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German Pages 699 [720] Year 2002
Frühe Neuzeit Band 69 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt
Markus Paul
Reichsstadt und Schauspiel Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002
Gedruckt mit Unterstützung von Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Friedrich Freiherr von Hallersche Forschungsstiftung Nürnberg Peter Gebert Sophie Mühlbauer Anna Paul
für
martina
D29 Philosophische Fakultät (Sprach- und Literaturwissenschaften) der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Paul, Markus: Reichsstadt und Schauspiel : theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts / Markus Paul. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Frühe Neuzeit; Bd. 69) ISBN 3-484-36569-2
ISSN 0934-5531
© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Α Ζ Druck und Datentechnik G m b H , Kempten Einband: Buchbinderei Heinr. Koch, Tübingen
Vorwort Der Verfasser fühlt sich einer ganzen Reihe von Personen und Institutionen zu Dank verpflichtet, deren Rat und Hilfe in nicht unerheblicher Weise zum Gelingen der vorliegenden Arbeit beigetragen haben. Ihre Abfassung ermöglichte die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die das Promotionsvorhaben im Rahmen der Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchses mit einem zweijährigen Stipendium von Mai 1997 bis April 1999 unterstützte. Im Dezember 1999 wurde sie dort an der Philosophischen Fakultät II als Dissertation eingereicht; für den Druck ist sie geringfügig überarbeitet worden. Besonderer Dank gilt meinem Lehrer Prof. Dr. Theodor Verweyen, der mich nicht nur für die Literatur der Frühen Neuzeit zu interessieren verstand, sondern auch das Entstehen dieser Arbeit mannigfach förderte und aufmunternd begleitete. Herrn Priv.-Doz. Dr. Ernst Rohmer danke ich für Literaturhinweise, manchen Ratschlag und nicht zuletzt für die Übernahme des Zweitgutachtens. Die Teilnahme am Oberseminar von Herrn Prof. Dr. Verweyen und Herrn Prof. Dr. Gunther Witting vom Wintersemester 1996/97 bis Sommersemester 1999 gab mir die Möglichkeit, meine Forschungen mit Kollegen und Angehörigen aus verschiedenen Fachrichtungen zu diskutieren. Den kritischen Beiträgen und Hinweisen der Mitglieder dieser Veranstaltung verdanke ich manche Anregung. Neben der Fernleih-Stelle der Universitätsbibliothek Erlangen, die selbst entlegenes Material besorgen konnte, zeigten zahlreiche Bibliotheken und Archive im In- und Ausland eine ausgesprochene Hilfsbereitschaft bei der Bearbeitung selbst größerer Anfragen. Mein Dank geht unter anderem an die Forschungsstelle für Personalschriften der Universität Marburg, an die Landesbibliothek Coburg, an das Deutsche Theatermuseum in München, an die Staatsbibliotheken zu München und Berlin, an die Leipziger Städtischen Bibliotheken und die Universitätsbibliothek Leipzig, an die Württembergische Landesbibliothek in Stuttgart, an die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, an die Österreichische Nationalbibliothek, an das Österreichische Theatermuseum, an die Universitätsbibliothek Wien, an das Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie das Finanz- und Hofkammerarchiv in Wien, an die Biblioteka Jagiellonska in Krakau und an die Universitätsbibliothek in Kaliningrad. Besonders engagierte Unterstützung erfuhr ich von den Mitarbeitern des Stadtarchivs Augsburg, des Landeskirchlichen Archivs Nürnberg, der Stadtbi-
VI
bliothek Nürnberg, des Staatsarchivs Nürnberg und des Stadtarchivs Nürnberg sowie des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, von denen stellvertretend hier genannt seien Frau Archivoberinspektorin Annemarie Müller, Herr Heinrich Hofmann sowie Herr Dr. Peter Fleischmann, ehemals stellvertretender Leiter des Staatsarchivs Nürnberg (jetzt Leiter des Staatsarchivs Augsburg). Zuspruch und Hilfestellung erhielt ich neben meiner Familie von Kollegen, Bekannten und Freunden: Dank für viel Gutes an Karl-Heinz Grund, Peter Gebert, Klaus Hildebrand, Dr. Frank Fischer und Dr. Wolfgang Mährle, der mir bereitwillig Einblick in das ungedruckte Manuskript seiner abgeschlossenen Dissertation zur Frühgeschichte der Altdorfer Universität gewährte. Wertvolle Ratschläge in musikwissenschaftlichen Fragen gab mir Herr Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Hirschmann. Manchen Hinweis verdanke ich Herrn Priv.-Doz. Dr. Werner W. Schnabel. Für Anregungen und mühevolle Korrekturarbeiten sei schließlich besonders gedankt Felicitas Igel und Willi Lobenwein, der mir zudem zahlreiche Hinweise aus seinen eigenen Forschungen zu den Dichterkrönungen Sigmund von Birkens gab. Mein Dank gebührt nicht zuletzt den Herausgebern der Reihe »Frühe Neuzeit«, insbesondere Herrn Prof. Dr. Klaus Garber (Osnabrück) und Herrn Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann (Heidelberg), sowie dem Max Niemeyer Verlag Tübingen für die Aufnahme und den Druck des Buches. Mit Ruhe, Aufmunterung und kritischer Begleitung unterstützte mich in allen Stadien der Arbeit meine Frau Martina, der von Herzen mein größter Dank gilt. Nürnberg, im Mai 2001
Markus Paul
Inhaltsverzeichnis
Einführung: Der unbekannte Gegenstand? Nürnberg und das Barocktheater. Forschungssituation, Quellenlage und methodische Überlegungen . .
1
TEIL A : VORAUSSETZUNGEN U N D B E D I N G U N G E N
23
1. Die Situation des Schauspiels und der Bühnen um 1600 1.1. Die Engländer kommen und die Meistersinger gehen: Veränderungen in der Nürnberger Theaterlandschaft zu Beginn des 17. Jahrhunderts 1.2. Der erste städtische Theaterbau im Alten Reich: das Fechthaus von 1628
25
40
2. Zwischen Repräsentationswillen und Sittenwahrung: das Theater im Spiegel obrigkeitlichen Stadtregiments
60
3. Musikkultur im Nürnberg des 17. Jahrhunderts
91
4. Spectaculum christianum versus pompa diaboli. Zur Schauspieltheorie bei den >Nürnbergern< 4.1. Sigmund von Birken und Johann Conrad Dürr 4.2. Georg Philipp Harsdörffer
25
110 110 148
TEIL B : THEATRALE K U N S T ALS INTEGRALER BESTANDTEIL FRÜHNEUZEITLICHER STADTKULTUR IM NÜRNBERG DES 1 7 . JAHRHUNDERTS
159
1. Importeure der großen Bühnenwelt: Gastspiele auswärtiger Wandertruppen und Theaterbanden
161
2. Das Schultheater als Bildungsinstrument und Teil urbaner Festkultur 2.1. Zur Tradition des Schultheaters in Nürnberg 2.1.1. Abriß einer Geschichte des Schultheaters in Nürnberg (1500-1700)
185 185 185
VIII 2.1.2. Das Schultheater als Institution im reichsstädtischen Bildungssystem
212
2.2. Tugendspiegel, Friedensdank und Repräsentation: Paradigmen von Formen und Funktionen des Schultheaters
235
Beispiel 1: Actus oratorius et festivus - Johann Klaj im Kontext des Nürnberger Schulactus am auditorium
publicum
(1644-1650)
235
Beispiel 2: »Eine Sittenschule für die patrizische Jugend«. Die Schuldramen Sigmund von Birkens im Überblick (1651-1655)
280
Beispiel 3: Der Parnaß in der Noris. Johann Geuders Freudenspiel Macaria und die Einweihung des neuen Nachtkomödienhauses
(1668)
292
Beispiel 4: Das Nürnberger »Friedensdankfest« von 1679 und die Friedensschauspiele der Schulen
325
3. » Z u ewigem Gedächtnuß der Nachkommenheit«: Sigmund von Birkens Teutscher Kriegs Ab= und Friedens Einzug bei den Friedensfeiern von 1649/50
344
4. Ein Roßballett mit Holzattrappen: Jacob Langs Kinder=Ballet
als
Ausdruck patrizischen Repräsentationswillens und Anteilnahme am Kaiserhaus (1668)
362
5. Vom »Musik-Kränzlein« zum Opernspektakel. Theatrale Kunst aus dem Umfeld Nürnberger Handelsleute und des Pegnesischen Blumenordens
390
5.1. Die »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« von 1671 und ihre Musikgesellschaften
390
5.2. Ein Nürnberger Übersetzungsprojekt. Johann Gabriel Meyers Übertragung der >Jahrhundertoper< II pomo d'oro im zeitgenössischen Kontext (1672) Exkurs I:
413
Verdolmetschen und Nachahmen. Nürnberger Schauspielübersetzungen des Barock
432
5.3. Formen und Funktionen theatraler Kleinformen im kulturellen Leben der Reichsstadt anhand von Aufführungsbeispielen im Rahmen von Musikkränzen
. . . .
436
Beispiel 1: Johann Ludwig Fabers und Johann Löhners Kurzopern für die geselligen Zusammenkünfte der Handelsleute (1675/76) Beispiel 2: Eine Trauerfeier als Schauspiel. Die Pia
437 Memoria
Joachim Müllners, Jacob Langs und Albrecht M. Lunßdörffers zu Ehren Melchior Schmieds (1682) . . .
464
IX
Exkurs II: Spielen bei Gelegenheit. Die unbekannte Masse halbtheatraler Darbietungsformen im Kreise geladener Gesellschaften 5.4. Die Nürnberger Barockoper als Höhepunkt urbaner Festkultur 5.4.1. Die gemeinsamen Opernunternehmungen von Nürnberger Handelsleuten und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens a) »Eine herrliche Music von den fürnehmbsten Musicanten«: Christoph Adam Negeleins und Johann Löhners Opern (1682/83-1688) b) Kaiseropern und Kastratenkunst: Christoph Gottlieb Sauers Oper Die Eroberung Jericho (1696) und Christoph Adams Negeleins Oper Arminius (1697) im Kontext des Türkenkrieges 5.4.2. Die Oper als städtische Repräsentationskunst und ihre sozial-politischen Funktionen 5.4.3. Pleite mit Pauken und Trompeten? Musiktheater im Schatten verstärkter Theaterfeindlichkeit: die Gastspiele der Operntruppe Johann Sigismund Kussers (1697/98) und das Ende der Nürnberger Barockoper 6. Buchhändler und Bortenmacher als Komödianten: Theaterunternehmungen Nürnberger Handwerker und Krämer . . 6.1. Ungeliebte Untertanen: die Obrigkeit und die leidenschaftlichen Laienspieler 6.2. Antiquar, Verleger, Prinzipal: der Modellfall Georg Scheurer
483 489
491
491
515 546
559 580 580 595
7. Ausklang und Ausblick - Theater in Nürnberg nach 1700 bis ca. 1730
619
Zusammenfassung
624
Abbildungen
628
TEIL C : ANHANG
629
1. Abkürzungen
631
2. Quellen 2.1. Bibliographien, Repertorien und elektronische InternetRecherchemaschinen
633 633
χ 2.2. Archivalien und Handschriften 2.3. Gedruckte Quellen
635 638
3. Literatur 3.1. Lexika und biographische Nachschlagewerke 3.2. Artikel, Aufsätze, Handbücher, Monographien und Sammelbände
651 651 652
4. Ratsverlässe zur Nürnberger Theatergeschichte des 17. Jahrhunderts
676
5. Register
683
Abgesehen von den im wesentlichen theoretisierenden Absichten des Pegnesischen Blumenordens und vereinzelten Begabungen wie Johann Löhner blieb der alternden Republik ein Barocktheater versagt. Die Struktur der Reichsstadt erlaubte keine theatralische Selbstdarstellung im Sinne des Barock, deren sich doch selbst der kleinste deutsche Duodezhof befleißigte. (Peter Kertz, 1971)
Willkommen Kunst-Palast aus weit entlegnen Orten! Dir ist allhier die Stell bey uns gewidmet worden; Ο nie erhörte Sach / daß dieser Hügel geht! Parnassus, sehet doch! in Norfs Auen steht. Ihr aber Edle Söhn! Ihr Edle Norfs Kinder! Euch blüht der Helicon noch in den rauhen Winter / Ihr holde Musen Freund! Wolan mit tapfern Muth / Erweiset unsrer Stadt das nie verzagte Blut. (Prolog aus Die vergnügte Prinzessin Μ AC ARIA, aufgeführt in Nürnberg im Februar 1668 zur Einweihung des neuen Nachtkomödienhauses)
Ihr Musen / wann Euch Mars und Neidhart plagt / sucht Schutz bey unsrer edlen Norfs! [...] daß in der Norfs Staat der Klugheit Hofstatt sey / da die gesammte Musen-Reih so manchen Mäcenat / als viel man Vätter zählt im Rhat / bey dieser Stadt gefunden hat. (Prolog aus Alarich, aufgeführt in Nürnberg 1697)
Einführung: Der unbekannte Gegenstand? Nürnberg und das Barocktheater. Forschungssituation, Quellenlage und methodische Überlegungen Das Thema dieser Arbeit ließe sich mit reichlich Anekdoten einleiten: etwa mit der Eröffnung des Komödien- oder Fechthauses aus dem Jahre 1628, dem ersten städtischen Theaterbau im Alten Reich. Ein imposanter Gebäudekomplex, der von außen in den Stadtfarben rot und weiß leuchtete, rund 3.000 Zuschauer faßte und in dem die Nürnberger Ratsherren in besonders ausgestalteten Logen Platz nahmen. Man könnte aber auch eine andere Theatereinweihung heranziehen: die Eröffnung des Opern- bzw. Nachtkomödienhauses von 1668, bei der die Patrizier ihre Söhne auf die Bühne schickten und sich selbst als Mäzene und tugendhafte Herrscher feiern ließen. Verlokkend wäre nicht zuletzt, mit einer Episode vom Ende des 17. Jahrhunderts zu beginnen, etwa aus den Jahren 1696/97, als die Stadtherren für Opernaufführungen nicht nur einen Kastraten nach Nürnberg holten, sondern man sich im Frühjahr 1697 auch daran machte, mit einer Festoper ein Krönungsjubiläum im Wiener Kaiserhaus zu feiern - nicht ohne sich selbst dabei in einem Prolog gebührend ins rechte Licht zu setzen. Doch all diese Episoden aus der Nürnberger Theatergeschichte des 17. Jahrhunderts haben einen Schönheitsfehler. Genaugenommen dürfte es sie ebenso wie diese Arbeit gar nicht geben. Zumindest wenn man den gängigen Auffassungen Glauben schenken will. Eine Skizze der Forschungssituation mag dies verdeutlichen. Anläßlich des großen Dürer-Jahres 1971 erschien vor knapp 30 Jahren die bislang letzte umfassende und von zahlreichen Fachgelehrten geschriebene Geschichte Nürnbergs, deren Gesamtschau der Stadtgeschichte von den Anfängen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute Standardcharakter besitzt.1 Viele der hierin enthaltenen Beiträge boten nicht nur eine kompakte Quersumme des damals aktuellen Wissenstands, sondern übten auch eine prägende Wirkung auf das Bild ihres jeweiligen Teilbereichs aus - was jedoch nicht zum besonderen Vorteil und Nachruhm des Gegenstandes gereichte, der Thema dieser Arbeit ist. Denn in der Stadtgeschichte wurde mit einem knappen Abschnitt auch des Barocktheaters gedacht, ein Kapitel, in
1
Vgl. Gerhard Pfeiffer (Hg.): Nürnberg - Geschichte einer europäischen Stadt. München 1971.
2
dem dessen Autor nur wenig und zumeist nichts Gutes über das reichsstädtische Schauspielwesen im 17. Jahrhundert zu berichten wußte und in düsteren Farben das Bild einer weitgehend öden Nürnberger Theaterlandschaft in dieser Zeit zeichnete.2 Schon im ersten Absatz stellte Peter Kertz quasi die Nichtexistenz des hier zu behandelnden Gegenstandes fest und fällte ein überwiegend negatives Urteil über das Nürnberger Barocktheater: Das theatralische Eigenleben Nürnbergs, dem im 16. Jahrhundert mit den Meistersingern und Hans Sachs ein schöpferischer Beitrag zur deutschen Theaterkultur zu danken ist, endete 1593, als der Nürnberger Rat zum erstenmal englischen Komödianten die Spielerlaubnis erteilte. Von da an war man in Nürnberg bemüht, Anschluß an anderorts schon erreichte Leistungen zu finden. Abgesehen von den im wesentlichen theoretisierenden Absichten des Pegnesischen Blumenordens und vereinzelten Begabungen wie Johann Löhner blieb der alternden Republik ein Barocktheater versagt. Die Struktur der Reichsstadt erlaubte keine theatralische Selbstdarstellung im Sinne des Barock, deren sich doch selbst der kleinste deutsche Duodezhof befleißigte. 3
Zwar werden im folgenden von Kertz einige Autoren, Stücke und Aufführungen genannt, wobei er unter anderem die Eröffnung des Nürnberger Opernhauses fälschlicherweise um 20 Jahre zu spät ins Jahr 1686 verlegt; dennoch bleibt es lediglich bei knappen Hinweisen auf die »sich in Nürnberg zeitweise regenden einheimischen Kräfte«4 und Nürnbergs »bescheidenen eigenen Beitrag zur Barockoper«.5 Hauptträger des Theaterlebens seien dagegen die vielen durchreisenden Schauspielgesellschaften gewesen.6 Bis heute hat sich an dieser Sehweise nichts geändert.7 Noch immer gilt auf dem Gebiet des Theaterwesens die Zeit zwischen Hans Sachs und der Eröffnung des Nürnberger Nationaltheaters im Jahre 1801 durch Georg Leonhard Aurnheimer als weitgehend dunkle Zeit. Dies macht etwa das 1990 erschienene Buch von Gisela und Ernst Friedrich Schultheiß deutlich, die unter dem Titel Vom Stadttheater zum Opernhaus einen Überblick über 500 Jahre Musiktheater in Nürnberg vorlegten.8 Nun versteht sich diese populärwissenschaftlich ausgerichtete Studie eher als »das Werk von Amateuren«, 2 3 4 5 6
7
8
Vgl. Peter Kertz: Barocktheater. In: ebd., S. 346-349. Ebd., S. 346. Ebd. Ebd., S. 348. Vgl. ebd., S. 349. Nun ist diese Einschätzung um so erstaunlicher, als Kertz nur wenige Jahre zuvor eine Bibliographie zur Nürnberger Theatergeschichte veröffentlicht hatte, die zwar keine erschöpfende und teilweise ungenaue, aber immerhin eine erste und nützliche Quellenbasis an Archivalien und erhaltenen Texten bereitstellte und wichtiges Material zum 17. Jahrhundert bietet. Vgl. ders. u. Ingeborg Strößenreuther: Bibliographie zur Theatergeschichte Nürnbergs. Nürnberg 1964 (VSBN, Bd. 6). Die ältere Literatur bis etwa 1960 ist zusammengestellt bei Kertz/Strößenreuther: Bibliographie, S. 54 -67. Ernst-Friedrich Schultheiß u. Gisela Schultheiß: Vom Stadttheater zum Opernhaus. 500 Jahre Musiktheater in Nürnberg. Nürnberg 1990.
3 das »die Geschichte des Musiktheaters in Nürnberg nicht im einzelnen wissenschaftlich exakt und vollständig zu erfassen, zu zitieren und zu dokumentieren« versucht, wie die Autoren im Vorwort bekennen. 9 Ihnen sei es vielmehr darum gegangen, »Akzente zu setzen«.10 Daß diese Akzentuierung jedoch zu historischen Verzerrungen führen konnte, zeigt sich insbesondere bei dem in dieser Arbeit vornehmlich behandelten Zeitraum von ca. 15931720, dem in der Darstellung des Autorenpaares gerade 15 (zudem mit reichlich Bildern versehene) Seiten gewidmet sind.11 Schon die Überschrift des entsprechenden Kapitels nennt lediglich »Ansätze« und spricht von »keiner eigenständigen deutschen Oper in Nürnberg«.12 Diesem Motto folgend, erscheint das 17. Jahrhundert in der gedrängten Ausführung des Kapitels überwiegend als eine Art Übergangsphase, in der es zwar manch »hoffnungsvollen Ansatz«13 (wie etwa Harsdörffers und Stadens Oper Seelewig) gegeben habe, das Theaterleben der Reichsstadt jedoch »fast ausschließlich«14 durch auswärtige Wandertruppen bestimmt worden sei. Wie schon bei Kertz wird schließlich für das Nürnberger Barocktheater nur ein »bescheidenes Fazit«15 gezogen. Noch abwertender fällt das Urteil im Ende 1999 erschienenen Stadtlexikon Nürnberg16 aus. Kurz und knapp heißt es dort im Abschnitt »Theaterwesen«: »Die Entfaltung eines Barocktheaters fand [...] in N[ürnberg] nicht statt, der Pegnesische Blumenorden verfolgte eher poetologische und weniger theaterpraktische Intentionen«. Das Theater der Reichsstadt in dieser Zeit blieb vielmehr »rückständig, nicht zuletzt aufgrund strenger Zensur und restriktiver Handhabung von Spielgenehmigungen durch den Rat«.17 Daß die theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts erst noch zu entdecken ist, veranschaulichen auch zwei jüngere, wichtige Veröffentlichungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Nürnbergs in dieser Zeit. So liest man etwa in der sonst sehr gut dokumentierten und äußerst materialreichen Studie zur Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens von Renate Jürgensen, daß das Theater in Nürnberg während dieser Epoche »nur wenig Förderung fand«.18 Nach den Bereichen Theater und Schauspiel sucht man auch in dem 9 10 11 12
13 14 15 16
17 18
Ebd., S. 11. Ebd. Vgl. ebd., S. 31-45. Ebd., S. 31: »Die Ansätze - oder: Von >FechtNachtkomödienhausEngellendernTheaterbanden< und keiner eigenständigen deutschen Oper in Nürnberg (1593-1798)«. Ebd., S. 44. Ebd., S. 36. Ebd., S. 44. Michael Diefenbacher u. Rudolf Endres (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg. Nürnberg 1999. Charlotte Bühl: Theaterwesen. In: ebd., S. 1074f., hier S. 1074. Renate Jürgensen: Utile cum dulci - Mit Nutzen erfreulich. Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesbaden 1994, S. 87.
4 von John Roger Paas herausgegebenen Tagungsband vergeblich, der unter dem Titel der Franken Rom viele Beiträge eines anläßlich des 350jährigen Jubiläums des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg abgehaltenen internationalen Kongresses zu Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts umfaßt.19 Während hier zu Recht mit zahlreichen Aufsätzen renommierter Fachgelehrter zur allgemeinen Stadtgeschichte sowie zur Wirtschafts-, Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte das lange und weit verbreitete Vorurteil vom politischen und kulturellen >Niedergang< der Reichsstadt nach der Dürer-Zeit widerlegt und demgegenüber die enormen künstlerischen und kulturellen Erträge dieser »Blütezeit« der Stadt hervorgehoben werden (siehe hierzu unten), scheint das Theaterleben der Reichsstadt in dieser Zeit hierzu offenbar keinen Beitrag geleistet zu haben, da der Bereich der theatralen Kunst in dem Band keinerlei Erwähnung findet. Angesichts der weit verbreiteten Auffassung von der quasi nicht vorhandenen bzw. unbedeutenden Nürnberger Theaterkultur im 17. Jahrhundert verwundert es nicht, daß die letzte Arbeit, die sich näher mit dieser Thematik beschäftigte, vor rund 100 Jahren erschien: In seiner Geschichte über die Entwicklung des Theaterwesens in Nürnberg von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bis 1806 widmete Theodor Hampe dem 17. Jahrhundert einen längeren Abschnitt, der in seiner gebotenen Materialfülle bis heute nicht mehr erreicht wurde.20 Als Quelle dienten dem späteren Direktor des Germanischen Nationalmuseums vornehmlich die Nürnberger Ratsprotokolle, von denen er in einem gesonderten Anhang eine beachtliche Menge zum Theaterwesen publizierte (siehe unten). Gemäß Hampes vom literaturwissenschaftlichen Positivismus geprägten methodischen Ansatz spielen aber bei der Auswertung seiner Quellen Analysen von Stücken, Untersuchung struktureller und thematischer Relationen sowie die Bestimmung funktionsgeschichtlicher Zusammenhänge und kontextuelle Beziehungen keine Rolle. Sein »in großen Zügen« gezeichnetes »Bild von der Entwicklung des Nürnberger Theaterwesens« versteht sich vielmehr als »Kommentar« zu den abgedruckten Ratsverlässen, um »hin und wieder ergänzend oder erklärend zu wirken«, wie Hampe im Vorwort seiner Arbeit schreibt.21 So bleibt es weitgehend bei einer chronologisch verfahrenden Aneinanderreihung von Fakten, insbesondere Namen, Stücketitel und Aufführungsdaten, wobei vor allem der Nachweis von Gastspielen durchreisender Wandertruppen einen breiten Raum in der Darstellung einnimmt. Bemerkenswert ist allerdings, 19
20
21
John Roger Paas (Hg.): der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wiesbaden 1995. Theodor Hampe: Die Entwicklung des Theaterwesens in Nürnberg von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bis 1806. Nürnberg 1900, der Abschnitt zum 17. Jahrhundert auf S. 89-153. Zuvor hatte Hampe seine Theatergeschichte bereits in Aufsatzform veröffentlicht in: MVGN 12 (1898), S. 8 7 - 3 0 6 u. 13 (1899), S. 98-237. Hampe: Theaterwesen, S. 6.
5 daß sich Hampe anscheinend bewußt war, daß gerade seine Darstellung zum 17. Jahrhundert keineswegs vollständig war. Denn zu Eingang des entsprechenden Kapitels hob er ausdrücklich hervor, daß ich es dem zukünftigen eigentlichen Geschichtsschreiber des Theaters und der dramatischen Dichtkunst in Nürnberg überlassen muß, sowohl die Lücken in der Darstellung auszufüllen und das Bild, das von mir zumeist nur in groben Umrissen entworfen werden konnte, zu vervollständigen und zu beleben, als auch dieses Bild mit der Gesamtentwicklung des deutschen Theaterwesens zu verbinden, es in dieselbe einzugliedern. 22
Dies steht allerdings noch aus. Seit Hampe wurde nicht mehr der Versuch unternommen, das vorherrschende Bild über das Nürnberger Barocktheater anhand einer eingehenden Untersuchung kritisch zu überprüfen. Dies gilt nicht nur für die Disziplinen der Literatur- und Theaterwissenschaft, sondern etwa auch für die Musikwissenschaft. Zwar beschäftigte sich schon früh Adolf Sandberger in einem Aufsatz mit der Geschichte der Oper in Nürnberg in der zweiten Hälfte des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts,23 in dem er eingangs festhielt, »immerhin [...] kann sich Alt-Nürnberg auch auf unserem Felde sehen lassen«. 24 Aufgegriffen wurde diese Feststellung jedoch nicht. Und auch bei Sandberger selbst blieb es weitgehend bei einer chronologischen Zusammenstellung der Namen von Librettisten, Komponisten und Operntiteln, die das bereits bei Hampe gesammelte Material nur stellenweise ergänzte durch vornehmlich biographische Hinweise sowie Fragen hinsichtlich möglicher italienischer und französischer Textvorlagen der jeweiligen Opern. 25 Wenig Positives über das Nürnberger Musiktheater in dieser Zeit liest man auch in Harold E. Samuels Standardwerk The Cantata in Nuremberg during the Seventeenth Century,26 das als Darstellung des barocken Musiklebens der Reichsstadt sowohl vom Umfang als auch Ansatz her bislang nach wie vor keinen Nachfolger gefunden hat. So wird etwa des Theaters in dem einleitenden Abschnitt »Nuremberg as a Music Center« mit kaum mehr als 22 23
24 25
26
Ebd., S. 91. Adolf Sandberger: Zur Geschichte der Oper in Nürnberg in der zweiten Hälfte des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Musikwissenschaft 1 (1918/19), S. 84-107. Wieder abgedruckt in: ders.: Ausgewählte Aufsätze zur Musikgeschichte. 2 Bde. Hildesheim, New York 1973 (Ndr. der Ausgabe München 1921), Bd. 1, S. 188-217. Ebd., S. 188. Selbst im Fall des Musikers und Komponisten Johann Löhner, dessen Opernschaffen Sandberger ins Zentrum seiner Studie stellte, blieb es bei einer knappen Beschreibung inhaltlicher Zusammenhänge und stofflich-thematischer Bezüge sowie vereinzelter stilistischer Charakteristika unter musikgeschichtlicher Perspektive, die weitgehend von Geschmacksurteilen, etwa Bemerkungen zur »Jugendfrische« Löhners und »schlichten Schönheit seiner Erfindung« (ebd., S. 208), geprägt sind. Harold E. Samuel: The Cantata in Nuremberg during the 17th Century. Michigan 1982 (Reprint der Ausgabe Diss. Cornell Univ. 1963) (Studies in Musicology, No. 56).
6 einem Satz gedacht und dabei das bekannte Urteil tradiert: »The performances were usually by visiting troupes«. 27 Und im Zusammenhang mit der Biographie des Nürnberger Musikers und Opernkomponisten Johann Löhner heißt es erneut: »Apparently most of the works staged in Nuremberg were by Germans and were performed in German by visiting troupes. Thus Nuremberg's modest opera life was a pale shadow of the important German opera school in Hamburg«. 28 In Anbetracht der vielen pejorativen Urteile über das reichsstädtische Theaterleben während des 17. Jahrhunderts muß es fast erstaunen, daß Nürnberg überhaupt Eingang in das Handbuch zur Geschichte der Barockoper von Renate Brockpähler gefunden hat. 29 Allerdings beschränkt sich ihr Überblick neben einigen allgemeinen Angaben zur privaten und öffentlichen Musikpflege hauptsächlich auf einen chronologischen Abriß von Namen, Titeln und Daten, der zudem mehrere Fehler enthält und bezeichnenderweise aufgrund mangelnder gesicherter Erkenntnisse im Fall von Nürnberg oftmals auf Formen des Konjunktivs zurückgreifen muß. Trotz der mehreren in ihrer Skizze vermerkten Opernproduktionen in Nürnberg zwischen 1650 und 1720 fällte jedoch auch Renate Brockpähler ein bescheidenes Fazit: So sei es »bei einigen wenigen Aufführungen« geblieben, »eine richtige stehende Oper gibt es erst nach 1798«.30 Immerhin wies die Autorin jedoch auf eine bedeutsame Tatsache hin: »Nürnberg gehört damit zu den ganz wenigen deutschen Städten, die ohne Einwirkung eines Fürstenhauses mit der Oper bekannt wurden«. 31 Nachgegangen wurde diesem bemerkenswerten Hinweis bislang nicht. Im Gegenteil, wie wenig über die Bereiche Oper und Musiktheater im Nürnberg des 17. Jahrhunderts bis in die jüngste Zeit bekannt ist, zeigt schließlich der erst kürzlich erschienene Nürnberg-Artikel in der neubearbeiteten Auflage des renommierten Fachlexikons Musik in Geschichte und Gegenwart?2 Hier wird nicht nur (wie schon bei Peter Kertz) etwa die Eröffnung des Opernhauses fälschlicherweise 20 Jahre später angesetzt und ins Jahr 1686 verlegt, sondern auch allgemein der Aspekt >barockes Musiktheater< nur mit wenigen Zeilen bedacht, denn in Nürnberg habe es lediglich »einen kleinen Beitrag zur Geschichte des deutschen Musiktheaters« 33 gegeben. Demgegenüber herrscht immer noch die Ansicht vor, daß »die Aufführungen [...] von auswärtigen Schauspielertruppen besorgt« 34 wurden. 35 27 28 29
30 31 32 33 34
Ebd., S. 8. Ebd., S. 48. Vgl. Renate Brockpähler: Handbuch zur Geschichte der Barockoper in Deutschland. Emsdetten 1964 (Die Schaubühne, Bd. 62), S. 297-305. Ebd., S. 305. Ebd. Vgl. Thomas Röder: Nürnberg. In: 2 MGG Sachteil 7 (1997), Sp. 498-508. Ebd., Sp. 503. Ebd.
7
Niedergang der Reichsstadt und »Hans-Sachs-Komplex« Fragt man nach den Gründen für die wissenschaftliche Vernachlässigung der theatralen Kunst in Nürnberg zwischen dem ausgehenden 16. und beginnenden 18. Jahrhundert, so fällt vor allem zweierlei auf: Zum einen scheint seit Theodor Hampe kaum jemand mehr die bereits erschlossenen Quellen untersucht, geschweige denn weitere mögliche Bestände einbezogen zu haben. Insbesondere die vielen erhaltenen Texte sind abgesehen von bloßen Titelnennungen weitgehend unbeachtet geblieben, wobei gerade ihre analytische Auswertung ein anderes Urteil zu Tage gefördert hätte. Zum anderen dürfte in vielen Fällen eine ganz allgemeine Vorstellung über Nürnberg maßgeblich für das überkommene Bild verantwortlich sein: die Auffassung vom vermeintlichen Niedergang der Reichsstadt. Lange Zeit ging man davon aus, daß Nürnberg sich seit etwa 1600 in einem stetigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen >Verfall< befunden habe, an dessen Ende schließlich die Auflösung der reichsstädtischen Selbständigkeit im Jahre 1806 steht. Hoch verschuldet, von den Kriegen des 17. Jahrhunderts und der Verlegung der Handelswege wirtschaftlich und finanziell ausgezehrt, politisch bedeutungslos und geleitet von einem engstirnigen Ratsregiment von der Stadt entfremdeten Patrizierfamilien, gefangen in einer starren Verfassungs- und Gesellschaftsstruktur, basierend auf einer mehr und mehr verarmenden Bevölkerung, die bis um 1800 auf das Maß einer Mittelstadt zusammenschrumpfte und keine besonderen kulturellen Leistungen hervorbrachte - so lauten die vielfach und auch in jüngerer Zeit wiederholten Stereotype zu Nürnberg. 36 Noch 1984 wurde etwa in Christoph von Imhoffs Porträt-Sammlung Berühmte Nürnberger der Zeitabschnitt von ca. 1600 bis 1806 mit dem pejorativen Titel »Abstieg der Reichsstadt«37 überschrieben.
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Eine Ausnahme mag auch hier die Regel bestätigen. Denn als einer der wenigen hat Werner Braun in seiner Einleitung zur Edition der von Johann Löhner für den Ansbacher Hof komponierten Oper Die triumphierende Treu dem gängigen Bild widersprochen. Vgl. Werner Braun: Einleitung. In: Johann Löhner: Die triumphierende Treu. Sing-Spiel. Nach den Quellen rekonstruiert u. hg. v. ders. Wiesbaden 1984 (Denkmäler der Tonkunst in Bayern, N. F., Bd. 6), S. VII-LXIV. Hierin wies Braun unter anderem auf die enge Verbindung zwischen Johann Löhner und Sigmund von Birken hin und berührte (wenn auch nur am Rande) die Nürnberger Opern Löhners und deren Entstehungshintergründe. Dabei bemerkte er angesichts der insgesamt zahlreichen belegten Aufführungen, daß »man von einer Art s t e h e n der Oper< im Nürnberg des vorletzten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts sprechen [könne], die Ähnlichkeiten mit derjenigen in Hamburg aufweist« (ebd., S. LI).
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Vgl. hierzu die klärende Diskussion bei Rudolf Endres: Nürnberg in der Frühneuzeit. In: Europäische Städte im Zeitalter des Barock. Gestalt - Kultur - Sozialgefüge. Hg. v. Kersten Krüger. Köln, Wien 1988 (Städteforschung, Reihe A, Bd. 28), S. 141-167, bes. S. 142-144. Christoph von Imhoff (Hg.): Berühmte Nürnberger aus neun Jahrhunderten. Nürnberg 1984, das Zitat S. 169.
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8 Vor diesem Hintergrund mußte die Dürer-Zeit, in der Nürnberg von Zeitgenossen wie Conrad Celtis und Martin Luther als Mittelpunkt Deutschlands gefeiert wurde, gleichsam zum unerreichbaren Höhepunkt der Stadtgeschichte werden, vor dem alle späteren Epochen verblassen. Von daher konstatierte John Roger Paas ganz zu Recht einen »Dürer-Komplex« vieler Fachgelehrter und brachte zugleich die weitverbreitete Meinung trefflich auf den Punkt: In der Mehrzahl der Fälle implizieren stadtgeschichtliche Abhandlungen über Nürnberg dem Leser [...] das Bild einer Stadt, die am Ende des 16. Jahrhunderts in einen Tiefschlaf versank, aus dem sie erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts wieder erwachte, als mit dem beginnenden Industriezeitalter frisches Blut in die sklerotischen Adern der Stadt flöß.38
Nun läßt sich bezogen auf den Bereich des Nürnberger Theaters die These vom »Dürer-Komplex« mühelos um einen »Hans-Sachs-Komplex« erweitern, der dazu führte, daß bis heute das Drama des Meistersingers als Höhepunkt der städtischen Theatergeschichte gilt, dem nichts Gleichwertiges nachfolgte. Bereits Theodor Hampe etablierte mit seiner Theatergeschichte diese Auffassung: Während die dramatische Kunst des 16. Jahrhunderts und allen voran die Kunst Hans Sachs' noch eine »hervorragende Stellung« einnähmen und als »Schmuckstück für sich«39 gelten könnten, sei das Theaterwesen Nürnbergs im Lauf des 17. Jahrhunderts mehr und mehr abgesunken und einer »Stagnation« 40 verfallen, was »allmählich zu den unleidlichsten Verhältnissen führen mußte«. 41 Dabei diente bereits Hampe als Erklärungsmuster für diesen vermeintlichen Verfall der theatralen Kunst in Nürnberg im Zeitalter des Barock die These vom stetigen Abstieg der bankrotten Reichsstadt. In diesem Abstieg sah er die entscheidende Ursache für das in seinen Augen weitgehend darniederliegende Theaterwesen der Epoche und leistete damit einer Meinung Vorschub, die sich in diesem Bereich bis in die jüngste Zeit gehalten hat: Ganz zweifellos hängt es unmittelbar damit zusammen, wenn in Nürnberg mit dem ganzen Staatsleben der Reichsstadt auch das Theaterwesen einer Stagnation verfällt, wenn der Rat wissenschaftlichen und künstlerischen Bestrebungen nicht mehr das gleiche Interesse, denselben warmen Anteil und die lebendige Begeisterung, wie ehedem, entgegenbrachte [...]. Die drückende finanzielle Lage des Freistaates zwang Sinn und Gedanken in eine andere Richtung. 42
So konnte das Bild entstehen, daß mit dem Tode Hans Sachs' 1576 das Ende eines >eigenständigen< Theaters in Nürnberg eingeläutet worden sei und daß in der Epoche nach 1600 bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit in der 38 39 40 41 42
John Roger Paas: Vorwort. In: ders. (Hg.): der Franken Rom, S. 10-17, hier S. l l f . Hampe: Theaterwesen, S. 89f. Ebd., S. 127. Ebd., S. 154. Ebd., S. 127.
9 Hauptsache nur noch durchreisende Wandertruppen die theatralen Vorstellungen bestritten hätten. In diesem Sinne lautete, wie gezeigt, auch das Resümee bei Peter Kertz, wobei von ihm gleichfalls die verfallende Theater- und Schauspielkultur als fast zwangsläufige Folge des angeblich stetigen Niedergangs und der finanziellen Misere der Reichsstadt verstanden wurde, wenn er schreibt, »der alternden Republik [sei] ein Barocktheater versagt« 43 geblieben, und demgegenüber festhält, »vor allem die Wanderkomödianten befriedigten die theatralischen Bedürfnisse der verarmenden Reichsstadt«. 44 Diese Vorstellung findet sich schließlich auch in der Geschichte des Nürnberger Musiktheaters von Schultheiß wieder, in der die kausale Beziehung zwischen der vermeintlichen Agonie des Gemeinwesens einerseits und bescheidener Theaterkultur andererseits längst zum fest gefügten Topos geworden ist: »Nürnbergs Beiträge zur Geschichte des Musiktheaters sind also ebenso originell wie leider wenig wirksam gewesen. Sie teilen damit das Schicksal der in ihrer politischen und dann auch wirtschaftlichen Macht absinkenden Stadt.« 45
Zeitgenössische Wahrnehmungen und Revision des Geschichtsbilds Obgleich diese Auffassung noch weit verbreitet ist, steht sie im deutlichen Widerspruch zu etlichen überlieferten Wahrnehmungen historischer Zeitgenossen, die in dem hier überwiegend behandelten Zeitraum von 1590 bis etwa 1720 fast durchweg ein positives Bild der Stadt konstatieren: So vermerkte etwa 1597 der Franzose Jaques Esprinchard, der sich auf einer Kavalierstour durch Europa befand, in seinem Tagebuch: Die Stadt Nürnberg ist zweifellos eine der herrlichsten und vornehmsten Städte Deutschlands, sowohl an Gebäuden, die alle fast wie große Paläste sind und sich aneinanderreihen, als auch hinsichtlich der Straßen und der Größe des Umfangs. [...] Diese Republik steht unter allen Europas im Rang nach Venedig und hat sich noch nie in einem so blühenden Zustand befunden wie jetzt. 46
Von dieser Pracht hatte Nürnberg auch nach dem Dreißigjährigen Krieg nichts eingebüßt, wie die Schilderung des italienischen Grafen Galeazzo Gualdo Priorato verdeutlicht, der 1663 in diplomatischen Diensten für die Königin von Schweden in der Stadt weilte und berichtete: »Unter den Reichsstädten Deutschlands steht Nürnberg wohl keiner der schönsten,
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Kertz: Barocktheater, S. 346. Ebd., S. 349. In diesem Sinne äußerte sich Kertz schon in einer früheren Studie. Vgl. ders.: Das Nürnberger Nationaltheater (1798-1833). In: MVGN 50 (1960), S. 388-507, bes. S. 392. Schultheiß: Vom Stadttheater zum Opernhaus, S. 42. Jaques Esprinchard: Ein französischer Reisebericht aus dem Jahr 1597. In: Nürnberg in alten und neuen Reisebeschreibungen. Hg. v. Barbara Fürst. Düsseldorf 1990 (Droste-Bibliothek der Städte und Landschaften), S. 3 2 - 3 6 , hier S. 3 2 - 3 4 .
10 größten, prächtigsten, volksreichsten und mächtigsten nach«.47 Ähnlich fiel das Urteil des englischen Gelehrten Eduard Browns aus, der sich 1686 in der Stadt aufhielt: »Nürnberg [!] ist unter allen Städten / die ich jemals in Teutschland gesehen habe / die allerschönste [...]. Ich war / als ich das erstemal in diese Stadt kam / nicht wenig entsetzet zu sehen die Herrlichkeit der Häuser / die schönen Gassen [...]«.48 Ebenso begeistert vermerkte der ganz Europa besuchende Bildungsreisende Joseph de Blainville 1705 in seinem Tagebuch: »Da Nürnberg eine grosse und hübsche Stadt ist, so werden wir einige Zeit darauf zubringen müssen, ihre Merkwürdigkeiten zu besehen«.49 Noch war die Zeit also nicht angebrochen, in der man, wie Johann Kaspar Riesbeck im Jahr 1783, von der Stadt meinte: »Nürnberg ist eine traurige Stadt, die immer mehr zerfällt«.50 Nun ist insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten von Seiten der Stadtgeschichtsforschung der langlebigen Vorstellung vom Niedergang der Reichsstädte nach 1600 mehrfach entgegengetreten worden. »Das überkommene Bild der Reichsstädte ist zu differenzieren«, stellte etwa Volker Press fest.51 Als einer der ersten hat vor allem Otto Borst dieser Ansicht den Boden bereitet, indem er die vielfältigen kulturellen Leistungen der Reichsstädte für die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg hervorhob.52 Damit setzte eine Entwicklung innerhalb der Forschung ein, die eine allmählichen Neubewertung der Reichsstädte bewirkte.53 Für Nürnberg hat vor allem Rudolf Endres in zwei jüngeren Studien der herkömmlichen Vorstellung vom Niedergang der Stadt entschieden widersprochen.54 Demgegenüber wurden von ihm hervorgehoben: die enormen 47
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Galeazzo Gualdo Priorato: Ein Italiener sieht Nürnberg 1663. In: Fürst (Hg.): Nürnberg, S. 43 -48, hier S. 43. Eduard Brown: Die allerschönste deutsche Stadt 1686. In: Fürst (Hg.): Nürnberg, S. 49-51. [Joseph] de Blainville: Reisebeschreibung den Zustand von Nürnberg betreffend 1705. In: Fürst (Hg.): Nürnberg, S. 52-54, hier S. 52. Johann Kaspar Riesbeck: Nürnberg - eine traurige Stadt 1783. In: Fürst (Hg.): Nürnberg, S. 74f., hier S. 74. Volker Press: Die Reichsstädte im Reich der Frühen Neuzeit. In: Reichsstädte in Franken. Aufsätze 1: Verfassung und Verwaltung. Hg. v. Rainer A. Müller. München 1987 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 15/1), S. 9-27, hier S. 19. Vgl. Otto Borst: Die Kulturbedeutung der oberdeutschen Reichsstadt am Ende des Alten Reiches. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 100 (1964), S. 159-246. In geringfügig veränderter Fassung wieder abgedruckt in: ders.: Babel oder Jerusalem. Sechs Kapitel Stadtgeschichte. Hg. v. Helmut Böhme, Eberhard Jäckel u. Rainer Jooß. Stuttgart 1984, S. 201-303 u. 468-508. Siehe dazu die Diskussion bei Bernd Roeck: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der Frühen Neuzeit. München 1991 (EDG, Bd. 9), S. 108-112. Vgl. Endres: Nürnberg in der Frühneuzeit, S. 141-167, sowie ders.: Nürnbergs Stellung im Reich im 17. Jahrhundert. In: Paas (Hg.): der Franken Rom, S. 19-45. Im gleichen Sinne jetzt auch Helmut Neuhaus: Zwischen Realität und Romantik: Nürnberg im Europa der Frühen Neuzeit. In: Nürnberg. Eine europäische Stadt in
11 finanziellen Anstrengungen der Stadt für das Reich und die Reichskriege, die vielen Privatvermögen, zahlreichen Stiftungen und das ausgeprägte Mäzenatentum der Oberschichten, die aufstrebende Kaufmannschaft, das vorbildhafte Schul- und Bildungswesen, die Kunst- und Literaturpflege, die Privatbibliotheken, das florierende Buch- und Verlagsgewerbe sowie der bedeutende Musikinstrumentenbau. Angesichts dessen kommt er zu dem Resümee: »Nürnberg hatte also durchaus noch einen herausragenden Platz im Alten Reich«.55 Defizite Doch trotz dieser einsetzenden Neubewertung der Reichsstädte im allgemeinen sowie Nürnbergs im besonderen überwiegen nach wie vor die (zum Teil erheblichen) Forschungslücken, wie erst kürzlich Klaus Garber bei seinem resümierenden Lagebericht anläßlich des Kongresses zum Thema Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit herausstellte.56 Angesichts der mangelnden Fallstudien und Gesamtdarstellungen betonte er: »Es gibt keine Arbeit aus der neueren Barockforschung, die sich gleich durchschlagend mit der Stadt im Kontext von Kultur und Literatur zumal des 17. Jahrhunderts verbinden würde«.57 Noch immer ließe sich vielmehr eine »merkliche Reserve gegenüber der Stadt als Literatur prägenden, steuernden, ermöglichenden Raum im 17. Jahrhundert« 58 feststellen. Von daher konstatiert er als derzeit allgemeinen Forschungskonsens, daß der Stadt als Agentur literarischen und kulturellen Lebens im 17. Jahrhundert das Privileg einer gleich intensiven Beachtung weder im Rahmen der weiter dimensionierten Gesamtdarstellungen noch in Gestalt der so besonders erwünschten exemplarischen Fallstudien zuteil geworden ist.59
Besonders schmerzlich zeigt sich dieses Defizit auf dem Gebiet des städtischen Theater- und Schauspielwesens im 17. Jahrhundert, dem (sieht man einmal von einzelnen Untersuchungen zum Schultheater in Städten wie
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Mittelalter und Neuzeit. Hg. v. ders. Nürnberg 2000 (Nürnberger Forschungen, Bd. 29), S. 43 - 68. Endres: Nürnbergs Stellung im Reich, S. 40. Ergänzt werden derartige Hinweise beispielsweise durch den prosopographischen Aufriß einer Nürnberger Gelehrtenkultur im 17. und 18. Jahrhundert, wie ihn Renate Jürgensen jüngst skizziert hat. Vgl. Renate Jürgensen: Norimberga Literata. In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. v. Klaus Garber. 2 Bde. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit, Bd. 39), Bd. 1, S. 425-490. Vgl. Klaus Garber: Stadt und Literatur im alten deutschen Sprachraum. Umrisse der Forschung - regionale Literaturgeschichte und kommunale Ikonologie - Nürnberg als Paradigma. In: ders. (Hg.): Stadt und Literatur, Bd. 1, S. 3 - 8 9 , bes. S. 3 26. Ebd., S. 5. Ebd., S. 11. Ebd., S. 8.
12 Straßburg und Breslau oder von den zumeist chronologisch, prosopographisch und repertoiregeschichtlich ausgerichteten Studien zu den Gastspielen der Wandertruppen ab) kaum neuere, umfassende Studien gewidmet wurden und das verglichen mit den zahlreichen Arbeiten zur höfischen Theaterpraxis dieser Zeit nicht nur im Fall von Nürnberg noch weitgehend als eine Unbekannte angesehen werden muß. 60 Denn nach wie vor scheint es als ausgemacht zu gelten, daß im Zeitalter des Barock bedeutsame theatrale Kunst sowie repräsentative Festkultur fast ausschließlich an den Höfen stattgefunden habe. Diese insbesondere auf Richard Alewyns und Karl Sälzles Studie zur barocken Festkultur 61 zurückgehende und seitdem oft wiederholte Sehweise bildet trotz der regen Stadtkulturforschung der letzten zwei Jahrzehnte heute noch weitgehend den allgemeinen Konsens. 62 Dies zeigt etwa die jüngst im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg präsentierte, groß angelegte Schau zum 17. Jahrhundert, deren Titel Von Teutscher Not zu höfischer Pracht63 für diese Auffassung schon signifikant ist. Dementsprechend findet sich in dem sonst vorbildlichen gestalteten Ausstellungskatalog unter dem Abschnitt »Prachtentfaltung« kein Hinweis auf etwaige Festkultur oder die Pflege theatraler Kunst in den Reichsstädten. 64 Die Dominanz dieser Ansicht von der vermeintlich weitgehend höfisch bestimmten Fest- und Theaterkultur im Barockzeitalter kommt im besonderen Maße auf dem Gebiet der Oper zum Ausdruck. Denn trotz des inzwischen gut dokumentierten Beispiels Hamburg 65 wird die Oper wie kaum eine andere Gattung auch heute noch überwiegend als eine fast ausschließlich an 60
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Dies zeigt auch noch der unlängst erschienene Band von Hans-Peter Becht u. Bernhard Kirchgässner (Hg.): Stadt und Theater. 35. Arbeitstagung (des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung) in Biberach 1996. Stuttgart 1999 (Stadt in der Geschichte, Bd. 25), der auf rund 170 Seiten in Form eines knappen Querschnittes einige (zum Teil) kleinere Beiträge vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert versammelt. Richard Alewyn u. Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959 (Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Bd. 92). Vgl. das Fazit in dem jüngeren Forschungsbericht von historischer Seite bei Michael Maurer: Feste und Feiern als historischer Forschungsgegenstand. In: Historische Zeitschrift 253 (1991), S. 101-130, der konstatiert hat: »Eine neuere Gesamtdarstellung zum Fest in der Frühen Neuzeit liegt nicht vor. Die Vorstellung von der Festkultur des Barock dürfte noch weithin durch den klassischen Essay von Richard Alewyn geprägt sein« (ebd., S. 114). Ulrich G. Großmann (Hg.): Von teutscher Not zu höfischer Pracht: 1648-1701. Katalog zur Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, 2. April 16. August 1998. Köln 1998. Vgl. ebd., S. 319-386. Zur Hamburger Oper siehe unter anderem Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg (1678-1738). 2 Bde. Wolfenbüttel 1957; Reinhart Meyer: Einführung. In: Die Hamburger Oper. Eine Sammlung von Texten der Hamburger Oper aus der Zeit 1678-1730. Hg. v. ders. 4 Bde. München, Millwood 1980-84, Bd. 4, S. 11-137, sowie vor allem jüngst Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der
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Höfen praktizierte Kunstform angesehen.66 Dies verdeutlicht beispielsweise der erst kürzlich erschienene Band zum 17. Jahrhundert von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur,67 in dem das Kapitel »Oper, Fest, Ballett« nicht nur wie selbstverständlich dem Themenbereich »Höfische Repräsentationsliteratur« zugeordnet ist, sondern das auch so gut wie keinen Hinweis auf eine mögliche Opern- oder Ballettpflege in den Reichsstädten gibt.68 Damit korrespondiert, daß anders als im Falle der Fürsten und ihrer Höfe den Räten der Reichsstädte im 17. Jahrhundert kaum eine gezielte Kulturpolitik und Förderung der Künste zugesprochen wird, eine Unterstellung, die besonders für Nürnberg immer wieder behauptet wurde und wird 69 Erst unlängst hat mit Hartmut Laufhütte, selbst ein ausgewiesener Kenner der Nürnberger Barockliteratur, diese Sehweise nochmals erneuert und in seinem Beitrag zur Kongreßpublikation Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit gleich im ersten Abschnitt mit fast apodiktischer Sicherheit festgestellt: »Unergiebig bleibt jeder Versuch, der Stadt von damals bzw. ihrer Administration die Rolle eines aktiven Partners zuzuweisen, so etwas wie eine [...] Kultur- und Literaturförderung, und nach entsprechenden Spuren zu fahnden«.70 Quellenlage Angesichts dieses (hier notgedrungen nur skizzierten) Hintergrunds sowie der vielen negativen Urteile über das Nürnberger Barocktheater mag es erstaunen, daß die Quellenlage zur Rekonstruktion der theatralen Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts (anders als gemeinhin angenommen wird) außerordentlich gut ist. Eine der Hauptquellen für die Theaterkultur der Reichsstadt liefern die sogenannten Ratsverlässe71 die sämtliche in den Plenarsitzungen des Magistrats getroffenen Entscheidungen umfassen. Sie wurden von den Ratsschreibern noch während der Sitzungen oder unmittelbar danach niedergeschrieben und bieten einen ebenso unersetzlichen wie wert-
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Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie ( 1 6 9 0 - 1 7 4 5 ) . Göttingen 1998 (Abhandlungen zur Musikgeschichte, Bd. 2). Vgl. auch die Kritik von Reinhard Meyer: Einführung, S. 52, der festgehalten hat, »es ist sicher unzutreffend, wenn bis in die Gegenwart hinein behauptet wird, die Oper sei in Deutschland ein >fürstliches< Institut gewesen«. Albert Meier (Hg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts. München, Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 2). Vgl. Markus Engelhardt: Oper, Festspiel, Ballett. In: ebd., S. 3 3 3 - 3 4 6 . Siehe hierzu ausführlich Teil A, Kap. 2. Hartmut Laufhütte: Philologisches Detektivspiel. Der Nürnberger Birken-Nachlaß als Materialfundus und Stimulus für die Erforschung der Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Garber (Hg.): Stadt und Literatur, Bd. 1, S. 4 9 1 - 5 0 8 , hier S. 491. Vgl. StaatsAN, Rep. 60a: Ratsverlässe des Inneren Rats sowie Rep. 60d: Verlässe der Herren Älteren.
14 vollen Materialfundus.72 Für die hier vornehmlich behandelte Zeitspanne von 1593 bis ca. 1700, die vom Eintreffen Englischer Komödianten in Nürnberg auf der einen Seite und dem gescheiterten Versuch einer stehenden Oper in der ehemaligen Reichsstadt auf der anderen Seite markiert wird, liegen hierfür allein in dem von Theodor Hampe erstellten und nach ihm kaum mehr herangezogenen Quellenapparat rund 470 Ratsentscheidungen zum Theaterwesen vor.73 Hinzu kommen etwa 40 weitere, bislang unbekannte, von Hampe nicht erfaßte Verfügungen, darunter gerade die für die Geschichte der Oper in Nürnberg wichtigen Ratsverlässe.74 Die Protokolle des Nürnberger Rats bilden jedoch keineswegs die einzige Quelle. Sie können vielmehr noch ergänzt werden durch verschiedene andere, bislang ebenfalls nicht konsultierte handschriftliche Archivalien:75 Zunächst sind hier etwa unterschiedliche Rechnungsbelege und -aufstellungen zu nennen, die sich in den Akten einzelner Stadtämter wie dem Kriegs- oder Losungsamt erhalten haben, darunter insbesondere die Akten zum Fechthaus76 Hinzu kommen noch vereinzelt erhaltene Supplikationen, Spielgesuche und Eingaben, etwa von Wandertruppen, Schulmeistern, Handwerkern oder aus den Reihen der Geistlichen. Von großer Bedeutung sind zudem die Berichte in zeitgenössischen Stadtchroniken, in denen viele Theateraufführungen vermerkt wurden und die oftmals wichtige Angaben zur Ausstattung oder zum Publikum enthalten.77 Hinweise zum Theater finden sich etwa auch 72
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Zu ihrer Bedeutung meinte bereits Emil Reicke: Geschichte der Reichsstadt Nürnberg von dem ersten urkundlichen Nachweis ihres Bestehens bis zu ihrem Uebergang an das Königreich Bayern (1806). Neustadt a.d.A. 1983 (Ndr. der Ausgabe Nürnberg 1896), S. 264: »Es hat sich in ihnen ein geradezu massenhaftes urkundliches Material angehäuft, und jeder, der die Geschichte unserer Stadt in irgend einer Beziehung auch nur ein wenig eingehender erforschen will, muß diese unschätzbaren Quellensammlungen aufs gewissenhafteste studieren.« Vgl. Hampe: Theaterwesen, S. 253-323. Die Ratsverlässe werden nach den Exemplaren im Staatsarchiv Nürnberg mit Angabe der Nummer, des Datums und der Seitenzahl zitiert. Für alle Ratsentscheidungen zum Theaterwesen, die nicht im gedruckten Quellenapparat der Monographie Hampes zugänglich sind, wird dies mit dem Hinweis »fehlt bei Hampe« vermerkt. Der Großteil dieser ungedruckten und (zumeist bislang unbekannten) Ratsverlässe zum Nürnberger Theater im 17. Jahrhundert ist im Anhang dieser Arbeit mit freundlicher Genehmigung des Staatsarchivs Nürnberg in transkribierter Form wiedergegeben. Ein wichtiger Teil davon aus dieser Zeit ist vermerkt bei Kertz/Strößenreuther: Bibliographie, S. 7 - 9 . In Frage kommen hier insbesondere folgende Bestände: StaatsAN, Rep. 16a: B-Laden; Rep. 44a: Losungsamt Akten; Rep. 53: Ämterrechnungen; sowie Rep. 54a II: Nürnberger Stadtrechnungsbelege. Die genauen Angaben und einzelnen Nummern sind in den betreffenden Fußnoten sowie im Quellenverzeichnis der Arbeit angeführt. Neben den in der Stadtbibliothek Nürnberg erhaltenen Chroniken ist hier vor allem der Bestand im Stadtarchiv Nürnberg zu nennen. Vgl. StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken.
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in den Tagebuchaufzeichnungen Sigmund von Birkens,78 der sich als fleißiger Theaterbesucher erwies, oder auf überlieferten Nürnberger Theaterzetteln dieser Epoche. Wichtige Informationen bieten des weiteren etliche handschriftliche Aktenkonvolute mit Notizen und Nachrichten von Theateraufführungen, die sich in der Stadtbibliothek Nürnberg erhalten haben und wohl im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert von anonymer Hand angefertigt wurden.79 Nicht zuletzt sind hier die vielfach noch erhaltenen, jedoch ebenfalls kaum näher beachteten Textbücher und Periochen zu den in Nürnberg aufgeführten Schauspielen hervorzuheben, denen neben den Spieltexten durch die vielfach beigegebenen Widmungen, Vorreden, Kupferstiche, Darstellerverzeichnisse sowie Pro- und Epiloge unschätzbarer Quellenwert zukommt.80 Besonders auffällig ist das Mißverhältnis zwischen Forschungs- und Quellenlage beim Nürnberger Schultheater des 17. Jahrhunderts, das zwar anders als das prominente Beispiel Breslau nach wie vor eine Unbekannte darstellt, sich jedoch durch verschiedenste Quellen gut dokumentieren läßt. Neben den schon erwähnten Materialien wie Ratsverlässen, Stadtchroniken, Periochen und Textbüchern kommen hier außerdem noch die Bestimmungen in den vielen erhaltenen Schulordnungen oder (für das Altdorfer Akademietheater) die Beschlüsse in den Protokollen der Scholarchen hinzu. Einen besonderen Glücksfall stellt zudem eine erhaltene Rechnungsaufstellung von einer Schulaufführung aus dem Jahr 1658 dar, die detaillierte Angaben über die beteiligten Personen und die angefallenen Kosten macht und so einen guten Einblick in den betriebenen Organisations- und Inszenierungsaufwand gewährt. Nahezu vollständig dürften die Einladungsprogramme zu den Schulactus-Veranstaltungen am Nürnberger auditorium publicum erhalten sein, anhand deren sich diese bislang gleichfalls vernachlässigte Einrichtung im Nürnberger Bildungswesen zumindest für das 17. Jahrhundert gut rekonstruieren läßt. Für den zeitlichen Kernbereich der Untersuchung wurden über 170 Texte von in Nürnberg aufgeführten Schauspielen, Opern, Redeactus bzw. in Nürnberg entstandenen Übersetzungen ausgewertet (nicht mitgezählt die Stücke vor 1600 und nach 1700, etwaige fremdsprachige Vorlagen von Stücken sowie herangezogene Texte für die Kontext-Rekonstruktion). Dabei verteilt sich 78
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Sigmund von Birken: Die Tagebücher. Bearbeitet von Joachim Kröll. 2 Teile. Würzburg 1971-1974 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, 8. Reihe, Bd. 5 u. 6). Zur Kritik an der von Kröll besorgten Ausgabe siehe Klaus Garber: Die Tagebücher Sigmund von Birkens. Einige Erwägungen anläßlich ihrer Edition. In: Euphorion 68 (1974), S. 88-96, sowie Hans-Henrik Krummacher: Die Tagebücher des Sigmund von Birken. Zur Ausgabe und Kommentierung durch Joachim Kröll. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 112 (1983), S. 125-147. Hier sind vor allem folgende Bestände zu nennen: SBN, Nor. H. 698, 699, 991, 996. Einen (geringen) Teil der gedruckten Textbücher verzeichnet (mit gelegentlichen Fehlern) Kertz/Strößenreuther: Bibliographie, S. 19-24.
