen / und solchen Affen-Grillen vertrieben, wobei das luftschloßgleiche Häuselbauen im Kontrast zu den realen ökonomischen Bedingungen daheim steht. In den Augen des Schreibers führt die plaudernde, zeitverschwenderische Anzweiflung des Bestehenden zur Zeit- und Handlungsform der Unbeständigkeit, die auch das häusliche Fundament der ehelichen Treue nach weniger Zeit durch unvernünftige Liebelei untergräbt. Der Liebhaber ist schon durch seine Herkunftsfamilie ein Gegenbild der häuslichen Ordnung. Fern von aller Autarkie ist das elterliche Anwesen derart verschuldet, daß zur Beschaffung der kärglichen Mahlzeiten, die des Tages nur einmahl stattfinden, die Substanz angegriffen werden muß, indem man das Inventar verkauft. Der Haushalt kann als ganzer nicht mehr funktionieren. Alle Abläufe werden unregelmäßig und unzuverlässig, was schließlich die Moral der Bediensteten untergräbt.52 Diese Wechselbeziehung zwischen den materiellen Bedingungen und den Verhaltensweisen zeigt sich umgekehrt, als der nachmalige Liebhaber Erbe eines vornehmen Grafen geworden ist und nun dessen umfangreichen Besitz zu verwalten hat. Hatte der Mangel im Elternhaus die Dienstboten zur Untreue verleitet, so läßt der plötzliche Reichtum den jungen Edelmann die notwendigen Beziehungen innerhalb und außerhalb des Hauses ignorieren. Nicht das Verhältnis zu Geschäftspartnern und Angestellten steht im Vordergrund seines Interesses, sondern der verschwenderische Umgang mit unzuverlässigen Zechkumpanen. Die Einheit des Ganzen Hauses, die neben der materiellen Einheit auch die einträchtigen Beziehungen zwischen den Hausbewohnern und zu Partnern und Freunden außerhalb umfaßt, wird durch diese unökonomische Handlungsweise in kurzer Zeit in Stücke geschlagen." Nur auf den eigenen Vorteil bedacht, kommt der Unerfahrene jäh in die Situation, Gegenstand der Vorteilnahme anderer zu werden. Kein Wunder also, daß die Mißachtung der nächsten Umgebung Corylo I, 11,41,32/33. Die Dienstboten kriegten in Jahr und Tag keinen Pfennig von ihrer Besoldung zu sehen / dahero entwendeten sie dort etwas und da wieder etwas / daß sie aufs wenigste ihren nakkichten Leib zu bedecken hatten. Corylo I, 11, 43, 14-17. [...] es stunde nicht dreyJahr an / da war das herrliche Schloß / die Güter samt denen Unterthanen / Wäldern und Fischereyen in ducas, und noch Schulden darzu im Register / einer kriegte da ein Stück davon / der andere dort / und keiner nahm etwas ohne seinen merklichen Vortheil [...]. Corylo I, 11,44, 2-7.
Vorgeschichte als ordnungsstiftender
Mythos
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den unerfahrenen Kavalier dazu verleitet, auch den größeren geographischen Rahmen seines Handelns zu unterschätzen, als er sich nach seinem Bankrott vor großer Scham aus dem Staube macht. Da er glaubt, daß bereits der Ortswechsel - nicht etwa anderes Handeln - seinen Mißerfolg in Erfolg verkehren könne, versucht er, in Franckreich
daselbst seine Fortun zu machen. Wie der
kleine Guzmán muß er dabei bald die Erfahrung machen, daß die Realität nicht den Vorstellungen entspricht, die er aus ihrer literarischen und kartographischen Repräsentation gezogen hat. Erst die unmittelbare Erfahrung holt die Luftschlösser großer Projekte in den Horizont der eigenen realen Bewegungsmöglichkeiten ein: Als er aber 10. Meilweges in die Welt hinauß gekommen / verwunderte er sich aus dermassen / daß die Erde so weit und breit wäre / und fragte seine Begleiter / ob sie noch weit nach Pariß hätten; Die Kerl musten des Narren lachen und sagten / daß davon noch nichts zu sagen wäre / sondern sie mästen noch 14. Tage reisen ehe sie nach Straßburg kämen / von dar an hätten sie erst das vierte Theil von dem Weg. 54
Die in die Lebenszeit eingeholte Weltzeit fuhrt die Selbstwahrnehmung auf ein reales Maß zurück. Doch der junge Edelmann ist weit entfernt, aus der Erfahrung der eigenen Begrenztheit Konsequenzen für sein Handeln zu ziehen. Auch nach seiner Rückkehr basiert seine Selbstdarstellung auf Illusionen. Bramarbasierend berichtet er von seinen vorgeblichen Erlebnissen in der weiten Welt, obwohl er Franckreich
nirgend als in der Land-Carthe
gesehen
hat. Die Besitzer des Edelschlosses, auf dem auch Corylo Zuflucht gefunden hat, nehmen den zweifelhaften Kavalier unterschiedlich wahr, was die Disharmonie zwischen Hausvater und Hausfrau unterstreicht. Der alte Edelmann nämlich nimmt den jungen Aufschneider aus Erbarmen auf, das er all seine Tage gegen verlassene Leute bekundet, während die Hausherrin in ihrer unvernünftigen Verliebtheit aus dem jungen Gecken einen Schatz und Liebsten macht, für den das Beste gerade gut genug ist. Mit Hingabe pflegt sie eine Verletzung, die der junge Edelmann bei einem versuchten Diebstahl davongetragen hat. Die Delinquenz des Aufschneiders findet ihren Höhepunkt im Betrug an seinem Gastfreund und Wohltäter, den er mit seiner Ehefrau hintergeht. Als die Enge und Sozialkontrolle des Haushaltes diese heimliche Beziehung gefährlich macht - so fährt der Schreiber mit seinem Bericht am folgenden Tag in der Kanzlei fort - zieht der junge Liebhaber mit dem Geld seiner Gönnerin eine halbe Stunde von hiesigem
Schloß in eine Dorffschaft,
wo er
ein Gütlein auf 4. Pferde kauft, das ihm nun als Operationsbasis für seine nächtlichen Besuche bei der Schloßherrin dient." Der Eindringling profitiert von dem Haushalt, dessen Grundlagen er untergräbt.
54
"
Corylo I, 11,44, 12-17. Vgl. Corylo I, 12,47, 13 - 48,2.
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Beers Corylo
Dies sei - so schließt der Schreiber- der vollkommene Verlauf/ / so fern und weit er ihm bekandt sei. Diese Formulierung verweist auf den Realitätsausschnitt, der durch die Wahrnehmungsgrenzen des Schreibers gegeben ist, und doch auch auf den Anspruch, etwas Ganzes und Vollständiges über die Vorgänge zu sagen. Diese Vollständigkeit ergibt sich aus dem normativen Hintergrund des Ganzen Hauses, der die Vorgänge in einem eindeutigen moralischen Licht erscheinen läßt. Erzählen gerät im Bericht des Schreibers zum moralisierenden Diskurs, der das Erzählte entlang der Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem einordnet. Diese Grenze steckt sozusagen das moralische Territorium des Ganzen Hauses ab. Entgegen der ökonomischen Poetik, die sich aufs reine Erzählen beschränkte, entsteht ideologischer Überschuß. Denn die Zwiespältigkeit allen Handelns und Erzählens verlangt eine Stellungnahme für oder gegen die Ordnung des Ganzen. Die Schelmenstücke der Hausfrau und ihres Liebhabers werden erzählt, um die Ordnung durch die erzählten Ordnungwidrigkeiten neu zu begründen. Doch läßt sich das erzählte Geschehen auch genau umgekehrt verstehen. Angetreten, den Sachverhalt und seine Ursachen zu berichten, wird das Erzählen zum Zeugen der Veränderung und Umstürzung der Sachverhalte. Deshalb greift der Schreiber als Erzähler zum Mittel der moralischen Zuweisung von den Regeln her, um das Regelsystem noch in seiner Überschreitung zu bestätigen. Dieser Bestätigung im Medium des moralisierenden Diskurses folgt nun die Wiederherstellung der Ordnung im Haushalt, soweit dies in der Macht der beiden Diskurspartner steht. Weil die Heimlichkeit der Hausfrau und des Liebhabers die Ordnung des Hauses gefährdet, greifen der Schreiber und Corylo zu demselben Mittel, um die Ordnung wieder herzustellen. Wie der Gegenmythos von der untreuen Hausfrau und ihrem Liebhaber die Ordnung verletzt hat, soll nun die Gegenheimlichkeit die Ordnung wiederherstellen. Deshalb leitet der Schreiber aus der Vergegenwärtigung der Vergangenheit nun die Optionen für die Zukunft ab. Aus der vergangenheitsbezogenen Relation der Liebes-Händel wird der zukunftsverbindliche Plan, den ungeliebten Liebhabern, dem Edelmann so wol als dem Stall-Knecht, unter Aufbietung einer Gegen-Heimlichkeit einen recenten Possen zu reissen.56 Die Handlungsform des Possen realisiert den Aspekt des Mythos, der aus der Erzählung von Handlungen auch ihre kreative Erfindung oder Planung ableitet. Aus der Spannung zwischen dem ordnungsstiftenden und dem ordnungswidrigen Aspekt des Mythos entstehen widerstreitende Handlungen; schelmischer Heimlichkeit steht nun Gegenheimlichkeit gegenüber und die Intrige wird durch die Gegenintrige beantwortet: Den heimlichen Liebhabern wird ein Possen gespielt, die eigentlich pikareske Handlungsform wird hier im Interesse der häuslichen Ordnung eingesetzt. Das mythische Modell der Wiederholung äußert sich darin, daß sich die Bewahrer der Ordnung derselben Mittel 34
Vgl. Corylo I, 13, 48, 5 -7.
Gegenmythos: Dynamik des Handelns und Erzählens
495
bedienen wie die Störer. Der Possen ist Gegenheimlichkeit gegen pikareske Heimlichkeit. Dadurch wird er zum affirmativen Mythos gegen die struktursprengende Eigendynamik von Handeln und Erzählen, die im Gegenmythos zum Ausdruck kam. Dieses spiegelbildliche Verhältnis zwischen den Ordnungsstörern und den Ordnungshütern erschafft einen neuen Mythos zweiter Ordnung. Ordnung ist nicht ursprünglich, sondern immer schon das Ergebnis von ordnungsstiftenden Maßnahmen. Auch der Schreiber und Corylo orientieren sich an den geregelten Zeiten des Hauses zu Zwecken des eigenen Timing, doch tun sie dies, um die kollektive Regelung der Zeiten zu bestätigen oder in ihrer heimlichen Zweckentfremdung der Zeiten doch zum Wohl des Ganzen zu handeln. Dies deutet sich schon da an, wo der Schreiber seinen Bericht über die Verfehlungen von Mutter und Tochter unterbricht, weil es inzwischen schon halbe Nacht geworden sei und zwölf auf der Schloß-Uhr schlage.57 Die Nacht soll nicht vollständig mit Erzählen verbracht werden, weil eine Wiederherstellung der Arbeitskraft im Interesse des Ganzen Hauses vonnöten ist.: In diesen frommen Gedancken schliejfe ich ein und des andern Tages machte sich ein jeder an seine bestimmte Arbeit.5*
Und selbst da, wo die gemeinsame Aktion zugunsten des Haushaltes sich noch der Heimlichkeit gegen den Hausherren bedient, werden die Möglichkeiten der genauen Zeitmessimg und die funktionalen Differenzen der Räume berücksichtigt. Das Verhältnis zwischen den regelmäßigen Abläufen im Haushalt und den speziellen Aktionen von Schreiber und Corylo wird von der Erzählung sorgfältig konturiert. In der Cantzley fragt der Hausherr nach der fälligen Martini-Steuer der Bauren, worin sich die zyklische und kalendarische Zeitform des ländlichen Haushaltes ausdrückt. Dann fordert er die Bediensteten - der Tageszeit gemäß - auf, zum Mittagessen zu gehen. Nach dem Mittagessen leitet der Schreiber die konspirative Sonderaktion ein, die gleichwohl durch seine dienstlichen Obliegenheiten motiviert wird.59 Der Schreiber erbittet sich den Haupt-Schlüssel, um im Schatz-Zimmer die dortigen Bücher einer Revision zu unterziehen, da sie schon eine geraume Zeit nicht wären ausgestäubet worden. Er [...] wolle sie mit Hülffe des Corylo diesen Abend ausmustern und reinigen /weil in der Cantzley ohne deme nichts sonderliches zu thun wäre.60 Noch in der Täuschung des Hausherrn bestätigt sich der Schreiber als das, was er zu sein scheint, nämlich ein Bediensteter, der sich in Eigenitiative die Belange des Ganzen zu eigen macht. Deshalb wird ihm, wenn auch unter täuschenden Bedingungen, letztlich zu recht der HauptSchlüssel übergeben und damit subsidiär und zeitweilig die hausväterliche 37 31 39
"
Vgl. Corylo I, 12, 46,33-37. Corylo I, 12,47,6/7. Vgl. Corylo 1,13,48,4-27. Corylo I, 13,48, 18-20.
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Beers Corylo
Schlüsselgewalt übertragen. Bezeichnend ist, daß diese Übergabe des Hauptschlüssels der Frauen gantz unwissend geschieht, was einerseits auf die Interessengegensätze zwischen den Parteien des Hausherrn und der Hausfrau sowie die damit verbundenen Heimlichkeiten verweist, andererseits für den Erfolg der potenzierten, affirmativen Heimlichkeit von Schreiber und Corylo unerläßlich ist. Aus dieser potenzierten Heimlichkeit, die gegen die Hausfrau gewahrt werden muß und gegen den Hausvater vorläufig eingenommen wird, resultiert eine scheinhafte Handlungsform, die den Aufenthalt der beiden Verschwörer im Schatz-Zimmer bestimmt.61 Die Arbeit dient lediglich als Vorwand und wird zur Überbrückimg der Zeit nachlässig verrichtet: Wir steubten aber alle halbe Stund etwan eine halbe Reihe der Bücher aus / welche es so sehr nicht von nöthen hatten / und also brachten wir so lange zu biß es Abend worden / und wir ein Licht von nöthen hätten / vorgebend / es wäre noch um eine halbe Stunde zu thun / so hätten wir den Plunder gantz absolfünffet.62
Noch die scherzhafte Redundanz, mit dem sich das Absolvieren auf das Absolftinfen hin selbst übertrifft, drückt eine relative Selbständigkeit der Handelnden aus, die über das Allernötigste hinausgeht. Die Ökonomie des Handelns und Erzählens verlangt zuweilen den verschwenderischen Umgang mit Raum und Zeit, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Dieses Ziel liegt sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Erzählebene in der spiegelbildlichen Konterkarierung der Heimlichkeiten der Hausfrau, die nun durch heimliche Gegenaktionen neutralisiert werden. Rein diskursiv wäre zu einem solchen Ergebnis schneller zu gelangen. Die Überrumpelung des Liebhabers ließe sich summarisch berichten und in ihren moralischen Konsequenzen ausdeuten. Doch der Roman greift zur Disziplinierung des Gegenmythos durch den neuen Mythos der Ordnung und beschreitet verzweigte Umwege durch verborgene Räume und verdichtete Zeiten. Im Zuge der Gegenaktion entzünden der Schreiber und Corylo im verschlossenen Schatzzimmer mit dem zum Abend erbetenen Licht genau die Losungs-Fackel, die gewöhnlich von der Hausfrau als Signal zum Stelldichein mit dem heimlichen Liebhaber benutzt wird." Das oben gelegene Zimmer im Schloß liegt dem Wohn-Zimmer des Liebhabers auff dem Dorff gleich gegen über, so daß der Zweck der Hausfrau wie der ihrer Widersacher an Ort und Stelle gut zu erfüllen ist. Die Verschwörer bedienen sich auch des üblichen Zeitmaßes und lassen die Fackel eine gute halbe Stunde brennen, denn durch eine solche Zeit pflegt auch die Frau das Huren-Zeichen zu geben. Räumlich ist die Szene von dem Gegenüber zwischen Schloß und Dorf geprägt, während sie zeitlich dem Muster von Wiederholung und Variation folgt. Der Schreiber und Coiylo wiederholen das übliche Signal, freilich zu entgegengesetzten Zwecken. " " 63
Vgl. Corylo I, 13, 48, 22-40. Corylo I, 13, 48, 28-33. Vgl. zum folgenden Corylo I, 13, 48,34-39.
Wiederholung
und Variation: Unwägbarkeit
des
Handelns
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Räume und Zeiten stehen unter dem Vorzeichen von Spiegelbildlichkeit und Wiederholung, die gleichwohl in ihrer Variation das Gegenteil des Erwarteten zeitigt. Wie gewöhnlich erscheint der Liebhaber auf das Lichtzeichen hin mit seinem Schifflein, das zwei Bauren-Knechte gemeinsam mit dem schiebenden Edelmann auf einem Karren zum Schloßteich transportiert haben.64 Das Pfeifsignal ertönt, die Strickleiter wird behende heruntergelassen, und der Liebhaber betritt das Schloß, nicht wissend, daß die scheinbar planmäßigen Abläufe nicht seiner Kabale, sondern längst einer Gegenintrige folgen. Deshalb kann er auch nicht ahnen, daß die Verriegelung des Schatzzimmers nicht dem Schutz seiner Heimlichkeit, sondern vielmehr seiner Festsetzung und Identifizierung dient. Die Gegenläufigkeit der Ereignisse wird erst da manifest, wo der Schreiber unbemerkt von dem verliebten Einbrecher dessen Schifflein anbohrt, während Coiylo in der Cammer zu verbleiben hat, um aufzupassen, ob der Gefangene die Strickleiter zu einer Flucht nutzt.65 Durch die Gegenaktion haben die Räume ihre Funktion gewechselt. Das Schatzzimmer ist von der Operationsbasis der Verliebten zum Gefängnis des Liebhabers geworden, während die Schlafkammer der beiden Kanzleiangestellten nicht mehr Rahmen ohnmächtiger Isolation oder hilfloser Zeugenschaft ist. sondern vielmehr der aktiven Beobachtung bereits geplanter Ereignisse und ihrer Entwicklung dient. Selbst, als der Schreiber und Corylo das Fenster ihrer Schlafkammer mit einem dikken Bret verbarrikadieren, schließt diese Maßnahme nicht etwa sie selbst in ihr Zimmer ein. Das verschlossene Fenster bildet eine Sicherung nach außen, um dem Edelmann bei einer eventuellen Flucht mit der Strickleiter aus dem Fenster des höher gelegenen Schatzzimmers den Einstieg zu verwehren, den er nach der Zerstörung seines Kahns wählen könnte. Diese Absicherung hängt damit zusammen, daß der Schreiber und Corylo mit ihrem Arrangement der Zeiten und Räume einen Ablauf initiiert haben, dessen Einzelheiten sich erst durch die Reaktion des Edelmannes ergeben. Deshalb spielen sie die möglichen Varianten seiner Reaktion durch, um entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. In diesem Wechselspiel drücken sich noch einmal die Unwägbarkeiten des Handelns aus, das niemals einem linearen Plan folgt, sondern durch das Mitspielen vorgesehener und unvorhergesehener Beteiligter seine Gestalt in der Zeit erhält. Auch die Beantwortung der Intrige durch die Gegenintrige hebt also deren innere Gesetzmäßigkeit nicht auf, sondern erhöht lediglich die Komplexität. Im Umgang mit dieser steigenden Komplexität haben der Schreiber und Coiylo die räumlichen und zeitlichen Umstände genau zu beobachten. Sie begeben sich im stündlichen Wechsel auf eine extraordinar Schildwache. eine außergewöhnliche nächtliche Beobachtung der Vorgänge also, die der Durch" "
Vgl. Corylo I, 13,49, 1-15. Vgl. Corylo l, 13,49, 1 5 - 5 0 , 16.
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Beers Corylo
brechung der alltäglichen Abläufe geschuldet ist.64 Die von ihnen beobachtete Gegenpartei erfährt ihrerseits Komplexität als Ausweglosigkeit. Aus dem nächtlichen Fenster geklettert, entdeckt der Liebhaber das Fehlen seines Kahns und erfährt auf Zuruf von seinen am Ufer stehenden Knechten, daß sich ein Dritter daran zu schaffen gemacht hat. Er bemerkt zwar den Possen, kann dieses Wissen aber nicht unmittelbar verwenden, da er an seiner Strickleiter zwischen Gefangenschaft und Absturz, zwischen Himmel und Erde hängt. Also muß er eine komplexere Vorsorge treffen und seine Knechte beauftragen, wiederumb heim zu fahren / und morgen von dem Müller in dem Dorff ein Schiff zu entlehnen. Erst diese Maßnahme des Edelmannes motiviert den weiteren Ablauf und die Gegenmaßnahmen des Schreibers und Corylos, die nun davon profitieren, daß sie als Feinde den Rathschluß mit anhören und damit wiederum einen Wissensvorsprung haben.67 Doch ist dieses Spiel des Handelns um Zeit nicht einseitig, auch der Informiertere kann bei dem Versuch, dem Kontrahenten zuvorzukommen, ins Hintertreffen geraten: Morgens / ehe es Tag ward / lieffe der Schreiber geschwind aus dem Schloß gegen das Dorff / und wolte dem Müller bey Straffe verbieten / daß er das Schiff nicht hinweg liehe / aber es ware schon zu spat / dann die Knechte hatten es noch gester Abends bestellet / und der Müller hatte auch etliche Groschen darauf genommen / deßwegen gieng sein Rath-Schluß vor dißmahl so gut zu Grunde als des Edelmanns Schiff.**
Die Wechselbeziehung von Aktion, Gegenaktion und Konteraktion drückt sich in den scheiternden Ratschlüssen beider Seiten aus. Nach vorläufigen Mißerfolgen muß jede Partei zu komplexeren Strategien greifen, um auf die entstandene Situation zu reagieren. Das einstweilige Hintertreffen verstärkt den Ehrgeiz, dem Gegner noch zuvorzukommen: Als wir nun sahen daß er vorgekommen war / beschämte dieser Fund unsere Invention nicht ein geringes / entschlossen uns deswegen / die Sache zu forschieren/ und ihm einen Lecken anzuhängen /daran er alle seine Tage gedencken solte.69
Alles Handeln sucht den endgültigen Erfolg, der dem Gegner ein alle seine Tage gültiges Resultat aufzwingt. Zugleich aber nähert dieser Wille zum Erfolg die Handlungen der Kontrahenten aneinander an. Gerade der beiderseitige Versuch, einen endgültigen Sieg zu erringen, führt zum vorläufigen Gleichstand zwischen beiden Parteien. Hat der Gegner die zeitliche Führung übernommen, so ist dies nur mit verstärkter und schnellerer Aktion zu kompensieren.70 Dabei kommt dem Schreiber und Corylo der Umstand zur Hilfe, daß der Edelmann in dem Zimmer den folgenden gantzen Tag in Untätigkeit 66
Vgl. Corylo I, 14, 50, 18 - 51, 18. Vgl. Corylo I, 15, 51, 20 - 52, 28. " Corylo I, 15,51,23-29. 69 Corylo I, 15, 51, 29-32. ™ Vgl. zum folgenden Corylo I, 15, 51,32 - 52, 28. 67
Mythos: Macht der Vergangenheit über die Gegenwart
499
sehr stille sitzen muß, während seine Widersacher ihn zermürben können, indem sie sich abwechselnd über die Treppe nähern und vorgeben, sie wollten mit einem Schlüssel das Gemach eröffnen. Bewegungsfreiheit und Schlüsselgewalt auf der einen Seite und hilflose Eingeschlossenheit auf der anderen Seite gleichen den sozialen Abstand aus, der sich im Oben und Unten der Räume ausdrückt. In dieser Situation erwarten beide Parteien die Nacht, die dem Edelmann die Befreiung in Gestalt seiner Knechte mit dem entliehenen Boot, seinen Kontrahenten hingegen die Verhinderung dieser Aktion durch den bewaffneten Thorwächter bringen soll. Auf diese Weise arbeitet die Zeit für den Schreiber und Corylo, während der Edelmann nun Zeit gnug hat, seinen Kitzel zu verschwitzen. Die schwebende Situation kann auch von Corylo und dem Schreiber nicht entschieden werden, da sie weder über die Schlüsselgewalt für das Schloß im allgemeinen noch für das verschlossene Schatzzimmer im besonderen verfügen. Erst durch das zufallige Eingreifen des Schloßherrn fuhrt das Geschehen zu seinem dramatischen Höhepunkt und Umschlag.71 Denn nun kommt die oberste Instanz des Hauses, der Hausherr, ins Spiel, um der gestörten Ordnung wieder Geltung zu verschaffen. In der Absicht, den künftigen lieben Schwieger-Sohn die Schätze im Kunst-Zimmer sehen zu lassen, geleitet der Alte seinen Gast nach dem Mittagessen über die Treppe hinauf.12 Durch den Gang nach dem Essen in das gute Zimmer erfahren die klaren Zeitrhythmen und die räumliche Gliederung in oben und unten einen zeremoniellen Höhepunkt. Das Ritual, das in seiner Überhöhung des Alltags dessen Ordnung bestätigt, fungiert hier als Gegenbewegung zu den regelwidrigen Handlungen, die heimlich diese Ordnung in Frage stellen und in ihrer Zweifelhaftigkeit umkämpfen. So tritt der zeremonielle Akt als Katalysator für das ordnungswidrige Handeln auf, das seinerseits den festlichen Anlaß unterbricht und stört. Auf der einen Seite steht der feierliche Zug von Hausherr und Gast und auf der Gegenseite die hektische Betriebsamkeit der Ehebrecher und Possenreißer. Als nämlich die Tür des Zimmers geöffnet wird, will sich der überraschte Liebhaber in einem rasch übergeworfenen Bauernkostüm der Situation entziehen. Doch bleibt er Objekt der vom Schreiber nun klug mit der häuslichen Hierarchie koordnierten Gegenaktion: SO klug und verschlagen es aber der Edelmann angegriffen / so war doch der Schreiber noch klüger und verschlagener / dann nach dem er die eiserne Stangen vor der Thür hinweg gerücket / guckte er durch das Schlüssel-Loch hinein / und sagte augenblicklich wieder den Edelmann: "Herr/ es ist jemand in dem Zimmer. [...] Es ist ein Bauer-Kerl.,m 71 72 73
Vgl. Corylo I, 15, 52, 29 - 16, 56, 35. Vgl. Corylo I, 15, 52, 29-36. Corylo I, 16, 53, 28-36.
500
Beers Corylo
Das Kostüm, das die Identität des Ehebrechers verbergen sollte, entlarvt ihn nun als Eindringling. Zunächst werden Bedienstete mit Prügeln geholt, ehe die verschlossene Tür sich öffnet. Der so Gefaßte wechselt lediglich sein Gefängnis gegen den Wasser-Thurm, in dem er noch diesen Abend verhöret und examiniret werden soll.74 Der Inhaftierung folgen noch heimliche Versuche der Hausfrau, ihren Liebhaber zu befreien, die jedoch von dem Schreiber hintertrieben werden, so daß der unter Prügeln Vertriebene schließlich denken muß, er sei von seiner Geliebten hintergangen worden. Seine Strafe erhält der junge Edelmann, der ja seine Identität nicht preisgeben darf, nach seinem Kostüm. Die durch Schein und Gegenintrige wiederhergestellte Ordnung wird an einem falschen Bauern exekutiert. Das zweckentfremdete Bauerngewand, das zugleich Schutz und Fluch der Verstellung wird, deutet in seiner Vorgeschichte die historische Dimension dieses Ordnungsentwurfs an. Nicht umsonst ist nämlich das unscheinbare Kleidungsstück in der Schatzkammer des Schlosses aufbewahrt worden, verbindet sich doch mit ihm die beständige Erinnerung an eine erfolgreich unterworfene Rebellerey. Da ist es nur folgerichtig, daß der Erzähler sein Referat der laufenden Handlung unterbricht, um des Kleides einzige Erwehnung zu thun und es als Resultat einer abgeschlossenen Vergangenheit zu präsentieren.75 Diese Präsentation erfolgt nicht etwa als Beschreibung des Gegenstandes, sondern als erzählerische Vergegenwärtigung seiner Geschichte, als Mythos seiner Herkunft. Der Erzähler vollzieht nach, wie der ursprüngliche Besitzer des Kleides durch eine unerhörte Handlung aus dem raum-zeitlichen Gleichmaß seiner Welt hervortrat und zugleich die kollektiven Strukturen dieser Welt durch den Vorbildcharakter seiner Tat in Frage stellte: Es ware ein Baur in unserer Hof-March / der fienge eine Zeit Rebellerey wider meinen Herrn an / weil er auch viel seines gleichen an sich zöge / in dem sich solche Gesellen gar leichtlich verleiten lassen / weil es besser thut frey sein / als Steur und Zinsen geben / als käme es dahin daß sie sich mit Gewalt wider meinen Herrn entörten / und zwar auf eine solche Masse / daß er sich mit Gewalt zur Wehr stellen muste.n
Aus dem Bauern, der zunächst einer unter vielen in der Hof-March ist, wird durch die Anfangstat des Mythos, die arché, eine bestimmte, geschichtsmächtige Gestalt, die der strukturellen Regelung von Steur und Zinsen nun ihrerseits eine kollektive Macht entgegenstellen kann. Der Gewalt der Empörung steht die Gewalt der Gegenwehr gegenüber. Damit wird dieses bedeutende Ereignis in seinen Dimensionen zur Gefahr für die Herrschaft des Herrn, dessen Gestalt die erzählte Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft. Durch die verbindende Instanz des damaligen Herrn, der auch Corylos jetziger Herr 74
" "
Vgl. Corylo I, 16, 54, 11/12. Vgl. Corylo I, 15, 52, 43 - 53, 14. Corylo I, 15, 53, 1-7.
Mythos und Geschichte: umkehrbar
501
ist, konkretisiert sich die mythisch-unbestimmte Zeit des Geschehens als Vorgeschichte des Jetztzustandes. Der Mythos wird zur Begründung der gegenwärtigen Zustände. Dies wird dadurch möglich, daß die ordnungssprengende Gewalt des Bauernführers und der ihm folgenden Masse der Gegengewalt etlicher Compagnien Soldaten weichen muß, die der Herr aufbietet. Die Anfangstat des Bauernfuhrers, die ihn aus dem Kollektiv herausgehoben hatte, findet ihr gewaltsames Äquivalent in seiner Verhaftung als Rädels-Führer. Sein Insistieren darauf, frey zu seyn, endet mit der Hinrichtung in einem Thurm. Mithin bedeutet der verschlossene Raum des Turmes den endlichen Triumph der mythischen Gesellschaftsordnung über die ordnungssprengende Dynamik der Mythenhandlung und -erzählung. Das Kleid des Hingerichteten wird zum stäten Gedenck-Zeichen, in dem die dynamische Zeit des Handelns und Erzählens zum Stillstand kommt, weil ihre Macht gebrochen ist. Auch hier handelt es sich nicht bloß um ein abstraktes Sinnbild, sondern um eine wirkungsmächtige Realmetapher, wird sie doch als beständige und wiederholte Warnung vor den tödlichen Konsequenzen des Aufruhrs aufbewahrt und vorgezeigt: Thate nun ein Baur nicht gut / wurde ihm alsobald dieses Kleid gewiesen / welches solche Krqfft hatte / daß sie sich alle im guten abweisen Hessen.11
Offenbar besteht aber der Modellcharakter des Mythos, in dem sich die Einmaligkeit der Handlung mit ihrer Wiederholbarkeit vermittelt, in zwei gegenläufigen Tendenzen. Denn ein ebenso unbedeutender und unbestimmter Baur könnte auf die Idee kommen, es dem Vorbild der Geschichte gleichzutun, um gerade durch den Nachvollzug des Vorbildes zu einem historisch bestimmten, ordnungsgefahrdenden Akteur zu werden. Dies sei, so legt die iterative Form des Satzes nahe, wiederholt geschehen. Doch die Macht der Wiederholung folgt auch der Macht des affirmativen Ausgangs, den die Modellerzählung genommen hatte. Die wiederholte, rituelle Weisung des Kleides bestätigt noch einmal die Überlegenheit der Ordnung, die sich im erzählten Fall erwiesen hatte. Gegenmythos und Mythos, Gefährdung der Ordnung und ihre Wiederherstellung, Einmaligkeit und Wiederholbarkeit der Handlungen sind in der Erzählung und in der zeremoniellen Zurschaustellung ihres Requisits gegenwärtig. Die Bestätigung des Bestehenden, die sich im stäten Gedenck-Zeichen des Kleides versinnbildlicht, bestimmt das Verhältnis des affirmativen Mythos zur Geschichte. Das rituell vorgeführte Requisit wird zum Denkmal, in dem die mythische Macht der Vergangenheit über die Gegenwart manifest wird.78 " "
Corylo I, 15, 53, 12-14. Vgl. MICHAIL M . BACHTIN, "Epos und Roman, Zur Methodologie der Romanforschung": Formen der Zeit im Roman, Untersuchungen zur historischen Poetik, deutsch von MICHAEL DEWEY, Frankfurt am Main (Fischer Tb. Wissenschaft 7418) 1989, 210-251, hier 226.
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Beers Corylo
Zugleich aber ist das armselige Requisit die Karikatur eines Denkmals, die an die Gewaltsamkeit der hergestellten Ordnung und auf die Hilflosigkeit der unterlegenen Bauern erinnert.75 Unschwer ist in der Episode die anekdotische Schrumpfimg der österreichischen Bauernaufstände zu erkennen, die JÖRG JOCHEN BERNS zum Ausgangspunkt seiner Studie über das Verhältnis von Sozialgeschichte und Poetologie, von Geschichtsforschung und Erzählforschung in den BEERSchen Erzählungen gemacht hat.80 Geschichte als Prozeß der Umwälzimg durch die Umschichtung der ökonomischen Grundlagen innerhalb der agrarisch-ständischen Gesellschaft kommt hier lediglich als Exempelerzählung in den Blick, die das ökonomische Mißverhältnis als Mißstimmung einzelner abwertet und noch ihre Gegenwehr zur Bestätigung des Bestehenden benutzt. In der moralisierenden Stillstellung durch die normative Macht des Faktischen bleibt aber noch die Dialektik des Mythos erahnbar, der den Geschichtsverlauf zugleich verarbeitet und konterkariert. Zwar hat der unbedeutende einzelne vor der Überlegenheit des Ganzen zu kapitulieren, so daß seine Niederlage das Ganze affirmiert. Doch lenkt das mythische Erzählen den Blick auf diesen einzelnen, der - im Gang der Ereignisse kaum als Exemplar unterscheidbar - durch die Eigendynamik des Handelns und Erzählens zum Protagonisten eines Gegenmythos wird. Dieser Gegenmythos bleibt gegenwärtig als Erinnerung, die andere motivieren kann, sich selbst nicht als irgendeinen Beliebigen, sondern als einen Bestimmten, potentiell Handelnden, zu betrachten, wenn auch die Macht der Verhältnisse jedes Handeln vorerst unterbindet. BERNS berichtet, daß in der Bevölkerung Oberösterreichs die Erinnerung an die Bauernaufstände des 17. Jahrhunderts über Jahrhunderte wach geblieben sei, so daß ihm noch in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts Schlierbacher Bauern Anekdoten darüber zu erzählen gewußt hätten.81 Im Kleid des hingerichteten Bauern manifestiert sich nicht nur die bleibende, zeremoniell überhöhte Macht der Mächtigen, sondern auch die Erinnerung daran, daß sie in Frage steht. Vor dem Hintergrund der im Requisit des Bauernkleides eingeholten Vorgeschichte stehen die laufenden Ereignisse der Erzählung unter der Macht der Wiederholung, die als Variation des Modells seine Gültigkeit zugleich 79
"
Eine ähnliche Ambivalenz arbeitet STEPHEN GREENBLATT in seinem Aufsatz "Bauemmorden: Status, Genre, Rebellion": MORITZ Β ABLER (Hg.), New Historicism, Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt am Main (Fischer Tb. Wissenschaft 11589) 1995, 164-208 heraus. Dort befaßt er sich unter anderem mit ALBRECHT DÜRERS Entwurf für ein Denkmal auf den Sieg über die aufständischen Bauern. Das Denkmal auf einen Sieg über die verachteten Bauern untergräbt den Heroismus, von dem der Sieger seine Legitimation bezieht. Zugleich rückt es die Opfer in das Zentrum des Interesses. Vgl. BERNS, "Reflex und Reflexion der oberösterreichischen Bauernaufstände im Werk Johann Beers" 1158. Vgl. BERNS, "Reflex und Reflexion der oberösterreichischen Bauernaufstände im Werk Johann Beere" 1173, Anm. 98. Zur Funktion der Anekdote als Gegengeschichte vgl. meine Ausführungen in der Einleitung im Abschnitt "Anekdote und epochaler Trend".
Mythos und Geschichte; umkehrbar
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bestätigt und in Frage stellt. Der im Bauernkleid ertappte Edelmann muß zwar nicht sterben wie der ursprüngliche Besitzer des Kleides, doch wird auch er in einen Turm gesperrt und einer erniedrigenden Bestrafung unterzogen. Die Exekution der Herrschaft scheint der Bestätigung ihrer Gültigkeit für Gegenwart und Zukunft zu dienen. Im Zeichen der Wiederholung erscheinen aber auch gegenläufige Handlungen, die die Endgültigkeit der affirmierten Ordnung zweifelhaft erscheinen lassen. Das mögliche Umschlagen des Handelns in sein Gegenteil motiviert sich für den Erzähler durch die gegensätzliche Bewertung des Ergebnisses. Denn wenn eine Handlung die Ordnung zwischen oben und unten bestätigt, dann impliziert die Überlegenheit der einen und die Unterlegenheit der anderen eine Unstimmigkeit der Perspektiven. Dem Unterlegenen wird sein Zustand zum Motiv für eine Revanche, die sich zwar des Musters der Wiederholung bedient, das Ergebnis aber umzukehren beabsichtigt: Daß die Erinnerung der vorigen Begebenheiten / so wohl großen Schmertzen als auch Ergötzligkeit verursache / kan ein Exempel seyn gegenwertige Geschieht / vermittelst welcher sich der so auß dermaßen verhönte / doch nur mir / dem Schreiber und der Frauen bekante Edelmann beschimpffet sähe.'2 Die Geschieht an sich hat keine Moral, ihr Exempel belehrt vielmehr über die mythische Ambivalenz des Handelns und Erzählens. Was im Fundus der erinnernden Erzählung aufgehoben ist, trägt Schmertzen und Ergötzligkeit je nach dem Standpunkt der Handelnden und der Perspektive der Lesenden in sich. Auf der Ebene der Handlung resultiert daraus die Möglichkeit, mit denselben, sich wiederholenden Mitteln den eigenen Schmerz in Ergötzen und das fremde Ergötzen in Schmerz zu verwandeln. Das tut der Edelmann, indem er seine vormalige Geliebte und vermeintliche Verräterin durch eine Einladung in eine Falle lockt und in seinem Haus von zuvor verborgenen Knechten durchprügeln läßt.83 Der Possen, mit dem er sich rächt, bedient sich der bekannten Motive und Requisiten: der täuschenden Einladung, der verschlossenen Räume, der Knechte und Knüppel, die die Strafe exekutieren. Doch erreicht die Wiederholung des Bekannten nicht wirklich das Ziel der Kompensation. Es gelingt dem getäuschten Liebhaber nicht, die wahren Urheber seines Mißgeschicks zu treffen, vielmehr wird er durch eine Ironie des Geschicks sogar ohne sein und des Ehemannes Wissen zum Vollstrecker der häuslichen Ordnung an der untreuen Ehefrau. Noch im Anschlag auf die Integrität des Ganzen Hauses scheint sich dessen Macht und Dauerhaftigkeit zu bestätigen. Diese Dauer garantiert dem Ganzen Haus seine Überlegenheit im Wechsel der Ereignisse. Das spurlose Verschwinden des Kavaliers und seiner Helfershelfer, die sich also alle in kurtzer Zeit unsichtbar machen, gibt einen zusätzlichen Hinweis auf die Überlegenheit der ökoc D
Corylo I, 17, 57,24-28. Vgl. Corylo I, 17, 57, 24- 18,61,41.
504
Beers
Corylo
nomischen Solidität, die sich durch den Gang der Ereignisse gegen den unsoliden Zeitgenossen bestätigt sieht. Zwar kann der Übeltäter entkommen, doch ist er auf diese Weise ohne weiteren Belang für die Verhältnisse vor Ort. Damit steht das Ganze Haus für das Feste, Solide und Dauerhafte, dem der affirmative Mythos und sein Denken in den Kategorien der Wiederholung, des Rituals und des Denkmals entspricht. Diese Belanglosigkeit der Figuren angesichts einer Dauer, die sich in der Wiederholung bestätigt, zeigt sich auch in den folgenden Episoden und erstreckt sich vor allem auf die Titelfigur des Romans, die als peripherer IchErzähler zwar immer an der Handlung beteiligt ist, doch nie zu einer Profilierung eigener Ziele und Interessen findet. Innerhalb des häuslichen Beziehungsgeflechts kommt dem erzählten Ich zwar eine bestimmte Funktion zu, doch sind die Ereignisse nicht an seiner Person orientiert. Dies hat Auswirkungen auch für das Ich als Erzähler, das nicht mehr souverän über seinen Lebenslauf disponiert, sondern angesichts einer übermächtigen erzählten Welt in seiner Position gefährdet erscheint.84 Die serielle Wiederholbarkeit und Austauschbarkeit der Handlungen affiziert die erzählten Lebensläufe, durch die der Erzähler sich als Ich zu konstituieren versucht. Das Gesetz der Wiederholung demonstriert auch im folgenden dem Helden seine Austauschbarkeit. Als Corylo nach der Hochzeit der ältesten Tochter als Cammerdiener in den Haushalt des Schwiegersohnes eintritt,85 wird er zum Vertrauten des Hausherrn, wie er zuvor als Mitarbeiter des Schreibers fungierte. Mit Corylo wird dem neuen Haushalt der Gutscher Peter vermacht, den die jungvermählte Ehefrau bekanntlich heimlich lib hat, so daß Corylo in eigenem Interesse und in dem seines neuen Herrn beschließt, dem Knecht alle Gelegenheit zu Bereicherung und Untreue abzuschneiden,86 Diese Formulierung bestimmt Corylos Position als antipikaresk. Corylo nutzt keine Gelegenheit, sondern verhindert sie. Ihm kommt nicht die Rolle zu, durch seine Selbsterhaltung und Selbstbehauptung eine Dynamik der Ordnungwidrigkeit zu entbinden, sondern sich ihr im Interesse des übergeordneten Ganzen entgegenzustellen. Corylos Handeln besteht wie in den vorhergehenden Episoden in der ordnungserhaltenden Gegenaktion, die unter dem Vorzeichen und Zwang der "
" 16
Vgl. zum peripheren Ich-Erzähler ANDREAS SOLBACH, Evidentia und Erzähltheorie, Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen, München (Fink) 1994, 136-139. SOLBACH legt m. E. jedoch hinsichtlich der gefährdeten Position des peripheren Ich-Erzählers zu viel Gewicht auf dessen moralische Position als auctoritas, die zumindest in BEERS Romanen kaum noch eine Rolle spielt. Bei BEER läßt sich nämlich eine Differenz zwischen dem erzählten Ich und dem Ich-Erzähler kaum noch ausmachen, die etwa bei ALEMÁN oder GRIMMELSHAUSEN den dialektischen Bezug zwischen erlebter Welt und retrospektiven Deutungsversuchen ermöglicht. Vgl. Corylo I, 20, 66, 1 - 67, 7. Vgl. Corylo I, 20, 67, 38.
Uhr als mythischer Mechanismus: Macht der Wiederholung
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Wiederholung steht. Schließlich wird auch der Knecht beim Versuch der Untreue mit der Hausfrau in einem verschlossenen Raum gefangen und anschließend durchgeprügelt. Die Variation des Musters besteht in diesem Fall darin, daß die Falle für den Sünder von einem Schreiner nach allen Regeln der Handwerkskunst heimlich in die Vertäfelung der Schlafkammer eingebaut wird.87 Diese Verfertigung des Instruments, in dem sich der Knecht bei seiner Regelwidrigkeit verfangen soll, wird pünktlich gegen sieben Uhren Abends zur perfection gebracht und mit den übrigen Zeitabläufen der Schreinerarbeiten exakt koordiniert. Im Gegenzug erfolgt die prompte Bezahlung durch den Auftraggeber. Der Edelmann, ist er auch noch so arm, richtet sich nach einer unaristokratischen Zeit- und Zahlungsdisziplin, die die geleistete Arbeit nach ihrem Zeit- und Marktwert pünktlich bezahlt. Im sparsamen Haushalt des Edelmannes gewinnt nicht nur das Ideal des Ganzen Hauses Gestalt, sondern auch das Ideal eines merkantilistisch wirtschaftenden Absolutismus, in dem alle ökonomischen Abläufe durch ihre Normierung und dichte zeitliche Koordinierung zum Wohle des Ganzen beitragen. Diese Abläufe erwachsen nicht aus den vegetativen Zyklen der Landwirtschaft, sondern müssen geplant und aufeinander abgestimmt werden. Im Gestus der Planung werden die Einzelinteressen der Beteiligten ineinander verwoben. Mittel dazu ist das Äquivalent des Geldes und das Instrument der Uhr. In diesen beiden Mechanismen des Ausgleichs realisiert sich die Zeitform der Pünktlichkeit. Die Arbeit wird pünktlich beendet und genauso pünktlich bezahlt. Der Status der sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Strukturen läßt sich vorläufig für die Frage nach dem Status des Mythos in B E E R S Corylo auswerten. Hinter der erzählten Metapher vom Ganzen Haus steht als dessen Modernisierung und Infragestellung die Realmetapher der Uhr, die das Handeln der Personen bestimmt. Bei ihrem Versuch, Eigeninteressen gegen die oder im Einklang mit den Gesamtinteressen durchzusetzen, bedienen sich einzelne Figuren der pikaresken Zeitform der Gelegenheit. Das Handeln dieser einzelnen entfesselt eine Dynamik, die sich als mythisches Syntagma gegen das Paradigma der Wiederholung wendet. Die kollektive Räumlichkeit des Ganzen Hauses verzweigt sich in parallele Räume und parallel ablaufende lineare Eigenzeiten, die in der dichten Zeit der Uhr koordiniert werden müssen. Diese Koordninationsleistung parallel laufender Zeiten und gegeneinander laufender Handlungen bestimmt die Erzählung als Mythos höherer Ordnung, in dem das Gesetz der Wiederholung seine Dominanz über die Dynamik von Einmaligkeit und Variation bewahrt. Denn die widerstreitenden Handlungen werden im letzten doch für den Mechanismus des Ganzen funktional. Pikareske Heimlichkeit kann sich nicht durchsetzen, weil sie durch die Inszenierung von Gegenheimlichkeiten abgeschnitten wird. Dieser Funktionszusammenhang hat in der absolutistischen Allegorie RIEMERS bereits Gestalt ange"
Vgl. Corylo 1,23,76,37 - 78,30.
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Beers Corylo
nommen, wo die Räder der Uhr, die zwar wieder einander lauffend scheinen, im letzten doch einerley Ziel dienstbar sind.88 Damit bestätigt die homogene Zeit der Uhr noch einmal das Gesetz der Wiederholbarkeit. Als Mechanismus eines neuen affirmativen Mythos ist sie nicht von der Zeitform des Festes bestimmt, die in der Wiederholung des erinnerten Ereignisses noch dessen Einmaligkeit hervorhebt, sondern vom Zeittakt der Warenproduktion, die den Handelnden zum Ausführenden wiederholter und austauschbarer Abläufe macht.85 Zwar finden im Verlauf der Erzählung Feste statt, doch ist ihre Bedeutung als zeitlicher Einschnitt etwa im Falle der Hochzeit schon durch die Umstände unterhöhlt. Der Verbindung zwischen der Tochter des Hauses und ihrem Bräutigam ermangelt es jeder Einmaligkeit. Die Vermählung, die durch das Hochzeitsfest begangen werden soll, ist vielmehr schon von vornherein zur austauschbaren Funktion in wechselnden Beziehungen und Affairen verkommen. Die Frage nach dem Schelmen und seinem Verschwinden in verschlossenen Räumen und Nischen erschließt sich in der Rückschau einer vorläufigen Deutung. Ich habe zu Beginn gezeigt, wie Coiylo nach seinem Herausfallen aus dem Kollektiv auf sich selbst zurückgeworfen wird. Die Notwendigkeit des Überlebens in der Wildnis fuhrt ihm die eigene Lebenszeit in ihrer Bedrohung vor Augen und läßt ihn nach einem Platz in der Gesellschaft suchen. So wird Coiylo zum Schelmen, zum Außenseiter, der um seiner Selbsterhaltung willen mit seiner Umwelt kooperiert. Doch prägt sich dies im Handlungsraum des Edelhofes zunehmend in antipikaresken Gegenintrigen aus, die dem Interesse des Hausherren dienen. Das liegt daran, daß der Chronotopos des Romans sich im ersten Teil nicht zur Landstraße des Schelmen streckt, sondern zum Ganzen Haus schließt. Corylo ist auf andere Weise ein Diener vieler Herren als etwa Lazarillo. Statt der linearen Abfolge verschiedener Dienstverhältnisse ist Coiylo mit einem komplexen System widerstreitender Interessen konfrontiert, die ihn in Loyalitätskonflikte stürzen. Nachdem ihn die Hausfrau und ihre Tochter zum Treuebruch gegen den abwesenden Hausherrn verleitet haben, gelangt er unter den Einfluß des Schreibers, der im Interesse des Herrn hinter dessen Rücken agiert. Folglich formuliert sich die Selbstbehauptung des Schelmen hier nicht in eindeutigem Widerspruch zur Gesellschaftsordnung, sondern innerhalb der gesellschaftlichen Widersprüche. Corylo dient noch da, wo er den Blicken seines Herren entzogen ist, dem Interesse des Herren, der das Gesamtinteresse verkörpert. Der Konflikt zwischen Ich und Wir treibt den Schelmen in die Nischen der Selbsterhaltung und in die Einsamkeit der Selbstreflexion. Das Ich mag sich in der Innenschau der K
"
Vgl. RIEMER, Uber-Reicher Schatz-Meister 183. Vgl. WALTER BENJAMIN: "Ober den Begriff der Geschichte": Illuminationen, Ausgewählte Schriften I, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. 345) 1977, 251-261, hier 256-259.
Verschwinden des Schelmen im Räderwerk der Vertauschbarkeit
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memoria potientell allmächtig erscheinen, doch verbirgt sich in der Allmacht des Ich-Erzählers die partielle Ohnmacht des Handelnden, dessen Beobachtungen ihn allenfalls zu lokal wirksamen Aktionen ermächtigen. Indem der Schelm sich in Verstecken und Nischen verbirgt, enthüllt er die Verschlossenheit seiner Intentionen, die nur in Koordination mit übergeordneten Interessen handlungsrelevant werden. Dadurch wird das Versteck des Schelmen als Verschwinden des einzelnen in seiner Funktionalität verstehbar. Der Schelm sieht sich in seiner Isolation nicht etwa als unverwechselbare Person freigesetzt, sondern einem neuen Gesetz der Ordnung unterworfen. An die Stelle substantieller Einmaligkeit tritt das Gesetz der Funktion, das jedes Detail der Umkehrbarkeit und Beliebigkeit überantwortet. Diese Aushöhlung der Substanz betrifft zuletzt auch das Ganze Haus, das sich durch den neuen Mythos der Einheit im Zeichen des koordinierenden Uhrwerks noch einmal gegen sein Verschwinden zu behaupten versuchte. Doch atomisiert die Uhr jene Einheit, die sie herbeiführen und garantieren soll. Die homogene Zeit '"der Episoden, die jedem Possen ad infinitum einen beliebigen Gegenpossen anfügen können, hat die Grundlage des Ganzen Hauses, seine Dauer in den festen kollektiven Zyklen der agrarischen Wirtschaft, längst unterhöhlt. Dies deutet sich schon durch die zeitweilige Abwesenheit des Hausherren in der großen Stadt an, die die Autarkie des Hauswesens nach außen dementiert und seine Ordnung nach innen einer Umbesetzung der Funktionen überantwortet. Konsequenterweise führt der Wechsel vom bisherigen Haushalt in den neuen auch der Titelfigur die Austauschbarkeit der Verhältnisse und ihre unbefriedigende Balance zwischen den funktionalen Gegensätzen vor Augen. Coiylo erkennt, daß im Haus der jungen Eheleute keine rechte Einigkeit / kein rechter Friede / keine Liebe / keine Ruh zu finden sei, womit der Roman ein Gegenbild zur idealtypischen Beschreibung des Ganzen Hauses bei HOH91 B E R G entwirft. Die Zeitform des betriebsamen Wechsels, die ihn zu immer neuen Anpassungsleistungen und Positionswechseln zwingt, erlebt Coiylo als Entwertung der Zeit. Die eigene, unverwechselbare Lebenszeit wird in Diensten austauschbarer Herren vertan. Er bemerkt, daß es ihn verdrösse, seine Edle Zeit in einem so stätigen Zwitracht zwischen Hausherren und Hausfrau zuzubringen. Denn in solcher Confusen Ordnung balancieren sich zwar Gegensätze aus, doch wird der Diener in Loyalitätskonflikte gestürzt, die ihm nach und nach sein Hertz abfressen. Daraufhin faßt Corylo einen Entschluß, der in einer Flucht nach vorne besteht.92 Er tauscht seine Position vor Ort gegen ein Pferd, mit dem er sicherer und geschwinder fortkommen möchte, und begibt sich auf eine Reise nach 50 91 92
Vgl. BENJAMIN, "Ober den Begriff der Geschichte" 259. Vgl. Corylo 1,26, 84, 8-19. Vgl. Corylo 1,26, 84, 19-36.
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Beers Corylo
Paris um dort seine fortun zu suchen. Dieses Fortkommen, in dem sich das vage Ziel formuliert, sich in die Höhe zu schwingen, ist ein Gegenbild zum Herkommen des Helden vom Hof seiner Kindheit, das den Beginn der ersten Buches bildet. Nicht die Vertreibung aus dem Vertrauten, sondern die Möglichkeiten einer Welt, die weiter als zwey Meilen ist und in der es allenthalben gut Brod essen zu sein mag, motivieren nun die Bewegung des Schelmen ins Ungewisse. An die Stelle der geschlossenen mythischen Welt des Anfangs tritt nun ein zu erobernder Raum, der die Initiative des Handelnden herausfordert. Der Schelm beginnt, die Mechanismen für eigene Ziele zu nutzen, deren passiver Gegenstand er bislang war. Doch schon die Schlußepisode des ersten Buches konfrontiert den Helden wieder mit dem Gesetz der universalen Vertauschbarkeit.93 Nachdem er auf seiner Reise eingeschlafen ist, wacht er nachts in einer fremden Schlafkammer auf. Zwei schlagende Uhren bestätigen ihm, daß er sich in der geregelten Zeit seines bisherigen Lebens befindet, wenn auch an einem vertauschten Ort. Die konkrete Wahrnehmung des Uhrwerks, wodurch Corylo die ablauffenden Räder samt dem Gewichte vernehmen kann, und die ihm mit Glock Eins die exakte Bestimmung der nächtlichen Stunde ermöglicht, ändert nichts an seiner Orientierungslosigkeit. Ganz unmöglich ist es zunächst, eine nächtliche Gespenster-Erscheinung einzuordnen, die ihn erschreckt. Deshalb versucht Corylo am folgenden Morgen, sich raum-zeitlich zu orientieren. Er fragt den ersten, den er in dem Schloß-Hof erblickt, wie viel es auf der Uhr wäre und wie dieses Schloß hieße. Erst, als Corylo erfahrt, daß er einer Verwechslung zum Opfer gefallen ist, erschließen sich die Hintergründe des seltsamen Geschehens. Der Held ist nachts von einem Diener an Stelle eines Hausbewohners in Empfang genommen worden, der seine Ausritte zu einem nechts hierbey wohnenden Geliebten oft bezecht beendet, so daß er ohne weitere Umstände im Dunklen in sein Bett verfrachtet wird. Das nächtliche Gespensterspektakel erweist sich als Inszenierung des besorgten Cousins, der den leichtfertigen Verwandten von seinem Lebenswandel abbringen will. Schlußendlich hat das Abenteuer und der Schrecken gar nicht dem Helden selbst gegolten. Der erheiternde Streich erweist sich als bedeutungslos für seine eigene Geschichte und führt ihm lediglich seine Vertauschbarkeit noch einmal vor Augen. Mit seiner Reise in die Welt hat sich Corylo in ein Netz fremder Geschichten begeben, deren Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit für das eigene Leben zugleich den Status des Mythos für den Helden, seine Geschichte und die Erzählung seiner Geschichte markiert.
M
Vgl. Corylo I, 27, 85,2 - 88,25.
Straße des Landfahrers und Seitenwege des Erzählens: Corylos Suche nach einem Platz in der eigenen Geschichte Der zweite Teil von BEERS CO/^/O-Roman zeigt den Helden bereits zu Beginn mitten in seiner angefangenen Reise nach Paris begriffen.1 Diese Dynamik des Anfangs deutet auf eine strukturelle Dynamisierung der erzählten Welt hin: Räumliche Statik der Verhältnisse weicht ihrer Verzeitlichung. Die zielgerichtete Bewegung des Helden bedeutet, daß er begonnen hat, seine eigene Lebensgeschichte bewußt zu gestalten und die Ursprünge seiner Lebensgeschichte zu erforschen. Und am Schluß macht Corylo gar den Schritt vom erlebten Geschehen zur Erzählung, indem er beginnt, sein Leben aufzuzeichnen. Der Held versucht, aktiv mit den beiden Aspekten des Mythos, den Sachverhalten und dem Bericht über die Sachverhalte, umzugehen und seinen Platz innerhalb der eigenen Lebensgeschichte zu bestimmen. Es zeigt sich aber sofort, daß er auch auf dieser Reise mit kollektiven Strukturen konfrontiert wird, die sowohl den Verlauf seines Weges als auch dessen erzählenden Nachvollzug beeinflussen. Corylo findet sich in verschiedenen handelnden und erzählenden Gesellschaften wieder, so daß die Frage nach seinem Platz in der eigenen Lebensgeschichte zur Frage nach seiner Beziehung zu den übrigen Figuren und ihren Geschichten wird. In welchem Verhältnis, so wäre die Leitfrage der Untersuchung vorläufig zu formulieren, steht die im Duktus der Haupterzählung ablaufende Lebenszeit des Helden zu der Zeit der Binnenerzählungen, die von diesem erzählerischen Hauptweg wegfuhren, seine 'Zeit vertreiben', seine Welt kontrastieren und Undurchschaubares nachträglich motivieren? Welche Rolle kommt dem Helden in diesem Beziehungsgeflecht fremder Geschichten zu, wo ist er am Ende noch zu finden? Dies betrifft unmittelbar die Frage nach der pikaresken Form, in der ein Ich-Erzähler sich ja vor allem seiner eigenen Geschichte zu vergewissern sucht. Die Isolation des Helden in einer Welt fremder Geschichten läßt sich nicht nur an der Großstruktur der Erzählsequenzen ablesen, sie bestimmt auch die raum-zeitliche Organisation des Geschehens im Kleinen und seine erzählerische Umsetzung auf der Satzebene. Bereits der erste Satz des zweiten Teils vermittelt die Reise des Helden mit seiner Perspektive auf den bereisten Raum: AUf dieser meiner angefangenen Reise / war mir nichts angenehmers zusehen / als der Unterschied so mancherley Städte / Schlösser / und anderer vornehmen Plätze und Vestungen [...]} 1 2
Vgl. Corylo II, 1, 101, 6. Corylo II, 1, 101,6-8.
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Der Satz dementiert die Evidenz, die er behauptet, denn eine Anschaulichkeit der gesehenen Orte stellt sich nicht ein. Die konkreten Gegebenheiten vor Ort werden nicht beschrieben. Nicht einmal Ortsnamen werden genannt, die der Leser in seinem Kopf zu einer eigenen mental map zusammenfügen könnte.3 Syntaktisches Objekt des Sehens sind nicht die Orte selbst, sondern der Unterschied zwischen ihnen, der sich für den Leser aber nicht realisiert, da ein Unterschied ohne die vorherige Bestimmung des Unterschiedenen nicht zustande kommt. Dem Leser fehlt ein gemeinsamer Gesichtspunkt mit dem Erzähler, von dem aus sich in gestaffelten Kontrasten das Bild einer Landschaft ergäbe. Kartographie der Welt ohne die Erfahrung einer eingenommenen Realitätsperspektive führt zum Zusammenbruch der Zeichen. Denn sie definieren sich zwar durch ihre Differenz, doch Zeichen, die nicht auf Realität referieren, können aus sich heraus auch keine Bedeutung hervorbringen.4 Noch die fiktionale Abweichung von der Realität stellt einen Bezug zu ihr her. Dieser Bezug zur Welt kommt dem Erzähler bereits zu Beginn seines ersten Satzes abhanden. Schon zuvor hat er sich an der raum-zeitlichen Realität uninteressiert gezeigt, da sie sich nicht notwendig mit der von ihm erzählten Geschichte verbindet: ritten [...] mit einander zurück / und schwätzeten unter wegens zur Verkürtzung der Zeit unterschiedliche Begebenheiten / davon ich dem geneigten Leser wenig vermelden will. Dann auf dergleichen Land-Reisen verwechslen sich die diseurs tausendfältig / und wird von einer Materia auf die andere gefallen / daß also das erzehlte entweder leichtlich wieder vergessen / oder sonsten mit kurtzem stillschweigen kan übergangen werden. Weil ich auch hier keine explication über eine Land-Karte schreibe / verhoffe ich den Leser mit vielen Dorffschaften / Wäldern / Landstrassen / Stätten / Clöstern / Schlössern / Fisch-Wassern / Bergen / Flüssen / Seen / Teichen / Marcktflecken oder mit andern Drecken nicht zu beschweren / sondern befinde mich vielmehr gegen denselben verbunden die folgende Geschieht [...] zu erzehlen [...J.5
Zweierlei fällt hier ins Leere. Der bereiste Raum ist für die Geschichte des Erzählers ebensowenig von Bedeutung wie die ständig wechselnde Materia der Unterhaltung, die durch ihre Beliebigkeit einen Substanzverlust erleidet. Alles ist gleich wichtig und gleich unwichtig, also gleichgültig. Unterschiede ohne substantiell Unterscheidendes fallen in eins, wenn sich nicht zufallig die 3
4
'
Vgl. zur Indikation der Realität durch Ortsnamen ALEXANDER HONOLD, Die Stadt und der Krieg, Raum- und Zeitkonzeption in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" = MusilStudien 25, München (Fink) 1995, 42. Insofern bedeutet Perspektive eben nicht die Abhängigkeit von fremden Versionen ad infinitum, sondern die Aneignung der Welt in Auseinandersetzung mit fremden Perspektiven. Kartographie der Welt, will sie nicht illusionär werden, besteht nicht in der Differenz der Zeichen untereinander, sondern in ihrem differenzierenden Bezug auf Welt Die hier von mir kritisierte Position bezieht MATTHIAS BAUER, Im Fuchsbau der Geschichten, Anatomie des Schelmenromans, Stuttgart und Weimar (Metzler) 1993, 8. Corylo I, 23, 75, 29 - 76, 1.
Zeit des Helden und Zeit der Parallelerzählungen
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Gelegenheit ergibt, das Erlebte in eine kurzweilige Geschieht zu ver- wandeln. Allein die Zeitlichkeit der Erinnerung bildet eine Linie, die sowohl die Selbstvergewisserung des Helden als auch das Referat des Erzählers durch die zur Kulisse geschrumpfte Welt des Romans zieht. Dabei stellt sich nachträglich ein Unterschied zwischen substantiellen und akzidentellen Erinnerungen her, der sich entlang der Frage nach dem raum-zeitlichen Ursprung des Helden und seiner Geschichte auftut. Der Eingangssatz des zweiten Teils beschreibt die Gedancken des Helden einerseits als Kurzweil, die die laufende Zeit des Reiseweges vertreibt, anderseits aber als Sorgfältigkeit, die den Ausgangspunkt der Reise in den Umständen der eigenen Geburth zu bestimmen sucht: [...] ich delectirte mich auch auf solcher noch von denen übrigen Gedancken der vor erwehnten Begebenheiten / und wüste mir die Zeit sehr kurtzweilig zu vertreiben / nur dieses war meine gröste Sorgfältigkeit / daß ich nicht wissen noch erfahren können / wer doch mein Vater gewesen / oder aus was vor einem Geschlechte ich entsprossen / so war mir auch ingleichen der Orth meiner Geburth gantz unbekand / also / daß ich nicht die geringste Anzeigung hatte / wie oder durch was vor eine Geschieht ich in die Welt gekommen [ · ] 6 Die pikareske Situation des isolierten Helden, die Unmöglichkeit, in der Welt einen Platz zu finden, solange sich nicht mit der geklärten Vorgeschichte des Helden auch seine Stellung in der Welt bestimmen läßt, findet hier ihre Entsprechung in einer Weltlosigkeit des Erzählens. Nicht die Auseinandersetzimg mit seiner aktuellen Umgebung formt das Selbstbild des Helden, sondern die Erforschung einer Vergangenheit, die nur noch in den verschiedenen Versionen seiner Herkunftsgeschichte gegenwärtig ist. Die Frage nach dem Platz des Helden in der Welt wird zur Suche nach der Geschieht, durch die er in die Welt gekommen ist, zur Erkundigung nach dem Ursprungsmythos mithin, der die Position des Schelmen in der Welt begründen und sichern könnte. Die Beliebigkeit und Unvermitteltheit dessen, was dem Helden zur Klärung und Konturierung seiner Geschichte zu Gebote steht, drückt sich im ironischen Gestus aus, mit dem mythologische Versatzstücke zur Biographie in Beziehung gesetzt werden: [...] so konte ich auch nicht glauben / daß ich aus einem Eichen-Baum oder Haselnuß geschloffen / ob ich schon mit Nahmen Corylo hiesse / und das ein Beer mein Vater seyn solte / konte auch nicht miiglich seyn / denn ich war ein Mensch als ein ander Mensch / [...] und dahero geriethe ich in tausend vertüffte Gedancken / und wüste mir weder zurathen noch zuhelffen.1 Das phantasiereiche Spiel der Ursprungsmythen motiviert sich gerade aus der Ursprungslosigkeit, die an die Stelle des unterscheidbaren Ausgangspunktes '
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Corylo IL, 1,101, 8-15. Corylo II, 1,101,16-22.
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die Beliebigkeit der Versionen setzt. Auch vom Helden und seiner ungeklärten Geschichte her begründet sich das beliebige Verhältnis, das er zu der raum-zeitlichen Umgebung seiner Reise unterhält. Vergeblich versucht Corylo, den Orth seiner Geburth zu erfahren, der in einer ständisch-aristokratischen Gesellschaft der Person ihren Platz in der Gesellschaft zuweist. Nicht umsonst verbindet sich das Wort Adel mit der Vokabel Odal, die soviel wie 'Aufenthaltsort, Heimat, Eigentum, Grundbesitz, Stammgut' bedeutet.8 Der Ort der Herkunft verschafft der Person eine Position in der Welt. Und umgekehrt macht das Fehlen des Ursprungsortes den Bezug eines Standpunktes unmöglich, der erst eine Perspektive auf die Welt ermöglicht. Ortlos im Wirklichen befindet sich der Held in einem Zustand schwebender Fiktionalität zur Welt seiner Geschichte. Dies wird von der Erzählerinstanz ironisch dadurch unterstrichen, daß der reale Autor der Figur, Beer, als innerfiktionale Variante der Vaterschaft zurückgewiesen wird.9 Erst über die allgemeine Erfahrung seines Menschseins sichert er sich eine vorläufige Identität, die aber dem gesellschaftlichen Gesetz des Tausches und der Vertauschbarkeit unterworfen bleibt, wie es sich in der beliebigen Wiederholbarkeit und Variierbarkeit der Geschichten ausdrückt. Coiylo ist ein Mensch als ein ander Mensch, woraus er einerseits seinen Anspruch ableitet, wie jeder andere einen Platz im Leben zu haben. Andererseits führt ihm aber die Tatsache, daß er ein Exemplar wie alle anderen ist, seine Vertauschbarkeit vor Augen. Substantiell bleibt an dieser Stelle nur das Insistieren auf der unbeantworteten Frage nach dem eigenen Ursprung, der ihn unverwechselbar machen könnte. Substanz wird zur Utopie, in deren Horizont sich der Weg des Helden durch die Kulissen der Erzählung, ihre wechselnden Varianten und Versionen vollzieht. Die schemenhafte Unwirklichkeit der Romanwelt, in der Corylo keinen Platz finden kann, motiviert sich durch die Unbestimmtheit seiner Identität. Ein Mensch ohne Ursprung, ohne Wissen vom Orth seiner Geburth, kann keinen Ort in der Welt finden, so daß jeder Ort beliebig und austauschbar wird. Wenn die Beziehung zwischen Held und Welt von einer gültigen Version der eigenen Lebensgeschichte abhängt, wird die Ich-Aussage des Schelmenromans problematisch, da Coiylo bis zum Schluß der offenen Frage nachgeht, wer dieses Ich ist. Seinen vertauschbaren Identitäten entsprechen auf der Ebene der Romanhandlung eine Beliebigkeit der Orte und auf der Ebene der Romanerzählung eine Stimmenvielfalt von Geschichten, die das Ich aus dem Zentrum verdrängen. Corylo entlarvt als herkunftsloser Außenseiter die Äußerlichkeit der Ordnung, deren Willkür sich gerade in seiner Außerordentlichkeit versinnbildlicht. Diese Problematik fuhrt in der Erzählung der Lebensgeschichte zu einer Eigendynamik, die das pikareske Muster eines in sich geschlossenen Lebens* '
Vgl. FRIEDRICH KLUGE, Etymologisches Wörterbuch zur deutschen Sprache, Berlin/New York (de Gruyter) 21 1975, s.v. Adel. Die Romanfigur meint natürlich einen mythologischen Bären, doch auf der Textebene wird der Autor ins Verwirrspiel der Versionen hineinverwoben.
Zeit des Helden und Zeit der
Parallelerzählungen
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laufes von seinen inneren Widersprüchen her durchbricht. Schon im ersten Teil waren Corylos Handlungen weniger von seinen inneren Voraussetzungen motiviert als von der Funktion, die ihm in der Ordnung des Ganzen zufallig zukam. Bald war er Werkzeug des Hausherrn, bald Instrument der ihn betrügenden Ehefrau, bald Assistent des Schreibers, der im Interesse des Hausherrn vor diesem Heimlichkeiten vorschützte. Im zweiten Teil des Romans wird diese Äußerlichkeit der Position als Beliebigkeit der Versionen und Perspektiven durch die erzählende Rede anderer Figuren verstärkt. Dabei nähert sich die Ich-Erzählung des Schelmenromans zwei konkurrierenden Spielarten des Romans an: dem französischen Roman comique, der von einem Wechselspiel zwischen auktorialem Arrangement des Ganzen und aktualisierten Figurenperspektiven und Binnenerzählungen lebt, und der auktorialen Form des Politischen Romans, der in der Zuweisung von Handlungsrollen die äußerlich gewordene Ordnung als vernünftige zu erweisen sucht. Die Annäherung an diese beiden verwandten Genres hat sowohl äußere als auch innere Gründe. Zunächst einmal wurde der Corylo Roman von diesen beiden Formen angeregt, weil sie BEER durch die Politischen Romane CHRISTIAN WEISES und JOHANN RIEMERS und den komisch-realistischen Francion-Roman des CHARLES SOREL10 vertraut waren. RIEMER war ein Weißen10
SOREL hatte Nachfolger in PAUL SCARRON und ANTOINE FURETIÈRE . Die Hauptwerke dieser drei Autoren, SORELS Francion, SCARRONS Roman comique, und FURETIÈRES Roman Bourgeois, sind versammelt in dem Band Romanciers du XVIΓ siècle: Bibliothèque de la Pléiade, hg. von ANTOINE ADAM, Paris (Gallimard) 1 9 5 8 . Von Sorels Francion sind drei verschiedene Fassungen ( 1 6 2 3 , 1 6 2 6 und 1 6 3 3 ) erschienen. Ein Reprint der Erstfassung lag mir vor. CHARLES SOREL: Histoire comique de Francion, Fac-similé de l'édition originale de 1 6 2 3 , hg. von JEROOM VERCRUYSSE. Geneve/Paris (Slatkine) 1 9 8 2 . Im folgenden zitiere ich durch hinzugefügtes ( 1 6 2 3 ) . Die letzte Fassung lag mir in einem Druck des 17. Jahrhunderts vor. LA VRAYE HISTOIRE COMIQVE DE FRANCION. Composée par jV DE MOVLINET, SIEUR DV PARC, Gentilhomme Lorain. Amplifiée en plusieur endroits, & augmentée d'un Livre, Suivant les Manuscrits de l'Autheur. Royen/Paris 1 6 6 3 . Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: Fe 2 0 2 / 5 . Im 1 7 . Jahrhundert erschien bereits eine Verdeutschung des Francion, die offenbar auf der letzten Fassung beruht. Warhafftige vnd lustige Histori / Von dem Leben des Francion. Auffgesetzt Durch Nielas von Mulinet Herrn zu Parc / einem Lottringisehen von Adel. An vielen Orten auß des Scribenten seinem mit eigner Hand geschriebenem Buch / vermehret vnd ergrössert; [...]. 1 6 6 2 . Benutztes Exemplar: Yale Library, Mikrofilm der Sammlung Faber du Faur, Nr. 917. Auf der Erstfassung, unter Hinzufügung der in den späteren Fassungen ergänzten Passagen, beruht eine moderne deutsche Obersetzung. CHARLES SOREL, Wahrhaftige und lustige Historie vom Leben des Francion. deutsch von CHRISTINE HOEPPENER, Berlin (Rütten & Loening) = Frankfurt am Main (Büchergilde Gutenberg) 1 9 6 8 . Die Beziehung dieses Romans zur Novela picaresca beleuchtet VOLKER KAPP, "Sorels Francion und die Doppelperspektive des spanischen Schelmenromans": II picaro nella cultura europea = Apollo 3 , hg. von ITALO MICHELE BATTAF ARANO und PIETRO TARAVACCI, Trento (Luigi Reverdito) 1 9 8 9 , 1 7 3 - 2 0 2 . Zum Einfluß des Romans auf GRIMMELSHAUSEN und BEER vgl. MANFRED KOSCHLIO, "Das Lob des Francion bei Grimmelshausen": Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 1 ( 1 9 5 7 ) 3 0 - 7 3 , und HANS GEULEN, Erzählkunst in der frühen Neuzeit, Zur Geschichte epischer Darbietungsweisen und Formen im Roman der Renaissance und des Barock, Tübingen (Rotsch) 1 9 7 5 , 2 0 1 - 2 0 7 . GEULEN identifiziert jedoch vorschnell die deutsche Barockfassung mit SORELS Intentionen. Auch die beiden anderen komisch-realistischen Romane liegen in modernen deutschen Obersetzungen vor. PAUL SCARRON. Die Komödianten, Ein komischer
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felser Mitbürger BÄHRS, lebte also in ähnlichen Verhältnissen, auf die der Politische Roman und der Schelmenroman in unterschiedlicher Art reagieren. Und der Francion muß BEER als formales Experiment derart beeindruckt haben, daß er den Titel der Übersetzung von 1668, Vollkommen Comische Historie des Francion schon im Titel Die vollkommene Comische Geschieht Des CORYLO zitiert." Roman comique und Politischer Roman bilden ein nachbarschaftliches Terrain, auf das der Schelmenroman in der Krise seiner Ich-Form ausgreift. Die Frage nach dem Platz des Helden in seiner Geschichte, die sich zugleich als Frage nach der pikaresken Ich-Form stellt hat mithin das zeitgenössische Literatursystem zum Horizont. Das heißt nun aber nicht, daß sich der Schelmenroman unversehens in ein anderes Genre verwandelt. Er inkorporiert sich lediglich Spielmöglichkeiten anderer Genres, um sich zugleich durch die spezielle Aneignung solcher Formen von den konkurrierenden Gattungsmustern abzugrenzen. Schon im ersten Teil sah sich Corylo an den Rand des Geschehens gedrängt, versetzt doch die Erzählung den Helden aus der Rolle des Protagonisten in die Funktion des peripheren Ich-Erzählers, der sich als Beobachter die Ordnung seiner Umgebung anzueignen hat und als Handelnder den Initiativen überlegener Personen lediglich folgt und damit zu einem Element in fremden Plänen wird.12 Nicht die eigene Geschichte, mit der der Schelm sich seiner selbst vergewissert und gegen die Welt behauptet, steht im Vordergrund, sondern die Geschichte seiner Fremdbestimmung. Dem entspricht die Öffiiung der pikaresken Form zu Gattungen, in denen ein auktoriales Arrangement die Handlungen vieler - gleich wichtiger und damit auch gleichgültiger - Figuren miteinander verknüpft. Bereits die komplexe Handlung um den betrogenen Hausherren auf dem Edelschloß im ersten Teil des Corylo hat ein Gegenstück in CHARLES SORELS Roman Histoire Comique de Francion. Der französische Roman übertrifft BEERS Erzählung jedoch an Komplexität, weil er nicht nur die Handlungsstränge um einen eindringenden Liebhaber und seine Konkurrenten miteinander koordiniert, sondern zugleich ständig die Figurenperspektive wechselt, aus der das zunächst rätselhafte Geschehen wahrgenommen wird. Erzählt wird in der Er-Form, die einen Wechsel der Erzählung an verschiedene Orte der Handlung und die Beschreibung aus wechselnden Perspektiven ermöglicht. Die Irrtümer, Mutmaßungen und Überraschungen des Liebhabers Francion, des betrogenen Hausherren, der Hausfrau und Liebhaberin Laurette, ei-
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Roman, deutsch von HELGA COENEN, Stuttgart (Reclam UB 7 9 9 9 ) 1 9 8 3 . ANTOINE FURETIÈRE, Der Bürgerroman, Le Roman Bougeois, deutsch von WOLFGANG TSCHÔRKE, Basel/Frankfurt am Main (Stroemfeld/Roter Stern) 1992. Vgl. MATTHIAS BAUER, Der Schelmenroman, Stuttgart / Weimar (Sammlung Metzler 282) 1994, 130. Vgl. SOLBACH, Evidentia und Erzähltheorie 136-139.