16 die Zahl der Texte wie folgt: rund 70 vollständige Textbücher, 9 Periochen und 91 Spielaufführungs-Programme. Hinzu kommen für den Kernbereich rund 60 Belege von weiteren Nürnberger Theaterunternehmungen, die indirekt über Quellen erschlossen und rekonstruiert werden konnten. Insgesamt bilden somit mehr als 200 Theaterunternehmungen und theatrale Darbietungen allein aus dem Kernbereich die Materialbasis, die dieser Arbeit zu Grunde liegt.81 Ebenfalls als günstig hat sich die Quellensituation für die Beschreibung der vorhandenen Theaterbauten und Bühnen erwiesen, die ebenfalls ein Beleg für die reiche Theaterkultur dieser Zeit sind. Denn immerhin wurden in Nürnberg im 17. Jahrhundert zwei Spielhäuser gebaut, von denen allein das sogenannte Fechthaus 3.000 Personen faßte. 82 Hierfür liegen nicht nur etliche graphische Darstellungen in Form von Kupferstichen vor, sondern es hat sich beispielsweise auch eine handschriftliche Grundrißzeichnung des 1668 eröffneten Opern- bzw. Nachtkomödienhauses83 erhalten, in die vom Zeichner wertvolle Kommentierungen eingefügt wurden, so daß sich die dortigen Bühnenverhältnisse gut vergegenwärtigen lassen. 84 Durch einen zeitgenössischen Bericht von 1658 kann zudem die Beschaffenheit der (vornehmlich für Schulaufführungen benutzten) Bühne im Augustinerkloster erschlossen werden. Darüber hinaus geben neben etlichen Ratsverlässen und Rechnungsbelegen von Handwerkern, die mit Reparatur- und Renovierungsaufgaben betreut wurden, auch verschiedene topographische Beschreibungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts aus Reiseführern und der älteren lokalen Historiographie einigen Aufschluß über die Theaterbauten. 85
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Ausgeklammert sind in der quantitativen Aufstellung allerdings die unzähligen Aufführungsbelege für die Gastspiele der auswärtigen Wandertruppen. Siehe hierzu Teil B, Kap. 1. Bei einer Einwohnerzahl von etwa 50.000 entsprach dies einer Platzkapazität von sechs Prozent der Bevölkerung - wesentlich mehr, als die heutigen Stadttheater erfüllen können. Zum Fechthaus siehe Teil A, Kap. 1.2. Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 3. Etliche graphische Darstellungen Nürnberger Theatergebäude sind vermerkt bei Kertz/Strößenreuther: Bibliographie, S. 68 - 70. Zu den hier (nur stichwortartig) genannten Quellen zur theatralen Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts kommen schließlich noch eine ganze Reihe weiterer Quellen hinzu, die sich vor allem aus den unterschiedlichen kontextuellen Bezügen ergeben und an dieser Stelle nicht einzeln aufgeführt werden sollen. Sie reichen von Informationen aus Tauf-, Hochzeits- und Bestattungsbüchern über verschiedene Inschriften und Festbeschreibungen bis hin zu Poetiken, italienischen Librettovorlagen, Meistersingerprotokollen, Leichenpredigten, Gelegenheitsgedichten sowie zahlreichen anderen gedruckten Texten der unterschiedlichsten Art.
17 Theater als Öffentlichkeitsform und gesellschaftliche Institution Vor dem Hintergrund des reichhaltigen Quellenmaterials stellt sich die Frage: Wie läßt sich das Thema Reichsstadt und Schauspiel im Nürnberg des 17. Jahrhunderts gliedern? Wie ein ganzes Jahrhundert Theatergeschichte einer Stadt darstellen, ohne daß dabei (trotz aller notwendigen Beschränkungen) Wesentliches weggelassen, nicht zugleich aber wichtige, größere Zusammenhänge hinter einer gleichsam nach dem Prinzip >von Α bis Z< verfahrenden Anordnung verloren gehen? Ein paar Grundsatzüberlegungen sind für den hier gewählten Weg unumgänglich. Theater und Schauspiel gelten seit jeher als exponierte gesellschaftliche Institutionen, zu deren grundlegenden Wesensmerkmalen die Kategorie der Öffentlichkeit gehört. 86 Von daher hat man von der »besonderen Affinität zwischen dem Theater und der Gesellschaft« 87 gesprochen. Gilt diese Bestimmung quasi per definitionem ganz allgemein für den Bereich des Theaters, so trifft dies in besonderer Weise für die Zeit des 17. Jahrhunderts zu, in der jede Form von Literatur fast ausschließlich als rhetorisch geprägte und wirkungsästhetisch ausgerichtete Kunstform denkbar ist, in der das Theater eines der wenigen Massenmedien darstellt und in Aufnahme des Topos vom theatrum mundi »zum vollständigen Abbild und zum vollkommenen Sinnbild der Welt« 88 wird. Eine Zeit schließlich auch, in der die Bereiche Alltag und Arbeit einerseits sowie Fest und Geselligkeit andererseits nicht voneinander zu trennen sind. Denn innerhalb der frühneuzeitlichen Stadtgemeinde, die seit jeher ganz allgemein schon einen »Bereich gesteigerter Öffentlichkeit« 89 darstellte, bildete jede Form des Festes - um mit den Worten Richard van Dülmens zu sprechen - immer zugleich eine »wesentliche Dimension des gesellschaftlichen Lebens«. 90 Geselligkeit und Feiern begründeten eine »öffentliche Kultur«, durch die erst ein »wesentlicher Teil der sozialen Ordnung« 91 entstand. Anders als heute stellte die frühneuzeitliche Festkultur kein Privatvergnügen dar und war »nicht Teil einer Freizeitgestaltung«, sondern sie generierte »die andere Seite des sozialen Lebens, die wie die Arbeit
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Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 3 1994 ( Ί 9 8 3 ) , S. 16, sowie Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 9 1997 ('1977) (UTB 580), S. 49ff. Pfister: Drama, S. 49. Richard Alewyn: Das große Welttheater - die Epoche der höfischen Feste. München 1989 (Ndr. der 2., erweiterten Aufl. der Originalausgabe, München 1985) (Beck'sche Reihe, Nr. 389), S. 60. Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter: 1250-1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. Stuttgart 1988, S. 18. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Dorf und Stadt, 16.-18. Jahrhundert. München 1992, S. 127. Ebd.
18 die Wirklichkeit konstituierte und strukturell nicht aus der ständischen Lebenswelt wegzudenken ist«.92 An diese Überlegungen knüpft die hier vorliegende Arbeit an. Sie begreift das Theaterwesen Nürnbergs im 17. Jahrhundert als ein vornehmlich gesellschaftliches Phänomen und integralen Bestandteil frühneuzeitlicher Stadtkultur, der eingebunden war in den sozialen Kosmos der städtischen Gemeinde und in dessen Rahmen sich wichtige Formen urbaner Festkultur sowie reichsstädtischer Öffentlichkeit realisierten. Auf diese enge Beziehung spielt das im Titel gewählte Begriffspaar Reichsstadt und Schauspiel an und sie bildet den strukturellen Leitfaden bei der Darstellung des Themas. In etlichen Fällen fungierten Theater- und Schauspielaufführungen als stadtgesellschaftliche Handlungen mit regelrecht offiziellem Charakter und zum Teil begleitenden zeremoniellen Akten. 93 Dies verdeutlicht zum einen die Zusammensetzung ihres Publikums, das etwa beim Schultheater oder den Opernaufführungen neben anderen Honoratioren und adeligen Gästen von Patriziern und Ratsherren gebildet wurde. Letztere wohnten den Aufführungen jedoch nicht als Privatpersonen bei, sondern stets als Repräsentanten der Reichsstadt, die mit ihrer Anwesenheit gleichsam die Gemeinde als Ganzes vergegenwärtigen konnten. 94 In dieser Hinsicht trägt das Theaterpublikum bei einer ganzen Reihe von Aufführungen durchaus Züge der »repräsentativen Öffentlichkeit«, wie sie Jürgen Habermas beschrieben hat 95 - obgleich dabei nicht nur »vor« dem Volk (wie noch Habermas meinte), sondern auch in erheblichem Maße »für« das Volk repräsentiert wurde, wie an einigen Beispielen zu zeigen sein wird. 96 Zum anderen zeigen sich der repräsentative Charakter des Theaters und seine gesellschaftliche Bedeutung in der vielfachen Anlaßgebundenheit der Aufführungen, aufgrund dessen man die theatrale Kunst im Nürnberg des 92 93
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Ebd., S. 171. Zum Zeremoniell siehe jetzt den umfassenden Band von Jörg Jochen Berns u. Thomas Rahn (Hg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit, Bd. 25). Vgl. etwa Zedier 39 (1744), Sp. 768-792, s.v. >StadtStadt< heißt: »Bisweilen aber bezieht sich diese Benennung blos auf das Raths= Collegium, die Bürgermeister, Regenten, Vorsteher, oder sonst die Vornehmsten, welche gemeiniglich eine gantze Stadt, oder solche Gesellschaft, vorstellen« (ebd., Sp. 768). Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt a.M. 4 1995 01962) (stw 891), S. 61. Zur Kritik und Ergänzung der Habermaschen Kategorie der »repräsentativen Öffentlichkeit« siehe die perspektivenreichen, wissenschaftstheoretischen Ausführungen bei Axel Schmitt: Inszenierte Geselligkeit. Methodologische Überlegungen zum Verhältnis von >Öffentlichkeit< und Kommunikationsstrukturen im höfischen Fest der Frühen Neuzeit. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. v. Wolfgang Adam. 2 Teile. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 28), Teil 2, S. 713-734.
19 17. Jahrhunderts in weiten Teilen als >Gelegenheitsdichtung im G r o ß f o r m a t bezeichnen könnte, bei der sich oftmals Stoffwahl und Sujetfügung durch die spezifischen Casualfunktionen ergeben. Dies gilt etwa für das durch und durch zweckgebundene Schultheater sowie für Ballett- und Opernaufführungen zu Ehren des Kaiserhauses anläßlich von Geburten, Namenstagen oder Krönungsjubiläen. Zumindest aus der Sicht der Obrigkeit waren aber auch die Vorstellungen der gastierenden Wanderbühnen konkreten Zwecken unterworfen, indem ihnen ganz spezifische Funktionen zugewiesen wurden. Daß ihre Darbietungen nicht minder offiziellen Charakter annehmen konnten, zeigt sich etwa beim bislang wenig beachteten Phänomen der zeitgenössischen Praxis von Freivorstellungen zu Ehren des Rats, den sogenannten Ratskomödien, bei denen die Aufführung der Wandertruppen ebenfalls zum stadtgesellschaftlichen Spektakel von hohem Rang wurde. 97 Casualfunktionen erfüllten schließlich die >halb-öffentlichen< Aufführungen in geselligen Kreisen, wie es etwa bei den Musikgesellschaften der Fall war. Diese theatralen Vorstellungen wurden meist zu ganz speziellen Anlässen dargeboten und bildeten eine Geselligkeitsform, die keinen privaten Charakter trug, sondern eine höchst zweckgebundene Geselligkeit mit Öffentlichkeitscharakter darstellte (siehe unten). Funktionsgeschichtlicher Ansatz Vor dem skizzierten Hintergrund ergeben sich zentrale Konsequenzen für den hier gewählten methodischen Ansatz und die Gliederung des Themas. Es dürfte deutlich geworden sein, daß eine Systematisierung der theatralen Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts etwa unter chronologischen Gesichtspunkten oder nach dem Prinzip der Aneinanderreihung einzelner Autoren dem Gegenstand wohl kaum gerecht wäre und wichtige Zusammenhänge verdecken würde. Wesentlich angemessener erscheint vielmehr die Darstellung unter dem Aspekt einer funktionsgeschichtlichen Perspektive, die anhand eines paradigmatischen Aufrisses versucht, die vielfältigen kulturellen und kommunikativen Funktionen und Auswirkungen des Theaters innerhalb des sozial-gesellschaftlichen Kosmos Reichsstadt zu beschreiben. So wird unter anderem zu zeigen sein, in welchem Maße der Nürnberger Rat als Obrigkeit bestrebt war, das Theaterwesen nicht nur zu kontrollieren und zu reglementieren sowie auf bestimmte sittliche und geschmackliche Normvorstellungen zu fixieren, sondern zudem als Teil obrigkeitlicher Herrschaftspraxis gezielt für seine Zwecke einzusetzen: Ganz dem Vorbild vieler Fürsten folgend, verstand es der Nürnberger Rat ebenfalls, das kommunikative Potential und die visuellen Präsentationsqualitäten des Massenmediums Theater sowohl zur inszenierten Selbstdarstellung und Steuerung der Fremd97
Siehe hierzu Teil B, Kap. 1.
20 Wahrnehmung zu instrumentalisieren als auch für herrschaftsstabilisierende und herrschaftslegitimierende Funktionen gegenüber der eigenen Bürgerschaft zu nützen. 98 Daß jedoch auch unterhalb der von obrigkeitlichen Vorgaben und Funktionszuweisungen bestimmten, gleichsam offiziellen Theaterkunst eine von Laien und dilettierenden Amateuren geprägte Theaterkultur bestand, veranschaulichen die Theaterambitionen aus dem Umfeld der Handwerker und Krämer, die sich den obrigkeitlichen Maßregelungen und Normierungstendenzen immer wieder zu entziehen suchten. Sie wurden vom Nürnberger Rat argwöhnisch beobachtet, der im Lauf des 17. Jahrhunderts verstärkt und letztendlich erfolgreich gegen das Laienspiel vorging. Es zeigt sich hier auf dem Gebiet des Theaterwesens eine Auseinandersetzung zwischen Traditionen der >Volkskultur< und einer von den Obrigkeiten propagierten >ElitenkulturSingets Spiel< in Deutschland ein, wobei dieser bei Ayrer noch nicht ein völlig von Musik begleitetes sowie in Arien und Rezitativ geschiedenes Schauspiel, sondern eher ein lustiges Possenspiel mit Tanz bezeichnet, das in Strophenform auf einen Ton bzw. eine bekannte Melodie gesungen wird. 59 Nicht zuletzt greift der gelehrte Dramatiker die beliebte Narrenfigur der Wandertruppen auf, die bei ihm sogar im Titel einiger Stücke auftaucht: Faßnachtspil von dem Engelländischen Jahn Posset, wie er sich in seinem dienst verhalten oder Der verlohrn Engelländische Jahn Posset60 - beide Spiele können wohl als eine unmittelbare Replik angesehen werden auf die 1596 und 1597 in Nürnberg gegebenen Gastspiele von Thomas Sackville, der zu dieser Zeit mit seiner Figur des Jan Posset in Deutschland berühmt wurde und auch bei seinen Auftritten in Franken für Begeisterung sorgte. 61 Obgleich vieles in den Stücken von Jakob Ayrer (wie etwa Prologe, Szenenanweisungen etc.) auf eine Aufführung hinweist, ist über eine tatsächliche öffentliche Vorstellung der Schauspiele zu seinen Lebzeiten jedoch nichts bekannt. 62 Welche Anziehung das Theater der Englischen Komödianten ausübte, zeigt sich im Zusammenhang mit Jakob Ayrer noch auf eine andere Weise: In der »Vorrede an den christlichen guthertzigen Leser« zur posthumen, in 57
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So noch Hampe: Theaterwesen, S. 96. Dagegen aber Wodick: Jakob Ayrers Dramen, S. 50, und erneut Kiesselbach: Jakob Ayrer, S. 202-206. Eine ausführliche Darlegung der Neuerungen liefern Kaulfuß-Diesch: Inszenierung des deutschen Dramas, S. 167 -227, sowie Wodick: Jakob Ayrers Dramen, S. 44ff. Siehe hierzu auch Catholy: Das deutsche Lustspiel, S. 138-147. Jakob Ayrer: Dramen. Hg. v. Adelbert von Keller. 5 Bde. Stuttgart 1865 (Bibliothek des literarischen Vereins, Bd. 76-80), Bd. 4, Nr. 52 u. 53. Zur Übernahme der komischen Figur bei Ayrer siehe Kaulfuß-Diesch: Inszenierung des deutschen Dramas, S. 210-217. Vgl. Jens Haustein: Ayrer, Jakob. In: LL 1 (1988), S. 265f.
39 Nürnberg erschienenen Ausgabe der Ayrerschen Stücke im Jahre 1618 versuchten die Herausgeber damit zu werben, daß die Schauspiele des Notars »gleichsam auff die neue Englische manier vnnd art« 63 verfaßt seien - ein signifikantes Beispiel dafür, in welchem Maße die theatrale Kunst der englischen Wandertruppen schon bald nach 1600 zu einem Qualitätsmaßstab geworden war, mit dem man sich gerne schmückte. Schultheater Neuen Auftrieb erhielt durch das belebte Theaterwesen seit dem Erscheinen der Wandertruppen auch die Schauspielaktivität an den Schulen in Nürnberg. Zwar reicht die Tradition schuldramatischer Aufführungen in Nürnberg bis in das 15. Jahrhundert zurück und erfuhr im 16. Jahrhundert in der Reichsstadt eine ungemein rege Pflege. 64 Doch es ist wohl kein Zufall, daß nur wenige Jahre nach dem Ankommen der Englischen Komödianten in den Ratsverlässen die Berichte über öffentliche Schulaufführungen wieder vermehrt einsetzen - darunter gleich zu Beginn mit zwei Aktionen, die für reichlich Aufsehen in der Stadt sorgten: Im Sommer 1605 veranstalteten unabhängig voneinander der Schuldiener der Lateinschule von St. Lorenz und der Rektor der Lateinschule von St. Egidien, Johann Ludwig und Konrad Schramm, mit ihren Schülern gleichzeitig öffentliche Schauspiele, jener in der Marthakirche, dieser im Kloster von St. Egidien. Hierzu warben sie nicht nur mit »zettel und gemäl an den stocken und kirchturnen«, sondern die Schüler zogen zudem »mit drummel und pfeifen in der stat herumb«. 65 Kurz vor Vorstellungsbeginn scheinen die beiden Schuldiener jedoch von ihren gegenseitig konkurrierenden Aufführungen erfahren zu haben und daraufhin schnell in Streit miteinander geraten zu sein. Jedenfalls lief Konrad Schramm sogleich »hinauf gen s. Martha« und versuchte »aigens gewalts das spielen daselbs ab[zu]schaffen«. 66 Zur gleichen Zeit wetterte der Magister und Prediger Paul Schneider von der Kanzel in St. Egidien aus gegen die Theaterambitionen der beiden Schulmänner und berief sich sogar auf ein »gespenst mit klingeln«, was sich seit den Schauspielplänen der Schulen »in der kirch erzeigt« 67 haben sollte. Solche Turbulenzen konnte der Rat nicht billigen und rügte die streitenden Parteien mit scharfen Verweisen: So kritisierte er nicht nur das übermäßige Werben der Lehrer für ihre Aufführungen als »wider alt herkummen« 6 8 sondern verbot sich auch den zürnenden Eifer des Geistli-
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Vorrede an den christlichen guthertzigen Leser. In: Ayrer: Dramen, Bd. 1, S. 6. Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 2.1. StaatsAN, RV Nr. 1780 vom 1. August 1605, fol. 20'. Ebd. vom 6. August 1605, fol. 32r. Ebd. Ebd. vom 1. August 1605, fol. 20r.
40 chen Paul Schneider, der nicht mit »solchem merlein« von Gespenstern »für die gemain« 69 treten solle. Diese Episode zu Beginn des 17. Jahrhunderts steht am Anfang intensiver, fast das gesamte Jahrhundert andauernder Theateraktivitäten der Nürnberger Schulen, die selbst während des Dreißigjährigen Krieges nicht völlig zum Erliegen kamen. Dabei traten nicht nur die Schüler des Egidiengymnasiums sowie der vier Lateinschulen, sondern auch etliche »Teutsche Rechenmeister« und andere Privatlehrer zusammen mit ihren Klassen mit theatralen Darbietungen in der Öffentlichkeit auf. An vielen Beispielen läßt sich zeigen, in welchem Maße das Schultheater einen wichtigen Bestandteil urbaner Festkultur bildete und zum Mittel der Repräsentation und Selbstdarstellung der Obrigkeit instrumentalisiert wurde. Darüber hinaus fand das Schultheater seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts bis etwa zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges insbesondere im nahegelegenen Altdorf, wohin der Rat 1575 das von Krisen geschüttelte Gymnasium verlegt hatte, eine intensive Pflege (siehe zu diesem gesamten Komplex ausführlich Teil B, Kap. 2).
1.2. Der erste städtische Theaterbau im Alten Reich: das Fechthaus von 1628 Mit dem seit der Ankunft der Englischen Komödianten im Jahre 1593 neu belebten Theaterleben und der beachtlichen quantitativen Zunahme theatraler Darbietungen in der Reichsstadt wird nicht zuletzt die Erbauung des sogenannten Fecht- oder auch Tagkomödienhauses70 auf der Insel Schütt im Jahre 1627/28 in Verbindung gebracht, immerhin das erste kommunale Theatergebäude im Alten Reich. Denn aufgrund der großen Beliebtheit der spektakulären Aufführungen fremder Wandertruppen und des »stetig wachsenden Andrang[s] des Publikums zu derlei Schaustellungen« 71 sei die Stadt, wie Theodor Hampe meinte, mit den vorhandenen Räumlichkeiten bald an die Grenze der verfügbaren Plätze gestoßen. Dies sei für den Rat »ein Hauptanlaß« 72 gewesen, sich zum Bau eines eigenen, geräumigeren Spiel-
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Ebd. vom 6. August 1605, fol. 33r. Der Begriff >Komödie< (bzw. >ComödieComödie< sowohl auf Tragödien als auch Lustspiele beziehen. Darüber hinaus wurden Theatergebäude allgemein als »Komödienhaus« bzw. Schauspieler als »Komödianten« bezeichnet, und noch um 1700 verwendete man etwa »musicalische Comödie« als Ausdruck für Opern (vgl. die Belege in Teil B, Kap. 5.4.). Hampe: Theaterwesen, S. 111. Ebd.
41 hauses zu entschließen. Zudem seien finanzielle Erwägungen hinsichtlich der zu erwartenden Einnahmen von Bedeutung gewesen.73 Nun zeigen tatsächlich einige zeitgenössische Kupferstiche in anschaulicher Weise überfüllte Spiellokale, bei denen die Zuschauer sogar von den Dächern und Schornsteinen die Aufführungen verfolgten (siehe Abbildung Nr. 1). Dennoch scheint der Hinweis auf den Platzmangel nicht ganz hinlänglich dafür zu sein, die erstaunliche Entscheidung des Rats zu erklären, mitten im Dreißigjährigem Krieg ein eigenes Gebäude für Theateraufführungen und andere Lustbarkeiten zu errichten - zu einer Zeit also, in der Nürnberg nicht nur mit stockendem Handel und Verkehr sowie einer prekären Versorgungslage zu kämpfen hatte, sondern allein bis 1630 über 1.200.000 fl. zur Unterstützung der kaiserlichen Armee zu zahlen hatte und zudem mehr als 100 Truppendurchzüge verkraften mußte, die vor allem im Nürnberger Landgebiet große Schäden anrichteten.74 Zur besseren Beurteilung der Entstehung des Fechthauses und seiner Bedeutung ist jedoch zunächst eine Übersicht über die vor 1628 vorhandenen Spielorte und deren bühnentechnische Voraussetzungen von Nutzen. Spielorte und Bühnen In der Reichsstadt gab es um 1625 für Theateraufführungen mehrere unterschiedliche Spielorte, die allerdings allesamt nicht in erster Linie und ausschließlich für derartige Zwecke gedacht waren und genutzt wurden. Hierzu zählen zunächst einige geistliche Gebäude, die im Zuge der Reformation säkularisiert worden und deren Güter dem Rat zugefallen waren.75 So nutzte man für weltliche Zwecke auch die Marthakirche, die vor allem den Meistersingern für ihre Singschule und Schauspiele bis 1614 zur Verfügung gestellt wurde.76 Ähnlich waren wohl die Verhältnisse im Egidien- und Klarakloster, in denen ebenfalls um 1600 vereinzelt Aufführungen stattfanden.77 73
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In diesem Sinne v. a. Schultheiß: Vom Stadttheater zum Opernhaus, S. 34. Die Verfasser sprechen an gleicher Stelle noch vage von »kulturelle[n] und soziale[n] Überlegungen«, ohne diese jedoch weiter zu bestimmen. Vgl. Rudolf Endres: Politische Haltung bis zum Eintritt Gustav Adolfs in den Dreißigjährigen Krieg. In: Pfeiffer (Hg.): Nürnberg, S. 272; Helmut Weigel: Franken im Dreißigjährigen Krieg. Versuch einer Überschau von Nürnberg aus. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 5 (1932), S. 1 5 - 5 0 u. 1 9 3 - 2 1 8 , sowie Stefan Donaubauer: Nürnberg in der Mitte des Dreißigjährigen Krieges. In: MVGN 10 (1893), S. 6 9 - 2 4 0 , bes. S. 76. Vgl. Gerhard Pfeiffer: Entscheidung zur Reformation. In: ders. (Hg.): Nürnberg, S. 153. Vgl. Christian Conrad Nopitsch: Wegweiser für Fremde in Nürnberg, oder topographische Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg nach ihren Plätzen, Märkten, Gassen, Gäßchen, Höfen, geist- und weltlichen öffentlichen Gebäuden. Neustadt a . d . A . 1992 (Ndr. der Ausgabe Nürnberg 1801), S. 106. Vgl. StaatsAN, RV Nr. 1897 vom 8. Juni 1614, fol. 32 r .
42 Während von den letztgenannten sich später kaum mehr Nachrichten über öffentliche Schauspiele finden, gewinnt dafür im Laufe des 17. Jahrhunderts der große Saal eines anderen ehemaligen Klosters als Ort für Theaterdarbietungen erheblich an Bedeutung. Im April 1600 ist erstmals in den Ratsverlässen von einer Bühne im Augustinerkloster die Rede. Sie wurde dort speziell für die angekommenen Truppen der Englischen Komödianten errichtet. Der Zusatz, »wie zuvor auch gesehen«, 78 läßt vermuten, daß an gleicher Stelle bereits früher schon gespielt wurde. Doch erst später, seit etwa Mitte der 1640er Jahre, scheint das Augustinerkloster vermehrt für Theateraufführungen benutzt worden zu sein. Auffällig dabei ist, daß in den Quellen diese Darbietungen fast immer im Zusammenhang mit schuldramatischen Aufführungen stehen. So weist der Rat 1645 im Zusammenhang mit der Erörterung von Fragen zum Schultheater den Präzeptoren des Egidiengymnasiums ausdrücklich den großen Saal im Augustinerkloster hierfür als Spielstätte zu, während er auf der anderen Seite etwa im Oktober 1652 einer Truppe Englischer Komödianten die Nutzung dieses Spiellokals verwehrt und sie ins Fechthaus verweist. 79 Es scheint demnach, daß dieser Saal bis zum Bau des Nachtkomödienhauses 1668 weitgehend den Theateraufführungen der Schule vorbehalten war (siehe Teil B, Kap. 2.1.2.). Über die dortigen bühnentechnischen Gegebenheiten informiert ein bislang nicht ausgewerteter handschriftlicher Bericht. Er stammt aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertmitte und liefert ein umfängliches Verzeichnis / Der Jenigen Sachen, so zu dem Theatro gehörig und in einem absonderlichen Gemach oder Cammer am grossen Saal des Augustiner Closters, verwahrt liegen.80 Aus diesem Verzeichnis geht hervor, daß für die Aufführungen im großen Saal ein eigenes Bühnengerüst aus Holz zur Verfügung stand, 81 das zwei Aufgänge und eine Oberbühne besaß sowie in eine Vorder- und Hinterbühne unterteilt gewesen sein muß, da die Bühne laut Verzeichnis mit »mitlern fürhängen« ausgestattet war. Ebenso waren etliche Dekorationen für illusionistische Effekte vorhanden: So gab es beispielsweise mehrere bemalte, an Seilen aufgehängte Teppiche mit unterschiedlichsten Motiven: »ein palatium«, »ein Landschafft«, »ein Closter«, »ein Gartten«, »ein Schiffarth«, »ein Kirch« oder »ein stückh Teppich an die Seilen, anstadt eines alten 78 79 80
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Ebd., RV Nr. 1710 vom 12. April 1600, fol. 37r. Vgl. ebd., RV Nr. 2404 vom 7. Oktober 1652, fol. l v . Stadt AN, Rep. Β 5/II: Kirchenamt, Nr. 13/1: Verzeichnis / Der Jenigen Sachen, so zu dem Theatro gehörig und in einem absonderlichen Gemach oder Cammer am grossen Saal des Augustiner Closters verwahrt liegen, Wie auch der Kleidungen umbhäng und andres in einem besonderen behalter, so in gemelten Gemach stehet, beschrieben den 16. Juny 1658. und in gemeltes Gemach gelegt. Aus dem Bericht geht hervor, daß dieses Verzeichnis nach einer zuvor am 8. und 9. Juni erfolgten Aufführung gleichsam als eine Art Revisionsbericht angelegt wurde. »Erstlich das Theatrum von holtzwerck an sich selbsten, alß die huelttzene böckh, bretter, latten und zwo stiegen« (ebd., fol. Γ)·
43 baums«. Hinzu kamen noch ein »Papierener Himmel« sowie »zwölf stückh auf tuch gemaltes Gewülckh«.82 Mit diesem vorhandenen Vorrat an unterschiedlichen Dekorationen ließ sich mehr oder minder fast die gesamte Palette des barocken Bühnenbildes wiedergeben. Denn diese Motive entsprechen weitgehend den Anforderungen an die zeitgenössische Theaterdekoration, die Harald Zielske als eine Typendekoration beschrieben hat, die »durch einen im Umfang begrenzten Schatz von Raummotiven«83 bestimmt war. Beachtlich ist zudem, daß der große Saal verschiedene Arten von Lichtquellen besessen haben muß, da im Verzeichnis die Rede ist von »zwo blechene Latern«, »dreyzehen blechene Wandtlatern« und »acht und vierzig grose und kleine erdene Lampen buegelein«.84 An Requisiten listet das Verzeichnis neben »etlichen kleydungen«85 auch »eißene fueßschellen« und »eißene handtschellen, sambt den ketten« auf, sowie einen »drachen köpf, sambt zweyen flügel alles von blech« und »ein grün gemaltes drachen kleydt«.86 Auch wenn diese Ausstattung sicherlich noch nicht um 1600 im großen Saal des Augustinerklosters vorhanden war, ist es wahrscheinlich, daß mit Einsetzen vermehrter Schulaufführungen spätestens seit Anfang der 1640er Jahre der Raum mehr und mehr für Theaterzwecke ausgestaltet wurde. Mit dem Augustinerkloster besaß die Reichsstadt jedenfalls eine überdachte Spielstätte, die schon vor dem Bau des Nachtkomödienhauses im Winter 1667/68 (siehe Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 3) neben einer beachtlichen Theatermaschinerie und -dekoration auch geräumigen Platz für die Zuschauer zu bieten hatte. Gespielt wurde in Nürnberg darüber hinaus in Wirtsstuben und in den Innenhöfen einzelner Gasthöfe, über die etwa der Goldene Stern (Sternhof) oder der sogenannte Heilsbronner Hof verfügten. Letzterer war ein großer Gebäudekomplex, der in nördlicher Richtung unterhalb der Kirche zu St. Lorenz lag (siehe Abbildung Nr. 7) und 1578 nach der Auflösung des Klosters Heilsbronn in den Besitz des Markgrafen von Ansbach übergegangen war.87 Er entwickelte sich seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts zu einem beliebten Ort für künstlerische und artistische Darbietungen aller Art: 82 83
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Alle Zitate ebd., fol. l r " v . Harald Zielske: Handlungsort und Bühnenbild im 17. Jahrhundert. Untersuchungen zur Raumdarstellung im europäischen Barocktheater. München 1965, bes. S. 2 8 - 3 4 , hier S. 29. Zu den typischen Motiven der Theaterdekoration gehören nach Zielske insbesondere: Innenräume, Architekturen ohne Innenraumcharakter, Gärten und Gartenschlösser, Stadtbilder, Dörfer und ländliche Gegenden, Wald, Ruinen und Höhlen, Zeltlager und Belagerungen, Meer und Schiffe. Verzeichnis / Der Jenigen Sachen, so zu dem Theatro gehörig, fol. 2 r _ v . Ebd., fol. l r . Ebd., fol. 2 r _ v . Vgl. Kurt Müller: Der Heilsbronner Hof zu Nürnberg. Wandlungen in der Nutzung eines ehemaligen Besitztumes des Zisterzienserklosters Heilsbronn und die Schicksale seiner Bewohner im Laufe von über sechs Jahrhunderten. Nürnberg (ms.) 1986, bes. S. 164ff.
44 darunter Fechtschulen, Tierhatzen oder akrobatische Vorführungen von Seiltänzern und Springern (siehe Abbildung Nr. 1). Wie die Berichte über die begeistert aufgenommenen Auftritte der englischen Wandertruppen aus der eingangs zitierten Chronik zeigen, hatte sich der Heilsbronner Hof offensichtlich schon bald nach 1600 als die vorzugsweise genutzte Spielstätte für die Auftritte der Wanderbühnen und Komödianten in der Reichsstadt etabliert. Dabei war von Vorteil, daß »hier durch den großen Hofraum mit den vorhandenen Galerien der angrenzenden Gebäude eine äußerst günstige Sichtmöglichkeit für die Zuschauer gegeben war.«88 Gespielt wurde unter freiem Himmel auf einem »primitiven Podium mit einem rückseitigen, geteilten Vorhang, aus dem die Schauspieler auftraten«. 89 Die Obrigkeit der Reichsstadt stand dem Treiben im Heilsbronner Hof jedoch durchaus kritisch gegenüber, schließlich besaß sie über ihn nicht die volle Verfügungsgewalt. Denn der Hof war »sehr zum Leidwesen des Nürnberger Rates« 90 ein Besitztum des Markgrafen von Ansbach, der mit dem ansässigen Wirt gleichzeitig einen markgräflichen Beamten vor Ort besaß. Gleich in der Nähe des Heilsbronner Hofes, hinter der Kirche zu St. Lorenz, befand sich der sogenannte Marstall, »ein weitläufiges Gebäude, welches sich am Kathrinengraben bis fast hinunter an die Pegnitz erstrecket«. 91 Der Komplex beherbergte mehrere Einrichtungen, darunter neben den städtischen Pferdestallungen und der Wohnung des Stallmeisters auch die Proviantbäckerei und das Reithaus mit einer Reitbahn und einem darüber gelegenen Fechtboden. Letzterer war gemeint, wenn in den Ratsverlässen von genehmigten öffentlichen Schauspielen im Marstall die Rede ist.92 Über die genauen Bühnenverhältnisse des Fechtbodens im Marstall ist allerdings weiter nichts bekannt. Neben den öffentlichen Spielstätten dienten oftmals größere private Anwesen als Orte für Theateraufführungen. Hier ist etwa zu denken an Freilichtbühnen in Gärten oder vor allem an die geräumigen Säle in den Häusern von Patriziern und vermögenden Kaufleuten. 93 Der Aufwand und die Häufigkeit solcher privater Veranstaltungen sind schwer einzuschätzen, zumindest letztere dürfte aber nicht gering gewesen sein. Denn von etlichen der überlieferten Fälle haben sich nur deshalb Nachrichten von den jeweiligen Aufführungen erhalten, da sie dem Rat erst im nachhinein ruchbar wurden und mit seinem Wissen offenbar nicht hätten stattfinden dürfen. 88 89 90 91 92
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Ebd., S. 166. Ebd., S. 202. Ebd., S. 164. Nopitsch: Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg, S. 105. Vgl. Neuverbesserter Nürnbergischer Staats-Calender auf das Jahr 1799 [...] Worinnen eine vollständige Genealogie aller jetztlebenden hohen Potentaten [...] und die Fortsetzung der vornehmsten Merkwürdigkeiten der Stadt Nürnberg enthalten ist. Nürnberg 1799, fol. F 3, Sp. 2. Siehe hierzu Teil B, Kap. 5.1. u. 5.3., Beispiel 1.
45 Die Entstehung des Fechthauses Der Blick auf die um 1625 vorhandenen Spielstätten macht deutlich, daß in der Reichsstadt eine nicht unbeträchtliche Anzahl an (zum Teil allerdings sehr unterschiedlichen) Räumlichkeiten für Theateraufführungen vorhanden war, darunter mit dem Heilsbronner Hof sogar ein äußerst großes Areal. Räumliche Engpässe scheinen deshalb nicht zwingend hinlänglich zu sein als Ursache für die Errichtung des sogenannten Fecht- und Tagkomödienhauses im Jahre 1627/28, immerhin der »erste städtische Theaterbau auf deutschem Boden«,94 der eine einschneidende Zäsur für die Theaterverhältnisse in der Reichsstadt bedeutete. Denn entgegen den anderen, bisher erwähnten Spielstätten stellte das Fechthaus keinen in ein anderes Gebäude integrierten Raum dar, der nur vorübergehend für öffentliche Darbietungen genutzt wurde, sondern bildete einen eigenständigen Bau, der allein zu dem Zweck öffentlicher Schaustellungen, also für Fechtschulen, Akrobatikkünstler, Tierhetzen und Theateraufführungen, errichtet wurde und vollkommen in der Regie des Rats lag - und dies zu einer Zeit, als Nürnberg und sein Territorium bereits merklich unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges zu leiden hatten (siehe oben). Ernste Gefahr drohte auch im Frühjahr 1627, als sich die militärische Lage in Franken wieder verschärfte.95 Seit dem März 1627 war das Gebiet der Reichsstadt dem Markgrafen Johann Georg von Brandenburg und dem Herzog Julius Friedrich von Sachsen-Lauenburg als Musterplatz zugefallen. Die Lage spitzte sich dadurch derart zu, daß der Rat nicht mehr vermochte, »die Landbevölkerung an Leben und Gut zu schützen«.96 Erst Ende Juni entspannte sich die Situation etwas, als die Truppen aufgrund erfolgreicher Verhandlungen aus dem Nürnberger Territorium wieder abzogen. An Theater und öffentliche Aufführungen war offenbar nicht zu denken. So scheint es zumindest, da die im Hochsommer ankommenden Englischen Komödianten des Kurfürsten von Sachsen mit ihren Gesuchen »wegen jetziger beschwerlichen leuft und großer armut der burgerschaft«97 mehrfach abgewiesen wurden. Trotzdem muß der Rat zur gleichen Zeit an den Plänen zum Bau eines Schauspielhauses gearbeitet haben. Denn am 14. August beschloß man diesbezüglich ein modell von holz in zimblicher gröse verfertign zu lassen, damit man alles wol und deutlich sehen und alle fehler um so viel mehr verhüten und alsdann ferner dieses paues halben rätig werden könne. 98
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Rudin: Hans Mühlgraf, S. 25. Vgl. Weigel: Franken im Dreißigjährigen Krieg, S. 18. Ebd., S. 19. StaatsAN, RV Nr. 2072 vom 30. Juli 1627, fol. 33v. Ebd. vom 14. August 1627, fol. 93v.
46 Nur einen Monat später gelangte man dann bereits über das Stadium der Beratungen hinaus und beschloß anhand des vorgelegten und gebilligten Modells die Erbauung eines öffentlichen Theaters auf der Insel Schütt: auf den fürgelegten abriß und gefertigtes modell, welcher massen das vorhabende geben zu einem theatro zu den fechtschulen, comedien und andern spielen zu fertigen, ist befohlen, dasselbige nunmehr dem model gemeß in das werk zu richten und, wan sichs schicken will, an der leng noch acht oder zehen schuh zuzugeben."
Der Beschluß wurde rasch umgesetzt, bereits am 1. Oktober 1627 begannen die Arbeiten an dem neuen Bau. 100 Acht Monate später war das Fechthaus schließlich fertiggestellt worden (siehe Abbildung Nr. 2). Man hatte es quadratisch an das Wildbad angebaut und mit einem geräumigen, nach oben hin offenen Hofraum angelegt, der von einem vierseitigen, steinernen Unterbau umgeben war, über den sich mehrere Galerien erhoben (siehe unten). Der Unterbau beherbergte vergitterte Zellen zur Unterbringung für die bei den damals beliebten Hetzen von Ochsen und Bären verwendeten Tiere. Spätere Kupferstiche zeigen an der Eingangsseite des Unterbaus zwei lebensgroße Abbildungen von Elefanten, die mit den Jahreszahlen 1629 und 1652 versehen waren (siehe Abbildung Nr. 4). Die Außenfassade des Theaters war keineswegs »einfach und prunklos«, 101 sondern muß schon von weitem aus sichtbar in den Stadtfarben geleuchtet haben und war außerdem über ihrem Eingang mit dem Reichsadler geschmückt. Denn Ende März 1628, als sich die Abschlußarbeiten am Fechthaus dem Ende zuneigten, hatte der Rat den Baumeister noch beauftragt, »dasselbe roth vnd weis anstreichen« sowie »an das thor den ReichsAdler mahlen« 102 zu lassen. Über dem Eingangstor waren zudem allegorische Darstellungen der Tierhetzen, der Fecht- und Schauspielkunst abgebildet sowie eine lateinische Inschrift angebracht worden, die dem Fechthaus seine offizielle Bestimmung zuwies: GYMNASTICA MARTIS ET ARTIS IMPERANTE FERDINANDO II, SEMP[ER] AVG[USTO] GER[MANIAE] HVNG[ARIAE] BOEM[IAE] REGE ETC. LVDIS GYMNICIS, ALIISQ[UE] PVBLICE FACIENDIS UT ESSENT VIRTVTI JNCJTAMENTO, VITIIS TERROCVLAMENTO, CIVIBVS OBLECTAMENTO, S[ENATUS] P[OPULUS] Q[UE] NORIMBERGENSIS HAS AEDES F[ACIENDAS] F[ECIT] 1628. 103 99 100 101 102 103
Ebd., RV Nr. 2074 vom 17. September 1627, fol. 15v. Vgl. StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 48 (II), S. 346. Hampe: Theaterwesen, S. 115. StaatsAN, RV Nr. 2080 vom 26. März 1628, fol. 117v (fehlt bei Hampe). Ebd., Rep. 52a: Nürnberger Handschriften, Nr. 316: Sammlung von Inschriften bei St. Sebald und St. Lorenz, fol. 208v. Bei Siebenkees: Materialien, Bd. 3, S. 268, fin-
47 Als Bühne bei Schauspielen diente ein Holzgerüst, das jeweils im Hof für die unter freiem Himmel stattfindenden Aufführungen aufgebaut werden mußte und zunächst noch weitgehend der Bühnenform der Englischen Komödianten entsprochen haben dürfte. Im Lauf des 17. Jahrhunderts wird man diese Spielfläche unter anderem noch durch Kulissen, Prospekte und andere Dekorationen ergänzt haben. Wie eine derartige Bühnenkonstruktion in etwa aussah, veranschaulicht die Darstellung eines kolorierten Kupferstiches aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert, die eine Theateraufführung einer Wanderbühne im Hof des Fechthauses zeigt, wobei diese Bühnengestaltung mit ihrem perspektivisch ausgerichteten Kulissensystem seit ca. der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Gebrauch gewesen sein dürfte (siehe Abbildung Nr. 3). Wie bereits die Inschrift zeigt, diente das Fecht- und Tagkomödienhaus als eine Art multifunktionaler Bau zudem allerlei anderen Vergnügungen, darunter Ochsen- und Bärenhatzen, zirzensischen Spektakeln von Akrobatikkünstlern und Seiltänzern (siehe Abbildung Nr. 4), Pferdeturnieren sowie dem Schaufechten der Fechtschulen. 104 Der Neubau dürfte aber auch gesellschaftliche Funktionen erfüllt haben und dem allgemeinen Repräsentationsbedürfnis entgegengekommen sein, indem das Fechthaus erste, wenn auch nur rudimentäre Formen des Rangtheaters verwirklichte. Denn das >gemeine Volk< fand sich bei den Schauspielvorstellungen vornehmlich im Hof ein und bildete somit gleichsam das Parterre. Darüber erhoben sich auf dem steinernen Unterbau des Fechthauses in drei (auf der Eingangsseite in zwei) Stockwerken die hölzernen Galerien, die überdacht waren, Sitzgelegenheiten boten und jeweils über mehrere voneinander abgetrennte Balkone verfügten (siehe Abbildung Nr. 2 u. 4). Wie aus verschiedenen Ratsverlässen sowie den erhaltenen Akten zum Fechthaus und Kriegsamt hervorgeht, waren die als »Gänglein« oder »Kämmerlein« bezeichneten Balkone von unterschiedlicher Qualität und wurden dementsprechend zusätzlich zum regulären Eintrittsgeld zu verschiedenen Preiskategorien vermietet. Einige davon waren sogar als regelrechte Logen konzipiert und für ganz bestimmte Personenkreise reserviert: so das »Herrengänglein« für die Ratsmitglieder oder das »Gerichtsgänglein« für vornehme und adelige Gäste von auswärts, an das sich die reservierten Räume für die Assessoren am Stadtgericht anschlossen. 105 Die Balkone für die Honoratioren verfügten nicht nur über Sitzgelegenheiten, sondern waren auch bequemer ausgestattet und als regelrechte Repräsentationslogen konzipiert. So hatte man
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det sich eine gedruckte (leicht abweichende) Fassung der Inschrift, dort ist in der vierten Zeile von »Ludis Gymnicis, Scenicis« die Rede. Vgl. dazu mit zahlreichen Abbildungen Heinrich Brem: Erlebnisraum Insel Schütt. Hier standen Wildbad und Fechthaus. In: Nürnberger Altstadtberichte 22 (1997), S. 3 7 - 6 2 , bes. S. 48-54. Vgl. StaatsAN, RV Nr. 3016 vom 23. August 1698, fol. 34v, und RV Nr. 3120 vom 5. Juni 1706, fol. 16r.
48 die »Kämmerlein« sowohl mit verschiedenen Teppichen ausgelegt als auch mit farbigen Tüchern und anderen Verzierungen ausgeschlagen, und zwar unter anderem deshalb, »umb die fremden desto beßer logirn zu können«, wie es in einer erhaltenen Rechnung heißt. 106 Diese besondere Aufmachung der »Kämmerlein« ist um so bedeutsamer, da Anordnung und Ausgestaltung der Sitzplätze im Theater wichtige soziale Indikatoren waren und Auskunft über Rang sowie gesellschaftliche Stellung ihrer Inhaber gaben. 1 0 7 Insgesamt faßte das Theater die beachtliche Zahl von 3.000 Besuchern. D e r Augenzeugenbericht des italienischen Grafen Galeazzo Gualdo Priorato aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts spricht sogar von mehr als 8.000 Menschen, was aber sicherlich nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmt, jedoch auf die Wirkung des Baus verweist, die dieser auf die Zeitgenossen ausgeübt haben muß. 1 0 8 A m 16. Juni 1628 wurde das »Neue Theatrum auf der Schütt alhier zum erstenmahl mit einer Geistlichen Comedy eingeweyhet«, 1 0 9 die der bereits erwähnte Hans Mühlgraf mit seiner Truppe vorstellte. Zur der Aufführung kamen mehr als 2.500 Zuschauer, darunter der Landgraf Wilhelm V. von Hessen-Kassel. 1 1 0 Diese Vorstellung bildete den Auftakt zu einer rund zwei Jahre andauernden, lebhaften Theateraktivität in der Reichsstadt während des Dreißigjährigen Krieges, die allein in der ersten Saison 26, zumeist von Wandertruppen bestrittene Schauspielaufführungen ins Fechthaus brachte, denen insgesamt über 25.000 Zuschauer beiwohnten. 1 1 1 106
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Ebd., Rep. 53: Ämterrechnungen der Reichsstadt Nürnberg, Abt. V: Kriegsamtsrechnungen, Bd. 45 (1701), fol. 4r. Vgl. auch ebd., RV Nr. 3053 vom 20. Juni 1701, fol. 132v. Daß diese bequemeren und repräsentativeren Logen bereits seit der Eröffnung des Theaters vorhanden waren, zeigen die 1643/44 von Handwerkern vorgenommenen Reparaturen am Fechthaus, bei denen auch die »Kämmerlein ausgeschlagen« wurden. Vgl. StaatsAN, Rep. 54 a II: Nürnberger Stadtrechnungsbelege, Nr. 862: Bauwesen (1640-1649), Nr. 1: Instandsetzung des Fechthauses. Vgl. dazu auch die Ausführungen zum Nachtkomödienhaus in Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 3, sowie Andrea Sommer-Mathis: Theatrum und Ceremoniale. Rang- und Sitzordnungen bei theatralischen Veranstaltungen am Wiener Kaiserhof im 17. und 18. Jahrhundert. In: Berns/Rahn (Hg.): Zeremoniell, S. 515. Die Beschreibung ist in Original und Übersetzung sowie mit einer Einführung versehen abgedruckt bei: Elfriede Weiss-Emmerling, Eine italienische Beschreibung Nürnbergs aus der Barockzeit. In: Norica - Beiträge zur Nürnberger Geschichte. Friedrich Bock zu seinem 75. Geburtstag. Hg. v. der Stadtbibliothek Nürnberg. Nürnberg 1961 (VSBN, Bd. 4), S. 101-119, die Nennung des Theaters auf S. 111. StaatsAN, Rep. 44a: Losungsamt Akten, S. I. L. 127, Nr. 16: Rechnungen über Comödien, Fechtschulen und Ochsenhatzen 1628-1631, fol. 29v. Vgl. StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 48 (II), S. 359. Siehe auch Franz Ludwig Freiherr von Soden: Kriegs- und Sittengeschichte der Reichsstadt Nürnberg vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts bis zur Schlacht bei Breitenfeld 7. September 1631. II. Theil von 1620 bis 1628. Erlangen 1861, S. 436f. Diese Zahlen ergeben sich aus den erhaltenen Rechnungen über die Einnahmen im Fechthaus. Anhand des vom Rat festgesetzten Eintrittsgeldes von 6 kr. lassen sich die Zuschauerzahlen damit annähernd errechnen: So wurden bei den Schau-
49 Karitative Geste oder obrigkeitlicher Wille zur Kontrolle? Was waren die Beweggründe für die Entstehung dieses bis dahin einmaligen kommunalen Theaterprojekts im Alten Reich, mit dessen Eröffnung in Nürnberg mitten im Krieg für rund eineinhalb Jahre eine ebenso lebhafte wie kurze Phase des Schauspiels verbunden ist? Zunächst scheint es, daß auf Seiten des Rats in erster Linie finanzielle bzw. karitative Erwägungen im Vordergrund standen - zumindest nach außen hin. Denn der Bau war nach Auskunft des Ratsverlasses vom 27. Dezember 1627 »under dem Namen angefangen worden, das durch dessen Einkommen und gefäll dem Spital in dem Haushalten etwas erleichterung zuwachsen solle«. 112 Doch handelte es sich tatsächlich ausschließlich um »das Projekt einer mildtätigen Stiftung«? 113 Immerhin stellte die versprochene Zuwendung an das Spital eine erstaunlich noble und keineswegs selbstverständliche Haltung dar. Ist es möglich, daß mit dieser wohltätigen und ohne Zweifel werbewirksamen Geste vielleicht Bestrebungen verbunden werden sollten, die der Rat nach außen hin nicht unbedingt in den Vordergrund treten lassen wollte? Die bezeichnende Formulierung »unter dem namen angefangen« deutet dies an, da sie auf einen nur vorgeschützten Vorwand verweist, um einen anderen Grund zu kaschieren. 114 Verfolgt man den weiteren Verlauf der Beratungen über das entstehende Fechthaus, läßt sich erkennen, daß es dabei nicht lediglich um die Errichtung eines neuen Gebäudes für öffentliche Schaustellungen aller Art ging, sondern daß damit zugleich eine Institution geschaffen werden sollte, die vor allem eine bessere soziale Kontrolle über die abgehaltenen Veranstaltungen ermöglichte. Schon der eben zitierte Ratsverlaß zeigt in seinem weiteren Wortlaut, daß man es keinesfalls für selbstverständlich hielt, die Einnahmen dem Spital zu verehren. So scheinen Stimmen laut geworden zu sein, denen es bedenklich fallen wolle, solches haus vnd dessen einkommen dem SpitalAmbt zuzueignen, weilen alberait sehr ungleich davon geredt werden wolle, vnd gleichwol der Spital zu solchem Bau weder grund und boden, noch geld vnd uncosten hergeben, sondern beedes von gemainer Statt herkommen.115
Man entschloß sich deshalb, die Frage der Verwaltung des Gebäudes zunächst einer Kommission zur Beratung zu übertragen. Sie sollte klären, »was bei diesem werk die Notturft sein wolle, sonderlichen, ob solch haus vnd dessen Verwaltung dem Spital zu uberlassen oder in gemainer Stat Zinsmai-
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spielen 1628 rund 2.672 fl. sowie 1629 rund 1.195 fl. eingenommen, was jeweils einer Zuschauerzahl von etwa 26.700 bzw. 11.900 Zuschauern entspricht. Vgl. StaatsAN, Rep. 44a: Losungsamt Akten, S. I. L. 127, Nr. 16, fol. 32f£ StaatsAN, RV Nr. 2077 vom 27. Dezember 1627, fol. 64r. Rudin: Hans Mühlgraf, S. 25. Vgl. DWb 7 (1889), Sp. 337, s.v. >in dem Namen< bzw. >unter jemandes NamenZensur< tatsächlich nur das allgemeine Bedürfnis, die Moral zu wahren und öffentlichen Ärger zu verhindern? Oder müssen obrigkeitliche Reglementierung und Zensur des Theaterwesens möglicherweise als Ausdruck einer bestimmten Herrschaftsausübung gesehen werden, der konkrete Auffassungen darüber zugrunde lagen, wie und in welcher Form Kunst respektive theatrale Kunst zu sein und zu wirken habe, und die zugleich versuchte, diese Auffassungen im öffentlichen Leben durchzusetzen? Die ersten Ausführungen zur Situation des Schauspiels in Nürnberg um 1600 und insbesondere zur Entstehung des Fechthauses legen eine derartige Sicht jedenfalls nahe und lassen an den oben zitierten Aussagen über die vermeintlich nicht vorhandene Kulturpolitik des Rats und die scheinbar fruchtlose Quellenlage erheblich zweifeln (siehe Teil A, Kap. 1). Und die überwiegende Mehrzahl der Ratsverlässe zum Theater in der Reichsstadt zeigt bei genauerer Analyse denn auch ein anderes Bild als das einer nur »willkürlich« agierenden Obrigkeit. Für den hier behandelten Zeitraum liegen allein in dem von Theodor Hampe erstellten und diesbezüglich noch nicht ausgewerteten Quellenapparat zum Theaterwesen weit mehr als 470 Ratsverlässe vor, die nicht nur durch etwa 40 zusätzliche, von Hampe nicht erfaßte Verfügungen, sondern auch durch eine ganze Reihe weiterer wichtiger Quellen ergänzt werden können. 22 Anhand dieser breiten Materialbasis lassen sich durchaus bestimmte Tendenzen erkennen, die für den Rat bei der Entscheidung über Gesuche um Schauspielaufführungen von Bedeutung waren. Diese Quellen zeigen den Rat nicht nur als eine regulierend und zensierend eingreifende Ordnungsmacht, die mittels eines vielschichtigen Systems obrigkeitlicher Zensur- und Kontrollmechanismen bestimmte ästhetische Normen und Geschmacksvorstellungen durchzusetzen versuchte und damit gleichsam eine Kulturpolitik ex negativo betrieb, sondern zudem als Mäzen und Förderer von Theateraktivitäten, der sowohl qualitative Maßstäbe bei der Beurteilung der Gesuche anwandte als auch sich der Funktion des Schau-
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genannten Aufsatz von Jons, der weder Theateraufführungen berücksichtigte noch seiner Studie eine ausreichende Quellenbasis zugrunde legte, die ein derartiges Urteil rechtfertigen würde. Siehe hierzu die Hinweise in der Einführung dieser Arbeit.
65 spiels und Theaters als herrschaftsstabilisierendes wie -legitimierendes Instrument mit hohem kommunikativen Potential bewußt war und dieses im Sinne einer reichsstädtischen Repräsentationskunst als wirksames Element innerhalb der Urbanen Festkultur gezielt einzusetzen verstand. Diese These soll im folgenden näher ausgeführt und nicht zuletzt in Teil Β dieser Arbeit anhand eines paradigmatischen Aufrisses der theatralen Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts durch eine Reihe konkreter Beispiele belegt werden. 23 Hoheitsanspruch Als grundlegende Tendenz ist zunächst zu beobachten, daß der Rat seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert und verstärkt im Laufe des folgenden Jahrhunderts mit Nachdruck bestrebt war, die Entscheidungsbefugnis und Aufsichtshoheit über das Theaterwesen in der Stadt nicht nur für sich allein zu reklamieren, sondern - wenn nötig - auch mit entsprechender Gewalt durchzusetzen. Dabei läßt sich allgemein festhalten, daß der Bereich des Theaterwesens seit jeher im besonderen Maße staatlicher Kontrolle unterworfen war.24 Dies ist zum einen bedingt durch die gesellschaftliche Rolle des Theaters und die Öffentlichkeit der Aufführungen, die sich in dem hier behandelten Zeitraum viel stärker als heute an ein Massenpublikum richteten und dabei zugleich die Funktion eines Massenmediums erfüllten,25 das die gesteigerte Aufmerksamkeit der Obrigkeit schon deshalb auf sich zog. Denn während der Frühen Neuzeit war man angesichts des weit verbreiteten Analphabetentums unter den Bürgern und Einwohnern insbesondere bemüht, alle öffentlichen mündlichen Äußerungen zu überwachen.26 Die enorme Anziehungskraft des Theaters ergab sich aber auch durch seine sichtbare und auffallende Präsenz im öffentlichen Leben, deren Bedeutung vor dem Hintergrund gesehen werden muß, daß die Welt der Menschen im 17. Jahrhundert noch eine vergleichsweise »bilderarme Welt«27 darstellte. Darüber hinaus bot das Theater nicht nur einen schwer zu regulierenden Freiraum für Improvisationen, sondern es besaß auch aufgrund der szenisch, 23
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Dieses Kapitel muß im Zusammenhang mit den einzelnen Paradigmen in Teil Β gesehen werden, in denen die hier notwendigerweise nur angerissenen Punkte weiter ausgeführt und anhand historischen Quellenmaterials im einzelnen noch ausführlicher dargelegt werden. Vgl. Pfister: Drama, S. 54f., sowie Klaus Kanzog: Zensur, literarische. In: 2 R L 4 (1984), S. 999-1049, bes. S. 1015-1018. Vgl. auch das Resümee bei Erich Kleinschmidt: Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen und Entfaltung im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum. Köln, Wien 1982 (Literatur und Leben Ν. E, Bd. 22), S. 197: »Unter allen literarischen Medien der Frühen Neuzeit erreichte das Schauspiel zweifellos breiteste Publikumsschichten«. Vgl. Kanzog: Zensur, S. 1004, der betont hat: »Der Grad der Öffentlichkeit eines Werkes bzw. einer Darbietung bestimmt den Grad der jeweiligen Überwachung.« Roeck: Lebenswelt und Kultur, S. 20.