Sorels Histoire comique: Raum und Zeit des Subjekts
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ner in sich wiederum zerstrittenen Gruppe von Räubern und des Personals der umliegenden Ortschaft wechseln in atemberaubendem Tempo miteinander ab. Den vielfaltigen Akteuren entspricht eine Erzählweise, die aus einer Fülle von jeweils beschränkten, sich gegenseitig ergänzenden und dementierenden Perspektiven das Geschehen einholt und damit zunächst die Ambivalenz nicht nur des Handelns sondern auch der handlungsleitenden Erkenntnis unterstreicht. Der Roman wird zur multiperspektivischen Annäherung an die Wahrheit unter den Vorzeichen des Trugs.n Diese Multiperspektivität weicht in BEERS Corylo-Roman einer in sich unstimmigen Perspektive, die den Schelmen als erlebendes und erzählendes Ich zum Exempel der gestörten Ordnung macht. Denn Corylo verkörpert als Handelnder verschiedene Rollen, die in SORELS Roman von unterschiedlichen Personen ausgefüllt werden. Bald ist Corylo Ehebrecher, bald Rächer der gebrochenen Ehe. Interessanterweise erfüllt in BEERS Corylo und in SORELS Francion die unterschiedliche Erzählform und das unterschiedliche Erzählverhalten genau die Funktion, die man von ihr zunächst nicht erwartet. Die Ich-Form im Corylo, die sich mit einer Konzentration auf den Wirklichkeitsausschnitt des Helden verbindet, führt nicht zur Aufwertung des erzählenden und erzählten Ich, sondern verweist ihn vielmehr auf seine verschwindend geringen Handlungsmöglichkeiten und die Bedeutungslosigkeit seiner Person. Ganz anders die Er-Form im Francion. Dort bereitet die turbulente Unübersichtlichkeit der Eingangssituation, die den Haupthelden als einen Akteur unter vielen zeigt, eine schrittweise Auflösung der Rätsel vor, die den Helden sukzessive die Bedeutung der verwirrenden Vorgänge und die Identität der unbekannten Personen erkennen läßt. Sinn erhält die komplexe Romanwelt bei SOREL erst durch die Deutungen und Handlungen der Hauptperson, die am Ende des Romans einen Überblick über die verschiedenen Affairen gewonnen hat. Francion läuft am Schluß in den sicheren Hafen der Ehe mit einer Frau ein, die von den amoureusen Abenteuern der Romanhandlung weitgehend unberührt geblieben ist, wodurch alle Unsicherheit einer Klärung der Verhältnisse weicht. Damit erhält in SORELS Francion wie im Idealroman des Barock das zunächst ungeordnet scheinende Romangeschehen einen festen sinnstiftenden Horizont. Das verwirrende Geschehen erweist sich als kunstvoll angelegtes Rätsel, das sich am Schluß für Francion glücklich auflöst. Francion hat wie Corylo Rivalen und Nebenbuhler, doch sind sie für den Helden des Roman comique keine wirklich ernstzunehmenden Widersacher,'4 Demgegenüber werden die Abenteuer Corylos zu wirklichen Gefährdungen des Helden, schon weil ihm der Schutz vornehmer Abstammung fehlt, die Francion einen weitgehend unangefochtenen Lebensweg garantiert. Gerade die Szenen, die in ihrer Motivik an den französischen Roman angelehnt sind, " M
Vgl. KAPP, "Sorels Francion und die Doppelperspektive des spanischen Schelmenromans" 197. Vgl. BAUER, Der Schelmenroman 146/147.
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haben eine ganz unterschiedliche Tragweite. Der zweite Teil des CoryloRomans weicht auf den französischen Schauplatz des Roman comique aus, um den Helden dort in Situationen vorzuführen, die dieser Romantradition eigen sind. Ein Abenteuer, das Corylo als Sprachmeister in Diensten des französischen Marquis zu bestehen hat, zeigt motivische Anklänge an Episoden in SORELS Francion. Corylo begleitet den Sohn des Marquis, den er zu unterrichten hat, bei einem nächtlichen Besuch in ein Wirtshaus, wo der junge Adlige sich unbemerkt von dem Wirt mit dessen Tochter einlassen möchte. Corylo hat hier lediglich zu assistieren. Seine funktionelle Austauschbarkeit wird dadurch unterstrichen, daß er zu Täuschungszwecken Kleidung und Rolle mit dem jungen Edelmann tauscht, der sich als Laquey offenbar ungezwungener und unerkannter bewegen zu können glaubt. Die Intrige und ihr beinahes Scheitern werden sorgfältig durch die räumlichen Umstände innerhalb des Schlafraumes bedingt, den Corylo und sein Begleiter sowohl mit dem Wirt und seiner Frau als auch mit deren mannbarer Tochter zu teilen haben. Das Ehebett der Eltern ist an einer Wiege kenntlich, die Corylo jedoch im nächtlichen Dunkel verstellt, da er sich den Wirtsleuten nähert, um in ihrem Nacht-Geschirre sein Wasser abzuschlagen. Deshalb verliert der junge Liebhaber in der stockfinsteren Kammer die Orientierung und landet nach erfolgreicher Vereinigung mit der Tochter ausgerechnet im Bett des Wirtes. Sein triumphierendes Bekenntnis gelangt an den falschen Adressaten: "Corylo", sagte er zu dem Wirth / und stiese ihn zugleich in die Seite / "ich habe den Wirth jämmerlich betrogen".™ In dieser Situation wird Coiylo initiativ, allerdings nur im Rahmen des strengen Befehls, die Interessen seines adeligen Schützlings und damit seine eigene Existenz zu bewahren: "Geliebter Freund / mein Laquey hat gar eine sondere Natur / denn Abends und in der Nacht stehet er unversehens im Schlaff auf / und gehet in dem Traum von einem Ort zum andern erzehlet auch in solchem gantze Historien ".16
Der in täuschender Absicht gegebene Hinweis auf den angeblichen Traum und die erträumten Historien stellt die motivische Verbindung zu SORELS Francion her, in der sich zugleich die Differenz der Formen andeutet. Zu Beginn des zweiten Buches erzählt der französische Roman nämlich, wie der Liebhaber Francion in einer nächtlichen Herberge die alte häßliche Agathe umarmt, die er im Traum für seine geliebte Laurette hält.17 Diese irrtümliche Umarmung erweist sich insofern als poetische Wahrheit, als Agathe in ihrer Jugend der schönen Laurette geglichen hat und nun als deren Lehrmeisterin die Geschichte ihrer Schülerin erzählen kann. Für den Titelhelden Francion 15 16
17
Corylo II, 3, 109, 16/17. Corylo II, 3, 109, 28-31.
Vgl. SOREL, Histoire comique de Francion (1623) II, 109-118; La vraye histoire comique de Francion (1663) II, 51-55; Histoire comique de Francion: Romanciers du XXX siècle II, 100-103; Warhafftige vnd lustige Histori (1662) II, 80-85; Wahrhaftige und lustige Historie vom Leben des Francion
(1968) II, 45-47.
Sorels Histoire comique: Raum und Zeit des Subjekts
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ist die nachgeholte Vorgeschichte von Belang, weil er sich nun ein besseres Bild von der Frau machen kann, der er sich unter den turbulenten Umständen der Schloßszene im ersten Buch genähert hat. Zudem bildet die irrtümliche Umarmung eine Spiegelszene zu Francions erstem Liebesabenteuer, das er später erzählen wird. Die von ihm umworbene junge schöne Magd hatte ihm nämlich in das nächtlich dunkle Zimmer ihre alte Kollegin geschickt, mit der er in seiner Einbildung, die junge Magd vor sich zu haben, eine leidenschaftliche Nacht verbracht hatte. Dadurch war dem jungen Francion die Macht der subjektiven Phantasie vor Augen geführt worden.18 Doch nicht nur die eingeholte Vergangenheit ist bei SOREL im letzten auf den Haupthelden und seine Subjektivität bezogen. Alle zukunftsandeutenden und zukunftswirksamen Reden und Handlungen erhalten ihre Funktion durch den Bezug auf Francion. So öffnet die Episode mit Agathe den Raum der Erzählung für weitere ergötzliche Geschichten, die ihren Fluchtpunkt im Protagonisten haben. Im folgenden erzählt Francion nämlich den Traum, in dessen Verlauf er die alte häßliche Agathe irrtümlich geküßt hat. Dieser Traum mit seiner grotesken sexuellen Bildlichkeit bildet einen Mythos, dessen Bedeutung sich sukzessive durch die noch folgenden Handlungen des Haupthelden erschließt und damit zu einem Instrument für die Analyse des Subjekts werden kann.19 SORELS Francion gewährt seinem Helden, was BEERS Corylo seinem Protagonisten gerade verweigert, daß er sich nämlich in vergangenheitsaufhellenden und zukunftsandeutenden Erzählungen seines Platzes im Leben versichert. Für seine Titelfigur hält SORELS Francion einen stimmigen Mythos bereit, der ihm die eigene Existenz erklärt und ihn zu selbstbewußtem Handeln ermutigt. Die Verschränkung von vergangenheitsintegrierender und zukunftswirksamer Rede ist bei SOREL ganz auf das erlebende und erkennende Subjekt hin organisiert. Deshalb dient noch die Theatralik, mit der in SORELS Francion Wiederkennungen inszeniert werden, dazu, alles für die Hauptperson zum Besten zu wenden. Als Francion in dem Schloßherren, dem er seine Lebensgeschichte erzählt, eine Jugendbekanntschaft wiedererkennt, die ihm damals Geld geraubt hatte, stellt sich der ehemalige Dieb und heutige Schloßherr zunächst zornig und auf Rache gesinnt. Doch die Gefangenschaft Francions im Gemach auf dem Schloß dient nur dazu, ihn zu überraschen und ihn unter theatralischen Umständen wieder mit seiner geliebten Laurette zu vereinigen. Statt zu seiner Hinrichtung wird er von dem pompös inszenierten Gericht, vor Vgl. SOREL, Histoire comique de Francion (1623) IV, 464-469; Histoire comique de Francion: Romanciers du XXX" siècle IV, 211/212; Wahrhaftige und lustige Historie vom Leben des Francion (1968) IV, 165-167. In der späteren Ausgabe, La vraye histoire comique de Francion (1663), und in der barocken Verdeutschung, Warhafflige vnd lustige Histon (1662), fehlt diese Episode. Dies mag der zunehmend moralisierenden Umarbeitung des Erstdrucks geschuldet sein. Vgl. hierzu GERHARD GOEBEL, Zur Erzähltechnik in den "Histoires comiques" des 17. Jahrhunderts (Sorel - Furetière), Phil. Diss. (FU Berlin) 1965, 41 u.ö. Vgl. KAPP, "Sorels Francion und die Doppelperspektive des Schelmenromans" 195.
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Beers Corylo
dem er im griechischen Gewand zu erscheinen hat, einem festlichen Gelage überantwortet, das ihn mit der ersehnten Laurette zusammenführt.20 Der anfangliche Schrecken löst sich in eine heitere Maskerade auf. Ganz anders in Beers Corylo. Hier wird die nächtliche Verwechslungskomödie zusammen mit der darauf folgenden Erzählung vom schrecklichen Ende Perianders zur lebensgefährlichen Bedrohung für den Helden, der er sich nur durch Flucht entziehen zu können glaubt. Wegen der von dem jungen Marquis geschwängerten Wirtstochter werden bereits Ermittlungen angestellt, die - wie das über die Parallelfigur Periander erzählte Exempel belegt - für die Beteiligten tödliche Folgen haben können. Das Liebesabenteuer hat mögliche Konsequenzen, die in der Hinrichtung Perianders in einem geheimen geschlossenen Theater chronotopische Gestalt annehmen. Periander, der die Tochter seiner französischen Gastgeber geschwängert hat,2' wird zur Strafe tieff in der Nacht vor einer düsteren Theaterkulisse hingerichtet. Die verschlossene Gutsche, in der der Henker zum Schauplatz der Hinrichtung transportiert wird, und die allegorische Darstellung des Todes mit einer Sense und Sand-Uhr auf der Theaterkulisse bestimmen den Raum des Geschehens als bedrohliche Enge, die durch rigoros exekutierte Verhaltensnormen begrenzt wird.22 Die verschlossenen Räume, die Theaterkulissen und die allegorischen Requisiten dienen nicht - wie in SORELS Francion - einer heiteren Inszenierung, die das Leben als fröhliches Spiel erscheinen läßt, sondern verstärken die Erfahrung des Ein- und Ausgeschlossenseins, der Entfremdung und der Vertauschbarkeit. Denn für Corylos Handeln spielt nicht so sehr die Frage nach der moralischen Berechtigung der Normen eine Rolle, die durch die Hinrichtung Perianders durchgesetzt werden. Als machtloser Teil des Geschehens hat er lediglich dafür zu sorgen, daß er niemals auf der Seite der Verurteilten angetroffen wird. Das blutige und traurige Spectacul wird zur absurden Comoedie, deren Ausgang Coiylo nicht erwarten will, weil er ihm anhand des parallelen Schicksals von Periander vorhersehbar erscheint. In dieser Vorhersehbarkeit des Ausgangs und in der Vertauschbarkeit der Rollen zeigt sich die Bedeutung der Theatermetapher für Coiylo. Die Beliebigkeit seiner Rolle findet ihren Ausdruck darin, daß er als ehemaliger Gegenspieler Perianders nun beinahe dessen Schicksal zu teilen hat. Von SORELS Histoire comique trennt B E E R S Corylo mithin die Uneibittlichkeit der Realitäten sowie die Machtlosigkeit und Bedeutungslosigkeit des Helden. Diese Macht- und Initiativlosigkeit bildet auch eine Grenze zum Politischen Roman RIEMERS, der ebenfalls mit einer nächtlichen Verwechslungskomödie 20
21 22
Vgl. SOREL, Histoire comique de Francion (1623) VI, 764 - VII, 778; La vraye histoire comique de Francion (1663) VII, 384 - VIII, 393; Histoire comique de Francion: Romanciers du XXX" siècle VI, 304 - VII, 308; Warhafflige v'nd lustige Histori (1662) VII, 511 - VIII, 523; Wahrhaftige und lustige Historie vom Leben des Francion (1968) VI, 272 - VII, 279. Vgl. Corylo II, 12, 129, 11 - 130, 6. Vgl. Corylo
II, 6, 113, 1 3 - 7 , 1 1 5 , 3 5 .
Riemers Politischer Roman: Herrschaft über Raum und Zeit
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aufwartet. Im Politischen Maul-Affen nutzt der Schüler Philurt eine größere Festlichkeit, um mit den Schlafgästen in das Haus eines Kaufmannes zu gelangen, dessen Tochter Amalia er begehrt.23 Auch hier wird eine vor dem Bett stehende Wiege zur Ursache der Verwechslung, so daß Philurt statt des Mädchens ihren Stiefvater in die Arme schließt.24 Es kommt zur Rauferei, bei der Philurt den Mann mit einem Biß in die Nase derart entstellt,25 daß der aus Angst vor der Schande ein Abkommen mit seinem Beleidiger schließt, Stillschweigen über den Vorfall zu bewahren.26 RIEMER läßt seinen jungen Helden trotz der offensichtlichen moralischen Verfehlung glimpflich davonkommen, da er ihn erst nach diesem Abenteuer auf die lehrreiche Suche nach Maulaffen, nach einfaltigen überheblichen Leuten, schicken will. Die erzählerische Anschaulichkeit ist Teil einer rhetorischen Strategie, in der jedes Detail eine Funktion fur den didaktischen Zweck der Erzählung erfüllt.27 Selbst der scheinbar übermütige und zweckfreie Schwank wird durch den Gesamtzusammenhang des Romans zu einem Moment seines erzieherischen Programms. Der Jugendstreich dient als erste Übung in Beobachtungsgabe und Scharfsinnigkeit. Diese Lernziele leiten die anschließend erzählte Bildungsreise, auf der Held wie Leser ihre Beobachtungsgabe und ihren Scharfsinn an der Unvernunft der kleinen Leute üben können. Den künftigen Verantwortungsträgern der Gesellschaft dient der Narren Narrheit lediglich dazu, sich mit ihrer Vernunft zu spiegeln und sie aus der Thorheit Gegenschein zu erkennen.29 Im didaktischen Arrangement der Figuren drückt sich das ständische Bildungsprivileg aus. Ordnung wird bei RIEMER dadurch hergestellt, daß der gesellschaftlichen Rollenzuweisung ihre poetische Funktionszuweisung entspricht. Das Problem, daß gesellschaftliche und poetische Rollen für ihre Träger zunächst einmal zufällig und äußerlich sind, wird insofern unerheblich, als der Roman die Perspektive derer zur ausschließlichen macht, in deren Interesse und nach deren Vernunftbegriff die gesellschaftliche Rollenaufteilung geschieht. Die künftigen Staatsbediensteten lernen, daß ihre Vernunft dem unvernünftigen Handeln der Untertanen überlegen ist. Damit wird der Scharfsinn der Romanhelden zum Ausdruck der Vernunft, auf der die Maschinerie des absolutistischen Staates beruht. Die auktoriale Erzählung dient hier der Zurichtung der Welt für die Zwecke ihrer vernunftgemäßen Beherrschung. Alles, was dem Bildungsreisenden begegnet, hat keinen Wert für sich selbst, sondern dient lediglich als Unterrichtsmaterial zu seiner Belehrung. Die funktionale Trennung zwischen beobachtendem Subjekt und beobachteter Welt läßt diese Welt 23
" 23 u 27 a
Vgl. RIEMER, Der Politische Maul-Affe 19, 38-41. Vgl. RIEMER, Der Politische Maul-Affe 20, 41-43. Vgl. RIEMER, Der Politische Maul-Affe 21, 43/44. Vgl. RIEMER, Der Politische Maul-Affe 22/23, 44-46. Vgl. KRAUSE, Feder kontra Degen 328-379. Vgl. RŒMER, Der politische Maul-Affe ) :(v \
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Beers Corylo
nur hinsichtlich der Zwecke des Subjekts in den Blick gelangen. Welterfahrung bedeutet hier keine Beunruhigung des Subjektes angesichts der ambivalenten Wirklichkeit, sondern die Einübung von Mustern, mittels derer die Welt handhabbar wird. Folgerichtig findet sich der jungen Philurt am Ende seiner Reise durch den Roman als Anwalt im Universität Consistorio wieder, und auch seine Gefährten sind in sicheren Stellungen und deshalb von Hertzen vergnüget. Dies verdanken sie ihrem Geschick und ihrer Weitläufigkeit: Die Erkundigung der Politischen Maul-Affen hatte uns den Verstand dermassen erleuchtet / daß ein ieglicher in seinen Verrichtung durch Prüffung der Leute so glücklich war / daß alle Geschäfte umb die Hälfte der Zeit eher eine glückliche Endschaft erreicheten / als anderer / -welche zwar gelehrt genug / aber nicht durch die Welt erfahren genug waren. Man schätzt freylich die jenigen höher / welche in der Welt sich umbgesehen / und ist gewiß / daß die Gelehrtesten berühmtesten Leute sich endlich durch einem Umbzug in der Welt erst recht vollkommen gemacht haben,29
Die Zurichtung der Welt und der Leute zu Objekten, die einer Prüffung unterliegen, erlaubt ihre rationale, zeitsparende Handhabung. Poetologisch entspricht dem die Ausgrenzung jeder Ambivalenz, die eine Gefahrdung und Infragestellung des Erkenntnissubjektes implizieren würde. Dieser ausgrenzende Gestus macht den Politischen Roman zum fiktionalen Äquivalent der Apodemik, des Lehrbuchs der Reise-Kunst, das den jungen Menschen auf einem vorher gebahnten Weg mit vorformulierten Fragen durch das zu bereisende Gebiet leitet und damit den Blick auf die Welt präjudiziell.30 Welt als Problem ist schon vor Reiseantritt gelöst, und die eigene Erfahrung füllt lediglich einen vorher festgelegten Fragehorizont. Einem solchem didaktischen Arrangement begrenzter Hindernisse widerspricht Corylos Reise durch die Welt, weil sie keinen apriorischen Deutungen folgt. Vom Lebenslauf des Schelmen ist kein Wissenszugewinn zu erwarten, der sich für die Unterwerfung von Mensch und Welt verwerten ließe. Gerade in den Szenen, die eine Verwandtschaft mit dem Roman comique und dem Politischen Roman aufweisen, unterscheidet sich Beers Corylo von den konkurrierenden Spielformen. Statt eines Haupthelden, der selbstbewußt aus der Entwirrung von Turbulenzen und Rätseln hervorgeht wie Francion, und statt junger Bildungsreisender, denen die Welt nur als didaktisches Material für ihre künftige Amtsführung dient, führt der CWy/o-Roman seinen Helden in existenzbedrohende Gefahrdungen und vor das unlösbare Geheimnis seiner Herkunft, das ihm einen festen Platz im Leben verweigert. Dies zeigt sich besonders da, wo Corylo den pikaresken Chronotopos der Landstraße berührt, der 29
30
RIEMER, Der Politische Maul-Affe 2 0 4 , 3 3 3 . Vgl. GUILLAUME VAN GEMERT, "Christian Knorr von Rosenroth unterwegs, Reisen im 1 7 . Jahrhundert": Morgen.Glantz, Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth Gesellschaft 5 ( 1 9 9 5 ) 11-38. Zur Verbindung zwischen 'politischer1 Weltgewandtheit und Apodemik siehe dort 15.
Pikareske Perspektive: reale Hindernisse, ungewisse
Zukunft
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für den Schelmen die klassische Situation des Überlebenskampfes mit realen Hindernissen darstellt.31 Sein Überlebenskampf konfrontiert den Schelmen mit der Ambivalenz einer Realität, die keinen Lehrsätzen folgt und deshalb auch keine eindeutigen Lehren zeitigt. Aus seiner Perspektive macht der Schelm eher die Erfahrung, daß das privilegierte Reisen der Politischen Romane und Apodemiken die Selbstüberschätzung des Reisenden fordert, der die ganze Welt nur im Bezug auf sich selbst zu sehen vermag und damit die Widerständigkeit und Ambivalenz der Realitäten ignoriert. Coiylo bemerkt gegenüber dem Sohn des Marquis, [...] das es eine Reise nicht allein thue / der Mensch lernet zu weilen etwas in einem Baum-Dorff / vras er in einer Respublik nicht lernen kan / und je weiter Rabe fleugt / je besser lernet er stellen / also giebt es auch gar viel Gesellen in der Welt / je weiter sie reisen je stöltzer sie werden / und bilden sich ein / wann sie nicht weren zu Pariß / Rom / Neapolis / London / und Alkeyer gewest / die Städte lägen schon im Grund / und wären schon längsten übern haujfen gefallen. doch lästman hierinnen einem jeden seine angebhorne Lust / weil jede Sache so wohl zu einem bösen als guten Ausschlag durch die schlim zufallende Dinge kan gebraucht werden
Der Sprecher weist darauf hin, daß die Städte, die von den jungen Bildungsreisenden besucht werden, auch ohne diese Gäste auskommen, daß sie eine eigenständige, substantielle Existenz haben. Die Welt hängt keineswegs nur vom Erkenntnissubjekt ab, sondern hat ihre eigene Objektivität. Als Gegenstand der Erkenntnis kann sie dem Erkennenden immer auch unvorhergesehenen Widerstand leisten. Ob die Sache dem Reisenden zu einem bösen oder einem guten Ausschlag dient, hängt von den Umständen ab und von dem Gebrauch der Sachen, dem Umgang mit Gegenständen und Widerständen. Die Landstraße des Schelmen, die ihn mit Unvorhergesehenem konfrontiert und ihn in äußerste Notsituationen jenseits aller gesellschaftlich vermittelter Rollenzuweisungen und Anstandsregeln bringt, dient als poetologisches Modell eines Erzählens, das auch seine Deutungsmuster immer wieder den veränderten Bedingungen anpassen muß. Im Vorbericht zum zweiten Teil des CoryloRomans heißt es: Die jenigen Diseurs, welche ich hin und wieder angemerket / gebe ich nicht auß vor unbewegliche Lehr-Sätze / dan ich komme nicht als ein Scholasticus, sondern als ein Satyr auff die Land-Strassen / dahero begehre ich niemanden den Kopjf mit unzehlichen Principijs zubelästigen / sondern die langweilige Grillen zuvertreiben / welche zu weilen wegen einer Philosophischen subtilität ins Gehirn zu nisten pflegen.33
31
M D
Vgl. meine Überlegungen zu begrenzten Hindernissen und zur Not als Realität im Abschnitt zur "erzählten Landstraße" des DORER-Kapitels. Corylo II, 2,106,7-16. Corylo II, Vorbericht, 97, 32-37.
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Beers Corylo
Die Landstraße des Satyrs wird also nicht durch unbewegliche, apriorische Lehr-Sätze bestimmt, sondern durch Erfahrungen, die erst im Horizont des Erfahrenden ihren Nutzen oder Schaden erkennen lassen. Dieser Horizont ergibt sich aus unterschiedlichen diskursiven Zusammenhängen, die sich nicht zu einem festen Weltbild des Schelmen verfestigen, sondern gerade seine Randstellung begründen. Wenn Coiylo wieder die Landstraße betritt, ist deshalb auch seine Flucht vor den Folgen der Pariser Liebesabenteuer im Spannungfeld unterschiedlicher Diskurssysteme zu lesen. Sowohl die offenen Erzählräume und der spielerische Perspektivenwechsel des SoRELSchen Roman comique als auch die di-
daktischen Realitätsausschnitte des Politischen Romans erscheinen als angrenzendes Terrain im Horizont des B E E R S c h e n Schelmenromans, doch grenzt er sich von ihnen durch die Erfahrung der unerbittlich trennenden Realität gesellschaftlicher Schranken ab. Und auch die Landstraße, der sich Corylo kurzzeitig anvertrauen muß, steht in einer literarischen Landschaft, die nicht nur von der pikaresken Grundform, sondern auch von anderen Mustern geprägt ist. Gegen diese Muster hält die Erzählung an der Realität der Gefährdung und der realen Not des Helden fest. In der dialektischen Aneignung fremder Muster bildet der Schelmenroman die Situation seines Helden noch einmal poetologisch ab; denn auch das unverwechselbar Eigene des Schelmen beruht ja gerade auf seiner Enteignung und der Suche nach dem Eigenen. Der Platz des Helden in der Welt bestimmt sich durch seine Verdrängung von allen sicheren Plätzen, so wie der poetologische Ort des Schelmenromans in der Negation fester Horizonte besteht. Nur kurz nimmt der Cory/o-Roman die Wanderschaft des Schelmen in den Blick. Wie in den klassischen spanischen Schelmenromanen wird die einsame Reise auf der Landstraße von Not und Enge bestimmt. Immerhin ist Coiylo zunächst noch nicht zu Fuß, sondern zu Pferd unterwegs. Die Verkehrsmittel geben Aufschluß über die Abwandlung der pikaresken Situation. Zwar läßt zunächst keine unmittelbare Lebensbedrohung, jedoch das Fehlen einer langfristigen Perspektive den Helden zu keinem Entschluß kommen: Ich sähe vor und hinter mich auf die rechte und Lincke Seite / aber allenthalben sähe ich mich eingeschlossen. Kein Handwerck hatte ich gelernet / so war ich auch sonsten in keiner Sache / als in der bloßen Schreiberey erfahren / nebenst diesem konte ich ein wenig rechnen / da war meine gantze Wissenschafft auff einem Hauffen beysammen / in einer solchen Gestalt und in einer solchen Form ritte ich in dem Lande herum / und muste endlich aus abgang der Mittel mein Frantzösisches Pferd verkaujfen [•••J u
Pikaresk an dieser Schilderung ist die Realität der Zwangslage, die den Helden zur Bestandsaufnahme seiner Ressourcen zwingt. Dabei blickt er auch zurück in die Vergangenheit, um die Tauglichkeit seiner seiner berufsquali34
Corylo II, 7, 116, 3-10.
Pikaresker Kaufmannsroman: Kooperation und Konkurrenz
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fízierenden Kenntnisse zu prüfen. Der Held ist das, was seine spezifische Geschichte aus ihm gemacht hat. Vor der äußersten Not bewahrt ihn zunächst noch, was er aus seinem letzten Dienst zurückbehalten hat. Corylos Situation ändert sich zunächst grundsätzlich nicht, als er sich in einer größeren Stadt in Richtung Norden auff das Wasser begibt, indem er ein Flußschiff besteigt. Hier erlebt er das bedrohliche Abnehmen seiner Ressourcen, nach denen sich der verbleibende Zukunftsraum bemißt: Je länger sich der Weg erstreckte/je kleiner wurde mein Beutel / muste mich also taliter qualiter behelffen / so gut die Gelegenheit und mein Vermögen erduldete,35
Da sein reales Ziel, das Schloß des alten Edelmans, unerreichbar scheint, ergibt sich ein Mißverhältnis zu den Gedancken, in denen er abscheuliche Städte und Vestungen in die Luffl baut. Die Fluchtrichtungen des Denkens, die Regression in das Leben auf dem Edelhof des ersten Buches und in die heimlichen Luftschlösser des Pagen, stehen in krassem Mißverhältnis zur momentanen Situation: zur Isolation und zur erzwungenen Selbstbehauptung. Mit dem Betreten des Schiffes indes hat sich Corylo in die Solidargemeinschaft einer Compagnie begeben,36 die durch den Schiffer verkörpert wird. Er schenkt dem Hungrigen Brot, so daß er nicht auf die Überlebenstechnik Lazarillos verfallen und stehlen muß. Auch die übrigen Reise-Gefährten erlassen ihm seine bereits sich ansammelnden Schulden.3T Die Compagnie auf dem Schiff gibt dem einzelnen eine faire Chance zur Selbsterhaltung. Im Bild der Schiffsgesellschaft integriert sich der Schelmenroman ein bürgerlich-korporatives Gegenmodell zum einsamen, rücksichtslosen Existenzkampf des Helden.38 Auf diese Verbindung diskursiver und literarischer Modelle, die die Frage nach dem Platz des Schelmen in seiner Geschichte zu einer Frage nach der Rolle des Romans im zeitgenössischen Wissenssystem weitet, deutet die Einleitung der folgenden Episode, in der Corylo seine Lebens-Segel vom Unglücks-Wind herumgeworfen sieht, bis er endlich an einem unverhofften Port angeworfen wird:39 Corylo wird Buchhalter bei einem Kaufman. Seine anfängliche Arbeitsdisziplin und sein Bemühen, vielmehr zuthun als ihm zuverrichten aufgetragen worden ist, erhält seine Motivation noch aus der gerade überstandenen Zwangslage, die sich als Hoffnung aus dem Laborinth zu 35
* 57 31
39
Corylo II, 7, 116, 14-16. Vgl. Corylo II, 8,117, 16-20. Vgl. Corylo II, 8, 117,23 -118, 18. Mit Seitenblick auf HIERONYMUS DÜRERS Lauf der Welt und Spiel des Glücks scheint es bemerkenswert, daß sich auch hier die kooperativen Werte des bürgerlich-kaufmännischen Ethos mit dem Begriff der Compagnie und dem Bild der Schiffsgesellschaft verbinden. Wie bei DORER ist auch bei BEER die allegorische Rede vom Lebensschiff und vom Glückswind mit ökonomischen Prozessen vermittelt. Vgl. Corylo II, 9,119,15-22.
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gelangen nun positiv formuliert.40 Die pikareske Situation begründet den bürgerlichen Mythos vom Aufstieg, der sich im Arbeitsethos sowie in Sparsamkeit äußert. Mit der Schilderung dieser Verhaltensweisen eignet sich die Erzählung die Form des pikaresken Kaufmannsromans an. Maßstab des Handelns ist hier eine Orientierung innerhalb des kapitalistischen Wertesystems, das sich durch Redlichkeit und Zuverlässigkeit, Solidität im Geschäftsgebaren bestimmt.41 Auch Corylo gelangt innerhalb dieser Werte zu Erfolg, der sich im raschen Wohlstand äußert. Doch kommen in diesem Erfolg bereits andere Wertmaßstäbe zur Sprache, die einen ersten Hinweis auf Corylos endliches Scheitern geben: Da erkandte ich erst / was es seye / bey einem vollgedeckten Tische zusitzen / daingegen / die dessen täglich gemessen / das Jahr kaum einmal die Köstligkeit desselben ermessen / noch viel weniger Gott davor dancksagen / ich aber hielte mit mir gantz eine andere Rechnung / und ersparte bey diesem Herrn in kurtzer Zeit in die 40. Reichsthaler ohne sonderliche Mühe.41
Die atemberaubende Akkumulation von Reichtum in kurzer Zeit stellt einen Bruch von Grenzen dar, der sich in der Hoffarth des Reichgewordenen äußert.43 Der Held wird nicht nach den Maßgaben eines calvinistisch-kapitalistischen Wertsystems in seinem Vorwärtskommen ermutigt, er wird vielmehr als Teil einer statischen Ordnung gesehen, die sich theologisch als lutherische Ethik formuliert.44 Politisch hat diese Ordnung die Form des absolutistischen Obrigkeitsstaates, an dem sich auch der Kaufmann zu orientieren hat. Die Eigeninteressen des Kaufmanns und sein Anspruch auf eine Reputation, die sich an seinem ökonomischen Erfolg bemißt, wirken in dieser Ordnung als störend: Mein Herr selbsten hielte sich in seinem Gemilth bey sich selbst viel höher/ viel mehr und viel reicher / als einen Fürsten; Wenn er aber auff einen Fürstlichen Hoff käme / so muste er unten angehen / wo die Leib-Hunde auffwarten / dahero liesse er sich nicht viel bey Hofe sehen / damit man aber nicht meinen möchte / er thete es aus Scham /als wüste er andere gar schein-heilige Ursachen aufzusuchen und hervor zubringen / welche ihn aus den Argwohn heben solten.4S
Die erzwungene Verschlossenheit, Dissimulation und ersatzweise Reputierlichkeit wird vom Erzähler denunziert. Denn er macht in diesen Verhaltensweisen die Ursachen der Übel aus, an denen er gescheitert ist. Nicht das Handeln des einzelnen, sondern die Widersprüche zwischen dem Chronotopos des Kaufmannshauses, das auf Akkumulation und Zuwachs hin konzipiert ist, und dem Chronotopos des Hofes, der auf der Statik der errichteten Ordnung 10 41 42 43 44 45
Vgl. Corylo II, 9, 119, 23-37. Vgl. HIRSCH, Bürgertum und Barock im deutschen Roman 14. Corylo II, 9, 119,37- 120,2. Vgl. Corylo 11,9, 120, 5-14. Vgl. HIRSCH, Bürgertum und Barock im deutschen Roman 1 2 . Corylo II, 9, 120,22-28.
Pikaresker Kaufmannsroman: Kooperation und Konkurrenz
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basiert, machen indes den städtischen Raum zum Konfliktfeld. Dieser Konflikt wird zwischen den Kaujfmans-Bursch und den Studenten stellvertretend in Raufereien ausgetragen.46 Für den einzelnen bedeutet dies ein hohes Risiko, in den dichten Kontrollmechanismen der städtischen Räume als überführter Delinquent aus der Ordnung herauszufallen. Ästhetisch setzt die Erzählung die Zuspitzung des Konfliktes durch den Chronotopos der nächtlichen engen Gasse um, die Gelegenheit zum Überfall gibt und aus der städtischen Ökologie des picaro47 im spanischen Schelmenroman übernommen ist. Schon das spanische Modell geht von der Vertauschbarkeit des einzelnen innerhalb der Gaunerzunft aus, die seine Verhaftung zu einem unglücklichen Zufall jenseits seiner moralischen Verantwortlichkeit macht. So geschieht es auch mit Corylo. In einem engen Gäßlein wird einer unter seinen Feinden erstochen, wobei niemand wüste wer es gethan. Folglich werden alle ins Gefängnis gesetzt und Corylo gesteht aus Angst vor der bevorstehenden Folter die That, die er nicht gethan hat.48 Er ist ein beliebiges, vertauschbares Exemplar innerhalb des Nexus von Konflikten und Delinquenz. Corylos Geständnis führt dazu, daß sich die enge Gasse zur Todeszelle verengt, eine klassische pikareske Situation, die schon Guzmán und Tychander vorfanden. Klassisch ist auch die überraschende Begnadigung, denn der Schelm muß ja überlebt haben, um seine eigene Geschichte erzählen zu können.49 Das städtische Umfeld erhält seine politische Struktur vom Chronotopos des Hofes, der mit der dort herrschenden Raison und dem zugehörigen Muster des Politischen Romans das Ideal der vernünftigen Ordnung des Ganzen und der vernunftgemäßen Einordnung des einzelnen in diese Ordnung verkörpert. Ökonomisch wird Corylos Handeln jedoch vom Chronotopos des Kaufmannshauses bestimmt, das auf individuelles Fortkommen hin angelegt ist und seinen literarischen Ausdruck im pikaresken Kaufmannsroman findet.50 Die Unstimmigkeit dieser Konzeptionen vermittelt sich in der engen Gasse des Schelmen, der die Erfahrung seiner Rechtlosigkeit und Austauschbarkeit schon in den klasssischen Schelmenromanen vorgebildet findet. Noch in der dialektischen Aneignung fremder Muster kommen Entfremdung und Ausweglosigkeit zum Ausdruck. Der Held wird zum Spielball willkürlicher Verurteilung und genauso willkürlicher Begnadigung und erfährt damit seine Austauschbarkeit. *
46
" " β 30
Vgl. Corylo I I , 9, 121, 11-19. Vgl. JOSÉ ANTONIO MARAVALL, La literatura picaresca desde la historia social (Siglos XVI y XVII), Madrid (Taurus) »1987. Vgl. Corylo II, 11, 125,33- 126, 15. Vgl. Corylo II, 11, 127,35 -12, 128, 4. Vgl. HIRSCH, Bürgertum und Barock im deutschen Roman 10/11.
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Cory/o-Roman vertieft die Erfahrung der Austauschbarkeit nicht nur durch das Spiel mit diskursiven und literarischen Mustern, sondern immer wieder auch durch die Begegnung des Helden mit Kontrastfiguren, deren parallele Geschichte als Variante der eigenen erscheint, ohne daß sich daraus ein verwertbarer Sinn für die fremde oder die eigene Geschichte ergäbe. Am ehesten scheint noch die Gestalt des Periander in einem substantiellen Verhältnis zu Corylo zu stehen. Nicht nur, daß er als Gegenspieler einen großen Teil der Handlung des ersten Buches auslöst, seine Lebensgeschichte wird auch in drei retrospektiven Berichten in das Romangeschehen eingeholt, um Corylos eigene Erlebnisse zu kontrastieren. Der erste Bericht über Periander, der hier allerdings noch nicht diesen Namen trägt, wird durch den moralisierenden Diskurs des Schreibers im ersten Buch gegeben. Dort wird vor allem auf die Selbstüberschätzung des jungen Kavaliers abgehoben, der - aus verarmtem Adel stammend - den plötzlichen Reichtum vertut, als er Erbe eines wohlhabenden Edelhofes wird und sich schmarotzend und betrügend durchs Leben schlägt. Die endliche erzwungene Flucht des Kavaliers führt Coiylo die Untauglichkeit eines Ethos vor Augen, das ihm die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten ebensowenig bewußt macht wie die eigenen Grenzen. Die zweite Erzählung über Periander stammt von dem Knecht des Scharfrichters, der Periander unter den bereits erwähnten unheimlich-theatralischen Umständen hingerichtet hat. Auf Corylo wirkt das Exempel handlungsmotivierend, so daß er die Flucht aus Frankreich antritt, weil er in ähnliche Umstände verwickelt ist. Die Gründe für Perianders Hinrichtung erfahrt Corylo erst später aus dem Bericht eines französischen Edelmannes, den er mit seinem Kaufmanns-Prinzipal besucht. Der Franzose erzählt von dem deutschen Hauslehrer seines Bruders, der sich mit dessen Ehefrau eingelassen habe und deshalb heimlich hingerichtet worden sei. Rätselhaft bleibt die Heimlichkeit der Bestrafung. Ihr entspricht, daß sich aus den verschiedenen Berichten nicht wirklich ein Eindruck von der Person Perianders gewinnen läßt. Aus dem moralisierenden Bericht des Schreibers ergibt sich das Bild einer hochmütigen bramarbasierenden SchelmufifskyGestalt, die auf der Schule nichts gelernt hat, nicht über 10. Meilweges in die Welt hinauß gekommen ist und dennoch von weiten Reisen erzählt.51 Mag ein solcher Hochstapler noch die Gunst der beschränkten Landedelfrau im ersten Buch gewinnen, so ist es unwahrscheinlich, daß dieselbe Person schließlich doch nach Frankreich gelangt und sich in einer Hauslehrerstelle durch etliche Wochen sehr wol anläßt, bis es zum Fehltritt mit der Ehefrau seines Arbeitgebers kommt. Woher plötzlich die Bildung, die den französischen Edlen, der in Teutschen Kriegen sehr wohl erfahren ist, blendet?52 Die Figur verschwindet hinter den Versionen, die über sie im Umlauf sind. Das Schalten der BEERS
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Vgl. Corylo I, 11, 42, 32 - 45, 33. Vgl. Corylo II, 12, 129, 11 -130, 6.