66 mittels gesprochenen Wortes und körperlichen Spiels vorgetragenen Darbietungsart gegenüber dem >nur< gedruckten Buchstaben einen in erheblichem Umfang gesteigerten »Affektwert«,28 weshalb das Theater seit der Antike und den Kirchenvätern im Ruf einer die Sitten gefährdenden und die Leidenschaften anstachelnden Anstalt stand.29 Dabei kam in der Zeit um 1600 noch verstärkend hinzu, daß mit dem Eintreffen der professionellen Wandertruppen aus England, wie gezeigt, eine neue Theaterform in Deutschland heimisch wurde, die gerade durch die Betonung von Mimik, Gestik, Musik, Tanz sowie szenische Effekte auf die Darstellung der Affekte setzte und zudem mit dem Spaßmacher eine Figur einführte, deren Spiel sowohl von Improvisation geprägt war als auch gerade die Triebhaftigkeit des Menschen und seine materiell-körperlichen Bereiche vorführte (siehe unten). Gerade diese Tendenzen mußten jedoch die absolutistischen Obrigkeiten auf den Plan rufen, denen seit dem 16. Jahrhundert im Zuge der Ausbildung des frühmodernen Staates und verstärkt durch die Konfessionalisierung die (ursprünglich von den Kirchen wahrgenommene) Aufgabe zugefallen war, neben der Erziehung der Untertanen auch für die Aufrechterhaltung der Sittlichkeit und öffentlichen Moral zu sorgen.30 Man betrachtete den Lebenswandel der Bürger nicht als Privatsache, sondern schrieb ihm öffentliche Qualität zu und erachtete ihn als relevant für das allgemeine Wohl der Gemeinde.31 In dem selben Maße, wie der Ausbau der Verwaltung und die Kontrolle aller Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens betrieben wurde, versuchten die Obrigkeiten von daher nicht minder mittels Polizeiordnungen, »das sittliche Verhalten zu kontrollieren bzw. strengen christlichen Normen zu unterwerfen«.32 In den Vorstellungen der Zeitgenossen nahm die Higendlehre eine überragende Stellung ein und fungierte als verbindliche gesellschaftliche Norm, soziales Regulativ sowie ethische Richtschnur allen menschlichen Handelns.33 Im Fall von Nürnberg wird die öffentliche Präsenz und sichtbare Bedeutung der von den Obrigkeiten ebenso verkündeten wie kontrollierten 28 29 30
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Kanzog: Zensur, S. 1017. Siehe hierzu ausführlich Teil A, Kap. 4. Vgl. die prägnanten Ausführungen bei van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 2, bes. S. 235-240, sowie Paul Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit. Berlin 1998 (Neuausgabe der Originalausgabe Frankfurt a.M. 1992) (Ullstein-Buch, Nr. 26520), S. 250-259. Vgl. Isenmann: Stadt, S. 154ff. van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 2, S. 237. Nach Münch: Lebensformen, S. 250, ging es dabei um eine »alle Bevölkerungsschichten umfassende Christianisierung der Gesellschaft«. Siehe hierzu ausführlich Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die >Sonnete< des Andreas Gryphius. München 1976, S. 225 -290, der betont hat: »Nichts scheint im Bewußtsein der Zeitgenossen eine größere Rolle gespielt zu haben als das Bedürfnis, ethische Forderungen zu erfüllen, und die Angst, vor der Tugendnorm zu versagen« (ebd., S. 278).
67 Tligendlehre anschaulich in dem (heute noch existierenden) Tugendbrunnen, der neben der Gerechtigkeit in allegorischer Darstellung die lügenden der Liebe, Hoffnung, Tapferkeit, Mäßigkeit, Geduld und des Glaubens präsentiert. Ihn hatte der Rat 1589 nahe des Hauptportals der Lorenzkirche, dessen Gestaltung an das Jüngste Gericht gemahnte, errichten lassen, damit sich die Bürgerschaft an dem aus den Brüsten der Allegorien hervorsprudelnden Wasser stärke und so zu einem sittlichen Lebenswandel angehalten würde.34 Dieses Beispiel macht deutlich, daß die Tligendlehre kein bloßes Abstraktum darstellte, sondern mit ihr stets auch »einschneidende soziale Disziplinierungsziele verbunden« 35 waren. Von Seiten der als »moralischer Überwachungsstaat«36 auftretenden Obrigkeiten erhielt die Tugendlehre schon bald klare Funktionszuweisungen, indem sie zur Sicherung und Stärkung der Macht und bestehenden Ordnung beitragen sollte.37 Zentrale Begriffe in den zeitgenössischen Staatstheorien und politisch-didaktischen Schriften waren Affektkontrolle, Enthaltsamkeit und Mäßigung, die als ideale Verhaltensweisen propagiert wurden, wie etwa in den Werken von Justus Lipsius, Christophorus Besoldus oder Adam Contzen.38 Und Contzen war es, der hervorhob, »daß die Kontrolle der öffentlichen Moral für Festigkeit und Bestand einer Staatsordnung von entscheidender Bedeutung ist«.39 Kontrolle und Reglementierung des Theaterwesens Vor dem Hintergrund dieser (hier notgedrungen nur schlaglichtartig skizzierten) Tendenzen muß das seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert deutlich erkennbare Bestreben des als Obrigkeit auftretenden Nürnberger Rats gesehen werden, mit dem Theaterwesen einen weiteren, bedeutenden Bereich des öffentlichen Lebens soweit wie möglich und bis ins Detail hinein zu reglementieren und kontrollieren sowie für eigene Zwecke zu instrumentalisieren: So beginnt der Rat seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert nicht nur Spielort und -zeit sowie die Anzahl der jeweiligen Aufführungen zu bestimmen, sondern er greift seit dem Auftreten englischer Wandertruppen auch regulierend bei der Erhebung der Eintrittsgelder ein. Zunächst werden die 34
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Vgl. Peter Fleischmann: Nürnberg mit Fürth und Erlangen. Von der Reichsstadt zur fränkischen Metropole. Köln 1997 (Dumont Kunst-Reiseführer), S. 148f. Münch: Lebensformen, S. 250. van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 2, S. 281. Vgl. Mauser: Dichtung, S. 264f. Vgl. hierzu Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der deutschen Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3), bes. S. 319-329, sowie den Abschnitt »Zensur in der absolutistischen Staatslehre: Contzen« bei Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982 (UTB 1208), S. 47-53. Breuer: Zensur in Deutschland, S. 51.
68 Gesellschaften ermahnt, »das sie ein leidenliches von den leuten nemen sollen«. 40 Dann geht der Rat dazu über, die genaue Höhe des Eintritts festzulegen und beträchtliche Abgaben einzubehalten. Schließlich übernimmt er 1628 mit dem Bau eines eigenen Theatergebäudes die Verwaltung und Überwachung der Vorstellungen weitgehend in eigener Regie, wodurch er nun in die Lage versetzt war, die Aufführungen von der Genehmigungspflicht und Vorzensur über das Einsammeln der Eintrittsgelder bis hin zur Überwachung der Vorstellungen durch angestelltes Aufsichtspersonal in einem bislang nicht gekannten Ausmaße zu kontrollieren - und dies geschah, wie gezeigt, neben ökonomischen Motiven in erheblichem Maße aus einem bewußten Willen zur Sozialkontrolle sowie als Reaktion auf das seit dem Eintreffen der Englischen Komödianten sowohl quantitativ als auch qualitativ wesentlich veränderte Theaterwesen in der Reichsstadt. Besonders strikt waren die Stadtherren darauf bedacht, daß es zu keinen unerlaubten Aufführungen kam. Dies zeigt sich besonders im Vorgehen bei bekannt gewordenen Verstößen gegen zuvor ausgesprochene Ablehnungen oder bei nicht angemeldeten Aufführungen. In solchen Fällen beließ man es keineswegs bei generellen Verweisen, sondern ordnete eine penible Aufklärung der Umstände an: Man holte genaue Erkundigungen über Ort und Ablauf des Geschehens ein, ließ die beteiligten Personen vorführen und sich von ihnen eine Auflistung der Einnahmen erstellen. So etwa im Spätsommer 1666, als der Rat Kenntnis davon erhielt, daß im Sternhof bei einer Hochzeit unerlaubt Schauspiele aufgeführt worden seien. Daraufhin ordnete er an, die Mitwirkenden eingehend zu verhören, warumb sie dergleichen Spiel eigenmächtiger weise angestellet, wie viel Geld sie empfangen und wo Sie dasselbe verwendet; neben deme Georg Henig, wirt zum Radbrunnen, wie auch den hochzeitlader Köhler, aus was Ursachen sie darzu geholfen, zu hören, wenigere nicht Hans Burckharden, hofmeister zum heiligen creutz, zu vernehmen, warumb Er dergleichen Gäste gesetzt und wie Er dieselbe mit den Speisen tractiret, auch was Er an Geld bekommen [.. .].41
Der obrigkeitliche Wille zur Durchsetzung einer alleinigen Aufsichtshoheit über das Theaterwesen macht sich auch darin bemerkbar, daß der Rat versuchte, öffentlich ausgetragene Diskussionen über das Schauspiel, wie sie durch die Geistlichkeit im 17. Jahrhundert immer wieder angefacht wurden, rigoros zu unterbinden. Als es im Sommer 1605 zur handgreiflichen Auseinandersetzung zweier Lehrer der Lateinschulen von St. Egidien und St. Sebald um ihre miteinander konkurrierenden Schulaufführungen gekommen war, meldete sich der Prediger von St. Egidien zu Wort, indem er das Schau40 41
StaatsAN, RV Nr. 1661 zum 5. Juli 1596, fol. 49v. StaatsAN, RV Nr. 2590 zum 19. September 1666, fol. 50r"v. Die genauen Fragen des Rats zu den Einnahmen machen zudem deutlich, daß es bei der Durchsetzung der Aufsichtshoheit über das Theaterwesen auch um die Verhinderung finanzieller Einbußen bei den Abgabeleistungen ging.
69 spiel rundweg von der Kanzel herab verurteilte. 42 Die auf diese Vorgänge erfolgte strenge Zurechtweisung des Rats bezog sich keineswegs nur auf den Streit der Lehrer, sondern rügte auch den Prediger in scharfem Ton: es hab ime nit gepurt, solch ding alsbalden auf die canzel zu bringen, sonder, wann er etwas ergerlichs gesehen oder erfahren, soll er solchs dem herrn kirchenpfleger oder den almosherren angezeigt und nit alsbald auf der canzel vor der gemain geschrihen haben.43
Ähnlich reagierte man, wie gezeigt, 1628/29 und zu Beginn der 1640er Jahre auf die damals massiv einsetzende Kritik führender Geistlicher, die sich heftig gegen die Fechtschulen und Schauspiele ereiferten und unter der Führung des Predigers Johann Saubert d. Ä. mehrere Gesuche an den Rat richteten. 44 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts formierte sich in Nürnberg erneut bei Teilen der Geistlichkeit eine Kritik gegen die Schauspiel- und Opernaufführungen, die möglicherweise im Zusammenhang mit den um 1700 in der Stadt nachweisbaren pietistischen Strömungen steht. Doch wie schon mehrfach zuvor, wies der Rat zumindest anfänglich die Geistlichen in ihre Schranken. 45 Auch wenn der Rat sich wohl nicht völlig diesen in der Stadt aufkommenden Stimmungen entziehen konnte und etwa angesichts drohender Kriegsgefahr öffentliche Schaustellungen einstellen lassen mußte, ließ er doch keinen Zweifel aufkommen, daß derartige Fälle allein in seiner Entscheidung lägen und jegliche öffentliche Einflußnahme als Anmaßung gegenüber seiner Souveränität betrachtet würden. Dieser Hoheitsanspruch zeigt sich auch bei den Versuchen des Rats, Aufführungen in den umliegenden Siedlungen und Dörfern zu unterbinden. Denn oftmals wichen sowohl Wandertruppen als auch einheimische Gesellschaften auf die vor den Toren liegenden Orte aus, um ein zuvor vom Rat ausgesprochenes Spielverbot zu umgehen. Obwohl diese Gemeinden zumeist noch in dem ausgedehnten Territorium der Reichsstadt lagen, gestaltete sich hier die Kontrolle doch vergleichsweise schwieriger. Offenbar funktionierte die Kommunikation und Absprache mit den dort ansässigen reichsstädtischen Beamten nicht immer in der erwünschten Weise, wie ein Beispiel aus dem Sommer 1641 zeigt: Eine Gesellschaft von Handwerkern hatte in dem Vorort Wöhrd ohne Genehmigung des Rats, aber offenbar mit Billigung des dortigen Richters ein Stück zur Aufführung gebracht und ging nun den Rat erneut um Bewilligung einer Vorstellung an. Dieser lehnte jedoch ab und verband die Weigerung mit dem generellen Verweis an den bestellten Richter zu Wöhrd, »daß ihme keines weges geburt habe, diesen leuten die nechste
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Siehe auch Teil A, Kap. 1.1. StaatsAN, RV Nr. 1780 vom 6. August 1605, fol. 32r. Siehe Teil A, Kap. 1.2. Zur Theaterfeindlichkeit in Nürnberg siehe ausführlich den entsprechenden Exkurs in Teil B, Kap 5.4.3.
70 bei der kirchweihe gehaltene comoedi zu erlauben, weilen ihme wisen, daß dergleichen auch in hiesiger statt verbotten seie«. 46 Nur kurze Zeit später sah der Rat sich erneut genötigt, auf die Geltung seiner Urteile in den außerhalb der Stadtmauern liegenden Gebieten des Nürnberger Territoriums hinzuweisen, da er bei der Ablehnung eines weiteren Spielgesuchs der Handwerker ausdrücklich bemerkte, »so wohl dem richter zu Werdt als auch pflegern im Gostenhoff [sei zu] sagen, dergleichen keines weges zu gestatten«. 47 Fürther Theater Wie sehr der Rat bemüht war, die Kontrolle über das Theaterwesen in seinen Händen zu behalten, macht seine Reaktion deutlich, wenn Theaterbanden nach einem ausgesprochenen Spielverbot für die Reichsstadt ankündigten, auf benachbarte Orte auszuweichen, die nicht mehr oder zumindest nicht völlig unter der Hoheitsgewalt und Rechtsprechung des Nürnberger Rats standen. Dabei bot sich der nahegelegene Marktflecken Fürth besonders an. Er unterlag zu einem Teil der Herrschaftsgewalt des Bischofs von Bamberg, der in Fürth durch einen dompropsteilich-bambergischen Amtmann vertreten war 4 8 Insbesondere seit dem 15. Jahrhundert beanspruchte jedoch neben den Markgrafen von Ansbach, die in Fürth das Geleitamt ausübten und dieses zu einer regelrechten Außenstelle ihres Oberamtes in Cadolzburg ausbauten, auch die Reichsstadt Nürnberg verstärkt landeshoheitliche Rechte auf Fürth. Aufgrund dieser komplizierten Rechtsverhältnisse ist bis zum Ende des 18. Jahrhunderts »das Fürther Leben erfüllt vom Parteien- und Landesherrenstreit um die territorialen Rechtsgrundlagen« 49 Doch gerade diese »Dreiherrschaft« 50 ermöglichte es, die einzelnen Gewalten gegeneinander auszuspielen und deren Konkurrenz für sich nutzbar zu machen. Dies versuchten auch etliche Wandertruppen, insbesondere seitdem man sich in dem Marktflecken daran machte, ein eigenes Theater zu bauen: Anfang 1685 richteten der Gastwirt Michael Göring, der Schneider Niclaus Werth und der aus Nürnberg geflohene Komödiant Johann Joachim Müller ein Gesuch an den dompropsteilichen Amtmann Johann Heerdegen und baten um Erlaubnis, ein Theater für ihre Stücke auf Gemeindegrund errichten zu dürfen. 51 Heerdegen stand dem Plan keineswegs abgeneigt gegenüber, verwies jedoch
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StaatsAN, RV Nr. 2252 vom 19. Juni 1641, fol. 64r. Ebd., RV Nr. 2254 vom 2. August 1641, fol. 37v. Vgl. Adolf Schwammberger: Fürth von Α bis Z. Ein Geschichtslexikon. Fürth 1967, S. 277ff., s.v. >OrtsgeschichtePegnitzschäfer< öffentlichen Anstoß erregten: D e s Herrn Kirchenpflegers Herrlichkeit aber soll man ersuchen die widerholte anstalt zu verfügen, damit auch nichts ohne Zensur allhie gedruckt werde, auch der
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Vgl. dazu für Nürnberg den knappen Überblick bei Lore Sporhan-Krempel: Nürnberg als Nachrichtenzentrum zwischen 1400 und 1700. Nürnberg 1968 (Nürnberger Forschungen, Bd. 10), S. 67 - 74, sowie grundlegend Müller: Zensurpolitik, S. 6 6 169, der allerdings nicht auf Theateraufführungen und -zensur eingeht. Zu Begriff und Geschichte der Zensur siehe allgemein neben den bereits genannten informativen Studien bzw. Abrissen von Dieter Breuer und Klaus Kanzog außerdem Ulla Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik. Stuttgart 1968 (Bonner Beiträge zur Soziologie, Bd. 3). Kanzog: Zensur, S. 1024. Vgl. Müller: Zensurpolitik, S. 73. Vgl. ebd., S. 113 u. 115. Im 17. Jahrhundert wurden nicht nur die gedruckten, sondern auch die handschriftlich verfertigten Zeitungen der Zensur unterzogen. In einzelnen Fällen wurde sogar die Briefzensur angewandt. Vgl. ebd., S. 92f„ 104 u. 123f.
73 sogenannten Pegnitzschäffer gesellschaft, so mehrenteils in geistlichen Personen, Schuldienern und Studiosis Theologiae bestehet, einhalt zu thun, daß sie in ihren Teutschen Hochzeit- und anderen reymen die verblümte obscoena unterlassen und sich ihrer Profession besser erinnern.63
Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Tendenzen verwundert es nicht, daß der Nürnberger Rat seit Beginn des 17. Jahrhunderts eine rigide Theaterzensur ausübte: Wer ein Stück aufführen wollte - sei es eine Wandertruppe, ein Lehrer und seine Schüler oder ein Handwerksmeister mit seinen Gesellen - mußte hierfür zuerst (meist in schriftlicher Form) die Genehmigung des Rats einholen. Dieser behielt sich das Recht vor, in alle Belange des Vorhabens, vom Schauspieltext bis zum Eintrittsgeld, korrigierend und beschränkend einzugreifen. Als Behörden waren dafür in Nürnberg neben dem Kirchenpfleger auch das Scholarchat für die Theateraufführungen der Schulen sowie für die Gesuche von fahrenden Schaustellern und Wandertruppen die verschiedenen Deputationen zum Fechthaus und seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verstärkt das Kriegsamt zuständig.64 Dabei war es für den jeweiligen Antragsteller Pflicht, mit dem Gesuch ein handschriftliches oder gedrucktes Exemplar des Schauspieltextes oder einer Inhaltsangabe davon einzureichen, anhand deren das Stück zensiert und auf etwaige anstößige Passagen überprüft werden konnte.65 Zumindest aber mußte der Antragsteller genaue mündliche Auskunft über seine geplante Vorstellung geben. So wurden beispielsweise Anfang 1626 auf Antrag des Goldschmieds Hans Mühlgraf um Spielgenehmigung die herren kirchenpfleger und scholarchen ersucht [...] von ihme zu vernehmen, wie solche comoedien beschaffen, was er für intermedia gebrauchen wolle, in allweg aber zu sagen, das es allein gaistliche spiel sein und keine amatoria eingemischt werden sollen, und den bericht widerzubringen.66
Von diesen verschiedenen Arten der Präventivzensur waren im besonderen Maße die Schulaufführungen betroffen, da ihnen als konstitutiver Teil des Unterrichts wichtige erzieherische Funktion zugeschrieben wurde (siehe Teil B, Kap. 2.1.). Neben dem Verfahren der präventiv ausgerichteten Vorzensur wandte man bisweilen eine Nachzensur an, die mit der ersten Me63
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StaatsAN, RV Nr. 2673 vom 16. Dezember 1672, fol. 88 v -89 r . Siehe auch Müller: Zensurpolitik, S. 136. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Teil B, Kap. 1 sowie 2.1.2. Belege für diese Praxis finden sich das gesamte 17. Jahrhundert hindurch: So wurde etwa im November 1610 auf ein Spielgesuch der Meistersinger zunächst beschlossen, »ihre Comedien und Tragedien auch zuvor Revidirn, ob nichts ungeburlichs drinnen begriffen« (StaatsAN, RV Nr. 1849 vom 6. November 1610, fol. 32v). Im Mai 1697, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wurde der Prinzipalin Catharina Elisabeth Velten zwar erlaubt, in der Reichsstadt ihre Stücke aufzufuhren, allerdings nur unter der Auflage, daß »deren inhalt auf der löbl. Kriegsstuben vorher fürzulegen ist« (ebd., RV Nr. 2998 vom 3. Mai 1697 fol. 129v). Ebd., RV Nr. 2052 vom 26. Januar 1626, fol. 2r.
74 thode gekoppelt werden konnte, wie es ein Beispiel vom Sommer 1678 zeigt: So genehmigte man der Gesellschaft des Herzogs von Sachsen-Eisenach auf die erfolgte Vorlage der Spieltexte zunächst nur drei bis vier Aufführungen »auf eine prob zu praesentiren«, und verband dies mit der Auflage, keine »ärgerliche und schimpfliche händel einzumischen«.67 Neben diesen formellen, institutionell geregelten Zensurmaßnahmen gab es darüber hinaus die nicht zu verachtende Wirkung einer informellen Zensur, die sich aus ökonomischen und sozialen Zwängen ergab,68 wie es etwa bei den Wandertruppen oder Schulmeistern der Fall war, die beide auf die Gunst der Obrigkeit angewiesen waren.69 All diese Kontrollmechanismen zusammengenommen, ergibt sich im Bereich des Theaterwesens im Nürnberg des 17. Jahrhunderts ein vielschichtiges Zensursystem, das auf mehreren Ebenen ansetzte und stets flexibel blieb, indem der Rat bzw. die ihm unterstehenden Deputationen und Ämter seit der Einrichtung des Fechthauses eine uneingeschränkte Aufsichtshoheit über die unter obrigkeitlicher Kontrolle liegenden Spielorte besaß und somit über die dortigen Vorgänge stets genau informiert war. Im Bedarfsfall konnte man mittels des anwesenden Aufsichtspersonals sofort reagieren und einschreiten. Zudem besaß die Obrigkeit ein weiteres Instrument, das zur Durchsetzung der Zensurauflagen beigetragen haben dürfte und zugleich als Strafmittel eingesetzt werden konnte: die merkantilistische Kontrolle über die Einnahmen aus den Schauspielen, die zunächst an die Kassen reichsstädtischer Ämter gingen und von dort erst am Ende des Gastspiels an die Prinzipale und ihre Wandertruppen ausbezahlt wurden. Dies bot die Möglichkeit, etwaige Überschreitungen der Zensur und Mißachtungen von Auflagen mittels fiskalischer Strafen zu ahnden. Zensur als Normenkontrolle und Kulturpolitik ex negative Neben diesen formalen Zensurregelungen läßt sich aber auch die grundlegende Tendenz der Zensur gut bestimmen, die zunächst vor allem auf die Inhalte und Darbietungsweisen der Stücke abzielte: So ermahnte der Rat etwa im Juli 1628 den bereits erwähnten Nürnberger Bürger Hans Mühlgraf, daß er sich bei der Vorstellung seiner Stücke »grober schambarer possen enthalte«.70 Dem berühmten Prinzipal Carl Andreas Paulsen und seiner Truppe erlaubte man bei seinem Gastspiel im Sommer 1676 lediglich Stücke »von geistlicher oder sonsten lehrreicher materie und mit Unterlassung ärger-
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Ebd., RV Nr. 2748 vom 16. Juli 1678, fol. 78v. Zur allgemeinen Differenzierung zwischen formeller und informeller Zensur siehe Otto: Literarische Zensur, S. 118-120, sowie Kanzog: Zensur, S. 1001. Siehe hierzu auch Teil B, Kap. 1 sowie Kap. 2.1.2. StaatsAN, RV Nr. 2084 vom 17. Juni 1628, fol. 21r.
75 licher actiones alhier zu praesentiren«.71 Im April 1685 gewährte man dem Prinzipal Jakob Kuhlmann und seiner »bände hochteutscher comoedianten« eine Spielerlaubnis nur unter der Auflage, »sich aller ärgerlichen materien, auch der zwischen- und nachspile, worinnen obscoena vorkommen, gänzlich zu enthalten«.72 Zur Kontrolle wurden Kuhlmann zunächst nur ein paar Stücke zur Probe genehmigt, um dann nochmals über den Antrag zu entscheiden. Und die Ende Juli 1698 eingetroffenen »Fürstl. Sachsen-Zaitzischen Comoedianten« erinnerte man daran, »sich solcher materien zu befleißen, wodurch die Jugend nicht geärgert werde«.73 Bemerkenswert ist, daß sich die obrigkeitlichen Kontroll- und Disziplinierungsversuche nicht alleine auf die Inhalte der jeweils präsentierten Stücke bezogen, sondern auch deren Darbietungsform einschlossen und selbst das mimisch-gestische Spiel noch zu regulieren versuchten: So wurde etwa den Komödianten unter Führung der Gebrüder Gabriel und Christian Müller bzw. Möller, die beide aus der berühmten Truppe Johannes Veltens hervorgegangen waren, Anfang September 1700 bei ihrem Gastspiel vorgeworfen, »daß sie in einem ohnlängst aufgeführten Stuck gar ärgerliche Geberden von sich blicken lassen«, weshalb ihnen der Rat den Abruch ihrer Aufführungen androhte, »wann sie dergleichen mehr beginnen werden«.74 Erstaunlich ist, daß sich die Zensur nicht nur auf Text, Inhalt und Darbietung erstreckte, sondern durchaus auch den Leumund der antragstellenden Person einbeziehen konnte. So wurde etwa das Spielgesuch Hans Gretschmans im November 1603 deshalb abgelehnt, »weil er ein seltzamer gesell und sich schulden halben von hinnen gethan haben soll«.75 Bei anderen Antragstellern beschloß man, zunächst Erkundigungen über sie und etwaige bereits früher abgehaltene Aufführungen einzuholen, bevor über das Gesuch entschieden werden sollte. Dabei gilt festzuhalten, daß es sich bei den Zensurauflagen keineswegs nur um rhetorische Floskeln handelte. Die Theaterbanden mußten bei Übertretungen mit einem Spielabbruch und künftigem Auftrittsverbot rechnen. So wurden etwa im Sommer 1695 die »hochfürstl. Sachsen-Mörseburgischen hofcomoedianten« deshalb ohne Aufschub aus der Stadt verwiesen, »weil sie der Jugend zum ärgernus gereichende Possen eingemenget, sonsten auch wenig geschickte Personen in ihrer Compagnie haben«.76 Wie der Hinweis in dieser Ratsentscheidung auf die »wenig geschickten personen« zudem andeutet, konnten bei der Ablehnung und Vergabe von Gesuchen auch Bedenken des Rats bezüglich der künstlerischen Qualität 71 72 73 74 75 76
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
RV RV RV RV RV RV
Nr. 2722 Nr. 2837 Nr. 3015 Nr. 3043 Nr. 1757 Nr. 2974
vom vom vom vom vom vom
17. August 1676, fol. 5r. 14. April 1685, fol. 191r. 23. Juli 1698, fol. 15v. 3. September 1700, fol. 13r. 25. November 1603, fol. 35r. 1. Juli 1695, fol. 44r.
76 der jeweiligen Schauspieltruppe durchaus eine gewichtige Rolle spielen. Man holte Erkundigungen ein, beurteilte das Repertoire sowie die Ausstattung mit Kostümen und Requisiten oder ließ zunächst nur ein Spiel auf Probe zu: So erhielt die englische Gesellschaft Robert Brownes im Mai 1618 die Spielerlaubnis mit der Begründung, daß sie »geübte Comedianten«77 seien. Im Sommer 1650, als mit dem Ende des Krieges wieder verstärkt Wandertruppen nach Nürnberg kamen, beschloß der Rat auf das eingegangene Gesuch einer Gesellschaft, daß man zuerst klären solle, »wer sie seien, auch was sie für qualiteten haben«.78 Bei einem Streit zweier miteinander um die Spielerlaubnis wetteifernder Wandertruppen im Frühjahr 1668 entschied sich der Rat deshalb für die eine der beiden Gesellschaften, »weiln sie bessere materias agiren, costbarere kleidung habe und in allen actionibus herrlichere actiones führet«. 79 Faßt man nun diese Aspekte der Zensurpolitik zusammen, die hier nur mit einigen signifikanten Beispielen angedeutet wurden und jederzeit aus den Nürnberger Ratsverlässen beliebig ergänzt werden könnten, würde es jedoch wesentlich zu kurz greifen, darin nur ganz allgemein den Willen zu sehen, »öffentliches Ärgernis zu vermeiden«.80 Wie die zitierten Beispiele veranschaulichen, zielte die Theaterzensur des Nürnberger Rats vor allem darauf ab, den Bereich des Schauspiels einer allgemeinen Disziplinierung zu unterwerfen. Deutlich erkennbar ist in den Zensurauflagen des Rats das Bestreben, alles Anstößige und Unsittliche soweit wie möglich zu unterdrükken sowie allzu drastische, obszöne und derb-komische Darbietungen einzuschränken, wobei insbesondere die Bereiche des Körperlichen und Sexuellen von der Bühne verbannt werden sollten, wie etwa die Hinweise auf die beanstandeten »Obscoena« und »schambaren Possen« verdeutlichen. Es zeigt sich hier die Tendenz, das Theaterwesen auf bestimmte sittlich-erbauliche Maßstäbe und Normen sowie Geschmacksvorstellungen der patrizischen Obrigkeit festzulegen, die zudem offenbar sehr genau sowohl zwischen schlechteren und »besseren materias« zu unterscheiden als auch kostbare Ausstattung und »herrliche actionen« zu goutieren wußte. In dieser gleichsam ex negativo verfahrenden Kulturpolitik des Nürnberger Rats spiegelt sich ein kultur- und sozialgeschichtlicher Prozeß wider, der in der Forschung seit den Untersuchungen Norbert Elias' und Gerhard Oestreichs immer wieder mit den Begriffen >Zivilisation< und >Disziplinierung< diskutiert wird und in dessen Verlauf unter anderem die absolutistischen Obrigkeiten gegenüber Elementen der >Volkskultur< eine ernsthaftere >Kultur der Eliten und Herrschendem durchzusetzen versuchten, die eine verstärkte Affektkontrolle und betontes
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Ebd., RV Nr. 1950 vom 28. Mai 1618, fol. 63r. Ebd., RV Nr. 2373 vom 2. Juli 1650, fol. 84r. Ebd., RV Nr. 2611 vom 16. April 1668, fol. 83v. Jons: Literaten in Nürnberg, S. 89.
77 Schamverhalten propagierte. 8 1 D a b e i ließen sich diese Entwicklungen gerade in den Bereichen Geselligkeit und Festkultur beobachten. 8 2 Z u d e m k o m m t in den restriktiven Zensurmaßnahmen des Rats und der vielfach geäußerten Kritik an gezeigten »Possen« eine ausgeprägte Lachfeindlichkeit zum Ausdruck, die sich oftmals gegen die eingestreuten Intermezzi, Improvisationen und derb-komischen Späße der Lustigen Personen richteten, in denen die Tradition der mittelalterlichen Lachkultur mit ihrer spezifischen Hervorhebung der Bereiche des Materiell-Leiblichen und Grotesk-Komischen noch am stärksten fortlebten. 8 3 D a b e i dürften diese Beschränkungsversuche auch im Zusammenhang mit den spezifischen Funktionen und Wirkungsweisen des Lachens stehen, das nach Michail Bachtin zum einen untrennbar mit dem physiologischen Bereich verbunden sei und »das Drama des körperlichen Lebens« 8 4 inszeniere. Z u m anderen stehe das Lachen allen Versuchen der Kontrolle entgegen und ziele auf eine Herabwürdigung jeglicher Formen von Ernst und Autorität ab: » D a s Lachen legt [...] nahe, daß Angst überwindbar ist. E s erfindet keine Einschränkungen, und Verbote, Macht, Zwang, Autorität sprechen niemals seine Sprache.« 8 5 G e 81
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Am schärfsten und wohl zu kraß wurde dieser Gegensatz formuliert von dem französischen Historiker Robert Muchembled: Kultur des Volks - Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung. Aus dem Französischen übersetzt v. Ariane Forkel. Stuttgart 1982. Muchembled spricht von einer gewaltsamen »Unterdrückung« bzw. »Unterwerfung« der Volkskultur durch die »herrschende Kultur«, die sich insbesondere »im 17. und 18. Jahrhundert durch die Einschränkung des Körpers und die Unterjochung der Seele« (ebd. S. 183) vollzogen habe. Siehe zu diesem Komplex auch die differenzierenden Diskussionen bei Roeck: Lebenswelt und Kultur, S. 101-108 u. 116f.; Münch: Lebensformen, S. 252-259, sowie den Abschnitt »Der Prozeß der Zivilisation: Disziplin und Eigensinn« bei van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 2, S. 274-284. Diese Aspekte werden in Teil B, Kap. 6, noch einmal aufgegriffen. Vgl. dazu van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 2, S. 144f.: »Insgesamt zeigt sich ohne Zweifel ein beträchtlicher >Zivilisierungsneuen< Vorstellungen der Obrigkeit oder der Kirchen in jeder Hinsicht gefügt hätte. [...] Zwar wurden nur gelegentlich Feste verboten, man tolerierte Geselligkeit und Festveranstaltungen unterschiedlichster Art, aber alles sollte >sittlich< und gemäßigt im Rahmen der neuen christlich-obrigkeitlichen Ordnungsvorstellungen ablaufen, ohne daß jemand Schaden litt. [...] Unsere Kenntnis von der Festkultur der frühen Neuzeit entstammt also wesentlich der Konfrontation von populärer Verschwendung und obrigkeitlichen Disziplinierungswünschen.« Vgl. dazu Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Hg. und mit einem Vorwort versehen v. Renate Lachmann. Frankfurt a.M. 1987, bes. S. 111-186. Ebd., S. 138. Ebd., S. 140. Ohne auf eine weitere Diskussion der vielschichtigen Begriffe >LachenKomik< und >Humor< eingehen zu können, erscheinen mir die Ansätze von Bachtin durchaus fruchtbar zu sein für die Erhellung der rigiden Vorgehensweise der reichsstädtischen Obrigkeit. So hebt Bachtin an gleicher Stelle auch hervor: »Das Lachen befreit nicht nur von der äußeren, sondern vor allem von der inneren Zensur, d.h. der in vielen Jahrhunderten im Menschen erzeugten Angst vor dem
78 rade dies sei jedoch nach Bachtin der von den Obrigkeiten propagierten »offiziellefn] seriöse[n] Kultur« 86 zuwidergelaufen, die von einer »autoritären [...] Seriosität« 87 geprägt gewesen sei. Untersuchungen zur Lachkultur in der Frühen Neuzeit aus den letzten Jahrzehnten haben die Arbeiten Bachtins zu Formen und Zwecken des Lachens immer wieder in den Mittelpunkt gerückt und den Zusammenhang von Lachen und Körperlichkeit sowie die subversive Wirkung des Lachens unterstrichen. 88 So hat man im Anschluß an Bachtin die »verletzende Schärfe des Gelächters« und die »lachende Infragestellung aller nur denkbaren Formen des herrschenden und eindeutigen Worts« 89 als zentrale Wirkungsweisen des Lachens hervorgehoben. Insbesondere im Zusammenhang des frühneuzeitlichen Theaters hat Manfred Pfister in zwei Studien die Beziehung des Lachens zum physiologischen Bereich betont und auf die obrigkeitlichen Disziplinierungsversuche hingewiesen. 90 Den Kritikern sei es darum gegangen, »die unbändige Körperlichkeit des Lachens und das anarchische Potential der vis comica zu bändigen, zu disziplinieren«. 91 Derartige Aspekte legen nahe, daß ähnlich der allgemein propagierten Tugendlehre auch den Zensurmaßnahmen und der sich darin manifestierenden >negativen< Kulturpolitik des Rats wichtige funktionsgeschichtliche Implikationen innewohnten. Wie jede Ausübung der Zensur stellt die Theaterzensur ein »Herrschaftsmittel« dar und dient der jeweils regierenden Macht »zur Wahrung ihrer Interessen und Sicherung ihrer Position im Staate«. 92 Das grundlegende Anliegen der Zensur zielt darauf ab, »die Funktionsfähig-
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Heiligen, dem Verbot, der Vergangenheit und der Macht. Es entdeckte das materiell-leibliche Prinzip in seiner eigentlichen Bedeutung« (ebd., S. 143). Ebd. S. 146. Ebd., S. 149. Diese Aspekte werden in Teil B, Kap. 6.1., noch einmal aufgegriffen. Vgl. dazu etwa Jürgen Lehmann: Ambivalenz und Dialogizität. Zur Theorie der Rede bei Michail Bachtin. In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hg. v. Friedrich A. Kittler u. Horst Türk. Frankfurt a. M. 1977, S. 355-380; Theodor Verweyen: Der polyphone Roman und Grimmelshausens Simplicissimus. In: Simpliciana 12 (1990), S. 195-228, bes. S. 199-205, sowie jüngst zusammenfassend Helga Neumann u. Werner Röcke: Vorwort. In: Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. dies. Paderborn, München u.a. 1999, S. 7-11. Neumann/Röcke: Vorwort, S. 9. Vgl. Manfred Pfister: »An Argument of Laughter«. Lachkultur und Theater im England der Frühen Neuzeit. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Hg. v. Lothar Fietz, Joerg O. Fichte u. Hans-Werner Ludwig. Tübingen 1996, S. 203-227, bes. S. 205ff. u. 212-216, sowie ders.: Inszenierungen des Lachens im Theater der Frühen und Späten Neuzeit. In: Neumann/Röcke (Hg.): Komische Gegenwelten, S. 215-235, bes. S. 216f. u. 227f. Pfister: Inszenierungen des Lachens, S. 227. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Teil B, Kap. 6.1. Otto: Literarische Zensur, S. 137.
79 keit des betreffenden Systems aufrechtzuerhalten«.93 Als Instrument »zur Machtbehauptung der Herrschenden« fungiert sie »als ergänzende Methode zur Ausbildung eines Systems sozialer Normen«.94 Von daher sind die Zensurmaßnahmen des Nürnberger Rats im Bereich des Theaterwesens immer auch vor dem Hintergrund geltender Normen zu sehen, als deren gleichsam negative Ausdrucksform sie gelten können, und deren Durchsetzung zur Herrschaftssicherung beitragen sollte.95 Aus dem formulierten Anspruch des Nürnberger Rats darf jedoch nicht zwangsläufig abgeleitet werden, daß die angestrebte Disziplinierung bzw. Zivilisierung des Theaterwesens in der Praxis vollständig und total gewesen wäre. Hiergegen spricht schon die Tatsache, daß die Auflagen kontinuierlich wiederholt werden mußten und es immer wieder vorkam, daß begangene Überschreitungen ruchbar wurden, was dann zum Abbruch der Gastspiele führen konnte. Allerdings läßt sich beobachten, daß im Laufe des 17. Jahrhunderts aufgrund der ausgeübten Normenkontrolle die Wandertruppen sehr schnell ihr Repertoire den obrigkeitlichen Erwartungen anpaßten und seit etwa der Jahrhundertmitte verstärkt italienische Schäferspiele und Opernstoffe adaptierten.96 Das Ergebnis dieser an sittlich-moralischen und künstlerischen Maßstäben orientierten Vergabepolitik war ein beachtlicher Konkurrenzdruck, der bisweilen zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den Truppen führte. Von dieser Kulturpolitik ex negativo und der daraus sich ergebenden verschärften Wettbewerbssituation war seit dem Eintreffen der Englischen Komödianten aber auch in erheblichem Maße das Laienspiel aus den Kreisen der Handwerker betroffen, dem der Nürnberger Rat seit etwa 1600 mißtrauisch gegenüberstand, wie es etwa schon bei der Auseinandersetzung um die Theaterambitionen der Meistersinger deutlich wurde (vgl. Teil A, Kap. 1). Den dilettierenden Handwerkern und Krämern sprach der Rat nicht nur die künstlerische Qualität rundweg ab, sondern er kritisierte auch die Inhalte und Darbietungsformen ihrer derb-komischen Stücke, in denen die Tradition des Fastnachtsspiels noch am stärksten lebendig war und die man deshalb ebenfalls aus den genannten Gründen von den öffentlichen Bühnen zu verdrängen versuchte.97 93 94 95
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Ebd. Ebd., S. 138. Siehe hierzu auch Kanzog: Zensur, S. 999f. Vgl. auch Mauser: Dichtung, S. 289£, der hervorgehoben hat: »Jede Bekräftigung ethischer Normen, jede Verherrlichung ethischer Werte, jede Verteufelung des Lasters - alles, was zum Thema Tagend gesagt wird, trägt dazu bei, die gesellschaftliche Ordnung, die sich auf diese ethischen Regulative stützt, zu rechtfertigen, zu festigen, ja mit der Aura des Gottgewollten auszustatten. [...] Jede auf Ethisches bezogene Aussage steht im Kontext von Normen und fraglos geltenden Grundsätzen gesellschaftlich-politischer Natur.« Siehe hierzu Teil B, Kap. 1. Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 6.
80 Politische Gründe Neben den Überlegungen zu künstlerischer Qualität, Sitte und Moral spielten bei der Verhandlung über ein Spielgesuch zudem politische Gründe eine wesentliche Rolle. Insbesondere während des Dreißigjährigen Krieges sah man sich mehrfach gezwungen, die Schauspiele »wegen jeziger schweren und gefehrlichen leuften« 98 einzustellen, manchmal sogar für etliche Jahre. Doch nicht nur während des großen Krieges, sondern auch das ganze 17. Jahrhundert hindurch wurden immer wieder Eingaben mit dem Hinweis auf »jetziger unglückhafter Zeit«99 abgelehnt. Die Ratsverlässe zur Theatergeschichte lesen sich über weite Strecken wie eine Geschichte der kriegerischen Auseinandersetzungen im Reich vom Dreißigjährigen Krieg über die langen Kämpfe gegen Frankreich und die Türken bis hin zum Spanischen Erbfolgekrieg. In ihnen spiegeln sich aber auch die Kältewellen während der >kleinen Eiszeit< am Ende des 16. Jahrhunderts sowie sich in der Stadt ereignende Seuchen und »sterbsleuft«, derentwegen »nit one gefar soviel leut zusammen kummen«100 konnten. Die Schauspiele mußten zudem während der offiziellen Trauerzeiten bei bedeutenden, insbesondere bei denen das Kaiserhaus betreffenden Todesfällen eingestellt werden, wobei die Zeitspanne, in der öffentliche Schaustellungen und Lustbarkeiten ruhen mußten, je nach Rang und Bedeutung des Verstorbenen variierten. Förderlich bei der Verhandlung über ein Spielgesuch konnten dagegen die Geleit- und Empfehlungsschreiben von Fürsten und anderen adligen Gönnern sein, wie sie vor allem verschiedene (zunächst englische, dann deutsche) Wandertruppen vorweisen konnten. Galt es hierbei doch, den jeweiligen Schutzherrn nicht zu verstimmen.101 Der Bürgerschaft und Stadtkasse zur Ergötzung Der Rat beließ es allerdings keineswegs nur bei einer restriktiv verfahrenden Kulturpolitik ex negativo. Denn abgesehen von den grundsätzlichen Sicherheitsbedenken und Ordnungsbestrebungen stand er dem Schauspiel und Theater keineswegs von vornherein ablehnend gegenüber. Vielmehr war man sich bewußt, daß dem Bereich des Theaterwesens wichtige soziale und gesellschaftliche Funktionen zukamen und sich das Theater als effektives 98 99 100 101
StaatsAN, RV Nr. 2099 vom 13. August 1629, fol. 49v. Ebd., RV Nr. 2719 vom 9. Mai 1676, fol. 42v. Ebd., RV Nr. 1705 vom 13. Dezember 1599, fol. 44r. Auch nahm man etwa Rücksicht auf die Wünsche von in der Stadt weilenden adligen Personen. Im Hochsommer 1668 verlegte der Rat etwa auf Wunsch der anwesenden Grafen von Hohenlohe die zuvor noch im Fechthaus anberaumte Vorstellung einer Wandertruppe in das damals neu erbaute Nachtkomödienhaus, das den gräflichen Ansprüchen wohl mehr entsprach. Vgl. ebd., RV Nr. 2615 vom 12. August 1668, fol. 93*.
81 Mittel einer repräsentativen Selbstdarstellung der Reichsstadt und ihrer Obrigkeit einsetzen ließ, weshalb man das Schauspiel in vielen Belangen aktiv förderte. Hinter dieser Haltung steht eine Auffassung, die in vielen zeitgenössischen politischen Lehrbüchern artikuliert wurde: Demnach galt das Theater zwar (aus den oben genannten Gründen) als ein Bereich von etwas zweifelhaftem Ruf, den es im besonderen Maße zu kontrollieren galt. Daneben wurde jedoch eine reglementierte Zulassung von Theateraufführungen als nützlich empfohlen. 102 Zunächst führte man hierbei ökonomische Interessen an, da das Theater einen erheblichen wirtschaftlichen Faktor darstelle, indem nicht nur das Geld der Bürger im Lande belassen, sondern auch von auswärts Fremde vielfach angezogen würden. 103 Dies waren Beweggründe, die auch der Nürnberger Rat mehrfach bei der Genehmigung von Spielgesuchen anstellte: So beschied man etwa im April 1600 deshalb die Eingabe der Englischen Komödianten positiv, »dieweil das Volk sonst ufs Land lauft und ir gelt verzehrt«. 104 Daß man in Nürnberg sehr wohl um die fiskalische Bedeutung des Theaters wußte und sich ebenfalls in nicht geringem Maße von ökonomischen Interessen leiten ließ, zeigt die Tatsache, daß man kurz nach dem Eintreffen der Englischen Komödianten nicht nur Abgaben von Eintrittsgeldern zu erheben begann, sondern 1628 auch mit dem Bau eines eigenen städtischen Theaters hierfür einen Verwaltungsapparat aufbaute - wobei die zum Teil in die Tausende gehenden Abgaben, wie gezeigt, schon bald nicht mehr wohltätigen Zwecken, sondern der im 17. Jahrhundert arg strapazierten Kasse des Kriegsamtes zugeführt wurden. Von noch größerer Bedeutung bei der Rechtfertigung von Schauspielaufführungen im Sinne der Staatsklugheitslehre war jedoch der Unterhaltungsund Belustigungsaspekt des Theaters, dem nach allgemeiner Meinung der Zeitgenossen eine nicht gering zu veranschlagende herrschaftsstabilisierende Funktion innewohnte. In der Tradition der aristotelischen Staatslehre stehend, waren sich die politischen Lehrbücher und Schriften weitgehend einig 102
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Vgl. dazu Mauser: Dichtung, S. 2 8 1 - 2 8 7 , sowie Wolfgang Martens: Obrigkeitliche Sicht. Das Bühnenwesen in den Lehrbüchern der Policey und Cameralistik des 18. Jahrhunderts. In: I A S L 6 (1981), S. 1 9 - 5 1 , zum 17. Jahrhundert bes. S. 2 0 - 2 3 . Vgl. Martens: Obrigkeitliche Sicht, S. 29f. u. 37f. StaatsAN, RV Nr. 1710 vom 12. April 1600, fol. 3 7 \ Ganz ähnliche Überlegungen stehen offenbar hinter den im 17. Jahrhundert immer wieder in den Ratsentscheidungen zum Theater formulierten Befürchtungen, die Komödianten könnten bei einem negativen Bescheid nach Fürth ausweichen und dadurch die Bürger (und ihr Geld) aus der Stadt locken. So genehmigte man im Sommer 1699 sowohl der Truppe des Italieners Pietro Guiliamo Scotto als auch den einheimischen Fechtschulen weitere Vorstellungen und Schaukämpfe vor allem deshalb, »damit die Bürgerschaft bei der Stadt behalten und denselben, wann sie nach Fürth oder Schweinau sich begeben sollten, nachzulaufen nicht veranlasset werde« (StaatsAN, RV Nr. 3029 vom 11. August 1699, fol. 47 v ). Siehe hierzu auch Hampe: Theaterwesen, S. 109.
82 darin, daß die Obrigkeiten ihren Untertanen zur Vermeidung von Aufruhr und zur Erhaltung der Ordnung in regelmäßigen Abständen die Abhaltung verschiedener Lustbarkeiten gestatten mußten. Aus diesem Grund erweise sich die Zulassung eines reglementierten Theater- und Schauspielwesens in hohem Maße nützlich und könne zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Ruhe sowie Stärkung des herrschaftlichen Regiments beitragen, da es der Ablenkung, Erholung und Besänftigung der Untertanen diene. 105 In diesem Sinne äußerte sich etwa Justus Lipsius in seinem bedeutenden Lehrbuch Politicorum seu civilis doctrinae libri VI. Dieses »politische Hauptwerk des Neustoizismus« 106 erlebte eine außerordentliche Verbreitung und wurde rasch nach seiner Veröffentlichung unter dem Titel Von Unterweisung zum Weltlichen Regimentlm ins Deutsche übersetzt. Hierin rät Lipsius den Regenten, daß sie öffentliche Vergnügungen »zu fried vnd zamheit« 108 der Untertanen zulassen sollten, und erinnert daran: »Vnnd ist ausser allem zweifei / Daß die Römer mehr durch solche Freuden spiel vnd Kurtzweil / als mit Wehr vnnd Waffen die Völcker vnter ihr Gebiet vnnd Gehorsamb gebracht«. 109 Derartige Überlegungen dürften auch die Haltung des Nürnberger Rats gegenüber dem Theaterwesen in der Reichsstadt bestimmt haben. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Reaktion des Rats auf die Kritik von Seiten der Geistlichkeit, deren Klagen ob der zugelassenen Fechtschulen und Schauspiele während des Dreißigjährigen Krieges man zurückwies und sogar Gegengutachten in Auftrag gab, die die Vorwürfe des Müßiggangs und Sittenverderbs gegenüber den öffentlichen Lustbarkeiten entkräften sollten. 110 Am deutlichsten kommt diese von staatspolitischen und herrschaftsstabilisierenden Interessen motivierte Haltung des Nürnberger Rats gegenüber dem Theaterwesen in der Errichtung des Fechthauses zum Ausdruck. Denn der Bau eines öffentlichen Schauspielhauses mitten im Dreißigjährigen Krieg diente nicht nur der besseren Sozialkontrolle; er sollte ausdrücklich zu Ab105 106
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Vgl. Martens: Obrigkeitliche Sicht, S. 221 u. 39f. Gerhard Oestreich: D e r römische Stoizismus und die oranische Heeresreform. In: ders.: Geist und Gestalt, S. 1 1 - 3 4 , hier S. 16. Justus Lipsius: Von Unterweisung zum Weltlichen Regiment Oder / von Bürgerlicher Lehr / Sechs Bücher Iusti Lipsii So fürnemlich auff den Principat oder Fürstenstand gerichtet. [...]. In ietzo aber mit allem fleiß vnd besonderen nachfolgen / auch müglicher ahnemung deß Autoris Styli vnd Worten / Teutscher Nation zu gefallen in vnsere Hochteutsche Sprach / transferirt vnd vbergesetzet. Durch Melchiorem Haganaeum. [...]. Amberg 1599. Ebd., S. 126. Ebd. So auch Michael Kreps in seiner 1620 veröffentlichten »Teutschen Politick«, in der er betonte, daß man mittels der Abhaltung öffentlicher Lustbarkeiten wie Theater, Rennen, Schießen sowie anderer Spektakel mehr Gehorsam bei den Untertanen erziele als etwa durch Gewaltanwendung. Vgl. dazu Mauser: Dichtung, S. 286. Siehe hierzu die Ausführungen in Teil A , Kap. 1.2.
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lenkung, Vergnügen und Erholung der Bürgerschaft beitragen. Dies macht die Inschrift über dem Eingang des Gebäudes deutlich, die dem Theater eine eindeutige Funktionsbestimmung zuwies. Dort war zu lesen: Man habe das Fechthaus als Schauplatz des Mars und der Kunst zur Abhaltung sportlicher sowie theatraler Spiele erbaut, damit es der Tugend zum Ansporn, dem Laster zur Abschreckung und der Bürgerschaft zur Ergötzung diene.111 In den Staatslehren und Schriften der »Policeywissenschaft« sprach man dem Theater darüber hinaus prophylaktische Funktionen zu, indem die (reglementierte und überwachte) Abhaltung von Schauspielaufführungen die Bürger von anderen, schädlicheren Unterhaltungen abzulenken vermochte.112 Daß der Nürnberger Rat bei seinen Entscheidungen zum Theater ähnliche Erwägungen anstellte, zeigt eine Reihe von Verfügungen: So hatte der Rat im Februar 1696, um nur ein Beispiel zu nennen, die Aufführungen des Handwerkers Georg Hengel d. Ä. und seiner Truppe nur deshalb genehmigt, »damit die Burgerschaft hier behalten und von besuchung der Wirtshäuser auf dem Land abgehalten werde«.113 Theaterkunst als Repräsentationsmittel und Integrationsfaktor Neben diesen Punkten kam jedoch noch ein wesentliches Element hinzu, dessen Bedeutung kaum unterschätzt werden kann: die Funktion des Theaters als effektives Mittel für repräsentative Zwecke und als kommunikatives Herrschaftsinstrument. Für die absolutistischen Herrscher der Frühen Neuzeit war die festliche Darstellung der eigenen Macht von kaum zu überschätzender Relevanz und konstitutiver Bestandteil ihrer Herrschaftspraxis, anhand dessen den Untertanen der Glanz der obrigkeitlichen Macht demonstriert sowie zugleich deren Bewunderung erzielt werden sollte.114 Zu diesen in gleichem Maße herrschaftsstabilisierenden wie -legitimierenden Funktionen einer inszenierten Selbstdarstellung zählte auch, daß die mit großem Aufwand begangenen Feste nicht nur nach außen hin das eigene kulturelle Ansehen gegenüber den auswärtigen Konkurrenten vergrößern und verbreiten halfen, sondern auch im Inneren zur Stärkung des Staatsgedankens sowie des Vertrauens der Untertanen in den Herrscher beitrugen.115 So hat man in diesem Zusammenhang von einem regelrechten »Selbstdarstellungszwang«116 der absolutistischen Obrigkeiten gesprochen.
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Vgl. die wörtliche Wiedergabe der Inschrift in Teil A, Kap. 1.2. Vgl. Martens: Obrigkeitliche Sicht, S. 23 u. 40. StaatsAN, RV Nr. 2982 vom 7. Februar 1696, fol. 45r. Siehe hierzu die grundlegenden Ausführungen bei Schmitt: Inszenierte Geselligkeit, S. 713-734. Vgl. ebd., S. 714 u. 726. Ebd., S. 714.
84 Dabei lassen sich diese in der Regel im Rahmen der Diskussion fürstlicher Herrschaft und höfischer Festkultur genannten Aspekte durchaus auf die Herrschaftspraxis der zumeist von Patriziern dominierten Räte der Reichsstädte übertragen, in deren Geschichte »die >Repräsentation< nach innen wie nach außen stets eine besondere Rolle gespielt« 117 hat. Wie die Fürsten folgten auch die Städte der Maxime: »Macht bedarf der Repräsentation«. 118 Die zum Teil von massiven territorialen Expansionsgelüsten benachbarter Fürsten bedrängten Reichsstädte standen gleichfalls unter dem Zwang, ihre eigene politische, wirtschaftliche und kulturelle Größe und Unabhängigkeit nach außen festlich zu demonstrieren. Reichsstädtische Selbstbehauptung bedurfte nicht minder der inszenierten Selbstdarstellung. Zum anderen waren auch die Reichsstädte als frühmoderne Staatsgebilde auf »identitätsstiftende Akte« 119 angewiesen, mittels derer das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bürgerschaft gestärkt und gleichzeitig latente Spannungen zwischen Bürgerschaft und Obrigkeit abgebaut wurden. Urbane Repräsentation zielte deshalb immer auch darauf ab, die Verbundenheit der Bürger zu ihrer Stadt zu fördern und somit den Frieden innerhalb des Gemeinwesens zu erhalten. 120 Eine große Rolle spielten hierbei etwa die Gebäude einer Stadt, die Befestigungsanlagen, sakralen Bauten und allen voran das Rathaus »als ideeller Kristallisationskern der Bürgergemeinde [...], als Gebäude, wo sich der Glanz der Gemeinschaft verwirklicht«. 121 In gleicher Weise gilt dies für die Festkultur einer Stadt, die einen wichtigen Faktor sowohl zur gesellschaftlichen Integration der Bürgerschaft als auch ein Mittel der politischen Repräsentation nach außen darstellte. 122 So konnten städtische Feste dazu beitragen, Konflikte und soziale Gegensätze innerhalb der Bevölkerung zu entschärfen, und sie waren ein »wirksames Mittel, um die Untertanen in die Herrschaftsstruktur einzubinden«. 123 Zudem eigneten sie sich zur »Selbstdarstellung der Stadt gegenüber fremden Besuchern« 124 und bildeten für die 117
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Hans-Peter Becht u. Bernhard Kirchgässner: Vorwort. In: Stadt und Repräsentation. 31. Arbeitstagung (des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung) in Pforzheim 1992. Hg. v. dies. Sigmaringen 1995 (Stadt in der Geschichte, Bd. 21), S. 7. Wolfgang Adam: Urbanität und poetische Form. Überlegungen zum Gattungsspektrum städtischer Literatur in der Frühen Neuzeit. In: Garber (Hg.): Stadt und Literatur, Bd. 1, S. 90-111, hier. S. 99. Schmitt: Inszenierte Geselligkeit, S. 714. Vgl. dazu Adam: Urbanität, S. 9 7 - 9 9 u. 102. Bernd Roeck: Rathaus und Reichsstadt. In: Becht/Kirchgässner (Hg.): Stadt und Repräsentation, S. 93-114, hier S. 94. Vgl. dazu die prägnante Studie von Francois de Capitani: Schweizerische Stadtfeste als bürgerliche Selbstdarstellung. In: Becht/Kirchgässner (Hg.): Stadt und Repräsentation, S. 115-126. Ebd., S. 117. Ebd., S. 119.
85 Obrigkeit »Höhepunkte der Selbstinszenierung des Regiments«. 125 Dabei war das Volk nicht nur eine passive und stumm staunende Kulisse, sondern gleichermaßen wie etwa auswärtige Gäste intendierter Adressat und notwendiger Teil der Feste, um dessen Bewunderung und Zustimmung man warb. 126 In idealer Weise verbinden sich all diese beschriebenen Aspekte beim Theater, das nicht nur in seiner materiellen Gestalt als Bauwerk ganz allgemein zu den repräsentativen Gebäuden einer Stadt zählte, 127 sondern zugleich einen Ort darstellte, an dem sich in regelmäßiger Wiederkehr urbane Festkultur realisierte, wobei sich im »bilderfreudige[n] Zeitalter des 17. Jahrhunderts« 128 die theatrale Kunst als eine in hohem Maße visuell geprägte Kunst- und Aufführungsform besonders gut zur städtischen Selbstdarstellung eignete. In welchem Maße sich dies der Nürnberger Rat für herrschaftliche Zwecke zu Nutzen machte, sei an dieser Stelle nur mit einem Beispiel kurz angedeutet: dem Bau und der Eröffnung des Fechthauses. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel ausführlich beschrieben, stellte schon das in den Stadtfarben leuchtende Gebäude mit seinen rund 3.000 Plätzen ein äußerst repräsentatives Bauwerk dar, das sich auffällig im Stadtbild abgehoben haben dürfte. Errichtet mitten im Dreißigjährigen Krieg, konnte der multifunktionale Komplex nicht nur nach außen hin als ein sichtbares Zeichen der Prosperität, politischen Selbständigkeit und kulturellen Bedeutung der Reichsstadt verstanden werden, 129 sondern zugleich gegenüber der eigenen Bürgerschaft Größe und Ansehen der Stadt demonstrieren und zur Identifikation der Untertanen mit ihrer Gemeinde beitragen - besaßen die Nürnberger Bürger doch damit als erste Einwohner einer Stadt in Deutschland einen eigenständigen Theaterbau. Daß die Nürnberger Obrigkeit diese Effekte zur Selbstdarstellung entsprechend einzusetzen verstand, zeigt bereits die Premierenvorstellung im neuen Theater am 16. Juni 1628, die zu einem stadtgesellschaftlichen Spektakel höchsten Ranges wurde: Bei der von der Truppe des Nürnbergers Hans Mühlgraf bestrittenen Aufführung waren mehr als 2.500 Zuschauer zugegen, 125
Ebd., S. 120. 126 V g i eb(j., S. 120-122, sowie Schmitt: Inszenierte Geselligkeit, bes. S. 717f. u. 728f. 127 Vgl. Adam: Urbanität, S. 99, der hervorgehoben hat: »Liebe und Anhänglichkeit des Bürgers zu seiner Stadt [...] zeigen sich im Stolz auf die Rat- und Gotteshäuser, Schulen, Bibliotheken und Theater.« 128 Ebd., S. 95. Zur Bedeutung des gesamten visuellen Bereichs als wichtiges Kommunikationsmittel zur Selbstdarstellung siehe auch Schmitt: Inszenierte Geselligkeit, S. 721 u. 726. 129 Roeck: Rathaus und Reichsstadt, S. 105, hat bei seiner Analyse der reichsstädtischen Rathäuser auf Funktionen hingewiesen, die sich vom Prinzip her auch auf die Theaterbauten übertragen lassen. So hebt er hervor, daß die prächtigen Bauwerke wie in Augsburg und Nürnberg stets als Beleg für die Bonität einer Stadt fungierten und ihre Kreditwürdigkeit demonstrieren sollten. Zudem manifestierten sich in ihnen »unerfüllbare Statusambitionen« und »Versuche der städtischen Eliten, sich der Welt des Adels anzunähern«.