Periander: Spiegel für Corylos Bedeutungslosigkeit
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verschiedenen Binnenerzähler mit der Periander-Figur gibt den entscheidenden Hinweis auf ihre Funktion für die Erzählung als Ganze und für Corylos Versuch, sich seiner selbst zu vergewissern. Denn gerade die Belanglosigkeit Perianders ist für Corylo von Belang. Auch Corylo muß die Bedeutung Perianders herunterspielen und verheimlichen, als er vom Ende seines alten Gegenspielers erfährt: Mein Herr verwunderte sich sehr über die Erzehlung des Edelmans / aber ich machte mir hiervon die meisten Gedancken / und ware froh / daß ich so unvermerckt hinter die Wahrheit dieser Historie gelanget / liesse michs auch auff keinerley Weise mercken / daß ich darum eintzige Wissenschajft hette / sondern stellete mich gleich meinem Herrn hierzu gantz wundersam / [•••]" Coiylo stellt sich gegen das, was ihm nahegeht, fremd. Im Gestus der Verschlossenheit sichert er sich gegenüber eventuellen Verdächtigungen ab, die eine Bekanntschaft mit dem Hingerichteten nach sich ziehen könnte. Ist er doch selbst gerade erst einer Verurteilung entgangen, was den Anlaß zu dem Gespräch über das Unglück der Teutschen in Frankreich gegeben hatte. Die Geschichte wird mithin nicht in ihrer Bedeutung für Corylo gewürdigt. Vielmehr legt die Erzählung die Betonung auf ihre Bedeutungslosigkeit und Wiederholbarkeit, indem hierauf/ durch die Binnenerzähler eine Traur Geschieht nach der andern erzehlet wird.54 Die Spiegelfunktion Perianders für Corylo liegt in dem Erweis der Bedeutungslosigkeit angesichts eines Ganzen, das den einzelnen lediglich in seiner Funktionalität wahrnimmt, während sich dieser einzelne im Gestus der Verschlossenheit zugleich absichert und isoliert. Die Dialektik der Verschlossenheit, die sich gegen die Preisgabe des Eigenen sperrt und es gerade damit in konventioneller Äußerlichkeit und Vertauschbarkeit zum Verschwinden bringt, drückt sich auch im Namen der Parallelfigur aus, der sich in seiner Bedeutung nur schwer erschließt. Zwar wird im zweiten Buch der Name Periander mit besonderem Hinweis auf seine Signalfunktion nachgetragen, wenn Corylo durch den Nahmen des Perianders die Identität des Hingerichteten erkennt und auch der Edelmann im dritten Bericht auf den Nahmen Periander besonders hinweist." Doch hat das Wort Periander, obwohl es äußerlich Ähnlichkeit mit sprechenden Namen wie Tychander ('Glücksmann') oder Philander ('Menschenfreund') aufweist, keine griffige Bedeutung. Die programmatische Bedeutung der sprechenden Namen ergibt sich j a in den genannten Fällen durch die qualifizierende Funktion der Morpheme, die dem Wort anér ('Mann') vorausgehen: tyche ('Zufall, Glück') oder philos ('Freund'). Die Bedeutung der Präposition peri ('um, herum') ist demgegenüber nicht qualifizierend, sondern im Gegenteil äußerst allgemein und variiert auch noch nach den Kasus, mit denen die Präposition steht.56 Erst ° " "
Corylo 11,12,130,7-12. Vgl. Corylo II, 12, 130, 12-14. Vgl. Corylo II, 7,115,6 und Corylo II, 12,129,21.
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Corylo
in seinem antiken Kontext enthüllt der Name seine Bedeutung, hat doch im Griechischen das Wort anér selbst programmatischen Charakter, der sich im Wert der andre ία, dem Mannesmut, äußert. Der innere Aristokratismus der altgriechischen Wertvorstellungen fiihrt dazu, daß es sich bei einem solchen Konzept nicht etwa um ein ethisches Prinzip der Tapferkeit handelt, nach der jeder streben sollte, sondern daß die Tauglichkeit des Mannes (areté) bereits in seiner Abstammung und Veranlagung (physis) vorgegeben ist, so daß sie nur noch im Umgang mit den richtigen Männern ausgebildet werden muß.57 Ein vollgültiger Mann kann man nicht werden, man kann nur beweisen, daß man es bereits ist. Wenn das Wort periandros besagt, daß jemand 'um und um oder durch und durch Mann'58 ist, dann drückt es damit aus, daß es sich um eine gesellschaftlich vollgültige Person handelt, die diese Vollgültigkeit durch ihr Handeln unter Beweis stellt. Der Periandros ist ein Mann, der sich des Adels und seiner Verpflichtung bewußt ist und danach lebt. Der Name Periandros ist also keine Personifikation eines bestimmten ethischen Prinzips, er besagt lediglich, daß ein bedeutender Mann mit seinen je eigenen Anlagen bestimmungsgemäß umgeht. Die Person steht deshalb nicht für etwas Bestimmtes, das sich von ihr ablernen ließe, sie steht lediglich für ihre eigene Bedeutung. Mit der Form des Namens täuscht der Roman eine sprechende, allegorische Bedeutung vor, die ihm nicht abzugewinnen ist. Im Unterschied zu der antiken Vorstellung ist der Namensträger im Corylo-Roman nämlich nicht ein Mann im emphatischen Sinne, sondern irgendein Exemplar des männlichen Geschlechts, das durch seinen Namen in dieser Eigenschaft identifiziert werden kann. In der Erzählung des Henkersknechtes heißt es: Die andere / eben auf solche Arth bekleidete Person / war etwas länger / ich konte aber "weder an denen Gebärden / noch an dem Gang erkennen / ob es eine Mans oder Weibs Person gewesen / biß solche nieder kniete / da seuffzete er und sagte laut: "Ach Elender Periander!" diese Worte gaben zuerkennen / das es eine Mans Person seye /..._/·" 34
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Man kann sagen, daß eine griechische Präposition ihre Bedeutung überhaupt eist durch die Inhaltsarten der Kasus erhält, mit denen sie verbunden ist. So gibt peri mit dem Genitiv den Bereich an, für den eine Angabe gilt, mit dem lokativen Dativ den Ort, mit dem Dativ den zu schützenden Interessenten, und mit dem Akkusativ die räumliche oder zeitliche Nähe, auf die eine Handlung oder Bewegung zuläuft Ein literarisches Beispiel für eine solche, von vornherein durch ihre Anlage tüchtige Person bildet XENOPHONS Erziehung des Kyros. Vgl. hierzu HARTMUT WILMS, Techne und Paideia bei Xenophon und Isokrates = Beiträge zur Altertumskunde 68. Stuttgart und Leipzig (Teubner) 1995 = Phil. Diss. Bonn 1994, 115-118. Die Ausbildung der guten Anlagen nicht nach Prinzipien sondern durch den Umgang in der guten Gesellschaft bildet die aristokratischen Wurzeln der Individualität, wie sie sich in den Lebensbeschreibungen 'großer Männer' bei PLUTARCH ausdrückt. Vgl. HEINZ GERD INGENKAMP, "Plutarch und die konservative Verhaltensnorm": Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Band II 33, 6, Berlin/New York (de Gruyter) 1992, 4624-4644. Vgl. W. PAPE / G. BENSELER, Wörterbuch der griechischen Eigennamen, Zweiter Band L-W, Graz (Akademische Druck und Verlagsanstalt) 1959 = Braunschweig (Vieweg & Sohn) 3 1911, 1173. Corylo II, 6, 114, 22-27.
Peter: Verstellung und Verschwinden
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Erst am Namen ist das Mann-Sein Perianders zu erkennen, so daß der Name ihm wie zufällig anhängt, dem Gewand aus Leinwand vergleichbar, in dem Periander nicht zu erkennen ist, als er hingerichtet wird. Deshalb muß der Rock des Namens für den Periander des Romans auch zu groß sein, wenn man die Romanfigur mit dem berühmten Träger des Namens in der Antike vergleicht, berichtet doch H E R O D O T von P E R I A N D R O S ( 6 2 7 - 5 8 7 / 8 6 v. Chr.) als einem der Sieben Weisen Griechenlands, einem berühmten Herrscher von Korinth, der durch eine harte, zweckrationale Politik die Stadt zu großer wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung führte.60 In H E R O D O T S Erzählweise, die das Kleine und das Große, fabula und historia, miteinander verknüpft, ohne es an moralische Wertungen zu binden, wird die Bedeutung der einzelnen Person gegen die Macht der Zeit, gegen das Vergessen festgehalten.61 Immer wieder wird der große historische Gang der Geschichte durch Beispielerzählungen, paradeigmata, unterbrochen, die die Bedeutung der Geschichte für einzelne Menschen und die Bedeutung einzelner Menschen für die Geschichte unterstreichen.62 Ein solches parädeigma bildet auch das Geschehen um P E R I A N D R O S . Bedeutung gewinnen die Figuren durch die Dynamik ihres Handelns, die im Duktus des lakonischen Erzählens aufgehoben ist. Seit 1593 stand eine deutsche HERODOT-Übersetzung von G E O R G S C H W A R T Z K O P F F zur Verfügung, die dieses Ethos des Erzählens unverfälscht bewahrt.63 Es ist nicht 60
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HERODOT zeigt ihn als Bundesgenossen der Spartaner gegen Samos und Persien und damit sozusagen an der Wurzel des epochalen Konflikts zwischen Griechenland und Persien, der den Hauptgegenstand des herodoteieschen Geschichtswerkes bildet. Vgl. HERODOT, Historien = TusculumBücherei, griechisch und deutsch hg. von JOSEF FEIX, 2 Bände, München (Heimeran) 1 9 6 3 . Hier Band 1, Buch I, Kapitel 2 0 - 2 4 , 2 0 - 2 5 . Doch auch im eigenen Haus ist PERIANDROS bedeutend im grausamen wie im erstaunlichen Sinne. HERODOT verweilt bei der Auseinandersetzung zwischen PERIANDROS und seinem Sohn LYKROPHRON, der sich vom Vater abwendet und das Erbe ausschlägt, weil der Vater PERIANDROS seine Ehefrau MELISSA, die Mutter LYKROPHRONS, umgebracht hat. Doch der Vater umwirbt den Sohn, um die Herrschaft seiner Dynastie zu sichern. Vgl. HERODOT. Historien, Band 1, I I , 4 8 - 5 3 , 4 0 4 - 4 1 1 . Vgl. WALTHER KRANZ, Geschichte der griechischen Literatur. Birsfelden-Basel (SchibliDoppler) = Leipzig (Dieterich) und Bremen (SchQnemann), o.J., 118. Vgl. WOLFGANG SCHADEWALDT, Die Anfange der Gechichtsschreibung bei den Griechen, Herodot - Thukydides, Tübinger Vorlesungen 2, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 389) 1982,21 und 117/118. Vgl. HERODOTI Des Aller Fürnembsten vnnd ältesten Geschichtschreibers Historia [...] auß der Griechischen Spraach in die Teutsche gebracht / in sonderliche Capitel getheilt / vnd mit einem vollkommenen Register begäbet: Durch den Ehrnhafften vnd Wolgelehrten Herrn Georgium Schwartzkopff [...]. Frankfurt am Main 1593. Benutztes Exemplar ULB Bonn, Signatur: an 4° Da 1387/60. Die Episoden um Periander finden sich dort in CLIO, das I. Buch, Kapitel 5 und 6, 6-8 und THALIA, das III. Buch, Kapitel 16 und 17, 142-145. SCHWARTZKOPFFS Verdeutschung war neben LORENZO VALLAS lateinischer Version außerordentlich verbreitet. Vgl. The National Union Catalog Pre-1956 Imprints, Band 242, London (Mansell) 1972, 494-496. Siehe auch Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienen Drucke des XVI. Jahrhunderts (VD 16), hg. von der Bayerischen Staatsbibliothek in Verbindung mit der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, Stuttgart (Hiersemann) 1983 ff.. Band 8. 701-703, H2515 - H2535. Zwei Auszüge aus SCHWARTZKOPFFS Obersetzung, darunter auch eine PERiANDROs-Episode, präsentiert BRUNO SNELL, "Zwei Historien aus Herodot in der Obersetzung von Georg Schwartzkopff
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auszuschließen, daß JOHANN BEER sie vor Augen hatte, als er das herodoteische Erzählen ironisch in sein Fabulieren umformte. Die historische Bedeutung des antiken PERIANDROS steht im Kontrast zu der Periander-Figur des CoryloRomans, so daß die Namensgebung nur als ironischer Hinweis auf seine Bedeutungslosigkeit verstanden werden kann. Diese Form der verweigerten Bedeutung bestimmt auch das Verhältnis zwischen Corylo und seinem Gegenspieler Peter, der als Knecht auf den Edelhöfen des ersten Buches mit des jungen Edelmans seiner Frau in Kundschafft gestanden hatte und durch Corylos Gegenintrige abgestraft worden war. Deshalb fürchtet Corylo seine Rache, als Peter in die Kerkerzelle gebracht wird, in der Coiylo nach seiner Verurteilung auf die Hinrichtung wartet. Das Zusammentreffen der beiden Gefangenen fuhrt nicht zur Solidarisierung, sondern zu Distanzierung und Verstellung, die sich aus der Dynamik von Intrige und Gegenintrige ergeben: Wie sehr ich mich darob entsetzet / ist nicht auszusprechen / dann ich schämte mich vor ihme so wol / als daß ich forchte / der Kerl dörffte aus Verzweiflung / und zu Veriibung seiner Rache noch gröbere Sachen von mir ausgeben / dadurch ich noch zur härtem Straffe geriethe; Dahero wendete ich mein Gesicht / so viel mir möglich von ihm hin weg / welches ich doch so sehr nicht von Nöthen hatte; dann nach 3. Stunden wurde anbefohlen / denselben in ein ander Gefängnis und von mir hinweg zu legen,64
Die Wiederkennung bleibt einseitig, weil die Position des Erkennenden nicht stark genug ist, um den eventuellen Reaktionen seines Gegenübers standzuhalten. Deshalb gerät die peinliche Situation der Verstellung zur Demonstration der Erniedrigung, die der eine bewußt, der andere unbewußt erleidet. Dies kontrastiert auffällig mit der bereits besprochenen Wiedererkennungsszene in SORELS Francion. Dort war die gesellschaftliche Position Francions wie des ehemaligen Diebes Raymond so unbestritten, daß ihre erneute Konfrontation zum heiteren Spiel unter Aristokraten geriet, bei dem der eine dem anderen zudem noch die Geliebte Laurette zuführen konnte. Die Romanintrige diente hier als Initial einer Oberschichteninteraktion, deren spielerische Konventionen die privilegierte Gleichheit der beteiligten Personen voraussetzen. Das feine Spiel mit Verstellung und Durchschauung dient in diesem Zusammenhang der Stabilisierung der politisch machtlos gewordenen Oberschicht und der Verfeinerung des einzelnen Spielers durch das Spiel.65 Analog dazu stellt die gelungene Wiedererkennung in SORELS Francion einer
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(1593)": Die Antike 15 (1939) 139-144. Corylo II, 11, 127, 12-19. Vgl. N I K L A S LUHMANN: "Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert": Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 1, Frankfiirt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 1091) 72161.
Schreiber/Rittmeister:
Ordnung
zeitweilig
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poetische Ordnung her und profiliert den Helden, dessen gesellschaftliche Integrität an keiner Stelle in Frage steht. Selbst als er wegen seiner ärmlichen Kleidung in Schwierigkeiten gerät, betont Francion: Ich bin nicht selbstgefällig, [...] aber ich gehöre zum höchsten Adel Frankreichs [...].66 Noch da, wo er Spott erntet, versichert sich SORELS Protagonist seiner eigenen Bedeutung. Die künstliche Ordnung des SoRELSchen Romanwerks bestätigt bei aller Kritik an einzelnen Momenten im letzten die Gesellschaftsordnung. Der Roman drückt dies dadurch aus, daß er jeder Figur einen festen Platz zuweist, der sich nach allen Irrtümern und Verwechslungen zum Schluß als die Wahrheit der Fiktion ergibt. Ganz anders in BEERS Corylo. Hier wird die Unstimmigkeit der Ordnung und die Gefahrdung des einzelnen dadurch ausgedrückt, daß die Wiedererkennung zwischen Corylo und seinem Widersacher Peter einseitig bleibt und die Figur des Peter zuletzt im Ungewissen verschwindet, ohne daß Corylo oder der Leser über ihr endgültiges Schicksal unterrichtet würde. Das Verschwinden der Parallelfigur sagt dem Protagonisten die Möglichkeit seines eigenen Verschwindens in der Bedeutungslosigkeit an. Zwar wird Peter später noch einmal erwähnt, doch geschieht dies in dem verstörenden Zusammenhang der Begegnung Coiylos mit dem vormaligen Schreiber. Zudem wird hier nur lakonisch Peters zwischenzeitlicher Existenz als Freyreuter gedacht, der in der Compagnie des Schreibers viel Schelmen-Stiick begangen habe. Damit wird die schelmische Gegenfigur zu Corylo auf ihre schelmischen Handlungen reduziert, die völlig isoliert von Intentionen und Folgen fiir den Handelnden reine vertauschbare Possen bleiben. Auch das Handeln der dritten Parallelfigur, des ehemaligen Schreibers und späteren Rittmeisters, entbehrt des inneren Zusammenhangs, der ihm eine Bedeutung für die Ordnung des Ganzen garantieren würde. Der Schreiber/Rittmeister ändert seine Position so grundsätzlich, daß er aufhört, eine erkennbare Instanz in der Welt des Romans darzustellen. Dem Corylo begegnet der vormals loyale Diener einer hierarchischen Ordnung nun als maro- dierender Wegelagerer, der versucht, dem verarmten Wanderer seinen nutzlos gewordenen, doch wertvollen Sattel mit List und Gewalt zu entwenden.67 Als Coiylo in dem Übeltäter den ehemaligen Schreiber erkennt, reagiert er 66
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SOREL, Wahrhaftige und lustige Historie vom Leben des Francion (1968) IV, 172. Vgl. Histoire comique de Francion (1623) IV. 484; La vraye histoire comique de Francion (1663) IV. 213; Histoire comique de Francion: Romanciers du XVir siècle IV. 217; Warhafftige vnd lustige Histori (1662) IV, 293. In der souveränen Unabhängigkeit des Helden scheint sich das Wunschbild des Autors zu äußern. Denn die Adelsprätention des bürgerlichen Schriftstellers CHARLES SOREL, der nicht für einen Autor gehalten sondern als Edelmann gelten wollte, wurde bereits von seinem zeitgenössischen Kollegen FURET 1ÈRE in der Gestalt des Charroselles karikiert. Vgl. ANTOINE FURETIÈRE, Le roman bourgeois : Romanciers du XVir siècle II, 1027; Der Bürgerroman II, 207 und 352, Anm. 129. Vgl. zum folgenden Corylo II, 25, 164, 1 - 26, 167. 13.
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genau wie bei der Begegnung mit Peter - mit Schrecken und Verstellung. Namentlich der Schrecken bleibt auf der Handlungsebene rätselhaft, hat Corylo doch in diesem Falle die Schande eigener moralischer oder juristischer Verfehlungen nicht zu furchten. Vielmehr wird er mit der Schande konfrontiert, die die ungerechte Pracktiken des Schreibers diesem machen. Coiylo, der wegen Verwechslung der Kleider gantz unkändlich ist, nutzt seine eigene physische Unkenntlichkeit, die mit der moralischen des Schreibers korrespondiert, um diesem die Überraschung einer Wiedererkennung zu bereiten. Dabei verbindet sich das rätselhafte Geschick, das den sittenstrengen Schreiber zum außergesetzlichen Wegelagerer hat werden lassen, mit der pikaresken Zeitform des Glückens, das jede Situation geschwinde verändern kann. Ist dem Schreiber der Aufstieg beim Militär in etlichen Partheyen dermaßen geglückt / daß er zum Rittmeister geworden, so verwandelt sich das Unglück des beraubten Coiylo geschwinde in Glück, da der nunmehrige Rittmeister nach der Wiedererkennung den Coiylo nicht nur fürstlich bewirtet, sondern ihn auch endlich mit seiner Jugendliebe Sancissa vereint. Hier könnte man vermuten, daß die raschen Glückswechsel im letzten nur Mechanismen einer höheren metaphysischen und poetischen Ordnung seien, die die Figuren zuletzt doch noch an ihren richtigen Platz weist und sie ihrer eigentlichen Identität versichert. Unversehens scheint sich wie im Idealroman des Barock oder in SORELS Roman comique das verwirrende Geschehen als Moment eines Plans zu erweisen, der zu einem sinnvollen Ziel für den Protagonisten führt. So jedenfalls äußert sich der Held, als er Sancissa wiedersieht: Unglückseeliger Corylo sagte ich! Das Glück treibet dich in der Welt herumb wie die Winde eine leichte Spreu / aber ist dieses nicht das höchste Glück / daß du hier unverhoffet antrifftst? Warhafftig dieser Tag soll dir Furcht in das Gedächtnis eingepräget werden / an welchem du so glückseelig gewesen / die jenige zu sehen / umb welcher willen du biß gegenwertige Stunde / vielen Zufällen unterworfen gewesen.6*
Das Glück scheint endgültig - und damit sowohl der Sinn des Ganzen als auch die Bedeutung des Einzelmenschen garantiert. Doch gibt es bereits an dieser Stelle untrügliche Hinweise auf die Vorläufigkeit, mithin die Veränderbarkeit dieses Glücks. Nicht nur, daß die Semantik des Wortes selbst, seine Oppositionsstellung zum Adjektiv unglückselig, gerade seine Unbeständigkeit signalisiert. Glück bedeutet nicht nur den Glückszustand sondern auch sein unvermeidliches Vergehen. Dieses zukünftige Vergehen wird durch verschiedene temporale Signale angedeutet. Die gegenwertige Stunde verweist implizit auf eine künftige, die der Gegenwart ihre Zeitweiligkeit weisen wird. Und das Präteritum sagte ich indiziert bereits eine Differenz der Gegenwart des Erzählers zur Gegenwart des Helden und impliziert damit, daß die gegenwärtige Situation des Erzählers eine andere ist als die vergangene des Helden. M
Corylo II, 26, 167, 18-24.
Brutus: Mensch als Vehikel, Raum als Vakuum
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Dieser Zeitweiligkeit, der ein scheinbar erreichtes Ziel letztlich unterworfen ist, entspricht die Bedeutungslosigkeit des Sprechers. Denn sein Glück macht ihn genauso wie sein Unglück zur Spreu, die von ihren positiven und negativen Erlebnissen wehrlos in der Welt herumgetrieben wird. Das Glück und das Unglück des Schelmen sind gesellschaftlich vermittelte Erfahrungen. Die Gesellschaftsordnung, dies ist die Unglückserfahrung Corylos, garantiert kein dauerndes Glück. Gerade die inneren Antinomien der Symmetrie, die auf Ungleichheit beruhte, haben ja das Glück Sancissas und Corylos bislang verhindert. Und es besteht kein Grund, warum dies nicht auch künftig der Fall sein sollte. Auf diese Weise dementiert das Romangeschehen die Garantie poetischer und gesellschaftlicher Ordnung für Glück und Bedeutung des einzelnen. *
Die Welt des Helden, dies ist der vorläufige Ertrag der vorangegangenen Textanalysen, stellt sich als fremde, rein äußerliche Ordnung dar, die ein zurechenbares, konsequentes Handeln nicht zuläßt und damit eine zusammenhängende, bedeutungsvolle Erzählung der eigenen Geschichte unmöglich macht. Raum und Zeit seines Handelns werden eingenommen von fremden Personen, die zwar immer wieder Hinweise auf Sinn und Bedeutung geben, sie aber im letzten verweigern. Kommunikation findet lediglich in ihrer negativen Form, als Verstellung und Verschlossenheit, statt. Damit reduziert sich auch die bereiste Welt auf eine austauschbare Materia, in der jeder Ort, jede Zeit und jede Person beliebig mit etwas Vergleichbarem und mithin Gleichgültigem vertauscht werden kann. Der Gang der Erzählung zeichnet die Entfremdung des Helden von seiner Welt nach, indem er den Lebensgeschichten der Mit- und Gegenspieler auch Erzählungen und Diskurse an die Seite stellt, die anscheinend rein zufallig in das Geschehen eingeflochten werden. Ihre herausgehobene Stellung innerhalb des Romanganzen läßt in ihnen jedoch Exempel vermuten, die das Geschehen mit einem nachgereichten Sinn versehen sollen. Dieser Exempelfunktion werden die Erzählungen und Diskurse jedoch lediglich auf eine negative Weise gerecht. Die Erzählung des Schülers Peter Kirschner über seine Schulzeit und speziell über den Cantor Emilius Brutus bietet das recht zwiespältige Exempel eines Lebenslaufes. Auf den ersten Blick scheint er einen positiven Kontrast zu Corylos Geschichte darzustellen, da der fahrende Schüler sich seiner Herkunft und damit seiner Rolle offenbar bewußt ist. Inwiefern hier aber ein Erzähler den souveränen Mittelpunkt seiner eigenen Erzählung darstellt, ist doch fraglich. Ich habe in der Einleitung bereits auf die chronotopische Funktion des Erzählens innerhalb dieses Lebenslaufes aufmerksam gemacht, verbindet doch der Erzähler die phantastischen Rittergeschichten seiner
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Schulzeit und seine erzählende Erinnerung an diese vergangene Zeit mit einer Fluchtbewegung aus der jeweils vorderhand liegenden Gegenwart. Zudem reduziert sich die Lebensgeschichte des Schülers in ihrer Erzählung fast gänzlich auf den Bezug zu dem Cantor Emilius Brutus. Offenbar löst sich die Biographie des Schülers in die einzelnen Schwänke einer Pedantensatire69 auf, die nach Bedarf und Belieben um einen weiteren Schwank ergänzt werden kann.70 Die in sich isolierten und dadurch bedeutungslosen Erzählsegmente haben ihre Entsprechung innerhalb des Erzählten in den Elementen der lateinischen Sprache, die Emilius Brutus zu lehren hat. Seine Gestalt variiert das bekannte Schema der Satire dadurch, daß er nicht nur Schulfuchs und Pedant ist, sondern darüber hinaus auch noch Ignorant, der die von ihm benutzte Sprache nicht beherrscht. Dies drückt sich auch in der Latinisierung seines Namens Emanuel Brut aus. Wie der Name Periander hat der Name Brutus die Funktion der Erinnerung an antike Gestalten, durch die der Namensträger des Romans im Vergleich lächerlich und bedeutungslos wirkt. Die Figur des Latein- und Musiklehrers hat wenig gemein mit der sagenhaften Gestalt der Republikgründung, die den letzten römischen König vertrieb, oder des Republikaners, der am Attentat auf CAESAR beteiligt war. Die lächerliche Wirkung des Vergleichs erhöht sich durch die Bedeutung des Adjektivs brutus, das mit 'schwergewichtig', 'unbeholfen' oder 'blöde' übersetzt werden kann. Damit steigert die Erzählung die komische Wirkung, die der hochtrabende lateinische Name des Pedanten71 ohnehin hat, durch dessen Ignoranz, die das verwendete Sprachmaterial zunächst zur bedeutungslosen Materie macht und erst im Negativ mit einer ironischen Bedeutung für die Erzählung versieht. Denn Bedeutung erhält Emilius Brutus für die Erzählung in seiner Bedeutungslosigkeit, durch seine Funktion als Objekt der an ihm verübten Streiche. Dieser Objektstatus findet seinen raum-zeitlichen Ausdruck im Gestas des Anfuhrens, dem Brutus unterliegt. Das Vertrauen, das er im Alkoholrausch in den Schüler setzt, der ihn führen soll, wird nicht erfüllt. Wie Lazarillo, der sich an seinem blinden Lehrmeister rächt,72 nutzt der Schüler die Gelegenheit, sein Inferioritätsverhältnis zum Lehrer umzukehren, der nun entgegen der von ihm verwendeten Semantik - zum wehrlosen Kind wird: "
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Zur Gestalt des Pedanten in Komödie und Roman vgl. GÜNTER BERGER, Der komisch-satirische Roman und seine Leser, Poetik, Funktion und Rezeption einer niederen Gattung im Frankreich des 17. Jahrhunderts, Heidelberg (Winter) 1984, 106-112. So heißt es im Corylo II, 24, 161, 13-17: So bald wir zu dem Dorff hinaus / wurde der vorige auffs neue gebeten / nur noch ein eintziges Stücklein von Emilio Bruto zu erzehlen / den dieselbige waren zum allerlustigsten zuhören gewesen /deßwegenßenge der vorige an und sagte: "Eins kan ich nicht wol abschlagen. [...]." Einen solchen Namen führt etwa auch der Pedant Hortensms ('das Gartengewächs'), der zugleich an den großen Redner und Rivalen CICEROS gemahnt, in SORJELS Francion. Vgl. "Das Leben des Lazarillo von Tormes, seine Freuden und Leiden", deutsch von HELENE HEINZE: Spanische Schelmenromane, hg. von H O R S T BAADER, Band 1, München (Hanser) 1964, I, 23; Lazarillo de Tormes, ed. de FRANCOSCO R I C O , Madrid (Cátedra) '1992,1, 4 4 / 4 5 .
Brutus: Mensch als Vehikel. Raum als Vakuum
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Liebes Kind [...] bringe mich nur dasmal nach Hauß / ich bin gar zu voll. Mehr konte er nicht sagen / derohalben führte ich ihn eine Gasse hinein / die andere wieder hinauß und da wir hetten in einer viertel Stunde nach Hauße gehen können/ da wiese ich ihn in der Stadt wohl eine gantze Stunde herum [•••]·ηι
Der Schülerstreich verdeutlicht noch einmal das Verhältnis der bedeutungslos gewordenen Person zu den bedeutungslosen Räumen und Zeiten. Da es dem Brutus an Orientierungssinn mangelt, werden die sinnlosen Strecken, die er geführt wird, und die bewußtlose Stunde, die er vertut, zu bloßen Vehikeln einer Posse, die auch ihn zum reinen Vehikel im wahrsten Wortsinn herabwürdigen. Der Mensch ist auf den Status eines entliehenen Karren reduziert, der nach Lust und Laune durch alle Pfitzen und Lacken gelenkt wird, bis man ihn an Ort und Stelle abgibt, ohne Verantwortung fur seinen Zustand zu übernehmen. Der Mißbrauch jedoch affiziert auch den Mißbrauchenden. Denn der Lustgewinn des Streichs beruht ja auf einem Rollentausch. In seinem Mißbrauch wiederholt der Schüler lediglich die Mißhandlungen, die er von dem Lehrer erfahren hat. Nicht umsonst betont der Erzähler wiederholt, daß es sich bei seinen Streichen um Revange gehandelt habe.74 Diese Revanche suggeriert dem Schüler zunächst, daß er die Grenzen seiner Rolle durchbrechen könne, so wie er mit seinen Streichen wiederholt durch das Fenster aus dem verschlossenen Orth75 des Schulgebäudes ausbricht oder in das verschlossene Stilblein76 des Cantors einbricht. Als die Schüler für die Überschreitung des Raumes bestraft werden, weil sie so spat weren nach Hause gekommen, kontern sie das Eingeschlossensein mit dem Einbruch beim Lehrer. Doch bestätigen die Streiche im letzten die Rollen, die eben nur zeitweise vertauscht werden, und binden den Schüler an die Grenzen des Raumes, die er zeitweilig durchbricht. Die Räume bleiben verschlossen gegen die ersehnte große Welt, wie die Personen gegeneinander verschlossen bleiben. Der Raum des Geschehens erweist sich als sinnentleertes Vakuum, aus dem es für die Beteiligten kein Entrinnen gibt. Deshalb bleibt auch der Erzähler obsessiv an seinen Gegenstand gebunden. Über den Schüler Peter Kirschner ist viel weniger zu erfahren als über seinen Lehrer Brutus. Indem der Schüler den Lehrer zum bloßen Vehikel seiner Streiche und Schwänke macht, bestätigt er seine eigene Bedeutungslosigkeit. Denn durch all seine Handlungen spiegelt sich der Schüler in seinem Lehrer. Der Rollentausch mit dem Lehrer, dessen Strafen als sinnlose Beengung empfunden werden, läßt auch das eigene Handeln zur sinnlosen Wiederholung und Variation des Vorbildes werden und verstärkt die eigene Vertauschbarkeit. Noch die Auflehnung gegen die aufgezwungene Ordnung bestätigt ihre Mechanismen, so daß ihrer Äußerlichkeit nichts 73 74 73 76
Corylo U, 17, 146, 13-18. Vgl. Corylo II, 20, 153 1 und 24, 162,26. Vgl. Corylo II, 19, 149, 1 - 150, 14. Vgl. Corylo II, 20, 152, 40 - 153, 20.
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Beers Corylo
Eigenes entgegensteht. Das negative Exempel der eingefügten Erzählung besteht in der Verweigerung eines positiven Exempels, in der Erkenntnis, daß die Orientierung an einem Exempel, und sei es noch in der Haltung der Revanche, kein Modell für das eigene Leben abgeben kann. Das Leben der Figuren, die sich unter einer äußerlichen Ordnung fremd bleiben, verschließt sich jeder Anknüpfung. Die Äußerlichkeit der Gesellschaftsordnung hat ihr poetisches Korrelat in der Zufälligkeit, mit der sich die Figuren in den Räumen und Zeiten des Romans begegnen, und zugleich in den Erzählungen und Diskursen, mit denen sie sich ihre Zeit vertreiben. Diese Gespräche, die im zweiten Teil des CoryloRomans erscheinen, haben nicht nur die Lebensgeschichte der Sprecher zum Inhalt. Zuweilen handet es sich um ganz zufällig gewählte Materien, die in ihrer Beliebigkeit die Funktion des negativen Exempels übernehmen. Direkt zu Beginn des zweiten Teils ist das gestörte Verhältnis des einzelnen zur Welt, das durch die gesellschaftliche Stellung nicht vermittelt werden kann, Thema eines ersten erzählerischen Einschubs, ohne daß sich aus dieser Erzählung für Corylos Geschichte ein Schlüssel ergäbe. Auf der Handlungsebene drückt sich dies bereits durch das rein zufällige Zusammentreffen Corylos mit einer Gesellschaft von Kauffleuten aus, denen sich einige mitlauffende Handwercks-Bursch angeschlossen haben. Die Berg-Vestung, an der dieses Zusammentreffen sich ereignet, bietet der Reisegesellschaft eine Materi den Weg mit unterschiedlichen Discursen zuverkürtzen.77 Weg und Gespräch stehen also in keinem notwendigen Verhältnis zueinander, das Phänomen am Wegesrand bietet vielmehr Gelegenheit, die gegenwärtig zu durchlaufende Zeit zu vertreiben, sich ihrer Gegenwärtigkeit zu entledigen. Die Städte und Schlösser, von deren Bestürmung und Einnehmung nun die Rede ist, bilden keine gemeinsam gemachte Erfahrung, sie stellen vielmehr eine austauschbare Materi zur Verfügung, die der gesprächsweisen Disposition über Raum und Zeit zugänglich ist. Offenbar entspricht dieser Umgang mit den Materien der Unterhaltung der Weitläufigkeit der Kaufleute, deren Beruf ja eine Disposition über Zeiten und Räume und ihre profitable Vertauschung mit sich bringt. An den mitreisenden Handwerksgesellen hingegen wird die Mitsprache in politischen Fragen getadelt. Der Zugriff auf die Räume des politischen Handelns und die Zeiten der Kriegsereignisse soll ihnen verwehrt bleiben. Schon in der gedanklichen Bewegung eines Handwerkers, der sich gesprächsweise in die Politik einmischt, wird der Umsturz der ständischen Ordnung vermutet. Der Handwerker soll an seine alltägliche Arbeit gebunden bleiben, so daß er fuglich von seinem erlernten Handwerck zuerzehlen hat. Noch härter fallt das Urteil über die Bauern aus, die in denen Bier-Schencken eine Meinung über den Zustand der Königreiche / Landschafften und Provintzen äußern, anstatt "
Vgl. Corylo II, 1, 101,29- 102, 14.
Diskurs: Disposition
über Raum und Zeit
537
sich auf ihren unmittelbaren Handlungsbereich zu beschränken. Der freien gedanklichen Bewegung der Kaufleute, die im Kopf Räume und Zeiten überwinden und vertauschen können, stehen die Einbindung des Handwerkers in die hergebrachte Ordnung und die Bindung des Bauern an seine Scholle gegenüber. An den Ständediskurs knüpft ein mitreisender Kaufmann das Schwankmotiv von dem Unterthanen, den der Fürst auf sein großsprecherisches Verhalten hin in den Kriegs-Rath aufnimmt und später sogar zum Generalissimo über seine Armada bestimmt, um ihn bloßzustellen.78 Die ständischen Grenzen, die den Ausgangspunkt des moralisierenden Diskurses gebildet hatten, werden hier nun auf den Gegensatz zwischen Fürst und Unterthanen hin zugespitzt. In der Instanz des Fürsten fokussiert sich die Ordnung, die dem einzelnen seinen Platz in der Gesellschaft und damit in der Welt zuweist. Die Ordnung versieht den einzelnen mit einem begrenzten Handlungsspielraum und dadurch mit einer gesellschaftlich definierten Identität, mit der er sich zu begnügen hat. Resigniert schließt der Kaufmann: Ich lasse meinen Nechsten wer er ist / und bleibe wer ich bin / so sind wir alle beyde zufrieden,79 Genau diese Zufriedenheit will sich aber offenbar nicht einstellen, sonst käme es ja nicht zu den Kompetenzüberschreitungen, von denen seine Erzählung berichtet. Offenbar ist der Nechste nicht zufrieden damit, wer er gesellschaftlich ist. Und Corylo, der buchstäblich niemand ist, da er noch nicht einmal einen erkennbaren Platz in der ständischen Ordnung einnimmt, muß von einer solchen Auskunft noch unbefriedigter bleiben. Wenn Corylo als Erzähler die mit dieser Materie verschwendete edle Zeit beklagt und resignierend hinzufügt, die Welt lasse sich nicht mehr in einen andern Model giessen, dann meint er damit zunächst den von ihm beklagten Mißstand, daß dergleichen Leuthe sich mit ihrem Stand, mit ihrem Platz im Leben offenbar nicht zufriedengeben wollen.80 Zugleich aber verwendet er eine Formulierung, die im ersten Teil gerade für den kompetenzüberschreitenden und zeitverschwenderischen Diskurs der untreuen Edelfrauen und ihrer Freundinnen verwendet worden war. Es sind ja gerade die Unzufriedenen, die die Welt in einen andern Model giessen wollen.81 Der Diskurs, der die Ordnung des ständisch gegliederten 7
*
Vgl. Corylo II, 1, 102, 24 - 103, 42. Es handelt sich um ein verbreitetes Schwankmotiv. In CERVANTES' Don Quijote herrscht Sancho Pansa erfolglos über die angebliche Insel Barataría. Vgl. MIGUEL DE CERVANTES SAAVEDRA, Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, deutsch v o n LUDWIG BRAUNFELS, M ü n c h e n ( W i n k l e r ) 1 9 5 6 , II, 4 4 , 8 7 3 - 53, 9 5 9 . In B u c h XI v o n SORELS
Francion wird dem Narren Hortensius zum Schein die polnische Krone angetragen. Vgl. auch CHRISTIAN WEISES Komödie Ein wunderliches Schau=Spiel vom Niederländischen Bauer / welchem der berühmt Printz Philippus Bonus zu einem galanten Traume geholffen hat. Das Stück ist a b g e d r u c k t in: CHRISTIAN WEISE, Sämtliche
spiele III = Ausgaben 79
Werke,
hg. von JOHN D. LINDBERG, B a n d 12,2: Lust-
deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts,
Berlin/New York
(de Gruyter) 1986,231-390. Corylo II, 1 , 1 0 4 , 1 2 / 1 3 .
"
Vgl. Corylo Π, 2, 104, 18-20.