86 darunter neben dem Rat als auswärtiger Gast Wilhelm V. Landgraf von Hessen-Kassel. Ihn hatte man zuvor mit einer von den Ratsherren Georg Paul Nützel von Sundersbühl und Hans Albrecht Haller von Hallerstein angeführten Delegation ganz offiziell in der Stadt empfangen, ihm Geschenke überreicht sowie eine Begrüßungsrede gehalten.130 Diese Umstände machen deutlich, daß dem mit zeremoniellen Formen umrahmten Aufenthalt des Landgrafen hochoffizieller Charakter zukam, wodurch die Theatereröffnung, die an sich schon ein bedeutendes Ereignis darstellte, zum regelrechten Staatsakt erhoben wurde, dem wichtige repräsentative Qualitäten nach außen und innen zukamen: So konnten zum einen vor den Augen des auswärtigen Besuchers mit der neuesten Errungenschaft im festlichen Rahmen Glanz und Größe des Regiments und der Stadt demonstriert werden. Zugleich ließ sich durch die Anwesenheit des adeligen Gastes, mit dem die Ratsherren gemeinsam in den besonders ausgestatteten »Herrengänglein« das Spielgeschehen verfolgten, vor der Bürgerschaft die eigene Vornehmheit und Nähe zum Adel hervorheben. Nicht zuletzt die zeremonielle Umrahmung des Ereignisses unterstrich die Bezeugung von Respekt und trug zu einer »Distanzierung des Untertans in Ehrfurcht« 131 bei. Schließlich kam dem Festakt insgesamt eine Integrationskraft für die gesamte Gemeinde zu, indem er seitens der Bürger sowohl den Stolz auf die Stadt als auch die Bewunderung für und die Verbundenheit mit der Obrigkeit befördern half. Dabei bildet das Beispiel der Eröffnung des Fechthauses keineswegs einen Einzelfall. Wie in Teil Β noch an mehreren Paradigmen zu zeigen sein wird, gehörte es zur festen Herrschaftspraxis des Nürnberger Rats, das Theater und verschiedene Formen theatraler Kunst von Schuldrama, Ballett bis zur Oper für eigene herrschaftliche Zwecke und als Mittel der Repräsentationskunst zu instrumentalisieren. Der Rat und die Patrizier als Kulturmäzene und Auftraggeber Derartige Aspekte dürften unter anderem die Ursache dafür gewesen sein, daß der Nürnberger Rat im 17. Jahrhundert vielfach und in unterschiedlicher Weise als Förderer des Theaterlebens in Erscheinung trat. 132 In erster Linie und in erheblichem Maße profitierte hiervon das von den Stadtobrigkeiten geschätzte Schultheater. Denn der Rat griff dem Schultheater mit direkten Zuschüssen unter die Arme und übernahm die Kosten für die Aufführungen. So mußte etwa der Magister Gottfried Bernhard, als er mit seinen Schülern am 27. August 1628 im Fechthaus die Stücke De Prisciano vapulante und 130 131
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Vgl. StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 48 (II), S. 359. Jörg Jochen Berns u. Thomas Rahn: Zeremoniell und Ästhetik. In: Berns/Rahn (Hg.): Zeremoniell, S. 650-665, hier S. 661. Dies korrespondiert mit der Haltung etlicher Patrizier, aus deren Reihen im 17. Jahrhundert mehrere bedeutende Mäzene von Literatur, Kunst und Musik hervorgingen. Vgl. Jürgensen: Norimberga Literata, S. 427-430.
87 Scholarum utilitate133 aufführte, entgegen der üblichen Praxis nicht die Hälfte seiner Einnahmen abliefern, sondern durfte die gesamten eingegangenen 44 fl. 30 kr. zur Tilgung seiner Ausgaben behalten.134 Eine Subventionspraxis, die auch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch Bestand hatte und zum Teil beträchtliche Summen umfassen konnte: Im September 1685 begrüßte der Rat beispielsweise das Vorhaben Simon Bornmeisters, Rektor der Sebalder Schule und Mitglied des Pegnesischen Blumenordens, mit seinen Schülern das von dem sechzehnjährigen Patrizier Gustav Philipp Fürer von Haimendorf verfaßte lateinische Stück /Eneas Trojanus135 aufzuführen. Hierfür sollten »zu füglicher bewerckstelligung« sowohl das Nachtkomödienhaus hergerichtet als auch zur »bestreitung dieser und anderer uncosten 75. biß 100. Gulden« 136 bereitgestellt werden. Der Rat sollte nicht nur sein Wort halten, sondern war darüber hinaus sogar bereit, seine finanzielle Zusage noch aufzustocken, als die Kosten für die Aufführung den zuerst bewilligten Rahmen fast um das Doppelte überstiegen: So zahlte das Kriegsamt auf Anweisung des Rats dem Baumeister zunächst »wegen reparirung des Theatri zu agirung der lateinischen Comoedi M. Simon Bornmeisters«137 die Summe von 50 fl. Doch damit waren die Kosten für die Inszenierung und Ausstattung des Stücks offenbar noch nicht gedeckt. Denn anderthalb Monate nach der Aufführung wurde am 24. Dezember 1685 dem Baumeister vom Kriegsamt »wegen der Comoedin so H[err] M. Simon Bornmeister gehalten ferner auf befehl bezalt laut Schein 126 fl. 32 kr.«.138 Insgesamt hatte also der Rat bzw. das Kriegsamt im Auftrag der Obrigkeit die Aufführung der Sebalder Lateinschule mit der bemerkenswerten Summe von rund 180 fl. finanziert, und dies war keineswegs ein Einzelfall. Denn Bornmeister war schon im Sommer 1679 für die Aufführung eines Stücks mannigfache Hilfe gewährt worden. Als das von ihm verfaßte Friedensspiel Der verbannte Polemophilus von jungen Patriziersöhnen im Anschluß an das offizielle Dankfest anläßlich des Friedens von Nimwegen vorgestellt werden sollte, beschloß der Rat, nicht nur das Nachtkomödienhaus auf Stadtkosten durch den Baumeister diesbezüglich herrichten zu las133
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StaatsAN, RV Nr. 2086 vom 19. August 1628, fol. 33v. Das Gesuch Bernhards ist im StaatsAN ebenfalls erhalten. Vgl. Rep. 16a: B-Laden, S. I. L. 203, Nr. 1, fol. 28 r 29v. Da es in seinem Argumentationsgang guten Einblick in die mit den schuldramatischen Aufführungen verfolgten Intentionen und angestrebten pädagogischen Ziele gibt, wird es im Zusammenhang mit der Tradition des Schuldramas in Nürnberg in Teil B, Kap. 2.1.2., ausführlicher besprochen werden. Vgl. StaatsAN, Rep. 44a: Losungsamt Akten, S. I. L. 127, Nr. 16, fol. l l r u. 31r. Gustav Philipp Fürer von Haimendorf: Drama Virgilianum, /Eneas Trojanus. Norimbergae [1685], Vgl. auch NGL5 (1802), S. 375. StaatsAN, RV Nr. 2842 vom Montag 7. September 1685, fol. 118 v -119 r (fehlt bei Hampe). Ebd., Rep. 53: Ämterrechnungen der Reichsstadt Nürnberg, Abt. V, Bd. 38 (1685), fol. 10r. Ebd., fol. 10v.
88 sen, sondern wies auch das Kriegsamt an, das Unternehmen mit Kleidern und Requisiten zu unterstützen. 139 Es haben sich zwar keine Quellen gefunden, die belegen, daß Simon Bornmeister vom Rat einen Auftrag für sein Friedensspiel erhalten hat. Da jedoch die schuldramatischen Aktivitäten fester Bestandteil des Unterrichts waren und diese vom Rat ausdrücklich gelobt wurden, hat es einer solchen direkten Auftragserteilung wohl nicht bedurft. Aufgrund des in den Verordnungen zum Schulwesen vom Rat allgemein ausgesprochenen Wunsches nach Theateraufführungen verstand es sich gleichsam von selbst, daß die Schulen bei festlichen Anlässen mit derartigen Veranstaltungen hervortraten. Denn neben seinen allgemeinen pädagogischen Funktionen ließ sich das vom Rat geförderte Schultheater im besonderen Maße im Sinne einer städtischen Selbstdarstellung für repräsentative Zwecke einsetzen, wie es etwa neben dem oben erwähnten Friedensspiel von Bornmeister auch eindrucksvoll Johann Geuders Stück Macarie zeigt, das 1668 von jungen Patriziern anläßlich der Eröffnung des neuen Stadttheaters aufgeführt und zu einem stadtgesellschaftlichen Spektakel zu Ehren der patrizischen Obrigkeit wurde (siehe zu diesem gesamten Komplex ausführlich Teil B, Kap. 2). Bislang unbekannt ist auch, daß der Rat bzw. Mitglieder der Patrizier durchaus als direkte Auftraggeber und Finanziers hervortraten: Als im Herbst 1667 die Kaiserin Margarita Teresia einen lang ersehnten Thronfolger zur Welt brachte, beschloß die Obrigkeit, nicht nur ein Dankfest abzuhalten, sondern das freudig aufgenommene Ereignis auch darüber hinaus im Rahmen eines theatralen Spektakels zu feiern. Hierzu beauftragte man den Stadtmusikus Jacob Lang, der zu Ehren des Erbprinzen eine Art Festspiel mit Ballett- und Gesangspartien ausarbeitete und mit Söhnen aus den vornehmen Nürnberger Familien der obersten zwei Stände einstudierte. Für die aufwendige Ausstattung dieser Aufführung war man bereit, tief in die Tasche zu greifen. Denn die verwendeten Kostüme, Dekorationen und die eingesetzte Theatermaschinerie, zu der etwa auf Wolkenwagen fahrende Allegorien der vier Erdteile zählten, dürften beachtliche Summen verschlungen haben. Nicht zuletzt erhielt Jacob Lang als Verfasser und Spielleiter des Spektakels eine »Verehrung« in Höhe eines Monatsgehalts. 140
Kostspielige Oper und Kastratenkunst Materielle Unterstützung in nicht unbedeutender Höhe erfuhren neben dem Schuldrama auch die Opernbestrebungen aus dem Kreis der vornehmen und vermögenden Großkaufleute sowie der Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens: Auf Antrag von Johann Löhner sicherte der Rat ihnen etwa Ende 139 140
Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 4. Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 4.
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November 1686 offizielle Hilfe bei der Durchführung der geplanten Oper Der Gerechte Zaleucus zu, indem er beschloß, das Nachtkomödienhaus durch den Baumeister für die Inszenierung entsprechend herrichten zu lassen.141 Zehn Jahre später, als nach einer längeren, durch äußere politische Umstände bedingten Spielpause aus dem Kreis der Handelsleute versucht wurde, an die zurückliegenden Theaterbestrebungen wieder anzuknüpfen, und diese zusammen mit in der Stadt ansässigen Musikern beachtliche Opernprojekte ins Leben riefen, konnte man sich zumindest anfänglich wieder der obrigkeitlichen Unterstützung gewiß sein. Wie schon zuvor wies diesmal der Rat den Baumeister an, bei der Ausgestaltung des Theaters anläßlich der zum Osterfest 1696 geplanten Oper Die Eroberung Jericho den Kaufleuten behilflich zu sein und das Theater entsprechend auszustatten. Außerdem unterstützte man mit beträchtlichen finanziellen Mitteln die Pläne, für das bessere Gelingen der Oper einen jungen Kastraten in die Stadt zu holen und dessen Gesang von einem Musiklehrer noch verfeinern zu lassen. Auch wenn vom Rat bei den Opernprojekten aus dem Kreis der Handelsleute und der >Pegnitzschäfer< nach Lage der Quellen keine direkte Auftragsvergabe ausging, sondern die Initiative bei dem Kreis um die musik- und theaterinteressierten Großkaufleute lag, so trat die Obrigkeit in vielfacher Weise als Förderer in Erscheinung und übernahm organisatorische Aufgaben. Daß diese Veranstaltungen oftmals mit bestimmten Anlässen wie kaiserlichen Namenstagen und Jubiläen verbunden waren sowie neben großen Teilen des Rats auch adlige und hohe fürstliche Personen anwesend waren, rückt die Opernaufführungen in die Nähe von offizieller Repräsentationskunst. Ihren positiven Effekt auf das Renommee der Stadt hat der Rat sicherlich begrüßt und nicht zuletzt gezielt eingesetzt und gefördert, wie es die finanziellen Zuwendungen zum Ausdruck bringen.142 Resümee Überblickt man die bisherigen Ergebnisse, dann dürfte deutlich geworden sein, daß aus der Sicht des Nürnberger Rats die Bereiche Theater und Schauspiel als wichtige funktionale Elemente im Prozeß der obrigkeitlichen Disziplinierung der Untertanen sowie als nützliche Instrumente zur Stabilisierung der geltenden Normen und Gesellschaftsordnung und damit letztendlich zur Sicherung der obrigkeitlichen Herrschaft fungierten und zugleich bewußt im Sinne einer repräsentativen Selbstdarstellung der Stadt und des eigenen Regiments eingesetzt wurden. Man wird demnach nicht mehr davon sprechen können, daß der Rat »willkürlich« in Sachen Schauspiel- und Theaterwesen 141 142
Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 5.4.1.a. Siehe zu diesem gesamten Komplex ausführlich und mit zahlreichen Beispielen Teil B, Kap. 5.4.
90 verfuhr. Denn es lassen sich klare Tendenzen erkennen, die er bei seinen Entschlüssen verfolgte: Sie zeigen den Rat zunächst als eine regulierend und zensierend eingreifende Ordnungsmacht, die bestrebt war, ihren geltend gemachten Hoheitsanspruch in diesem Bereich durchzusetzen und sowohl gegenüber Verstößen als auch geäußerter Kritik zu verteidigen. Daß es dabei durchaus zu Konflikten kommen konnte, zeigen die Übertretungen der ausgesprochenen Aufführungsverbote.143 Darüber hinaus erscheint der Rat aber insbesondere als Förderer von Theateraktivitäten, der sowohl qualitative Maßstäbe bei der Beurteilung der Gesuche anwandte als auch sich der Bedeutung des Schauspiels als Repräsentationskunst und Medium mit hohem kommunikativem Potential bewußt war. Diese Haltung des Rats zur Theaterkunst korrespondiert nicht nur mit der vielfach belegten Förderung der reichsstädtischen Musikkultur (siehe hierzu das folgende Kapitel), sondern auch mit dem »unbeugsamen Willen zu eigener kultureller Repräsentation«, wie ihn Andreas Kraus in der Aufrechterhaltung der Universität Nürnbergs bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit ausgemacht hat.144 Die bislang vorherrschende Sehweise, daß »der alternden Republik ein Barocktheater versagt« blieb, da die »Struktur der Reichsstadt [...] keine theatralische Selbstdarstellung im Sinne des Barock«145 erlaubte, muß deshalb korrigiert werden. Dies soll anhand eines paradigmatischen Aufrisses in Teil Β der Arbeit mit konkreten historischen Fallbeispielen belegt werden, mit denen zugleich der Versuch unternommen wird, die bislang nach wie vor vorherrschende Vorstellung zu relativieren, Theater und Schauspiel seien im 17. Jahrhundert eine vornehmlich an Höfen praktizierte Kunstform gewesen.
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Diese Konflikte können sicherlich im größeren Zusammenhang mit den grundsätzlichen Spannungen zwischen Magistrat und Bürgerschaft um die von den Räten beanspruchte alleinige Obrigkeit gesehen werden. Vgl. allgemein hierzu Hildebrandt: Rat contra Bürgerschaft, S. 221ff., und Gerteis: Städte in der Frühen Neuzeit, S. 81ff. Andreas Kraus: Bürgerlicher Geist und Wissenschaft. Wissenschaftliches Leben im Zeitalter des Barock und der Aufklärung in Augsburg, Regensburg und Nürnberg. In: Archiv für Kulturgeschichte 49 (1967), S. 340-390, hier S. 353. In diesem Sinne auch Endres: Nürnberg in der Frühneuzeit, bes. S. 164f. Kertz: Barocktheater, S. 340.
3. Musikkultur im Nürnberg des 17. Jahrhunderts Als sich der Altdorfer Professor Johann Christoph Wagenseil in seinem Kommentar zur Stadt Nürnberg 1697 anschickte, eine Bilanz aller Leistungen seiner Heimatstadt zu ziehen, stellte der zu seiner Zeit »durch ganz Europa berühmte Polyhistor«1 fest, daß kein Nürnberger der Musik unkundig sei, ein jeder lerne sie noch vor dem ABC.2 Dieses Urteil des universal gebildeten und an der Musik interessierten Gelehrten mag zwar der Anschaulichkeit halber durchaus übertrieben gewesen sein und nicht ganz der Realität entsprochen haben, doch es kann wohl ohne Zweifel als ein Reflex auf die das gesamte 17. Jahrhundert hindurch andauernde Blüte des musikalischen Lebens in der Reichsstadt gelten, das bereits unter den Zeitgenossen einen großen Ruf genoß. Dies zeigt sich unter anderem darin, daß angesehene Musiker und Komponisten von auswärts dem Rat der Stadt ihre Werke widmeten, so etwa der in fürstlichen Diensten stehende Michael Praetorius, der 1619 den dritten Band seines berühmten Syntagma musicum den Ratsherren Nürnbergs in der Hoffnung auf Wohlgefallen dedizierte, da die im heiligen Römischen Reich vnnd gantz Europa hochberühmte vnd Edle Stadt Nürmbergk [...] vornemlich / was Musicam anlanget / dieselbe vnd deroselben Cultores jederzeit veneriret, vnd hochgehalten / wie solches darauß zu ersehen / daß sie nicht allein den vberaus vortrefflichen Musicum Orlandum de Lasso [...] so wol auch hernacher andre vortreffliche Musicos sehr gebliebet vnd geehret / sondern auch in deroselben Stadt zu jederzeit vortreffliche Musici entstanden.3
Diese reichhaltige Musikkultur wird zumeist mit den Namen von bedeutenden, in der Stadt wirkenden Komponisten verbunden: so etwa zu Beginn des Jahrhunderts Leonhard Lechner (1553-1606) und Hans Leo Häßler (15641612), mit deren Werken in Nürnberg die musikalischen Neuerungen aus Italien, wie die Madrigalkunst mit ihrer starken Ausdrucksgestaltung und gesanglichen Tonmalerei, Einzug hielten, und am Ende des Jahrhunderts Jo-
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NGL 4 (1758), S. 144. Vgl. Ernst Mummenhoff: Musikpflege und Musikaufführungen im alten Nürnberg. In: Festführer für das dritte Bayerische Musikfest zu Nürnberg 7. bis 9. Juni 1908. Nürnberg 1908, S. 7. Michael Praetorius: Syntagma musicum. Band III. Termini musici. Hg. v. Wilibald Gurlitt. Kassel, Basel u.a. 1958 (Faksimile-Ndr. der Ausgabe Wolfenbüttel 1619) (Documenta Musicologica, Erste Reihe, Bd. 15), fol.):( 3 V - ):(4 r (Widmungsvorrede).
92 hann Pachelbel (1653-1706), dem »führenden Repräsentanten des fränkisch-mitteldeutschen Musikbarock«.4 Zwischen diesen wirkte eine Reihe weiterer, ebenfalls weit über die Mauern der Stadt hinaus bekannter Komponisten und Musiker, darunter etwa Johann und Sigmund Theophil Staden, Johann Erasmus Kindermann, Paul Hainlein, Johann Löhner, Heinrich Schwemmer und Georg Caspar Wecker, um nur die wichtigsten zu nennen. Ihr Schaffen war geprägt »durch die Kontinuität einer in Deutschland wohl einzigartigen [...] bis an das Ende der Barockzeit reichenden Lehrer-SchülerTradition, so daß man nicht zu Unrecht von einer Nürnberger Schule gesprochen hat«, wie Franz Krautwurst feststellte.5 Diese »Nürnberger Schule« brachte eine ungemein reiche Musikkultur hervor, die in ihren vielfältigen Ausprägungen hier nicht einmal andeutungsweise skizziert werden kann. Angesichts der mannigfachen Verbindungen und Zusammenarbeit zwischen Musikern und Dichtern auf institutioneller, personeller und inhaltlicher Ebene erscheint jedoch die Hervorhebung wenigstens einiger wichtiger Aspekte des musikalischen Lebens in Nürnberg unerläßlich. Dies gilt um so mehr, als im 17. Jahrhundert aufgrund des erheblichen Einsatzes musikalischer Formen in der zeitgenössischen Bühnen- und Aufführungspraxis kaum zwischen Musiktheater einerseits und reinem Sprechtheater andererseits unterschieden werden kann. Von daher hat man in jüngerer Zeit Zweifel angemeldet, »ob es letzteres in der Barockzeit gegeben hat«.6 Vielmehr wird man im Barocktheater von einer gleitenden Skala auszugehen haben, die von der durchkomponierten Oper über Schauspiele mit Instrumentalmusik und eingestreuten Arien- und Rezitativpartien bis hin zu überwiegend gesprochenen Stücken mit nur gelegentlichen Musik- und Liedeinlagen reicht und die viele Zwischenformen gekannt haben dürfte. 7 So 4
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Franz Krautwurst: Johann Pachelbel (1653-1706). In: Fränkische Lebensbilder N. F. 16 (1986), S. 123-141, hier S. 139. Franz Krautwurst: Musik in der 2. Hälfte des 16. und des 17. Jahrhunderts. In: Pfeiffer (Hg.): Nürnberg, S. 287-291, hier S. 290. Zur Musikgeschichte Nürnbergs im 17. Jahrhundert siehe die für das Folgende herangezogenen Überblicke von Franz Krautwurst: Nürnberg. In: MGG 9 (1961), Sp. 1745-1762, bes. Sp. 1752-1757; Röder: Nürnberg, Sp. 498-508; Max Seiffert: Einleitung. In: Nürnberger Meister der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Geistliche Konzerte und Kirchenkantaten. Hg. v. ders. Leipzig 1905 (Denkmäler der Tonkunst in Bayern, VI/1), S. I X - X X X V I ; Heinz Zirnbauer: Musik in der alten Reichsstadt Nürnberg. Ikonographie zur Nürnberger Musikgeschichte. Nürnberg [1966] (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg. Bd. 9), bes. S. 3 7 - 6 7 , sowie Samuel: Cantata, bes. S. 3 - 7 0 u. 261-296. Bernhard Jahn: L'Adelaide und L'Heraclio in Venedig, Breslau und Hamburg. Transformationen zweier Bühnenwerke im Spannungsverhältnis zwischen Musikund Sprechtheater. In: DVjs 68 (1994), S. 650-694, hier S. 653. Vgl. ebd., S. 651-653. Siehe dazu jetzt auch den grundlegenden Abschnitt »Musiktheater und Sprechtheater« bei Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung. 2 Bde. Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 149 u. 150), Bd. 1, S. 2 9 - 3 3 , dessen für das 18. Jahrhundert getroffene Feststellung sich
93 spielten Musik und Gesang im Theater der Wanderbühnen eine ebenso große Rolle wie etwa beim Schultheater, wobei im Fall von Nürnberg gerade bei letzterem mit Organisten, Stadtkapellmeistern und Stadtpfeifern zentrale musikalische Institutionen bei zahlreichen Aufführungen beteiligt waren. Musik an den Kirchen und Schulen Das Zentrum der Musik lag in Nürnberg bei den Kirchen. Dort wirkten die Organisten als »Hauptträger des musikalischen Lebens«.8 Der historisch bedingten Hierarchie unter den Kirchen zufolge stand abgesehen von den Vorstadtkirchen und kleineren Pfarreien (St. Jakob, St. Martha etc.) an unterster Stelle die Frauenkirche, es folgten Heilig Geist, St. Egidien, dann die beiden großen Pfarrkirchen: St. Lorenz sowie an vorderster Stelle St. Sebald. Viele dieser Kirchen verfügten schon sehr früh über Orgeln, die mit der Zeit prächtig ausgebaut wurden und großen Ruhm erlangten, so daß man von Nürnberg als der Heimat des deutschen Orgelspiels gesprochen hat.9 Doch der Orgelbau ist nur Teil eines seit dem 15. Jahrhundert in der Reichsstadt ansässigen blühenden Handwerks des Instrumentenbaus. Denn neben der Fertigung von Holzblasinstrumenten war Nürnberg berühmt für seinen Trompeten- und Posaunenbau, der noch im 17. und bis ins 18. Jahrhundert hinein seine europäische Spitzenstellung halten konnte. 10 Von sich reden machten auch die Lauten-, Geigen- und Violenbauer, deren Wirken in der Reichsstadt dafür sorgte, daß Nürnberger Streichinstrumente weit über die Stadtgrenzen hinaus gefragt waren.11 Diesem aufstrebenden Instrumentenbau entsprach ein nicht weniger bedeutsamer (insbesondere aus dem Umfeld der Endterschen Verlegerdynastie betriebener) Musikdruck und -verlag in der Reichsstadt,12 der auch nach dem Dreißigjährigen Krieg
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weitgehend auf das Barocktheater übertragen läßt: »Das deutsche Musiktheater und das deutsche Sprechtheater bilden im 18. Jahrhundert weitgehend eine Einheit - nicht nur im Bereich der Distribution, sondern auch in Produktion und Rezeption sowie in einer gegenseitigen, inhaltlichen wie strukturellen Beeinflussung und Abstoßung« (ebd., S. 29). Krautwurst: Musik in der 2. Hälfte des 16. und des 17. Jahrhunderts, S. 289. Vgl. Samuel: Cantata, S. 4. Vgl. Willi Wörthmüller: Die Nürnberger Trompeten- und Posaunenmacher des 17. und 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des Nürnberger Musikinstrumentenbaus. In: MVGN 45 (1954), S. 208-325, u. 46 (1955), S. 372-480. Vgl. Klaus Martius u. Kathrin Schulze: Ernst Busch und Paul Hiltz. Zwei Nürnberger Lauten- und Violenmacher der Barockzeit. Untersuchungen zum Streichinstrumentenbau in Nürnberg. In: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1991, S. 145-183. Vgl. Theodor Wohnhaas: Zum Nürnberger Musikdruck und Musikverlag im 16. und 17. Jahrhundert. In: Gutenberg Jb. 48 (1973), S. 337-343, sowie ders.: Die Endter in Nürnberg als Musikdrucker und Musikverleger. Eine Übersicht. In: Quellenstudien zur Musik. Wolfgang Schmieder zum 70. Geburtstag. Hg. v. Kurt Dorfmüller. Frankfurt, London, New York 1972, S. 197-204.
94 ein unvermindert breites Angebot an Musikalien hervorbrachte und im 17. Jahrhundert zur »Blütezeit des Nürnberger Gesangbuchs«13 beitrug. An fast alle größeren Kirchen in Nürnberg waren Lateinschulen angegliedert, die schon seit dem 14. Jahrhundert über einen Schülerchor verfügten.14 Diesem oblag es, jeweils unter Leitung eines musikalisch gebildeten Lehrers, der zugleich die Funktion des Kantors ausübte, den kirchlichen Chordienst zu verrichten, wozu etwa an der Lateinschule von St. Lorenz »neben den Gottesdiensten und Hochzeiten auch das Friedhofssingen bei Beerdigungen gehörte«.15 Dadurch übernahmen die Schulchöre verantwortungsvolle Aufgaben bei der offiziellen Musikausübung in der Reichsstadt und stellten somit einen bedeutsamen Faktor innerhalb der Musikkultur Nürnbergs dar. Es verwundert von daher nicht, daß der Musik im Unterricht der Lateinschulen ein großer Raum zugestanden wurde.16 Ihr war insbesondere seit dem beginnenden 16. Jahrhundert unter dem Einfluß humanistischer Ideen eine tragende Bedeutung im Erziehungs- und Bildungssystem zuteil geworden. Dabei dürfte neben Martin Luther vor allem Philipp Melanchthon eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben, dessen Auffassung von der Musik als einer Predigerin des Wortes mit hohem pädagogischem und theologischem Wert zu einer »festen Verankerung der Musik in der evangelischen Kirche und Schule«17 beitrug. In Nürnberg traten unter anderem mit Johann Cochlaeus und Sebald Heyden früh Schulmänner hervor, die diese Ideen umsetzten und selbst als Musiker und Musiktheoretiker wirkten und dabei wichtige Elementarlehrbücher für den Musikunterricht an Schulen verfassten.18 Bis ins 17. Jahrhundert hinein fanden sich immer wieder Schullehrer, die der Musik mit eigenem Schaffen stark verbunden waren, wie etwa Heinrich Schwemmer, der sowohl an der Sebalder als auch der Lorenzer Lateinschule 13
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Wohnhaas: Zum Nürnberger Musikdruck, S. 341. Siehe hierzu auch die grundlegende Studie von Dieter Wölfel: Nürnberger Gesangbuchgeschichte (1524-1791). Nürnberg 1971 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 5). Vgl. Franz Krautwurst: Musik des 15. und der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: Pfeiffer (Hg.): Nürnberg, S. 212. Hermann Harrassowitz: Geschichte der Kirchenmusik an St. Lorenz in Nürnberg. 2., erweiterte Aufl. Nürnberg 1987 ('1973), S. 131. Nach Harrassowitz ist der Kantorendienst, zu dem der Rat nur befähigte Männer berief, »wohl flexibel gehandhabt und von zwei Lehrern im Wechsel versehen worden« (ebd., S. 133). Siehe dazu auch ausführlich Teil B, Kap. 2.1.2. Klaus Hofmann: Philipp Melanchthons Musikauffassung und musikgeschichtliche Bedeutung. In: Brettener Jb. für Kultur und Geschichte 3 (1964/65), 99-106, hier S. 103. So etwa Sebald Heydens erfolgreiche Ausgaben seiner »Ars canendi«, einer »der besten Schulmusik-Leitfäden seiner Zeit« (Zirnbauer: Musik in der alten Reichsstadt, S. 18), oder das in deutscher Sprache abgefaßte Lehrbuch »Musica Teutsch« von dem Sebalder Kantor Ambrosius Wilfflingseder, das zuerst 1561 in Nürnberg erschien und bis 1585 bereits fünf Auflagen erlebte. Siehe hierzu Krautwurst: Musik des 15. und der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts, S. 216ff.
95 als Lehrer tätig war. Auch die Tradition erfolgreicher Musiklehrbücher setzte sich in Nürnberg weiter fort: 1636 veröffentlichte der damalige Lorenzer Organist Sigmund Theophil Staden sein Rudimentum Unterweisung
des Singens für die liebe Jugend,
musicum
/ das ist
Kurtze
das bis 1663 vier Auflagen
erlebte. 1 9 D a ß Staden ein derartiges Lehrbuch verfaßte, läßt vermuten, daß er möglicherweise an einer der Lateinschulen Singunterricht gab, obgleich über eine solche Tätigkeit nichts bekannt ist. 20 Immerhin deutet dies an, daß von den vielen bedeutenden Musikern aus, die als Organisten oder Kapellmeister an Nürnberger Kirchen angestellt waren, eine enge Verbindung zu den an die Kirchen angeschlossenen Schulen bestand. 2 1 Zur gleichen Zeit wie Sigmund Theophil Staden wirkte in der Reichsstadt Johann Andreas Herbst. 2 2 D e r gebürtige Nürnberger war unter anderem von 1636 bis 1644 in seiner Heimatstadt als städtischer Kapellmeister bzw. »Direktor chori musici« an der Frauenkirche tätig (zu diesem A m t siehe unten). In dieser Zeit entstanden seine zwei wichtigsten theoretischen Werke, so 1642 das Sing-Lehrbuch Musica practica,
das sich im Titel deutlich für den
Gebrauch im Musikunterricht an Schulen empfiehlt. 2 3 D i e s e Einführung in 19
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Vgl. Samuel: Cantata, S. 65, sowie Hans Druener: Sigmund Theophil Staden 16071655. Ein Beitrag zur Erforschung von Leben und Werk. Diss, (ms.) Bonn 1946, S. 26-34. Vgl. Samuel: Cantata, S. 65 Anm. 482. Siehe hierzu auch Teil B, Kap. 2.1.2. Zur Biographie und den Werken von Johann Andreas Herbst siehe die Überblicke bei Wilhelm Stauder: Herbst (Autumnus), Johann Andreas. In: M G G 6 (1957), Sp. 197-203, und Samuel: Cantata, S. 19-30. Johann Andreas Herbst: Musica practica sive instructio pro Symphoniacis, Das ist eine kurtze Anleitung zum Singen / wie die Knaben und andere / so sonderbare Lust und Liebe zum Singen tragen / auff jetzig Italienische Manier, mit geringer Müh und in kurtzer Zeit / können informiret und unterrichtet werden / des gleichen denen anfahenden Instrumentalisten auff allerhand Musicalischen Instrumenten sehr nützlich und dienlich zu gebrauchen / Alles auss den fürnehmbsten und dieser Zeit bewährtesten Italienischen Authoribus mit besonderem Fleiss zusammen getragen. Nürnberg 1642. Zur »Musica practica« siehe allgemein die Arbeit von Albert Allerup: Die »Musica Practica« des Johann Andreas Herbst und ihre entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Schulmusik. Kassel 1931 (Münsterische Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 1). Nach Allerup ist die »Musica practica« zwar in den Schulen verwendet worden, jedoch sei sie ein »Speziallehrbuch der italienisch-manierierten Kunst, das [...] niemals in der Bestimmung für den Schulunterricht abgefaßt ist« (ebd., S. 20). Gegen diese Auffassung spricht m.E. nicht nur die klare Funktionsbestimmung im Titel der Schrift, sondern auch der dreistufige, an der Rhetorik orientierte Aufbau des Lehrbuchs, der sich in die Abschnitte »Natura«, »Doctrina« und »Exercitatio« aufteilt, wobei der »Exercitatio« der größte Raum gewidmet wird. Hinzu kommt, daß Herbst dem Lehrbuch einen Appendix hinzufügt, der die wichtigsten »Termini Musici« enthält. Diese Merkmale auf der Strukturebene korrespondieren mit dem, was Wilhelm Stauder: Herbst, Sp. 202, für die Art und Weise der Vermittlung des Inhalts festgestellt hat: Demnach erweist sich Herbst »in seinen Schriften als ein erfahrener Praktiker und Pädagoge, der den Stoff in geschickter Weise darzustellen und zu lehren versteht«.
96 die neue Manier der italienischen Singkunst erlebte bis 1658 drei Auflagen und war als Modell für spätere Werke »von größter entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung«. 24 Ihr folgte nur ein Jahr später 1643 Herbsts Musica Poetica, das erste deutschsprachige Kompendium der Kompositionslehre. Wie schon die Musica Practica erreichte es ebenfalls eine große Wirkung und war bis etwa 1700 im allgemeinen Gebrauch. 25 Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Lehrbücher Stadens und Herbsts an den Nürnberger Schulen im Musikunterricht benutzt worden sein. Angesichts dessen und der vielen verantwortungsvollen Aufgaben, die den Schulchören bei der offiziellen Musikausübung übertragen worden sind, wird man durchaus von einem hohen Niveau des Musikunterrichts und der aus ihm hervorgegangenen Singkunst der Schulchöre ausgehen können 26 was nicht zuletzt für eine hohe Qualität der vielfach verwendeten Musik- und Gesangseinlagen bei den verschiedenen Theateraufführungen der Schulen spricht. 27 Kapellmeister und Stadtpfeifer Eine Ausnahme unter Nürnbergs Kirchen bildete die Frauenkirche, an der keine Kommunion gehalten wurde und die nicht über eine angeschlossene Lateinschule und damit auch über keinen eigenen Schulchor verfügte. Musik und Chordienst wurden hier zunächst von einem vom Rat unterstützten »Collegium musicum« versehen, bestehend aus Organisten anderer Kirchen, den von der Stadt als Stadtpfeifern beschäftigten Instrumentalisten sowie den besten Sängern aus allen Schulchören. Seit wann diese Praxis bestand, ist nicht genau geklärt, obgleich sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit dem Wirken Hans Leo Häßlers an der Frauenkirche offenbar erstmals festere Konturen annahm und bereits als wichtiger Bestandteil des musikalischen Lebens der Stadt fungierte. 28 Häßler war im August 1601 von Augsburg aus nach Nürnberg als »Oberster Musiker« der Stadt bzw. »Archimusicus« berufen worden. Zu diesem Amt gehörte unter anderem die Anleitung und Direktion über die Stadtpfeifer sowie vor allem »die Oberaufsicht über das gesamte städtische Musikwesen und die Begutachtung von Musikalien«. 29 Möglicherweise ging von Häßler im Rahmen dieser Tätigkeiten der Anstoß für die Weiterentwicklung des »Collegium musicum« an der Frauenkirche aus, wie sie dann sein Schüler Christoph Buel, Ratsregistrator und Sachver24 25 26 27 28 29
Allerup: Musica Practica, S. 1. Vgl. Samuel: Cantata, S. 29. Vgl. auch Harrassowitz: Kirchenmusik an St. Lorenz, S. 132. Zur Bedeutung musikalischer Formen im Schultheater siehe auch Teil B, Kap. 2.1.2. Vgl. Samuel: Cantata, S. 9. Franz Krautwurst: Hans Leo Hassler (1564-1612). In: Fränkische Lebensbilder N. F. 11 (1984), S. 140-162, hier S. 154.
97 ständiger des Rats für Musikangelegenheiten, vorantrieb. 30 Unter ihm erfolgte um 1610 der Ausbau des zuvor nur lose zusammengesetzten und private Züge tragenden »Collegium musicum« zum »sogenannten Musikchor auf der Frauenkirche, der eigentlichen Stadtkapelle und Stadtkantorei«. 31 An Instrumenten umfaßte die Stadtkapelle neben Violine, Fagott und Posaune auch Flöte, Trommel sowie Horn und stellt sich somit als ein »well balanced little orchestra« 32 dar. Dieser wichtigen Institution im Musikleben Nürnbergs gehörten neben zwei Organisten, bezahlten Sängern und ausgewählten Schülern vor allem die besoldeten Stadtmusiker an, die als festbesoldete Stadtpfeifer bereits seit dem Mittelalter nachweisbar sind. 33 Ihre Zahl sollte im 17. Jahrhundert auf zeitweise bis zu 16 ansteigen, darunter sechs Musiker mit voller Bezahlung sowie bis zu zehn »Expektanten«, die ein geringeres »Wartgeld« erhielten. Unter ihren Mitgliedern finden sich im 17. Jahrhundert einige exzellente Musiker, wie etwa das Beispiel des angesehenen und von den Zeitgenossen hoch geschätzten Gabriel Schütz belegt. 34 Und in der Regel war der Stadtmusikus »ein instrumentaler Alleskönner, der sowohl Blas-, als auch Streich-, Zupfund Tatsteninstrumente zu spielen vermochte«. 35 Als Stadtkapelle waren die in den Nürnberger Stadtfarben gekleideten Stadtpfeifer nicht nur zur Mitwirkung bei der Kirchenmusik verpflichtet und spielten regelmäßig bei offiziellen Anlässen und öffentlichen Festen auf, wie etwa 1575 anläßlich der Eröffnung der Altdorfer Akademie oder bei den vielen Friedens- und Dankfesten im 17. Jahrhundert. Daneben war es allgemein üblich, daß den Stadtmusici das Privileg eingeräumt wurde, bei allen wichtigen privaten Veranstaltungen aufzuwarten, was einen erheblichen Zusatzverdienst darstellte. 36 So verwundert es nicht, daß auch im Bereich des Theaters die Stadtpfeifer als Instrumentalisten und Orchester zum Einsatz kamen. Darüber hinaus ist belegt, daß die reichsstädtischen Stadtpfeifer >auf Tournee gingen< und mehrfach zu Auftritten an fränkischen Höfen herange30
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Zu Christoph Buel siehe Franz Krautwurst: Buel, Christoph. In: MGG 15 Supl. (1973), Sp. 1169-1171. Krautwurst: Musik der 2. Hälfte des 16. und des 17. Jahrhunderts, S. 289. Samuel: Cantata, S. 10. Vgl. Samuel: Cantata, S. 9f., sowie Therese Bruggisser-Lanker: Die Stadtpfeifer von Nürnberg im 16. Jahrhundert. Ikonographische und quellenkritische Hinweise zur Aufführungspraxis. In: Schweizerisches Jb. für Musikwissenschaft N. F. 10 (1990), S. 43-72. Zu den Stadtpfeifern allgemein siehe die guten Überblicke bei Heinrich W. Schwab: Stadtpfeifer. In: MGG 16 Supl. (1979), Sp. 1731-1743; ders.: Der Stadtmusicus als Amtsträger. In: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1993, S. 98-106, sowie Werner Greve: Stadtpfeifer. In: 2 MGG Sachteil 8 (1998), Sp. 1719-1732. Vgl. Johann Gabriel Doppelmayr: Historische Nachricht Von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern [...]. Nürnberg 1730, S. 262f. Greve: Stadtpfeifer, Sp. 1726. Vgl. ebd., Sp. 1719-22.
98 zogen wurden.37 Angesichts der vielfältigen Aufgaben hat man zu Recht betont, daß die Stadtmusici in Nürnberg »als massgebliche Träger des öffentlichen Musiklebens anzusehen sind«.38 Die Leitung über die Stadtpfeifer oblag dem »Director chori musici« oder auch Stadtkapellmeister, der »alß ein general Capellenmeister daß directorium Vniversale über die Music in allen Kirchen und sonsten alhier haben« solle, wie es 1632 in der Aufgabenbestimmung für Buels Nachfolger Matthias Nicolai heißt. 39 Im Laufe des 17. Jahrhunderts bekleideten zum Teil angesehene Musiker das Amt des Stadtkapellmeisters: so etwa Johann Andreas Herbst (von 1636 bis 1644), Georg Walch (bis 1656) und Heinrich Schwemmer (bis 1696), der es zeitweise zusammen mit dem bekannten Paul Hainlein ausübte. Mit dem Stadtkapellmeister und der ihm unterstehenden Stadtkapelle waren wichtige Einrichtungen sowie ein fester institutioneller Rahmen für das musikalische Leben in der Reichsstadt geschaffen worden, die sicherlich als Ausdruck des im vorigen Kapitel bereits angesprochenen »Willen[s] zu eigener kultureller Repräsentation« gesehen werden können. Der Rat und Patrizier als Förderer der Musik Die Schaffung einer fest umrissenen Stadtkapelle verweist auf das Engagement des Rats in musikalischen Angelegenheiten, das eine beachtliche finanzielle Förderung von Musikern und der Musikausbildung einschloß und den Rat auch in diesem Bereich als einen bewußt auftretenden Mäzen zeigt. 40 Zunächst sorgte er dafür, daß den Stadtmusikern stets genügend Instrumente zur Verfügung standen: Ende des 16. Jahrhunderts umfaßte die Musikkammer immerhin rund 90 Instrumente, für deren Instandhaltung und Ergänzung sich im 17. Jahrhundert Hunderte von Rechnungen finden. 41 Dazu gewährte er den Stadtpfeifern zu ihrem Jahresgehalt noch Winterzuschläge, die vor allem während des Dreißigjährigen Krieges deren wirtschaftliche Situation verbessern sollten und mit der Zeit fast zu regulären Zahlungen wurden.42 Darüber hinaus sparte der Rat nicht mit Geldgeschenken als Gegenleistung für ihm dedizierte
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Vgl. Bruggisser-Lanker: Stadtpfeifer, S. 54. Ebd., S. 44. StaatsAN, R V Nr. 2143 vom 22. Dezember 1632, fol. 46 r . E s ist in der lokalen Musikgeschichtsschreibung nicht geklärt, wie sich dieses Amt von dem zuvor gebrauchten Titel und Rang »Archimusicus« eines Hans Leo Häßler genau unterschied. Die Kompetenzen dürften etwa die gleichen gewesen sein. Vgl. hierzu Harrassowitz: Kirchenmusik an St. Lorenz, S. 223. Siehe allgemein hierzu Theodor Wohnhaas: Leistungen der Reichsstadt zur Ratsmusik ( 1 5 5 0 - 1 6 7 0 ) . In: Heinz Zirnbauer: Der Notenbestand der reichsstädtischen nürnbergischen Ratsmusik. Eine bibliographische Rekonstruktion. Nürnberg 1959 (VSBN, Bd. 1), S. 4 3 - 4 8 . Vgl. ebd., S. 43f. Vgl. ebd., S. 47.
99 Kompositionen und versuchte zudem, mit Sonderzuwendungen und Gehaltserhöhungen gute Musiker an die Stadt zu binden. 43 Diese aufgeschlossene Haltung des Nürnberger Rats gegenüber der Musikkunst war im 17. Jahrhundert über die Stadtgrenzen hinaus bekannt, wie die oben erwähnte Widmung von Michael Praetorius verdeutlicht, der die Ratsherren in seiner Vorrede als »Mcecenatibus ac Patronis singularibus artis MuSICAE, ac Musicorum Evergetis« 44 titulierte. Das hier angesprochene Mäzenatentum der Obrigkeit zeigt sich vor allem in der intensiven Förderung des musikalischen Nachwuchses, so etwa bei der Unterstützung der Ausbildung des späteren Organisten an St. Sebald und Stadtkapellmeisters Paul Hainlein, wie sie Heinz Zirnbauer eindrucksvoll beschrieben hat. 45 Demnach erhielt der 17jährige Hainlein ein jährliches Stipendium vom Rat zur Bestreitung seiner beruflichen Fortbildung in München, Wien und Italien. Hierbei spielte vor allem der Einsatz des Ratsherrn Lucas Friedrich Behaim für Hainlein eine große Rolle. Behaim war seit 1625 Mitglied des Inneren Rats und dort als ältester Schul- und Kirchenpfleger gleichzeitig Deputierter für Musik. 46 In dieser Rolle als städtischer »Musik-Herr« setzte er sich besonders für die Nachwuchsförderung ein und versuchte dabei sogar, von auswärts, vor allem aus Böhmen und der Stadt Frankfurt, Talente in die Stadt zu bringen. Er war auch verantwortlich für die Bewertung der an den Rat gerichteten Musik-Dedikationen, wobei er hierfür nicht nur eng mit führenden Musikern der Stadt zusammenarbeitete und deren Rat einholte, sondern auch die bewilligten Vergütungen bisweilen aus eigener Tasche noch erhöhte. 47 Es verwundert nicht, daß Behaim selbst über musikalische Kenntnisse verfügte und als ein ausgesprochener Freund der Musik diese in seinem eigenen Haus pflegte: So ermöglichte er seinen Söhnen durch so bekannte Lehrer wie Johann und Sigmund Theophil Staden eine fundierte Musikerziehung, schaffte sich eine eigene Hausorgel an und veranstaltete wie schon sein Vater Paul Behaim II. verschiedene Hausmusiken, darunter als eines seiner Mitglieder die Zusammenkünfte eines Musikkranzes. 48 Vielleicht hat Johann Andreas Herbst an diesen Mann gedacht, als er in der Vorrede der 1653 erschienenen und dem Nürnberger Rat gewidmeten Auflage seiner Musica practica das Urteil des Altdorfer Professors Philippus Scherbius zitierte: »Senatores Norinbergenses sunt boni Musici«.49 43 44 45
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Vgl. Seiffert: Nürnberger Meister, S. X. Praetorius: Syntagma musicum, fol.):(2 r (Widmungsvorrede). Vgl. Heinz Zirnbauer: Lucas Friedrich Behaim, der Nürnberger Musikherr des Frühbarock. Neue Dokumente zur städtischen und privaten Musikpflege in Nürnberg zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. In: MVGN 50 (1960), S. 330-351, bes. 331-339. Vgl. ebd., S. 330 Anm. 1. Vgl. ebd., S. 350f. Vgl. ebd., S. 339-349. Zitiert nach Samuel: Cantata, S. 6 Anm. 18.
100 Musikgesellschaften Das Beispiel Lucas Friedrich Behaims macht bereits deutlich, daß es neben den institutionell verankerten Musikeinrichtungen auch eine intensive private Musikpflege gab, insbesondere in den Kreisen der Musikgesellschaften, der sogenannten Musikkränzlein. 50 Ihre Tradition reicht in Nürnberg weit ins 16. Jahrhundert zurück, wobei humanistische Sodalitäten aus der Zeit der Reformation, die in der Reichsstadt schon seit 1526 nachzuweisen sind, als die direkten Vorbilder der Musikgesellschaften angesehen werden. 51 Um die Mitte des 16. Jahrhunderts bestand unter dem Namen »Constantia St. Johannis« zudem eine musikalische Gesellenvereinigung, die das Singen und das Lautenspiel pflegte. Doch die erste historisch genauer greifbare Musikgesellschaft gründete sich in Nürnberg Ende Oktober 1568 im Hause des Patriziers Nicolaus Nützel als eine Vereinigung zur privaten Musikpflege im geschlossenen Kreis, »zu dem vornehmlich beamtete Humanisten, Geistliche, Schulmänner, Ärzte und Rechtsgelehrte gehörten«. 52 Sie umfaßte 13 Gründungsmitglieder, die sich in der »Musikalischen Krentzleinsgesellschafft Ordnung« eine gemeinsame Satzung gaben, welche sowohl die Ziele als auch die Musikauffassung der Gesellschaft darlegte. 53 Demnach sei die »hochlöblich Kunst Musica« eine »schön und herrlich gäbe Gottes«, die »mit Jrem lieblichen Lauth das menschlich Leben ergetzt und mit einem Christlichem andechtigem Text der Seelen nicht undienstlich ist«.54 Außerdem regelte die Ordnung in 17 Punkten vor allem die Zusammensetzung und genauen Abläufe der Zusammenkünfte, darunter finden sich Bestimmungen zu den gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten oder den fälligen Strafgeldern bei Übertretung einer der Richtlinien. Diese Gesellschaft bestand bis etwa 1585, als in Nürnberg mit der Pest das große Sterben begann, dem 5.400 Menschen in der Stadt zum Opfer fielen.
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Für Nürnberg und die Zeit bis etwa 1600 immer noch grundlegend: Uwe Martin: Die Nürnberger Musikgesellschaften. In: MVGN 49 (1959), S. 185-225. Siehe auch allgemein Werner Braun: Die Musik des 17. Jahrhunderts. Wiesbaden 1981 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 4), S. 3 9 - 4 4 ; Gerhard Pinthus: Das Konzertleben in Deutschland. Ein Abriss seiner Entwicklung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Leipzig, Strassburg, Zürich 1932 (Sammlung musikwissenschaftlicher Abhandlungen, Bd. 8), bes. S. 14-53, sowie Kurt Gudewill: Collegium musicum. In: MGG 2 (1952), Sp. 1554-1562, und Emil Platen: Collegium musicum. In: 2 MGG Sachteil 2 (1995), Sp. 944-951. Vgl. Martin: Nürnberger Musikgesellschaften, S. 194£, und Harrassowitz: Kirchenmusik an St. Lorenz, S. 187. Martin: Nürnberger Musikgesellschaften, S. 200. Die handschriftliche Satzung ist noch erhalten in der Sächsischen Landesbibliothek und wird von Martin: Nürnberger Musikgesellschaften, S. 188-194, im vollständigen Wortlaut und mit der Namensliste der Mitglieder wiedergegeben. Vorrede der Satzung, fol. 3r, zitiert nach dem vollständigen Abdruck der Satzung bei ebd., S. 189.
101 Gab es bereits Vorläufer der Musikgesellschaft von 1568, so war sie zu ihrer Zeit nicht die einzige Vereinigung dieser Art in der Stadt: So ist etwa seit 1572 ein »Musikkränzchen« von fast ausschließlich führenden Ratsmitgliedern und Patriziern belegt. 55 Dieser Gesellschaft widmete neben Ivo de Vento auch dessen Schüler Leonhard Lechner verschiedene Werke. Durch eine weitere Dedikation Lechners ist noch eine dritte Vereinigung bekannt, die ihrzufolge spätestens seit 1577 als eine »Erbare Musicalische Gesellschaft und Zusammenkunft« existierte und von sieben jungen Patriziersöhnen ins Leben gerufen worden war. 56 Somit bestanden in Nürnberg im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts mindestens drei Musikgesellschaften nebeneinander. Schon allein aufgrund verschiedener verwandtschaftlicher Beziehungen, des gemeinsamen Ziels der Musikpflege und des humanistischen Bildungshintergrunds ist es wahrscheinlich, daß »zahlreiche Verbindungen und Beziehungen zwischen den Mitgliedern der drei Kränzchen« 57 vorhanden waren. Zwar lösten sich alle drei Gesellschaften offensichtlich im Pestjahr 1585 auf, doch bedeutete dies keineswegs das Ende musikalischer Vereinigungen in Nürnberg. Bereits im November 1588 wurde der Musikkranz der jungen Patriziersöhne von Georg Volckamer neu gegründet. Mit einigen Unterbrechungen hatte diese Vereinigung bis 1629 Bestand, wobei sie weitgehend die früheren Ordnungen und Gepflogenheiten beibehielt. 58 Allerdings wirkten hier nun erstmals Berufsmusiker mit, die gegen Entgeld bei den jeweiligen Versammlungen des Musikkranzes aufspielten, darunter beispielsweise Sigmund Theophil Staden. 59 Diese Entwicklung zu einer Öffnung der Musikgesellschaften nach außen setzte sich bei dem im Juni 1639 neu ins Leben gerufenen Musikkranz fort. 60 Nach der erhaltenen Satzung sollten zwar nur zehn, später dann zwölf Mitglieder, »welche der Music kundig«, aufgenommen werden, dafür wollte man jedoch »gute Freunde und Auditores in mäßiger Zahl« 61 zulassen. Während die Musikgesellschaft von 1568 sich noch deutlich als geschlossener Kreis von Mitgliedern versteht, bei dem neben der Musik das gemeinsame Mahl im Vordergrund steht, treten diese Züge zu Beginn des 17. Jahrhunderts und vor allem dann bei der Neugründung von 1639 zurück: Man musiziert nun nicht mehr länger nur unter sich allein, sondern auch unter verstärkter Hinzuziehung und dem Engagement von Berufsmusikern für ei55 56 57 58
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Vgl. Martin: Nürnberger Musikgesellschaften, S. 197ff. Vgl. ebd., S. 200. Ebd., S. 201. Siehe hierzu Willibald Nagel: Die Nürnberger Musikgesellschaft (1588-1629). In: Monatsheft für Musikgeschichte 27 (1895), S. 1 - 1 1 . Vgl. ebd., S. 6, und Pinthus: Konzertleben in Deutschland, S. 24f. Zur Musikgesellschaft von 1639 siehe Seiffert: Nürnberger Meister, S. X V f. Zitiert nach der Wiedergabe der Satzung bei ebd., S. XV.
102 nen bestimmten Kreis von Zuhörern. 62 Hierin spiegelt sich eine allgemeine Entwicklung dieser geselligen Gesellschaftsform wider: An vielen Orten ändert sich im Laufe des 17. Jahrhunderts der Charakter der Musikkränze mehr und mehr vom relativ abgeschlossenen exercitium musizierfreudiger Dilettanten zum >halb-öffentlichen< Liebhaberkonzert und insbesondere in der Zeit um und nach 1700 entwickeln sich die Vereinigungen in Städten wie Hamburg oder Frankfurt am Main sogar zum ausgesprochenen Konzertunternehmen. 63 Seit Max Seiffert setzt man in der Forschung zur Nürnberger Musikgeschichte das Ende der 1639 gegründeten Musikgesellschaft für die Zeit um 1665 an. Danach würden sich nur noch in einigen Werkwidmungen vereinzelt Erwähnungen von musikalischen Vereinigungen finden, wie etwa 1702 die Nachricht von einem »Hochansehnlichen Music-Kranz«. Näheres über deren Zusammensetzung und Wirken sei jedoch nicht bekannt. 64 Aufgrund von Studien zur Theatergeschichte Nürnbergs im 17. Jahrhundert läßt sich allerdings zeigen, daß zwischen 1670 und 1700 nicht nur weiterhin Musikgesellschaften bestanden haben; es läßt sich anhand des insbesondere von vornehmen Kaufleuten und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens gebildeten Musikkranzes auch eine von diesen Vereinigungen näher beschreiben, wobei noch zu zeigen sein wird, daß aus ihrem Umfeld im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts erhebliche Unternehmungen zur Entwicklung eines Musiktheaters in der Stadt hervorgingen, bei denen die Mitglieder dieser Gesellschaft als Finanziers und Veranstalter von prunkvollen Opernaufführungen in Erscheinung traten 65 Eine fruchtbare Verbindung: der Pegnesische Blumenorden und die Musik Neben den verschiedenen Musikgesellschaften gingen auch von dem 1644 in Nürnberg gegründeten Pegnesischen Blumenorden Impulse für das musikalische Leben der Stadt aus. Schon die Panflöte als eines der Sinnbilder der >Pegnitzschäfer< verweist auf die Bedeutung der Musik innerhalb dieser Sprachgesellschaft.66 Sie kommt nicht nur in der Klangmalerei der poeti62
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Dieser Prozeß wird in der Musikgeschichtsschreibung als Übergang vom »Convivium musicum« zum »Collegium musicum« beschrieben, wobei die Reduzierung bzw. das völlige Wegfallen des gemeinsamen Mahls und die Zulassung von Zuhörern als entscheidende Merkmale angesehen werden. Vgl. hierzu Pinthus: Konzertleben, S. 14-53, und Gudewill: Collegium musicum, Sp. 1554-1561. Vgl. Platen: Collegium musicum, Sp. 945 u. 949, sowie Braun: Musik des 17. Jahrhunderts, S. 42-44. Vgl. Seiffert: Nürnberger Meister, S. XVI. In diesem Sinne auch Samuel: Cantata, S. 6f., sowie zuletzt Harrassowitz: Kirchenmusik an St. Lorenz, S. 190. Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 5. Vgl. Jürgensen: Utile cum dulci, S. 20-22. Zur Bedeutung der Musik bei den Pegnitzschäfern sowie insbesondere im Werk von Harsdörffer siehe Eugen Schmitz: Zur musikgeschichtlichen Bedeutung der Harsdörferschen [!] »Frauenzimmerge-
103 sehen Texte, sondern auch in verschiedenen poetologischen Ä u ß e r u n g e n zum Ausdruck, wie etwa in Georg Philipp Harsdörffers und Sigmund von Birkens Bestimmungen der Musik als einer älteren Schwester der Poesie. 6 7 S o stellt Harsdörffer gleich zu Beginn seines Poetischen
Trichters68
bei der
Frage nach d e m Ursprung der Dichtkunst fest: »Kurz davon zu reden / so sind die Poeten vor alters zugleich Naturkündiger / Sittenlehrer und Saitenspieler / oder Musici gewesen«. 6 9 U n d im Prolog von Harsdörffers
Seelewig70
preist die Allegorie der »Music oder Singkunst« die »genaue Verwandtschaft der Music und der Poeterey« 7 1 und verkündet damit zugleich ein poetologisches Programm, das dem Pegnesischen Blumenorden bereits seit seiner Gründung als Richtlinie galt: Hört nun / so euch beliebt / wie schön mit mir vermählet Die edle Reimenkunst / die so verliebt in mich / Daß sie mein Selbstwort heist / von meinem Geist beseelet Mein Spiel / mein Hertz / mein Lieb' / ja mein selbst ander Jch. 72 Gleich zu Beginn seiner Poetik bringt auch Sigmund von Birken das enge Verhältnis zwischen beiden Künsten zur Sprache und meint bei der Frage nach den ersten Poeten: »Es scheinet aber / sie haben eine etwas ältere Schwester / nämlich die Musik oder Singkunst«. 7 3 U n d im weiteren Verlauf der Schrift hebt er mit einer bemerkenswerten Substitution des berühmten
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sprächspiele«. In: Festschrift zum 90. Geburtstage Rochus Freiherrn von Liliencron. Überreicht von Vertretern deutscher Musikwissenschaft. Leipzig 1910, S. 254-277; Mara R. Wade: Music in the works of the early Pegnitzschäfer. In: Daphnis 17 (1988) H. 3, S. 215 - 228, sowie die bislang wenig beachtete Arbeit von Elizabeth Ann Spence: Music as the means to an end. An inquiry into the musical content of the works of Georg Philipp Harsdörffer. Diss, (ms.) Univ. of British Columbia, Canada 1983. Vgl. dazu auch Wade: Music, S. 639-642. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter / Die Teutsche Dicht- und Reimkunst / ohne Behuf der Lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen. Drei Teile in einem Bd. Hildesheim, New York 1971(Reprografischer Ndr. der Ausgabe Nürnberg 1648-1653). Ebd., Erster Teil, S. 1. Georg Philipp Harsdörffer: Das Geistliche Waldgedicht oder Freudenspiel genant Seelewig / Gesangsweis auf Italianische Art gesetzet. In: ders.: Frauenzimmer Gesprächspiele. IV. Teil. Hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968 (Faksimiledruck der Ausgabe Nürnberg 1644) (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock, Bd. 16), S. [76]-[209] u. [533]-[666]. Zur »Seelewig« siehe auch die Ausführungen in Teil A, Kap. 4.2. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Teil IV, S. [89]. Ebd., S. [88]. Die Verwandtschaft zwischen Musik und Dichtkunst zeigt sich etwa auch darin, daß Harsdörffer sich im »Poetischen Trichter« nicht zufällig musikalischer Notationen bediente, um seine Anschauungen zu Verslehre, Metrik und Rhythmus zu veranschaulichen. Vgl. Harsdörffer: Poetischer Trichter, Erster Teil, S. 53-74. Siehe dazu Wade: Music, S. 640. Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst. Hildesheim, New York 1973 (Ndr. der Ausgabe Nürnberg 1679), fol.):( vij r (»Vor-Rede«),
104 Topos über den Zusammenhang von Poesie und Malerei (ut pictura poesis) nochmals hervor: »Die Poeterei / ist eine stumme Musik; und die Musik / ist eine stumme [!] Poeterei«. 74 Wie die Musik ist nach Birken auch die Dichtkunst göttlichen Ursprungs und wird ebenfalls als eine christliche Kunst mit primär geistlich-erbaulichen Zwecken bestimmt, 75 wie schon das Titelkupfer der Poetik eindrucksvoll veranschaulicht, indem es die Allegorien der Andacht (links) und die der Dichtkunst (rechts) gemeinsam zeigt, wobei letzterer eine Lyra als Zeichen für ihre Verwandtschaft mit der Musik beigegeben ist.76 Musik und eigenes Musizieren war zudem Bestandteil geselliger Zusammenkünfte des Blumenordens, wie Sigmund von Birkens Schilderung der Dichterkrönung Johann Geuders im März 1668 in seinem Tagebuch zeigt: Bey H[errn] Pet[er] Metzger cum Ux[ore] Myrtillo u. seinem Weib, Ferrando, Alcidorn, Palaem[on], Damon u. Rosidan bewirtet worden, in seinem Gartenhaus. H[err] Mfagister] Geudern zum Poeten gekrönt, in gegenwart H[errn] Volkamers Sohn und Tochter; wir wurden auf der Kutschen abgeholt; habe den Ferrando, Rosidan u. Damon die Schäferbande, ihme u. den andern iedem 1 Bleystifft, als Schäferstab, cum Charta, ausgeh[ändigt]. Pro Ligulis ego 1 R[eichs] t[a]l[e]r, pro Stäben 6 χ [Kreuzer]. Haben aus einer gläsernen 7rörichten Pfeife, u. einen langen gläsernen Schäferstab getrunken, die Bänder an die Brust hätten lassen, H[err] Melch[ior] Schmied u. P. P[eter] Metzger auf der Laute, Ferrando auf der Viole gespielet, ego mit Fr[au] Magdalide gravida Myrtfilii] Uxfore] Zween Reihen gedanzt [...]. 77
Wie das Beispiel aus Birkens Tagebuch verdeutlicht, waren einige der Mitglieder des Blumenordens selbst der Musik kundig und beherrschten ein oder gar mehrere Instrumente, so etwa der von Birken als Violinspieler erwähnte »Ferrando«, d.i. Johann Ludwig Faber. Der gelehrte Schulmann und gekrönte Dichter war zudem Mitglied in der vornehmlich von Kaufleuten gebildeten »namhafften Kräntzleins=Gesellschafft von sonderbahren Musik= Liebhabern«. 78 Zu diesem Kreis gehörte auch der theater- und opernbegeisterte Kaufmann und Dichter Christoph Adam Negelein, der im Blumenorden den Ordensnamen »Celadon« erhalten hatte. Diese Zusammenhänge verweisen bereits darauf, daß es zwischen der Poetengesellschaft und den Musikgesellschaften enge Verbindungen gab: Während im Pegnesischen Blumenorden die Musik eine besondere Bedeu74 75 76
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Ebd., S. 115. Zu diesem Komplex siehe das folgende Kapitel. Zur Verbindung von Musik und Dichtung bei den >PegnitzschäfernPegnitzschäfer< darstellte: So vertonte unter anderem Paul Hainlein die Christliche Betrachtungen deß glaubenden Himmels von Johann Michael Dilherr, und Johann Löhner schrieb die Musik zu Sigmund von Birkens Todes Gedanken und für Christoph Adam Negeleins Die alte Zions-Harpfe.84 Eines der bedeutendsten Dokumente dieser Zusammenarbeit ist wohl das Nürnbergische Gesangbuch, das der Altdorfer Professor und Prediger Johann Saubert d.J. 1676/77 herausgab. Diese Sammlung umfaßt 160 Lieder von Dichtern aus dem Kreis des Pegnesischen Blumenordens, darunter neben Werken von Klaj, Bornmeister, Ingolstädter und Faber allein 35 Gedichte von Harsdörffer und 24 von Birken. Die Vertonungen stammten unter anderem von Heinrich Schwemmer, Johann Löhner, Paul Hainlein und Georg Caspar Wecker.85
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Vgl. Martin: Musikgesellschaften in Nürnberg, S. 218f. NGL 2 (1756), S. 589. Vgl. ebd. Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 5.1. u. 5.3., Beispiel 1, dort der genaue Beleg für das Zitat. Vgl. Samuel: Cantata, S. 45, der betont hat: »A puzzling characteristic of the Nuremberg School is the attraction of the organists to the song form«. Vgl. Seiffert: Nürnberger Meister, S. XVII; Wade: Music, S. 634f., sowie den Abschnitt »Die Gesangbücher der Pegnitzschäfer« bei Wölfel: Nürnberger Gesangbuchgeschichte, S. 5 4 - 8 3 . Vgl. Wölfel: Nürnberger Gesangbuchgeschichte, S. 7 6 - 8 0 .
106 Etliche Beispiele für eine Gemeinschaftsarbeit von Dichtern und Musikern lassen sich auch im Bereich des Theaters vom Schuldrama bis zur Oper finden: Während Sigmund Theophil Staden die Musik zu einigen von Johann Klajs Redeakten lieferte, komponierten die Stadtkapellmeister Georg Walch und Paul Hainlein die Chorlieder für Sigmund von Birkens Schuldrama Psyche bzw. Christoph Paul Spieß' Der Lehr= und Weisheit=begierige Jüngling, was auf eine enge Verbindung zwischen den Schulen und den jeweils amtierenden Stadtkapellmeistern verweist, die möglicherweise offiziell angewiesen waren, die Schulen bei den Theateraufführungen zu unterstützen.86 Ohne die Mitwirkung einzelner Stadtkapellmeister und führender Organisten der Stadt hätte die Barockoper nicht in Nürnberg Einzug gehalten: So komponierte etwa 1696/97 der frisch ins Amt berufene (heute völlig unbekannte) Stadtkapellmeister Christian Gottlieb Sauer die Partituren zu den in Nürnberg aufgeführten Opern Die Eroberung Jericho und Alarich, und mit Johann Löhner vertonte 1682/83 einer der begabtesten Musiker der Stadt Christoph Adam Negeleins Libretto Abraham / der Groß=glaubige / und / Isaac / der Wunder=gehorsame.sl Eine Apologie der Musik: das >Historische Konzert< Als eine Frucht dieser Zusammenarbeit zwischen Musikern und Dichtern stellt sich auch eines der prominentesten Ereignisse der Nürnberger Musikgeschichte im 17. Jahrhundert dar, das sogenannte >Historische Konzert< vom Mai 1643.88 Auf Ansuchen Johann Michael Dilherrs, Rektor des Egidiengymnasiums, und des Lorenzer Organisten Sigmund Theophil Staden genehmigte der Rat, eine »Entwerrfung deß Anfangs, Fortgangs, Enderungen, Brauch und Mißbrauch der Edlen Music«89 in einem öffentlichen Konzert vorführen zu dürfen. Diese »Anstellung einer stattlichen Music«90 fand am 86 87 88
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Siehe hierzu Teil B, Kap. 2.1.2. Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 5.4. Siehe hierzu Willi Kahl: Das Nürnberger historische Konzert von 1643 und sein Geschichtsbild. In: Archiv für Musikwissenschaft XIV (1957), S. 281-303; Hermann Harrassowitz: Das Historische Konzert vom 31. Mai 1643. In: MVGN 75 (1988), S. 61-75, sowie zuletzt Mara R. Wade: Das »Historische Konzert« im Kontext. Literarische Musikkultur des 17. Jahrhunderts in Nürnberg. In: Paas (Hg.): der Franken Rom, S. 114-131. StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 47, fol. 985 v -990 r , das Zitat fol. 985Y. So bezeichnet Dilherr das Konzert in dem von ihm selbst verfaßten und zuerst 1659 in seinem »Tligendschatz und Lasterplatz« veröffentlichten Bericht über die Veranstaltung. Vgl. Johann Michael Dilherr: Ttigendschatz und Lasterplatz. Das ist: Christliche Anweisung zu Gott seliger Betrachtung Des Lebens und Wandels der heiligen Ertzvätter [...]. Zum Andernmahl wiederumb aufgelegt. Nürnberg 1679 01659), der Bericht S. 353-360, das Zitat S. 354£ (Kopfzeile). Daneben existieren noch drei Handzettel-Drucke des vorgeführten Programms. Nach Willi Kahl: Nürnberger historische Konzert, S. 284, gilt der Bericht Dilherrs als »die zuverlässigste und wichtigste« Quelle zum Konzertprogramm. Der Bericht ist wieder abgedruckt
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31. Mai im ausgeschmückten Saal eines Rückgebäudes im Garten des prächtigen Anwesens von Georg Ayermann statt und zog dabei nicht nur »eine ungläubige [!] menge Volks, ja wohl etliche Taußend Menschen von Manns= vnd Weibspersonen« an, die sich bis »auf der gaßen vor dem Hauß« 91 drängten, sondern auch adlige Gäste und fast alle Honoratioren der Stadt, darunter der gantze hiesige Rath, vornen die 7 alten Herren, in Seßeln, hinder ihnen die anderen Herren, alle fein in der Ordnung auf Stühlen und Bänken, auf der Lincken saßen die Herren Standts Personen von exulirenden Freyherrn, wie auch andere hohe Adels personen, gegen dem Cathedra über auf niederen langen Bänken, mit decken belegt, das Hochadel[iche] Frauenzimmer [...].'92
Nach einer lateinischen Einführungsrede Dilherrs folgte das musikalische Programm in 21 Punkten, das vom Engelsgesang bei Erschaffung des Menschen über die heidnische Musik der Griechen bis hin zur zeitgenössischen, von der aus Italien stammenden Madrigalkunst geprägten Musik eines Hans Leo Häßler und Johann Staden reichte und schließlich mit dem Ausblick auf das Jüngste Gericht und der Musik des himmlischen Gottesdienstes endete. Auch wenn es der (leider in der modernen Forschung eingebürgerte) Name >Historisches Konzert< auf den ersten Blick nahezulegen scheint: Dilherr und Staden verfolgten mit ihrer Veranstaltung nicht in erster Linie ein historisches Interesse. Den beiden gelehrten Männern dürfte es vielmehr um eine Rechtfertigung der Musik als christliche Kunstform gegangen sein und ihr Unterfangen wird somit in erster Linie apologetischen Absichten gedient haben.93 Das Konzert bediente sich des historischen Arguments (Altersbeweis), um die Ehrwürdigkeit der Musik als einer ars divina kunstvoll vorzuführen und zugleich deutlich zu machen, daß nicht die Musik an sich schlecht sei, sondern lediglich ihr falscher Gebrauch, wie es ein eigener Programmpunkt des Konzerts verdeutlichen sollte: Zum sechszehenden / wurde dieser / zum Gebrauch deß Gottesdienstes / und Erweckung des Lobs GOttes / angesehenen Music / entgegen gesezt die Weltliche irregular-Music: und wurden gehöret die Leiern / Sackpfeiffen / Citharen / Castaneten / Flaschaleten / Triangel / Schalmeien / Hackbreten / Strofideln / Krümhörner / Maultrummel / octav-Geiger / Schellen / drei Schalmeien / und eine Sackpfeifen zusammen: welche Instrumenta zum Gottesdienst nicht gebraucht werden.94
Für die apologetische Zielsetzung ist auch ein bislang nicht beachtetes Detail bei der späteren Veröffentlichung des Konzertablaufs in Dilherrs Tugendschatz und Lasterplatz aufschlußreich. Denn dort geht dem Bericht fast un-
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bei ebd., S. 285-288, sowie erneut mit guten Kommentierungen bei Harrassowitz: Historisches Konzert, S. 64-70. StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 47, fol. 989 v -990 r . Ebd., fol. 989v. Vgl. auch Kahl: Nürnberger historisches Konzert, S. 289f. Dilherr: Tugendschatz und Lasterplatz, S. 359.
108 mittelbar ein Abschnitt über das »Lob der Music« voraus, in dem Dilherr die Musik als eine christliche Kunst zu rechtfertigen versucht, indem er ihre Ursprünge auf die Bibel zurückführt und sie zugleich als Mittel des Gottesdienstes theologisch fundiert: »Es ist so wohl die Music mit lebendigen Stimmen / als mit Seitenspielen / ein uraltes Stück des Gottesdienstes«. 95 Um diese These von der Musik als Gottesdienst und damit andere Form der Theologie zu unterstreichen, führt der Geistliche nun eine imposante Autoritätenreihe an, die von König David aus dem Alten und den Aposteln aus dem Neuen Testament über die Kirchenväter Basilius und Augustinus bis hin zu Martin Luther reicht.96 Dieses Vorgehen Dilherrs zur Legitimation der Musik entspricht weitgehend dem Verfahren, das bereits im Zuge der auf die Kirchenväter zurückgehenden theologischen Poetik zu einer Apologie der Dichtkunst im Sinne des Gedankens von der Dichtung als verborgener Theologie ausgebildet wurde und innerhalb der Poetiken der >Nürnberger< Verwendung fand.97 Die Apologie der Musik als einer christlichen Kunstform ist Dilherr und Staden offenbar gelungen. Denn das Konzert war ein großer Erfolg und erlangte über die Stadtmauern hinaus Anerkennung. Dafür sorgte sicherlich auch seine Wiederholung im Juli 1650 im Rahmen der Friedensfeiern in Nürnberg. Von der modernen Forschung wird dem Konzert sogar »epochale Bedeutung für Nürnberg und sein Musikleben«98 zugeschrieben, nicht zuletzt deshalb, weil es »ein lebendiges Beispiel der Fülle der musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten«99 zur Darstellung menschlicher Affekte bot, die mit der neuartigen Vokalmusik aus Italien gegeben waren. Es stehe deshalb nicht nur chronologisch am Anfang einer Blüte des kulturellen Lebens in Nürnberg nach dem großen Krieg und der damit einsetzenden Fülle von neuartigen musikalisch-literarischen Veröffentlichungen, sondern habe diese entscheidend beeinflußt:100 So sei etwa die Gründung des Pegnesischen Blumenordens die »unmittelbare Antwort« 101 auf das Konzert, während Georg Philipp Harsdörffers geistliche Oper Seelewig und Johann Klajs sogenannte Redeoratorien »unbedingt als Parallelerscheinung« und »direktes Pendant«102 zu ihm angesehen werden müßten, da sie das im Konzert musikalisch vorgeführte Ziel, »die menschlichen Affekte so naturgetreu wie möglich durch künstlerische Mittel darzustellen«,103 nun literarisch umzusetzen ver-
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Ebd., S. 348. Vgl. ebd., S. 348-350. Siehe hierzu das folgende Kapitel. Harrassowitz: Historisches Konzert, S. 64. Wade: »Historisches Konzert« im Kontext, S. 121. In diesem Sinne vor allem Mara R. Wade. Vgl. ebd., S. 121ff. Ebd., S. 121. Ebd., S. 124. Ebd., S. 126.
109 suchten. Was die Vorträge von Johann Klaj betrifft, wird man der Sicht Mara Wades in dieser pointierten Form nicht zustimmen können, da diese in einem anderen Kontext zu sehen sind; 104 zu Recht verweist sie aber auf die Bedeutung der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Musik und Literatur, wie sie gerade im kulturellen Leben im Nürnberg des 17. Jahrhunderts immer wieder zu finden sind und nicht zuletzt auch im Bereich der theatralen Kunst eine wichtige Rolle spielten.
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Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 1.
4. Spectaculum christianum versus pompa diaboli. Zur Schauspieltheorie bei den >Nürnbergern< 4.1. Sigmund von Birken und Johann Conrad Dürr Im zwölften und letzten »Redstück« seiner Teutschen Rede-bind- und DichtKunst wendet sich Sigmund von Birken abschließend dem Schauspiel zu.1 Dabei skizziert er zunächst eine knappe Historie der Schauspiele und geht in Aufnahme des Exordialtopos ab origine - von der Frage ihres Ursprungs aus: Die Hirten / wie schon mehrmals erwehnt worden / waren anfangs die Poeten: welche / unter andern Erfindungen / zuweilen auch Singspiele angestimmet / und zwar nicht in Spielhütten / sondern unter den BaumLäuben der Gärten und Wälder. 2
Da mit der Zeit »Leute aus den Städten« diesen Spielen als Zuschauer beiwohnten und daran offenbar Gefallen fanden, mußten die Hirten schon bald 1
2
Es existiert bis heute immer noch keine historisch-kritische Edition der Birkenschen Poetik, die dringlich erforderlich wäre. Dieses Desiderat hat offenbar dazu beigetragen, daß es keine umfassende, moderne Abhandlung zur Poetik Birkens gibt und lediglich einzelne, wenn auch zum Teil sehr gute Ansätze in Aufsatzform vorliegen. Für die spezifische Schauspieltheorie Birkens ist immer noch von dem Abschnitt in Bruno Markwardts (allerdings inzwischen über 60 Jahre altem) Handbuch zur Poetikgeschichte auszugehen. Vgl. Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 1: Barock und Frühaufklärung. 2., um einen Nachtrag erweiterte Aufl. Berlin 1958 ( Ί 9 3 7 ) (Grundriß der Germanischen Philologie, Bd. 13/1), S. 116-129. Wichtige Aspekte zu den spezifischen Ausprägungen bei den >Nürnbergern< berührt die grundlegende Studie von Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels. In: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas. Bd. 1. Hg. v. Reinhold Grimm. Frankfurt a.M. 1971, S. 1 - 4 4 , bes. S. 14-16. Einige Elemente der Schauspieltheorie Birkens diskutiert auch Judith Aikin in zwei kürzeren Studien. Vgl. Judith P. Aikin: And they changed their lives from that very hour. Catharsis and Exemplum in the Baroque Trauerspiel. In: Daphnis 10 (1981) H. 2/3, S. 241-255, bes. 244f., sowie dies.: Happily ever after. An alternative affective theory of comedy and some plays by Birken, Gryphius, and Weise. In: Daphnis 17 (1988) Η. 1, S. 55-76, bes. 67 - 69. Einen Überblick (jedoch mit einem anderen Ansatz und einer zum Teil abweichenden Einschätzung von der hier vertretenen) bietet jetzt die kurz vor Abschluß des Typoskripts dieses Buches erschienene Studie von Karl-Bernhard Silber: Die dramatischen Werke Sigmund von Birkens (1626-1681). Tübingen 2000 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 44), S. 22 - 44. Birken: Dicht-Kunst, S. 314.
Ill »in die Stadt kommen und daselbst ihre Spiel-Ubung anstellen«.3 In dieser Entwicklungsphase aber schienen sich die Aufführungen nicht unerheblich verändert und von ihrer ursprünglichen Gestalt entfernt zu haben. Denn nun sei man dazu übergegangen, wie Birken schreibt, in diese Spiele »erstlich Satyri, hernach auch andere Götzen / sonderlich ihre vermeinte FeldGötter / Silenus / Faunus / Pales / Bachus / Ceres / Pomona / Hortulanus / und mehr andere«4 einzuführen. Hieraus sei dann die Komödie entstanden, als man in den Städten selbst dazu überging, »vom HäuslichenStand LustSpiele zu verfassen«, wobei Birken mutmaßt, daß der Name >Komödie< »vielleicht vom Götzen Como«5 stamme. Schließlich seien die Schauspiele von den Städten an die Höfe übergegangen und »fiengen an von Königen / Hohen und Großen / von Kriegen / Schlachten und andren ihren Grosthaten / zu Spielreden«.6 Diese habe man dann als Tragödien bzw* Trauerspiele bezeichnet, »weil vorzeiten in der Heidenschaft meistteils Tyrannen das Regiment geführet / und darum gewönlich auch ein grausames Ende genommen«.7 Als Beispiele für derartige Schauspiele führt Birken die Tragödien des Aischylos, Euripides, Sophokles, Aristophanes und Seneca an, wobei er zuvor bereits für die Komödie auf die Stücke von Terenz und Plautus verwiesen hatte. Damit könnte die genetische Herleitung der dramatischen Trias >Hirtenspiel< - >Komödie< - >TragödieAlten< ab, sondern setzt sie weiter fort: Die Schauspiele der Antike seien in christlicher Zeit nicht unwesentlich verändert worden, als »nachmals fromme Regenten anlaß gegeben / von ihren löblichen Thaten zu red-spielen«.8 Da diese Stücke sich durch ein gutes Ende auszeichneten, habe man sie als »Tragico-Comoedias oder TraurFreudenspiele« bezeichnet. Diese Benennungen gäben jedoch den eigentlichen Zweck solcher Schauspiele nur unzureichend wieder, weshalb Birken in Anlehnung an das traditionelle Schema >Komödie< - >Tragödie< hierfür die Begriffe »TugendSpiele« und »HeldenSpiele«9 einführt. Erst damit findet seine geschichtliche Darstellung ihr Ende.
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Ebd. Ebd. Ebd., S. 321f. Ebd., S. 322f. Ebd., S. 323. Ebd. Ebd. Vgl. auch Markwardt: Poetik, Bd. 1, S. 117.
112 Antike Landschaften Auf den ersten Blick scheint sich diese Herleitung lediglich wie eine weitere Variante der im 17. Jahrhundert längst zum Topos gewordenen Entstehungstheorie der dramatischen Dichtkunst auszumachen und sich ganz an das gängige, insbesondere in der Poetik Iulius Caesar Scaligers formulierte und seitdem dann immer wieder übernommene teleologisch ausgerichtete Schema anzulehnen, nach dem aus dem Hirtenspiel als der ältesten Gattung später die Komödie und Tragödie in zeitlicher Abfolge entstanden seien: »Antiquissimum pastorale, proximum comicum, e quo natum tragicum«, heißt es bei Scaliger.10 Dabei ist allerdings bemerkenswert, daß Scaliger »den Ursprung der Dichtung nicht mit Moses oder König David in Verbindung bringt«, wie bereits sein Herausgeber Luc Deitz bemerkte. 11 Die Hirten Scaligers und mit ihnen die Entstehung der Dichtung sowie letztendlich auch die Entwicklung der dramatischen Gattungen sind eindeutig in antiken Gefilden angesiedelt und heidnischer Natur. 12 Diese Auffassung vom antik-heidnischen Ursprung des Schauspiels findet sich auch in der deutschen Barockpoetik wieder. So beginnt etwa Georg Philipp Harsdörffer in seinem Poetischen Trichter den Abschnitt über die Schauspiele mit der Feststellung: Es ist vor unerdenklichen Jahren die Poeterey absonderlich zu des Bacchi Götzendienst gewidmet gewesen / in dem die Heyden bey Verzehrung th er [!] Opfergaben gesprungen un[d] gesungen [...]. 13
Bei diesen rituellen Handlungen haben sich die Teilnehmer »als Waldmänner mit rauhen Fellen bedecket / etc. daher dann die Tityri / Satyri / und Sileni den Ursprung in den Gedichten genommen«. 14 Hieraus seien schließlich die Schauspiele entstanden, wobei Harsdörffer sich in einer Fußnote direkt auf Scaliger als Quelle beruft. 15 Auf ähnliche Weise und ebenfalls unter Bezug auf Scaliger beschreibt Albrecht Christian Rotth in seiner 1688 erschienenen Vollständigen Deutschen Poesie16 die Entstehung der Schauspiele: Dort heißt es im Kapitel »Von den Nahmen und der Natur der Comödien insgemein«, 17 daß »ehe die 10
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Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem - Sieben Bücher über die Dichtkunst. Bd. I: Buch 1 und 2. Hg., übersetzt, eingeleitet u. erläutert v. Luc Deitz. StuttgartBad Cannstatt 1994, S. 92ff. Luc Deitz: Erstes Buch: Einleitung. In: ebd., S. 54 Anm. 33. Vgl. Scaliger: Poetices libri Septem, S. 94ff. Der erste Dichter war nach Scaliger Apollo, dann folgen Orpheus, Musaios und Linos (vgl. ebd., S. 84f.). Siehe auch Luc Deitz: Erstes Buch: Einleitung, S. 51. Harsdörffer: Poetischer Trichter, Zweiter Teil, S. 70. Ebd. Vgl. ebd., S. 71. Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie / in drey Theilen / [...]. Leipzig 1688. Ebd., Teil 3, S. 75ff.
113 Athenienser noch in der Stadt sind zusammen kommen / (denn sie anfänglich nur auff dem Lande gelebt haben /)« verehrten sie zur Erntezeit ihren »Hirten-Apollo [...] der die Hirten und die gantze Nachbarschafft [...] in acht nahm und ihnen vorstund«. 18 Dabei habe man nicht nur dem »HirtenApollo« Altäre errichtet, sondern ihm zu Ehren »nach einer Flöthe« 19 auch getanzt und gesungen. Hier liege die Keimzelle der dramatischen Dichtungen, da mit der Zeit die Landleute diese zu Ehren der Götter veranstalteten musikalischen Hirtenspiele in die Städte brachten, »als hat man sich dieselbe gefallen lassen / doch immer mehr und mehr daran geändert / biß es endlich zu einem vollkommenen Gedichte gedieen«. 20 Welche Wirkung dieser auf Scaliger zurückgehenden und im 17. Jahrhundert längst zum Topos gewordenen Entstehungstheorie der dramatischen Dichtkunst innerhalb der Barockpoetik zukam, sei an einem weiteren Beispiel verdeutlicht: Georg Neumarks Poetische Tafeln,21 in deren von Martin Kempe verfaßtem, umfänglichem Anmerkungsteil auch die Herkunft aller drei dramatischen Gattungen diskutiert wird. Dabei rekurriert Kempe, der wie Neumark Mitglied im Pegnesischen Blumenorden war, ebenfalls mehrfach auf Scaliger und verlegt die Ursprünge des Schauspiels in antike Landschaften: So heißt es etwa zur Entstehung der Tragödie: »Solche Schauspiele sollen in Griechenland bey einem Zechgelak allererst aufkommen seyn zur Zeit der Weinerndte«. 22 Knapp, aber dennoch eindeutig fällt die Bestimmung zur Genese der Komödie aus: »Die Comcedien haben ihren Anfang von den Landleuten genommen«, wobei der Zusatz »wie beym Scaligero zu lesen« 23 deutlich macht, daß hier das antik-heidnisch geprägte Paradigma vorherrscht. Dies gilt schließlich auch für die als »mit Leid vermischte Freudenspiele« definierten >Hirtenspielegötzenfreien Ur-Zustand< des Schauspiels gegeben haben muß, da man nur etwas einführen kann, was es zuvor noch nicht gegeben hat. Diese Annahme erfährt indirekt eine Bestätigung in den Ausführungen Birkens zu den »Satyrae oder Straff-Gedichte«, von denen es heißt, daß diese zwar »von den Hirten ihren ursprung haben«, allerdings erst zu dem Zeitpunkt, als »sie [die Hirten] in die Städte gegangen / und das Böse ihnen-ungewönliche Leben gesehen / mit dergleichen Gedichten die Bürger auszumachen pflagen«.26 Wie die Einführung der Götzen in die Schauspiele entstand demnach auch die Gattung der »Satyrae« erst durch den Kontakt der Hirten mit der Stadtbevölkerung und deren »bösem Leben«. Wenn es nun also bei Birken die Vorstellung einer >götzenfreienAlten< mit einer deutlichen Zäsur abzutrennen und die antike Tradition offenbar als eine dem christlichen Zeitalter nicht mehr entsprechende Art zurückzuweisen. Eine derartige Bewertung der antiken dramatischen Dichtung wäre innerhalb der zeitgenössischen Dichtungstheorie mehr als ungewöhnlich. Martin Opitz hatte mit seinen Übertragungen der Tragödien Sophokles' und Senecas ausdrücklich die Gültigkeit der antiken Dramatiker bestätigt und damit zugleich deren Schauspiele als Mustertexte zur Nachahmung im Sinne des Prinzips der imitatio veterum ausgewiesen. Dabei empfahl er die von ihm übersetzten Troerinnen Senecas etwa mit dem Hinweis, daß es etwas Glänzenderes in dieser Gattung nicht gebe (»nihil extat in hoc genere luculentius« 35 ). Dieser Hochachtung der antiken Dramen als mustergültige Texte pflichtet auch Balthasar Kindermann bei, indem er in seiner Poetik bei den Ausführungen zur Tragödie feststellt: »Exempel findet man hin und wieder bey den Poeten / sonderlich beym Herrn Opitz des Sophoclis Antigone«. 36 Als nachahmenswerte Mustertexte erscheinen die von Opitz verfertigten Übersetzungen der antiken Dramatiker auch in Neumarks Poetischen Tafeln, wo sie dem angehenden Dichter zur Übung und Unterweisung empfohlen werden: »Jn welchem Zweck auch des Opitii Antigone aus dem Sophocle und die Trojanerinnen aus dem Senecä gedeutscht / viel helffen werden«. 37 Selbst als in Deutschland längst die Dramen von Andreas Gryphius und Daniel Caspar von Lohenstein bekannt waren und allseits höchstes Lob fanden, büßten die antiken Paradigmen nichts von ihrer Geltung ein und wurden weiterhin als unerreichte Vorbilder apostrophiert: So bezeichnet etwa Daniel Georg Morhof in seiner zuerst 1682 veröffentlichten Poetik Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie3S die Schauspiele Gryphius' und Lohensteins zwar als »vortreflich« und rät, von ihnen »in Teutscher Sprache das Muster zunehmen«. 39 Die Vorrangstellung der antiken Vorbilder bleibt hiervon jedoch unberührt und ist zuvor von Morhof bereits festgelegt worden: 35
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Martin Opitz: Senecae Trojanerinnen. In: ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. George Schulz-Behrend. Bd. II: Die Werke von 1621 bis 1626. 2. Teil. Stuttgart 1979 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 301), S. 424522, das Zitat S. 428 (Widmungsgedicht an August Buchner). Balthasar Kindermann: Der Deutsche Poet [...]. Hildesheim, New York 1973 (Ndr. der Ausgabe Wittenberg 1664), S. 241. Neumark/Kempe: Poetische Tafeln, S. 154. Daniel Georg Morhof: Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie / deren Ursprung / Fortgang und Lehrsätzen [...]. Hg. v. Henning Boetius. Bad Homburg v. d. H. 1969 (Ndr. der 2. Ausgabe Lübeck, Frankfurt 1700) (Ars Poetica, Texte, Bd. 1). Ebd., S. 351.
117 Es sind gantze Bücher von den Comoedien und Tragoedien geschrieben / darinnen die Lehrsätze dieses Poematis außführlich und gründlich dargethan werden / womit / als bekannten Dingen / wir uns nicht auffzuhalten haben. Dieses ist zu merkken / daß die alten Griechen und Römer es so weit hierinne gebracht haben / daß wir noch bey ihnen in die Schule gehen müssen. Was wir darinne / gethan / haben wir alles aus ihrer Nachahmung. Man hat bey ihnen die Singespiele / Täntze und Thöne viel vollkommener gehabt / als wir jetzo ihnen nachkünstlen [.. .].40 Wie verhält sich nun hierzu die Darstellung Birkens? Oder anders gefragt, warum gibt Birken eine derart spezifische Auslegung des Topos ab origine zu Beginn seines Schauspiel-Kapitels? Ist mit der Einführung zweier Gattungsbezeichnungen nur ein neuer Name für eine alte Sache oder eine andere Fundierung und Zweckbestimmung des Schauspiels verbunden?
Christliche Poetik Ein kurzer Rekurs auf die Gesamtkonzeption der Birkenschen Poetik und ihrer Kontexte mag hier Aufschluß geben. Wie Birken schon im Titel durch den Zusatz mit Geistlichen Exempeln andeutet, versteht er seine Teutsche Rede-Bind- und Dicht-Kunst als eine christlich-theologische Poetik. 41 D e m entsprechend heißt es in der »Vor-Rede«: Gegenwärtige Poesy-Anweisung / zielet auf der frommen Zweck / daß diese Edle Kunst zur Ehre dessen / von dem sie einfliesset / möchte verwendet werden. [...]. Es sind zwar / viel Teutsche Prosodien / nach und nach hervor gekommen. Ich aber / habe in dieser mich beflissen / nach dem Lehrspruch unserer Blum-SchäferGesellschaft / alles zu Ehre Gottes einzurichten / und den Lehrsätzen Exempel oder Beispielen Geistlichen inhalts zu zu ordnen. Solcher gestalt verlange ich / mit einer Arbeit / zween Nutzen zu schaffen: daß nicht allein die Jugend zugleich zur Poesy und Gottesfurcht angewiesen / sondern auch jeder Leser / durch die Geistliche Lieder / zur Andacht angefeuret werde.42 Diese Zielsetzung wird im letzten Paragraphen der Poetik, der zugleich den letzten Abschnitt des Schauspielkapitels darstellt, wieder aufgegriffen: »Also wird nun hiermit diese Poesy-Anweisung mit G O T T beschlossen / in dessen Namen sie auch angefangen / und zu dessen Ehre geschrieben worden«. 4 3 Z u 40 41
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Ebd., S. 349. Vgl. hierzu Theodor Verweyen: Dichtungstheorie und Dichterverständnis bei den Nürnbergern. In: Paas (Hg.): der Franken Rom, S. 180-195. Grundlegend für die Tradition der theologischen Poetik und christlichen Literaturtheorie: Ernst Robert Curtius: Theologische Poetik im italienischen Trecento. In: Zeitschrift für romanische Philologie 60 (1940), S. 1-15. Die dortigen Ansätze hat Curtius später weiterverfolgt und erweitert in: ders.: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Tübingen, Basel n 1993 (11948), S. 221ff., 443ff. u. 530ff. Ebenfalls wichtig für den gesamten Komplex: Dyck: Athen und Jerusalem, bes. S. 13-90, sowie ders.: TichtKunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 3., ergänzte Aufl. mit einer Bibliographie zur Forschung 1966-1986. Tübingen 1991 01966) (Rhetorik-Forschungen, Bd. 2), S. 135-173. Birken: Dicht-Kunst, Vor-Rede §25, fol. [):():( wii r f.]. Ebd., S. 339.
118 Recht hat man darauf hingewiesen, daß die hier zum Ausdruck kommende spezifisch christlich-theologische Ausrichtung der Poetik einer langen Tradition verpflichtet ist, die ihren Bezugsrahmen in der auf die Kirchenväter zurückgehenden Bibelpoetik und der aus ihr im Mittelalter weiterentwickelten theologischen Poetik hat.44 Diese durch zahlreiche Zitate und Übernahmen aus der Bibel und den Kirchenvätern vorgenommene »altchristlichpatristische und mittelalterliche Fundierung«45 ist jedoch mit dem von Bruno Markwardt zur Charakterisierung der Birkenschen Schrift herangezogenen Begriff der »religiösen Umschränkung«46 nur unzureichend wiedergegeben. Denn die christlich-theologische Orientierung Birkens bestimmt die gesamte Anlage seiner Poetik: vom Titelblatt und -kupfer über die Vorrede und die Regelbestimmungen der einzelnen Paragraphen bis hin zu dem sich an den Theorieteil anschließenden Apparat mit Textbeispielen. Diese spezifische Konzeption ist nun aber nicht nur als Ausdruck einer bestimmten persönlichen, besonders frommen Haltung Birkens zu verstehen 47 sondern steht in einem ganz bestimmten Funktionszusammenhang, aus dem sich etwa die Anstrengungen Birkens in der Vorrede erst erklären lassen und die der Poetiker unternimmt, um die Ursprünge der Dichtkunst in alttestamentliche Zeiten zurückzuführen und mit den kirchlichen Erzvätern Adam, Moses, Salomon und David zu verknüpfen. Wie Joachim Dyck und Theodor Verweyen betont haben, geht es hierbei weniger um den bloßen Erweis eigener Gelehrsamkeit, sondern um die Entwicklung einer apologetischen Theoriekonzeption, anhand derer die Ehrwürdigkeit der Dichtkunst als ars divina erwiesen werden soll 48 Auf ähnliche Weise erfolgt auch die Bezugnahme und Berufung auf die spätantiken und frühmittelalterlichen Kirchenväter, die Birken nicht in erster Linie als Autoritäten in Glaubensfragen, sondern insbesondere als Beispiele für »eine große Anzahl Irdischer Engel oder Gott- und Christliebender Poeten«49 dienen. Wenn nun diese, in 44
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So jüngst wieder Verweyen: Dichtungstheorie und Dichterverständnis, S. 182 u. passim. Vgl. auch Dyck: Athen und Jerusalem, S. 13ff. u. 24ff., sowie Theodor Verweyen: Daphnes Metamorphosen. Zur Problematik der Tradition mittelalterlicher Denkformen im 17. Jahrhundert am Beispiel des Programma Poeticum Sigmund von Birkens. In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag. Hg. v. Hans Geulen, Klaus Haberkamm u. Wolfdietrich Rasch. Bern, München 1972, S. 319-379, bes. S. 348ff. Verweyen: Dichtungstheorie und Dichterverständnis, S. 178. Markwardt: Poetik, Bd. 1, S. 100. Eine derartige Einschätzung schimmert bei Markwardt durch, wenn er von der »Geschlossenheit der Gesinnung« und der »ausgesprochen theologisch-fromme[n] Grundhaltung« (ebd., S. 116) Birkens spricht. Vgl. Verweyen: Dichtungstheorie und Dichterverständnis, S. 179ff. Ähnlich auch Joachim Dyck: Apologetic argumentation in the literary theory of the German Baroque. In: Journal of English and Germanic Philology 68 (1969), S. 197-211, sowie erneut und mit erheblich erweiterten kontextuellen Bezügen in: ders.: Athen und Jerusalem, S. 13-90. Birken: Dicht-Kunst, Vorrede § 10, fol.):():(ij r .
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der Vorrede formulierte, Apologie der Dichtkunst im Namen der Bibel und der Kirchenväter eine der wesentlichen Funktionen des Konzepts von Birkens theologischer Poetik darstellt, dann müßte sich diese Zielsetzung auch in den speziellen Teilen der Poetik niederschlagen. Während man dies bereits für einzelne Teile der Poetik mit Nachdruck betont hat, 50 ist bislang noch nicht untersucht worden, welche Konsequenzen sich aus diesem Konzept einer apologetisch verfahrenden theologischen Poetik für das Schauspiel ergeben. Liegt hierin möglicherweise der Schlüssel zum Verständnis für die spezifische Ausprägung des ab origine-Topos und damit für das Schauspielkapitel insgesamt? Schauspiel- und Theaterfeindlichkeit Die Notwendigkeit einer apologetisch verfahrenden Argumentation gerade beim Schauspiel ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, wenn man bedenkt, daß insbesondere das Schauspiel der Kritik im 17. Jahrhundert ausgesetzt war - und zwar sowohl in Deutschland allgemein als auch speziell in Nürnberg. Seit etwa 1600 äußerte sich in weiten Teilen des Alten Reichs seitens protestantischer und reformierter Geistlichkeit eine »radikale, gleichsam fanatische Theaterfeindschaft«,51 allen voran in Gebieten, in denen kalvinistischer oder ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts pietistischer Einfluß besonders zur Geltung kam. Einen wichtigen und verstärkenden, gleichwohl nicht den einzigen Faktor bildete hierbei das Auftreten der Wandertruppen Englischer Komödianten, die mit ihrem drastischen und vor allem auf Unterhaltung abzielenden Spiel Anstoß erregten. Allerdings dürfte dabei das Kriterium der Konkurrenz eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Denn gerade durch die beliebten Aufführungen der Wandertruppen - mit denen ja nicht nur eine qualitative Veränderung, sondern auch eine beachtliche quantitative Zunahme der theatralen Darbietungen einher ging - sah sich die Kirche nun oftmals gezwungen, mit den Theateraufführungen um die Freizeit der Bürger zu wetteifern, zumal die Schauspielgesellschaften versuchten, gerade die Sonn- und Feiertage als Spielzeit für sich zu beanspruchen.52 50
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Theodor Verweyen hat dies etwa am »Programme Poeticum« und an den Ausführungen Birkens über den Zweck der Dichtung im § 141 der Poetik gezeigt. Vgl. Verweyen: Daphnes Metamorphosen, S. 361£, 365ff. u. passim. An der Vorrede der Poetik hat diese Konzeption Joachim Dyck exemplarisch demonstriert. Vgl. Dyck: Athen und Jerusalem, S. 13fl Robert J. Alexander: Das deutsche Barockdrama. Stuttgart 1984 (SM 209), S. 66. Siehe hierzu grundlegend Ernst Hövel: Der Kampf der Geistlichkeit gegen das Theater in Deutschland im 17. Jahrhundert. Diss. Münster 1912, sowie Monika Diebel: Grundlagen und Erscheinungsformen der Theaterfeindlichkeit deutscher protestantischer Geistlicher im 17. und 18. Jahrhundert. Diss, (ms.) Wien 1968. Vgl. Hövel: Kampf, S. 26ff., und Diebel: Theaterfeindlichkeit, S. 122ff.
120 Doch die Anfeindungen zielten keineswegs nur auf etwaige Mißbräuche oder Übertretungen. Schon bald setzte man auf Seiten der fanatischen Gegner zur grundsätzlichen Kritik am Schauspiel und Theater an, die sich vor allem in reformierten Gebieten auch ohne Einwirkung von Wandertruppen entfachen konnte und selbst das humanistische Schuldrama sowie die Aufführungen von biblischen Stücken verdammte, wie es bereits eine der ersten theaterfeindlichen Schriften im deutschsprachigen Raum zeigt: die 1624 in Zürich anonym erschienenen Bedenken Von Comaedien oder Spilen des Kalvinisten Johann Jakob Breitinger.53 Als Kronzeugen beim Vorgehen gegen Schauspiel und Theater galten den Gegnern vor allem die Kirchenväter, auf deren Argumente immer wieder rekurriert wurde. Diese hatten bereits das Schauspielwesen als eine unmoralische, die Leidenschaften anstachelnde und der heidnischen Götzenverehrung dienende Veranstaltung mit lügenhaftem Fabelcharakter verworfen und deshalb den Christen den Besuch des Sitten und Seelenheil gefährdenden Theaters rundweg versagt.54 In den Augen Tertullians sei dieser Ort das eigentliche »Heiligtum der Venus«,55 der »ureigene Tummelplatz der Unzüchtigkeit«56 und nicht zuletzt Teil des teuflischen Blendwerks und Prachtzuges, der pompa diaboli, von der der Christenmensch bei der Taufe abschwöre.57 Neben den vielfachen sittlichen Bedenken und dem Vorwurf der Idolatrie verurteilten die Kirchenväter das Schauspiel auch aufgrund seines fiktionalen Charakters und beklagten im Anschluß an das Verdikt Piatons, daß auf der Bühne Lügen vorgestellt würden: »Der Urheber der Wahrheit [= Gott] liebt nichts Falsches; bei ihm gilt alles, was nachgebildet wird, als Fälschung«, stellt Tertullian fest.58
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[Johann Jakob Breitinger]: Bedencken Von Comcedien oder Spilen [...]. Zürich 1624. Jetzt in einem Reprint der Erstausgabe zusammen mit Kommentar und monographischer Studie sehr gut zugänglich in: Thomas Brunnschweiler: Johann Jakob Breitingers »Bedencken von Comoedien oder Spilen«. Die Theaterfeindlichkeit im Alten Zürich. Edition - Kommentar - Monographie. Bern u.a. 1989 (Zürcher germanistische Studien, Bd. 17), S. 1-63. Zur Einschätzung und Bewertung des Schauspiels und Theaters durch die Kirchenväter siehe die materialreiche Arbeit von Werner Weismann: Kirche und Schauspiele. Die Schauspiele im Urteil der lateinischen Kirchenväter unter besonderer Berücksichtigung von Augustin. Würzburg 1972 (Cassiciacum, Bd. 27). Quintus Septimius Tertullianus: De spectaculis - Über die Spiele. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und hg. v. Karl-Wilhelm Weeber. Stuttgart 1988 (RUB 8477), § 10,3, S. 37. Ebd., § 17,1, S. 55. Vgl. ebd., §4,1, S. 17-19. Zum Begriff der antiken pompa und ihrer christlichen Deutung als pompa diaboli siehe Franz Börner: Pompa. In: Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. Hg. v. Konrad Ziegler. Bd. 41. Stuttgart 1951, Sp. 1878-1994, bes. den Abschnitt Β IV 2: »Die P[ompa] und das Christentum«, Sp. 1990-1994. Tertullian: De spectaculis, § 23,5, S. 71.
121 Diese Vorstellungen tauchen in den Streitschriften gegen das Theater im 17. Jahrhundert erneut auf.59 Unter Berufung auf die als Autoritäten reichlich zitierten Kirchenväter Tertullian Novatian, Minucius Felix, Augustinus, Laktanz und Cyprianus kritisierte man: den heidnischen Ursprung und Inhalt des Schauspiels, seinen Status als unwahre Fiktion und damit Lüge, den zweifelhaften Stand und die vermeintliche Unmoral der Komödianten, die ihren Körper gegen Geld öffentlich zur Schau stellten, sowie den sinnlichen Charakter des Theaters und der Spiele, in denen der Zuschauer durch Vorstellung von Leidenschaften zu deren Nachahmung angeregt werde. 60 Und in fast wörtlichem Anschluß an Tertullian geißeln strenge Theaterkritiker wie Breitinger das Schauspiel als Teufelswerk: »Sie [die Kirchenväter, M. P.] Messend sämtliche Spectacula vnd Comcedien gemeinlich Pompas Diaboli: des Teuffels pracht vn[d] anreitzung«.61 Es muß sich bei der Theaterfeindlichkeit um eine starke Strömung gehandelt haben. Dies macht nicht nur der Hamburger Opern-Streit deutlich, der seit etwa 1680 eine Vielzahl von Pamphleten und Gutachten von beiden Seiten provozierte und eine breite Ausstrahlung ins ganze Reich hatte.62 Auch die Poetiker sahen sich nun vielfach veranlaßt, zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen: So erklärte etwa Daniel Georg Morhof in seiner Poetik im Kapitel »Von den Schauspielen / Hirten- und Straff-Gedichten« schon mit dem
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Vgl. Diebel: Theaterfeindlichkeit, S. 188ff., sowie Brunnschweiler: Bedencken, S. 157ff. u. 185. Zu den einzelnen Kritikpunkten siehe ausführlich Diebel: Theaterfeindlichkeit, S. 45-121, sowie Gertrud Schubart-Fikentscher: Zur Stellung der Komödianten im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 1963 (Sitzungsberichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, philosophisch-historische Klasse, Bd. 107, H. 6), S. 34-41. Dabei konnte die Kritik noch verstärkt werden durch die im kalvinistischen und später im pietistischen Dogma gängige Ablehnung der Adiaphora-Lehre oder auch Lehre von den Mitteldingen, anhand derer innerhalb der orthodoxen Theologie etwa der Genuß von Musik und der Besuch des Theaters noch gerechtfertigt werden konnte. Nach orthodoxer Theologie war alles Handeln des Menschen recht, was nicht gegen die biblischen Gebote verstoße. Neben den durch die Gebote verbotenen Dingen gab es aber auch moralisch indifferente, sogenannte >MitteldingeKünstereinenwohl eingerichtetes< Stück gegenüber »grobe[n] Narrenpossen« 88 zu verteidigen. Hier zeigt sich jedoch der bedeutsame Unterschied zu dem Ansatz Dürrs. Denn wenn der Altdorfer Theologe am Schluß seiner Apologie den Mißbrauch der Schauspiele als eine Umformung in »Verachtung des Namens Gottes und der göttlichen Dinge« anprangert, dann unterstreicht er nochmals, daß die Rechtfertigung sich nur auf einen ganz bestimmten Typ des Schauspiels bezieht, nämlich auf das von ihm zuvor bereits näher bestimmte christliche Schauspiel mit geistlichem Fundament. Das antike Schauspiel als pompa diaboli Das Beispiel Johann Conrad Dürrs verdeutlicht nicht nur, daß die theaterfeindliche Strömung im Nürnberger Raum eine beachtliche Wirkung entfaltete und die Befürworter des Schauspiels einem nicht unerheblichen Rechtfertigungsdruck aussetzte; es führt zugleich eine wichtige Argumentationsstrategie vor, um das Schauspiel zu legitimieren. Möglicherweise hatte der angesehene Theologe damit das entscheidende Modell für Birken vorgegeben, der die Schrift Dürrs, wie gezeigt, höchstwahrscheinlich gekannt haben dürfte. In jedem Fall gewinnt vor diesem Hintergrund Birkens spezifische Ausprägung des ab origine-Topos bei seiner geschichtlichen Herleitung des Schauspiels nun schärfere Konturen. Denn gerade der Vergleich mit Dürr legt nahe, daß Birken bei seinem Entwicklungsmodell ebenfalls mit der strukturellen Opposition positive Wesensart versus Mißbrauch operiert, um 87
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Ebd., S. 248: »Nec verö ideö abstinendum est ä ludorum istorum scenicorum sive exercitiis sive spectaculis, quöd ea homines improbi in profanum summi Numinis & rerum divinarum ludibrium & contem[p]tum convertant, quöd lasciv[i]a sermonum & gestuum ac motuum corporis foeditate castis auribus & oculis taedium creent, quöd turpi & immodico lucro inhient« [Übersetzung Vf.]. Morhof: Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie, S. 348.
130 in apologetischer Absicht das Schauspiel als eine von seinen Ursprüngen her untadelige, sogar genuin christliche Erfindung zu bestimmen und für die vorgebrachte Kritik einen heidnischen Mißbrauch an der ursprünglich christlichen Erfindung verantwortlich zu machen. In ähnlicher Weise verfuhr das Programm Dilherrs beim »Historischen Konzert« von 1643, das die Musik als eine göttliche Erfindung beschrieb, ihren weltlichen Mißbrauch verurteilte und dagegen die Musik als geistliche Kunst als Zielpunkt auswies (siehe Teil A, Kap. 3). Wie gesehen, hat Birken die Entstehung des Schauspiels auf die Singspiele der Hirten zurückgeführt und durch den Rückbezug auf die alttestamentlichen Hirten (in Analogie zur Dichtkunst insgesamt) auch das Schauspiel im besonderen als eine christliche Kunst begründet. Durch den Kontakt mit der Stadtbevölkerung und die in den Städten angestellten Aufführungen wurden die Spiele allerdings verändert. Diese Entwicklung erscheint in der Birkenschen Darstellung als eine Entwicklung zu einem antik-heidnisch geprägten Schauspiel, die ihren vorläufigen Abschluß in den von in Städten lebenden Menschen selbst angestellten Komödien findet. Damit hat Birken jedoch (ähnlich wie Dürr) eine Opposition zwischen einem ursprünglich >guten< Zustand einerseits und einem später durch falschen Gebrauch verderbten Zustand des Schauspiels andererseits aufgebaut, wobei ersterer durch den Rückbezug auf das Alte Testament als christlich, letzterer durch das von Birken entworfene Entwicklungsmodell und die angeführten Beispiele (Terenz, Plautus, Sophokles, Seneca etc.) eindeutig als heidnisch-antik ausgewiesen wird. Dabei läßt schon die negative Bestimmung dieser Spiele als Götzenveranstaltungen keinen Zweifel daran aufkommen, daß diese unter heidnisch-antiken Vorzeichen vollzogene Weiterentwicklung des Schauspiels als eine nicht akzeptable, mißbräuchliche Deformierung einer ursprünglich christlichen Erfindung aufzufassen sei - eine Deformierung, die Birken später als unzüchtige, das Seelenheil gefährdende Ausprägung sowie als »Spiel vom Teufel Heer« 89 geißelt und in das Bild einer gleichsam in der Hölle stattfindenden pompa diaboli münden läßt: »da dann Schauspieler und Spielschauer miteinander dahin gefahren / wo sie nun / auf dem feurigen Schauplatz ihres Götzen Plutons ein ewiges Traurspiel [!] spielen«. 90 Diese plastische Darstellung macht zudem deutlich, daß Birken die Entwicklung des Schauspiels in Analogie zur Herleitung der Dichtkunst insgesamt angelegt hat, wie sie von ihm zuvor bereits in der Vorrede beschrieben wurde. Denn hier wie dort erscheint die heidnische Dichtung der Antike als eine verzerrte, ja sogar teuflische Kopie einer ursprünglich christlichen Kunst, die auf schändliche Weise die Historien aus dem Alten Testament nachahmt. So heißt es in der »Vor-Rede« vom Ursprung der griechischen Dichtung, daß »der Höl89 90
Birken: Dicht-Kunst, S. 72. Ebd., S. 336.
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len Fürst / als jederzeit Gottes Affe / solches von dem Profeten Mose und der Miriam abgesehen / und nachgedichtet.«91 An späterer Stelle hebt Birken nochmals hervor: »Es ist auch ohnedas / der Heidnische Götzen-Krempel / lauter Affenwerk des Satans / aus H. Schrift genommen.«92 Terentius Christianus Das antike Schauspiel als gefährliches Teufelswerk und Teil der pompa diaboli sowie verzerrte Nachahmung biblischer Hirtenspiele: Aufgrund dieser Sehweise war es für Birken notwendig geworden, die Entwicklungslinie des Schauspiels bis in die christliche Neuzeit fortzuführen, und deshalb erscheint bei Birken anders als in weiten Teilen der Barockpoetik von Opitz bis Morhof das antike Drama keineswegs mehr als nachzuahmendes Muster. Im Gegenteil, mit der Verwendung der Gattungsbezeichnungen »Tilgend- und Heldenspiel« weist er die antike Komödie und Tragödie als eine heidnische und daher dem christlichen Zeitalter nicht gemäße Art zurück. Daß es sich hierbei um eine Abgrenzung handelt, legt ein an dieser Stelle von Birken vorgenommener Bezug auf eine ganz bestimmte, in der modernen Literaturwissenschaft allerdings oftmals vernachlässigte Tradition des neuzeitlichen Dramas nahe. Mit der Feststellung Birkens, daß man in christlicher Zeit Schauspiele von frommen Regenten mit gutem Ende angestellt und diese »TragicoComoedias« genannt habe, dürfte Birken auf eine Tradition des christlichen Dramas anspielen, die im 16. Jahrhundert eine erhebliche Wirkung in ganz Europa entfaltete. Unter dem Schlagwort Terentius Christianus hatten vor allem protestantische Humanisten und Schulmeister in Deutschland und in den Niederlanden einen ganz spezifischen, christlich geprägten Dramentyp entwickelt, das sogenannte Bibeldrama.93 Dabei lehnten sich die neulateinischen Dramatiker 91 92
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Ebd., Vor-Rede § 6, fol. [):( w v ]. Ebd., S. 67. Angesichts dieser Position Birkens bemerkte bereits Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 21982 (11955) (stw 225), S. 196: »Spielt die Auflösung des antiken Pantheons in diesem Ursprung [der Allegorie, M. P.] eine entscheidende Rolle, so ist höchst aufschlußreich, daß dessen Repristination im Humanismus das XVII. Jahrhundert zum Protest auffordert. Rist, Moscherosch, Zesen, Harsdörffer, Birken eifern gegen das mythologisch verzierte Schrifttum wie nur altchristliche Lateiner, und Prudentius, Juvencus, Venantius Fortunatus werden denn auch als lobenswerte Exempel einer züchtigen Muse aufgeführt.« Vgl. dazu auch Verweyen: Dichtungstheorie und Dichterverständnis, S. 184f. Siehe hierzu den informativen Überblick bei Hans-Gert Roloff: Neulateinisches Drama. In: 2 RL 2 (1965) S. 645 - 678, bes. S. 655 -662, sowie grundlegend Marvin Τ. Herrick: Tragicomedy. Its Origin and Development in Italy, France and England. Urbana 1955 (Illinois studies in language and literature, vol. 39), S. 16-62, und James A. Parente: Religious drama and the humanist tradition. Christian theater in Germany and in the Netherlands 1500-1680. Leiden, New York u.a. 1987 (Studies in the history of christian thought, vol. 39), bes. S. 9-60.