"
Vgl. Corylo I, 11, 41, 33-35. Dort sagt der Schreiber über das schandlose
Leben der Edel-
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Beers Corylo
Obrigkeitsstaates stützen will, bedient sich der umstürzlerischen Formel von der Veränderung der Welt und gibt in seiner Resignation zu erkennen, daß sich die angeblich gottgewollte Ordnung nicht aus sich selbst erklärt und stützt. Die Ordnung insgesamt stellt keinen zwingenden, substantiellen Zusammenhang dar, vielmehr sind die Funktionen, die sie den einzelnen Gliedern der Gesellschaft zuweist, ihnen äußerlich und zufällig. Deshalb kann sich auch keine abschließende Zufriedenheit mit der gesellschaftlich vermittelten Identität einstellen. Selbst, wenn die Ordnung der Dinge dem einzelnen sagt, wer er ist, stattet ihn dies nicht mit einer endgültigen Antwort auf die Frage nach seiner Geschichte und seinem Platz in der Welt aus. Die Fähigkeit, erzählend und diskursiv über Zeiten und Räume zu verfugen, konfrontiert ihn mit der Möglichkeit, daß auch er eine andere Rolle im Leben einnehmen könnte. Noch der moralisierende Schwank vom Meister Conrad als General zieht diese Möglichkeit in Betracht. Deshalb bleibt auch jeder belehrende Diskurs, der in die Erzählung eingeflochten wird, den Figuren und Ereignissen rein äußerlich. In einem solchen diskursiven Zusammenhang wird das Bild der Landkarte bemüht, die aus der Spannung zwischen den dargestellten besonderen Verhältnissen und ihrer egalisierenden Verallgemeinerung ihr spezifisches Verhältnis zur Realität bezieht. Dieses Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen gewinnt durch die Konversation zweier Fremder, die völlig unvermittelt in das Romangeschehen eingefügt ist, eine emblematische Funktion für das Romanganze, wird doch die Äußerlichkeit jeder aufgelegten Ordnung in diesem diskursiven Einschub noch einmal manifest. Damit wird die Landkarte, auf der jeder Ort erreichbar und vertauschbar erscheint, zum Inbegriff für den Chronotopos des zweiten Romanteils. Corylo belauscht in einem nächtlichen Wirtshaus das Streitgespräch zweier Fremder über die Vorteile des Lebens bei Hofe oder in einer Stadt.82 Er selbst spürt keine Neigung, seine Anwesenheit bemerkbar zu machen und sich an ihrer Conferenz zu beteiligen, da er sie für Mahler oder andere Künstler hält und ihm an dergleichen Profession wenig oder gar nichts gelegen ist. Corylo tritt also aus Desinteresse mit den Personen nicht in Kontakt und wird eher unfreiwillig Zeuge ihres Gesprächs, dessen Bedeutung für ihn deshalb auch zweifelhaft bleibt. Allenfalls sieht sich der in seinem verschwiegenen Versteck Lauschende durch die resignativen Elemente des Diskurses in seiner Heimatlosigkeit bestätigt, wie sie vom Verteidiger des Hoflebens vorgebracht werden. Dieser zeichnet strukturell den mythischen Ort der Erzählung nach, wenn er die conditio humana darin zusammenfaßt,
12
Frauen: Alle löbliche Ordnung undLandesStatuten sollen ihr anders gebacken werden / und wird kein Regiment so klug geßhret / sie will es doch in einen andern Model giessen. Vgl. zum folgenden Corylo II, 14, 134, 27 -139, 42.
Landkarte als Emblem der
Vertauschbarkeit
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[...] Daß wir Menschen gleich sind denen eingeschlossenen Vögeln / die wären gern aus ihren Bauer heraus / hingegen wären die so heraussen / gerne drin
In diesem Zitat fließt die Erfahrung des Eingeschlossenseins und Ausgeschlossenwerdens mit der Fluchtbewegung der Phantasie zusammen, die den angemessenen Platz des Menschen immer da lokalisiert, wo sich der Mensch nicht befindet. Für den Sprecher zeitigt diese Grundbefindlichkeit zwei widersprüchliche Schlußfolgerungen. Zum einen sei kein Orth so wol bestellet [...]/ darin man nach allen Belieben / (ich setze in allem) leben / und sich auffhalten könne.** Zum anderen aber folgt aus der Nichtexistenz des geeigneten Ortes, daß ein Kerl, der seine Sachen verstehet, schließlich überall einen gebauten Acker finde.85 Wenn sich nirgends der passende Ort findet, ist jeder Ort recht und in gewisser Weise geeignet. Diese erstaunliche Schlußfolgerung verdichtet sich in einem chronotopischen Bild, das die Gleichwertigkeit und Gleichgültigkeit aller Orte illustriert und damit zugleich ein Modell der Aneignung von Raum und Zeit im CoryloRoman bereitstellt. Indem der Diskurs das Bild der Land-Carthe evoziert, hebt er nicht ihren differenzierenden, sondern ihren egalisierenden Charakter hervor: [...] ist es nicht hier / so ist es anders wo / sehet nur ein wenig in die LandCarthe / O Pots tausend / wie werdet ihr ein hauffen Städte / Schlösser / Dörffer / Marcktflecken Klöster/ Insuln und dergleichen erblicken.86
Die Karte dient hier nicht dazu, einen bestimmten Ort zu finden und zu erreichen, sondern die Unterschiede, auf denen sie selbst beruht, einzuebnen. Damit wird die Landkarte zum Emblem der Vertauschbarkeit, der die Einzigartigkeit des angeeigneten Besonderen fremd bleibt. Als Instrument der Weltaneignung wäre die Karte so gelesen unbrauchbar, lehrte doch schon die Realität den unerfahren Guzmán bei ALEMÁN und ALBERTINUS, daß die Orte der Welt keineswegs auf einem Haufen beieinanderliegen, sondern durch beschwerliche Wege und beträchtliche Unterschiede voneinander geschieden sind. Die Einebnung des Unterscheidenden führt im letzten zum Weltverlust. Indem er die Landkarte zum Emblem der Beliebigkeit und Vertauschbarkeit macht, untergräbt der Sprecher sein Plaidoyer für eine bestimmte Form der Lebensführung, nämlich die bei Hofe, da offenbar auch der Dienst in einer Stadt zu den gleichwertigen und somit gleichgültigen Alternativen zählt. Der Diskurs verweigert die orientierende Funktion, die er verspricht. Schon die Allgemeinheit seiner Form und die Unvermittelheit mit der Situation des heimlichen Zuhörers entlarven seine Untauglichkeit für das einmalige, 13 14
" "
Corylo II, 14, 137,33-35. Vgl. Corylo II, 14, 136, 5/6. Vgl. Corylo II, 14, 138,31. Corylo II, 14, 138, 32-34.
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Beers Corylo
unverwechselbare Leben, dem Corylo mit der Frage nach seinem Platz in der Welt und in der Geschichte auf der Spur ist. Der Inhalt des diskursiven Einschubs entspricht der rein äußerlichen Verknüpfung mit Corylos Situation. Gerade in dieser Äußerlichkeit bietet er einen Kommentar zur Lage des Helden. Der zufällige Lauscher in der Verschlossenheit seines dunklen Verstecks ist das getreue Abbild des eingeschlossenen Menschen, von dem die Rede war. Corylo ist genau der Mensch, der überall hingehen kann, weil er nirgendwo seinen Platz hat. Die austauschbare Landschaft in BEERS Corylo ist in ihrer Beliebigkeit also für den Roman nicht zufällig. Denn sie entspricht der Erfahrung des Helden, überall gleich unwillkommen und fehl am Platze zu sein. Zu Beginn habe ich auf die eigenartige Form der Reisebeschreibung im Corylo hingewiesen, die an einer konkreten historisch-geographischen Landschaft uninteressiert ist. Als ebenso vertauschbar wie die Orte erwiesen sich aber auch die Beziehungen zwischen den reisenden Personen, die sich zufallig begegnen und sich mit gleichgültigen Gesprächen die Zeit vertreiben. In einem ersten Schritt habe ich diese Form der Räume und Zeiten auf die Randposition des peripheren Ich-Erzählers im Corylo bezogen, die im deutlichen Kontrast zu den Handlungsräumen in SORELS Francion und RIEMERS Politischem Maulaffen stehen. Dort dienen arrangierte Handlungsverläufe und Reiseerlebnisse der Selbstermächtigung der Haupthelden, die unangefochten aus den Intrigen hervorgehen und die Romanlandschaft als Spiel- und Lernmaterial für die Ausbildung ihrer Subjektivität und ihrer Vernunft erleben. Der Held des Corylo hingegen sieht sich allerorten an den Rand gedrängt und in seiner Existenz bedroht. Diese Randposition des Helden wird, wie sich in einem zweiten Schritt ergab, durch die Kontrast- und Nebenfiguren potenziert. Zum einen drängt ihre Präsenz den Helden aus dem Zentrum der Erzählung, zum anderen aber sind Periander, Peter und der Schreiber/Rittmeister selbst wieder Personen, denen ihre Randposition die eigene Vertauschbarkeit vor Augen fiihrt. Periander ist schon von seinem Namen her als ironisches Gegenbild eines bedeutsamen Mannes angelegt. Sein Schicksal spiegelt die Gefahren, die Corylo drohen. Periander wird Opfer seiner eigenen Liebeskabalen, und seine Hinrichtung vor düsterer Theaterkulisse deutet auf das Verschwinden der Figur in den Versionen hin, die über sie im Umlauf sind. Auch dem Kutscher Peter droht das Schicksal, das Corylo um Haaresbreite erspart bleibt, doch verschwindet er sogar schon vor seinem Ende aus dem Blickfeld der Erzählung. Die Person des Schreibers und Rittmeisters spiegelt Corylos Positionswechsel zwischen loyalen und delinquenten Handlungen. Alle Handlungen sind nur von kurzfristiger, zeitweiliger Bedeutung wie das Glück, das das Ziel allen Handelns bildet.
Landkarte als Emblem der Vertauschbarkeit
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Orientierung ist in einer Welt, die von der Funktionalität und Vertauschbarkeit aller Personen geprägt ist, auch von allgemeinen Diskursen nicht zu erwarten. Im Bild der Landkarte, die einen Überblick über den Raum verspricht, doch der Besonderheit der einzelne Orte nicht gerecht wird, verdichtet sich der Handlungsraum des Cory/o-Romans noch einmal. Die diskursive Beherrschung der Welt, wie sie der absolutistische Zentralstaat, das bürgerlich-kaufmännische Ethos und der Politische Roman versprechen, funktioniert als Unterwerfung. An dem Besonderen jedoch, nach dem Corylo sein Leben hindurch auf der Suche ist, geht diese Ordnung der Dinge vorbei. Die Figur funktioniert in ihrer Lebensgeschichte und für die Romanerzählung, doch findet sie nicht zu sich selbst. Was sie tut und sagt, bleibt gleichgültig für die Welt und für das eigene Schicksal. Corylos erfolgloser Versuch, Ich zu sagen, deutet auf die zerstörerische Dynamik der Ordnung hin und führt die Ich-Form des Schelmenromans an ihre Grenze. Der unerreichbare, mythische Orth von Coiylos Geburth, der auf keiner Landkarte zu finden ist, entzieht sich seiner Fixierung genauso wie die mythische Geschieht, mit sich der IchErzähler seiner selbst versichern will. Der Zugang zur Welt bleibt dem Helden verschlossen und seine Frage nach dem Ursprung bleibt offen.
Rückzug aus dem Blickfeld: Verschwinden des Schelmen und Erscheinen des Gegenüber Am Schluß werden sich die Pforten des Klosters hinter Corylo schließen, und die anfangs gestellten Fragen werden offenbleiben. Das betrifft vor allem die Frage Coiylos nach der verbürgten Herkunft, die ihm einen Platz in der Welt garantieren würde. Bevor er eine Antwort auf die Frage hat, wer sein Vater gewesen, glaubt Corylo auch nicht, Zugriff auf die gantze Historie seines Lebens zu haben. Deshalb sieht er sich vorläufig nicht in der Lage, einer Bitte Sancissas folgend die Geschieht etwas außflihrlicher auff diesem orth zu Papier zubringen.1 Der orth der Aufzeichnungen ist Sancissas Schloß, das nach ihrem und seinem Willen Coiylos festen Platz in der Welt markierte, sollte sich Sicheres über seine Herkunft erfahren lassen und er damit als Heiratspartner für sie in Frage kommen. Das Schloß ist der Chronotopos symmetrischer Austauschbeziehungen, hier definiert sich eine Person über Familie und Stand. Damit ist das Schloß jedoch auch mythischer Ort des Einschlusses und Auschlusses. Wir erinnern uns: Zu Beginn der Erzählung hatte Corylo einen klar definierten Platz innerhalb der geschlossenen Gruppe, bevor er aus ihr ausgeschlossen und in die pikareske Heimatlosigkeit verstoßen wurden. Mit Corylos Rückkehr an den mythischen Ursprungsort der Erzählung verbindet sich die zweite Bedeutung des Ortes, an dem die Geschieht aufgezeichnet werden soll. Denn der Ort einer Geschichte ist ihre Erzählung, der Ort mythischer Sachverhalte ist der Mythenbericht. Im materialen Sinne ist dieser orth nichts anderes als das Papier, auf dem der Lebenslauf aufgezeichnet werden soll. Im strukturellen Sinne ist er identisch mit der Erzählung, die aus der Zerstörung des mythischen Ausgangspunkts als Mythos der Heimatlosigkeit hervorgegangen ist. Dieser Mythos soll nun mit der Feststellung des Herkunftsortes zu einem Abschluß gebracht werden, womit sich eine geschlossene Ringform ergäbe: Indem Corylo den geographischen und gesellschaftlichen Ort seiner Geburt erführe, erreichte er zugleich den Zielpunkt seines Weges, den sicheren Platz an der Seite Sancissas. In gewisser Weise wäre dieser Zielpunkt identisch mit den zu Beginn der Erzählung evozierten Anfängen seines Erinnerns, das ihn immer schon an der Seite der Sancissa gesehen hatte. Doch schließt sich die Erzählung eben nur scheinbar zu dieser Ringform. Dies deutet sich schon darin chronotopisch an, daß die Herkunftsgeschichte, die Corylo einer vornehmen Geburt versichern soll, erst nach einer Ortsverschiebung zu erfahren ist. Zunächst muß Corylo eine Strecke von zweymeilVgl. Corylo II, 27, 168, 15-27.
Orte des Herkunftsmythos: Schloß, Wald, Straße, Papier
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wegs zurücklegen, um in einem andern Schloß zu übernachten. 2 Dieser Orth ist nicht nur altvaterisch, sondern auch durch das nächtliche Umgehen eines ungeheures fiirchteinflößend. Das Gespenst, das noch aus dem 30jährigen Krieg stammt, läßt sich nicht vertreiben. In der altvaterischen Umgebung ist die unheilvolle Vergangenheit noch gegenwärtig. Deshalb können Corylo und der Schloßherr im Gespräch nimmer so weit abweichen, daß nicht wegen des Gespenstes Gedacht würde. Die Vergangenheit läßt sich nicht gesprächsweise umgehen. Hier herrscht Geschichte als ungebrochene Gewalt mythischer Vergangenheit über die Gegenwart. Diese Zeitform der gegenwärtigen Vergangenheit bestimmt auch den Ort, an dem Corylo etwas über seine Herkunft zu erfahren hofft. Innerhalb der Erzählung ist er eine halbe viertelmeil entfernt von dem unheimlichen Schloß lokalisierbar und zugleich ein Abseits, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. 3 Dort wohnt allgemach ins vierundzwantzigste Jahr ein Einsiedler. Die Geschichte des Einsiedlers, in der Corylo den verläßlichen Mythos seiner Herkunft zu sehen glaubt, enthält in nuce alle Elemente, die auch Corylos Biographie bestimmen. Herkunft erscheint nicht als reiner Ursprung, sondern als Wiederholung und Abwandlung, die nur durch die rigorose Stillstellung der Zeit in der Einsiedelei zu bannen sind. Denn im Leben des Einsiedlers gibt es ähnliche Elemente wie in Corylos Geschichte: die Jugend in vornehmer Umgebung, die unziemliche Liebe zu einer Frau, die ihm wie eine Schwester nahesteht, und den gesellschaftlichen Abstieg von der Herrenrolle in die Dienerposition. Da muß das Leben des Einsiedlers wie eine Variante desselben mythischen Modells erscheinen und liefert zugleich die Begründung daftir, daß Corylo ein ähnliches Schicksal wiederholen muß. In jungen Jahren ist der Einsiedler auß Normandien nach Deutschland gekommen und hat seine gesellschaftliche Stellung als gebohrner Hertzog mit einer Anstellung als Kammer-Diener vertauscht. Der soziale Abstieg wird durch die Liebe zur Schwester des neuen Herrn motiviert. Offen bleibt, warum bei seiner vornehmen Abkunft keine legale Verbindung herzustellen war. Diese Unlogik erklärt sich indes durch ein e Motivation von hinten,A soll doch Coiylos angebliche Abkunft einerseits ihren Ursprung in höchsten gesellschaftlichen Kreisen haben, andererseits aber unter dem Vorzeichen der Illegitimität stehen. Denn der nachmalige Einsiedler schwängert die geliebte Jungfrau, die nun ihrerseits einen einsamen Ort aufsucht, um die Tatsache ihrer Schande zuverhehlen. Hier begegnet zum ersten Mal die chronotopische Verbindung zwischen dem Gestus der Verschlossenheit und dem verschlossenen Raum. Doch nach der Geburt des Kindes wird dieser Raum von außen aufgebrochen, als 2 5
'
Vgl. Corylo II, 27, 169, 18 - 29, 172, 11. Vgl. Corylo II, 29, 172, 12 -173, 14. Zur Motivation von hinten als Ausdruck eines mythischen, vorindividuellen Analogon vgl. CLEMENS LUOOWSKI, Die Form der Individualität im Roman, hg. von HEINZ SCHLAFFER, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 151) 1976, 66-81.
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Beers Corylo
der Bruder der Frau unversehens erscheint und den Kindsvater zwingt, mit dem Kinde in einen Wald zu reiten. Jener Wald ist uns bereits als mythischer Ort bekannt, in dem beinahe die ganze Welt aufgehoben ist. Auch hier findet sich die Strasse, auf die das Kind gelegt wird und die den Chronotopos seiner künftigen schelmischen Existenz vorzeichnet. Die Straße als Ort der Begegnung von Fremden ermöglicht die Fortsetzung der rein physischen Existenz unter den Bedingungen der Anonymität. Als solche ist sie das Gegenbild des Schlosses, in dem die Komplexität der Austauschbeziehungen durch Ausschluß der nichtstandesgemäßen Personen reduziert werden kann. Offenbar basiert Corylos Herleitung seiner Abkunft nicht auf sicheren Tatsachen, sondern auf der Konjektur anhand räumlicher und zeitlicher Angaben. Die Anzeigungen des Einsiedlers stimmen mit seinem Alter überein, und der Ort des Geschehens ist als der Wald des Holtz-Graffen lokalisierbar. Corylo bedient sich wissenschaftlicher Methoden, um der Komplexität der erzählten Ereignisse Herr zu werden und die ihm bekannten Versionen seiner Herkunft in Einklang zu bringen. Auch hier hat sich der mythische Ort der Herkunft im nachhinein als Chronotopos der verdrängten Komplexität erwiesen. Erst durch interesse- und methodengeleitete Nachforschung können die einzelnen Elemente zur Stimmigkeit gebracht werden. Das Erzählen als Mythos wird zur Folie, auf der die wissenschaftlichen Formen der Weltaneignimg mit der komplexen Realität konfrontiert werden. Damit wird das Erzählen zur kritischen Instanz, die den gesellschaftlichen Konsens über Wahrheit und Wirklichkeit in Frage stellt. Das wird da noch deutlicher, wo die von Corylo hergestellte Plausibilität von einer weiteren Version seiner Herkunftsgeschichte in Frage gestellt wird. Als alte Weiber dem zum Herrn gewordenen und verwitweten Corylo ihren Lebens-Lauff erzehlen sollen, berichtet eine Frau von einer Bekannten, die ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hat.5 In ihrem Auftrag hat die Erzählerin das Kind zur Schwester der Mutter bringen wollen. Doch unterwegs in einem Wald eingeschlafen, habe sie beim Aufwachen das Kind vermißt, dann allerdings zu ihrem Glück das Kind an der Strasse liegen gefunden. Nur, daß es nun kostbahrer eingewickelt gewesen sei und den schwarzen Fleck, den es auf der Brust trug, verloren habe. Diese beiden neuen Indizien, die Kleidung des vornehmen Kindes und das Körpermal des Bauernjungen, führen Corylo den gantzen Fehler seiner bisherigen Schlußfolgerungen vor Augen: Auß dieser Erzehlung wurde ich erst klug / und merckte den gantzen Fehler / ich öffnete auch Abends meine Brust / und verstünde darauß / daß ich des BaurnKerls sein Sohn war. Sie stimmte mit der Zeit und dem Orth gantz überein/ also / daß ich mich biß dahero vergebens vor eine so hohe Person gehalten.6 '
Vgl. Corylo II, 30, 174, 12 - 175,2.
Herkunftsversionen: Erzählen als Ausdruck der Ambivalenz
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Die Erzehlung macht den Zuhörer klug, da er sich der Unzulänglichkeit bewußt wird, der die Aneignung von Raum und Zeit durch die Feststellung wissenschaftlicher oder juristisch-gesellschaftlicher Sachverhalte unterliegt. Erst im Erzählen wird die Ambivalenz freigesetzt, die einen Zustand in sein Gegenteil verkehren kann. Gegen die Wandelbarkeit der Verhältnisse versucht die Grenzziehung des Schloßherrn, sich der angeeigneten Welt durch Feststellung von Besitztiteln zu versichern. Das Unstete, mit dem Corylo nach der verstörenden Erzählung der alten Frau seinen zeitweiligen Besitz abzuschreiten und zu vermessen versucht, bevor er sich von ihm trennt, wird zum Ausdruck des Weltverlusts: In und mit solchen Gedancken / Hesse ich mich durch einen meiner Knechte in meinen Gräntzen bald auf dieses bald wieder aufjenes Schloß und Land-Gut führen / bald ruffte ich etliche Bauren zusammen / die musten nach Gelegenheit des Orts zu einer Leyer oder Sackpfeijfen tantzen / [...] wann ich aber hinwiederum betrachtete / daß ich eben dergleichen Baur-Kerl war / so seujfzete ich bitterlich über das wunderliche Geschicke der Menschen / und erkennete erst in dem Werck/ warum diese vergängliche Erde einem rechten Irrgarten verglichen werde/ darinnen die Menschen hin und wieder wallen / und mit ihren blinden Muthmassungen bald da bald dort an eine Wand stossen. Zuweilen messete ich mit einer langen Schnur die Felder ab / und hielte zu Ende dessen meinen eigenen Mahler / welcher mir allerley Riß der umliegenden Schlösser / Städte / Dörffer / Märck-Flecke und Vestungen entwerffen und vorstellen muste.1
Auffallig an diesen Aneignungsversuchen ist nicht nur ihre Unstetigkeit, sondern auch ihre Unstimmigkeit. Der Held versucht das, was der Erzähler weit von sich gewiesen hatte: eine Geographie des von ihm erlebten Raumes zu geben, indem er seine Grenzen erfaßt und seine Orte abbildet. Die Auflehnung des Erzählers gegen diese Aneignungsformen hatte sich aus der Unstimmigkeit des Helden mit der gesellschaftlich vermittelten raum-zeitlichen Realität ergeben. Die Welt erschließt sich nicht, weil sie durch ihre Spielregeln dem Schelmen verschlossen bleibt. Diese Spielregeln besagen, daß es einen Besitzer gibt, der den Dingen sein Maß aufzwingt. Ausdruck der Besitzergreifung ist das Vermessen und Abgrenzen des Raumes. Wo aber abgegrenzt wird, wird auch ausgegrenzt. Der Schelm ist die Person, die mit ihren Ansprüchen ausgegrenzt wird, weil ein anderer das Besitzrecht an dem Boden, auf dem er steht, beansprucht. Indem Corylo den Raum vermißt, spielt er die Rolle des Besitzers in dem Bewußtsein, keine verbindlichen Besitzansprüche zu haben. Zugleich aber wird deutlich, daß der Rollentausch zwischen Besitzer und Besitzlosem von Zufällen abhängt. Das untrügliche Zeichen, das den Menschen zum Herrn oder zum Diener macht, das Körpermal, hängt von der Erzählung einer alten Bauersfrau ab. Die mythische Versicherung über die Rechtmäßigkeit von Herkunft und Besitz ist nichts als eine Erzählung, die durch andere 6
'
Corylo II, 30,174,29-34. Corylo II, 30, 175,3-17.
546
Beers Corylo
Erzählungen überholt werden kann. Mithin löst der Mythos nicht das Rätsel der Welt, indem er die Besitzverhältnisse begründet, er verdichtet vielmehr die Ausweglosigkeit und Verwirrung. Diese Verwirrung jedoch hat ihre Ursache in einer Gesellschaftsordnung, die die Welt mit Grenzen durchzieht und gerade dadurch einen Irrgarten schafft. Hier muß daran erinnert werden, daß den Lesern des 17. Jahrhunderts der Irrgarten als künstlich angelegter Landschaftspark vor Augen stand, der die Gesellschaftsordnung versinnbildlichte. Auch im Corylo-Roman wird der Irrgarten der Erde aus dem wunderlichen
Geschicke der Menschen hergeleitet. Dieses Geschick ist durch die Vertauschbarkeit der Menschen angesichts gesellschaftlicher Rollenzuweisungen gegeben. Zwar mag Corylo als zeitweiliger Schloßherr seine Bauren wegen einer Laune zu einer Leyer oder Sackpfeiffen tantzen lassen. Doch schlägt die Beliebigkeit dieser Betätigung auf ihren Veranlasser zurück, da er aller Wahrscheinlichkeit nach auch nur eben ein dergleichen Baur-Kerl ist und lediglich auf Zeit die Rolle des Herrn spielt, während er vielleicht im nächsten Augenblick schon nach der Pfeife eines anderen zu tanzen hat. Alle Versuche, Lebensraum und Lebenszeit zu beherrschen, indem ihnen mittels kartographisch-künstlerischer Projektionen oder politisch-wirtschaftlicher Projekte Grenzen eingezogen werden, enden für Corylo in blinden Muthmassungen, durch die die hilflosen Akteure zuletzt an eine unüberwindliche Wand stossen. Diese Unstimmigkeit von Held und Welt, die seinen Handlungsraum zum anscheinend unentrinnbaren Vakuum macht, in dem er sich nur durch die endlose Wiederholung fremder, sinnloser Muster bewegen kann, macht zwei Konsequenzen möglich. Die eine denkbare Konsequenz liegt in der Ratifizierung des Weltverlusts durch eine losgelassene Fiktion, die eigene illusorische Räume schafft und nicht mehr auf die Welt selbst, sondern nur noch auf das historiographische Material ihrer literarischen Aneignung reagiert. Ein solches scheinbar freies Spiel der Zeichen liegt in C H R I S T I A N R E U T E R S Schelmuffsky von 1 6 9 6 / 9 7 vor. Unmöglich verzerrte Raum- und Zeitangaben, nach denen etwa eine Reise von Indien zum Mittelmeer 3 Tage und 5 Nächte braucht, während die Überquerung der Ostsee etliche Wochen dauert, erschaffen einen grotesken Globus, dessen einziger Ort im Erzähler selbst liegt.8 Welt ist hier lediglich der Innenraum des Erzählers, der sich als Verzerrung der Realitäten nach außen kehrt. Diese Verzerrung knüpft an zeitgenössische Reiseliteratur an und hat 1
Vgl. CHRISTIAN REUTER, Schelmuffskys warhaffìige curiose und sehr gefahrliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Lande, hg. von ILSE-MARIE BARTH, Stuttgart (Reclam U B . 4 3 4 3 ) 1 9 6 4 , I I , 6 , 1 0 6 und 1 0 7 . Zur Geographie im Schelmuffsky vgl. GUNTER GRIMM, "Kapriolen eines Taugenichts, Zur Funktion des Pikarischen in Christian Reuters Schelmuffsky": GERHART HOFFMEISTER (Hg.), Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext = Chloe 5, Amsterdam (Rodopi) 1 9 8 7 , 1 2 7 - 1 4 9 , hier 1 3 8 .
Anerkenntnis
des Fremden: Ethik der
Vorläufigkeit
547
scheinbar nichts anderes als Literatur zum Gegenstand, weswegen der Schelmuffsky als Literatursatire gelesen wird. Doch zeigt sich selbst hier, daß der tragikomische Lügendiskurs seine satirische Funktion erst durch die Konfrontation mit einer wirklichen Welt gewinnt, deren Verzerrung ja ohne ihre unverzerrte Gestalt nicht zu erkennen wäre. In REUTERS Schelmuffsky findet Weltaneignung als Darstellung des Weltverlusts statt, ist doch hinter der erzählten weiten Welt auf Schritt und Tritt die Stadt Schelmerode (Leipzig) greifbar, in deren Enge der Held während seiner vorgeblichen Reise eingeschlossen bleibt. Weil die Realität jeden Zugang zur Welt verschließt, verschwindet das wirkliche Leben hinter der Fiktion einer Welt, die offen wäre für Reisen zu Wasser und zu Lande. Dieses Verschwinden des Helden hinter seiner größenwahnsinnigen Lügengeschichte, die gerade seine Bedeutungslosigkeit unterstreicht,9 hat seine erstaunliche Entsprechung im gänzlichen Verschwinden des Autors CHRISTIAN REUTER in der Bedeutungslosigkeit, ist doch REUTER nach 1 7 1 0 nicht mehr archivalisch nachweisbar: Reuters Lebensspuren verlieren sich im dunkeln, unbekannt sind seine letzten Lebensschicksale, sind Sterbejahr und Sterbeort [...]. 1 0 REUTER, dem seine literarischen Arbeiten in Leipzig eine Haftstrafe und den Ausschluß von der Universität einbrachten," erfährt eine zweifelhafte Karriere vom bekämpften und eingeschlossenen Außenseiter zum bedeutungslosen Höfling in Berlin, dessen Lebensdaten keiner Erwähnung mehr würdig sind. Hier radikalisiert sich die bei BAHR/BEER beobachtete gegenseitige Verschlossenheit von Leben und Werk, die in der Verschlossenheit der Welt für den Helden ihre Entsprechung hat, zum gänzlichen Verschwinden des Autors REUTER, das sich im Verschwinden des Helden Schelmuffsky hinter den Fiktionen ästhetisch ankündigt. Auch Corylos schließliches Verschwinden hinter Klostermauern ist durch äußere Zwänge motiviert und steht in der Logik seiner Weltentfremdung. Doch deutet sich darin, wie Corylo seinen Abschied von der Welt des Romans handhabt, eine zweite mögliche Konsequenz aus dem Geschehen an, die dem radikalen Weltverlust des Schelmuffsky eine Alternative entgegensetzt. Denn Corylo ist nicht nur ein Getriebener, sondern zum ersten Mal auch ein gestaltend Handelnder, und sein heimliches Verschwinden aus der Welt geht weder
' 10
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Im Corylo vergleichbar dem Lügendiskurs der Periander-Figur und den widersprüchlichen Versionen über sie. WOLFGANG HECHT, Christian Reuter = Realienbücher für Germanisten M 46, Stuttgart (Metzler) 1966, 53. Vgl. HECHT, Christian Reuter 10: Er wurde im Sommer · 1697> für etwa acht Wochen in den sogenannten Bauernkarzer gesperrt, ein übles Gefängnis fir straffällig gewordene Bauern aus den der Universitätsgerichtsbarkeit unterstehenden Dörfern der Umgebung, und im Oktober 1697 auf sechs Jahre relegiert. Auch durfte er Leipzig in dieser Zeit nicht betreten.
548
Beers Corylo
mit ihrer gänzlichen Denunziation noch mit ihrer Auflösung in Fiktionen einher. Die Einsicht, daß seine Position als Besitzer von Ländereien nicht von Dauer sein kann, ergibt sich für Corylo aus der Verstörung durch zwei Versionen über sein Besitzrecht und aus der möglichen Existenz einer anderen Person, die einen berechtigteren Besitzanspruch hätte. Es existiert, zumindest in Erzählungen, eine Person, die Corylo in seinem Besitzstand, ja in seinem physischen Leben bedrohen könnte, offenbarte sie ihre Ansprüche. Corylo scheint wieder in die Grundsituation seines Lebens gedrängt, in die Position des Unterlegenen, der nur im Versteck seiner Verschlossenheit sicher ist. Doch erkennt er, daß die sichernde Funktion der Verheimlichung trügerisch und aus eigener Kraft nicht zu gewährleisten ist. Corylo steht vor einem anscheinend unauflösbaren Dilemma: Er kann die neuen Erkenntnisse über seine Herkunft weder offenbaren noch wirksam verheimlichen, ohne sich den Vorwurf der Anmaßung und Erbschleicherei zuzuziehen. Denn aus dem blinden Glücks-Geschicke könnte etwan unversehens offenbar werden, was er zu verheimlichen sucht.12 In dieser Situation zieht er eine erste Konsequenz aus der Ambivalenz des Handelns und Erzählens, die sein Leben bestimmt. Er zeigt Interesse nicht nur an der eigenen Geschichte und Herkunft. In einer historiographischen Überschreitung des autobiographischen Musters stellt er vielmehr die Frage, wo doch das jenige Kind hingekommen / so in Warheit Dupreste hiesse? Mit diesem Gestus der Erkundigung (istorie), der seit HERODOT die Historia als Erkundung des Fremden kennzeichnet, steht Corylo indes vor demselben Problem der unzureichenden Versionen, das auch die Selbsterkundung kennzeichnete. Seine Gewährsfrau kann nur sagen, sein Widergänger sei in dem gewöhnlichen Baurenstand aufgewachsen und danach in den Krieg gezogen, und sein Vater were auch in die Frembde gezogen. Aus Gründen der Selbsterhaltung überschreitet Corylo den Rahmen des Selbstbezugs und interessiert sich für das Schicksal des Fremden. Mit der Anerkenntnis fremder Interessen gewinnt der Held ein Gegenüber. Damit verschmelzt er den möglichen fremden Horizont mit dem eigenen und schafft einen gemeinsamen Raum des Handelns. Doch ist das fremde Schicksal in seiner räumlichen Entfernung nicht greifbar. Es gibt keine gesicherten Informationen, auf die Corylo handelnd Bezug nehmen könnte und die ihm den dauernden Erfolg seines Handelns versprächen. Die chronotopische Fundierung des Dilemmas zwischen dem nahen Eigenen und dem fernen Fremden bringt Corylo zu einer weiteren Konsequenz im Handeln. Er bezieht die Existenz des anderen Menschen und die daraus resultierende Vorläufigkeit der eigenen Kompetenzen in sein Handeln ein. Corylo setzt einen gewissen Tag, an dem er ins Kloster zu gehen beabsichtigt und an dem er die Besitztitel, deren er sich ohnehin nicht mehr sicher ist, als Legata 12
Vgl. Corylo II, 31, 175, 19- 176,33.
Ästhetik der Zeitweiligkeit: Zeit des Kalenders
549
an die Bewohner des Besitzes überträgt.13 Für die begrenzte Zeit eines Tages bedient er sich noch einmal seiner herrschaftlichen Vollmachten, um seine Bauern bey grosser Straffe zu einer Gasterey und der damit verbundenen Übertragung des Besitzes antreten zu lassen. Welt wird angesichts ihrer Zeitlichkeit und Unverläßlichkeit nicht verleugnet, nicht in haltlose Fiktionen aufgelöst, sie wird an die aufgeteilt, die sie bewohnen. Dadurch ergibt sich am Ende des Coiylo-Romans der skizzenhafte Umriß einer begrenzten Utopie, in der Herrschaft nicht gänzlich abgeschafft, sondern angesichts ihrer räumlichen und zeitlichen Unwägbarkeit eingeschränkt wird, um einen umgrenzten Raum des Handelns und Lebens freizugeben. Grundlage dieser Utopie ist nicht das unbegrenzte Glücksverlangen des einzelnen, sondern sein Verwiesensein auf das Gegenüber, das in seinem Glücksanspruch den eigenen begrenzt. Der Erzähler erinnert mit Hinweis auf den kargen Edelmann in Franckreich daran, daß die Güter des Lebens sich nicht durch krampfhaftes Festhalten sichern lassen. Die Anerkenntnis der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit schafft da einen Vorschein der ewigen Seeligkeit, wo durch ein kurtzgefastes Beginnen das Interesse des Nechsten und die Seuffzer der armen und bedrengten Menschen in den eigenen Horizont gelangen. Dieses kurzfristige Handeln zielt nicht auf Endgültigkeit, sondern auf die Gestaltung der gegenwärtigen Situation, die durch die Gegenwart anderer bestimmt ist. Corylo handelt nicht in absoluter Freiheit, er verzichtet lediglich auf das, was er andernfalls vielleicht ohne ihren Danck verlieren und hinweg geben müßte. Aber er gewinnt ein begrenztes Stück Freiheit durch seine Initiative, die den Zwängen zuvorkommt, und durch die bewußte Gestaltung dessen, was ihm sonst vom blinden Glücks-Geschicke aus den Händen gerissen würde. Gerade durch die Veräußerung des Besitzes eignet er sich ein Stück Welt an, was sich darin manifestiert, daß noch sein Rückzug sich nicht in eine weltlose Einsiedelei oder Inselexistenz vollzieht, sondern in den klösterlichen Bereich einer Mitwelt. Das Kloster, dessen Mönchen sein Eintritt ein gefundenes Fressen bedeutet, ist ein nur zu realer Ort, an dem höchst unvollkommene Menschen leben. Nicht zeitlose Einsamkeit sondern das zeitverweilende Miteinander stehen am Ende der Erzählung, die damit eine lediglich vorläufige Lösung präsentiert. Korrelat dieser Ethik der Vorläufigkeit ist eine Ästhetik der Zeitweiligkeit und Kurzweil. In Corylos Abschiedsfest manifestiert sich die Utopie eines Miteinanders, dessen Lust und Ergötzlichkeit durch kurtzweilige Leute gesteigert wird. Auf diesem Fest gibt es die Realität des Gegeneinanders, die Gefahr, einander in die Haare zu geraten. Dieses Gegeneinander bleibt aber durch die Umsicht des Gastgebers harmlos, da er noch nach seinem Abschied dafür sorgt, daß kein Schade entstehen möchte. Der Ergötzlichkeit des 13
Vgl. Corylo II, 31, 176,34 -178,22.
550
Beers Corylo
lustigen Augenblicks entspricht der erzählerische Zeitvertrtreib. Corylo läßt sich allerley Geschieht erzehlen / die sich hin und wieder / absonderlich aber in dieser Gegend vor seiner Regierung zugetragen haben. In diesem neuen Bezugsrahmen sind die Geschichten nicht mehr Ausdruck der Entfremdimg, sondern der im Augenblick aufgehobenen Vergänglichkeit. Die Zeitlichkeit des Erzählens ist die einzige Form, in der die Zeitweiligkeit des Glücks aufgehoben werden kann. Das erinnernde Gedächtnis spricht hier nicht mehr von der Vertauschbarkeit des Geschehenen, sondern im Gegenteil von seiner Einmaligkeit, dessen Unwiederbringlichkeit gerade das Erinnern und Erzählen unterstreicht. Schon zuvor hatte Corylo beim Wiedersehen mit Sancissa den Dreh- und Angelpunkt seines eigenen Erzählens benannt: Warhqfftig dieser Tag soll dir Furcht in das Gedächtnis eingepräget werden / an welchem du so gläckseelig gewesen / die jenige zu sehen / umb welcher willen du biß gegenwertige Stunde / vielen Zufällen unterworffen gewesen.14
Erst das Auftauchen der anderen Person im eigenen Horizont verändert das Verhältnis des Erzählers zur Welt. Dieser andere Mensch durchbricht in seiner Unverwechselbarkeit das mythische Gesetz der sinnlosen Wiederholung und stattet noch das Erinnern und Erzählen mit Sinn aus. Und dieser Sinn erhält sein politisches Gewicht da, wo ein Handelnder das Gesetz der Wiederholung durchbricht und durch ein unerhörtes, neues Handeln die bisher geltende Herrschaft verändert. Gegen die Macht der Wiederholung wird das Anfangen, árchein, gesetzt, das der Anfang einer neuen, anderen Macht, arché, sein könnte.15 Den anderen Menschen zur Kenntnis zu nehmen ermöglicht eine begrenzte Utopie, die sich auf eine gemeinsame Mitwelt bezieht. Diese Utopie löst das Moment ein, das die Handlungen Corylos von seiner Verstoßung an vorangetrieben hatte, daß noch der isolierte Schelm ein gesellschaftliches Wesen, ein zôon politikón, ist, das in all seinem Handeln auf Vergesellschaftung hin angelegt ist. Das eigene Glück, so ergibt sich am Ende, kann niemals jenseits der wirklichen Welt und abseits der menschlichen Gesellschaft gefunden werden. Zeitweiligkeit des Glücks heißt auch, daß Glück da zu finden ist, wo der Held in der Gesellschaft anderer verweilt. Als Corylo die Zeitweiligkeit des eigenen Glücks als Bindung an die anderen erkennt, verändert sich das Leben der anderen substantiell. Mit dem veränderten Verhältnis des einzelnen zur Zeit beginnt für das Kollektiv eine neue Zeit, die als historischer Augenblick Spuren im Kalender hinterläßt. In diesem Kalender manifestiert sich ein Erzählen, in dem mythische Wiederholung des Geschehenen zur historischen Dimension findet, weil sich gegen die Wiederholung des Immergleichen etwas aus der maßen verändert hat: 14 13
Corylo II, 26, 167,21-24. Vgl. HANNAH ARENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich (Serie Piper 217) 7
1992, 180/181.
Mythos: Macht der Wiederholung und Dynamik der Variation
551
[...] etliche schrieben gar in ihre Calender den Tag / an welchem ihnen aus der maßen grosse Ehre wiederfahren sey / und versprachen mir solches ihren Kindes Kindern zu verkündigen [...]."' Die historische Zeit des Kalenders durchbricht den mythischen Zwang zur Wiederholung, der in der Frühen Neuzeit seine soziale Gestalt in der homogenen Wiederholungszeit der Uhr gefunden hat. Die Einmaligkeit des historischen, kalendarischen Datums unterstreicht das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen. Corylo hat durch sein Handeln einen der Feiertage geschaffen, die Tage des Eingedenkens sind." Dieses Eingedenken gibt auch dem Erzählen einen neuen Sinn, weil es nicht mehr von der fremden Macht über das Eigene berichtet, sondern von der gemeinsamen Handlungszeit, in der sich begrenzte Handlungsräume öffnen. *
Die am Schluß des Cory/o-Romans mit aller Vorsicht ins Spiel gebrachte Utopie eines Neuanfangs inmitten der alltäglichen Wirklichkeit hebt die Realitäten keineswegs auf. Der Zwang, unter dem Corylo handelt, bleibt genauso bestehen wie die Ungleichheit, die ihm das großzügige Legat an seine Bauern erst ermöglicht. Doch versieht die begrenzte Utopie die Räume und Zeiten des Romans mit einem Horizont, der ihnen gerade da Bedeutung verleiht, wo ihre Vertauschbarkeit und Bedeutungslosigkeit eine ausgemachte Sache schien. Noch einmal konturiert der Romanschluß die Aneignungsfonnen von Raum und Zeit, die die Erzählung prägen und die ihr spezifisches Bild des Schelmen bestimmen. Die Vorläufigkeit, die sich der Schluß der Erzählung zu eigen macht, läßt das Verhältnis von Raum und Zeit des Vaganten im CoryloRoman zu einem vorläufigen werden. Deshalb fuhrt auch die Rückschau auf die Aneignungsformen lediglich zu vorläufigen Schlußfolgerungen. Was also bestimmt Raum und Zeit des Vaganten im Cor^/o-Roman? Ausgehend vom Romananfang, vom Ursprung des Helden in mythischen Strukturen der Symmetrie und Wiederholung, doch ausgreifend auf das Zerbrechen dieser Strukturen und die Isolation des Schelmen, habe ich ein dialektisches Modell mythischen Erzählens zu entwickeln versucht, in dem die mythische Erzählung zwar die Macht der Wiederholung bestätigt, zugleich aber das Wiederholte modifiziert und damit die Macht der Wiederholung durchbricht. Mythos als Erzählung verweist auf eine Komplexität der Verhältnisse, in denen sich die Ereignisse und Personen nicht problemlos miteinander verknüpfen lassen. Für die Durchbrechung der Symmetrie durch Komplexität stand die Bewegung des Schelmen, der das Schloß seiner Kindheit verläßt und auf 16
Corylo
"
Vgl. WALTHI BENJAMIN, "Ober den Begriff der Geschichte": Illuminationen, Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt am Main (Suhlkamp Tb. 345) 1977, 251 -261, hier XV, 259.
II, 3 2 , 1 7 8 , 2 9 - 3 2 .
552
Beers Corylo
die pikareske Landstraße gerät, wo er mit unvorhergesehenen Ereignissen konfrontiert wird. Im ersten Buch war jedoch eine Regression festzustellen, wird doch das Schloß der Kindheit durch das Ganze Haus des Edelhofes restauriert. Das Ganze Haus präsentiert sich als moderne Version eines mythischen Chronotopos, wo die Uhr alle Handlungen synchronisiert und homogenisiert. Diese Modernisierung des sozialen Raumes erwies sich jedoch zugleich als dessen Infragestellung. Denn die Zeitordnung der Uhr ermöglicht nicht nur die Koordination von Einzelhandlungen für die Zwecke des Ganzen, sondern auch die zweckentfremdende Intrige des einzelnen durch eigenes Timing und die pikareske Zeitform der Gelegenheit. Innerhalb dieser konkurrierenden chronotopischen Muster bezog Corylo eine unpikareske Position. Denn ihm kam nicht etwa die Rolle des Schelmen zu, der die Gelegenheit zu eigenem Handeln nutzt, sondern die Rolle des abhängigen Assistenten, der sowohl zum Werkzeug der Hausfrau bei ihrer schelmischen Intrige, als auch zum Assistenten des Schreibers bei dessen affirmativer Gegenintrige wurde. Im Spiel von Heimlichkeit und Gegenheimlichkeit wurde die Figur des Helden ununterscheidbar. Coiylo verschwindet in der Austauschbarkeit. Im zweiten Teil des Corylo-Romans entspricht der Vertauschbarkeit und Äußerlichkeit der Figuren auf der Handlungsebene die rein zufällige Verknüpfung dieser Figuren und ihrer Geschichten durch den Erzähler. Die Bedeutungslosigkeit der Nebenfiguren betrifft im letzten auch das handelnde und erzählende Ich in seiner zentralen Position, so daß diese innere Dynamik der Form zum Aufbrechen des pikaresken Musters führt. Im ersten Teil war das erzählte Ich durch die Handlung aus seiner zentralen Position an den Rand gedrängt worden, so daß die Frage nach dem eigenen Leben und seinen Ursprüngen für den Erzähler immer brennender wurde. Diese Bewegung vom zentralen zum peripheren Ich-Erzähler, der nicht mehr die eigene Geschichte, sondern die Beobachtung und das Referat fremder Geschichten wiedergibt, radikalisiert sich im zweiten Teil. Der Erzähler verschwindet als multiperspektivischer Ich-Erzähler beinahe völlig hinter den von ihm referierten Versionen. Dem Verschwinden des Helden folgt das Verschwinden des Erzählers. In BEERS Gesamtwerk gipfelt diese Entwicklung im simultanen Arrangement von nicht weniger als 200 Figuren des Doppelromans Die teutschen Winter-Nächte & Die kurzweiligen Sommer-Täge, wo sich die Handlung in ein verwirrendes Gefüge vieler Stränge verzweigt, die durch eine Fülle von Rückblenden und erzählerischen Digressionen miteinander verknüpft, zugleich aber voneinander getrennt werden.18 Was bei BEER der implizite ästhe"
Vgl.
MÖLLER < B E R N S > ,
Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers 42-44.
Verschwinden
des Erzählers,
äußerliche
553
Verküpfung
tische Ausdruck des Substanzverlusts bleibt, wird im auktorialen Erzählen des französischen Roman comique in der Nachfolge von SORELS Francion explizit. Allerdings fuhrt die Komplexität des Erzählten hier zunächst zu einer Aufwertung des auktorialen Erzählers, der nicht mehr Teil der Handlung ist, sondern Ereignisse und Personen so beherrscht, daß sie zum austauschbaren Material des Erzählvorgangs werden. Bereits das bedenkenlose Schalten des Erzählers in SCARRONS Romani comique mit seinen Figuren, die er wie filmische Standbilder mitten in ihren Handlungen stehen läßt, um sich anderen Ereignissen zuzuwenden, und die Einschaltung von Novellen bei SCARRON, die keiner höheren Sinngebung dienstbar sind, schaffen eine kunstvolle poetische Zusammenhanglosigkeit, der es nicht mehr um die ästhetische Harmonisierung der kruden Realität zu tun ist." Gegen dieses Schalten und Walten nach Herzenslust wendet sich dann explizit der Erzähler in FURETIÈRES Roman bourgeois, um der Realität der zufalligen Begegnung, aber auch des zufälligen Verschwindens der Figuren zu ihrem Recht zu verhelfen. Zugunsten von Zufälligkeit und Äußerlichkeit wird die Einheit der konstruierten Geschichte aufgegeben. Die Ordnung des großen Ganzen zerfallt in unzusammenhängende kleine Geschichten, deren Zusammenhang nur noch ein gänzlich äußerlicher, buchhändlerischer ist. Dies verbindet sich mit einem chronotopischen Zerfall der erzählten Stadt in die verschiedenen Viertel einer unübersichtlich gewordenen Weltstadt: Es sind kleine Geschichten und Abenteuer, die sich in verschiedenen Vierteln der Stadt zutrugen und die nichts miteinander gemein haben. Ich versuche nur, sie zusammenzufügen, die eine an die andere, so gut mir das eben möglich ist. Um ihre Verknüpfung wird sich der Buchbinder kümmern müssen.20 Diese übertreibende Bloßlegung einer nur noch technisch-äußerlichen Verknüpfung der Figuren findet ihre Entsprechung auf der Handlungsebene, wird doch im folgenden von der Liaison zwischen dem Schriftsteller Charroselles und der passionierten Prozeßbetreiberin Collantine berichtet, deren höchstes Vergnügen darin besteht, fremde, ihr zufallig begegnende Personen durch Prozesse zu ruinieren. Auch die Verbindung zu dem Schriftsteller wird zu einer reinen Geschäftsbeziehung, deren Hauptinhalt das Prozessieren miteinander und gegeneinander bildet. Die gegenseitige Ausnutzung der Figuren konterkariert ihre poetische Ausnutzung bei anderen Autoren. In ihrer bürgerlich-geschäftlichen Unabhängigkeit entziehen sich die Figuren selbst dem Erzähler, der sie nun nicht mehr willkürlich fallen läßt, sondern im Gegenteil von ihnen fallengelassen wird. Sie lassen ihn ohne Nachricht von ihrem Schicksal sitzen, so daß er resignierend feststellt: Sollte ich aber von der jungen Dame und ihrem Liebhaber Neues in Erfahrung bringen, so verspreche "
Vgl. HENNING KRAUS, Nachwort:
PAUL SCARRON, Die Komödianten
3 7 5 - 3 8 5 , hier 3 8 2 / 3 8 3 .
M
FURETIÈRE, Der Bürgerrroman 1025.
205. Vgl. Le roman bourgeois:
Romanciers
du XVIÍ
ciècle
554
Beers
Corylo
ich auf Autorenehre, es dir umgehend mitzuteilen,21 Die inszenierte Hilflosigkeit des Erzählers in FURETIÈRES Roman bourgeois nähert ihn dem peripheren Ich-Erzähler bei BEER an, der angesichts der Undurchschaubarkeit und Unbeherrschbarkeit der Welt auf die Grenzen seiner eingeschränkten Perspektive zurückgeworfen wird. Anders als bei FURETIÈRE ist der Erzähler in BEERS Corylo jedoch Teil der erzählten Welt, in der auch er selbst von Vereinzelung und Partikularisierung betroffen wird. Der Schelmenroman hebt sich selbst auf, weil in ihm ein isolierter einzelner versucht, sich selbst durch die IchAussage Bedeutung zuzusprechen, während er mit seiner Bedeutungslosigkeit und Austauschbarkeit konfrontiert wird. Das Verschwinden des Helden und des Erzählers hinter beliebigen Erzählungen liegt in der Logik der Vertauschbarkeit, die sowohl die pikareske IchForm als auch die zeitgenössische Gesellschaft beherrscht. Der Schelm als immer schon Enteigneter versucht vergeblich, Zugriff auf die eigene Geschichte zu gewinnen. Was bei FURETIÈRE das zufällige Auftauchen und Verschwinden der Figuren bestimmte, erfaßt in BEERS Corylo den Erzähler selbst, der sich über seine Herkunft und damit über seinen Platz in der Welt keine letzte Sicherheit zu verschaffen weiß. Zugleich aber zeigt der Seitenblick auf FURETIÈRE, daß mit der Vereinzelung der Figuren, die bei ihm eine Emanzipation von der arrangierenden Macht des Erzählers motiviert, auch ein Umschlag von Bedeutungslosigkeit in neue Bedeutung möglich wird. FURETIÈRE gestaltet in ironischer Brechung das bürgerliche Projekt des einzelnen, der sich seiner Bedeutung durch sein eigenes Handeln zu versichern sucht. Diesem Handeln wohnt jedoch wie der pikaresken Zeitform der Gelegenheit ein destruktives Moment inne, das den Versuch des eigenen Handelns sofort wieder in Frage stellt. Charroselle und Collantine fuhren eine Ehe, deren Geschäftsgrundlage einzig in der Zerstörung fremder Biographien besteht. An diesem Punkt entspricht die Auflösung der Romanform der Auflösung innergesellschaftlicher Loyalitäten. Der Eigenwert des Vereinzelten, der im eigenen Handeln der Figuren aufscheint, kann offenbar nicht endgültig gesichert werden. BEERS Corylo entwickelt - schien mir - aus dieser Realität der Vorläufigkeit eine Poetik der Zeitweiligkeit, in der dem Augenblick des Handelns und seiner erzählerischen Wiederholung und Variation Gewicht zukommt. Dieser Eigenwert des erzählten Augenblicks ergibt sich allerdings erst da, wo der Handelnde und der Erzählende den Horizont der eigenen Geschichte überschreitet und sich der Gegenwart einer anderen Person versichert. Nicht die unbegrenzte Macht über Raum und Zeit, die der Erinnerungsraum der memoria bei AUGUSTINUS suggeriert, und nicht die Kontrolle über Zeiten und Räume, die das Spiel von Intrige und Gegenintrige anstrebt und doch ständig verliert, sondern die 21
FURETIÈRE,
Der Bürgerroman
195. Vgl. Le roman bourgeois: Romanciers
duXVIf
siècle 1019.
Versicherung des Ich im Gegenüber
555
Anwesenheit des Gegenüber, das mit seiner Geschichte zu seinem Recht kommt, versichern die eigene Person für einen Augenblick ihrer unverwechselbaren Bedeutung. Für Corylo heißt diese Person Sancissa. Ihre Gegenwart, in der Corylo nichts Wiederwärtiges zugestossen ist, hat nach drei Jahren ein Ende; ihr Tod muß dem Liebenden als vorzeitig erscheinen.22 Gerade die Kürze und Vergänglichkeit hebt den Augenblick der Wiedererkennung, die gegenwertige Stunde, in den Rang einer substantiell unterscheidbaren Zeit. Ihre Erzählung verhilft auch den vielen Zufällen, die den Augenblick verzögert, aber auch herbeigeführt haben, zu einer Bedeutung für Corylos Leben.23 Am Ende steht nicht die erstrebte Macht über das ganze Leben, sondern die Anerkenntnis, daß erst die Begrenzung des eigenen Horizontes einer anderen Person Raum gibt, um in das eigene Leben zu treten. Diese Überschreitung des pikaresken Horizontes gibt für einen Augenblick die Perspektive auf eine Welt frei, in der es den schelmischen Einzelgänger nicht mehr gäbe, weil seine Suche nach der eigenen Geschichte in der Geschichte einer anderen Person ihre Antwort gefunden hätte.
22 23
Vgl. Corylo Π, 30, 174, 6-9. Vgl. Corylo II, 26, 167, 18-24.
Raum und Zeit des Vaganten: Rückblick vom Schlußpunkt aus
Von seiner letzten Reise in die Neue Welt brachte C O L U M B U S nicht viel mehr zurück als das nackte Leben. Nachdem der Admiral sämtliche Schiffe verloren hatte, mußte er als Gestrandeter in Jamaica die Ankunft eines Schiffes abwarten, das ihn als gewöhnlichen Passagier nach Spanien zurückbrachte. Der vormalige Vizekönig und Generalgouverneur Westindiens war, so scheint es, zum unbedeutenden Allerweltsreisenden geworden, nachdem die von ihm entdeckten Länder in den alltäglichen Handelsverkehr des spanischen Weltreichs einbezogen worden waren. Wütend konstatiert C O L U M B U S in der berühmten Lettera rarissima an die spanischen Monarchen, die er während seiner Wartezeit in Jamaica verfaßte, daß nunmehr selbst die Schneider Bittgesuche an die Krone stellten, man möge sie auf Entdeckungsreisen ziehen lassen.' Die epochale Tat des Entdeckers war unversehens zur gängigen Geschäftspraxis geworden. Epochal war der Genueser offenbar gerade nicht in seiner Einzigartigkeit, sondern darin, daß sein Handeln dem allgemeinen Bedürfnis der neuentstehenen Nationalstaaten nach wirtschaftlicher Expansion entsprach und deshalb ungewollt das ökonomische Paradigma der Epoche schuf. Entdecken, Erobern und systematisch Ausbeuten, dieser Dreischritt bestimmte die Aneignung der Welt seit COLUMBUS. Der 'Entdecker der Neuen Welt' wird zum mythischen Allgemeinplatz für die Epoche, an deren Beginn er steht. 1
Vgl. CHRISTOPH COLUMBUS, "Lettera rarissima, Brief des Columbus an die Katholischen Könige aus Jamaica vom 7. Juli 1503": Bordbuch, Briefe, Berichte, Dotalmente, ausgewählt, eingeleitet und erläutert von ERNST GERHARD JACOB, Bremen (Schünemann) 1956, 286-310, hier 308. Siehe auch den spanischen Text in CRISTÓBAL COLÓN, "Relación del cuarto viaje": Textos y documentos completos, ed. de CONSUELO VÁRELA, Madrid (Alianza Editorial) 1992, 316-330, hier 329. Vgl. zu diesem Themenkomplex TZVETAN TODOROV, Die Eroberung Amerikas, Das Problem des Anderen, deutsch von WILFRIED BÖHRINGER, Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp 1213) 1985; U R S BITTERLI, Die Entdeckung Amerikas, München (Beck) 1991; FRAUKEGEWECKE, Wie die neue Welt in die alte kam, München / Stuttgart (Deutscher Taschenbuchverlag/Klett-Cotta) 1992; KIRKPATRICK SALE, Das verlorene Paradies, Christoph Kolumbus und die Folgen, deutsch von BRIOITTE RAPP, Reinbek (Rowohlt Tb. 9347) 1993; STEPHEN GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer, Die Erfindung des Fremden, Reisende und Entdecker, deutsch von ROBIN CACKETT, Berlin (Wagenbach) 1994.
Columbus und der epochale Trend
557
Gegen sein Verschwinden setzt sich COLUMBUS in der Lettera rarissima zur Wehr. Er beharrt nicht nur auf seiner Einzigartigkeit, sondern auch auf den Besitzansprüchen, die er aus seiner Leistung ableitet. Der Brief, der die fehlgeschlagene letzte Reise dokumentiert, stilisiert sie zur erfolgreichsten seiner Laufbahn. COLUMBUS kommt zwar mit leeren Händen zurück und bringt kein Gramm des versprochenen Goldes mit, doch wird dies in seinen Augen durch die Kenntnis der Länder mehr als aufgewogen, in denen dieses Gold nach seiner Einschätzung zu finden sei. COLUMBUS gewährt sich und den spanischen Monarchen bereits einen fiktiven Vorschuß auf das zu erobernde Terrain und den erhofften Profit: Das was diesmal gewonnen wurde, die Goldgruben mit allen Ankerplätzen und Hinterland, halte ich für wichtiger als alles, was bisher in den Indischen Landen geschehen ist.1
Die Wirklichkeit des in Aussicht gestellten Landes bleibt indes diflus. Das konkrete Terrain und seine Bewohner erscheinen als Größen, die angesichts ihrer künftigen Unterwerfung zu vernachlässigen sind. Der Zugang zu den versprochenen Reichtümern wird einzig durch die Person des COLUMBUS, seine Kenntnisse und Vermutungen, garantiert: Niemand gibt es, der sagen kann, unter welchem Himmelsstrich und wann genau ich vom Festland wieder abfuhr, um nach La Española zu gelangen. Die Steuerleute glaubten, man fahre in Richtung auf die Sankt Johanns-Insel. Doch in Wirklichkeit steuerte ich nach dem Lande Mango, das vierhundert Meilen weiter westlich liegt. Ich sage, daß sie dies nicht anzugeben und zu berechnen vermögen. Sie können nur bestätigen, daß wir zu einem Land kamen, in dem es viel Gold gibt. Aber sie kennen den Weg nicht, den man nehmen muß, um wieder dorthin zu gelangen. Man müßte schon ausziehen und alles von neuem entdecken. Eine Berechnung gibt es und die Zeichen des Himmels, nach denen man alles finden kann, und sie stimmt: Wer sich darauf versteht, der weiß zur Genüge. Alles das ist gleichsam eine prophetische Offenbarung.1
Die Lettera rarissima wird zum Dokument einer Weltaneignung, die sich mit den widerständigen Einzelheiten ihres Gegenstandes nicht näher befassen zu müssen glaubt. Es kommt lediglich darauf an, den Ort geographisch exakt zu berechnen und mit Hilfe der Navigation korrekt anzusteuern. Der Himmel, dessen sich die Navigation in Gestalt der Gestirne bedient, ist für den Sprecher aber auch in anderer Hinsicht relevant. Denn seine prophetische Gabe, die das zu erobernde Gebiet schon im voraus in seinem Besitz wähnt, bezieht er durch eine besondere Gunst des Himmels. Auch in der Lettera rarissima ist, wie an vielen anderen Stellen, von einer göttlichen Stimme die Rede, die dem COLUMBUS die entdeckten Gebiete zuspricht. COLUMBUS solle auch in der Not auf Gott vertrauen, heißt es dort: 1 J
COLUMBUS, "Lettera rarissima" 307. Vgl. COLÓN, "Relación del cuarto viaje" 328. COLUMBUS, "Lettera rarissima" 300/301. Vgl. COLÓN, "Relación del cuarto viaje" 325.
558
Rückblick vom Schlußpunkt
aus
Die Indischen Lande [...] gab er dir zu eigen und du verteiltest sie, wie es dir gefiel, und dir ward die Macht dazu gegeben*
Für die innere Gestaltung der menschlichen Gesellschaft ist das himmlische Jenseits jedoch unerheblich. Das weiß auch COLUMBUS, der in dem berühmten (von MARX im Kapital zitierten) Diktum das Gold zum allumfassenden Medium macht, mit dem man alles machen könne, was man in der Welt nur wolle, selbst die armen Seelen ins Paradies bringen.5 Doch versichert sich COLUMBUS in der religiösen Instanz des Himmels seines Besitzanspruches auf Westindien, den er selbst den spanischen Monarchen gegenüber zu verfechten bereit ist.6 Gott wird zur Konstruktionshilfe für ein Ich, das sich durch Selbstbehauptung und Weltaneignung seiner selbst bewußt geworden ist. COLUMBUS bekräftigt sein Ich-Bewußtsein, indem er seinem Namen die Bedeutungen des Christusträgers sowie des Kolonisators unterlegt und diese Bedeutung in der Graphie seiner Unterschrift zugleich offenbart und verbirgt.7 Mit dieser Unterschrift besiegelte der Admiral immerhin die Dokumente, mit denen er - in einem höchst dubiosen Rechtsakt - die neuentdeckten Gebiete fìir Spanien in Besitz nahm.8 Der angeeignete Besitz und das aneignende Ich garantieren wechselseitig füreinander. Wenn COLUMBUS in der Lettera rarissima betont, niemand anders wisse den Weg zu den Goldländern, dann wird sein persönliches Wissen zum Garanten für den exklusiven Besitzanspruch. Exklusivität sichert den Entdecker gegen fremde Ansprüche ab. Das Sprecher-Ich der Lettera rarissima hat sich, so beharrt es, vor allem gegen ungerechte Behandlung zu behaupten. Denn das Schicksal des Sprechers steht in scharfem Kontrast zu seinen Verdiensten und seiner Bedeutung, während er sich zugleich durch dieses Schicksal in seiner Bedeutung beglaubigt sieht: Viele Schmerzen litt ich und oft stand ich nahe am Tode.9 Mit einer solchen Formulierung stellt sich COLUMBUS in die Reihe großer Gestalten, des vielgewandten Odysseus etwa oder des vielgeplagten PAULUS VON TARSUS. Doch legt sich der Sprecher ein geradezu pikareskes Schicksal zu, wenn er davon berichtet, wie er am Ende seiner Gouverneurszeit gefangengesetzt und auf ein Schiff geworfen worden sei und nackend in einem Verlies gelegen ha4 5
6
7
* '
"Lettera rarissima" 296/297. Vgl. COLÓN, "Relación del cuarto viaje" 322/323. "Lettera rarissima" 3 0 4 / 3 0 5 . Vgl. COLÓN, "Relación del cuarto viaje" 3 2 7 . Das Zitat findet sich in KARL MARX, Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Band 1 = KARL MARX/ FRIEDRICH ENOELS, Werke, Band 2 3 , Berlin (Dietz) " 1 9 8 9 , 1 4 5 . Im Testament des COLUMBUS heißt es gar, daß er den spanischen Monarchen Indien schenkte [...] als eine Sache gab, die sein Eigentum gewesen sei. Vgl. "Das Testament des Columbus": Bordbuch, Briefe, Berichte, Dokumente 332-336, hier 333. Siehe den spanischen Text in COLÓN, Textos y documentos completos 359-363, hier 361. Dort heißt es servi con las Indias [...] como cosa que era mía. Die Unterschrift ist abgebildet in COLUMBUS, Bordbuch, Briefe, Berichte, Dokumente, Abb. 14. Siehe dort auch 3 3 8 / 3 3 9 . Vgl. hierzu GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer 89-104. COLUMBUS, "Lettera rarissima "289. Vgl. COLÓN, "Relación del cuarto viaje" 318. COLUMBUS,
COLUMBUS,
Columbus und der epochale Trend
559
be.10 Das Lebensende, das er nun herannahen sieht, bescheidet ihm entweder den einsamen Tod auf der Insel Jamaica oder das Schicksal des enteigneten Schelmen am Rande der Gesellschaft: [...] heut ist nicht ein Ziegel in Kastilien mein eigen. Will ich essen oder schlafen, so weiß ich nicht wo, muß in Herberge oder Schenke gehen, und oft fehlt mir das Geld, um zu zahlen." Aus dem Besitzer der halben Welt ist, so scheint es, der mittellose Bettler geworden, der sich am Ende seines Lebens auf die nackte Existenz zurückgeworfen sieht. Die geographisch angeeignete Welt schrumpft zum chorographisch erfaßten Winkel in der Herberge, der dem Sprecher noch geblieben ist. Doch ist COLUMBUS keineswegs der arme Schelm, für den er sich ausgibt. Zwar stirbt er einsam und unbeachtet, doch hat er einen ansehnlichen Besitz zu vererben, der sich durch den laufenden Geschäftsverkehr ständig vergrößert.12 Schelmisch wirkt eher die Ich-Perspektive der Lettera rarissima, mit der sich der Sprecher selbst inszeniert und seine Position zu behaupten versucht. Als COLUMBUS in Jamaica sein Lebensende herannahen sieht, versucht er, seine Lebensreise retrospektiv nachzuzeichnen und mit einem Sinn zu versehen. Dabei nähert er sich der Selbstrechtfertigungsstrategie des Lazarillo de Tormes, übertrifft sie jedoch in der Selbsterhöhung zu epochalem Rang. COLUMBUS ist der Schöpfer seines eigenen Mythos. In die Version, die er gibt, schreibt er jedoch zugleich die Brüche mit ein, die sich aus den Widersprüchen seines Lebens ergeben. Wie der Schluß der Schelmenromane enttäuscht auch die Lettera rarissima als Schlußdokument die Kohärenzerwartungen, die bei den Lesern geweckt werden.13 COLUMBUS ist einerseits der nüchterne Rechner, der die entdeckten Länder geographisch konstruiert und auf ihren Profit spekuliert. Anderseits ist er der mystische Schwärmer, der Stimmen hört und sich zu Welterlösungsspekulationen versteigt. Angeblich Besitzer der halben Welt und Retter ihrer anderen Hälfte, sieht er sich zugleich als erniedrigten Habenichts, der sich wiederum schlecht mit dem erfolgreichen Kaufmann verträgt. COLUMBUS stilisiert sich selbst zum epochalen Helden und wird doch eher ungewollt zum Exempel der Epoche. Welchen Erkenntnisgewinn erbringt der Blick auf den Genueser Seefahrer, auf den Gründungsmythos der Neuzeit? Bleibt die Biographie, die sich in der Rückschau ergibt, bedeutungslose Anekdote, an die sich weitere reihen ließen? Oder offenbart sich ein bloßes Stereotyp, von dem nichts Neues zu erfahren ist? Zum Schluß erheben sich dieselben Fragen, die ich zum Ausgangspunkt meiner Interpretation von vier deutschen Schelmenromanen ge10 11
12 a
"Lettera rarissima" 309. Vgl. COLÓN, "Relación del cuarto viaje" 329. "Lettera rarissima "289. Vgl. COLÓN, "Relación del cuarto viaje" 318. Vgl. SALE, Das verlorene Paradies 255-257. Vgl. ALEXANDRA STEIN, "Die Hybris der Endgültigkeit oder der Schluß der Ich-Erzählung und die zehn Teile von deß Abentheuerlichen Simplicissimi Lebensbeschreibung": DVJs 70 (1996) 175-197, hier 185. COLUMBUS,
COLUMBUS,
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Rückblick vom Schlußpunkt aus
macht habe. Im Verlauf der Untersuchungen hat sich an vielen Stellen die Dialektik des Exemplarischen ergeben. Der zum bloßen Exempel erniedrigte einzelne offenbart bei näherem Hinsehen seinen Eigensinn und Eigenwert. Wie COLUMBUS ist auch der einzelne Schelm Spielball des epochalen Trends, der sich erst in der Rückschau erkennen läßt. Doch geht die Geschichte des einzelnen nicht in diesem Trend auf. Sie verleiht vielmehr ihrer Zeit von einem subjektiven Gesichtspunkt aus Kontur. COLUMBUS ist einer unter vielen und durch Zufall zum Exempel dieser vielen geworden. Doch bleibt er unverwechselbar, weil er am Schluß seiner Lebensreise seine Stimme erhebt und den Leser mit seiner widersprüchlichen Weltsicht konfrontiert. Mithin stellt die Anekdote um den in Jamaica auf eine Schiffspassage wartenden Admiral meine Untersuchimg deutscher Schelmenromane des 17. Jahrhunderts in eine historische Perspektive. Die Welt, die durch COLUMBUS zugleich größer und begrenzter geworden ist, bildet den Horizont, innerhalb dessen sich das Leben der frühneuzeitlichen Menschen bewegt. In den Erfolgen und Niederlagen des Genuesers zeichnet sich der epochale Trend ab, der dem einzelnen zunehmend die Verantwortung fiir sein Schicksal aufbürdet und ihn dennoch zum Spielball anoymer Mechanismen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft macht. Was bleibt, so läßt sich nun fragen, dem einzelnen Schelmen von Zeit und Raum seines Lebens, wenn er sich am Schluß dieses Lebens zu vergewissern sucht? Am Schluß öffnet sich im Landtstörtzer Gusman dem Helden nur noch die Thür deß Todts. Dort findet der fromme Pilgram, wie der Einsiedler dem bekehrten Gusman versichert, herzliche Aufnahme durch die Engel / ja Christus selbst. Im Himmel in seinem Vatterland erwartet den zum Pilger mutierten Schelmen, so scheint es, künftig alles, was er in seinem Erdenleben hat entbehren müssen. Der Pilger erlangt nun ehr von seinen freunden die jhm entgegen gehen / jhne mit frewden empfahen / vnd in jhren Häusern stattlich tractiren.14 Ehrlosigkeit, Einsamkeit und Heimatlosigkeit in der Fremde haben sich unversehens in die Heimkehr des verlorenen Sohnes verwandelt. Wie sein biblisches Vorbild, der arme Lazarus, soll der arme Schelm in Abrahams Schoß, in sonum Abrahae, gebettet werden.15 Die heilige Kirch schreyet, so die Belehrung des Einsiedlers, diesen guten Wunsch in der deposition eines jeglichen verstorbenen dem Toten als Bittgebet hinterher. Unversehens 14
13
Vgl. AEGIDIUS ALBERTINUS, Der Landtstörtzer: Gusman von Alfarche oder Picaro genannt / dessen wunderbarliches / abenthewrlichs vnd possirlichs Leben / was gestallt er schier alle ort der Welt durchloffen / allerhand Ständt /Dienst vndAembter versucht / vil guts vnd böses begangen und ausgestanden / jetzt reich / bald arm / vnd widerumb reich vnd gar elendig worden/doch letztlichen sich bekehrt hat / hierin beschriben wirdt. München 1615. Zitiert wird nach dem Reprint: Der Landstörtzer Gusmann von Alfarche oder Picaro genannt, Nachdruck der Ausgabe München 1615, Hildesheim (Olms) 1975, II, 25. Requisit, 720/721. Vgl. Lk 16,22 und meine Ausführungen zu Lazarus im Abschnitt über Gelnhausen und Hanau des GRIMMELSHAUSEN-Kapitels: "Grenze als inneres Gesetz der Festung".
Albertinus: Vernichtung des Schelmen
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wird die Kirche für den Verstorbenen das, was sie im Leben für Gusman niemals gewesen ist, das schützende und stützende Kollektiv, das für sein Heimatrecht eintritt. Das Bittgebet der Kirche für den Verstorbenen, dessen Erfüllung ja nur erhofft, nicht aber garantiert werden kann, verstärkt indes den modalen Vorbehalt, unter dem das ausgemalte Paradies steht, das dem Pilger durch die Allegorie des Einsiedlers in Aussicht gestellt wird. Denn der Gestus des Pilgerwegs, der im zweiten Teil des Landtstörtzer Gusman entworfen wird, ist von vornherein der des Imperativs. Die endliche Heimkehr des Schelmen in das himmlische Vaterland hat die strenge Befolgung geistlicher Anweisungen zur Voraussetzung. Der erste Satz, den Gusman von der Stimm des anonymen Einsiedlers vernimmt, besteht denn auch in den Aufforderungen: Gehe hin vnnd verfüge dich zu der büß.16 Die Ermahnungen des Einsiedlers bringen nicht die Wirklichkeit zum Ausdruck, sondern projizieren das Wunschbild des Pilgers auf die Gestalt des Schelmen. Nicht Anschauung und Lebenserfahrung bilden die Basis des Pilgerwegs, er veranschaulicht vielmehr ein unanschauliches Ideal. Innerhalb der Erzählung hat die Projektion des Pilgerwegs, deren Verwirklichung durch den Imperativ erzwungen werden soll, ihren chronotopischen Rahmen in dem Wald, in den Gusman nach seiner Begnadigung gelangt und der dem Überlebenskampf der Wirklichkeit entrückt ist. Unvermittelt führt die Erzählung ihren Helden in einen im Nirgendwo angesiedelten Wald hinein. Der Wechsel vom Temporalsatz zum Hauptsatz bringt eine radikale Wandlung der Situation: Ν Ach außgestandener drey Jähriger Galeen Gefängknuß / kam ich in einen Waldt [...].17 Dort wird Gusman durch den Einsiedler belehrt und mit dem allegorischen Pilgerweg bekannt gemacht. Die Fremdheit der Umgebung, die mit dem Leben des Schelmen nicht zu vermitteln ist, findet ihren Ausdruck in der fremden Stimme, die dem pikaresken Erzähler das Wort entzieht. Nach dem Ende der Allegorie kommt es zu einer Verschränkung zwischen dem Präteritum der Erzählung und dem modalen Gestus der Belehrung, zwischen der erzählten Welterfahrung und dem Diskurs der Weltflucht. Der Erzähler wechselt in das Perfekt einer anscheinend schon vollzogenen Pilgerreise, wobei der Raum des Geschehens für einen möglichen Wiedereintritt des Helden in die wirkliche Welt geöffnet wird: Dises war die erjnnerung / welche mir der [725] fromm Einsidl thate / wie vnd was gestalt aber ich jhr gefolgt vnnd femer mich verhalten / das vernimbt der günstig Leser auß dem dritten Theil / wie es nemblich mir auff der Reiß gen Jerusalem ergangen / was ich daselbst für büß gethan / folgents vom Türcken gefangen / gen Constaninopel geführt / aber wider ledig worden: Nach solchem die 16 17
Landtstörtzer Gusman II, 505. Landtstörtzer Gusman II, 503.
562
Rückblick
vom Schlußpunkt
aus
Jndianische Länder besucht / vntid was ich aller orten gesehen / gehört / erfahren /gelitten vndaußgestanden.n
Zwar wird der Wiedereintritt des Helden in die Welt dem günstig Leser als vollzogen gemeldet, doch seine erzählerische Einlösung wird einem dritten Theil überantwortet, der niemals erschienen ist. Die Welt der Türkenkriege und des Entdeckerzeitalters - Jerusalem,
Constantiopel
und die
Jndianische
Länder - kommt als denkbarer Raum für den bekehrten Schelmen in den Blick, die Existenz des Bekehrten in der wirklichen Welt indes bleibt bloße Ankündigung. Die Bedingung ihrer Möglichkeit bezieht die Existenz des Frommen in der Welt lediglich aus dem Medium des Buches, das hier zum ersten Mal im Text selbst erwähnt wird. Ob sich der Bekehrte in der Welt zurechtfinden wird, hängt vom Inhalt des dritten Teils ab, dessen Nichtexistenz den fiktiven Charakter der Bekehrung unterstreicht. Das Projekt der Bekehrung steht und fällt mit einem Buch, das es nicht gibt. Damit verbleibt der Schluß des Landtstörtzer Gusman an der Schwelle zwischen der Vorausprojektion des Pilgerwegs und seiner Umsetzung als Projekt innerhalb der wirklichen Welt. Letzlich wird die Probe auf das fromme Exempel dem günstig Leser überlassen. In der instrumentell-allegorischen Unterwerfung des Wirklichen unter das Sollen faßt der Schluß des Landtstörtzer Gusman den chronotopischen Aufbau des Gesamtwerks wie in einem Brennspiegel zusammen. Räume und Zeiten des Landtstörtzer Gusman stehen in einer eigenartigen Wechselbeziehung mit dem realen Raum Bayerns am Beginn des 17. Jahrhunderts. Dabei sind gerade die unwirklichen, instrumentell-allegorischen Passagen des Werkes auf die politische Wirklichkeit bezogen, der das Buch seine Entstehung verdankt. Der nicht lokalisierbare Wald des zweiten Teils, in dem der Landstörzer zum frommen Pilger umerzogen wird, hat sich als die extreme Ausprägung des barocken Handlungsraums erwiesen, als arrangiertes Umfeld, in dem nicht konkrete Lebensbezüge maßgeblich sind, sondern abstrakte Bedeutungsvorgaben. Diese Verflachung und Zerstückelung des erzählten Raums, die sich schon in der Bearbeitung der spanischen Romanvorlagen durch den Landtstörtzer Gusman nachweisen ließ, korrespondiert mit der fassadenhaften Ausgestaltung der Münchener Residenz, dem Machtzentrum des frühabsolutistischen Bayern. Der allegorische Hofstil der bayrischen Residenz, die Obermalung von Genreszenen mit biblischen Gestalten und die Ersetzung erfahrungsgesättigter Inhalte durch abstrakte Programme, hat Parallelen in der Behandlung literarischer Vorlagen durch AEGIDIUS ALBERTINUS. Auch der Landtstörtzer Gusman schafft einen neuen, künstlichen Raum, der vom Zentrum der Macht her konstruiert ist. Die Herstellung dieses Bezuges bildet im Wortsinn die zentrale und innovative Erkenntnis meiner Untersuchung. Denn im Dienst der Zentralisierung und Innovation steht der Landtstörtzer Gusman, er Landtstörtzer
Gusman II, 25. Requisit, 722/723.