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wie Gnaphaeus, Macropedius, Naogeorg oder Frischlin hinsichtlich der formalen Struktur- und Stilelemente zwar noch an das antike Schema von Terenz an, kritisierten jedoch dessen heidnischen Charakter und zweifelhaften sittlichen Gehalt. In Vorreden und Prologen sprach man sich unter Berufung auf die Anregungen Luthers deshalb für eine »moral reform of classical comedy«94 aus und empfahl, anstatt der antik-heidnischen Stoffe biblische Geschichten und Charaktere zu dramatisieren, also gleichsam »the Bible in Terentian dress«95 auf die Bühne zu bringen, wobei aufgrund der biblischen Stoffe und geistlich-erbaulichen Zielsetzung des Dramas die Gattungseinteilung in >Komödie< und >Tragödie< aufgebrochen wurde und »Mischungsverhältnisse«96 entstanden: so etwa hinsichtlich des Personals, der Vermengung von traurigen und heiteren Elementen sowie insbesondere des versöhnlichen Ausgangs ernster Handlungen. Diese geistlichen Mischspiele fanden bald insbesondere unter Bezeichnungen wie »Comoedia tragica«, »traurige Comedi« oder »Tragicomedia« Verbreitung und bilden einen wichtigen Strang innerhalb der verschiedenen Traditionslinien der gemischten Dramengattung.97 Welche Bedeutung dem eindeutig als Alternative zu den antiken Autoren entwickelten Bibeldrama um 1600 zukommt, zeigt etwa der Spielplan am bedeutenden Akademietheater in Straßburg. Dort dominierten bei den jährlichen Aufführungen in der Zeit des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts ebenfalls die religiösen Dramen. 98 Nicht zu Unrecht hat man deshalb im Zusammenhang mit dem Terentius Christianus von einer »Lieblingsvorstellung«99 der neulateinischen Dramatiker gesprochen. Obwohl man sich bewußt war, etwas Neues zu schaffen, und betonte, daß eine neue Religion auch eine neue Art des Dramas benötige,100 wurde dadurch jedoch das grundlegende Prinzip der imitatio veterum und der damit verbundenen Orientierung an Modellen nicht außer Kraft gesetzt, wie die
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Herrick: Tragicomedy, S. 22. Ebd., S. 21. Karl S. Guthke: Die moderne Tragikomödie. Theorie und Gestalt. Aus dem Amerikanischen übersetzt v. Gerhard Raabe unter Mitarbeit des Verfassers. Göttingen 1968 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 270), S. 21. Vgl. dazu Herrick: Tragicomedy, S. 27ff.; Karl S. Guthke: Das Problem der gemischten Dramengattung in der deutschen Poetik und Praxis vom Mittelalter bis zum Barock. In: ZfdPh 80 (1961), 339-364, bes. S. 347-350, sowie Horst Günther: Tragikomödie. In: 2 RL 4 (1984), S. 523-530, bes. S. 523f., der festgehalten hat: »Im Schwanken der Benennungen und im gelegentlichen Gebrauch des Terminus tragico-comedia dämmert ein Bewußtsein, daß es eine Tragödie im Rahmen der bibli. Überlieferung nicht geben kann« (ebd., S. 524). Vgl. August Jundt: Die dramatischen Aufführungen im Gymnasium zu Strassburg. Ein Beitrag zur Geschichte des Schuldramas im XVI. und XVII. Jahrhundert. In: Protestantisches Gymnasium zu Strassburg. Programm auf das Schuljahr 18811882. Strassburg 1881, S. 3-68, bes. S. 7f. u. 48f. Roloff: Neulateinisches Drama, S. 656. Vgl. Herrick: Tragicomedy, S. 25f. u. 61£
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Übernahme verschiedener Form-, Struktur- und Stilelemente aus den antiken Texten zeigt. Es handelte sich also um veränderte inhaltlich Konkretisierungen und einen vornehmlich an neuen Stoffen orientierten Neuansatz, der oftmals bereits im Titel zu erkennen war, so etwa bei einem der Hauptwerke dieses Dramentyps, das der Strömung ihren Namen gab: die Sammlung Terentius Christianus seu comoediae sacrae des niederländischen Schulmeisters Cornelius Schonaeus.101 Diese um 1600 ungemein beliebte Zusammenstellung von geistlichen Schauspielen biblischen Inhalts erschien Anfang der 1590er Jahre und erlebte bis weit ins 17. Jahrhundert hinein unzählige Ausgaben, noch 1672 wurde sie nochmals aufgelegt.102 In seiner programmatisch angelegten Vorrede erklärt Schonaeus ausführlich, warum er den antiken Terenz nicht nur von unzüchtigen Stellen reinige, sondern ihn auch durch ein (inhaltlich bestimmtes) christliches Paradigma ersetze.103 Dabei wird deutlich, daß sein Entwurf eines »Comicum Christianum«104 eine Reaktion auf vorgebrachte Kritik darstellt und über weite Strecken auf eine Rechtfertigung des Schultheaters und den Gebrauch von Dramen im Unterricht abzielt.105 Als zentrales Argument seiner Apologie fungiert dabei die (schon von Dürr bekannte und später bei Birken wiederkehrende) Vorstellung vom Schauspiel als einer anderen Form der Predigt bzw. Theologie, indem durch einen christlichen Schauspieltyp, der biblische Geschichten sowie die Taten der Heiligen darstelle, nicht nur die Jugend zu Sitten und Frömmigkeit geführt werde, sondern auch das >gemeine Volk< gleichzeitig nachahmenswerte Beispiele der Tugenden sehe, die es etwa im Gottesdienst weniger begreife: Um wieviel hinreichender und mit wieviel größerem Nutzen könnten heilige Geschichten und anschauliche Taten der Heiligen als Schauspiele aufgeführt werden, so daß sie gegenwärtig sind. Dadurch wird die lernbegierige Jugend mit rechtschaffenen Sitten und christlicher Frömmigkeit beeinflußt und das Volk sieht gleichzeitig herausragende Beispiele der lügenden, die es beim Gottesdienst weniger begreift, oder zu denen es nicht bewegt und angeregt wird, während es von den Boten des göttlichen Wortes hört, als wenn es sieht, wie sie dargestellt werden.106 101
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Cornelius Schonaeus: Terentius Christianus. Seu comoediae sacrae [...]. 2 Bde. Köln 1614-1618. Vgl. Alexander v. Weilen: Schonaeus, Cornelius. In: ADB 34 (1892), S. 731-733; Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Aus den Quellen. 2., ganz neu bearbeitete Aufl. Bd. 2: Das Reformationszeitalter. Dresden 1886, S. 143; Rudolf Möller: Geschichte des Altstädtischen Gymnasiums zu Königsberg zu Preußen [...]. Stück V: Die Schulcomödien im Allgemeinen. Königsberg 1874, S. 3, sowie Otto Francke: Terenz und die lateinische Schulcomoedie in Deutschland. Leipzig 1972 (Ndr. der Ausgabe Weimar 1877), S. 70-78. Cornelius Schonaeus: PRiEFATIO. In: ders.: Terentius Christianus, fol. t 2 r - [ t 8 v ] , Ebd., fol. [|7 r ]. Vgl. ebd., fol. [t6 r " v ], Ebd., fol. [t8 r ]: »Quanto satius & maiori fruge scenicis ludis proponerentur sacrae historias, vti sunt präsentes & illustria Sanctorum gesta. Vnde probis moribus & Christiana pietate imbuatur studiosa iuuentus, & simul praeclara virtutufm] exempla
134 Es ist sicherlich kein Zufall und bestätigt die These, daß Birken die Tradition des Terentius Christianus im Auge hatte, wenn er sich im weiteren Verlauf des Schauspielkapitels ausdrücklich auf den prominentesten Vertreter dieser Strömung beruft und ihn als nachahmenswertes Muster empfiehlt: Es ist auch zu bewundern / daß man in Schulen die Jugend aus dem Terentio, der ja alle Laster vortraget / und nicht vielmehr aus dem Terentio Christiano Schonaei / und andern guten Büchern / das Latein lernen lässt: da doch Gott einmal nicht fragen wird / hast du gut Latein geredet? sondern / bist du ein guter Christ gewesen?107
Dabei ist in diesem Zusammenhang von nicht geringer Bedeutung, daß der Terentius Christianus und die biblischen Dramen der Neulateiner im Nürnberger Raum großes Ansehen genossen und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sogar in den Schulordnungen der Reichsstadt als vorbildliche Texte namentlich verankert wurden. Bereits in der Satzung der Altdorfer Akademie von 1575 tritt eine gewisse Skepsis gegenüber antik-heidnischen Autoren zu Tage, wenn den Präzeptoren für die Abhaltung der rhetorischen Übungen nahegelegt wird: »Jst derhalben nicht zu rahten, auß Heydnischen Poeten gedieht, oder sonsten auß schweren, fremden vnd vnverstendlichen Historien Schreiber [...] der Jugendt fürzugeben«. 108 Aufführungen von religösen Dramen im Stile des Terentius Christianus gehörten regelmäßig zum abgehaltenen Festprogramm am dies academicus der Altdorfer Universität. Von den hierbei zwischen 1577 und 1625 rund 40 dargebotenen Dramen nehmen die antiken Stoffe nur einen geringen Teil ein, während neulateinische Stücke zeitgenössischer Autoren die überwiegende Anzahl bilden, welche wiederum fast zur Hälfte biblischer bzw. geistlicher Art sind. Und auch in Altdorf kannte und schätzte man den Hauptvertreter dieser Strömung: Noch 1624 gelangte mit dem Josephus ein Stück aus der erfolgreichen Terentius Christianus-Sammlung des Schonaeus auf der Bühne in Altdorf zur Aufführung. 109 Fast zur gleichen Zeit nennt auch die 1622 erlassene Schulordnung einer Nürnberger Privatschule, die später mit dem Egidiengymnasium vereinigt wurde, die geistlichen Stücke des niederländischen Schulrektors und empfiehlt etwa für die »secunda classe« deren Einstudieren zu Übungszwecken: »Der gewiße Author aber latinae linguae in dieser Class, soll sein Terentius, oder Terentius Christianus«. 110
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spectet populus: quae in sacris concionibus minus capit, vel ad ea non perinde commouetur, & accenditur, dum ä diuini verbi praeconibus audit, quam cum exhiberi conspicit [.·.]« [Übersetzung Vf.], Birken: Dicht-Kunst, S. 338. Statuta, Ordnung vnd Satzung Eines erbarn Raths der Stadt Nürnberg, new auffgericht Gymnasium zu Altorff betreffend (1575). In: Die evangelischen Schulordnungen des sechszehnten [!] Jahrhunderts. Hg. v. Reinhold Vormbaum. Gütersloh 1860 (Evangelische Schulordnungen, Bd. 1), S. 606-630, hier S. 615. Siehe hierzu die Ausführungen in Teil B, Kap. 2.1.1. Siehe Teil B, Kap. 2.1.1., dort der Beleg für das Zitat.
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Die Nürnberger Schulen waren aber keineswegs die einzigen und auch nicht die letzten, die in ihren Schulordnungen den Terentius Christianus als Unterrichtsstoff und zur Aufführung empfahlen. Noch 1662 legten die Statuten der Schule zu Güstrow fest: »Es sollen auch alle halbe Jahr eine Lateinische Comoedia aus dem Terentio Christiano vel Frischlino, oder eine Sacra aus den Dialogis Castalionis [...] von den Schülern in der Schulen agiret werden.«111 Diese Beispiele verweisen auf die Wirkung der geistlichen Stücke im Stile des Terentius Christianus, die keineswegs nur auf das Bildungswesen des späten 16. Jahrhunderts beschränkt war, weshalb Wilfried Barner zu Recht betont hat, daß die innerhalb der Literaturwissenschaft immer noch vernachlässigte »christlich-lateinische Ausprägung des Schultheaters [...] einen wesentlichen Teil des eloquentia-Bctiiebs der Barockzeit bestimmte«.112 Vor dem Hintergrund dieser auch in Nürnberg bis weit ins 17. Jahrhundert hinein lebendigen Tradition muß Birkens Schauspieltheorie gesehen werden, die selbst wiederum (wie gezeigt) einen signifikanten Beleg für die anhaltende Wirkung des Terentius Christianus liefert. Gerade der Rekurs auf Schonaeus legt die oben angestellte Vermutung nahe, daß Birken bei seiner Schauspieltheorie vornehmlich diese Tradition im Auge hatte. Wenn der Poetiker an das Ende seiner Genese des Dramas also die »Tragico-Comoedias oder TraurFreudenspiele« der Neuzeit stellt, dann erscheint bei ihm als Zielpunkt der geschichtlichen Herleitung ein Schauspieltyp in der Tradition des Terentius Christianus. Dies bestätigt der weitere Verlauf des Kapitels, in dem Birken nach der geschichtlichen Herleitung eine eindeutig christliche Bestimmung des Schauspiels von den einzelnen Teilen bis hin zum Wirkungszweck liefert (siehe unten). Die von Birken eingeführten Gattungsbezeichnungen »Tugendspiel« und »Heldenspiel« sind deshalb nicht als Synonyme für die antiken Begriffe >Komödie< oder >Tragödie< zu verstehen, sondern mit ihnen definiert Birken das Schauspiel im Anschluß an die Ideen des Terentius Christianus. Aus diesem Grund läßt sich hierbei nicht lediglich von einer »Sondergattung«113 sprechen, neben der die althergebrachten Gattungen >Komödie< und >Tragödie< 111
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Güstrow'sche Schulordnung, 1662. In: Die evangelischen Schulordnungen des siebenzehnten [!] Jahrhunderts. Hg. v. Reinhold Vormbaum. Gütersloh 1863 (Evangelische Schulordnungen, Bd. 2), S. 584 - 6 1 0 , hier S. 597. Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 312. Alexander: Barockdrama, S. 65. In diesem Sinne zuvor bereits Guthke: Problem der gemischten Dramengattung, S. 358f. Guthke räumt zwar ein, daß Birken zu dem Schluß gelange, »daß in christlicher Ära die Tragikomödie die einzig angemessene Art des hohen Spiels sein könne«, er übersieht jedoch, daß damit eine Zurückweisung des antiken Gattungsschemas >Komödie< und >Tragödie< verbunden ist; deshalb spricht er lediglich davon, daß Birken durch seine Definition »Raum für die Tragikomödie als Sondergattung« gewinne.
136 weiterbestünden. Gerade der Rückbezug auf die Bewegung des Terentius Christianus, die sich ja ausdrücklich als Neuansatz verstanden hatte, verdeutlicht, daß es Birken beim »Tugend«- bzw. »Heldenspiel« nicht um einen neuen Namen für eine alte Sache ging.114 Zielpunkt seiner Darstellung ist vielmehr die Begründung der in seinen Augen in christlicher Zeit einzig zulässigen Art des Schauspiels - und zwar des Schauspiels in christlicher Gestalt, wie er es dann im weiteren Verlauf des Kapitels ausführt (siehe unten). 115 Diese Intention zeigt sich auch bei der dritten dramatischen Gattung, dem Schäferspiel, das Birken (ähnlich wie Harsdörffer) als musikdramatische Gattung definiert. Schon während der geschichtlichen Herleitung meint Birken, man solle die »alten HirtenGesang-Spiele« 116 wieder beleben. Daß er dabei ebenfalls auf einen christlichen Typ abzielt, zeigt der an dieser Stelle gegebene Hinweis auf das von ihm selbst verfaßte Singspiel / betitelt SOPHJA,117 das ein Beispiel abgebe, »wie man / sonder mit Heidnischen Götzen sich zu schleppen / welches einem ChristlichenSchauplatz sehr übel anstehet / dergleichen Singspiele anordnen könne.« 118 Besonders deutlich wird dieser von Birken als Abgrenzung gegenüber dem antiken Drama verstandene Entwurf eines christlichen Schauspiels schließlich in den auf die geschichtliche Herleitung folgenden Einzelbestimmungen. Denn neben den noch weitgehend mit dem allgemeinen Konsens innerhalb der Barockpoetik übereinstimmenden Regeln zu Prolog, Aktgliederung, Handlungsaufbau, Chören, Nachspielen, Versmaß und Bühnengestaltung 119 finden sich spezifische Ausführungen zu Personal, Stoffen, Mustertexten sowie vor allem zu Zweck und Wirkung, die allesamt auf die Fundierung eines christlichen Schauspiels abzielen.
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Zu einem anderen Ergebnis kommt Silber: Birken, S. 43, der resümiert: Die Änderung bei der Begriffsbestimmung »betrifft allerdings nur die Bezeichnungen, nicht dagegen Form und Inhalt dieser dramatischen Gattungen«. Dabei soll das neu eingeführte Begriffspaar die für die christlichen Dramen üblich gewordene, jedoch in Birkens Augen den Zweck der Schauspiele nur unzureichend wiedergebende Bezeichnung »Tragico-Comoedias« ersetzen, wobei der Unterschied zwischen »T\igendspiel« und »Heldenspiel« vor allem mittels des Standeskriteriums definiert wird: »Obige Eintheilung der Schauspiele in Tugend= und Heldenspiele / gibet vonselbst an die hand / daß in jener gemeine / in dieser hohe Personen / auftreten müßen: es mag aber in beiden von Freud und Leid gehandlet werden / weil beiderlei Personen beides widerfahren kann« (Birken: Dicht-Kunst, S. 329). Ebd., S. 316. [Sigmund von Birken]: Singspiel / betitelt SOPHJA: zu Des Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn Christian=Ernstens Markgravens zu Brandenburg /[...] mit Der Durchleuchtigsten ChurPrincessin / Freulein Sophien=Erdmuht / [ . . . ] / Hochfürstlichem Beylager / unterthänigst übergeben. Bayreuth 1662. Birken: Dicht-Kunst, S. 315f. Siehe hierzu im einzelnen Markwardt: Poetik, Bd. 1, S. 117f. u. 123-125, und Silber: Birken, S. 29-39.
137 Christliches Schauspiel Am Ende des Kapitels über die Schauspiele erinnert Birken unter Bezugnahme auf Erasmus von Rotterdam daran: »Es wäre gut / wann man alle Biblische Historien zu Schauspielen machte«. Dieser Hinweis stellt alles andere als eine angehängte Schlußmahnung dar, sondern nimmt nochmals, gleichsam resümierend, wichtige vorangegangene Bestimmungen auf: So hieß es bereits zuvor bezüglich der Auswahl von Personen und Stoffen, »daß / auf Christlichen Schaubühnen / Heidnische Götzen nicht auftreten sollen«.120 Wichtiger noch als diese knappe Restriktion ist die zugleich gegebene Erinnerung an die hierzu im sechsten Kapitel der Poetik gegebenen Anweisungen. Es handelt sich hierbei um die Ausführungen zu der in § 50 der Poetik aufgestellten Frage, »ob ein Christlicher Poet / in seinen Gedichten / der Heidnischen Götter Namen gebrauchen dörfe?« 121 Birken erörtert dieses Problem mit einer sich über mehrere Paragraphen hinziehenden Argumentation, an deren Ende ein klares Nein steht. 122 Wie ein abschließender Paragraph bereits an dieser Stelle vorausblickend hervorhebt, beziehe sich diese Restriktion auch auf die Schauspiele.123 Doch Birken beläßt es hier, wie schon in den vorangegangenen Paragraphen, nicht bei einem bloßen Verbot, sondern stellt diesem ein positives Programm christlicher Exempel entgegen, welche im Schauspiel anstatt des »Heidnischen Götzengewäsche[s]«124 Verwendung finden sollen. Dabei greift er auf »ehemals hierüber verfasste Verse«125 zurück, die nun gleichsam in der Form eines programmatischen Gedichts eine Art christliche Stoffsammlung für die Bühne entwerfen und aufgrund der doppelten Bezugnahme durch >Vorausschau< und >Erinnerung< als konstitutiv für das Schauspielkapitel angesehen werden müssen: 120 121 122
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Birken: Dicht-Kunst, S. 330. Ebd., S. 62. Siehe hierzu ausführlich Verweyen: Dichtungstheorie und Dichterverständnis, S. 183ff.; Jörg Jochen Berns: Gott und Götter. Harsdörffers Mythenkritik und der Pan-Theismus der Pegnitzschäfer unter dem Einfluß Francis Bacons. In: Georg Philipp Harsdörffer - Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern 1991 (IRIS, Bd. 1), S. 23-81, bes. S. 43 -47, sowie jüngst Hartmut Laufhütte: Programmatik und Funktionen der allegorischen Verwendung antiker Mythenmotive bei Sigmund von Birken (1626-1681). In: Die Allegorese des antiken Mythos. Hg. v. Hans-Jürgen Horn und Hermann Walter. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 75), S. 287-310, bes. S. 292 -295. Vgl. Birken: Dicht-Kunst, S. 71. Ebd., S. 67. Ebd., S. 71. Die Verse stammen ursprünglich aus einem Lobgedicht, das Birken als »recommendation« für die 1676 erschienene Ausgabe von Constantin Christian Dedekinds »Altes und Neues in geistlichen Sing-Spiele« zugesteuert hat. Auf diesen Bezug hat in anderem Zusammenhang der Musikwissenschaftler Werner Braun aufmerksam gemacht. Vgl. Braun: Einleitung, S. XXII. Wie aus dem Tagebuch des Dichters hervorgeht, besaß Birken eine eigene Ausgabe der geistlichen Spiele Dedekinds. Vgl. Birken: Tagebücher, Bd. 2, Eintrag vom 22. Januar 1676, S. 310.
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[...] Man stell nicht auf / der Heiden ihre Götzen / wie jene thun: die zu papier nur setzen / was Gott ein Greul. Ziemt das der Christenheit / daß sie ein Spiel vom Teufel Heer erfreut? Das sind sie ja die Götter / die man bildet / worum man so der Fremden Hand vergüldet. Die erste Kirch hat nichts hiervon gewust. Sucht aus der Holl man so hervor die Luft? Ach! Gottes Buch das wim[m]let von Geschichten / davon man kann / was nüzt und labet / dichten / nicht was erdacht der Fabelschmied Ovid. Viel bäßer klingt / das heilig singt / ein Lied / von Gottes Sohn / der Mensch aus Lieb geworde[n] / daß Menschen er brächt in den Götter-Orden; von Salomo / dem Föbus seiner Zeit; vom David / der uns zum Parnaß geweiht die Sions-Burg / wovon Siloha fließet der Musen Brun[n] / wo Jordans Claros schießet / der heilig ist / weil er ward JEsu Bad; von Jacob / der die Heerd geweidet hat bei Eders Thurm / wo Himmel Brod gefallen in Bethlehem / wo ließ die Psalmen schallen der Jesse-Sohn; von Jsaacs Opfer-gang / von Simson / der im Tod den Feind bezwang / ist Hercules; von Josua dem Helden / der Son[n] u. Mond den Stillstand kont anmelde[n]; von Mose auch / dem großen Wunder Man[n] / dem GOtt zu lieb / was er nur wolt / gethan; von Abraham / dem Fürsten aller Frommen; von Henoch / den der Himmel weggenommen; von Noah / Vattern dieser andren Welt; von Adam auch / ach! Den ein Biß gefällt / durch Satans List: und was noch sonst für Sachen diß bäste Buch uns gern bekandt wolt mache[n]. 126 D i e s e m Programm an christlichen Stoffen, das durch Empfehlungen zur Verwendung eines christlichen Personals ergänzt wird, 1 2 7 entspricht auch eine n e u e Zweckbestimmung des Schauspiels, w o b e i vor allem die antike Wirkungsdefinition des Dramas schroff zurückgewiesen wird. Während Aristoteles (trotz aller historischen Fehldeutungen und Mißverständnisse) in vielen Poetiken der Renaissance und des Barock im R a h m e n der Dramentheorie als Autorität eine wichtige Rolle spielt 1 2 8 und etwa Albrecht Christian Rotth 126 127
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Birken: Dicht-Kunst, S. 72f. So vermerkt Birken zu den zugelassenen Personen für das »Heldenspiel« unter anderem: »Daß / auf Christlichen Schaubühnen / Heidnische Götzen nicht auftreten sollen / ist droben im VI Cap. erinnert worden: und können / an derer stat / Göttliche Eigenschaften / lügenden und Laster / auch Flüße / Länder und Städte / in Frauen Gestalt / oder als gute und böse Engel / Genii und Knaben / in der Luft erscheinen [...]« (ebd., S. 330). Schon Martin Opitz hat etwa nicht nur in der Vorrede seiner Poetik, sondern auch bei der Definition der Tragödie auf Aristoteles verwiesen: »Von derer zugehör
139 meint, daß Aristoteles »von der Tragödie so Umständig und schöne redt / daß Er es fast nicht schöner hätte machen können«, 1 2 9 verwirft Birken mit dem antiken Drama auch dessen Wirkungslehre rigoros und hält diesem die Konzeption eines christlichen Schauspiels zu Ehren Gottes entgegen: Das Absehen und der Zweck der alten Comödien und Tragedien ist gewesen / die Spielschauer in diesen zum Erstaunen und Mitleiden / in jenen zur Hoffnung und Freude / zu bewegen. Ist zwar wolgemeint / [...]. Es ist aber damit nicht ausgemacht / daß man allein suche die Menschen zu belustigen oder zu schrecken. Die blinden Heiden / die vom wahren Gott nichts wüsten / haben hierinn gröblich und verdam[m]lich geirret / und sich nicht gescheuet / allerhand Bosheiten öffentlich vorzustellen / wan[n] sie nur besagten Zweck erreichen mochten [...]. Wir Christen sollen / gleichwie in allen unsren Verrichtungen / also auch im Schauspiel-schreiben und Schau-spielen das einige Absehen haben / daß Gott damit geehret / und der Neben-Mensch zum Guten möge belehrt werden [...]. 130 In den letzten Worten von der Belehrung des N e b e n m e n s c h e n kommt noch eine weitere wichtige Funktion zum Ausdruck, die Birken d e m Schauspiel zuschreibt. D e n n neben dem Zweck der Ehre Gottes wird das Schauspiel zudem als Teil eines christlichen Erziehungs- und Unterweisungsprogramms bestimmt. D i e s zeigt sich unter anderem in der Festlegung des Schauspiels als christlichen Tugend- und Lasterspiegels, wobei in der A n n a h m e einer direkten Wirkungsmechanik der Held »ein Fürbild aller Tilgenden« darstellen und »erstlich gekränkt seyn / aber endlich ergetzet werden« solle, wohingegen der »Tyrann oder Böswicht« 1 3 1 entweder zu Grunde gehen oder bekehrt werden müsse. D i e s e belehrenden Funktionen spiegeln sich auch in der Betonung der didaktischen Aufgaben des Schauspiels wider, wobei etliche Stellen zugleich nahelegen, daß Birken (ähnlich wie schon Dürr) vor allem das Schuldrama im Auge gehabt haben dürfte. So heißt es etwa im Schlußparagraphen des Kapitels: daß die Poesy-begierige Jugend / und etwan auch sonst ein und anderer Leser / durch die GOtt-ehrende angezogene Beispiele / zur Gottes-Liebe aufgemuntert werden / und solche zugleich mit dieser Kunst Lehr-Sätzen gleichsam in sich trinken möge. 1T?
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schreibet vornehmlich Aristoteles / vnd etwas weitleufftiger Daniel Heinsius, die man lesen kan« (Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. In: ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. George Schulz-Behrend. Bd. II: Die Werke von 1621 bis 1626. 1. Teil. Stuttgart 1978 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 300), S. 331-416, das Zitat S. 364f.). Siehe hierzu allgemein Manfred Fuhrmann: Die Rezeption der aristotelischen Tragödienpoetik in Deutschland. In: Handbuch des deutschen Dramas. Hg. v. Walter Hinck. Düsseldorf 1980, S. 93-105, bes. S. 93-96, sowie Schings: Consolatio Tragoediae, S. 11-13 u. passim. Rotth: Vollständige Deutsche Poesie, S. 211. Schon im Kapitel zur Komödie stellte Rotth fest: »Der Aristoteles ist gewiß einer von den vornehmsten / die von der Sache recht zu urtheilen gewust« (ebd., S. 78). Birken: Dicht-Kunst, S. 335f. Siehe hierzu auch Schings: Consolatio Tragoediae, S. 16, sowie Aikin: Catharsis and Exemplum, S. 245. Birken: Dicht-Kunst, S. 330f. Ebd., S. 339f.
140 An anderer Stelle schreibt Birken, es sei »unsträfflich und löblich«, wenn man Schauspiele »vernünftig schreiben und spielen / und die Jugend sich damit üben / auch gute mutige Sitten und Redfärtigkeit ihr dadurch angewöhnen«133 lasse. Schließlich führt Birken gegen Ende des Schauspielkapitels den bereits erwähnten Rat Erasmus von Rotterdams an, der empfohlen hatte: »Es wäre gut / wann man alle Biblische Historien zu Schauspielen machte / und die Jugend sich darinn öffentlich üben ließe; maßen solches oftmals mehr / als eine übereilte Predigt / verfangen und Nutzen schaffen würde.«134 Das Schauspiel als praktische Theologie Diese Stelle ist jedoch noch in anderer Hinsicht äußerst bedeutsam und führt gleichsam in das Zentrum der Birkenschen Schauspieltheorie und ihrer apologetischen Zielsetzung. Denn durch sie macht der Poetiker nochmals deutlich, daß neben der praktischen Unterweisung das Schauspiel auch höhere Erkenntnisse zu vermitteln vermag. Dies führt jedoch nicht nur zu einer Erweiterung seiner Funktionen, sondern verleiht ihm darüber hinaus gleichsam höhere Weihen. Hierfür ist der Vergleich des Schauspiels mit der Predigt und der Bezug auf Erasmus von Rotterdam besonders aufschlußreich. Denn damit spielt Birken auf den bedeutsamen Topos von der Dichtung als verborgener Theologie an, der eines der stärksten Argumente fast aller Apologeten der Dichtkunst bildete.135 Demnach sei die Dichtung aufgrund ihrer allegorischen Möglichkeiten in der Lage, auf anschauliche Weise eine »Vergegenwärtigung des göttlichen Wirkens«136 zu leisten, ja sie könne gleichsam als dargestellte Theologie und andere Art der Predigt sogar exegetische Funktionen übernehmen. 137 Diese Vorstellung fand vielfach Eingang in die deutschen Barockpoetiken und diente den Apologeten des Schauspiels als wichtiges Argument: So etwa schon bei Cornelius Schonaeus oder bei Johann Conrad Dürr, der nicht nur biblisch-religiöse Stoffe für die Bühne empfiehlt, damit diese sich um so fester einprägten, sondern auch den Zweck der Schauspiele als Lob Gottes und Darstellung der Herrschaft Gottes bestimmt. Nicht zuletzt hat Birken selbst auf diese Vorstellung mehrfach zurückgegriffen, zunächst in der von 133
Ebd., S. 338. Ebd., S. 339. 135 Siehe hierzu allgemein Rolf Bachem: Dichtung als verborgene Theologie. Ein dichtungstheoretischer Topos vom Barock bis zur Goethezeit und seine Vorbilder. Diss, (ms.) Bonn 1955, bes. S. 35-48, sowie Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 221ff., 443ff. u. 530ff. 136 Bachem: Dichtung als verborgene Theologie, S. 35. 137 vgl. ebd., S. 35ff., sowie Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern. München 1976, bes. S. 435-457. 134
141 ihm verfaßten »Vor-Ansprache zum Edlen Leser« zum ersten Teil des R o mans Die Durchleuchtige
Syrerinn Aramena138
von A n t o n Ulrich von Braun-
schweig-Lüneburg, um den R o m a n zu rechtfertigen, 1 3 9 schließlich erneut in fast wörtlicher Entsprechung im Schauspielkapitel: Die Schauspiele sind Spiegel des Menschlichen Lebens / und ist allen Menschen nützlich / sowol als das Historien-Lesen / sich darinn zuweilen ersehen: damit man an den Ausgängen die Vorsicht / an den Unglücksfällen die Gedult und Hoffnung / an den Lastern dieselben hassen / und an den lügenden dieselben lieben und üben lerne. 140 Dan[n] wann / in Schauspielen / die Tilgend nicht belohnt / und die Laster nicht gestrafft erscheinen / so ist solches ärgerlich und eine Gotteslästerung / weil es der Göttlichen Regirung zuwider lauffet. 141 D a s Schauspiel kann demnach nicht nur durch E x e m p e l zur Tilgend erziehen, sondern lenkt zugleich mit dem Verweis auf das constantia-Vr'mzvp
den
Blick auf den einzigen Weg zum Erreichen der Seligkeit und macht das Wirken der göttlichen Vorsehung anschaulich, wodurch es gleichsam zur dramatisierten Heilsgeschichte wird. 1 4 2 Damit vermag das Schauspiel zugleich 138
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[Sigmund von Birken]: Vor-Ansprache zum Edlen Leser. In: Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg: Die Durchleuchtige Syrerinn Aramena. Der Erste Theil: Der Erwehlten Freundschaft gewidmet. Nürnberg 1669, fol.):(iij r -[):():(iij v ]. Vgl. ebd., fol.):(iij r : »WAnn wahr ist / wie es nicht kan geläugnet werden / daß in dieser Sterblichkeit nichtes bässer sei / als die Seele in ihren ursprung senden / GOtt das höchste Gut recht erkennen / und demselben durch lügend sich gleichförmig machen: so müssen / unter allen Schriftarten / die bästen seyn / die uns zur Gotteserkenntnis füren und zur lügend anweisen. Beides verrichten / die Historien oder Geschichtsschriften: denen wir auch eher und mehr / als den bloßen Lehrschriften / gläuben. Dann / da lernen wir den allweißen / gerechten / gütigen / allmächtigen und warhaften GOtt / aus seinen werken / aus der wunderbaren Regirung / aus denen über die Tyrannen und Boshaftigen verhängten Straffen / aus beschirm= und belohnung der Gottliebenden und Tugendhaften / und aus der erfüllung seiner Verheisungen / erkennen. Wir lernen auch daraus / die Tilgend lieben und die Laster hassen: weil wir lesen / wie es mit beiden endlich wol und übel abzulaufen pflege. Wir lernen das Übel dulten: weil wir an den Beispielen sehen / daß viel tausend andere auch eben das erlitten / und das ende davon erlebet.« Siehe hierzu auch Bachem: Dichtung als verborgene Theologie, S. 45f., sowie jetzt vor allem Ernst Rohmer: Das epische Projekt. Poetik und Funktion des >carmen heroicum< in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Heidelberg 1998 (Beihefte zum Euphorion, Bd. 30), S. 220ff. Birken: Dicht-Kunst, S. 339. In ähnlichen Worten hatte sich schon Johann Conrad Dürr geäußert. Birken: Dicht-Kunst, S. 331. Dies korrespondiert mit der Bestimmung, die Birken zuvor bereits für die »Heldenspiele« gegeben hat: »Die Zier von Heldenspielen ist / wann alles ineinander verwirrt / und nicht nach der Ordnung / wie in Historien / erzehlet / die Unschuld gekränkt / die Bosheit beglückt vorgestellt / endlich aber alles wieder entwickelt und auf einen richtigen Ablauf hinausgeführet wird« (ebd., S. 329f.). Vgl. auch Aikin: Happily ever after, S. 67-69, die im Zusammenhang der Schauspieltheorie Birkens auf ähnliche Funktionsbestimmungen hingewiesen hat. Demnach solle das Schauspiel durch das obligatorisch vorgeschriebene gute Ende »Hoffnung« und
142 Funktionen zu erfüllen, die ursprünglich der Theologie zukommen. Auf eine derartige Funktionsbestimmung für die Dichtung allgemein hat bereits Theodor Verweyen im Zusammenhang des von Birken im >Anhang< der Poetik publizierten Programma Poeticum hingewiesen.143 Dabei hat er insbesondere auf die Bedeutung des Erasmus von Rotterdam aufmerksam gemacht, »ein in jenem Prozeß der Funktionsumschichtung stehender und diesen selbst mitforcierender Autor«.144 Es ist also keineswegs Zufall, sondern von erheblicher Signifikanz, wenn Birken im Schauspielkapitel gerade Erasmus von Rotterdam als Autorität für die Vorstellung vom Schauspiel als einer anderen Form der Predigt zitiert. Die apologetische Absicht zeigt sich aber noch auf andere Weise. Denn Birken wird nicht müde, parallel zu seinem Entwurf eines christlichen Schauspiels immer wieder auf die sträflichen Mißbräuche des Schauspiels hinzuweisen. So prangert er etwa die »Schand-reden« in den »Sau-spielen«145 an und grenzt sein Konzept deutlich von Spielen ab, »die Gott verunehren / und den Leser ärgern«.146 Dabei hat der im privaten Leben dem Komödienbesuch durchaus zusprechende Poetiker zunächst das Spiel der Wandertruppen im Auge: Dergleichen Leute / die von solchen Schauspielen beruff machen / und um ein leidiges Geld den Leuten die Laster durch die Augen ins Herze spielen / sind in alten und neuen Zeiten den Taschenspielern / Gaucklern und Seildänzern gleich geachtet und verachtet worden.147
Daneben werden aber ausdrücklich das antike Drama und insbesondere sein Fortleben in der Neuzeit in diese Kritik einbezogen und als abschreckendes Beispiel für mißbräuchliche Verwendung angeführt, wie etwa die despektierlichen Bemerkungen Birkens über die Terenzschen Texte verdeutlichten, deren allgemeinen Gebrauch in den Schulen er im Zusammenhang mit der Erörterung des Zwecks der Schauspiele anprangert: »daß man in Schulen die Jugend aus dem Terentio, der ja alle Laster vorträget / [ . . . ] / das Latein
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»Freude« erzeugen und dadurch auf das ewige Heil verweisen: »>Happily ever after< has risen here to truly metaphysical heights in the portrayal of the attainment of eternal life in the presence of God« (ebd., S. 69). Dem Schauspiel liegt somit ebenfalls ein Textverständnis zugrunde, das Ernst Rohmen Das epische Projekt, S. 224£, hinsichtlich der Romantheorie Birkens als ein Fortbestehen der allegorischen Textauslegung beschrieben hat und das für Birken »noch uneingeschränkt Gültigkeit« besitze. So hat Verweyen: Daphnes Metamorphosen, S. 367, hinsichtlich der funktionsgeschichtlichen Aspekte des »Programma Poeticum« festgehalten, daß hierin eine dichtungstheoretische Auffassung zum Ausdruck komme, die der Dichtung Funktionen zuschreibe, »die eine im Wandel begriffene Theologie [...] abzustoßen und freizusetzen beginnt«. Ebd. Birken: Dicht-Kunst, S. 335. Ebd., S. 337. Ebd., S. 338.
143 lernen lässt«.148 Darüber hinaus sei das antik-heidnische Schauspiel aber vor allem aufgrund seines idolatrischen Charakters zu verurteilen, wie die bereits zitierte Kritik an der aristotelischen Wirkungslehre deutlich macht. Das antike Drama stelle letztendlich nichts anderes als ein »Spiel vom Teufel Heer« 149 dar, welches nur der Götzenverehrung gedient habe. In den Augen Birkens ein verdammenswerter Mißbrauch, den er in dem oben angeführten infernalischen Zerrbild enden läßt: »da dann Schauspieler und Spielschauer miteinander dahin gefahren / wo sie nun / auf dem feurigen Schauplatz ihres Götzen Plutons ein ewiges Traurspiel [!] spielen«.150 Es ist wohl kein Zufall, daß Birken direkt auf dieses abschreckende Bild seine eigene Bestimmung des Schauspiels als einen Typ geistlich-erbaulicher Dichtung folgen läßt. Die Kirchenväter und die spectacula Christiana Bemerkenswert und nicht nur für die Quellen, sondern auch für die gesamte Konzeption der Schauspieltheorie Birkens aufschlußreich sind die verschiedenen Argumente, die Birken bei diesem kontrastiven Vorgehen einsetzt. So greift er etwa auf ein äußerst beziehungsreiches Argument zurück, um den moralisch bedenklichen Charakter der >falschen< Schauspielart bloßzulegen: Demnach zeige es sich bei derartigen Veranstaltungen, daß »manche Matron oder Jungfrau / die schamhaftig und züchtig in das Spielhaus gegangen / geil und frech wieder nach Haus gehet.«151 Mit eben diesem >Beweis< versuchten einst die Kirchenväter den unzüchtigen Charakter der antiken Schauspiele und die von ihnen ausgehende moralisch-sittliche Gefährdung aufzuzeigen. So heißt es etwa (in fast wortwörtlicher Entsprechung zu Birken) bei Cyprianus in dessen Traktat an Donatus: »[...] so kehrt dieselbe Frau, die vielleicht als keusche Matrone zum Schauspiel gegangen war, unkeusch aus ihm zurück.«152 148 149 150
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Ebd. Ebd., S. 72. Ebd., S. 336. Diese in der Theorie vorgenommene Verdammung hindert Birken jedoch nicht, bei der Erörterung über Probleme hinsichtlich der praktischen Ausführung der Chorlieder in den Schauspielen zu erwähnen, daß »hierinn [...] der treffliche Seneca wol Meister gewesen« sei (ebd., S. 327). Zu dem sich aus solcher Vorgehensweise vermeintlich ergebenden und auch bei anderen Poetikern zu beobachtenden Widerspruch hat Joachim Dyck: Athen und Jerusalem, S. 63, allgemein angemerkt: »Als Apologet und Christ kann der Dichter die Antike als Mutter seiner Kunst verleugnen, sie sogar des Plagiats zeihen und dem diabolischen Reiche zuordnen. Als Praktiker und Mitglied der Respublica Literaria jedoch wird er ihre unbestrittene Führung dankbar anerkennen, sie eifrig nachahmen und sich ihrem Anspruch unterwerfen.« Ähnlich jüngst auch Laufhütte: Programmatik, S. 308ff., der festgehalten hat: »Der weltliche Dichter Birken verfährt nach Opitz, der geistliche gemäß der eigenen Poetik« (ebd., S. 310). Birken: Dicht-Kunst, S. 337. Caecilius Cyprianus: Ad Donatum, § 8. In: ders.: Des Heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Traktate und des Diakons Pontius Leben des Hl. Cyprianus. Aus dem
144 Dieses Beispiel ist kein Einzelfall, sondern es gibt in Birkens Schauspielkapitel noch mehrere Fälle von bemerkenswerten Übernahmen aus den Schriften der Kirchenväter. U m sein Programm eines christlichen Schauspiels zu rechtfertigen und gleichzeitig den gefährlichen Charakter der antiken Dramen herauszustreichen, rekurriert Birken auf die nicht minder bedeutsame Vorstellung, daß Gott sich von derartigen Veranstaltungen abkehre, bei denen der Teufel im wahrsten Sinne des Wortes mit im Spiel sei: Damit [d. h. mit einem christlichen Schauspiel, M. P.] werden wir erlangen / daß auch Gott und seine Engel unsre Spielschauer seyen / und Wolgefallen daran haben: die hingegen fliehen / wan[n] sie Teufel oder deren Qwalgenoßen auftreten sehen. 153 Diese Stelle korrespondiert mit einer zweiten Variante der Auffassung von Gott als Zuschauer der Schauspiele, die Birken anführt, um ebenfalls vor dem Mißbrauch unzüchtiger Schauspiele zu warnen: Wann man bedächte / wie Gott und seine Engel überall zugegen seyen / alles mit ansehen und anhören / und wie die Teufel alle unnütze Gebärden und Reden aufzeichnen / derentwegen dort ewig (wie unser Heiland vorsaget) von ihnen Rechenschaft zu fordern: ich weiß / die Furcht vor dem Allerheiligsten All-Aug und AllOhr / und der Höllen-Schrecken / würden uns bald den Lust vergehen machen / solche Üppigkeit zu üben und anzuschauen. 154 D i e Vorstellung von Gott und seinen Engeln als Zuschauer der Schauspiele ist in ihren beiden Abwandlungen ebenfalls bereits in den theaterfeindlichen Schriften und Aussagen der Kirchenväter ausgeprägt. So meint etwa Salvian, daß der Christ beim Theaterbesuch nicht mit Gottes Fürsorge rechnen könne. Dieser wende sich nämlich vom Theater ab, da dort Schamloses geschehe. 1 5 5 Ähnlich argumentiert Tertullian, der in De spectaculis gleich an zwei Stellen das Argument von Gott als Zuschauer zur abschreckenden Warnung bemüht: Wenn Gott doch nur gar keine Schandtaten der Menschen anschauen würde, damit wir alle seinem Urteil entgingen! Aber er schaut sie an, Raubüberfälle ebenso wie Fälschungen, [...], wie Götzendienst und eben auch die Schauspiele! Und gerade deshalb also sollen wir ihnen nicht zuschauen, damit wir nicht von ihm gesehen werden, der alles sieht.156
Lateinischen übersetzt v. Julius Baer. München 1918 (Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 34), S. 47. Möglicherweise ist Birken hierbei von Johann Conrad Dürr angeregt worden. Immerhin referierte dieser nicht nur die zentralen Argumente der Kirchenväter, sondern zitierte auch das auffällige Argument Cyprianus'. 153 Birken: Dicht-Kunst, S. 330. 154 Ebd., S. 337f. iss Ygj s a i v i a n : D e gubernatione dei libri VIII, liber VI, § 20f. In: Salviani Presbyteri Marsiliensis: Libri qui supersunt. Recensuit Carolus Halm. Berolini 1961 (Ndr. der Ausgabe Berlin, Weimar 1877) (Monumenta Germaniae Historica, AA, I), S. 70. Siehe dazu auch Weismann: Kirche und Schauspiele, S. 71. 156 Tertullian: De spectaculis, § 20,3, S. 63.
145 Denn zweifelst du daran, daß in jenem Augenblick, da der Teufel in der Versammlung wütet, alle Engel vom Himmel herabschauen und jeden einzelnen brandmarken, der eine Gotteslästerung von sich gegeben, der sie gehört hat, der seine Zunge und der seine Ohren dem Teufel gegen Gott geliehen hat?157
Die angeführten Stellenvergleiche dürften hinlänglich deutlich machen, daß Birken sich auf die Schriften und Aussagen der Kirchenväter bezieht, sie zum Teil sogar fast wörtlich in das Schauspielkapitel der Poetik einarbeitet. Diese Anlehnung an die Patristik in einer apologetischen Schauspieltheorie ist auf den ersten Blick äußerst erstaunlich, galten doch gerade die Kirchenväter als Kronzeugen im Kampf gegen Schauspiel und Theater (siehe oben). Doch die spezifische Verwendung und der jeweilige Kotext der von den Kirchenvätern übernommenen Argumente machen die Strategie des Nürnberger Poetikers deutlich: Birken koppelt die zur Abschreckung und Mahnung angeführten >Beweise< der Kirchenväter stets mit Aussagen über den Mißbrauch von Schauspielen, womit er deren Argumente nicht nur für seine Apologie geschickt instrumentalisiert, sondern auch (wie zuvor bereits Johann Conrad Dürr) indirekt zu verstehen gibt, die Argumentation der Kirchenväter stelle nur ein Vorgehen gegen sträflichen Mißbrauch und keine Grundsatzkritik dar. Eine Bestärkung hierfür konnte Birken möglicherweise darin sehen, daß die Kirchenväter selbst erkannt hatten, man müsse den Menschen einen Ersatz für die diffamierten Schauspiele bieten, weshalb sie ihre vorgebrachte Kritik mit dem Hinweis auf die besseren spectacula Christiana verbanden. 158 So verkündete etwa Tertullian gegen Ende von De spectaculis: »Wenn du an Bühnenliteratur Gefallen findest - wir haben genug Literatur, genug Verse, genug Lebensweisheiten, auch genügend Lieder und Stimmen - und zwar keine Dichtungen, sondern Wahrheiten [.. ,].«159 Neben Tertullian rühmten auch Novatian und Augustinus die Art von Schauspielen, die sich den Christen beim Lesen des Alten und Neuen Testaments böten, wie etwa die Schöpfungsgeschichte, die Sintflut, die verschiedenen Wunder oder siegreichen Kämpfe Christi gegen den Satan. Auch Quodvultdeus meinte, Restriktionen allein reichten nicht aus, und war überzeugt, man sollte den Christen zeigen, woran sie sich vergnügen könnten: »vide contra nostra sancta, sana, suauissima spectacula«. 160 Denn die heilige Kirche der Christen sei voller »veneranda ac salubria spectacula«. 161 Zum Beweis hierfür stellte Quodvultdeus im Sinne des Verfahrens
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Ebd., § 27,3, S. 79. Siehe hierzu Weismann: Kirche und Schauspiele, S. 107-110 u. 173f. Tertullian: De spectaculis, § 29, 4, S. 83. Quodvultdeus: Sermon De Symbolo I, II, 5. In: Opera Qvodwltdeo Carthaginiensi episcopo tribvta. Edit R. Braun. T\irnholti 1976 (Corpus Christianorum, Series Latina, Bd. 110), S. 307. Ebd., I, II, 2, S. 307.
146 einer »halbbiblischen Typologie« 162 jedem heidnischen Schauspiel eine christliche Entsprechung aus der Bibel gegenüber und entwarf um die biblischen Figuren Christus, Maria, Petrus, Elia, Susanna, Joseph, Rebekka, Jakob, Esau und Daniel einen regelrechten Katalog von spectacula Christiana: so übertreffe etwa das großartige Schauspiel, das der himmlische Wagenlenker Elia biete, jedes Ereignis im Circus, und welcher Tierkampf im Amphitheater gleiche schon dem siegreichen Kampf Daniels in der Löwengrube. 163 Diese Hinweise auf die >Bühnenliteratur der Christen< sowie insbesondere das dabei von mehreren Kirchenvätern angewandte antithetisch-typologische Verfahren, den antiken spectacula christliche Äquivalente entgegenzustellen, 164 sind um so bedeutender, als sie von Struktur und Ansatz her stark an das Vorgehen Birkens in dessen Poetik erinnern. Denn bei der (bereits oben erwähnten) Diskussion von Birken, »ob ein Christlicher Poet / in seinen Gedichten / der Heidnischen Götter Namen gebrauchen dörfe?«, 165 entwarf der Poetiker ganz im Stile der Kirchenväter einen Katalog christlicher Stoffe, indem er ebenfalls in einer langen Beweiskette den antik-heidnischen Paradigmen nach dem Prinzip der Typologie jeweils eine christliche Entsprechung aus der Bibel kontrastiv zuordnete. 166 Daß bei diesem Verfahren einer »antithetisch-typologisch gearteten Parallelität« 167 tatsächlich in erster Linie die Kirchenväter als Vorbild und >ausgeschriebene< Autoritäten fungiert haben dürften, legen neben den Ähnlichkeiten zu Quodvultdeus noch weitere Entsprechungen nahe: So hat etwa Theodor Verweyen in einem anderen Zusammenhang nicht nur auf die grundsätzliche Bedeutung der Kirchenväter für die Poetik Birkens hingewiesen, sondern für Teile derselben auch eine direkte Bezugnahme Birkens auf den Osterhymnus des Paulinus von Nola nachgewiesen. 168 162
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Friedrich Ohly: Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung. In: Miscellanea Mediaevalia. Bd. 4: Judentum im Mittelalter. Berlin 1966, S. 3 5 0 369, hier S. 360. Vgl. zu diesem Aspekt allgenmein die weiterführenden Darlegungen bei ders.: Halbbiblische und außerbiblische Typologie (1976). In: ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, S. 361-400. Vgl. Quodvultdeus: Sermon, I, II, 8 - 2 4 , S. 308f. Siehe auch Weismann: Kirche und Schauspiele, S. 109f. Zu diesem Verfahren einer »halb-« bzw. »außerbiblischen Typologie« siehe die grundlegenden Ausführungen bei Ohly: Synagoge und Ecclesia, S. 360-364; ders.: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 89 (1958), S. 1 - 2 3 , bes. S. 10, sowie mit zahlreichen Beispielen ders.: Halbbiblische und außerbiblische Typologie, S. 368-400, und ders.: Skizzen zur Typologie im späteren Mittelalter (1979). In: ders.: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hg. v. U w e Ruberg u. Dietmar Peil. Stuttgart, Leipzig 1995, S. 509-554.
Birken: Dicht-Kunst, S. 62. Vgl. ebd., S. 6 7 - 7 1 . 167 Ohly: Skizzen zur Typologie, S. 539. 168 Vgl. Verweyen: Dichtungstheorie und Dichterverständnis, S. 183f. 166
147 Auch wenn es in der Teutschen Rede-bind und Dicht-Kunst nicht direkt ausgesprochen ist, scheint es angesichts dieser Übereinstimmungen mit den Schriften der Kirchenväter durchaus wahrscheinlich, daß Birken sich bei seinem apologetischen Entwurf eines christlichen Schauspiels an dem von den Kirchenvätern formulierten Gedanken der spectacula Christiana orientierte nicht zuletzt hat er jedenfalls das von den frühchristlichen Schriftstellern am meisten hervorgehobene spectaculum christianum, die Erlösung des Menschen durch Christi und dessen Sieg über Satan, selbst in einem Stück dramatisiert - ein Stück, das mit der Poetik auf bedeutsame Weise verbunden ist: An mehreren Stellen hat Birken seine Theorie mit Hinweisen auf eigene Texte verknüpft, die er explizit als Exempel empfiehlt. Eine prominente Stelle unter diesen Stücken nimmt dabei das SchauSpiel Psyche ein, da es Birken zusammen mit anderen Texten im >Anhang< der Poetik erneut, und zwar in deutscher Übertragung, publiziert hat. 169 Schon die mehrfach im Schauspielkapitel gegebenen Verweise 170 auf das im Anschluß der Poetik abgedruckte geistliche Spiel, das nach Birken »von der Erschaffung / Abfall und Erlösung des Menschen handlet«, 171 deuten darauf hin, daß die Psyche keineswegs nur als eine verzierende Beigabe der Poetik zu verstehen ist, sondern daß Birken das Stück gleichsam als praktische Ausführung seiner Konzeption angesehen hat, wobei noch zu fragen sein wird, inwieweit dabei ebenfalls der Terentius Christianus als Modell gedient hat. 172 Birkens dezidiertes Programm eines spectaculum christianum entspricht nicht nur seiner eigenen Dramenpraxis, die durchgehend starke religiöse Tendenzen aufweist, 173 sondern es dürfte zudem in seiner Ausprägung und Konsequenz innerhalb der deutschen Barockpoetik fast singulär sein - und dies gerade im Vergleich mit Jakob Masen, nach Markwardt der zweite wichtige Repräsentant einer »christlich-moralischen Leitidee«, 174 dessen Dramen und Poetik ohne Zweifel für Birkens Schaffen wichtige Bedeutung besitzen. Hinsichtlich der Schauspieltheorie jedoch weicht Birken von der Poetik des Jesuiten in einigen Punkten ab und weist mit seinem Konzept weit über sie hinaus. 175 169
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Vgl. Birken: Dicht-Kunst, S. 389-516. Siehe hierzu ausführlich Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 2. Vgl. Birken: Dicht-Kunst, § 219, S. 324; § 221, S. 325f.; § 222, S. 327, u. § 227, S. 332. Ebd., S. 324. Siehe hierzu die Ausführungen in Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 2. Dies hat jetzt zu Recht hervorgehoben Silber: Birken, S. 468f. Markwardt: Poetik, Bd. 1, S. 103. Die Bedeutung der »Palaestra Eloquentiae ligatae« von Jakob Masen für Birken drückt sich schon im Titel der »Teutschen Rede-Bind- und Dicht-Kunst« aus, der wie eine deutsche Entlehnung erscheint. Auf mannigfache Bezüge zwischen Masen und Birken hat neben Aikin: Happily ever after, S. 65 - 6 8 , unlängst Rohmer: Das epische Projekt, S. 236, aufmerksam gemacht, der zu dem Schluß kommt, »daß man Markwardts These von einer gemeinsamen christlichen Grundlage der beiden Poetiken ohne weiteres ummünzen kann zu einer tatsächlich feststellbaren Abhängig-
148 Innerhalb des Pegnesischen Blumenordens bedeutete Birkens Ansatz jedoch keineswegs etwas vollkommen Neues, sondern erscheint in der historischen Rückschau wie die konsequente Fortführung vorangegangener Unternehmungen. D e n n bereits zuvor hat es aus dem Umfeld der >Nürnberger< sowohl in der Schauspielpraxis 176 als auch in der Dichtungstheorie Tendenzen zu einem christlich geprägten Schauspiel gegeben, ganz abgesehen von der grundsätzlich geistlich-erbaulichen Ausrichtung der Dichtung des Blumenordens, wie sie etwa in der Wahl der Passionsblume als Ordensemblem zum Ausdruck kommt. 1 7 7 So hat man erst in jüngster Zeit darauf aufmerksam gemacht, daß auch Georg Philipp Harsdörffers Poetischer Trichter als eine Poetik geistlicher Dichtung anzusprechen sei. 178 D a ß dieser Grundzug sich in der Schauspieltheorie Harsdörffers widerspiegelt, sei deshalb wenigstens mit einigen Aspekten noch angedeutet.
4.2. G e o r g Philipp H a r s d ö r f f e r Gleich zu Beginn seines Poetischen Trichters stellt Georg Philipp Harsdörffer 1 7 9 die Forderung auf: »Wir Christen / die wir den allmächtigen Gott / keit.« Allerdings hat er zugleich auf bedeutsame Abweichungen zwischen den beiden Poetiken hingewiesen, die es zu beachten gelte. Gerade diese vielschichtige Beziehung ist im Bereich der Schauspieltheorie zu beobachten. Am deutlichsten drückt sich dies in der Stellung der beiden Poetiker zu der Tragödientheorie des Aristoteles aus. Während Birken die Katharsis-Lehre rigoros verwirft, spielt Aristoteles für Masen eine zentrale Rolle, was Alfred Happ: Die Dramentheorie der Jesuiten. Ein Beitrag zur Geschichte der Neueren Poetik. Diss, (ms.) München 1922, S. 111, dazu veranlaßte, von »aristotelischen Grundstützen« zu sprechen. Vgl. zu dieser wichtigen Abweichung zwischen Birken und Masen auch Aikin: Catharsis and Exemplum, S. 245. Nicht minder bedeutsam ist zudem die jeweils unterschiedliche Konzeption der dramatischen Mischgattungen, bei der Birken nicht dem Modell Masens mit der Einteilung in »Tragicomoedia« und »Comicotragoedia« folgt. Vgl. dazu Nikolaus Nessler: Dramaturgie der Jesuiten Pontanus, Donatus und Masenius. Ein Beitrag zur Technik des Schuldramas. In: 45. Programm des Gymnasiums zu Brixen. Brixen 1905, S. 3-48, bes. S. 23f. Zwar betonen sowohl Birken als auch Masen die Sittlichkeit der Stoffe, doch werden in den Poetiken die Gültigkeit der antiken Mustertexte unterschiedlich beurteilt: Während Birken das antike Drama als heidnische Götzenveranstaltung ablehnt, fungieren bei Masen Terenz, Plautus und Seneca durchaus noch als nachahmenswerte Exempel. Vgl. Happ: Dramentheorie der Jesuiten, S. 105. Eine detaillierte Analyse der Übernahmen und Abweichungen kann hier nicht weiter verfolgt werden. Sie bleibt die Aufgabe einer künftigen Gesamtdarstellung der Poetik Birkens, die eines der großen Desiderate der Barockforschung darstellt. 176 177
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Siehe hierzu Teil B, Kap. 5.3., Beispiel 1. Vgl. allgemein hierzu Jürgensen: Utile cum dulci, S. 57ff., sowie van Dülmen: Sozietätsbildungen, S. 177. So mit Nachdruck Jörg-Ulrich Fechner: Harsdörffers Poetischer Trichter als Poetik geistlicher Dichtung. In: Battafarano (Hg.): Harsdörffer, S. 143-162. Verglichen mit der insgesamt reichlichen Literatur zu Harsdörffer finden sich nur wenige Arbeiten, die sich intensiver mit dessen Schauspieltheorie auseinanderset-
149 nicht nur aus seinen Wercke[n] / sondern auch aus seinem Wort erkennen / sollen uns der Heyden Fabelwerk enthalten«. 1 8 0 Kurz darauf kommt er auf den Zweck der Dichtkunst zu sprechen, der zunächst noch ganz im Sinne des Horazschen prodesse et delectare als »Nutzen« und »Belustigung« 1 8 1 bestimmt wird. Hierauf folgt jedoch eine Konkretisierung dessen, was unter dem »Nutzen« zu verstehen sei. Diese Präzisierung ist von großer Bedeutung, da sie dem Diktum vom »Nutzen« als der »Poeten Absehen« vor allem aufgrund der verwendeten Argumente eine entschieden christliche Prägung gibt: Der Nutz sol andre und auch ihn selbst betreffen / und niemals wider Gott / noch durch Aergerniß wider den Nechsten gerichtet seyn. Was Ehr und Ruhm kann man doch aus unehrlichen und schändlichen Gedichten haben? Solche Unfläter / wie sie Herr Lutherus nennet / wollen sich mit Koht weiß machen / und verstellen den Satan in einen Engel deß Liechts. Jhnen sollte stets in den Ohren gellen der Fluch unsers Seligmachers: Verflucht sey / der da Aergerniß giebet / und daß wir auch von einemieden unnützen Wort müssen Rechenschaft geben. 182 Diese Verpflichtung des Poeten auf eine geistliche Ausrichtung der Dichtung erhält im dritten Teil des Poetischen Trichters nochmals eine Bestätigung. Dort heißt es im Katalog der »Poetischen Beschreibungen / verblümten Reden und Kunstzierlichen Ausbildungen« unter dem 73. Schlagwort »Dichten«
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zen. Am ausführlichsten, was die reine Darstellung betrifft, sind noch immer die (allerdings nur mit Vorbehalt heranzuziehenden) Ausführungen in den Arbeiten von Siegfried Ferschmann: Die Poetik Georg Philipp Harsdörffers. Ein Beitrag zur Dichtungstheorie des Barock. Diss, (ms.) Wien 1964, S. 143-162, sowie David E. R. George (Hg.): Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare. München 1972, S. 106-119. Ein Verweis auf geistlich-theologische Tendenzen innerhalb der Harsdörfferschen Schauspieltheorie fehlt sowohl bei Ferschmann als auch bei George. Siehe dagegen jedoch die knappen, aber perspektivenreichen Bemerkungen zu den >Nürnbergern< bei Schings: Consolatio Tragoediae, S. 14ff. Zur Poetik von Harsdörffer siehe allgemein Peter Hess: Poetik ohne Trichter. Harsdörffers »Dicht- und Reimkunst«. Stuttgart 1986 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Nr. 165). Harsdörffer: Poetischer Trichter, Erster Teil, S. 3. Allerdings gesteht Harsdörffer im folgenden dann einen bescheidenen Gebrauch der heidnischen Fabeln zu. Im dritten Teil des »Poetischen Trichters« äußert er sich dann ähnlich, allerdings liegt m.E. dabei der Akzent durchaus auf einer ablehnenden, zumindest jedoch kritischen Haltung gegenüber dem Gebrauch heidnischer Fabeln: »Hierbey möchten etliche vermelden / daß der Heidnischen Götter und Poetischen Fabeln keine Meldung beschehen / die zu den Gedichten nohtwendig [!] scheinen. Hierauf ist zu wissen / daß ich für verantwortlicher halte / wann die Christen der Heidnischen Götzen Namen noch im Munde noch in ihrer Feder führen / oder ja ihrer / [ . . . ] / mit grosser Bescheidenheit gebrauchen« (Harsdörffer: Vorrede Von der natürlichen Fähigkeit zu der Poeterey und Redkunst [...]. In: ders.: Poetischer Trichter, Dritter Teil, [fol.):(vi v f.]). Siehe hierzu auch Fechner: Harsdörffers Poetischer Trichter, S. 157f. Berns: Gott und Götter, S. 37, betont dagegen, daß Harsdörffers »Verhältnis zur Zitation der paganen Götter durchaus zögerlich und ambivalent war.« Harsdörffer: Poetischer Trichter, Erster Teil, S. 7. Ebd.
150 nicht nur, daß »Calvaria der Berg Parnassus bey unsrem Christen Volke« sei, sondern vom Poeten wird zudem verlangt, daß er »von GOttes Geist erfüllt [sei] wie die Propheten«.183 Begleitet werden derartige Bestimmungen durch eine Vielzahl von Gedichtbeispielen im Poetischen Trichter, in denen ebenfalls eine »Betonung des geistlichen und erbaulichen Elements« zum Ausdruck komme, wie Jörg-Ulrich Fechner zu Recht hervorgehoben hat.184 Zunächst darf wohl grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß die allgemeinen Bestimmungen für die Dichtkunst insgesamt auch für das Schauspiel im besonderen gelten. Doch die oben notgedrungen nur in Umrissen beschriebene christliche Ausrichtung der Harsdörfferschen Poetik läßt sich konkret in den beiden Schauspielkapiteln des Poetischen Trichters nachweisen, so etwa bei der von Harsdörffer gegebenen Definition über den Zweck der Schauspiele. Zunächst taucht hier ebenfalls das Diktum vom »Nutzen« und »Belustigen« auf.185 Doch wie schon zuvor folgt auch an dieser Stelle die wichtige Ergänzung, daß »alle Gedichte zu GOTTes Ehre billich gerichtet werden sollen«, wobei Harsdörffer diese Aufforderung mit dem bemerkenswerten Zusatz »zu Nachfolge der Ebreischen Poeterey«186 versieht. Dadurch wird das Schauspiel nicht nur unverkennbar mit einer theologischen Komponente verknüpft, 187 sondern zugleich eine historische Paradigmenreihe christlicher Dichtung angedeutet, für die Harsdörffer im weiteren Verlauf auch neue Mustertexte anführt (siehe hierzu unten). Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Schon in einem >Schreiben< an Johann Klaj hatte Harsdörffer angedeutet, daß der »Nutzen« und das »Belusten« im Sinne einer christlichen Tügendunterweisung zu verstehen seien. Dort hieß es über den »Nutzen« des Trauerspiels unter anderem, daß es »einen Abscheu vor den Lastern / hingegen aber eine Begierde zu der Tilgend eindrukket«.188 Noch deutlicher wird diese Tendenz zu einer christlichen Ausrich183
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Ebd., Dritter Teil, S. 167. Siehe auch Fechner: Harsdörffers Poetischer Trichter, S. 158f. Fechner: Harsdörffers Poetischer Trichter, S. 158. Vgl. Harsdörffer: Poetischer Trichter, Zweiter Teil, S. 72. Ebd. Wie schon am Ende der Vorrede zum ersten Teil des »Poetischen Trichters« mit dem Hinweis auf den »Hebraeischen Trichter« Wilhelm Schickardts spielt Harsdörrfer damit erneut auf die beziehungsreiche Vorstellung an, daß die Dichtung (in deutscher Sprache) verwandt sei mit der alttestamentlichen Sprachkunst und direkt von der adamistischen Ursprache abstamme. Dadurch verknüpfe er jedoch die Dichtung mit einem deutlichen »theologischen Bedeutungsaspekt«, wie Fechner: Harsdörffers Poetischer Trichter, S. 150, zu Recht bemerkt hat. Zur Vorstellung innerhalb der deutschen Barockpoetik, daß die deutsche Sprache als eine »Tochtersprache des Hebräischen« direkt von der biblischen Ursprache Adams abstamme und ihr dadurch eine besondere Qualität und Schöpfungsnähe zukomme, siehe Dyck: Athen und Jerusalem, S. 51ff. Georg Philipp Harsdörffer: >SchreibenBriefkulturpatriotische< Anliegen schon in der »Uberreichungsschrifft« an die Stadtväter dem Text gleichsam programmatisch vorangestellt und dabei unter anderem betont: »Jetzt kann ein teutscher Mann sich recht behutsam schützen / | Den Feind zu rükke haltn mit seiner Sprache blitzen /1 [...]/1 Spricht ietzt ein teutscher Mund mit schönen Reden auß /1 Parnassus ist nun teutsch der Musen Sommerhauß. | Nun wol so liebet den / ihr alten teutschen Helden / | Der in der Mutterzung will euren Ruhm vermelden [...] (ebd., S. [4f.]). Ähnliche Formulierungen finden sich auch in der „Uberreichungsschrift« der »Höllen- und Himelfahrt Jesu Christi«. Vgl. ebd., S. [60f.]. Ebd., S. [125]. Auch bei anderen, am auditorium publicum veranstalteten Deklamationen war es üblich, den Druckfassungen Lobgedichte von Kommilitonen, Freunden oder Lehrern anzufügen. So wurden etwa Christoph Arnolds »Kunst-Spiegel Hoch-Teutscher Sprache« im Druck zwei Lobgedichte beigegeben, bei der 1683 gehaltenen Valediktionsrede Andreas Georg Paumgartners waren es gar sechs. Johann Klaj: Lobrede der Teutschen Poeterey / Abgefasset und in Nürnberg Einer Hochansehnlichen-Volkreichen Versammlung vorgetragen [...]. Nürnberg 1645. Abgedruckt in: Redeoratorien, S. [377]-[416].