Albertinus:
Vernichtung des
Schelmen
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dient nicht vorwiegend - wie es ein Teil der Forschung nahelegt - der Verbreitung einer (spät-)mittelalterlichen Spiritualität. Die Behandlung des erzählten Raums im Landtstörtzer Gusman hat ihr Gegenstück in der Überformung der gewachsenen Strukturen durch eine zentral geplante Sakrallandschaft, die in ganz Bayern gleiche Verhältnisse herbeiführen und alle Untertanen auf eine einheitliche Staatsideologie einschwören sollte. Dieser Ideologie des berechenbaren, disziplinierten Untertanen dient auch die poetische Disziplinierung des spanischen picaro durch AEGIDIUS ALBERTINUS. Die Brüche dieser Konzeption wurden textimmanent im Blick auf literarische Chronotopoi deutlich, die der Landtstörtzer Gusman von den spanischen Guz/wáfl-Erzahlungen übernimmt. Auch hier offenbart der Schluß, der sich noch einmal zaghaft und folgenlos einen Blick auf die mögliche Rückkehr Gusmans in die zeitgenössische Welt der Kriege und Eroberungen gestattet, in extremer Konsequenz die Ausweglosigkeit, in die eine Zurichtung des Raums zum didaktisch-allegorischen Lokal führt. Immer da, wo die Erzählung die spezifischen Orte des picaro aufsucht - das Kirchenportal, das Wirtshaus und den Haushalt seiner wechselnden Herren - wird sie mit den Widersprüchen konfrontiert, die im Schelmen Gestalt annehmen. Denn der Mißbrauch des Kirchenraumes für Selbstdarstellungs- und Selbstbehaup- tungszwecke ist lediglich das Spiegelbild des Raumgestus, den der barocke Kirchenbau durch die frühabsolutistische Staatlichkeit erhält. Das Schauspiel des Schelmen und die propagandistischen Schaufronten der Barockkirchen korrespondieren miteinander. Und die Zeitform der Gelegenheit, derer sich der Schelm namentlich an der Kirchentür bedient, hat ihre Entsprechung im machiavellistischen Handlungsmuster, das auch die gegenreformatorischantimachiavellistische Politik etwa MAXIMILIANS I. von Bayern bestimmt. Auch das Wirtshaus, das Stammlokal des Schelmen, erwies sich als exemplarischer Ort gesellschaftlicher Konflikte. Die angeblich übergeordneten Interessen des Gemeinwohls, die gegen die lokalen Widerstandsnester durchgesetzt werden sollen, sind nicht weniger einseitig und partikular als die betrügerischen Schliche von Wirten und Schelmen. Als Modell des frühabsolutistischen patrimonialen Staates fungiert im Text der herrschaftliche Haushalt, in dem sich der Schelm als Störenfried betätigt. Die historische Analyse der haushälterischen Handlungsform legte deren innere Widersprüche offen. Denn die Finanzpolitik des zentralistischen Staates, die sich auf das Modell des selbstgenügsamen und stabilen Haushalts stützt, ignoriert das Bevölkerungswachstum, das zur pikaresken Problematik einer immer größer werdenden Schicht von Mittellosen fuhrt. Dem ist mit administrativen Maßnahmen gegen die Vaganten nicht beizukommen. Die literarische Gestalt des Schelmen offenbart die unrealistische Perspektive des zentralistischen Ordnungsstaates.
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Rückblick vom Schlußpunkt
aus
Im Rahmen des staatlich geregelten Lebens und im Horizont des von Zentralismus und Disziplin bestimmten Landtstörtzer Gusman steht dem Schelmen am Schluß keine andere Thür mehr offen als die deß Todts. Die Verbindung des politischen und literarischen Ordnungskonzepts mit dem 30jährigen Krieg zeigte, daß diese brutale Konsequenz für den armen Schelmen durchaus wörtlich zu nehmen ist. Zur Errichtung der Ordnung erscheint dem absolutistischen Staat die Vernichtung des einzelnen legitim. Die Heere indes, die diesen Zielen dienen sollen, erwiesen sich bei näherem Hinsehen selbst als Gruppen marodierender Vaganten und Häuflein armer Schelmen. In der literarischen Schelmenfigur wird das Elend hinter dem Glanz der repräsentativen Fassaden greifbar. Denn dem beschränkten Blick der Schelmenfigur entspricht die beschnittene Lebensperspektive jener Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Unversehens erweist sich die exzentrische Perspektive des Vaganten, dem am Schluß nurmehr der kurze Moment der letzten Beichte und der enge Raum eines hastig ausgehobenen Grabes bleibt, als authentische Sicht der Epoche. Was also macht nach der Lektüre des Landtstörtzer Gusman Raum und Zeit des Vaganten aus, und was ist demnach ein Schelm? Raum und Zeit des Vaganten bestimmen sich zunächst durch die Austreibung des Schelmen aus dem Eigenen, durch seine Ausgrenzung aus der Gesellschaftsordnung. Der Schelm hat nirgendwo seinen angestammten Platz und spielt keine Rolle in den allgemeinen Zeitrhythmen. Ein Schelm ist demnach der, den es offiziell nicht geben darf, der inkarnierte Widerspruch zwischen der Ideologie des Ordnungsstaates und der gewaltsamen Unordnung, die seine Durchsetzung voraussetzt. In letzter Konsequenz impliziert die Enteignung und Vertreibung des Schelmen seine Vernichtung. Der Schelm im Anti-Schelmenroman des 19 AEGIDIUS ALBERTINUS ist ein negatives Körper-Zeichen für die gesellschaftlichen Strukturen seiner Zeit. Denn er erfährt diese Strukturen, die unablässig an der Vernichtung seiner konkreten Sinnlichkeit arbeiten, am eigenen Leib. Da wird der Todt zum letzten Ausweg, zur letzten offenen Thür für den Schelmen. Den Weg aus der unbeständigen irdischen Welt in ein beständiges Jenseits wählt auch DÜRERS Lauf der Welt und Spiel des Glücks, als der Erzähler am Schluß darangeht, mit seiner Jeder zum ende der erzehlung zu eilen.20 Auch 19
M
Damit ist er die Umkehmng dessen, was BACHTINS RABEL Ais-Lektüre als Körper-Zeichen erarbeitet hat, als Ausdruck der materiellen Welt im sinnlichen Genuß des Körpers. Vgl. RENATE LACHMANN: "Vorwort": MICHAIL BACHTIN, Rabelais und seine Welt, Volkskultur als Gegenkultur. deutsch von GABRIELE LEUPOLD, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 1 1 8 7 ) 1 9 9 5 , 7-46, hier 25. Vgl. zum folgenden HIERONYMUS DÜRER, Lauf der Welt Und Spiel des Glücks / Zum Spiegel Menschliches Lebens vorgestellet in der Wunderwürdigen Lebens-beschreibung des Tychanders [...]. Hamburg 1668. Zitiert wird nach dem Reprint: Lauf der Welt und Spiel des Glücks. Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 1984, 414-416.
Dürer: Verkleidung des
Schelmen
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hier wird die Schnittstelle zwischen der erzählten Welt des pikaresken Lebenslaufs und dem Ideal eines beständigen, unangefochtenen Lebens durch den Schluß des Buches markiert, das auf seine eigene Existenz und ihre Grenzen reflektiert. Dem Ende des zweiten Teils bei ALBERTINUS, WO ein dritter Teil angekündigt wird, entspricht bei DÜRER die Rede von der feder, die zum ende der erzehlung eilt. In beiden Fällen wird am Schluß die Existenz des Buches selbst thematisiert. Wie das Leben des Menschen ist das Buch in seiner konkreten materiellen Gestalt endlich. Deshalb korrespondiert auch in DÜ RERs Lauf der Welt die Gestalt des Schelmen als Körper-Zeichen mit der Gestalt des Buches, das über seine eigenen Grenzen und Widersprüche Auskunft gibt. Denn der Erzähler spicht am Schluß von einer Spaltung seiner Person in einen leib, der vorerst in der weit zu verbleiben hat, und einen unsinnlichen Teil des Ich, der sich in gedancken, mit seinem verlangen und seinem hertze nach dem Himmel richtet. Das unvermittelte Nebeneinander des Himmels, der die wahre Heimat des Sprechers ist, und einer Welt, in der nach einer unbegreiflichen Verfugung dieses Himmels andere Gesetze gelten, war ja schon an der Selbstüberhöhung des Sprechers in der Lettera rarissima und der Selbstverleugnung des Erzählers im Landtstörtzer Gusman zu beobachten. Doch in jedem Text gewinnt diese Spaltung ihre konkrete Gestalt, die Gestalt der Person, durch die der Spalt zwischen Sein und Sollen führt. Der Erzähler im Lauf der Welt bedient sich am Schluß wie an anderen Stellen des Diskurses der Weltflucht, um die erzählten Ereignisse auf die Unbeständigkeit des Glücks zurückzuführen. Doch die Bildlichkeit der Fortuna, die damit aufgerufen wird, ist wie die erzählte Handlung von historischen Formen der Weltaneignung bestimmt. Mithin wird auch am Schluß von DÜRERS Lauf der Welt der Spalt durch das Ich als Riß durch die Welt sichtbar. Denn die Spaltung zwischen himmlischer Beständigkeit und irdischer Unbeständigkeit wird an widersprüchlichen Versionen über die Welt festgemacht. Wie der Landtstörtzer Gusman ist auch der Lauf der Welt durch seinen offenen Schluß auf die Wirklichkeit von Zeit und Raum zurückverwiesen. Im Lauf der Welt nimmt diese Wirklichkeit die Gestalt der Salome an, die als Ander Ich den Tychander seiner leiblichen Existenz in der Welt versichert: Eintzig und allein meine Salome / welche mir Gott selber als mein Ander Ich hatte zugesellet / war noch das jenige / was ich auf der weit liebte [...]. 21 In Salome findet eine utopische Versöhnung zwischen Gott und weit, zwischen Mensch und Mitmensch statt. Die geliebte Frau stört den Diskurs der Weltflucht, weil in ihr Glück und Beständigkeit leibliche Gestalt angenommen haben. Deshalb muß ihr Bild nun demontiert werden, um die Unbeständigkeit der Welt als beständiges Gesetz zu bestätigen. Folgerichtig gerät Salome am Schluß in das Räderwerk widersprüchlicher Versionen. Ursprünglich 21
Lauf der Welt A15.
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Rückblick vom Schlußpunkt
aus
entstammt ihre Gestalt - wie sich mit Blick auf das Vorbild der hellhäutigen Afrikanerin bei HELIODOR ergab - dem Diskurs des Idealromans, der Beständigkeit in der Welt für möglich erklärt, indem die beständig Liebenden am Schluß aller Verwicklungen als glückliches Paar vereint werden. Auch Salome bleibt beständig und wird die Gattin Tychanders, der zur Herrschaft aufsteigt. Das Erzählmodell des Idealromans funktioniert als wechselseitige Bestätigung der beständigen Liebe und der beständigen Gesellschaftsordnung, Liebe wird zur Haupt- und Staatsaktion. Doch zeigt der weitere Verlauf der Handlung in DÜRERS Lauf der Welt, daß die politische Ordnung in ihrer Unbeständigkeit auch das Liebesglück zerstört. Der Mensch steht vor der Alternative zwischen Selbstbehauptung durch Herrschaft und Selbstfindung durch Liebe. Diese objektiven Widersprüche des Beständigkeitsideals werden am Schluß in die wanckelmütigkeit des Menschlichen hertzens verlegt und der Salome als private Verfehlung angelastet. Dieselbe Frau, die ihr Leben für Tychanders Glück hatte hingeben wollen, soll nun nicht ihn, sondern ihre Wohlfahrt [...] geliebet und ihre liebe dem jenigen gegeben haben, der das Reich erlanget / gleich als ob diese beide hätten miteinenander müßen verknüpfet bleiben. Die Gegensätze von liebe und Reich werden hier dadurch verknüpfet, daß die Liebe der Herrschaft untergeordnet wird. Die Unterordnung der Liebe unter die Herrschaft beruht nicht auf der moralischen Verfehlung Salomes, sondern auf den Problemfeldern, in die Räume und Zeiten des Romans eingeschrieben sind. Denn der Lauf der Welt konfrontiert die Geschichte des Schelmen mit fremden literarischen Mustern, um das Problem der Herrschaft des Fremden über das Eigene zu thematisieren. Er eignet sich verschiedene literarische Topoi an und unterzieht sie einer Gegenlektüre. In DÜRERS Roman bezieht sich das pikareske Modell des Lazarillo de Tormes, der seinen Helden von Hunger gefährdet sieht, auf das Gegenmodell des Idealromans, der die Gefahren lediglich als begrenzte Hindernisse für einen letztlich ungefährdeten Helden aufbaut. Tychanders beständiges Scheitern kritisiert immanent das Beständigkeitsideal der konkurrierenden Gattungen. Der locus amoenus des Schäferromans wird zum Schauplatz einer scheiternden Liebe, während der locus terribilis sich als Betätigungsfeld für ein nüchternes Erwerbsdenken herausstellt. Diese Parodie des barocken Literatursystems gipfelt im Aufstieg des Schelmen in die Position des Herrschers der Ideal- und Staatsromane, dessen Scheitern nicht nur die Liebe zwischen Tychander und Salome zum Opfer fallt. Indem der Schelm in die literarischen Masken seiner Zeit schlüpft, entlarvt er die Maskerade und untersucht sie auf ihre realen Kosten. Denn das Spiel der literarischen Travestien beschränkt sich nicht auf die Oberschichten und ihre gepflegte Semantik, es betrifft die politischen und ökonomischen Herrschaftsverhältnisse insgesamt. Die Idealisierung des Realen zelebriert den Mythos vom Opfer, das der einzelne für die Ordnung des Ganzen zu bringen hat. Dieser Mythos nimmt in DÜRERS Lauf
Dürer: Verkleidung des
Schelmen
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der Welt die Gestalt der Travestie an, wodurch er umkehrbar wird. In der zentralen Binnenerzählung um Tychanders Eltern wird Saturn, der in der Frühen Neuzeit den zerstörerischen Zahn der Zeit verkörpert, durch den greisen Simo travestiert, dessen Reichtum das Lebensglück der jungen Androfila geopfert werden soll. Die Geldwirtschaft entlarvt sich als mythische Gesellschaftsordnung, die nicht nur die Liebe der Herrschaft unterwirft, sondern möglichst hohen Gewinn aus der gesamten Lebenszeit schlägt. Zeit ist Geld, nichts anderes. Die Figuren der Erzählung setzen dieser Ausbeutung den Wert des eigenen Lebens entgegen. Dadurch bestimmt sich die literarische Zeitform in DÜRERS Lauf der Welt als Widerstand gegen die Herrschaft des Instrumentellen. Der neue Blick auf das kaum erforschte Werk verdankt sich nicht allein philologischem Quellenstudium, sondern vor allem der Konfrontation literarischer Räume und Zeiten mit der hanseatischen Kaufmannswelt, in der der Roman entstand. Die Lektüre der Briefe JOHANN SCHULTES hat den Zusammenhang der literarischen Zeichenpraxis mit der ökonomischen Lebenspraxis des Seehandels offengelegt. Die Unbeständigkeit des Glücks erwies sich als Funktion der Chancen und Risiken, mit denen die geschäftliche Kalkulation zu rechnen hat. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Erzählung auf die sozioökonomischen Mechanismen reduziert werden könnte. Das Beharren der Personen auf ihrer unverwechselbaren, unvertauschbaren Lebenszeit deutet vielmehr auf den poetischen Widerstand gegen die Mechanismen des Tauschs, denen die realen Menschen und die literarischen Figuren unterworfen sind. Unruhe und Hemmung bilden den Mechanismus der Uhren, mit denen geschäftliche und private Termine bestimmt werden, doch wird die gehemmte Unruhe zur Allegorie eines Konflikts zwischen der Reduzierung des Lebens auf homogene, vertauschbare Zeitspannen und dem Beharren des Menschen auf seiner unverwechselbaren Eigenzeit. Der Spalt durch den Menschen, der sich selbst behaupten muß und zugleich selbst sucht, geht als Riß durch die Erde, auf der er steht. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Figur des Schelmen in DÜRERS Roman. Er fühlt sich mit seinem leib an eine weit gekettet, die ihn beständig zu Selbstverleugnung zwingt. Deshalb mißtraut er am Schluß sogar dem geliebten Menschen, den Gott selber ihm als sein Ander Ich [...] zugesellet hat Raum und Zeit des Vaganten sind nach der Lektüre von DÜRERS Lauf der Welt deutlicher als Gegenentwurf zum barocken Handlungsraum der Idealromane erkennbar. Tychanders Welt ist ein Erfahrungsraum, der vom Handeln der Personen geprägt ist und nicht von einer übergeordneten didaktischen Strategie. Zwar bietet der Erzähler das Deutungsmuster der von Fortuna bestimmten unbeständigen Welt an, doch ist Fortuna selbst Teil der ökonomischen und politischen Praktiken, mit denen Tychander konfrontiert wird. Das Bild des Schelmen erweitert sich durch die neu erschlossenen geographischen
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Rückblick vom Schlußpunkt aus
und literarischen Räume, in die Tychander vorstößt. Er bleibt nicht das Opfer der Ausgrenzung, sondern beteiligt sich aktiv an der Eroberung und Ausbeutung der Welt und der Menschen. Im Gegensatz zu den Helden der Idealromane wird er jedoch ständig mit seinem Scheitern konfrontiert, das die inneren Widersprüche der herrschenden Lebenspraxis und Zeichenpraxis offenbart. D Ü R E R S Schelm ist ein Anti-Held, der den gängigen Helden den Spiegel vorhält. Der Lauf der Welt stellt nach dem didaktischen Anti-Schelmenroman des AEGIDIUS ALBERTINUS das pikareske Erzählmodell auf eine neue Grundlage. Durch die verfremdende Aneignung literarischer Topoi, wie sie etwa der Schäferroman, der Staatsroman, der Reisebericht oder der Idealroman bereitstellen, ergibt sich eine zweite Geburt des Schelmenromans aus dem Geiste der Travestie. In den Brechungen dieses literarischen Kaleidoskops sind nun auch die Risse deutlicher zu erkennen, die durch Mensch und Welt im der Frühen Neuzeit gehen. Im Simplicissimus Teutsch nehmen die Risse durch die Welt des 17. Jahrhunderts die geographische Gestalt der Grenze an. Als sich Simplicius am Schluß des fünften Buches aufmacht, um der Welt Adjeu zu sagen, wird er auf die grenzziehenden Mechanismen zurückverwiesen, die diese Welt prägen. Zunächst hat es zwar den Anschein, als erfülle Simplicius lediglich ein Stereotyp, wenn es heißt, daß er die Welt verliesse / und wieder ein Einsiedel ward.21 Intertextuell scheint dies eine Wiederholung der Weltabkehr Gusmans bei ALBERTINUS zu sein, wobei Simplicius sowohl die Rolle des mahnenden Einsiedlers als auch die des folgsamen Pilgers übernähme. Und innerhalb des Textes scheint Simplicius nur die Situation des ersten Einsiedler-Daseins zu wiederholen, wobei er auch hier beide Rollen, die des einsiedlerischen Lehrers und die seines Zöglings, in sich vereinte. Doch macht der Schluß des Simplicissimus Teutsch mit wenigen Andeutungen jene Probe aufs fromme Exempel, die der Landtstörtzer Gusman schuldig bleibt. Denn Simplicius wird just mit den Realitäten konfrontiert, denen er gerade den Rücken zu kehren im Begriff ist: Ich hätte gern bey meinem Saurbrunnen im Muckenloch gewohnt / aber die Baurn in der Nachbarschafft wolten es nicht leiden / wiewohl es vor mich ein angenehme Wildnus war; sie besorgten / ich würde den Brunnen verrathen / und ihre Obrigkeit dahin vermögen / daß sie wegen nunmehr erlangten Friedens Weg und Steg darzu machen miisten,23
Nicht der Diskurs der Weltflucht, der sich im GuEVARA-Zitat des Adjeu-Welt äußert, beschließt also das fünfte Buch, wie oftmals behauptet wird, um den 22
23
Vgl. zum folgenden < H A N S JACOB CHRISTOFFEL VON> GRIMMELSHAUSEN, Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuado des abentheurlichen Semplicissimi, hg. von ROLF TAROT, Tübingen (Niemeyer) 21984, V, 24,463, 13-26. Simplicissimus Teutsch V, 24,463,15-21.
Grimmelshausen: Vervielfältigung des Schelmen
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geistlich-didaktischen Charakter des Simplicissimus Teutsch zu unterstreichen. Vor die fremde Stimme des Zitats, das dem Erzähler die Welt vollends [...] erleiden24 soll, schieben sich die eigenen Erfahrungen des Helden mit der Welt. Denn die vergeblich erstrebte Nachbarschafft zu den Baurn, die sich gegen den Eindringling abgrenzen, wiederholt die Grunderfahrung der Grenze, die den simplicianischen Lebenslauf bestimmt. Der Ansiedlungsversuch im Muckenloch, der Protest der Baurn, ihr Hinweis auf die Obrigkeit und die Ambivalenz des nunmehr erlangten Friedens, dies alles vereint auf engstem Raum die komplexe Welt des Romans. Nicht zufällig lokalisiert der Erzähler auch noch den Versuch der Weltabkehr im historischen Raum des deutschen Südwestens nach dem Westfälischen Frieden. Denn das Spesserter Leben, das Simplicius am Schluß im Schwarzwald wieder anfängt, hat hier wie beim ersten Mal Voraussetzungen in der Geschichte des Helden, die ihrerseits in der Geschichte seiner Zeit begründet sind. Basierte doch die Herkunft des Helden aus einer scheinbar geschichtslosen ländlichen Ursprungswelt auf den Kriegsereignissen um die Schlacht bei Höchst, die dem Kind die leiblichen Eltern nahm und es in den weltentlegenen Winkel des Spessarthofs verschlug. Mit der fortschreitenden Lektüre erwies sich der selbst- und weltvergessene Ursprungsort des Helden mehr und mehr als Rückzugsraum, den die Erzählung gegen die Eroberungsdynamik des 30jährigen Krieges setzt. Der Bauernhof, der dem unwissenden Knaben zu Beginn als die Welt überhaupt erscheint, offenbart seine Grenzen, die ihn vergeblich - gegen die Kriegsereignisse abschotten sollen. Durch diese ständig verschobenen Grenzen von Eroberung und Rückzug konturiert sich die Textlandschaft als historischer Raum. Dabei zeigte sich die ländliche Selbstgenügsamkeit als unterlegenes Modell, das sich gegen die politischen und militärischen Großprojekte nicht behaupten kann. In den Schwarzwald versetzt, demonstrierte der Bauernhof, Chronotopos der Selbstbeschränkung, seine ökonomische Stärke, seine Qualität als mögliche Alternative gegen die Dynamik einer ständig fortschreitenden Naturbeherrschung. Diese Alternative bleibt indes bloße gedankliche Möglichkeit, die vom Geschichtsprozeß überholt wird. Wenn Simplicius am Schluß des fünften Buches sein Spesserter Leben wieder beginnen will, dann radikalisiert er damit die erzählerische Rückfrage nach dem Beginn, die den katastrophischen Geschichtsverlauf einer Revision unterzogen hat, in eine tatsächliche Rückkehr zu den ländlichen und einsiedlerischen Ursprüngen seiner Geschichte. Aus der erzählerischen Revision wird eine Regression, die der Realität nicht standhält. Dies zeigt schon die vergebliche Rückkehr zu den Baurn am Muckenloch, denen Simplicius gegen seinen und ihren Willen den aus dem Mummelsee mitgebrachten Saurbrunnen zurückgelassen hat. Simplicius möchte nun seine damalige Rolle als Agent des Fortschritts verleugnen, indem er die Gegend "
Vgl. Simplicissimus Teutsch V, 23, 457, 4.
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Rückblick vom Schlußpunkt aus
um das Muckenloch in reaktionärer Romantik als angenehme Wildnus für seine Einsiedelei betrachtet. Den Bauern hingegen ist ihre Frontstellung gegen die wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Projekte noch erinnerlich, die sie auch jetzt zum Mißtrauen gegen den sentimentalen Schwärmer bewegen. Denn Simplicius hatte ja aus Profiterwägungen versucht, das abgelegene Gebiet durch moderne Verkehrswege zu erschließen und damit dem Einfluß der zentralistischen Obrigkeit zu öffnen. Die kontemplative Einsamkeit, die der Neubekehrte nun sucht, hätte es dann am Muckenloch nicht gegeben. Die Weltabkehr des Einsiedlers bedeutet offenbar keine Rückkehr zu den Ursprüngen; das wäre nach den Erfahrungen des simplicianischen Lebenslaufs auch nicht möglich. Die Lebensform des Eremiten ist vielmehr das notwendige Gegenstück der Naturbeherrschung, der auch der Einsiedler nur scheinbar entgehen kann. Denn die Befürchtung der Schwarzwaldbauern, die Obrigkeit könnte wegen nunmehr erlangten Friedens den Straßenbau forcieren, um den abgelegenen Sauerbrunnen zu erschließen, deutet auf das Paradigma der zentralstaatlichen Planung, das in der Festung des 30jährigen Krieges seine zerstörerische Dynamik bewiesen hat. Gerade der Hinweis auf den nunmehr erlangten Frieden, der offenbar dem Kriegszustand gegenüber als das weniger Selbstverständliche erscheint, zeigt die enge Verzahnung zwischen militärischen und zivilen Projekten. Die Weg und Steg, die für den Sauerbrunnen gebahnt werden müßten, erinnern an die gänge Landstraß, die Simplicius vor die herrliche Vestung Hanau geführt hat.25 Denn die Landstrassen so auff Franckfort zu gehet26 verbindet die ökonomische Bedeutung Hanaus mit seiner militärischen und weist zugleich auf die geometrische Verhaltensnonn hin, die der Festungsanlage zugrunde liegt. Am Gegensatz zwischen der Festung Hanau und ihrem entvölkerten Umland war zu beobachten, daß noch die menschenleere Landschaft einen historischen Raum darstellt, der von den politischen Strategien der Herrschenden bestimmt ist. Deshalb kann auch der Widerstand der Schwarzwaldbauern gegen das Sauerbrunnenprojekt nur einen Aufschub bringen und muß dem epochalen Trend letzlich unterliegen. Widerstand gegen den Geschichtsverlauf gelingt im 17. Jahrhundert allenfalls als poetischer. Schon der Überblick über die Chronologie des Romans zeigte, daß der Weg des Helden eine Rekonstruktion des historischen Raumes ermöglicht und sich zugleich gegen den Geschichtsverlauf abgrenzt, weil er Vgl. Simplicissimus Teutsch I, 19, 52,34/35. Vgl. ABRAHAM!SAURIIStätte=Buch Oder Außföhrliche und auß vielen bewehrten alten und neuen Scribenten zusammen in ein Corpus gebrachte Beschreibung der ßirnehmsten Städte / Plätz und Vestungen /meistens in Europa /auch theils in andern Theilen der Welt Wobey: Eine Continuirende Verzeichnus der jenigen notabelsten und denckwürdigsten Geschichten / so sich ein und andern Orts / firnehmlich circa Ortum, Brandschäden oder gäntzlichen Ruin, begeben und zugetragen: Verfaßt und fortgesetzt durch HERMANN ADOLPH UM AUTHES. Frankfurt am Main 1658, 780. (Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: M 318/50 rara.)
Grimmelshausen: Vervielßltigung des Schelmen
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seinem eigenen Zeitsinn folgt. Durch den sukzessiven Erfahrungszugewinn aus der Perspektive eines einzelnen entwickelt der Simplicissimus Teutsch ein Gegenmodell zur geographischen Beherrschung des Raumes von einem konstruierten Punkt aus. Das chorographische Erzählmodell des Schelmenromans wird zur Kritik an den Methoden der Weltaneignung und der Naturbeherrschung. Doch bleibt die Erzählung selbst in die zeitgenössische Problematik von Theorie und Praxis verwickelt. Immer wieder greift der Held zu den Methoden von Abstraktion und Projektion, indem er den Dingen Bedeutung beilegt. Damit bedient er sich eines Verfahrens, das auch die zeitgenössische Allegorie bestimmt, der Projektion von Bedeutung auf bedeutungsloses Material.27 In ihrer Trennung von der Deutung erhalten die Dinge indes ein Eigengewicht zurück. Das emblematisierende Bewußtsein des Helden deutet die Welt ständig neu und revidiert damit seine bisherigen Folgerungen. Deshalb kann keine Deutung die endgültige Herrschaft über die Dinge davontragen. Der Gang des Helden durch die Welt des Romans wird zur Erprobung neuer Möglichkeiten der allegorischen Weltinterpretation. Denn dadurch, daß sie ihre Deutungen ständig in Frage stellt, reflektiert die Allegorie nun auf das Herrschaftsmoment, das der menschlichen Deutungshoheit über die Welt innewohnt. Aus der instrumenteilen wird eine reflexive Allegorie. Auch die Konstruktion des allegorisch-utopischen Raums in der Mummelsee-Episode entgeht der Gefahr, das Material des Szenarios ausschließlich für fremde Zwecke zu arrangieren. Die zweckfreie Schönheit der Meereslandschaft erinnert vielmehr daran, daß der Welt jenseits ihrer Aneignung eine eigenständige Existenz und ein eigenes Recht zukommt. In den historischen Landschaften des Romans leben und bewegen sich Menschen, die der Herrschaft des Instrumentellen unterworfen sind. Doch erinnert die Erzählung an ihr Lebensrecht, wenn sie formuliert: [...] hinder den Bergen wohnen auch Leut.2* Mit dieser Einbindung des Helden in die Landschaft und seiner gleichzeitigen Abgrenzung von ihr gewinnt der Simplicissimus Teutsch dem pikaresken Erzählmodell neue Möglichkeiten ab. Raum und Zeit des Vaganten heißt hier zunächst, daß ein historischer Raum in eine komplexe, beziehungsreiche Textlandschaft überfuhrt wird. Der Weg des Helden fuhrt durch Städte und menschenleere Gegenden, durch Täler und über Höhen. Dabei werden gerade nicht die einsamen Höhen den Niederungen pikaresker Empirie gegenüber privilegiert, um dem erzählten Raum einen allgemeinen spirituellen Sinn zuzuweisen.29 Der Roman folgt vielmehr den Erfahrungen des Helden und den "
" 29
Vgl. HARALD STEINHAGEN, "Dichtung, Poetik und Geschichte im 1 7 . Jahrhundert. Versuch über die objektiven Bedingungen der Barockliteratur": HARALD STEINHAGEN / BENNO VON WIESE, Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, Ihr Leben und Werk.. Berlin (Schmidt) 1984, 9-48, hier 46. Simplicissimus Teutsch I I , 7 , 1 1 3 , 3 1 / 3 2 . So die - für die bisherige Forschung exemplarische - Deutung des Raums im Simplicissimus Teutsch bei JEAN WEISGERBER, " A la recherche de l'espace romanesque. Lazarillo de Tormes, Les aventures de Simplicius Simplicissimus et Moll Flanders": Neohelicon 3 ( 1 9 7 5 ) 2 0 9 - 2 2 7 .
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Rückblick vom Schlußpunkt aus
Reflexionen des Erzählers durch das faltenreiche, von Grenzen durchzogene Relief der Textlandschaft.30 So vielfaltig wie die Landschaft erscheint auch der Held, der in verschiedenen Situationen unterschiedliche Nuancen seiner Persönlichkleit erkennen läß., wenn er dieseits und jenseits politischer Fronten und diskursiver Grenzen anzutreffen ist. Durch diese beziehungsreiche Vielfalt der Landschaft wird die Figur des Schelmen vervielfältigt. Der Schelm im Simplicissimus Teutsch ist ein Grenzgänger, der keiner gesellschaftlichen Schicht und keiner politisch-konfessionellen Position zugeordnet werden kann. Simplicius wird zum individuellen Körper-Zeichen für die Widersprüche, in die sein Lebenslauf ihn verstrickt. Deshalb gibt es für ihn keinen endgültigen Platz in der Welt, worauf der dubitative Vorbehalt hindeutet, mit dem das fünfte Buch Gegenwart und Zukunft des Sprechers umreißt: Begab mich derhalben in eine andere Wildnus / undfienge mein Spesserter Leben wieder an: ob ich aber wie mein Vatter seel. biß an mein End darin verharren werde /stehet dahin."
Das End, das dem Leben die letzte Grenze setzte und dem Sprecher die Möglichkeit nähme, seine Position zu revidieren, stehet dahin. Die Unmöglichkeit, vom eigenen Ende und der eigenen Vollendung zu sprechen, verweist den Sprecher auf die Modellgestalt des Vatter seel., der allerdings nur sein eigenes Leben zu einer eigenartigen Vollendung gebracht hat.32 Erst der Blick auf den anderen Menschen führt dem Erzähler die Grenze des eigenen Lebens vor Augen. Deshalb radikalisiert das simplicianische Erzählprojekt die Vervielfältigung des Schelmen über den Facettenreichtum des Simplicius hinaus, indem es ihm andere Schelmen entgegensetzt und zur Seite stellt. Das Ende des Simplicissimus Teutsch, auch dies ein Grenzphänomen, markiert zugleich den Anfang anderer Erzählungen. Die Erzählung überschreitet ihre eigene Grenze zum simplicianischen Zyklus hin und fügt dem pikaresken Kosmos die Lebensgeschichte der Courasche und des Spring-ins-Feld hinzu.33 Die Komplexität der erzählten Welt verlangt nicht nur einen in sich vielfaltigen Schelmen, sondern eine Vielfalt schelmischer Figuren.
Zur barocken Ästhetik der Falte vgl. GILLES DELEUZE, Die Falte, Leibniz und der Barock, deutsch von ULRICH JOHANNES SCHNEIDER, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1 9 9 5 . Simplicissimus Teutsch V , 2 4 , 4 6 3 , 2 1 - 2 4 . Vgl. zu diesem Gnindproblem der Ich-Erzählung GERHART VON GRAEVENITZ, "Das Ich am Ende, Strukturen der Ich-Erzählung in Apuleius' Goldenem Esel und Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch": Das Ende, Figuren einer Denkform = Poetik und Hermeneutik 1 6 , hg. von KARLHEINZ STIERLE und RAINER WARNING, München (Fink) 1 9 9 6 ) 1 2 3 - 1 5 4 . Zum exemplarischen Lebensende des Einsiedlers im ersten Buch des Simplicissimus Teutsch sei auf die ironische Brechung der Darstellung verwiesen, die durch die Kapitelüberschrift eingebracht wird: Das 12. Capitel. Vermerckt ein schöne Art seelig zu sterben / und sich mit geringem Unkosten begraben zu lassen. (Simplicissimus Teutsch I, Inhalt, 6 , 1 1 - 1 3 . ) Zur Öffiiung des offenen Romanschlusses auf den simplicianischen Zyklus hin vgl. STEIN, "Die Hybris der Endgültigkeit".
Beer: Verschwinden des Schelmen
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Die Vielfalt schelmischer Lebensläufe wird in B E E R S Corylo für den Haupthelden und Erzähler zum Problem, weil ihm in der Fülle fremder Handlungen und Erzählungen die eigene Identität abhanden zu kommen droht. Am Schluß des Romans 34 schleicht sich der Held in dem fröhlichen Tumult seines Abschiedsfestes heimlich aus dem Pövel, macht also eine Absetzbewegung vom Baur-Ballet der tanzenden und raufenden Festgesellschaft, obwohl er zuvor eingestanden hat, daß kein grundsätzlicher Unterschied zwischen diesen Bauern und ihm selbst besteht: [...] wann ich aber hinwiederumb betrachtete / daß ich eben ein dergleichen Baur-Kerl war / so seuffzete ich bitterlich über das wunderliche Geschicke der Menschen / und erkennete erst in dem Werck / warum diese vergängliche Erde einem rechten Irrgarten verglichen werde / darinnen die Menschen hin und wieder wallen / und mit ihren blinden Muthmassungen bald da bald dort an eine Wand stossen.15 Am Ende nimmt die Wand, an die der Held mit seinen blinden Muthmassungen stößt, die konkrete Gestalt der Klostermauern an, hinter denen er Sicherheit und Frieden sucht. Das endgültige Verschwinden des Helden im geschlossenen Raum des Klosters bestätigt noch einmal die chronotopische Grundbefindlichkeit, die den Schelmen in B E E R S Corylo auszeichnet. Denn die Landstraße des Schelmen, die den umgreifenden Chronotopos des pikaresken Erzählmodells bildet, verkürzt sich im Corylo auf die Strecke zwischen den Landgütern, die vorwiegend Schauplätze der Handlung sind Nicht im offenen Gelände, sondern in geschlossenen Räumen spielt sich das Geschehen ab. Diese geschlossenen Räume gruppieren sich zum Haushalt, in dessen Funktionszusammenhang Corylo verschiedene Aufgaben zukommen. Der patrimoniale Haushalt wird hier wie im Landtstörtzer Gusman zum Modell der staatlichen Ordnung, wobei er die ökonomische Qualität des autarken Ganzen Hauses und die poetische Qualität eines mythischen Ortes annimmt. Als solcher schließt er sich nach außen ab und reduziert die Komplexität der Welt auf modellhafte Handlungskonstellationen. Die historisch-geographische Wirklichkeit bleibt weitgehend jenseits des erzählerischen Horizonts. Nicht in einer historischen Zeit und an topographischen Orten wird der Lebensweg des Schelmen lokalisiert, sondern von Beginn an in eine mythische Allgemeinheit gebracht. Ausgangspunkt dieses Lebensweges ist deshalb auch die Hole eines Beeren, ein mythischer Ort, hinter dessen geschlossenen Felswänden die Herkunft des Knaben im Dunklen bleibt.36 Erst später wird durch Nachforschungen und Mutmaßungen der Fundort auf die Strasse zurückgeführt, an der das Bauernkind angeblich verloren ging, während ein anderes gefunden wurde, das kostbahrer eingewickelt gewesen sei.37 In diesem Verhältnis der Her34
Vgl. JOHANN BEER, Corylo = Sämtliche Werke 3, Neudruck der Ausgaben Nürnberg 1679/1680, hg. v o n FERDINAND VAN INGEN u n d HANS-GERT ROLOFF. B e r n ( L a n g ) 1 9 8 6 , II, 3 2 , 178, 2 4 - 1 7 9 , 7.
M 54
Corylo II, 30, 175, 8-14. Vgl. Corylo 1,1,19, 8.
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Rückblick vom Schlußpunkt aus
kunftsmythen zeichnet sich die Grundkonstellation der Handlung im Corylo ab. Die geschlossenen Mauern, die Unordnung und Komplexität ausschließen sollen, sind dialektisch auf die Landstraße, den Ort des Unerwarteten und der Komplexität bezogen. Die vorwärtsdrängende Dynamik der Handlung und die rückwärtsgewandte Perspektive der Nachforschungen über die eigene Herkunft tragen diese ausgeschlossene Komplexität in die Mauern des festen Hauses hinein. Aus dem Schloß seiner Zieheltern führt Corylos Weg hinaus auf die Strasse, von der aus er noch lange zurückblickt, während er sich von dort entfernt.38 Die Edelhöfe, an denen er zum Diener vieler Herren und Herrinnen wird, erlauben einen genaueren Blick auf die Mechanismen, mit denen sich die Ordnung des Hauses immer wieder in Unordnung verkehrt, um dann notdürftig wiederhergestellt zu werden. Corylo ist dabei niemals der einzige oder wichtigste Träger der Handlung, er ist vor allem Beobachter und Rädchen im Getriebe fremder Pläne. Diese Handlungsform manifestiert sich in der Mechanik der Uhr, die kollektive Abläufe koordinieren soll, doch auch als Orientierungshilfe für heimliches, abweichendes Verhalten dienen kann. Corylo wird hier zum austauschbaren Agenten sowohl für ordnungswidrige Heimlichkeiten als auch für die heimliche Wiederherstellung der Ordnung. Von den vielen Personen an den Rand gedrängt, beschränkt sich der Schelm auf den Beobachterstatus des peripheren Ich-Erzählers, der keine eigene unverwechselbare Spur im Geschehen hinterläßt. Die Erfahrung der Vertauschbarkeit motiviert den rückfragenden Gestus, der das Vorwärtsschreiten der Handlung begleitet und unterbricht. Die blinden Muthmassungen des Schelmen über seine Herkunft provozieren widersprüchliche Versionen wechselnder Erzähler. Mehr und mehr wird Corylo in ein Netz von Erzählungen hineingezogen, das von den Perspektiven und Mutmaßungen anderer Personen gebildet wird. Auch die Lebensgeschichte anderer Personen setzt sich aus Informationen und Spekulationen zusammen, die Corylo aus verschiedenen Quellen zukommen. Dem Verschwinden des Helden in den Intrigen und Gegenintrigen seiner wechselnden Herren folgt das Verschwinden des Erzählers im Chor divergierender Erzählungen. Gerade das Medium des Erzählens, das dem Ich-Erzähler im Schelmenroman Bedeutung verleihen soll, gerät zum Inbegriff seiner Bedeutungslosigkeit und Austauschbarkeit. Die verschiedenen Erzähler werden zu Zahnrädern in einem erzählerischen Uhrwerk, das bei Bedarf auch anders zusammengebaut werden kann. Anscheinend ist nichts einmalig und hat deshalb auch keinen bleibenden Wert. Alle Mutmaßungen über den eigenen unverwechselbaren Platz im Leben stoßen an eine undurchdringliche Wand. Raum und Zeit des Vaganten sind in B E E R S Corylo von verschiedenen Aspekten des Mythos bestimmt. Ausgangspunkt ist der mythische Ort des 37 31
Vgl. Corylo II, 30, 174,22/23. Vgl. Corylo I, 1, 19,21-27.
Beer: Verschwinden des Schelmen
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Einschlusses und Ausschlusses. Corylo wird aus den Familienstrukturen ausgeschlossen und damit zum heimat- und besitzlosen Schelm. Die Figur des Schelmen ist dialektisch auf die Ordnung bezogen, die ihn durch seine Ausgrenzung hervorbringt. Corylo zeichnet sich nicht durch notorische Ordnungswidrigkeit aus, sondern durch den beständig scheiternden Versuch, seinen Platz innerhalb der Ordnung zu finden. Zu diesem Zweck beteiligt er sich wiederholt an der Restauration der häuslichen Ordnung, fällt aber ihren inneren Widersprüchen zum Opfer. MATTHIAS BAUER hat Corylo einen 'Undercover-Agenten' genannt, der als Angehöriger des niederen Volkes in die Welt des Adels eingeschleußt werde, um sie satirisch zu entlarven.39 Mir scheint das Bild des Geheimagenten auf Corylo aus anderen Gründen zu passen. Corylo agiert im Dienste wechselnder Auftraggeber auf verschieden Seiten in geheimer Mission. Sein Ort ist das Versteck. Zugleich ist er detektivisch seiner eigenen Identität auf der Spur, die er jedoch im Spiel der wechselnden Intrigen und widersprüchlichen Versionen gerade einbüßt. In Corylo wird der Schelm zum Geheimagenten in eigener und fremder Sache, zum KörperZeichen einer Welt aus Verstecken, Tapetentüren und gefälschten Dokumenten. Coiylo verbindet das Moment der zweifelhaften Einordnung, wie es den Schluß des Lazarillo de Tormes kennzeichnet, mit der Unmöglichkeit, einen Platz in der Welt zu finden, wie sie in ALEMÁNS Guzmán de Alfarache zum Ausdruck kommt. In dieser Konfrontation der beiden Modelle des Schelmenromans kommt es zur Aufhebung des pikaresken Erzählmusters. Der Schelmenroman hebt sich in BEERS Corylo selbst auf, weil in ihm ein isolierter einzelner versucht, sich selbst durch die Ich-Aussage Bedeutung zuzusprechen, und doch mit seiner Bedeutungslosigkeit und Austauschbarkeit konfrontiert wird. Die Dynamik des Mythos als Erzählen, die den Zusammenbruch mythischer Ordnung zum Ausdruck bringt, erfaßt schließlich auch die pseudoautobiographische Form des Schelmenromans. Wo ein Sprecher Bedeutung setzt, können andere Sprecher diese Bedeutung unterlaufen. Der Schelm ist ein Sprecher, der sich beim Versuch erzählerischer Selbstvergewisserung abhanden kommt. In der Selbstauflösung des pikaresken Erzählmusters kommt es am Schluß indes zur Selbstüberschreitung der Ich-Form auf das Du hin. Der Weltverlust des Ich, der bereits das autobiographische Modell in AUGUSTINUS' Confessiones prägt, in dem sich der isolierte einzelne gegen seine eigene Sinnlichkeit und die sinnlich erfahrene Welt zu setzen versucht, fuhrt dieses Ich auf seinen Weltbezug zurück. Gegen den geschlossenen Gedächtnisraum bei AUGUSTINUS setzt der Schluß des Corylo deshalb das Modell eines zeitlich und räumlich begrenzten Versuchs, die Beziehung zu den Mitmenschen auf eine neue Grundlage zu stellen. Corylo hört auf, ein Schelm zu sein, als er 39
Vgl. MATTHIAS 130/131.
BAUER,
Der Schelmenroman,
Stuttgart / Weimar (Sammlung Metzler 282) 1994.
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Rückblick vom Schlußpunkt aus
seinen zweifelhaft erworbenen Besitz losläßt, ohne die Welt und ihre Aneignung zu denunzieren. Der Tag, an dem er sein Legat an die Bauern mit einem Fest besiegelt, stiftet eine Erinnerung im Calender der Menschen, die der augustinischen memoria überlegen ist, weil sie gemeinsamer Besitz der Menschen bis zu ihren Kindes Kindern ist.40 Nicht die genzenlose Macht über Raum und Zeit, die der Erinnerungsraum der memoria bei AUGUSTINUS suggeriert, sondern im Gegenteil die Anerkenntnis eigener Grenzen und des Gegenübers bestimmen den Gestus der Schlußszene im Corylo. Die Innensicht weicht der Umsicht, mit der Corylo noch bei seinem Abschied anordnet, gute Aufsicht zu haben / damit etwan mit Feuer und dergleichen kein Schade entstehen möchte. Diese unspektakulär wahrgenommen Welt verschafft Corylo jene Ruh, die dem Menschen nach AUGUSTINUS und dem Schelmen auf seiner Wanderschaft immer abgeht.41 Corylo hat dieses zeitweilige Zur-RuheKommen bereits erfahren, als er die begrenzte Zeit von drei Jahren mit seiner Liebsten Sancissa zusammenlebte. Für einen Augenblick ist der Gegensatz zwischen Liebe und Herrschaft, der noch in DÜRERS Lauf der Welt jedes Glücksverlangen zerstörte, aufgehoben. Anders als Tychanders Ander Ich, Salome, entgeht Sancissa und die Gemeinschaft mit ihr der nachträglichen Denunziation, mit der der pikareske Erzähler seine Einsamkeit und Heimatlosigkeit ratifiziert. Ein Schelm, der zur Ruhe käme und seinen Platz fände, hörte auf, ein Schelm zu sein. Von diesem Schlußpunkt meines Weges durch die terra incognita des frühneuzeitlichen Schelmenromans lassen sich nun die Momente deutlicher erkennen, die Raum und Zeit des Vaganten prägen und seine widersprüchliche Gestalt bestimmen. In ihrer Heimatlosigkeit wird jede Schelmenfigur zum je eigenen Körper-Zeichen für die Welt des 17. Jahrhunderts, die Zugehörigkeit nur als Unterordnung unter rigorose gesellschaftliche Regeln kannte. Noch durch seine Regelwidrigkeiten hält der Schelm diesen Ordnungen den Spiegel vor, entlarvt sie als oberflächlich, korrupt und zerstörerisch. In Coiylos geheimen Operationen und blinden Mutmaßungen, in Simplicius' Frontenwechseln und Grenzüberschreitungen, in Tychanders Geschäften und Maskenspielen sowie in Gusmans Gelegenheitstaten und Schaustücken kommen die herrschenden Mechanismen der Gesellschaft zum Ausdruck. Die Enteignung und Vernichtung des Schelmen zu Beginn und sein lautloses Verschwinden am Schluß nehmen dem Schelmen nichts von seiner realen Präsenz. Enteignung, Vernichtung und Verschwinden sind lediglich die Extreme jener Realitäten, die den Schelmen hervorgebracht haben. Was den Schelmen zum Schelmen macht, bedroht unablässig seine Existenz. Aus dem Blickwinkel der Schelmenfiguren hat sich ein facettenreiches Bild der Welt in der Frühen Neuzeit ergeben. Die Unruhe, die den Schelmen umtreibt, läßt auch heute * 41
Vgl. Corylo II, 32, 178, 29-32. Vgl. Corylo II, 32, 179, 2-4.
Beer: Verschwinden des Schelmen
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den Leser nicht zur Ruhe kommen. Denn diese Vergangenheit ist nicht vergangen, solange die Suche des Schelmen nach sich selbst und seinem Lebensglück noch nicht ans Ziel gekommen ist. Solange es noch einen Bettler gibt, gibt es Mythos.42 Hier wurde versucht, den Mythos vom Schelmen in den Erzählungen behutsam nachzuvollziehen und die mythischen Strukturen, deren Opfer er wird, durch kritische Theorie zu entmythologisieren. Eine solche Revision der Texte und ihrer Geschichte ist freilich nur ein erster Schritt, um die mythische Macht der Vergangenheit zu brechen und ihrem Unabgegoltenen Geltung zu verschaffen. Den so begonnen Weg weiterzuverfolgen hieße, eine andere Geschichte zu schreiben.
42
ALFRED SCHMIDT, zitiert bei THEODOR W. ADORNO, Negative Dialektik, Frankfurt am Main (Suhrkamp Tb. Wissenschaft 113) '1994, 203.
Literatur
Dieses Literaturverzeichnis soll nicht nur als wissenschaftlicher Beleg der verwendeten Texte dienen, sondern in die verschieden Felder der Untersuchung einfuhren. Deshalb sind die Titel in thematischen Gruppen angeordnet. Bibliographische Vollständigkeit war wegen der Fülle von Aspekten nicht zu erzielen. Da manche Werke in verschiedenen Bereichen zentrale Bedeutung haben, wird in einigen wenigen Fällen ein Titel mehrfach aufgeführt. Bei fremdsprachigen Werken wurden, wo möglich, zuverlässige zweisprachige Texte herangezogen. Nicht verzeichnet sind Texte, die lediglich für spezielle Fragen in Exkursen relevant sind. Zur Zitation: Buchtitel und wörtliche Zitate werden kursiv wiedergegeben. Auf eine Wiedergabe des Wechsels von Fraktur in Antiqua wird verzichtet; Ligaturen werden bis auf "&" aus technischen Gründen aufgelöst.
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PRINCEPS CHRISTIANVS ADVERSUS NICOLAVM MACHIAVELLVM CETEROSQUE huius temporis Políticos. [...]. Latiné A P. IOANNE ORANO vtroque Societatis IESV Theologo editus [...]. Köln 1604. (Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: Ka 40.)
RIBADENEIRA, PEDRO:
Der Politische Maul=Affe / mit allerhand Scheinkluger Einfalt Der Ehrsüchtigen Welt / aus mancherley närrischen / iedoch wahrhafftigen / Begebenheiten zusammen gesucht und vemünfftigen Gemüthern zur Verwunderung und Belustigung vorgestellet [...]. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1680. Hildesheim/New York: Olms, 1979.
< R I E M E R , JOHANNES> [CLEMENS EPHORUS ALBILITHANUS]:
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ANTOINE A D A M .
Paris:
Kurtze und eygentliche Beschreibung Des heylsamen Bads daß Hehlbacherbad oder der Sahlbronnen genant / Auch eigentliche erzehlung seines gehalts krafft und würkung vnd Weichermassen dasselb zu vielen vnderschiedlichen kranckheiten vnd Gebrechen deß Leibs mit nutz zugebrauchen seye: LEONARD THURWEISSER ZUM THURN: Zehen Bücher von kalten, warmen, minerischen [...]. Straßburg 1612. (Benutztes Exemplar: Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: 2° M med 107.)
SALTZMANN, JOHANNES:
Literatur
588
ABRAHAM SAURII Stätte=Buch Oder Außführliche und auß vielen bewehrten alten und neuen Scribenten zusammen in ein Corpus gebrachte Beschreibung der fiirnehmsten Städte / Plätz und Vestungen / meistens in Europa / auch theils in andern Theilen der Welt Wobey: Eine Continuirende Verzeichnus derjenigen notabelsten und denckwiirdigsten Geschichten / so sich ein und andern Orts / fömehmlich circa Ortum, Brandschäden oder gäntzlichen Ruin, begeben und zugetragen: Verfaßt und fortgesetzt durch HERMANN ADOLPHUM AUTHES. Frankfurt am Main 1658. (Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: M 318/50 rara.)
SAUR, ABRAHAM:
ScARRON, PAUL:
Pléiade. Ed.
"Romant comique": Romanciers du XVIF siècle: Bibliothèque de la ANTOINE A D A M . Paris: Gallimard, 1958.
—: Le Virgile travesti
.
Ed. de JEAN
SERROY.
Paris: Garnier,
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1988.
HELGA COENEN.
Stuttgart:
Die verwüstete vnd verödete Schäferey / Mit Beschreibung deß betrogenen Schäfers Leorianders Von seiner vngetrewen Schäferin Perelina. Gedruckt im Jahr 1642. Nachdruck in: KLAUS KACZEROWSKJ (Hg.): Schäferromane des Barock. Reinbek: Rowohlts Klassiker 530/531, 1970. Eigentlicher Abriß Eines verständigen / tapfferen und frommen Fürsten / Von dem fürtrefflichsten Poeten Virgilius / In zwölff Büchern der Trojanischen geschichten Entworfjen Und An den AEneas / Der nach Außstehung vieler Mühseligkeit / Gefahr und Zufälle des wandelbahren Glücks endlich alle Hindernüß und Feinde überwunden / und seine von der Ewigen Vorsehung ihm verordnete Laviniam erlanget hat / Gewiesen und gepriesen. Verteutschet und in Heroische oder Alexandrinische Reime übergesetzet Von M. Michael Schirmer [...]. Cölln an der Spree 1668. (Benutztes Exemplar: Yale Library. Mikrofilm der Sammlung Faber du Faur, Nr. 619.)
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Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache 2 Bände. Tübingen: Niemeyer, 1967.
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SCHULTE, JOHANN: Briefe
des Hamburgischen Bürgermeisters Johann Schulte Lt. an seinen in Lissabon etablierten Sohn Johann Schulte, geschrieben in den Jahren 1680-1685. Hamburg: Perthes-Besser & Mauke, 1856. (Benutztes Exemplar: Staats- und UB Hamburg, Signatur: A 1951/2266.)
Die Verführete Schäferin Cynthie / Durch Listiges Nachstellen des Floridans. Glückstadt 1660. (Benutztes Exemplar: Xerokopie des Germanistischen Seminars der Universität Bonn.)
SCHWIGER, JACOB:
SIDNEY, SIR PHILIP:
The Countess of Pembroke's Arcadia (The New Arcadia). Ed. by Oxford: Clarendon, 1 9 8 7 .
VICTOR SKRETKOWITZ.
ARCADIA Der Gräffin von Pembrock. Das ist: Ein sehr anmüthige Historische Beschreibung Arcadischer Gedicht vnd Geschichten / mit eingemängten Schäffereyen vnd Poesien. Warin nicht allein von den wahren Eygenschafften keuscher vnnd beständiger Liebe gehandelt /sondern auch ein lebendigBildt deßgantzen menschlichen Wesens vnd Wandels/
SIDNEY, PHILIP / HIRSCHBERG, VALENTINUS THEOCRITUS VON:
Texte
589
auffs zierlichst für Augen gestellet wird. [...]. Frankfurt am Main 1629. (Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: Fb 377/2.) —: ARCADIA Der Gräffin von Pembrock: Von Herrn Philippsen von Sydney In Englischer Sprach geschrieben / auß derselben Frantzsösisch / vnd auß beyden erstlich Teutsch gegeben Durch VALENTINVM THEOCRITVM Von Hirschberg·. Jetzo allenthalben auffs new vbersehen vnd gebessert: die Gedichte aber vnd Reymen gantz änderst gemacht vnd vbersetzt Von dem Edlen vnd Vesten Martin Opitz von Boberfeldt. [...]. Frankfurt am Main "1643. (Benutztes Exemplar: ULB Bonn, Signatur: Fb 377/3.) SOREL, CHARLES: "Histoire comique de Francion": Romanciers du XVIF siècle·. Bibliothèque de la Pléiade. Ed. ANTOINE ADAM. Paris: Gallimard, 1958. —: Histoire comique de Francion. Fac-simle de l'édition originale de 1623 Ed. JEROOM VERCRUYSSE. Geneve/Paris: Slatkine, 1982. -: LA VRAYE HISTOIRE COMIQVE DE FRANCION. Composée par N DE MOVLINET, SIEUR DV PARC, Gentilhomme Lorain. Amplifiée en plusieur endroits, :
Trauerspil Von der Dido / Aus dem IV. Buch von Aeneas. Im Anhang von: Der Frygier Aeneas Wi Er Nach Smärzentsündlichem Abläben seiner ädlen Kreusen / entslagung der trübsäligen Dido / mit der huldreichen Lavinie besäliget / izzo bey der Libsäligsten Deutschinne / in beruheter annämligkeit befridet worden. Stargard o.J. (Benutztes Exemplar: Yale Library. Mikrofilm der Sammlung Faber du Faur, Nr. 834.)
,
: Trauerspil Von der Dido /aus dem IV Buch von Aeneas.
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Opera omnia. Vol.
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JOSEPH P O H L .
Freiburg i.
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VERGILIUS M A R O , P < U B L I U S > :
—: Aeneis. 3. und 4. Buch. Lateinsch und deutsch. Hg. von Edith und Gerhard Binder. Stuttgart: Reclam Universal-Bibliothek, 1997. —: Opera. Ed. R.A.B. MYNORS. Oxford: University Press, 1980. Historische Beschreibung des Zustandes der Christlichen Religion in Ethiopien und Armenien. Danzig 1740. (Benutztes Exemplar: UB Münster, Signatur 47: 97 67.) WALLASSER, A D A M : VITA CHRISTI. Das Leben unseres Erlösers und Seligmachers JESU CHRISTI auch seiner gebenedeiten Mutter Maria / Von beyder Kindheit an / biß zu ihren herrlichen Himmelfahrthen. 1672. (Benutztes Exemplar: Privatbesitz.) VEYSSIERE L A C R O Z E , MATURIN:
Ein wunderliches Schau=Spiel vom Niederländischen Bauer / welchem der berühmt Printz Philippus Bonus zu einem galanten Traume geholjfen hat. Sämtliche Werke. Hg. von JOHN D. LINDBERG. Band 12,2: Lustspiele III = Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts. Berlin/New York: de Gruyter, 1986, 231-390.
W E I S E , CHRISTIAN:
Ibrahim = Sämtliche Werke. Hg. von FERDINAND VON INGEN. Band Bearbeitet von VOLKER M E I D . 2 Bände. Berlin/New York: de Gruyter, 1 9 7 7 .
Z E S E N , PHILIPP VON:
ZIGLER UND KLIPHAUSEN, HEINRICH ANSHELM VON:
Asiatische Banise
(1669/1707).
5.
Mün-
chen: Winkler, 1965. Zwo kurtzweilige / lustige / vnd lächerliche Historien / Die Erste / von Lazarillo de Tormes, einem Spanier / was für Herkommens er gewesen / wo / vnd was für abenthewrliche Possen / er in seinen Herrendiensten getriben / wie es jme auch darbey / biß er geheyrat / ergangen / vnnd wie er letslich zu etlichen Teutschen in Kundschaft gerathen. Auß Spanischer Sprach ins Teutsche gantz trewlich transferirt. Die ander / von Isaac Winckelfelder / vnd Jobst von der Schneidt / wie es diesen beyden Gesellen in der weitberümmten Statt Prag ergangen / was sie dasebst für ein wunderseltzame Bruderschafft angetroffen / vnd sich in dieselbe einuerleiben lassen. Durch Nielas Ulenhart beschriben. Augsburg 1617. (Benutztes Exemplar: Yale Library. Mikrofilm der Sammlung Faber du Faur, Nr. 906.)
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Aubrun, Charles 17 Augustinus, Aurelius 135, 359/360, 424, 443/444, 488/489, 491, 507, 554, 575/576 Augustus, Gaius Iulius Caesar Octavianus 263/264 Austin, Reginald George 277 Awerbuch, Marianne 52 Aylett, Robert P. T. 18, 299, 357 Bachtin, Michail M. 18-20, 35, 42, 109, 138/139, 209, 231/232, 277, 286, 405, 501, 564 Bacon, Francis 161, 248, 291 Bähr/Beer, Johann 10, 29, 176, 573-576 Barbour, Violet 225, 314 Baßler, Moritz 29 Battafarano, Italo Michele 18, 63, 117, 119, 165, 362-364, 393, 402, 412, 414, 416 Bauer, Matthias 5, 6, 11, 12, 83, 88, 97, 115/116, 118, 151, 153, 174/175, 297, 329, 349, 410/411,468, 510, 514/515, 575 Bayern , Maximilian I. von 37, 48/49, 53,61/62, 69, 105, 111, 123, 126, 131, 135, 157, 162/163, 174/175, 348, 563 Bayern, Wilhelm V. von 111 Bechtold, Arthur 345, 349
626
Personen- und Anortymenregister
Becker-Cantarino, Barbara 156, 475/476, 480 Behaim, Hans Sebald 253 Behringer, Wolfgang 66 Belkin, Johanna 419, 431/432, 436 Benjamin, Walter 29, 35, 47-50, 68, 74, 82, 258-260, 263-265, 267, 346, 389, 391, 403, 506/507, 551 Bentmann, Reinhard 159/160 Berger, Günter 534 Berger, Peter L. 60, 174/175 Bergerac, Cyrano de (= Hector Savinien) 430 Berghius, Caspar 236 Bermudez, Joao 317 Berns, Jörg Jochen 205, 259/260, 286, 419, 456, 463, 479, 502, 552 Bidermann, Jacob 112 Bireley, Robert 163 Bitterli, Urs 556 Bjornson, Richard 20, 56 Bloch, Ernst 161, 297, 408 Bloedau, Carl August von 354 Blumenberg, Hans 1/2, 134, 161, 174, 193, 196, 198, 206, 291/292, 310, 364/365 Bodmer, Johann Jakob 67 Bogner, Ralf Georg 3, 5 Böhme, Hartmut 252, 265 Böker, Uwe 18, 352 Boorstin, Daniel J. 97, 114 Bormann, Alexander von 392 Botero, Giovanni 43/44, 59, 94-98, 100, 113-117, 124-126 Brant, Sebastian 197 Braudel, Fernand 28, 158, 207, 343, 363 Braunfels, Wolfgang 126 Braunschweig-Wolfenbüttel, Anton Ulrich von 92, 447, 458
Breuer, Dieter 48, 53, 319, 347, 352, 359, 395, 420 Breughel, Pieter 41 Broekman, Jan M. 373 Brückle, Wolfgang 136 Brun, Félix 17, 50 Brunner, Otto 156, 177/178, 475, 477-480 Brutus, Lucius Iunius 534 Brutus, Marcus Iunius 534 Biy, Theodor de 195 Burckardt, Martin 1, 305, 430/431 Burckhardt, Jacob 158 Burkhardt, Johannes 41, 48 Caerloff, Hendrik 314 Caesar, Gaius Iulius 534 Calvin, Johannes 524 Cervantes Saavedra, Miguel de 1, 9-14, 363, 537 Chappuys, Gabriel 70 Chaunu, Pierre 64, 66 Cicero, Marcus Tullius 264, 534 Claudius, Matthias 250 Cleveland, John 258 Cochlaeus, Johannes 2 Columbus, Christoph (= Cristóbal Colón) 1/2, 31, 198, 556-560, 565 Contzen, Adam 318/319, 328 Cordie, Sylvia 57, 315, 340, 345 Corominas, Joan 4 Cortés, Hernán 271 Crone, Gerald Roe 96 Cross, Edmond 70 Dahlmann, Friedrich Christoph 467 Dalrymple, David 396 Dapper, Olfert 317 David, Ioannes 189-191, 266 Deleuze, Gilles 572 Delumeau, Jean 198 Diederiks, Herman 224/225, 227
Personen- und Anonymenregister
Diemer, Dorothea 136 Dietl, Georg 43 Dietl, Frau 43 Dischinger, Gabriele 135 Dohm van Rossum, Gerhard 336, 342 Dollinger, Heinz 131, 162 Doni, Antonio Francesco 70 Duby, Georges 135 Dürer, Albrecht 183, 193/194, 196, 215, 252, 254/255, 265, 275/268, 337, 502 Dürer, Hieronymus 176, 364, 380, 464, 521, 523, 525, 527, 564-568, 576 Dux, Günter 322 Eco, Umberto 308 Egg, Erich 103 Eichberg, Henning 38, 52, 396-400 Eimer, Gerhard 406 Elsheimer, Adam 72-75 Ende, Michael 261 Ennen, Edith 394, 396 Ens, Caspar 135, 236 Epiktetos 159 Erhart-Wandschneider, Claudia 108, 468 Erichsen, Johannes 49 Esrig, David 108-111 Estella, Diego de 58 Eyck, Jan van 41 Feria, Duca a 37 Fernández, Alvárez Manuel 64/65 Fischart, Johann 50 Fischer, Ernst 101 Foerster, Richard 70 Forte, Dieter 342 Fortunatos 218, 471 Foucault, Michel 418 Frewdenhold, Martinus 87 Frick, Werner 232/233, 245/246 Fricke, Gerhard 199
627
Fries, Fritz Rudolf 402 Friesenegger, Maurus 29, 38/39, 41-46, 49, 175 Frisius, Gemma 22-24 Fronsperger, Leonard 105, 290, 341 Fühmann, Franz 249/250, 261, 464 Furetière, Antoine 513/514, 517, 531, 553/554 Furttenbach, Joseph 178/179, 198, 203 Gaede, Friedrich 248, 282, 286/287, 355, 394, 407, 422/423, 436 Gaier, Ulrich 185, 187, 390, 392 Gaiber, Klaus 48, 71, 284-286, 294, 346 Garzoni, Tomaso 62/63 Geertz, Cliffort 30 Geiler von Kaysersberg, Johannes 59, 80-88, 156-157 Gemert, Guillaume van 3, 51-53, 55, 59, 83, 87/88, 95, 99, 134/135, 520 Genette, Gérard 256 Gersch, Hubert 450 Geulen, Hans 18, 232/233, 352, 369, 371, 393,400,513 Gewecke, Frauke 2, 258, 556 Glanvill, Joseph 291 Goclenius, Rudolph 408 Godwin, Francis 430/431, 433 Godwin, Joscelyn 431 Goebel, Gerhard 517 Goethe, Johann Wolfgang 68, 83 Gombrich, Ernst 97 Götz, Hans Graf von 353 Gracián, Baltasar 129, 131, 133, 153 Graevenitz, Gerhard von 11, 443, 572 Gramsci, Antonio 403
628
Personen- undAnonymenregister
Greenblatt, Stephen 2, 28-32, 109, 433, 502, 556, 558 Gregorovius, Ferdinand 81 Grimm, Gunter 546 Grimm, Jacob 6 Grimm, Reinhold R. 297/298 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 7/8, 10, 29, 81, 88, 176,317, 504,513,568-572, 576 Gryphius, Andreas 199-201 Guarinonius, Hippolytus 58/59, 106-113, 123/124, 139-141, 149-152, 161,420, 423/424, 426, 428/429 Guevara, Antonio de 66, 568 Guillén, Claudio 26-28 Guijewitsch, Aaron J. 405 Gutenberg, Johannes 1 Haecker, Theodor 263-265 Hainhofer, Philipp 92, 113, 119/120, 126, 151/152, 164 Halley, Edmund 305 Hamburger, Käthe 462 Happ, Heinz 408 Happel, Eberhard Werner 177, 313, 320 Harbison, Robert 41 Hassauer, Friedrike 88-90, 367 Haug, Wolfgang Fritz 15, 17, 182 Hauser, Albert 101 Hausmann, Frank-Rüdiger 158 Hawes, Stephen 266 Hazard, Paul 3 Heberer von Bretten, Michael 313 Hecht, Wolfgang 547 Heidegger, Gotthard 444 Heins, Valentín 177, 180/181, 196, 204,214/215, 226,314, 341 Helgerson, Richard 29, 41 Heliodoros Emesenos 316, 318, 323, 566
Herbach, Brigitte 74/75 Herodotos 529/530, 548 Herzog, Urs 4 Hesiodos 262 Hess, Günter 112 Hess, Ursula 112 Heyling, Peter 307, 325/326 Hillen, Gert 18, 435 Hinck, Walter 108/109 Hirsch, Arnold 456, 524/525 Hirschberg, Valentinus Theocritus von 333 Hiß, Albert 403 Hoffmeister, Gerhart 363 Hohberg, Wolf Helmhard von 477-480, 482, 507 Honold, Alexander 358, 510 Höpel, Ingrid 480 Horatius Flaccus, Quintus 198 Hörisch, Jochen 210 Horkheimer, Max 248-250, 260, 279 Hösle, Vittorio 49 Houtte, Jan A. van 224/225 Hubala, Erich 135 Husserl, Edmund 206, 360, 364/365, 367, 373, 380 Hütlin, Matthias 7, 128, 133/134 Ingen, Ferdinand van 228 Ingenkamp, Heinz Gerd 528 Irsigler, Franz 396 Jacobs, Jürgen 5, 235 Jacobsen, Roswitha 457/458 Jaeger, Werner 408 Johnson, Carrol Β. 14/15, 142 Jolies, André 257, 295-297, 464, 466/467, 469 Jonas, Hans 428 K„ Nora 49 Kapp, Volker 108, 132, 513, 515, 517 Kautsky, John Η. 214
Personen-
Keller, Gottfried 345, 403 Kelletat, Alfred 352/353 Kemper, Hans-Georg 248 Kilb, Andreas 308 Kircher, Athanasius 420,427, 429-431 Kirchner, Gottfried 131, 186, 188/189, 192, 195, 246 Kleinschmidt, Erich 201, 204/205 Kleist, Heinrich von 213 Klibansky, Raymond 194/195, 261, 269 Klingner, Friedrich 263/264 Knopf, Jan 425 König, Johann 74-76 Könnecke, Gustav 347-349, 351 Koschlig, Manfred 513 Koschorke, Albrecht 345, 367, 387, 446 Kosellek, Reinhart 305, 386, 392 Krämer, Jörg 457, 462, 485 Kranz, Walther 529 Krauß, Henning 553 Krause, Helmut 457/458 Kremer, Manfred 83 Kroener, Bernhard R. 37, 43 Krömer, Wolfram 108 Kühn, Dieter 101, 308 Kurz, Gerhard 67/68 Lachmann, Renate 564 Landa, Diego de 32 Landgrebe, Ludwig 383 Las Casas, Bartolomé de 257/258 Lasso, Orlando di 111 Lazarillo de Tormes 9, 13, 16/17, 19-21, 25-28, 33, 146, 235-244, 338, 402/403, 417, 506, 523, 534/535, 559, 566, 575 Le Roy Ladurie, Emmanuel 28 Lessing, Gotthold Ephraim 59/60 Lévi-Strauss, Claude 468/469
undAnonymenregister
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Liber vagatorum 7, 128, 133/134 Lobo, Jerónimo 306/307, 311, 317 Locher, Elmar 82, 86 Loretus, Elias Georg 420, 423, 426-430 Loyola, Ignatius von 43 Ludolf, Hiob 307, 317 Lugowski, Clemens 218, 231, 233, 245, 322, 543 Luhmann, Niklas 16, 469, 530 Lukas-Evangelium 401/402, 560 Lukianos 70, 262 Luther, Martin 309, 476, 524 Lykrophron, Sohn des Periandros 529 Machiavelli, Niccolò 48/49, 70, 130-132, 136, 145, 189, 220, 563 Mann, Thomas 465 Maravall, José Antonio 17, 79, 525 Markus-Evangelium 123 Martí, Juan 55, 57-59, 76-80, 134, 302 Martin, Alfred von 158, 160 Martino, Alberto 236, 239 Marx, Karl 14/15, 209/210, 219/220, 222, 240, 558 Maya-Indianerin, namenlos 32/34 Mayer, Jürgen 208, 232, 238, 251, 275 Meid, Volker 198, 245, 278, 309, 434 Melanchthon, Philipp 408 Melissa, Frau des Periandros 529 Merian, Matthäus 414/415 Merzhäuser, Andreas 4, 209, 356, 366 Micó, José Maria 66, 138/139, 144 Mitterauer, Michael 156, 475, 478, 480 Möbius, Helga 361/362
630
Personen- und Anonymenregister
Moctezuma 271, 370 Montaigne, Michel de 1, 94/95, 101, 113, 353, 433 Montrose, Louis A. 241 Morewedge, Rosemarie T. 355 Müller, Jörg Jochen (= Jörg Jochen Berns) 456, 552 Müller, Johann Wilhelm 314 Müller, Klaus-Detlev 398 Müller, Michael 159/160 Murner, Thomas 6 Nestle, Wilhelm 464 Neuber, Wolfgang 2, 185, 195 Neumann, Helmut 53 Opitz, Martin 82, 333 Ostade, Isaac van 361/362, 364, 366 Österreich, Ferdinand II. von 37, 106, 111 Österreich, Margarete von 78 Pandolfi, Vito 108 Panofsky, Erwin 194/195, 246, 261, 269 Parker, Geoflrey 37, 41,47, 50-52 Passamonte, Geronimo de 13 Pecora, Vincent P. 30 Penkert, Sibylle 344-347, 349 Periandros. 529/530 Petersen, Peter 408 Petrarca, Francesco 360 Picht, Georg 408 Pindaros 262 Pinelli, Luca 58, 99 Platon 262, 402 Plutarchos 528 Polenz, Peter von 182/183 Psalmen 90
Ptolemaios 21 Pütz, Peter 349 Quevedo y Villegas, Francisco 138, 142, 208/209
Rabelais, François 50, 70, 90, 109, 405, 564 Rademacher, Monika 414 Rader, Matthäus 120-122 Ramin, Andreas 350, 371 Ramos, César Real 17, 50 Ramsay, James 396 Ramus, Petrus 408 Rapp, Francis 448/449 Raulin, Jean 59 Reinle, Adolf 137/138 Reißmann, Martin 177/178, 215, 224 Reuß, Roland 329, 374 Reuter, Christian 526, 546/547 Ribadeneira, Pedro 43, 49, 136 Ricoeur, Paul 358, 384, 424, 444 Ricapito, Joseph V. 169 Riehl, Wilhelm Heinrich 156, 475 Riemer, Johann 457/458, 478/479, 505/506, 513/514, 518-520, 522, 540 Riggan, William 11, 299 Rippel, Philipp 130 Ritter, Gerhard 48, 130 Röder, Petra 15 Roeck, Bernd 131, 363 Rossi, Paolo 389 Rotterdam, Erasmus von 402 Rötzer, Hans Gerd 239, 393 Rusterholz, Peter 298 Sale, Kirkpatrick 556, 559 Saltzmann, Johannes 439 Sánchez Regueira, Manuela 113 Sanders van Hemessen, Jan 77, 87 Sauermost, Heinz-Jürgen 135/136 Saur, Abraham 395, 570 Saxl, Fritz 194/195, 246, 261, 269 Scarron, Paul 276/277, 327, 513/514, 553 Schadewaldt, Wolfgang 529
Personen- und Anonymenregister
Schauenburg, Reinhard von 348/349 Schenk und Notzing, Niklas von 53 Schetter, Willy 263, 279 Schiewek, Ingrid 1 Schiller, Friedrich von 73 Schindler, Norbert 43, 98, 130, 148/149, 157, 172 Schirmer, Michael 264 Schmidt, Hermann 247 Schmiedecke, Adolf 453/454 Schmitt, Alfred 33, 577 Scholz, Bernhard F. 185, 201/202 Schöne, Günther 108, 111 Schöne, Albrecht 184, 203, 392 Schönhaar, Rainer 17 Schott, Gaspar 427 Schottelius, Justus Georg 205 Schramm, Percy Ernst 177, 224/225, 337/338, 342 Schramm, Fritz 363 Schremmer, Eckart 103, 155, 164/165 Schulte, Johann 29, 177-183, 202, 204, 214, 223-224, 226, 277, 321, 567 Schulze, Winfried 105, 290 Schwanitz, Dietrich 384 Schwartzkopff, Georg 529 Schweitzer, Christoph 18, 299 Schwiger, Jacob 293, 300 Scudéry, Madeleine de 327 Shakespeare, William 1, 31 Sidney, Philip 333 Sinemus, Volker 400 Snaeyers, Pieter 39-41 Snell, Bruno 263, 297/298, 529 Solbach, Andreas 34, 456, 459, 462, 504, 514 Sombart, Werner 158/159
631
Sorel, Charles 81, 254, 513-518, 522, 530-532, 534, 537, 540, 553 Spahr, Blake Lee 313, 317, 327 Spanien, Philipp II. von 90/91 Spanien, Philipp III. von 64/65, 78 Spee von Langenfeld, Friedrich 247/248, 287 Spinoza, Baruch 52, 204/205 Spinrath, Ansgar Maria (= Ansgar M. Cordie) 79, 201, 205, 318, 409 Stackelberg, Jürgen von 276/277 Stagi, Justin 95 Stegmaier, Werner 408 Stein, Alexandra 559, 572 Steiner, Peter Bernhard 53, 120-123 Steinhagen, Harald 3/4, 22, 68, 104, 182, 185, 196, 198/199, 271, 321, 328, 391/392, 423, 461, 571 Stieler, Kaspar 378 Stall, Andreas 17, 50 Stolleis, Michael 43, 172 Stoob, Heinz 394 Streller, Siegfried 352 Suerbaum, Werner 263/264 Symonis, Daniel 278/279 Szyrocki, Marian 199 Tacitus, Publius Cornelius 115 Tarot, Rolf 18, 82 Tarsus, Paulus von 558 Tatlock, Lynne 177, 313, 320, 468, 485 Theweleit, Klaus 2 Thierse, Irmtraud 135/136 Tirol, Ferdinand Erzherzog von 106
Todorov, Tzvetan 2, 32/33, 258, 271,313,370, 556
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Personen- und Anonymenregister
Traunstein, namenloses Mädchen aus 43 Tscheer, Rosemarie 76 Ulenhart, Nielas 363 Unsicker, Karin 184, 187, 273-275, 293, 300, 342 Valentín, Jean-Marie 81-83, 88, 107/108, 111 Valla, Lorenzo 529 Vehlen, Thorstein 155, 175, 214 Vergilius Maro, Publius 179, 197/198, 246, 262-265, 276-280, 283, 276-280, 293, 298, 309, 327 Verhoeven, Pierre Willemsz 306, 310/311,320 Vernant, Jean-Pierre 464, 466 Vernier, Bernard 469 Verweyen, Theodor 403 Veyssiere la Croze, Maturin 313 Visscher, Roemer 201/202 Voltaire (= François-Marie Arouet) 367 Vos, Marten de 253/254, 267 Wagner, Jürg 92, 447 Wallasser, Adam 123 Wallenstein, Albrecht von 37,45 Walz, Herbert 66 Warburg, Aby 194/195 Waswo, Richard 200/201, 205
Watanabe O'Kelly, Helen 284/285 Weber, Alexander 360,427, 432, 434/435, 437 Weber, Max 288 Weber, Volker 30 Weckherlin, Georg Rodolf 261 Weimann, Robert 14, 105 Weinrich, Harald 321 Weise, Christian 457/458, 513, 537 Weisgerber, Jean 25/26, 377/378, 571 Welzig, Werner 401, 409 Wiedemann, Conrad 47, 67, 82, 431 Willems, Gottfried 34 Wilms, Hartmut 528 Windfuhr, Manfred 199, 205/206 Wittkower, Rudolf 189,195 Wolf, Christa 175 Wren, Christopher 60 Wundt, Max 408/409 Xenophon 528 Yovel, Yirmiyahu 52, 204/205 Zedier, Johann Heinrich 448 Zesen, Philipp von 313, 326/327 Zigler und Kliphausen, Heinrich Anshelm von 232/233, 251, 272 Zumthor, Paul 306, 310, 314