277 cum sowie das ebenfalls in der erwähnten Sammelmappe erhaltene und nach gängigem Schema aufgebaute Einladungsprogramm von Dilherr, sondern auch die Tatsache, daß der Redegegenstand >Lob der Muttersprache< ein mehrfach behandeltes, mitnichten singuläres Thema am auditorium publicum war. Es ist von daher sehr wahrscheinlich, daß die Lobrede mit ihrer präzisen Durchführung des Gegenstands nach den rhetorischen Prinzipien der epideiktischen Rede ebenfalls ein Produkt der »Exercitia Oratoria« am auditorium publicum darstellte, das einen im Rahmen des Rhetorikunterrichts vorgegebenen Gegenstand abhandelt, wie es bereits zuvor geschehen war.452 Spracharbeit und Tugendarbeit Allerdings erschöpfte sich das von Dilherr forcierte Projekt >Muttersprache< keineswegs bloß in einer aus »Kulturpatriotismus« (Wolfgang Huber) genährten Apologie der deutschen Sprache, sondern die Rechtfertigung der deutschen Sprache, wie sie Poetiker und Sprachgelehrte um die Mitte des 17. Jahrhunderts forcierten, wurde zugleich unter pragmatischen Gesichtspunkten betrieben. Die Pflege der Muttersprache sollte einer Anhebung der Sitten dienen, deren Verfall in den Augen der Zeitgenossen eine Folge des im Dreißigjährigen Krieg besonders spürbar gewordenen Sprachzerfalls war. Spracharbeit war demnach immer zugleich Tugendarbeit.453 Daß dies auch für die deutschsprachigen Redeakte am auditorium publicum galt, legt die Tatsache nahe, daß Dilherr an den Nürnberger Schulen mit Schottelius' Teutscher Sprachkunst ein Lehrbuch eingeführt hat, das vehement diese Auffassung vertrat: Wie höchstnötig aber der Jugend die gründliche Kündigkeit und außübung unserer Teutschen Sprache sey / solches ist auch unnötig zu sagen. Kirchen und Schulen / Recht und Gerechtigkeit / Krieg und Friede / Handel und Wandel / Thun und Lassen wird bey uns erhalten / geführet und fort gepflantzet durch die Teutsche Sprache; Wir treten dadurch zu Gott und in den Himmel / ja / wir erhalten dadurch Leib und Seel. 454 452
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Hierfür ist äußerst signifikant, daß Klaj seine »Lobrede« mit folgenden Worten einleitet: »Anjetzo aber bin ich auf Gutachten dessen / dem ich zu gehorsamen verpflichtet / und ein grosses Theil meiner wenigen Wissenschafft zu danken / aufgetretten / etwas von der Liebwürdigsten Poeterey der Teutschen abzuhandeln. Werthe Zuhörer: Dieses verhoffentlich fruchtendes Unternemen wollen sie anjetzo / wie vormals / an= und abzuhören vielgünstig geruhen« (ebd., S. [386]) [Hervorhebung, Μ. P.]. Zur »Lobrede« siehe Ferdinand van Ingen: Dichterverständnis, Heldensprache, Städtisches Leben. Johann Klajs »Lobrede der Teutschen Poeterey«. In: Chloe 10 (1990), S. 251-266. Vgl. dazu den prägnanten Abschnitt »Sittenkunst und Sprachkunst« bei Jörg Jochen Berns: Nachwort. In: Justus Georg Schottelius: ETHICA Die Sittenkunst oder Wollebenskunst [...]. Hg. v. ders. Bern, München 1980 (Ndr. der Ausgabe Wolfenbüttel 1669) (Deutsche Barock-Literatur), S. 11-15. Schottelius: Sprachkunst, fol.):(iiij r (Widmungsvorrede). Siehe hierzu Berns: Nachwort, S. 13, der hervorgehoben hat: »Diese These bietet den wichtigsten Schlüssel
278 In Nürnberg stellte man zu dieser Zeit ganz ähnliche Überlegungen an, wie etwa Georg Philipp Harsdörffers 1641 veröffentlichte Schutzschrift / für Die Teutsche Spracharbeit455 zeigt, in der ebenfalls die Pflege der Muttersprache als Mittel zur Hebung der Sitten verstanden wird. Die jungen Leute sollten, so Harsdörffer, zur deutschen Sprache angeleitet werden, »darmit sie im Geist= und Weltlichen Stande sich nehren müssen.«456 Für den Nürnberger Patrizier war Spracharbeit ebenfalls immer zugleich Tugendarbeit und damit letztendlich auch Friedensarbeit. Denn wie die verderbte Sprache galt auch der Krieg als Folge des allgemeinen sittlichen Verfalls.457 Diese Überlegungen dürften ganz im Sinne von Dilherr gewesen sein, dessen Einsatz für die Muttersprache stets mit seinen Reformbemühungen um eine Förderung der Sitten und der Hebung der Frömmigkeit innerhalb der Stadtgemeinde gekoppelt war.458 Theatrale Elemente Die Einordnung der Lobrede als rhetorischen Schulactus wirft noch einen wichtigen Aspekt auf: Unter entstehungs- und funktionsgeschichtlicher Perspektive bestehen zwischen Texten wie Lobrede der Teutschen Poeterey, Trauerrede über das Leiden Christi, Herodes der Kindermörder, Der Leidende Christus oder Geburt Jesu Christi keine generellen Unterschiede. Sie alle sind für den Actus-Betrieb am auditorium publicum konzipiert und innerhalb dessen Veranstaltungsrahmen vorgetragen worden - erst vom Studenten Johann Klaj als Übung und Leistungsnachweise, später vom collega tertius Johann Klaj zur Weiterqualifikation und Bewährung. Einige von ihnen weisen allerdings in Aufbau und Ausstattung durchaus theatrale Elemente auf: So sind beispielsweise die Redeakte Der Leidende Christus, Engel- und Drachen-Streit sowie Geburt Jesu Christi in Handlungen unterteilt und mit Instrumentalmusik sowie Chören versehen, die von mehreren Personen gesungen werden. Bei der Geburt Jesu Christi tritt gar ein achtstimmiger Chor auf. Neben Klaj standen also noch mehrere Personen auf der Bühne. Keineswegs ausgeschlossen ist auch die Verwendung von Kostümen und Kulissen bei der Darbietung des Vortrags. So heißt es etwa im
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aller wissenschaftlichen und literarischen Anstrengungen des Schottelius. Wenn nämlich der Sprachzerfall als Ursache moralischen Zerfalls gilt, dann kann und muß der Sittenzerfall durch Sprachpflege aufgehalten und rückgängig gemacht werden.« Georg Philipp Harsdörffer: Schutzschrift / für Die Teutsche Spracharbeit / und Derselben Beflissene [...]. In: ders.: Frauenzimmer Gesprächspiele, Bd. 1, S. 339-396. Ebd., S. 365. Vgl. dazu Irmgard Böttcher: Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 312f. Vgl. Jürgensen: Dilherr, S. 1355.
279 Leidenden Christus: »Da zureiß der Hohepriester seine Kleider«.459 Und im Engel- und Drachen-Streit wird ein »heigestirntes Himmelfeld«460 als Schauplatz vorgeschrieben - eine entsprechende Kulisse war jedenfalls im Bühnenapparat des Augustinerklosters vorhanden.461 Die Redeakte Der Leidende Christus und Herodes der Kindermörder stellen zudem in weiten Teilen Bearbeitungen neulateinischer Dramen dar 462 wobei der Untertitel des Herodes vermerkt: Nach Art eines Trauerspiels,463 Eine derartige Formulierung auf dem Titelblatt eines rhetorischen Schulactus ist nicht ungewöhnlich. Es zeigt sich hierin eine Tendenz zu theatralen Präsentationsformen, wie sie bei anderen Actus zu beobachten ist 464 Von daher sind die Texte Johann Klajs (wie der Actus-Betrieb am auditorium publicum insgesamt) als Schultheater im weiteren Sinne einzuordnen. Dabei stellen die Klajschen Redeakte nicht zuletzt wegen der rhetorischen Meisterschaft ihres Rezitators sowie des aufwendigen Einsatzes von Musik und mehrstimmigem Gesang sicherlich einen Höhepunkt dieser spezifischen Form urbaner Repräsentationskunst und Festkultur in Nürnberg dar. Dies verdeutlicht ein abschließender Blick auf die Gruppe der beteiligten Personen: Neben Klaj und Dilherr wirkte auch Georg Philipp Harsdörffer bei den Darbietungen mit. Die Musik stammte von dem Komponisten und Organisten an der Lorenzer Kirche, Sigmund Theophil Staden, der weit über die Mauern der Reichsstadt hinaus bekannt war. Staden war zu dieser Zeit nicht nur Nürnbergs führender und bestbezahlter Musiker, sondern hatte auch beim bedeutenden Nürnberger Friedensmahl am 25. September 1649 im großen Rathaussaal die Oberleitung der Musik inne.465 In diesem Zusammenhang ist sicherlich nicht unbedeutend, daß Staden enge Verbindungen zum Schulbetrieb besaß und mit seinem Rudimentum musicum ein Lehrbuch verfaßt hatte, das an den Nürnberger Schulen reiche Verwendung fand möglicherweise gab er sogar selbst Gesangsunterricht an den Schulen.466 Als einer der Sänger der Chorpartien ist außerdem Johann Vogel bezeugt.467 Vogel betätigte sich neben seinem Amt als Rektor der Sebalder Lateinschule auch als Dichter von geistlichen Liedern und war nicht nur Mitglied der 1639 459 460 461 462 463 464
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Redeoratorien, S. [220]. Ebd., S. [290], Vgl. die Ausführungen zur (Schul-)Bühne im Augustinerkloster in Teil A, Kap. 1.2. Siehe hierzu im einzelnen Heitner: Popularizations, S. 315ff. Redeoratorien, S. [129]. Entsprechende Bezeichnung wie actus oratorio-dramaticus oder actus oratorio-comicus sind innerhalb der allgemeinen Praxis im 17. Jahrhundert keine Seltenheit. Vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 302. Vgl. Samuel: Cantata, S. 56-66; Druener: Sigmund Theophil Staden, S. 124ff., sowie Hermann Harrassowitz: Das Nürnberger Friedensmahl am 25. September 1649. II. Die Festmusik. In: MVGN75 (1988), S. 83-90. Siehe hierzu die Ausführungen in Teil A, Kap. 3. Vgl. NGL4 (1758), S. 114-117, sowie Ferdinand van Ingen: Vogel, Johannes. In: LL 12 (1992), S. 47.
280 gegründeten Musikgesellschaft, 468 sondern zudem ein begabter Sänger, der über eine ausgezeichnete Stimme verfügt haben muß und während seiner eigenen Schulzeit als »Stadt=Discantiste« 4 6 9 angestellt worden war. 470 Wie dieses außergewöhnliche Zusammenspiel von führenden Köpfen der literarischen, gelehrten und musikalischen Szene Deutschlands in etwa funktionierte, hat Samuel Hund in einem Lobgedicht zur Höllen= und Himmelfahrt Jesu Christi festgehalten: Der Handel ist leicht: Dein Dillherr stimmt die Saiten / Der Spielende spielt / man hört ihn auch von weiten / Vnd dein gelehrter Vogel singt / Herr Clajus schöne Reimen zwingt [...]. 471 BEISPIEL 2: » E i n e S i t t e n s c h u l e f ü r d i e patrizische Jugend«. D i e Schuldramen Sigmund von Birkens im Überblick (1651-1655) Als Ende des Dreißigjährigen Krieges Sigmund von Birken im Herbst 1648 nach einem längeren Aufenthalt im norddeutschen Raum und verschiedenen Anstellungen als Hauslehrer nach Nürnberg zurückkehrte, war der 22jährige Dichter ein noch relativ unbekannter Autor ohne Studienabschluß, geregelte Anstellung und festes Einkommen 4 7 2 Zwar hatte er nicht zuletzt in Wolfen468
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Vgl. Seiffert: Nürnberger Meister, S. XVI. Zur Musikgesellschaft von 1639 siehe Teil A, Kap. 3. N G L 4 (1758), S. 114. Die Nürnberger Schulen besaßen zudem sehr gut ausgebildete Chöre, deren Singkunst von hohem Niveau war. Es ist denkbar, daß für die Actus-Veranstaltungen Teile von ihnen zur Unterstützung herangezogen wurden. Zu den Chören und der intensiven Musikpflege in den Schulen siehe Teil A, Kap. 3, sowie Teil B, Kap. 2.1.2. Redeoratorien, S. [126]. Bis heute gibt es noch keine moderne, umfassende Darstellung zu Leben und Werk Sigmund von Birkens. Die ältere, gelegentlich in Fußnoten erwähnte, unvollendet gebliebene und unpublizierte Arbeit von Otto Schröder zu Sigmund von Birken war mir leider nicht zugänglich. Eine umfängliche (aber offenbar nach wie vor noch nicht erschöpfende) Bibliographie der Schriften Birkens verzeichnet Dünnhaupt: Personalbibliographien, Bd. 1, S. 582-671. Als Einführung und Kurzporträt sei hier nur verwiesen auf: August Schmidt: Sigmund von Birken, genannt Betulius (16261681). In: Festschrift zur 250jährigen Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens gegründet in Nürnberg am 16. Oktober 1644. Hg. v. Theodor Bischoff u. ders. Nürnberg 1894, S. 476-532; Conrad Wiedemann: Sigmund von Birken 1626-1681. In: Buhl (Hg.): Fränkische Klassiker, S. 325-336; Joachim Kröll: Sigmund von Birken dargestellt aus seinen Tagebüchern. In: JffL32 (1972), S. 111-150; ders.: Sigmund von Birken (1626-1681). In: Fränkische Lebensbilder N.F.9 (1980), S. 187-203; Dietrich Jons: Sigmund von Birken - zum Phänomen einer literarischen Existenz zwischen Hof und Stadt. In: Literatur in der Stadt. Hg. v. Horst Brunner. Göppingen 1982, S. 167-187; Hartmut Laufhütte: Ein Schriftstellerleben im 17. Jahrhundert. Überlieferung und Wirklichkeit. Zur bevorstehenden Publikation der Autobiographie Sigmund von Birkens. In: Literatur in Bayern 12 (1988), S. 40-45; Rudolf Endres: Das Einkommen eines freischaffenden Literaten der Barockzeit in Nürnberg. In: Quaestiones in musica. Festschrift für Franz Krautwurst zum 65. Ge-
281 büttel als Prinzenerzieher am H o f e Herzogs Augusts bereits wichtige Kontakte geknüpft und war durch den herzoglichen Leibarzt und Hofpfalzgrafen Martin Gosky zum poeta
laureatus
caesareus
gekrönt worden. D o c h die
große Stunde des »rührigsten und vielseitigsten Literaten des Barock« 4 7 3 sollte erst auf d e m 1649 einberufenen Nürnberger Friedenskongreß schlagen. Hier feierte Birken seine ersten Erfolge als Literat mit einem von ihm geleiteten Festspiel sowie mehreren, größeren Veröffentlichungen, die ihn innerhalb kurzer Zeit »zu einer in ganz Deutschland bekannten Berühmtheit« 4 7 4 machten. 4 7 5 D o c h die Rückkehr nach Nürnberg brachte noch eine weitere berufliche Perspektive: Nur wenige Monate nach seiner A n k u n f t in der Reichsstadt wurde Birken als Privatlehrer engagiert, vornehmlich für Söhne aus den Patrizierfamilien, die er nach eigenen A n g a b e n in der Staatslehre und der Dichtkunst unterrichtete. 4 7 6 Bis Mitte der 1650er Jahre war Birken immer wieder als Hauslehrer und Hofmeister für Patrizier tätig, darunter insbesondere im Hause der Familie Rieter 4 7 7 Im Zusammenhang mit dieser pädagoburtstag. Hg. v. Friedhelm Brusniak u. Horst Leuchtmann. Tutzing 1989, S. 85-100, sowie Ferdinand van Ingen: Sigmund von Birken. Ein Autor in Deutschlands Mitte. In: Paas (Hg.): der Franken Rom, S. 257-275. Wichtige bibliographische Angaben sowie unentbehrliche Hinweise zur komplexen Situation des Nachlasses bietet zudem: Klaus Garber: Sigmund von Birken. Städtischer Ordenspräsident und höfischer Dichter. Historisch-soziologischer Umriß seiner Gestalt, Analyse seines Nachlasses und Prolegomenon zur Edition seines Werkes. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hg. v. Martin Bircher u. Ferdinand van Ingen. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 7), S. 223 - 254; ders.: Private literarische Gebrauchsformen im 17. Jahrhundert. Autobiographika und Korrespondenz Sigmund von Birkens. In: Briefe deutscher Barockautoren. Probleme ihrer Erfassung und Erschließung. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 10. und 11. März 1977. Hg. v. Hans-Henrik Krummacher. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 6), S. 107-138, sowie ders.: Ein Blick in die Bibliothek Sigmund von Birkens. Handexemplare der eigenen Werke und der Ordensfreunde - Überliefertes und Verschollenes. In: Methodisch reflektiertes Interpretieren. Festschrift für Hartmut Laufhütte. Hg. v. Hans-Peter Ecker. Passau 1997, S. 157-180. 473 474 475
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Krummacher: Tagebücher, S. 126. Kröll: Birken (1626-1681), S. 193. Zu den Friedensfeiern 1649/50 und dem von Birken geleiteten Festspiel siehe ausführlich Teil B, Kap. 3. Vgl. Sigmund von Birken: Werke und Korrespondenz. Bd. 14: Prosapia / Biographia. Hg. v. Dietrich Jons u. Hartmut Laufhütte. Tübingen 1988 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, N.F., Bd. 14), S. 45, Z. 1 - 1 6 . Im folgenden als »Biographia« zitiert. Aus dieser Zeit konnte ein bislang offenbar unbekanntes Dokument zu Birkens Lehrertätigkeit in Form eines handschriftlichen Kommentars zu Harsdörffers »Poetischen Trichter« ausfindig gemacht werden, das auf 1649 datiert ist und den Titel trägt: »Anmerckungen zu dem Poetischen Trichter deß Spielenden Durch Sigmund Betuli / der Rechten Beflißenen u. Gekrönten Kaißerlichen Poeten zusammengetragen / [...]«. Der Vf. plant, diese Schrift, die wahrscheinlich Birkens erste poetologische Äußerungen enthält, in einem gesonderten Beitrag näher vorzustellen.
282 gischen Tätigkeit steht ein nicht geringer Teil seines dramatischen Schaffens:478 In der Zeit von 1651-1655 schrieb Birken mehrere Stücke für die Nürnberger Schulbühne, die unter seiner Leitung von seinen Schülern und anderen jungen Patriziern des Egidiengymnasiums im Augustinerkloster aufgeführt wurden. Da in jüngerer Zeit im Rahmen verschiedener größerer Arbeiten diese Dramen mit ausführlichen Kapiteln bedacht wurden, seien Birkens Schauspiele aus dieser Zeit zugunsten von anderen, bislang völlig vernachlässigten Nürnberger Schuldramen des 17. Jahrhunderts nicht mehr im einzelnen behandelt. Vielmehr soll hier nur ein Überblick über die Schuldramen Birkens gegeben werden. Das Vergnügte Teutschland und Margenis Noch ganz im Zeichen der Friedensthematik steht das erste Schuldrama, das Birken 1651 verfaßte und noch im gleichen Jahr in Nürnberg aufführen ließ. Wie der Dichter in der Vorrede seiner Friedensschrift Die Fried=erfreute TEUTONJE bemerkt, sei sein anläßlich des kaiserlichen Banketts im Juli 1650 vorgestelltes Festspiel »von jedermann wol beliebet / und genehm gehalten worden« (siehe hierzu Teil B, Kap. 3), so daß er sich ein Jahr später habe überreden lassen, »das Vergnügte / Bekriegte und Wider befriedigte Teutschland / unter dem Titel der Verliebten / Betrübten und Wider erfreuten Teutonie / in einem Schauspiele gleichfals [!] öffentlich vorzustellen und auszuführen«.479 Von dieser Aufführung hat sich ein Kurtzer Entwurf eines neuen Schauspiels erhalten, darinnen ausgebildet wird das Vergnügte / Bekriegte und Widerbefriedigte Teutschland.480 Neben einem Rollenverzeichnis mit Angabe der Namensinitialen der 22 Darsteller beinhaltet die Perioche eine poetologische Vorrede sowie ein knappes Szenar des in drei Akte eingeteilten Stücks. Hieraus geht hervor, daß die Vorstellung mit beachtlichem Aufwand inszeniert gewesen sein muß und ein mit Prolog, Chören, Zwischenliedern, Epilog und Schlußballett versehenes Schäferspiel in Prosa bot. Von der Forschung wurde Birkens Stück bislang weitgehend vernachlässigt und abgesehen von den kurzen, zumeist nur den Inhalt referierenden Darstellungen in zwei 478
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Siehe hierzu jetzt vor allem die umfassende Studie von Silber: Birken, die kurz vor Drucklegung dieser Arbeit erschien. Sigmund von Birken: Die Fried=erfreute TEUTONJE. Eine Geschichtschrift von dem Teutschen Friedensvergleich / was bey Abhandlung dessen / in des H. Rom. Reichsstadt Nürnberg / nachdem selbiger von Osnabrigg dahin gereiset / denkwürdiges vorgelauffen; mit allerhand Staats= und Lebenslehren / Dichtereyen / auch darein gehörigen Kupffern gezieret / in vier Bücher abgetheilet / [...] Nürnberg 1652, fol. A l r _ v (Vorrede). Sigmund von Birken: Kurzer Entwurf eines neuen Schauspiels / darinnen ausgebildet wird das Vergnügte / Bekriegte und Widerbefriedigte Teutschland: erfunden und auf den Schauplatz gebracht in Nürnberg [...]. [Nürnberg] 1651.
283 älteren Arbeiten 481 erst in der jüngst erschienenen Studie zum deutschen Schäferspiel des 17. Jahrhunderts von Christiane Caemmerer mit einem ausführlichen Kapitel bedacht.482 Hierin hat die Autorin dargelegt, daß es sich beim Vergnügten Teutschland um eine politische Allegorie auf den Frieden handle, bei der Birken nicht nur »die ganze Breite der in der bukolischen Dichtung möglichen Formen«483 vorführe, sondern anhand einer komplexen emblematischen Struktur auch die »staatsphilosophischen Zusammenhänge zwischen Krieg und Frieden und das Verhältnis zwischen innenpolitischen Konflikten und ihren außenpolitischen Auswirkungen in Form einer kriegerischen Auseinandersetzung«484 aufzeige. Später hat Birken das Stück nochmals umgearbeitet und zu einem fünf Akte umfassenden Spiel ausgeweitet, das 1679 aus Anlaß des Friedens von Nimwegen unter dem Titel Margenis485 gedruckt wurde.486 So überzeugend die Analysen bei Caemmerer im einzelnen sind, in einer Hinsicht ist die Autorin jedoch zu korrigieren: bei der Bestimmung der Aufführungssituation und funktionsgeschichtlichen Einordnung des Stücks. Auch wenn das Schäferspiel in thematischer Hinsicht noch eng mit dem Komplex Frieden verbunden ist, gehört seine Vorstellung nicht mehr in den unmittelbaren Kontext der Nürnberger Friedensfeiern von 1649/50, wie Caemmerer irrtümlicherweise in ihrer Studie meint. Denn der Kongreß endete im Juli 1650 (und nicht im Juni 1651487), weshalb Birkens Stück nicht für ein Fest der kaiserlichen Delegation geschrieben sein konnte, wie es die Darstellung Caemmerers nahelegt.488 Birken selbst hat in seiner Autobiographie vermerkt, daß er beim Vergnügten Teutschland die Geschichte des deutschen Friedens szenisch umgesetzt habe zum Zweck der Einübung in die Sittenlehre für die patrizische Jugend der Stadt.489 Absicht und Aufführungsanlaß des Stücks stehen damit
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Vgl. die in der Birken-Forschung wenig beachtete Studie von Adam Christof Jobst: Sigmund v. Birkens »Teutscher Olivenberg«. Diss, (ms.) Wien 1913, S. 122-129, sowie Fritz Moser: Die Anfänge des Hof- und Gesellschaftstheaters in Deutschland. Diss. Berlin 1940, S. 91-93. 482 Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 305-341. Eine ausführliche Analyse bietet neuerdings auch Silber: Birken, S. 128-202. 483 Caemmerer: Siegender Cupido, S. 314. 484 Ebd., S. 341. 485 Sigmund von Birken: Margenis oder Das vergnügte / bekriegte und wiederbefriedigte Teutschland [...]. Nürnberg 1679. 486 Zur Umarbeitung siehe ausführlich Caemmerer: Siegender Cupido, S. 328-340. Möglicherweise steht die auf Wunsch einiger Patrizier erfolgte Drucklegung im Zusammenhang mit den 1679 abgehaltenen Friedensspielen. Siehe hierzu Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 4. 487 So Caemmerer: Siegender Cupido, S. 305. 488 V g l e b d $ 307f. u. 341. Siehe dagegen jedoch Jobst: Teutscher Olivenberg, S. 129, der bereits festgestellt hatte: »Mit dem Friedensschluß hat das Werk nichts zu tun«. 489 Vgl. Biographia, S. 47, Z. 6-10: »Pacis primum cum Teutillide connubia cantata;
284 in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Schultheater. Anhand eines weiteren, bislang unbekannten Quellenbelegs läßt sich dies noch untermauern. Denn in einer zeitgenössischen Nürnberger Stadtchronik hat sich ein Bericht erhalten, der das Stück eindeutig als Schuldrama ausweist, das von Patriziern und Schülern des Egidiengymnasiums auf der zu dieser Zeit offiziellen Schulbühne im Augustinerkloster vorgestellt wurde, wobei die Vorstellung den Zuschauern ob ihrer Länge von etlichen Stunden eine Geduldsprobe abverlangt haben dürfte. So heißt es in der Stadtchronik zum Oktober 1651: Den 1. 2. und 3.ten October ward von den Jungen Geschlechtern und andern auß dem Gymnasio AEgidiano im Augustiner Closter Saal eine herrliche schone teutsche Comoedi Von dem bekriegtem verwüsteten, aber wieder befriedeten Teutschland gehalten, werete alle tag wann mann schon vmb vesper anfing biß fast vmb 3 in die nacht [...] der Author vnd Director ist gewesen Betulius Studioso.490
Nicht anläßlich der Friedensfeiern, sondern im Rahmen des Schultheaters wurde Birkens Stück also aufgeführt. Dabei lassen die Wiederholungen darauf schließen, daß die erste Vorstellung eine Exklusiweranstaltung vornehmlich für die Ratsherren und andere Honoratioren war und erst bei den weiteren Darbietungen das einfachere Volk< Eintritt erhalten hatte - ein Modus, der auch bei anderen Schulaufführungen belegt ist.491 Als Gegenleistung erhielt Birken für seine Arbeit schließlich Mitte Oktober vom Nürnberger Rat 10 Reichstaler.492 Mit der Zuordnung zum Schultheater ergeben sich Aufschlüsse für die Zweckbestimmung der politischen Allegorie im Schäfergewand mit ihrer spielerisch umgesetzten Erörterung der theoretischen Zusammenhänge von Krieg und Frieden. Wie erwähnt, sollte das Drama nach Birkens eigenen Worten vornehmlich der Unterweisung der agierenden Patrizier im Sinne einer Sittenschule (»morum exercitium«)493 dienen. Nach den zeitgenössischen Vorstellungen beschränkte sich die Sittenlehre aber nicht nur auf eine Anleitung zu tugendhaftem Lebenswandel. Das »morum exercitium« beinhaltete auch wichtige öffentliche und politische Belange und sollte die Jugend auf ihre gesellschaftliche Rollen und Funktionen im Staatsdienst vorbereiten.494 Damit korrespondiert, daß in Birkens Stück nicht nur richtiges gesellschaftliches und tugendhaftes Verhalten, sondern auch politische und staatstheoretische Fragestellungen thematisiert werden.495 Dabei ist sicherporrö reparatae Pacis Teutonicae Historia IV Libris adornata; denique eadem Historia Scenico involucro tecta, Juventuti Patriciae Noricae morum exercitium fuit.« 490 StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 44, S. 587f. 491 Vgl. etwa Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 4. 492 Vgl. Biographia, S. 47, Z. 29f. (Marginalie). 493 Ebd., Z. 10. 494 vgl. Klaus Garber: Martin Opitz. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 116-184, bes. S. 119. 495 Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 310 u. 319-324, die festgehalten hat, daß
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lieh bemerkenswert, daß Birken zu dieser Zeit als Privatlehrer angestellt war, der seine Schüler auch in der Staatslehre unterrichtete. Das Stück dürfte somit höchstwahrscheinlich direkt aus dem Unterricht hervorgegangen sein, um das theoretisch vermittelte Wissen praktisch einzuüben und zu vervollkommnen. In funktionsgeschichtlicher Hinsicht steht das Vergnügte Teutschland durchaus in der Nähe der sogenannten »historisch-politischen Schauspiele«, die auf vielen Schulbühnen des 17. Jahrhunderts vorgestellt wurden und die Schüler mit praktisch-politischen Problemen vertraut machen sollten.496 Psyche (1652) und Androfllo (1655) Auf das Vergnügte Teutschland folgte bereits ein Jahr später ein weiteres Schuldrama, von dem ehemals eine (heute verschollene) Perioche existierte, die den Titel trug: Neues Trauer-Freudenspiel Psyche, ausbilden den Zustand der Seele.491 Heute ist das ehedem wohl in lateinischer Sprache aufgeführte Stück nur noch in der von Birken selbst verfaßten, deutschen Übersetzung bekannt, die der Dichter im Anhang seiner Poetik unter dem Titel SchauSpiel PSYCHE: auf den Schauplatz gebracht in Nürnberg A. 1652. Jetzt / aus dem Latein / in Teutsche Poesy versetzet498 abdruckte. Ähnlich wie das vorangegangene Stück fand die Psyche in der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang kaum Beachtung und wurde erst in der Arbeit von Mara Wade sowie in der unlängst erschienenen Studie von Karl-Bernhard Silber mit jeweils einem längeren Kapitel behandelt, 499 wobei nach letzterem das geistliche Schauspiel als »Allegorisierung der Heilsgeschichte von der Erschaffung des Menschen über seinen Sündenfall [...] bis zu seiner Erlösung durch den Kreuzestod Christi und endlich zu seiner Berufung zur ewigen Gemeinschaft mit Gott zu verstehen«500 sei. Entstanden ist das Stück während des Sommers 1652 auf dem Landsitz der Familie Rieter, bei der Birken zu dieser Zeit als Hofmeister des Sohnes Paul Albrecht Rieter von Kornburg angestellt war. Im Herbst wurde es wiederum von Patriziersöhnen in Nürnberg öffentlich vorgestellt.501 Während Mara Wade noch meinte, diese Aufführung der Psyche sei »difficult to deterBirken im Stück »bruchlos gesellschaftliche, moralische und politische Elemente ohne Rangfolge« (ebd., S. 321) verbinde. 496 vgl. dazu ausführlich Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 4, dort auch Literaturangaben. 497 Titel zitiert nach Garber: Städtischer Ordenspräsident, S. 250 Anm. 17. Vgl. auch ders.: Bibliothek Sigmund von Birkens, S. 176. 498 Sigmund von Birken: SchauSpiel PSYCHE: auf den Schauplatz gebracht in Nürnberg A. 1652. Jetzt / aus dem Latein / in Teutsche Poesy versetzet. In: ders.: DichtKunst, S. 389-516. 499 Vgl. Wade: Singspiel, S. 191-262, sowie Silber: Birken, S. 203 - 2 5 7 . 500 Silber: Birken, S. 254. 501 Vgl. Biographia, S. 48, Z. 14-27.
286 mine« und lediglich »before a limited public« 502 dargeboten worden, läßt sich anhand von neueren Quellen die Vorstellung genau datieren. Am 11. November 1652 reichte der Dichter beim Rat eine offizielle Einladung für sein neues Schulstück ein: Sigmundt Betulij Jnvitationschreiben, zu heut angestelter Comoedi sambt den offerirten entwurff deß Neuen Trauer-FreudenSpieles, soll man auff sich ruhen laßen, auf deß herrn Kirchenpflegers hrl. belieben aber stellen, was sie ihme dafür zu verehren vermeinen.503
Wie aus Birkens Autobiographie hervorgeht, wurde die im Ratsverlaß geäußerte Aussicht auf eine »Verehrung« nicht enttäuscht und dem Dichter das Werk vom Rat mit 16 fl. entlohnt. 504 Daneben hat sich unter dem Titel Invitatione ad Illustrem Senatum Noricum: cum Psyche Drama in theatrum prodiret ein Konzept der in lateinischer Sprache verfaßten Einladung an den Rat in Birkens Betuletum erhalten. 505 Hieraus geht unzweifelhaft hervor, daß die Psyche als Schuldrama konzipiert war und Birken wie schon im Jahr zuvor als Leiter der Aufführung fungierte. Nach den Worten des Dichters sollte die Aufführung nicht nur zur Ehre der patrizischen Jugend und der Stadtväter gereichen, sondern Birken pries den Nürnberger Rat (in Form einer Huldigungsadresse) zugleich als Wohltäter der Musen und erklärte ihn zum inventorischen Auftraggeber des Stücks.506 Vor dem Hintergrund des oben mitgeteilten Chronikberichts dürfte es höchst wahrscheinlich sein, daß Birkens Psyche ebenfalls auf der Bühne im Augustinerkloster als offizielle Darbietung der Schulen vorgestellt wurde, wobei unter Mitwirkung des Stadtkapellmeisters Georg Walch neben Chorliedern eine ganze Reihe anderer musikalischer Formen vom instrumentalen Zwischenspiel bis hin zur Liedeinlage als Gestaltungsmittel eingesetzt wurden. 507 Begleitet war die Aufführung zudem von der Vorstellung des Zwischenspiels Bivium Herculis oder Tugend- und Laster-Leben,508 In den 1660er Jahren hat Birken nachweislich die Psyche nochmals überarbeitet. 509 502
Wade: Singspiel, S. 199f. StaatsAN, RV Nr. 2405 vom 11. November 1652, fol. 25r (fehlt bei Hampe). 504 Vgl. Biographia, S. 49, Z. llf. (Marginalie). 505 Vgl. GNM, P. Bl. Ο., B. 3.1. 4.: Sigmund von Birken: Betuletum, Nr. LXX, fol. 61 v 62r. Für wertvolle Hinweise danke ich Herrn Willi Lobenwein, Büchenbach (Mittelfranken), der derzeit an einer Dissertation über Birkens Dichterkrönungen arbeitet. 506 Ygj e b j : »[ ] Sed non nisi in conspectum in honorem vestrum, cui sacer est omnis noster labor. Vestri sunt actores, quibus hactenus nihil magis curae et cordi fuit, quam ut publice comparantes generositatim istam, quam ingenerästis, prae se ferant. Sed et ego, indignus choragus, vester sum. Summi Mecaenates: sic me voluistis, bene filijs vestris vobis me maneipantes. Quare agite, Magni Magnae Urbis Principes, Musarum Euergetae! [...]«. 507 Siehe dazu im einzelnen Wade: Singspiel, S. 202-211. 508 ygj dazu ebd., S. 194f. Das Zwischenspiel hat sich nur in einer handschriftlichen Fassung erhalten. Siehe Anm. 512. 509 Zur Überarbeitung siehe Wade: Singspiel, S. 198f. 503
287 N a c h einer zweijährigen Pause folgte im Sommer 1655 schließlich die nächste und zugleich letzte Aufführung eines Schuldramas von Birken, diesmal: Neues Trauer- und Freudenspiel den Sündenfall
und die Erlösung
Anthropo
ausbildend
des Menschen.51°
die
Erschaffung,
Hierbei handelt es sich
um eine Übersetzung des neulateinischen Dramas Androfllo
von Jakob Ma-
sen, das zusammen mit d e m Nachspiel Silvia am 11. und 12. Juni in Nürnberg gezeigt wurde. 5 1 1 Erhalten haben sich sowohl von d e m Stück als auch d e m Nachspiel je eine handschriftlich Fassung 5 1 2 sowie ein Wolfenbütteler Druck aus d e m Jahr 1656 mit d e m Titel Neues Schauspiel Die WunderLiebe Wunderthätige
[...]
Nebenst
Schönheit.513
Birkens Androfilo
einem Nachspiel
Betitelt / Androfilo / Betitelt
Silvia
Oder
Thematisch eng verwandt mit der Psyche
Oder Die stellt
ebenfalls eine allegorische U m s e t z u n g der Heilsgeschichte
dar. 514 D e r pädagogische Zweck des Schuldramas zielte dabei erneut auf eine Einübung in die Tugendlehre, wie Birken in seiner poetologischen Widmungsvorrede zur Druckfassung hervorhob: DJe Griechischen Philosophen oder Weltweisen / wie auch die Spartaner / wann sie ihre Schuelhörer und Kinder von dem Laster der Trunckenheit abmahnen wollen / haben sie einen truncknen und vollen Menschen ins Mittel kommen lassen / und also ihnen die Thorheit und den Übelstand dieses Lasters / gleich als durch ein lebendiges Bildniß / vorgestellet. Eben einen solchen Zweck / haben die Schauspiele [...]. Gewiß ist es / daß der Unform eines Lasters / oder die Wolständigkeit einer Tilgend / besser durch die Thür der Augen / als der Ohren ins Herz dringet. [...] Und man kann nicht besser von den Lastern ab= und zur Tilgend anmahnen / als wann man vor Augen stellet / wie jene andern abgestraffet / und diese belohnet worden. Solche Beyspiele sind die besten LehrSätze und Sitten= Lehren. 515
510
511
512
513
514
515
Titel zitiert nach Garber: Städtischer Ordenspräsident, S. 250 Anm. 17. Vgl. auch ders.: Bibliothek Sigmund von Birkens, S. 176f. Vgl. Biographia, S. 53, Z. 1 - 4 (Marginalie). Wie schon in den Jahren zuvor erhielt der Autor (und wohl auch Leiter des Spiels) eine Entlohnung vom Nürnberger Rat, diesmal in Höhe von 24 fl. Vgl. ebd., Z. 8 (Marginalie). Vgl. GNM, P. Bl. Ο., Β. 1. 0. 4.: Sigmund von Birken: Schauspiel, Die Wunderthätige Schönheit: Samt einem ZwischenSpiel, Tiigend= und Laster-Leben; P. Bl. Ο., Β. 1. 0. 5.: ders.: Androfilo oder Die WunderLiebe [mit den handschriftlichen Notationen der gesungenen Chorlieder]. Sigmund von Birken: Neues Schauspiel / Betitelt / Androfilo Oder Die WunderLiebe: Von dem H. h. PP. Soc. Jesu erfunden / und bey den Friedens Handlungen in Westfalen / vor einem Hochansehnlichen ReichsCollegio gespielet / anitzt aber verdeutschet und Nebenst einem Nachspiel / Betitelt Silvia Oder Die Wunderthätige Schönheit / Jn Nürnberg auf den Schauplatz gebracht [...]. Wulffenbüttel 1656. Siehe jetzt die Darstellung bei Silber: Birken, S. 258-290 (zum »Androfilo«) u. S. 291-346 (zur »Sylvia«), Birken: Neues Schauspiel /Betitelt Androfilo, fol. [):(ii v -iii r ] (Vorrede).
288 Psyche: pastorales Singspiel oder neulateinisches spectaculum
christianuml
Birkens in der Zeit zwischen 1651 und 1655 in Nürnberg entstandene und aufgeführte Schauspiele waren allesamt als Schuldramen konzipiert und wurden im Rahmen des Schultheaterbetriebs in der Stadt dargeboten. 516 Dies gilt es nicht zuletzt deshalb festzuhalten, weil in jüngerer Zeit Mara Wade den Versuch unternommen hat, mit der Psyche eines der hier skizzierten Schuldramen als pastorale Oper zu deuten: Aufgrund der vermeintlich schäferlichen Anlage des Stücks, der intensiven Zusammenarbeit mit dem Musiker Georg Walch sowie des mannigfachen Einsatzes musikalischer Formen im Stück plädiert sie dafür, die Psyche als »allegorical musical drama« 517 bzw. als »pastoral Singspiel«518 zu klassifizieren, und hält das Spiel für »an important early manifestation of this dramatic subgenre«. 519 Dem historischen Gebrauch des Begriffs »Singspiel« zufolge würde es sich somit bei der Psyche um eine am Modell des italienischen dramma per musica angelehnte Oper in deutscher Sprache handeln. 520 Und Mara Wade ist an anderer Stelle entschieden für eine derartige Verwendung des Begriffs eingetreten und hat betont: »Singspiel was a German term for the Italian dramma in musica«,521 wobei man unter den Zeitgenossen das »Singspiel« als ein »dramatic genre set to music« 522 angesehen habe. Von daher lasse sich festhalten, »that Singspiele of the seventeenth century are indeed the earliest manifestations of oper in the German language«. 523 Auch wenn hier nicht der Raum für eine eingehende Analyse der Psyche ist, so sei anhand einiger Aspekte die von Wade vorgeschlagene Gattungseinteilung des Stücks in Frage gestellt und demgegenüber wenigstens mit kurzen Bemerkungen angedeutet, in welcher Tradition Birkens geistliches Schauspiel höchstwahrscheinlich zu sehen ist. Zunächst ist festzuhalten, daß Psyche keineswegs ein Schäferspiel darstellt, wie jüngst Christiane Caemmerer in knapper, aber überzeugender Weise dargelegt hat. 524 Dadurch wird jedoch 516
517 518 519 520
521
522
523 524
Nach einem nicht verwirklichten Plan des Autors sollten diese Schulspiele gesammelt unter dem Titel »Teutsche Schaubühne« publiziert werden. Vgl. dazu Garber: Städtischer Ordenspräsident, S. 244. Wade: Singspiel, S. 193. Ebd., S. 245. Ebd. Zum Begriff »Singspiel« siehe die Ausführungen in Teil B, Kap. 5.3., Beispiel 1, dort auch Literaturangaben. Mara Wade: Poetics of the Singspiel. In: Studies in Modern and Classical Languages and Literature (II). Ed. by Ruth Μ. Mesavage. Madrid 1989, S. 77 - 8 5 , hier S. 84. Ebd., S. 78. Und an gleicher Stelle heißt es nochmals, »that Singspiele were set to music« (ebd., S. 81). Ebd., S. 77. Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 282f., die unter anderem betont hat: »Bei Birken fehlen dem schäferlichen Bereich alle Eigenschaften, die ihn im Bereich der profanen Schäferliteratur zum positiven Ort machen«. Nicht zuletzt deshalb »kann man hier nicht von einem Schäferspiel sprechen« (ebd., S. 283).
289 die von Wade vorgenommene Gattungsbestimmung als »pastoral Singspiel« bereits in einem Teil fragwürdig. Dies gilt aber auch für die Zuordnung zum »Singspiel«. So muß Wade etwa selbst einräumen, daß Birkens Psyche »is not set completely to music«.525 Doch gerade dieses Kriterium gilt (auch nach Wades eigener Definition!) als eine der wichtigen Eigenschaften des »Singspiels« (siehe oben). Zudem läßt sich aus dem von der Autorin hervorgehobenen mannigfachen Einsatz musikalischer Formen im Stück nicht zwingend eine Zuordnung zum »Singspiel« ableiten. Denn die reichhaltige Verwendung der Musik ist im Nürnberger Schultheater keine Seltenheit. Wie bereits ausführlich dargelegt, wurden bei den Schulaufführungen Musik und Gesang nicht nur bei den Chorliedern eingesetzt, sondern fungierten auch als vielfältige theatrale Gestaltungsmittel: so etwa in Form von Ouvertüren und instrumentalen Zwischenspielen nach Szenen- oder Aktenschlüssen, als Untermalung szenischer Vorgänge oder Begleitung gesungener Lied- und Arieneinlagen. Nicht zuletzt waren häufig Musiker der Stadtkapelle, Organisten oder der Stadtkapellmeister an den Aufführungen beteiligt. Die Psyche unterscheidet sich in dieser Hinsicht also nicht von anderen Nürnberger Schuldramen des 17. Jahrhunderts.526 Ein weiterer, von Wade nur kurz gestreifter, jedoch zentraler Aspekt kommt hinzu: Auch wenn das Stück nur noch in der deutschen Übersetzung Birkens zugänglich ist, muß jede Analyse berücksichtigen, daß es sich ursprünglich sehr wahrscheinlich um eine Aufführung in lateinischer Sprache handelte.527 Mithin ist die Psyche von ihrer Entstehung her als ein neulateinisches Drama zu betrachten und kann wohl als signifikantes Beispiel für das nach Max Wehrli in der Literatur des 17. Jahrhunderts herrschende »deutschlateinische Miteinander und Gegeneinander« 528 angesehen werden. Gerade dieser Befund steht jedoch in krassem Gegensatz zu der (auch von Wade gegebenen) Definition des »Singspiels« als eine Oper in deutscher Spra-
525
526 527
528
Wade: Singspiel, S. 202. Im weiteren Verlauf des Kapitels heißt es nochmals: »Psyche is a verse drama and not suited to be set to music in its entirety« (ebd., S. 206). Vgl. dazu Teil Α, Kap. 3., sowie Teil Β, Kap. 2.1.1. u. 2.1.2. Dagegen spricht m.E. nicht, daß Birken in seiner Autobiographie zur Abfassung des Stücks »utraque lingua« (Biographia, S. 48, Z. 24f.) notierte. Die deutsche Fassung diente wohl eher als Vorlage für die gedruckte (heute verlorene) Perioche, die zum besseren Verständnis des lateinischen Textes an die Zuschauer ausgeteilt worden sein dürfte. Auch würde sonst die verbürgte lateinische Fassung wenig Sinn machen. Anderer Auffassung ist jedoch Silber: Birken, S. 205, der von einer deutschsprachigen Aufführung der »Psyche« ausgeht. Max Wehrli: Latein und Deutsch in der Barockliteratur. In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Heft 1. Hg. v. Leonhard Forster u. Hans-Gert Roloff. Frankfurt a.M., München 1976 (Jb. für Internationale Germanistik, Reihe A: Kongreßberichte, Bd. 2), S. 134-149, hier S. 136.
290 che.529 Genaugenommen unterläuft Wade bei ihrer Gattungseinteilung also ein Anachronismus, da das Stück 1652 nicht in der Fassung vorgestellt wurde, die Wade ihrer Analyse zugrunde legt. Da man Psyche demnach wohl nicht mehr als »pastoral Singspiel« ansprechen kann, stellt sich die Frage, in welcher Gattungstradition das ursprünglich neulateinische Drama zu sehen ist? Auch wenn dies hier nicht ausführlich behandelt werden kann, sei zumindest mit wenigen Andeutungen die These formuliert, daß Birkens Psyche als ein christliches Schauspiel in der Tradition des neulateinischen Bibeldramas und der Terentius ChristianusBewegung konzipiert worden ist. Hierfür ist vor allem der Aufführungstitel von 1652 aufschlußreich. Denn gemäß der ehemals erhaltenen Perioche handelte es sich um ein Trauer- und Freudenspiel. Die Psyche gehört demzufolge in die Gruppe der »Tragico-Comoedias«, was in diesem Zusammenhang höchst bedeutsam ist. Denn hierunter verstand Birken in seiner Poetik eine ganz bestimmte Traditionslinie dieser Mischgattung, nämlich die geistlichreligiösen Mischspiele im Stile des Terentius Christianus. Wie bereits gezeigt, erscheint in der Poetik als Zielpunkt der geschichtlichen Herleitung des Dramas eine Schauspielform in dieser Tradition, an der Birken seine unter dem Namen »Helden- und Tugendspiel« laufende Konzeption eines christlichen Schauspiels ausrichtete. Für diese Form sollte das im Anhang der Poetik publizierte »Heldenspiel« Psyche den Mustertext 530 bilden (siehe hierzu Teil A, Kap. 4.1.). Wenn man nach einem Vorbild für das neulateinische Stück sucht, dann dürfte dies weniger in der Gattung des »Singspiels« denn in den Bibeldramen der Neulateiner und dem Terentius Christianus zu finden sein. Hiermit korrespondiert, daß die Psyche nach Birkens eigenen Worten gleichsam als ein spectaculum christianum »unter einem Gedichte / von der Erschaffung / Abfall und Erlösung des Menschen handlet / aber die Historie weiter und bis zur lezten [!] JEsus-Zukunft hinausführet«.531 Wie bereits Clemens Heselhaus in einer älteren Studie festgestellt hat, operiert Birken dabei mit dem Verfahren der »religiösen Allegorese«,532 um dadurch das dem Stück zugrunde liegende Amor und Psyche-Märchen aus den Metamorphosen des Apuleius als christliche Heilsgeschichte umzudeuten.533 529
530
531 532
533
Problematisch ist zudem, daß Wade glaubt, Birkens eigene Gattungseinteilung übergehen zu können, ohne dafür jedoch zwingende Gründe zu liefern. Birken selbst hat in seiner Poetik die »Psyche« nicht zu den »Singspielen« gezählt, sondern sie den »Heldenspielen« zugeordnet, während das »Singspiel Sophia« von ihm als Mustertext für die »Singspiele« genannt wird. Vgl. dazu Teil A, Kap. 4.1. So jüngst auch Laufhütte: Programmatik, S. 299: »Das Drama entspricht exakt Birkens poetologischer Programmatik«. Birken: Dicht-Kunst, S. 324. Clemens Heselhaus: Metamorphose-Dichtungen und Metamorphose-Anschauungen. In: Euphorion 47 (1953), S. 121-146, hier S. 136. Bei der »Psyche« ist somit ebenfalls ein exegetisches Prinzip am Werke, wie es
291 Hierfür ist nicht zuletzt aufschlußreich, daß Psyche
eine implizite bzw.
(um mit Bruno Markwardt zu sprechen) eine latente Poetik enthält, die d e m Stück in Form eines Vorspiels der Allegorien »Irdische und Himlische [!] Liebe« 5 3 4 programmatisch vorangestellt ist. D a b e i tritt zunächst in Verkörperung des Lustgottes Cupido die »irdische Liebe« auf. Sich selbst als »Kuppel Bübchen« und als »das blinde Herzen Diebchen« 5 3 5 einführend, überblickt er die Bühne von einer Wolke aus und schmiedet den Plan, um die Psyche zu buhlen und sie für sich zu gewinnen. D o c h bevor er dies in die Tat umsetzen kann, erscheint die als Engel ausgewiesene »himmlische Liebe« in Gestalt der Philanthropia am H i m m e l und vertreibt den heidnischen G o t t von der Bühne, indem sie ihn aus seiner Wolke stößt. 5 3 6 D a b e i weist die v o m Himmel geschickte Botin Cupido mit scharfen Versen zurecht, die sich gleichsam wie eine Kurzform des in der Poetik formulierten Programms eines christlichen Schauspiels ausmachen, das nicht Fiktion darstelle, sondern als eine andere Form der Predigt göttliche Wahrheiten auf die B ü h n e bringe: Frecher Knab! was hast du hier zu schaffen? Dir gebührt nicht / dißorts umzugaffen / wo von Gott / und nicht von Götzen / wird Rede eingeführt. [...] Diese Psyche hier / ist nicht die deine / ist der wahren Gottes-Töchter eine / stam[m]t von Himmel / flammet Himmel-an. Weich von diesem Plan! Weich / du Bub! Es stallen nicht zusammen Gottes Lieb und geile Wollustflammen. Weiche! Du gehörst in Himmel nicht / bist nur ein Gedicht. 537
534 535 536
537
Theodor Verweyen für die Birkensche Deutung des Daphne-Mythos im »Programme Poeticum« beschrieben hat. Vgl. Verweyen: Daphnes Metamorphosen, bes. S. 325-340. Auf etliche Bezüge zur Bibel (Genesis) und antiken Mythologie im Stück hat Wade: Singspiel, S. 219f., aufmerksam gemacht. Birken: Dicht-Kunst, S. 325. Ebd., S. 392. Dies geht aus der Regieanweisung hervor: »Jndem wirft sie [die Philanthropia, M. P.] den Cupido aus der Wolke: welcher im herabfallen verschwindet« (ebd., S. 393). Ebd., S. 392f. Zum Vorspiel siehe auch Laufhütte: Programmatik, S. 297ff., sowie Wade: Singspiel, S. 212-214, die bemerkt hat, daß der Prolog mit der Vorstellung eines Kampfes zwischen der irdischen und himmlischen Liebe das zentrale Thema des Stücks veranschauliche, wobei die Schlußverse der Philanthropia zugleich eine Aufforderung an den Betrachter beinhalteten: »Physical love having been banished from the stage, Philanthropia points out that Psyche portrays a quality, a virtue, carried within each individual. The generalization is obvious: each human has the capacity to reject vice and to uphold virtue, like the Psyche of Birken's play« (ebd., S. 214).
292 BEISPIEL
3: Der Parnaß in der Noris. Johann Geuders Freudenspiel Macaria und die Einweihung des neuen Nachtkomödienhauses (1668)
Die Comödie Macarie H[errn] M[agister] Geuders im Neuen Spielh[aus] cum Kirchm[air] angesehen, die Treppe daselbst abgef. J[ohann] Georgs im Hof, f u n g ier] Mufflinn, Nachb[ar] Hall. [...] vor mir, hinten beyde Kressen, J[ohann] Friedrich] u. Ferdinand] cum Uxore, hic mir ein Becherl Wein Zugetr[unken]. 538 D i e s e Notiz Sigmund von Birkens in seinem Tagebuch zum 11. Februar des Jahres 1668 verweist trotz ihrer Knappheit auf mehr als nur einen geselligen A b e n d Birkens mit Bekannten im Theater. Zunächst reiht sie sich ein in die Vielzahl von Einträgen im Tagebuch, die Birkens Vorliebe für Theateraufführungen belegen. D o c h in ihr spiegelt sich insbesondere eines der bedeutendsten Ereignisse der Nürnberger Theatergeschichte wider: D i e Eröffnung des neuen Nachtkomödienhauses,
die mit viel Aufwand inszeniert und zu
einem gesellschaftlichen Großereignis wurde, das seinen Niederschlag in den Stadtchroniken fand. 5 3 9 Bei dieser festlichen Premiere gelangte das Schauspiel Die vergnügte
Prinzessin
MACARIA540
zur Aufführung, das der Theo-
loge Johann Geuder verfaßt hat. 5 4 1 Bis in die jüngste Zeit galt das Stück als 538
539
540
541
Birken: Tagebücher, Bd. 1, Eintrag vom 11. Februar 1668, S. 345f. Zur Bedeutung dieser Tagebuch-Stelle als Quelle für das zeitgenössische Publikum beim Schultheater siehe die Ausführungen in Teil B, Kap. 2.1.2. Vgl. StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 47, fol. 1151v, sowie Nr. 51 (III), fol. 280v. Die mehrfach und auch noch in jüngster Zeit zu lesende Jahresangabe 1686 bzw. Winter 1686 ist falsch und dementsprechend zu korrigieren. So noch bei Kertz: Barocktheater, S. 347, und Röder: Nürnberg, Sp. 503. Johann Geuder: Die vergnügte Prinzessin MACARIA, Jn einem Freuden-Spiel / Der Edlen NORIS Adelichen Jugend / auff dem neuerbauten Schauplatz / zu einem glücklichen Anfang / abzuhandeln übergeben / Und Jnhalts weise entworffen Den 11. Hornungs / dieses 1668. Jahrs [...]. Nürnberg [1668]. Im folgenden als »Macaria« zitiert. Johann Geuder wurde 1639 als Sohn des Bierkiesers und Visierers Jakob Geuder in Nürnberg geboren (Tauftag 14.12.1639). Von 1655 ab studierte er Theologie in Altdorf, wo er 1663 Baccalaureus wurde und 1665 den Magistertitel erlangte. Seit 1666 war er Kandidat in dem von Johann Michael Dilherr ins Leben gerufenen Predigerseminar. Einen wichtigen Einschnitt brachte das Jahr 1668: Zuerst wurde am 11. Februar sein Drama »Macaria« aufgeführt. Daraufhin krönte ihn Sigmund von Birken am 7. April 1668 zum »poeta laureatus« und nahm ihn unter dem Namen »Rosidan« in den Pegnesischen Blumenorden auf. Schließlich erhielt er nach seiner Ordination in Altdorf im August 1668 eine Pfarrei in Ottensoos im Nürnberger Land. Im Februar 1679 wurde Geuder Pfarrer in Lauf an der Pegnitz, wo er bis zu seinem Tod am 24. Dezember 1693 tätig war. Vgl. Johann Herdegen: Historische Nachricht von deß löblichen Hirten= und Blumen=Ordens an der Pegnitz Anfang und Fortgang [...]. Nürnberg 1744, S. 330-332; N G L 1 (1755), S. 535f.; Simon: Nürnbergisches Pfarrerbuch, S. 73, sowie (im Hinblick auf die Dichterkrönung von Geuder) Theodor Verweyen: Dichterkrönung. Rechts- und sozialgeschichtliche Aspekte literarischen Lebens in Deutschland. In: Literatur und Gesellschaft im deutschen Barock. Aufsätze. Hg. v. Conrad Wiedemann. Heidelberg 1979 (GRM, Beiheft 1), S. 7-29, bes. S. 24-28.
293 nicht mehr nachweisbar und verschollen,542 so daß über seine Beschaffenheit und Aufführung bislang kaum näheres bekannt war und das Theatereinweihungsspiel (wenn überhaupt) lediglich mit einer bloßen Erwähnung Beachtung fand. Aufgrund des in der Staatsbibliothek Berlin erhaltenen (offenbar einzigen) Exemplars einer Perioche läßt sich das Stück jedoch sowohl von seiner Anlage als auch Funktion her gut einordnen und kann als eindrucksvolles Paradigma dafür gelten, in welchem Maße das Schultheater neben seinen pädagogischen Zwecken auch als wichtiger Teil repräsentativer Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts fungierte. Schon der Untertitel des Schauspiels verweist hierauf, indem er den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Aufführung der Macaria und der Eröffnung des neuen Theaters hervorhebt: Jn einem Freuden=Spiel Der Edlen NORIS Adelicher Jugend / au f f den neuerbauten Schauplatz / zu einem glücklichen Anfang / abzuhandeln übergeben. Unterstrichen wird die enge Verbindung mit dem festlichen Anlaß noch durch das dem Stück vorangestellte, allegorische Vorspiel, in dem es zu Beginn in der Szenenanweisung heißt: »Phosphorus, der Herold des Kunst-Printzen Phoebus ersihet von seiner Sternen-Schild-Wache / das Neu-erbaute Lust-Spiel-Haus und bewillkommet solches / als einen zukünfftigen Kunst-Pallast«.543 Dieser spezifische Gelegenheitscharakter der Macaria als für das neue Nachtkomödienhaus bzw. Opernhaus konzipiertes Eröffnungsschauspiel legt nahe, zunächst die genaueren Umstände der Entstehungsgeschichte des neuen Theaters zu beleuchten - nicht zuletzt deshalb, weil dem neuen Theaterbau grundsätzliche Bedeutung für die Theatergeschichte der Reichsstadt zukommt, innerhalb derer das Nachtkomödienhaus von 1668 nur wenig Beachtung fand und ungerechtfertigterweise ausnahmslos in einem schlechten Licht erschien. Das Nachtkomödienhaus - Entstehungsgeschichte Der unmittelbare Anstoß zum Bau eines neuen, überdachten Theaters, das auch im Winter und bei Nacht bespielbar war, ging offenbar nicht von obrigkeitlicher Seite aus, sondern er kam vom Komödianten Carl Andreas Paulsen, dessen Wandertruppe in Deutschland in der Zeit um 1665 zu den her542
543
So noch Renate Jürgensen: Geuder, Johann. In: LL 4 (1989), S. 153. In diesem Sinne auch der Artikel in: DBE 3 (1996), S. 670. Erst in ihrer 1994 erschienenen Monographie zum Pegnesischen Blumenorden teilte Jürgensen die Signatur des letzten erhaltenen Exemplars in der Berliner Staatsbibliothek mit (vgl. Jürgensen: Utile cum dulci, S. 54). Wie eine Anfrage bei der Berliner Staatsbibliothek ergab, handelt es sich hierbei nicht um ein vollständiges Textbuch, sondern um eine Perioche des Stücks. Macaria, fol. A ijv (Prolog).
294 ausragenden Banden gehörte und gerade in den Jahren 1667/68 in Nürnberg große Erfolge feierte (vgl. Teil B, Kap. 1). Möglicherweise hat nicht zuletzt der große Zuschauerzuspruch den Prinzipal dazu ermutigt, am Ende seines Gastspiels vom Sommer 1667 den Nürnberger Stadtoberhäuptern Pläne für ein ehrgeiziges Projekt zu eröffnen: Demnach ging er kurz vor seinem Aufbruch nach Leipzig den Rat mit der Bitte an, »ihme zu vergünstigen, daß er den bevorstehenden winter über an einem bequemen ort seine narung alhier ferner fortsetzen und Comoedien praesentirn«544 dürfe. Da offenbar in seinen Augen in der Stadt hierzu ein geeignetes, überdachtes Spiellokal fehlte,545 schlug er vor, daß man ein neues Theater errichten solle, wofür er möglicherweise schon erste Ideen beisteuerte, da die Ratsverlässe bei der Verhandlung über den Gegenstand bereits von konkreten, vorgelegten Entwürfen ausgehen und berichten, daß die Herren Kriegsverordnete auch neben Herrn Baumeister berait ein ort im Materialhaus, so ohne das nicht gebraucht werde, zu diesem vorhaben gar dienlich und vor aller feuersgefahr wol verwahret, ausersehen, worinnen die anstalt zu Comoediantischen Actionen mit gar leidentlichen Unkosten verfüget werden möchte.546
Der Rat stand diesem Vorschlag positiv gegenüber. Möglicherweise deckte er sich bereits mit auf seiten der Obrigkeit vorhandenen Überlegungen zum Bau eines neuen Theaters. Denn einer von Friedrich Meyer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geäußerten (allerdings von ihm weder belegten noch weiter verfolgten) Bemerkung zufolge hätten sowohl junge Patriziersöhne von ihren Reisen zu Universitäten in Italien als auch Kaufleute von ihren Geschäftsreisen die Idee zum Bau eines Spielhauses für Opernaufführungen mit in die Heimat gebracht. Im Lauf der Jahre sei die Sehnsucht entstanden, »nach dem Besitze dessen in der Vaterstadt, was man anderwärts gesehen hatte«.547 Auch wenn sich dies nicht konkret belegen läßt, beschloß der Rat sogleich auf den Antrag hin, »dem Herrn Baumeister aufzutragen, daß er vorhabender maßen solchen bau unter die hand nehmen und vollziehen wollte«.548 Zudem ordnete er an, »die Herrn Scholarchen aber zu ersuchen, die im Augustiner Closter befindliche materialien, so daselbsten zu dergleichen Schauspielen gebraucht
544 545
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548
StaatsAN, RV Nr. 2603 vom 9. September 1667, fol. 35v. Das Theater im großen Saal des Augustinerklosters war den Schulaufführungen vorbehalten gewesen. StaatsAN, RV Nr. 2603 vom 9. September 1667, fol. 35v. Friedrich Mayer: Chancen des Nürnberger Theaters von seiner frühesten Entstehung bis zu seiner Gegenwart. Nürnberg 1843, S. 31f. Ähnlich auch Reicke: Geschichte der Reichsstadt Nürnberg, S. 1005, der zur Entstehung des Nachtkomödienhauses ohne weitere Angaben meinte: »Das Bedürfnis, für die Aufführung der italienischen Opern ein passendes Lokal zu besitzen, veranlaßte den Rat 1667 zur Erbauung eines Opernhauses«. StaatsAN, RV Nr. 2603 vom 9. September 1667, fol. 35v.
295 werden, folgen zulassen«.549 Schließlich stellte man Paulsen und seiner Truppe in Aussicht, später im neuen Theater spielen zu können, worauf dieser nochmals ein »danckschreiben«550 an den Rat richtete. Es mag erstaunen, daß der Prinzipal einer Wanderbühne sich derart für die Errichtung eines Theatergebäudes in einer fremden Stadt einsetzte. Doch möglicherweise ging es Paulsen bei seiner Initiative zu dem Vorhaben um mehr als nur um einen überdachten Spielort für die Winterzeit. Denn nur zwei Jahre später beabsichtigte er, sich mit seiner Truppe in Hamburg auf Dauer niederzulassen, also ein >stehendes< Theater zu gründen, was ihm allerdings nicht gelang.551 Vielleicht hatte er schon aufgrund seines erfolgreichen Nürnberger Gastspiels ähnliche Pläne gehegt und aus diesen Gründen die Anregung zu einer neuen Bühne gegeben, in der Hoffnung, sich in der Reichsstadt dadurch eine dauerhafte Spielstätte zu schaffen. Immerhin wurde der Neubau auch durch die von Paulsens Truppe erzielten Eintrittsgelder finanziert. So vermerken die städtischen Rechnungsbelege, daß von den im Sommer 1667 eingegangenen Abgaben »zur erbauung des neuen Comoedienhauses, auf rechnung bezahlt worden 200 fl.«.552 Das Nachtkomödienhaus - Ausgestaltung und Bühnentechnik Noch im September 1667 wurden die Arbeiten am neuen Theater unter der Leitung des Baumeisters Friedrich Volckamer begonnen, wobei man sich entschieden hatte, kein eigenes Gebäude zu errichten, sondern das Materialhaus, einen ehemaligen Stadel für Schanzzeug, zum Theater umzubauen.553 Das Materialhaus befand sich auf der südlichen Seite des Lorenzerplatzes an der früheren Mauer der alten Stadt und gegenüber dem Ausgang des Marstalls.554 Wie in Hieronymus Brauns Prospekt der Reichsstadt Nürnberg555 von 1608 gut erkennbar (siehe Abbildung Nr. 7 u. 8), bildete es zusammen mit dem größeren Kalkstadel einen Komplex von zwei nebeneinander gelegenen Stadeln, deren Giebelseiten auf den Lorenzerplatz zeigten und an deren Seiten zum einen neben dem Kalkstadel der Lorenzergraben (heute 549
Ebd., fol. 35 v -36 r . Zum beachtlichen Umfang dieser »materialien« siehe die Ausführungen zur Bühne im Augustinerkloster in Teil A, Kap. 1.2. 550 StaatsAN, RV Nr. 2603 vom 18. September 1667, fol. 65v. 551 Ygj Kindermann: Theatergeschichte, Bd. 3, S. 395. 552 StaatsAN, Rep. 54a II: Nürnberger Stadtrechnungsbelege, Nr. 996: Gemeine Einnahmen Anno 1667 u. 1668, Nr. 7, fol. 3f. 553 Vgl. StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 51 (III), fol. 279r. 554 Vgl. Nopitsch: Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg, S. 121, und Michael Truckenbrot: Nachrichten zur Geschichte der Stadt Nürnberg. Erster Bd., welcher ausser der nöthigen Einleitung die Topographie enthält. Nürnberg 1785, S. 477, sowie den kurzen Rückblick auf das Nachtkomödienhaus bei Kertz: Nürnberger Nationaltheater, S. 391f. 555 StaatsAN, Karten und Pläne, Nr. 42.
296 Theatergasse) und zum anderen neben dem Materialhaus das Todtengäßlein verliefen (heute befindet sich hier die Hauptstelle einer Nürnberger Bank). Nach knapp fünf Monaten waren Ende Januar 1668 die Umbauten am Materialhaus beendet worden, wobei das Theater den Namen Komödienhaus bzw. Nachtkomödienhaus erhielt, da aufgrund der nun vorhandenen Beleuchtungstechnik bei Dunkelheit gespielt werden konnte. Seit etwa Ende des 17. Jahrhunderts wurde das Theater im Volksmund auch als Opernhaus bezeichnet, was sicherlich als Niederschlag der vielfältigen Nürnberger Opernaufführungen in den 1680er und 1690er Jahren gesehen werden kann (siehe Teil B, Kap. 5.4.). Anhand einer erhaltenen Grundrißzeichnung lassen sich sowohl die Inneneinrichtung als auch die bühnentechnischen Gegebenheiten des Nachtkomdienhauses gut rekonstruieren (vgl. Abbildung Nr. 9 u. 10): Den vorderen Teil des schmalen und langgestreckten Gebäudes bildete das Foyer mit dem Haupteingang und der Kasse. Nach einem kleineren, »zweyten Vorplatz« folgte der ellipsenförmig angelegte und beleuchtbare Zuschauerraum, der nach hinten, zum Haupteingang hin, leicht anstieg und in seiner Mitte durch eine quer verlaufende Brüstung in ein erstes und zweites Parterre aufgeteilt war und vornehmlich Platz für das >gemeine Volk< bot. Das Parterre verfügte über keine festen Sitzgelegenheiten, so daß die Zuschauer sich selbst Stühle mitbringen oder stehen mußten, was jedoch durchaus den allgemeinen Theaterverhältnissen der Zeit entsprach. 556 Erst seit 1762 standen an den beiden Seiten des ersten Parterres zwei eiserne Öfen, die zur Beheizung des Zuschauerraums dienen sollten. 557 Im ersten Rang befanden sich insgesamt acht Logen, jeweils zwei neben der Bühne sowie vier weitere in der Mitte, gegenüber der Stirnseite der Bühne. Alle Logen konnten verschlossen werden und waren durch einen Gang miteinander verbunden sowie über einen separaten Seiteneingang des Theaters am Todtengäßlein zugänglich. Die Logen waren offenbar mit rotem Tuch ausgeschlagen und besaßen Sitzgelegenheiten, insgesamt 19 Sessel und fünf Bänke. 558 Über den Logen erhob sich die erste Galerie, hierüber nochmals eine weitere Galerie, das sogenannte Paradies, das sich auf beiden Seiten jeweils bis fast zu den vorderen Logen hin erstreckte und neben dem Parterre die billigsten Plätze des Theaters bot. 559 Galerie und >Paradies< 556
Vgl. Margarete Baur-Heinhold: Theater des Barock. Festliches Bühnenspiel im 17. und 18. Jahrhundert. München 1966, S. 33 u. 36. 557 Ygj j o s e f Baader: Zur Geschichte des Theaters in der Reichsstadt Nürnberg. In: Morgenblatt zur Bayerischen Zeitung Nr. 146 vom 27. Mai 1865, S. 494, Sp. 2. 558 Vgl. Kertz: Nürnberger Nationaltheater, S. 392. 559 V g l Neuverbesserter Nürnbergischer Staats-Calender auf das Jahr 1796 welches ein Schalt-Jahr von 366 Tagen ist. Worinnen eine vollständige Genealogie aller jetztlebenden hohen Potentaten und anderer fürstlicher Personen in Europa [...] und die Fortsetzung der vornehmsten Merkwürdigkeiten der Stadt Nürnberg enthalten ist. Nürnberg [1796], S. F3, Sp. 2.
297 konnten durch Treppen im ersten Vorraum beim Haupteingang erreicht werden. Eine beachtliche Neuerung gegenüber den bisherigen Theaterverhältnissen in der Reichsstadt stellte insbesondere die Bühne des Nachtkomödienhauses dar: Ihr war zunächst ein Orchestergraben, an dessen Seiten sich auf Höhe des ersten Rangs jeweils ein Balkon mit weiteren Plätzen befand, sowie daran anschließend ein Proszenium vorgelagert. Die eigentliche Bühne stieg nach hinten etwas an (sieben Zoll) und ließ sich in eine Vorder- und Hinterbühne teilen, wie Bühnenanweisungen von Opernaufführungen aus den 1690er Jahren zeigen.560 Neben der Beleuchtungstechnik verfügte sie über drei Versenkungen sowie mehrere Maschinen, Flugapparate und eine Oberbühne, die über eine gesonderte Treppe im hinteren Teil der Bühne begehbar war. Für die Bedienung der Maschinen und Apparate war ein beträchtlicher Personalaufwand notwendig: So mußten etwa 1719 bei den von Caspar Casimir Schweizelsberger veranstalteten Opernaufführungen hierfür jedesmal acht Bedienstete aus dem Bauamt aushelfen (siehe Teil B, Kap. 7). Zudem besaß die Bühne an beiden Seiten jeweils vier hintereinander gestaffelte und kleiner werdende Kulissenrahmen. Durch dieses Kulissensystem konnte ein illusionistisch-perspektivisches Bühnenbild mit Tiefenwirkung erzeugt werden. Dabei dürften das vorgeblendete Proszenium, die ansteigende Bühne (sogenannter Bühnenfall), der Einsatz von Lichteffekten und die verschiedenen Größen der Kulissenrahmen sowie nicht zuletzt die langgestreckte Form der Bühne die perspektivische Wirkung noch erheblich verstärkt haben. 561 Neben den Versenkungen gab es noch drei weitere Auf- und Abgangsmöglichkeiten auf der Bühne, zwei jeweils an den Seiten der vorderen Bühne und eine im hinteren Teil. Letztere führte direkt in das »Ankleidzimmer«, das durch einen Ofen beheizt wurde und wohl der Aufbewahrung von Requisiten und Kostümen gedient haben dürfte. Hieran Schloß sich noch ein weiterer Raum an, der neben einer Toilette auch die Stube für das Wachpersonal beherbergte. Dort befand sich neben dem dritten (wahrscheinlich nur von Bediensteten und Schauspielern verwendeten) Eingang zum Theater, der ebenfalls auf das Todtengäßlein führte, insbesondere der Zugang in den Korridor, der unter dem Theater verlief und zu den Versenkungen, dem Platz des Souffleurs und zum Orchestergraben führte. Möglicherweise wurde er auch als weitere Auftrittsmöglichkeit genutzt.
560 V g l 561
Teil B K a p
5.4.i.b.
Zur Perspektivbühne und dem System der Kulissenbühne siehe die grundlegenden Arbeiten von Günter Schöne: Die Entwicklung der Perspektivbühne von Serlio bis Galli-Bibiena nach den Perspektivbüchern. Leipzig 1933 (Theatergeschichtliche Forschungen, Bd. 43), und Hans Tintelnot: Barocktheater und barocke Kunst. Die Entwicklungsgeschichte der Fest- und Theater-Dekoration in ihrem Verhältnis zur
298
Windschiefe Scheune oder barocke Bühne? Trotz der für das Nürnberger Theaterleben so wichtigen Errungenschaften und neuen bühnentechnischen Möglichkeiten stellte das Nachtkomödienhaus gewiß kein Glanzstück frühneuzeitlicher Theaterbaukunst dar. Immer wieder mußte an dem Gebäude ausgebessert und renoviert werden, schon bei der Eröffnung im Februar 1668 ging eine der Treppen zu Bruch, wie schon Sigmund von Birken in seinem Tagebuch vermerkte. Öfters sollte sich bemerkbar machen, daß es sich um keinen Neu-, sondern bloßen Umbau eines ehemaligen Stadels handelte. Dennoch erstaunt es, wie wenig Resonanz der Nürnberger Theaterbau von 1668 sowohl in der allgemeinen Theaterhistorie als auch in der lokalen Geschichtsschreibung fand, von positiven Urteilen ganz zu schweigen. Denn in den wenigen modernen Beschreibungen, die der Bühne in ausschließlich lokal orientierten Studien zuteil wurden, herrscht eine Einschätzung vor, die von Ansichten verschiedener Quellen aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts geprägt zu sein scheint - wobei deren eindeutig (ab)wertender Blickwinkel auf die >voraufklärerische< Zeit kritiklos übernommen und dem Nachtkomödienhaus kaum mehr als der Rang eines mehr oder minder windschiefen Notbehelfes zugesprochen wird. Als einer der wichtigsten Gewährsmänner für diese Sicht dient Georg Andreas Will, der das Nachtkomödienhaus noch aus eigener Anschauung kannte und über die vermeintlich ungenügenden Qualitäten des Theaters klagte: Es sei »für die große und berühmte Stadt zu klein und zu gering« sowie »zur eigentlichen und großen Oper [...] gar nicht tauglich«.562 Ähnlich befand Michael Truckenbrot in seiner 1785 erschienenen topographischen Beschreibung Nürnbergs, daß das Theater »übrigens weder ein besonderes Ansehen macht, noch sehr geräumig ist.«563 Wenig Positives wußten auch die rund zehn Jahre später in der Reichsstadt anonym verbreiteten Briefe über das Theater in Nürnberg und das deutsche Komödienwesen überhaupt56* zu berichten, die in ihrem (polemisch ausgerichteten) Bericht über die zeitgenössischen Zustände des Theaters von einer Nürnberger »Duodez=Bühne« sprachen und meinten: »Das hiesige Comödienhaus ist überhaupt nicht viel besser, als eine Scheune, und das Theater nicht viel grösser als ein Schneidertisch.«565 Diesem Urteil pflichtete schließlich kurz vor dem Abbruch des Nachtkomödienhauses der Neuverbesserte Nürnbergische Staats-Calender auf das Jahr 1796 bei:
562 563 564
565
barocken Kunst. Berlin 1939, sowie die Überblicke bei Baur-Heinhold: Theater des Barock, S. 120ff., und Horst Birr: Kulissenbühne. In: Theaterlexikon, S. 528f. Will: Geschichte der Nürnbergischen Schaubühne, S. 212. Truckenbrot: Nachrichten zur Geschichte der Stadt Nürnberg, Bd. 1, S. 477. Anonym: Briefe über das Theater in Nürnberg und das deutsche Komödienwesen überhaupt. Ein Wort zu seiner Zeit geredt. Allen Theaterfreunden im lieben Frankenlande gewidmet und zugeeignet, o. O. 1793. Ebd., S. 25.
299 Man muß hier der Wahrheit zu teuer gestehen, daß sich dieses Schauspielhaus von keiner Seite empfiehlt. Die Lage ist nicht die schönste, von aussen sieht es einer Scheune vollkommen ähnlich, und inwendig ist es niedrig, klein, enge, und mitunter ein wenig baufällig.566
An dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts geändert. So sprechen etwa Gisela Schultheiß und Ernst-Friedrich Schultheiß angesichts der vermeintlich »unmöglichen Maßverhältnisse«, der »viel zu schmal[en] und tief[en]« Bühne und der angeblich »kaum vorhanden[en]« Bühnentechnik von »gravierende[n] Unzulänglichkeiten« des Theaters, wobei sich das Autorenpaar ausdrücklich auf die Beschreibung Georg Andreas Wills beruft. 567 Dieser diente schon Peter Kertz als Zeuge für seine negative Beurteilung der Verhältnisse des Nachtkomödienhauses: Demnach sei das Materialhaus »für die Errichtung zum Opernhaus höchst ungeeignet« gewesen, »da es viel zu schmal, aber unverhältnismäßig lang war«, weshalb die Bühne »schwer bespielbar und nur für kleine Stück geeignet« war und sich »die barocke, große Oper [...] auf ihr nicht entfalten« 568 konnte. Doch war dem wirklich so? Wird die moderne Kritik, die sich auf den ersten Blick auf die negativen Urteile aus der Zeit um 1800 stützen kann, den historischen Gegebenheiten des 17. Jahrhunderts und dessen spezifischen Vorstellungen von Theaterbau, Bühnenform und -technik gerecht? Man wird dies nachdrücklich verneinen müssen und demgegenüber das Nachtkomödienhaus in seinem historischen Kontext zu beurteilen haben. Denn so verständlich die pejorativen Beschreibungen und Urteile Georg Andreas Wills und seiner Zeitgenossen angesichts der vielerorts entstandenen prachtvollen Theaterbauten auch sein mögen, so wenig können diese heute noch als Grundlage für die Beurteilung der Bedeutung des Nachtkomödienhauses in seiner Zeit dienen, da diese negativen Urteile von Wertmaßstäben geprägt sind, denen die spezifischen Bühnenverhältnisse des 17. Jahrhunderts weitgehend fremd und unverständlich geworden waren: So stellte etwa die von Will und nach ihm immer wieder kritisierte, schmale und tiefe Bühnenform des Nachtkomödienhauses aus der Sicht der Verhältnisse des Barocktheaters keineswegs eine Unzulänglichkeit dar. Im Gegenteil, sie kam gewissermaßen sogar dem Idealtypus der barocken Bühne nahe 569 Denn entgegen 566
Neuverbesserter Nürnbergischer Staats-Calender auf das Jahr 1796, S. F3, Sp. 2. Schultheiß: Vom Stadttheater zum Opernhaus, S. 43. 568 Kertz: Nürnberger Nationaltheater, S. 392. In diesem Sinne nochmals erneuert in: ders.: Barocktheater, S. 347. 569 pjjr d a s Folgende siehe Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 2: Vom »künstlichen« zum »natürlichen« Zeichen - Theater des Barock und der Aufklärung. Tübingen 31995 (11983), S. 72f. u. 96, sowie insbesondere Schöne: Entwicklung der Perspektivbühne, bes. S. 50ff., und den Abschnitt »Die Entwicklung der Theaterdekoration in Früh- und Hochbarock« bei Tintelnot: Barocktheater und barocke Kunst, S. 49-74. In diesem Zusammenhang sind auch heranzuziehen die grundlegenden Ausführungen bei Alewyn: Das große Welttheater, 567
300 dem Theater der Renaissance und später der Aufklärung bildete im 17. Jahrhundert nicht die Horizontale das entscheidende Gliederungsprinzip der Bühnenform. Das Barocktheater ist eingespannt zwischen die transzendenten Mächte Himmel und Hölle. Während in der Zeit zuvor und danach die Ebene von Bedeutung ist, wird im Barock »alles ins Vertikale gewendet«570 und die Senkrechte »zur wichtigsten Gliederungsachse«.571 Dementsprechend strukturiert sich die räumliche Aufteilung der barocken Bühne in oben (Gott, Himmel, Ewigkeit), Mitte (Mensch, Erde, Vergänglichkeit) und unten (Teufel, Hölle, Verdammnis), wie es eindrucksvoll etwa die Szenenanweisung zu Beginn des ersten Aufzugs der Catharina von Georgien von Andreas Gryphius verdeutlicht: Der Schauplatz lieget voll Leichen / Bilder / Cronen / Zepter / Schwerdter etc. Vber dem Schau=Platz öffnet sich der Himmel / vnter dem Schau=Platz die Helle. Die Ewigkeit kommet von dem Himmel / vnd bleibet auf dem Schau=Platz stehen. 572
Durch die Einbeziehung von Himmel und Hölle erhebt, wie Albrecht Schöne prägnant formulierte, das »barocke Vertikaltheater« die Bühne zum »emblematischen Schaugerüst«,573 oder anders, mit Richard Alewyn gesprochen, kann das Theater »nicht nur vollständiges Abbild, sondern auch vollkommenes Sinnbild der Welt«574 werden. Vor diesem Hintergrund läßt sich keineswegs davon sprechen, daß das Nürnberger Nachtkomödienhaus ein für die damalige Zeit unzulängliches Theater oder gar einen bloßen Notbehelf darstellte. Vielmehr kam seine (in späterer Zeit bemängelte) schmale und langgestreckte Anordnung der »Vertikalinszenierung des Barock«575 und deren Idealbühne entgegen, welche auf »die Illusion eines sich in unbegrenzte Tiefe verlierenden Raumes«576 abzielte. Deshalb war die Wahl auf das Materialhaus möglicherweise nicht allein aus Raum- und Kostengründen gefallen, sondern auch bewußt im Hinblick auf dessen spezifische Form getroffen worden. Und diese war zu ihrer Zeit jedenfalls keineswegs ungewöhnlich, wie etwa ein Vergleich der erhaltenen Planskizze des Nachtkomödienhauses mit anderen Grundrißzeichnungen
570 571 572
573 574 575 576
bes. S. 62-72, und Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 3. Aufl. mit Anmerkungen. München 1993 (11964), S. 223-231. Gerard Schneilin: Barocktheater. In: Theaterlexikon, S. 127-130, hier S. 129. Fischer-Lichte: Theater des Barock, S. 72. Andreas Gryphius: Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit. Trauer=Spiel. In: ders.: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. v. Marian Szyrocki u. Hugh Powell. Bd. 6: Trauerspiele III. Hg. v. Hugh Powell. Tübingen 1966 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, N. F., Bd. 15), S. 139. Schöne: Emblematik und Drama, S. 227. Alewyn: Das große Welttheater, S. 72. Baur-Heinhold: Theater des Barock, S. 121. Schöne: Entwicklung der Perspektivbühne, S. 50. Hans Tintelnot: Barocktheater und barocke Kunst, S. 19, spricht von der »Eroberung des Tiefenraumes« durch die barocke Bühne.
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zeitgenössischer Theaterbauten zeigt, die ebenfalls in ihrer Anordnung durch eine schmale und längliche Form geprägt waren.577 Zudem verfügte das Nachtkomödienhaus, wie gezeigt, über die für die Entfaltung des Barocktheaters notwendigen architektonischen Voraussetzungen und technischen Mittel wie Versenkungen, Oberbühne, Flugvorrichtungen, Beleuchtungstechnik sowie Illusionsbühne mit vorgelagertem Proszenium und einem sich daran anschließenden Kulissensystem, das bereits nach dem von zeitgenössischen Theaterarchitekten konzipierten Prinzip der »Flächenschichtung«578 perspektivisch ausgerichtet war. Ein weiteres wichtiges Element kommt hinzu: die Gestaltung des Zuschauerraums und der Sitzanordnung. Diese waren im Nachtkomödienhaus nach dem in vielen anderen Theaterbauten des 17. Jahrhunderts verwirklichten System des Rangtheaters gestaltet, das eine stärkere soziale Strukturierung des Publikums ermöglichte und so dem gesteigerten Bedürfnis nach Repräsentation entgegenkam.579 Die Sitzanordnung des Nachtkomödienhauses spiegelte damit im wesentlichen auch die stadtgesellschaftliche Ordnung wider. Eine Tatsache, auf die von den Stadtobrigkeiten gesteigerter Wert gelegt wurde, wie die mehrfach in den Ratsverlässen überlieferten Anweisungen an die Veranstalter verdeutlichen, daß man den vornehmen Personen besondere Plätze zuweisen solle.580 Dabei ist zudem von Bedeutung, daß sich die Plätze für die Stadtobrigkeit und ihre vornehmen Gäste genau gegenüber der Bühne im 1. Logenrang befanden und gleichsam als Gegenstück zur Bühne besonders ausgestaltet waren. Beschaffenheit und Lage der Sitzplätze besaßen hohen Zeichencharakter für die jeweilige soziale Stellung ihrer Inhaber. Selbst Material und Farbe der Sesselbezüge gaben wichtige Aufschlüsse über den gesellschaftlichen Rang.581 Diese privilegierte Stellung der Ratsherren wurde noch auf andere Weise unterstrichen: Während die meisten Zuschauer Einschränkungen bei der Perspektive hinnehmen mußten, waren die Stadtherren von ihren Sitzplätzen aus allein in der Lage, die Zentralperspektive der Bühnenform in idealer Weise wahrzunehmen, was als Zeichen ihres hervorgehobenen Rangs angesehen werden kann.582 577
Siehe hierzu die aufschlußreichen Abbildungstafeln mit Grundrißzeichnungen von Theaterbauten aus dem 17. und 18. Jahrhundert bei Tintelnot, Barocktheater und barocke Kunst, S. 112f. 578 Schöne: Entwicklung der Perspektivbühne, S. 87. 579 Vgl. Baur-Heinhold: Theater des Barock, S. 36 u. 163; Horst Birr: Rangtheater. In: Theaterlexikon, S. 769f., sowie Fischer-Lichte: Theater des Barock, S. 71, die betont hat: »Denn in der Anordnung der Sitzplätze des Logentheaters findet eine ständisch gegliederte und hierarchisch gebildete Gesellschaft ihrerseits ihre angemessene und vollkommene Repräsentation«. 580 Siehe hierzu Teil B, Kap. 5.4.2. 581 vgl. Sommer-Mathis: Theatrum und Ceremoniale, S. 515. 582 Vgl. ebd., S. 516, sowie Fischer-Lichte: Theater des Barock, S. 70-72.
302 Gewiß, dies alles gab es anderswo sicherlich prunkvoller und erheblich besser ausgestattet. So besaß etwa das imposante (allerdings zehn Jahre später und mit wesentlich mehr finanziellen Mitteln errichtete) Hamburger Opernhaus allein 15 hintereinander gestaffelte Kulissen und mehrere aufeinanderfolgende Spielflächen. 583 Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß vor 1670 im Alten Reich ein derart ausgestattetes, feststehendes Theatergebäude keineswegs die Regel war. An vielen Orten mußte man sich noch mit improvisierten Holzbühnen begnügen, und abgesehen von den großen Residenzen wie Wien, Dresden oder München wurde auch an so manchem Fürstenhof noch in Schloßsälen auf Bretterbühnen gespielt. Daß Bühne und Theatermaschinerie des Nachtkomödienhauses jedenfalls ihren Zweck (wenn auch sicherlich in einem bescheideneren Rahmen) erfüllt haben, zeigen nicht nur die vielen festlichen Schauspiel- und Opernaufführungen bis 1700, die ein eindrucksvolles Zeugnis gegen die von Peter Kertz und nach ihm wiederholt geäußerte Meinung darstellen, daß sich auf der Nürnberger Bühne die barocke Oper nicht habe entfalten können. 584 Dies gilt auch und im besonderen Maße bereits für die Eröffnungsveranstaltung des Theaters vom Februar 1668, die deutlich macht, daß man in Nürnberg durchaus stolz auf das neue Theater war und die Premierenaufführung ganze im Sinne einer auf Repräsentation ausgerichteten Kunst entsprechend zu instrumentalisieren verstand. Denn die Premiere im neuen Theater wurde nicht etwa einer Wandertruppe überlassen, sondern zu einer Selbstdarstellung der Nürnberger Patrizier und der reichsstädtischen Obrigkeit inszeniert, wie im folgenden anhand des Schauspiels Macaria und seiner Aufführungsgeschichte veranschaulicht werden soll.
Macaria - Entstehungs- und Aufführungsgeschichte Das Stück war ursprünglich nicht für dieses Ereignis entworfen worden, sondern sollte schon früher aufgeführt werden: Im Hochsommer 1666 wandte sich der angehende Theologe Johann Geuder mit einem Gesuch an den Kirchenpfleger und bat um die Erlaubnis, »daß er in dem Augustinercloster mittelst etlicher Junger Patritiorum eine Comoediam, das Vergnügte Regiment genandt, ohne geldreichung, vnd ihnen allein zum exercitio agirn möge«. 585 Der Rat gewährte dies, beauftrage jedoch den Kirchenpfleger und vordersten Scholarchen, »berührte Comoediam zu durchsehen«, ob »do nichts verfänglich vnd nachteiliges darin begriffen«. 586 Das Stück war demnach als Schuldrama konzipiert worden und sollte in dem hierfür üblichen
583 584 585 586
Vgl. Wolff: Barockoper in Hamburg, Bd. 1, S. 351ff. Siehe hierzu Teil B, Kap. 5.4. StaatsAN, RV Nr. 2589 vom 21. August 1666, fol. 44v. Ebd.
303 Spielort, dem Augustinerkloster, zur Aufführung gelangen, wobei der Hinweis »ohne geldreichung« auf einen eingeschränkten Publikumskreis aus geladenen Gästen verweist. Geuder, der 1665 sein Theologiestudium in Altdorf mit dem Magistertitel abgeschlossen hatte, war zu dieser Zeit einer der ersten Teilnehmer des von Dilherr ins Leben gerufenen Predigerseminars,587 das neben der finanziellen Versorgung insbesondere der Vorbereitung angehender Geistlicher auf ihren zukünftigen Beruf diente. Hier sollten sich die Kandidaten neben der allgemeinen wissenschaftlichen Weiterbildung speziell in der Predigt üben, um sich so für zukünftige Beförderungen zu empfehlen. 588 Dies galt auch für Johann Geuder, der nach einem Bericht Sigmund von Birkens am 1. Mai 1667 in der Johanniskirche »von den Wohnungen im Himmel« predigte und dabei beim Vorsitzenden des Pegnesischen Blumenordens einen sichtlichen Eindruck hinterlassen zu haben scheint.589 Wie die Nachricht über die von Geuder geplante Schulaufführung im Augustinerkloster nahelegt, hatte sich der Theologe neben seinen Aufgaben und Pflichten im Predigerseminar auch noch als Privatlehrer von jungen Patriziersöhnen verdingt, eine für viele junge Gelehrte im 17. Jahrhundert wichtige Verdienstmöglichkeit und berufliche Zwischenstation. Dabei war es in Nürnberg üblich gewesen, daß die Söhne der Patrizier neben dem eigentlichen Schulunterricht noch zusätzliche Stunden erhielten, darunter vor allem in den Fächern Rhetorik und Dichtkunst, aber auch in der Staatslehre, wie etwa das prominente Exempel Sigmund von Birken zeigt.590 Gerade der Verweis auf Birken macht zudem deutlich, daß es im Rahmen eines derartigen Privatunterrichts durchaus Praxis war, mit den anvertrauten Schülern Schauspiele im Sinne der bereits beschriebenen Zwecke einzustudieren und aufzuführen. Verschobene Premiere Doch zu der von Geuder geplanten Aufführung kam es zunächst nicht. Denn das höhergestellte Gremium der Herren Älteren sprach sich zwar nicht grundsätzlich gegen das Vorhaben aus, hegte jedoch aufgrund widriger Zeitumstände erhebliche Bedenken gegen die vom Rat bereits gewährte Erlaubnis. So mahnten die Herren Älteren, »das desselben öffentliche Vorstellung 587 588 589
590
Vgl. NGL 1 (1755), S. 535. Vgl. Schröttel: Johann Michael Dilherr, S. 73ff., bes. S. 75. Vgl. Birken: Tagebücher, Bd. 1, Eintrag vom 1. Mai 1667, S. 290: »Bey S. Johannis Zur Kirchen: da Mfagister] Geuder von den Wohnungen im Himmel gepredigt, von s[einem] Königlichen] mit Edelsteinen gezierten Palast, vom Hochzeithaus des Lamms u. Königlichen] Hochzeitmahl, von der herrischen] EngelCapelle, von dem ewigen G[ottes]Tempel vom lustr[eichen] Paradeisgarten.« Siehe Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 2.
304 auff dem theatro, bey ietz abnehmender Tagslänge ziemlich unbequem« sei. Schwerer wogen jedoch noch andere Einwände, so die allgemeinen kriegerischen Zeitläufte im Reich und insbesondere die akute gesundheitliche Gefahr durch eine »annoch vieler orten ein reisenden leidigen Contagion«. Demnach bestand im Hochsommer 1666 offenbar eine ernstzunehmende Seuchengefahr in der Reichsstadt. Aus diesen Gründen glaubte man jedenfalls, daß »dergleichen Reprasentationes nicht wenig bedenklich fielen«, und beschloß daher, die Antragsteller zu ersuchen, ob sie »das Schauspiel aus angeregten Ursachen nicht halten wolten«.591 Ein Anliegen, dem schwerlich nur widersprochen werden konnte. Doch diese Entscheidung sollte keineswegs das Ende, sondern lediglich eine Verschiebung der Aufführungspläne bedeuten, zumal der Rat dem von Geuder verfaßten Stück an sich positiv gegenüber stand, wie der weitere Verlauf der Aufführungsgeschichte der Macaria zeigt. Als sich zu Beginn des Jahres 1668 die Bauten am Nachtkomödienhaus dem Abschluß näherten, stellte sich zugleich die Frage, wie das neue Theater eingeweiht werden könnte und wer die erste Vorstellung bestreiten dürfe. Dabei wollte man offenbar ganz bewußt diese Ehre keiner Wandertruppe überlassen, da nur wenige Tage vor Beendigung der Arbeiten am Materialhaus der aus Heidelberg stammende Komödiant Peter Schwarz und seine Gesellschaft mit ihrem Spielgesuch abgewiesen wurden und den Bescheid erhielten »sich derentwegen länger alhier nicht aufzuhalten«.592 Es scheint vielmehr, daß zu dieser Zeit bereits von führenden Patriziern respektive Mitgliedern des Rats der Plan gefaßt worden war, die Einweihung des Theaters für repräsentative Zwecke zu instrumentalisieren und mit einer von den Söhnen der Patrizier veranstalteten Aufführung zu feiern. Hierauf verweisen jedenfalls die Verhandlungen über die Eröffnung des Theaters. Denn als am 31. Januar 1668 dem Rat der mündliche Bescheid vorlag, »daß das Neu zugerichtete Comoedihaus nunmehr allerdings verfertiget« sei, beriet man zugleich über den Antrag »etlicher Herrn des Rats söhne und andere[n] Junge[n] Patricij«, die beabsichtigten, »auf nächsten dienstag über 8 tag, den 11. Februarii, eine Comoediam darinnen zu praesentiren«,593 wobei es sich hier um die von Johann Geuder verfaßte Macaria handelte. Bemerkenswert ist nun, daß nach Auskunft der Ratsentscheidung das Spielgesuch »mit eines Wohl Edlen Raths vorwissen und erlaubnus« eingereicht wurde. Demnach war der Rat bereits über die Pläne informiert gewesen, was auch nicht verwunderlich ist: Zum einen dürfte man sich noch an das grundsätzlich befürwortete Vorhaben vom Hochsommer 1666 erinnert haben bzw. im eingereichten Spielgesuch darauf hingewiesen worden sein. Zum ande591 592 593
StaatsAN, VHÄ Nr. 52 vom 17. September 1666, fol. 212 r . Ebd., RV Nr. 2608 vom 21. Januar 1668, fol. 20r. Ebd., Nr. 2608 vom 31. Januar 1668, fol. 48 r .
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ren stimmten im Rat über die Eingabe der Patriziersöhne die Väter und Verwandten der Antragsteller ab. Da in den Verhandlungen der Name Johann Geuder nicht auftaucht, sondern ausdrücklich von »etlicher Herrn des Rats söhne und andere Junge Patricij« als Antragsteller die Rede ist, kann man davon ausgehen, daß von ihnen die Initiative zu einer Aufführung bei der Einweihung des neuen Theaters stammte. Von daher wird man nicht fehlgehen, hinter dem Anliegen der Söhne wenn nicht eigentlich den Willen so doch zumindest das Wohlwollen der Väter zu sehen. In jedem Fall begrüßte der Rat das Vorhaben und genehmigte die Aufführung, »weilen solches für die Jugend ad formandos mores ein sonderlich nützliches Exercitium«.594 Allegorisches Vorspiel Daß die Pläne für eine von den Patriziersöhnen veranstaltete Aufführung zur Eröffnung der neuen Bühne offenbar schon länger bestanden, zeigt sich schließlich darin, daß Geuder den Auftrag erhalten haben muß, das Stück umzuarbeiten und mit seinen Schülern wenigstens in Teilen neu einzustudieren. Denn bei der Einweihung des Nachtkomödienhauses am 11. Februar 1668 kann das Schauspiel nicht in seiner ursprünglichen Form von 1666, sondern nur in einer speziell auf diesen Anlaß abgestimmten Fassung zur Aufführung gebracht worden sein, worauf der eingangs zitierte Untertitel hinweist: Der Edlen NORIS Adelicher Jugend / auff den neuerbauten Schauplatz / zu einem glücklichen Anfang / abzuhandeln übergeben. Noch deutlicher wird dies in dem neu verfaßten allegorischen Vorspiel, das dem Stück vorangestellt und in der Perioche anders als der Text der >eigentlichen< Spielhandlung vollständig abgedruckt ist. Auf beziehungsreiche Weise greift es den Anlaß des Stücks auf und feiert die Errichtung des Theaters als bedeutendes kulturelles Ereignis für die Reichsstadt: Phosphorus, »der Herold des Kunst-Printzen Phoebus«, erblickt von seinem Platz im Himmel »das Neu-erbaute Lust-Spiel-Haus und bewillkommet solches / als einen zukünfftigen Kunst-Pallast«.595 Dabei eröffnet der Götterbote auch den Grund für sein Erscheinen: Was hat mich aber hier von Sternen-Plan gebracht? Ich nahm' den Phoebus-Sitz von fernen schon in acht. Dem bahne ich den Weg und wünsche Glück dem Ort / Man höre nichts auf dir / als nur der Musen Wort! Das helle Waarheits-Liecht [!] erleucht' dich allezeit / Du bist dem Tilgend-Volck zum Eigenthumb bereit. Ich schreibe diese That den Sternen ewig ein / Und will zur Danckbarkeit dir wider dienstlich seyn. 596
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Ebd. Macaria, fol. A ijv (Prolog). Ebd., fol. A iijr.
306 Phosphorus ist jedoch nicht nur als Bote Apollons ein Repräsentant der Künste, sondern zugleich als Sohn der Göttin Eos (Morgenröte) der Lichtbringer, der personifizierte Morgenstern und sicherer Vorbote der Sonne oder wie er sich in der Macaria unter anderem selbst vorstellt: »Der Marschalck des Gestirns; das erst und letzte Liecht«. 597 Die Einführung der allegorischen Gestalt Phosphorus als gleichsam zweifacher Vorbote der Künste und des Lichts symbolisiert somit auf sinnfällige Weise die Bedeutung des neu errichteten Theaters: wie mit dem Licht des aufgehenden Morgensterns und Vorboten der Sonne sich der neue Tag ankündigt, so bricht mit der Eröffnung des Nachtkomödienhauses eine neue Blüte der Künste an, mit der die Musen Einzug in die Reichsstadt halten. Eindrucksvoll wird dies zugleich versinnbildlicht durch ein auf die Worte des Phosphorus folgendes mythologisches Naturschauspiel, das sich des Topos' von der Wanderung des Musenbergs bedient: »Bey angehenden Tag erhebet sich der zweygespitzte Musenberg Parnassus, aus Griechenland / und lässet sich nider in denen Norischen Feldern«. 598 Dabei spielt dieser offenbar mit raffiniertem Einsatz von Kulissen und Bühnenbild illusionierte Vorgang ebenfalls, wie die Figur des Morgensterns, auf sinnfällige, nämlich in doppelter Weise auf die Bedeutung des festlichen Anlasses an: Zunächst steht der antik-mythologische Berg als Heimstätte der Musen und ihres Vorstehers Apollon ganz allgemein für die Künste, wobei seine »Wanderung« in die Noris den vom Morgenstern prophezeiten Einzug der Musen sogleich auf allegorische Weise vollzieht. Doch dies ist nur die eine, wenn auch wohl geläufigste Bedeutung, die sich mit dem Berg Parnass verbindet. Hinzu kommt noch eine weitere, in diesem Fall nicht minder wichtige Funktion: seine Fähigkeit, als Sinnbild für das Theater schlechthin zu fungieren. Denn aufgrund seiner spezifischen Form mit zwei Bergspitzen wurde im 17. Jahrhundert der Parnass auch als Symbol für das Schauspielhaus bzw. das Gebäude eines Theaters angesehen, wie etwa die Beschreibung des antiken Gebirges aus dem »Nohtwendigen Vorbericht« von Johann Rists Neuer Teutscher Parnass zeigt: Ferner / so hat dieser Berg fast die Gestalt eines Spielhauses (Theatri) oder Schauplatzes gehabt / ist sehr hoch und gähe gewesen / und hat sein herrliches Ansehen / (demnach man Ihn auch für gahr heilig gehalten) den jenigen / welche sich zu Ihme genahet / etlicher mahssen eine Furcht und Ehrerbiethung ingejaget und veruhrsachet. 599
Das Nürnberger Nachtkomödienhaus als neuer Kunsttempel der Reichsstadt, in dem die Musen wohnen und Tugend und Wahrheit regieren - es spielt
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Ebd., fol. A ijv. Ebd., fol. A iijr. Johann Rist: Neuer Teutscher Parnass. Hildesheim, New York 1978 (Ndr. der Ausgabe Lüneburg 1652), nicht paginierter Vorbericht [fol. l v ].
307 hier keine Rolle, ob dieses im Vorspiel der Macaria entworfene Bild der Wirklichkeit entspricht oder nicht, sondern vielmehr ist von Bedeutung, daß sich dieser Lobpreis an einen konkreten Adressatenkreis richtet und zu dessen Verherrlichung und Ruhm dient: an das Patriziat und die Stadtobrigkeit. Schon der Untertitel vermerkt den Hinweis auf ein Spiel der Edlen NORIS Adelichen Jugend, und die Namen der auftretenden Schüler im Personenverzeichnis lesen sich wie ein Geschlechterregister der führenden Familien der Reichsstadt: Kreß, Löffelholz, Haller, Volckamer, Scheurl, Harsdörffer, Fürer, Tucher, Schlüsselfelder, Nützel, Behaim, Holzschuher und Imhoff. Schließlich stellt auch das Vorspiel des Stücks diese Verbindung her, indem es keinen Zweifel daran läßt, daß die »Wanderung« des Musenbergs in die Noris nicht allein dem neuen Theater gilt, sondern auch den Ehren seiner Stifter und deren Söhne: Willkommen Kunst-Palast aus weit entlegnen Orten! Dir ist allhier die Stell bey uns gewidmet worden; Ο nie erhörte Sach / daß dieser Hügel geht! Parnassus, sehet doch! in Noris Auen steht. Ihr aber Edle Söhn! Ihr Edle Noris Kinder! Euch blüht der Helicon noch in den rauhen Winter/ Ihr holde Musen Freund! Wolan mit tapfern Muth/ Erweiset unsrer Stadt das nie verzagte Blut. Erweiset eure Freud und Früchte eurer Sin[n]en / Der Himmel gebe Gnad zu euren Spiel=Beginnen!600
Dramatisierter Fürstenspiegel für die patrizische Jugend Schon das allegorische Vorspiel macht deutlich, in welchem Maße das Schulstück im Rahmen der Einweihung des neuen Theaters zu einer inszenierten Selbstdarstellung des Nürnberger Patriziats instrumentalisiert wurde (siehe hierzu den Schluß des Kapitels), wobei schon der Prolog mit seinem ausgeklügelten Einsatz von Lichttechnik, Bühnenbild und Kulisseneinsatz (illuminierter Aufzug des Morgensterns und Wanderung des Musenbergs) zugleich als eindrucksvolle Demonstration der Möglichkeiten des neuen Theaters sowie als Beleg für dessen verkündete Rolle als »zukünfftige[r] Kunst-Pallast«601 angelegt worden sein dürfte. Doch dies ist nur eine der Funktionen des Stücks, das neben den repräsentativen Zwecken auch konkrete pädagogische Absichten als Schuldrama verfolgte. Wie gezeigt, begründete der Rat seine positive Entscheidung für die Aufführung des Schauspiels damit, daß »solches für die jugend ad formandos mores ein sonderlich nützliches Exercitium«. Worin bestand dieser besondere Nutzen? Hierfür ist zunächst ebenfalls das Vorspiel der Macaria aufschlußreich. Denn nachdem der Vorredner den Einzug des Musenbergs 600 601
Macaria, fol. A iiijr (Prolog). Ebd., fol. A ijv.
308 sowie die adlige Jugend als Akteure begrüßt hat, spricht er am Ende des Prologs das Publikum direkt an und verkündet das pädagogische Ziel der Vorstellung: »Macaria soll Euch ein Abild-Muster geben / | Wie man noch in der Welt muß halb vergöttert leben.«602 Das Stück sollte demnach den agierenden Patriziersöhnen vor allem zur Vermittlung und Einübung gesellschaftlicher und sozialer Verhaltensweisen dienen und stellte gleichsam eine Art dramatisierten Fürstenspiegel für die patrizische Jugend dar. Auch wenn von dem auf das Vorspiel folgenden Text nur ein schmales Szenarium mit knappen, zum Teil nur in einem Satz bestehenden Inhaltsangaben der fünf »Abhandlungen« und ihrer einzelnen »Auffzüge« erhalten ist, läßt sich hieraus die vom Vorredner formulierte pädagogische Intention des Stücks noch genauer spezifizieren, weshalb zunächst die Handlung - so weit aus den Angaben in der Perioche möglich - skizziert werden soll. Inhalt Im Zentrum des Stücks stehen die Prinzessin Macaria und ihr Hof, der im Laufe der Handlung mehrfach von Intrigen und Fehden heimgesucht wird, dank des standhaften Regiments der Herrscherin jedoch alle Anfeindungen glücklich übersteht. Nach dem Ende des Vorspiels setzt die erste »Abhandlung« ein mit einer Unterredung zwischen der Prinzessin Macaria und ihrem Ratgeber Eubulus über »den gegenwertigen Zustand des Hofes«.603 Dieser wird bedroht durch die Intrige des Feldherren Polemius, der aus Neid auf den vermeintlich bevorzugten Eubulus zusammen mit seinem Freund Colax versucht, den Ratgeber der Prinzessin zu vergiften. Schon in der folgenden »Abhandlung« wird dieser Anschlag jedoch vom Goldmacher Cenosophos entdeckt, worauf Colax zum Tode durch das Schwert verurteilt wird und Polemius unter Racheschwüren vom Hof flieht. Die dritte »Abhandlung« lenkt den Blick auf die Untertanen des Hofs, von denen sich zunächst der Bauer Georg Vugel dann der Dorflehrer Ignorantius Rusticodidacticus über »den unersättlichen Geitz deß Rent-Meisters Philargyrus«604 beklagen. Nachdem sich der Hofstaat über die »wahre Vergnüglichkeit« beratschlagt hat, wird Philargyrus wegen seiner »Schinderey«605 bestraft. Schließlich endet der Akt mit einem Streitgespräch zwischen dem Goldmacher und dem Bauern, da von beiden »ein jedweder der Fürnemste seyn«606 will. Der Bericht des neuen Feldherren Cration über »den friedlichen Zustand deß Landes« eröffnet dann die vierte »Abhandlung«, wobei der Frieden allerdings
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Ebd., fol. A iiijr. Ebd., fol. A iiijv (Akt Ebd., fol. A vijr (Akt Ebd., fol. A vijv (Akt Ebd. (Akt III, Szene
I, Szene 1). III, Szene 1). III, Szene 3). 5).
309 nur kurz währt, da der geflüchtete Polemius ein »Fede-Brieflein«607 übersendet. Mit der Hilfe von Schutzgeistern gelingt es Cration jedoch, Polemius im Schlaf zu überwältigen und dessen Gehilfen Deilos in die Flucht zu schlagen, wobei eine spätere Szene zeigt, wie die Geister von Polemius und Philargyrus in »Plutons-Marter-Haus«608 schreckliche Qualen erleiden müssen. Zuvor hat bereits die Prinzessin Macaria ihren Hofstaat einer besonderen Prüfung unterzogen: Indem sie sich kurzfristig verstellt und eine andere Religion anzunehmen vorgibt, versucht sie herauszufinden, wer seinem Glauben trotzdem treu bleibt. Seine Auflösung findet diese Probe in der fünften und letzten »Abhandlung«: der gesamte Hofstaat erscheint abermals und »beede Partheyen werden noch einmal geprüfet«.609 Anschließend werden diejenigen, die bei ihrem Glauben geblieben sind, belohnt und »mit höchsten Lob« bei Hofe wiederaufgenommen, alle anderen jedoch, die leichtfertig bereit waren, ihren Glauben zu ändern, werden »mit grösten Schimpff und Schand / zur ewigen Gefängnuß verdammet.«610 Zur Ehre der Macaria beschließen daraufhin neben Mercurius auch die Avtarkia (»Vergnüglichkeit«) und der Friedensgott Pax, den Hof der Prinzessin zu besuchen. Dort versucht inzwischen Cenosophos, »der Prinzessin das Gold machen [zu] lehren / und also dadurch die Vergnüglichkeit [zu] weisen«,611 womit er allerdings abgewiesen wird. Nachdem die Göttinnen der Gerechtigkeit (Justitia) und der Rache (Nemesis) die Prinzessin und ihren »gerechten Hof belohnen«, treten gemeinsam der Goldmacher, der Schulmeister und der Bauer auf und »geben ihre Unvergnüglichkeit an den Tag / weil sie gern Könige werden wollen.«612 Schließlich endet die Spielhandlung mit dem feierlichen Einzug der Prinzessin und ihres Hofstaates in den Parnass. »Von der Vergnüglichkeit« Trotz des nur in knappen Zügen erhaltenen Handlungsschemas läßt sich vor diesem Hintergrund die pädagogische Intention des Schuldramas näher spezifizieren. Das zentrale Thema der Macaria kreist ganz offenbar um den Begriff der »Vergnüglichkeit«, der sich wie ein roter Faden durch das gesamte Stück zieht: Er wird bereits im Titel genannt (Die vergnügte Prinzessin Macaria) und kehrt im Zentrum des Stücks wieder, im dritten »Aufzug« der dritten »Abhandlung«, der als eine Art Massenszene angelegt ist: »Der gantze
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Ebd., fol. [A viijr] (Akt IV, Szene 1). Ebd., fol. [A viiijr] (Akt IV, Szene 5). Ebd., fol. [A viiijv] (Akt V, Szene 1). Ebd., fol. [A w r ], Ebd., fol. [A w v ] (Akt V, Szene 3). Ebd. (Akt V, Szene 5).
310 Hof=Staat beredet sich von der wahren Vergnüglichkeit«.613 Gegen Ende erscheint der Begriff schließlich sogar in personifizierter Form selbst auf der Bühne, indem die Allegorie der »Vergnüglichkeit« vom Himmel herabsteigt, um »den Hof der Prinzeßin zu besuchen«.614 Und nicht zuletzt vermerkte bereits der zeitgenössische Bericht eines Nürnberger Stadtchronisten, daß die Aufführung »von der Vergnüglichkeit«615 gehandelt habe. Damit ist jedoch ein bedeutender Begriff der frühneuzeitlichen Tugendund Sittenlehre angesprochen, der in den ethischen Lehrbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts als Maxime und Verhaltensideal praktischer Lebensführung empfohlen wurde. So nennt etwa die ETHICA des Justus Georg Schottelius die »Vergnüglichkeit« bzw. »Zufriedenheit« eine »schöne Christliche Tugend« und liefert zugleich die entsprechende Definition: Es ist die Vergnüglichkeit eine Tilgend / die gern und willig zufrieden und vergnügt ist mit dem / was verhanden und GOtt bescheret. Eine solche Tilgend / die fein mäßiget / besänftiget / stillet und zurückhält die Lust und Begier nach Geld und Gut / nach Ehr und höherm Stand / und sonst nach alle dem / was man annoch nicht hat / und doch zur Noth entbehren kann.616
Die »Vergnüglichkeit« bezeichnet demnach eine tugendhafte Haltung, die sich durch Zufriedenheit, Mäßigkeit, Selbstdisziplin und Affektkontrolle auszeichnet.617 Doch nicht nur in den theoretischen Sittenlehren taucht der Begriff in dieser Bestimmung auf. Innerhalb der deutschen Barockdichtung wurde er ebenfalls mehrfach thematisiert, darunter etwa in Paul Flemings berühmtem Sonett An Sich, das ein an den ethischen Ansprüchen des Neostoizismus ausgerichtetes »Tugendprogramm« entwirft, »indem verschiedene Aspekte sittlicher Bewährung abgeschritten und begründet werden«.618 Dazu zählt auch das Prinzip der »Vergnüglichkeit«, wie die erste Strophe des Gedichts zeigt: Sei dennoch unverzagt, gieb dennoch unverloren, weich keinem Glücke nicht, steh' höher als der Neid, vergnüge dich an dir und acht' es für kein Leid, hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.619 613 614 615 616
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Ebd., fol. A vijv (Akt III, Szene 3). Ebd., fol. [A w r ] (Akt V, Szene 2). StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 47, fol. 1151v. Justus Georg Schottelius: ETHICA Die Sittenkunst oder Wollebenskunst [...]. Hg. v. Jörg Jochen Berns. Bern, München 1980 (Ndr. der Ausgabe Wolfenbüttel 1669) (Deutsche Barock-Literatur), S. 565. So auch noch die aufschlußreiche Definition bei Zedier 47 (1746), Sp. 754-756, s.v. >Vergnüglichkeitsinnlos< als auch im höchsten Grade pietätlos gewesen wäre. Nicht zuletzt ist die Aufführung des Spektakels durch mehrere Ratsverlässe für einen späteren Zeitpunkt sicher belegt (siehe unten).
372 Besuchen notiert der Dichter, er habe eines seiner eigenen Ballette für den Stadtmusikus »eingerichtet«. 42 Die Proben sollten sich jedenfalls schon bald lohnen. Denn in Nürnberg mußte man sich auf die erhoffte neue »Frölichkeit« aus Wien nicht allzu lange gedulden. Noch im selben Jahr kündigte sich im Kaiserhaus abermals Nachwuchs an. Seit etwa Mitte Juni 1668 wußte man in Wien von den gesegneten Umständen der Kaiserin, wie aus einem Brief des Kaisers deutlich wird: »Wir befinden uns alle sonsten gar wohlauf, mein Gemahlin in einer kleinen achttägigen Hoffnung. Gott verleihe seinen Segen weiter«, schrieb Leopold I. am 20./30. Juni an den Grafen von Pötting. 43 Derartige Nachrichten von bevorstehendem Kindersegen am Hofe drangen schnell nach Nürnberg, das in Wien einen eigenen Agenten am Hofe unterhielt. Der Rat verfolgte in diesen Fällen jedes Gerücht, daß die Kaiserin guter Hoffnung sei. Hierfür holte man sogar beim kaiserlichen Hofarzt Informationen über den Gesundheitszustand der Kaiserin und den potentiellen Zeitpunkt der jeweils bevorstehenden Geburt ein. 44 Ähnlich scheint man auch in diesem Fall reagiert zu haben, da spätestens Ende Juli/Anfang August 1668 - also rund ein halbes Jahr, bevor die Kaiserin Margarita Teresa am 8./18. Januar 1669 eine Tochter zur Welt brachte, 45 die Nachricht vom erneuten Kindersegen bereits in der Reichsstadt publik gewesen sein muß. Denn nach Auskunft der Ratsverlässe sollte nun zur Feier dieser Kunde am 16. August 1668 das bereits seit längerem geplante Ballett von Jacob Lang zur Aufführung gelangen: »Jacob Langen, Stattmusico, ist erlaubt, das verfertigte Kinderballet mit 45. knaben, auff künftigen Sonntag nach der Vesper, in dem Almosambt zu präsentieren«. 46 Daß die nun anberaumte öffentliche Vorstellung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Nachricht von den gesegneten Umständen der Kaiserin steht, bestätigt die Vorrede Langs, die zugleich hervorhebt, daß diese Entscheidung abermals auf Anordnung der »Liebhaber«, sprich der Ratsherren und Patrizier geschah: »Jn deme aber nunmehr sich neue Hoffnung sehen lässt / (welche G O T T segnen und erhalten wolle) so ist solche Kinder=Freud fortzusetzen / auf Verlangen der Liebhaber resolvirt«.47
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Vgl. ebd., Eintrag vom 21. März 1668, S. 355: »Das Project des Kriegs- und Friedens-Ballets vor H[errn] Langen eingerichtet.« Dabei dürfte es sich wohl um das 1650 bei den Friedensfeiern von jungen Patriziern aufgeführte Ballett »Teutscher Kriegs Ab= und FriedensEinzug« gehandelt haben (siehe oben Teil B, Kap. 3.). Kaiser Leopold I.: Brief Nr. 191 vom 20. Juni 1668. In: Pribram/Pragenau (Hg.): Privatbriefe, S. 391. Vgl. Berbig: Kaisertum und Reichsstadt, S. 225. E s handelte sich dabei um Maria Antonia, Erzherzogin von Österreich, die 1685 Gemahlin des bayerischen Kurfürsten Maximilian II. Emanuel wurde. Vgl. Karl Möckl: Maria Antonia. In: NDB 16 (1990), S. 180f. StaatsAN, RV Nr. 2616 vom 14. August 1668, fol. 8V (fehlt bei Hampe). Kinder=Ballet, fol. Aij r .
373 Das Kinder=Ballet wurde also nun mit rund dreivierteljähriger Verspätung am 16. August 1668 erstmals aufgeführt, allerdings nicht im neu errichteten Nachtkomödienhaus, sondern auf der Bühne im großen Saal des Augustinerklosters.48 An dem ursprünglichen Anlaß hatte sich trotz der erzwungenen zeitlichen Verschiebung jedoch so gut wie kaum etwas geändert. Da das Ballett als Ehrung für einen neugeborenen Erbprinzen konzipiert gewesen war, konnte es nun (wohl in unveränderter Form) zur Feier der »neuen Hofnung« übernommen werden, wobei man möglicherweise aus Angst, sich mit einer abermaligen Verschiebung des Spektakels zu blamieren, nicht mehr bis zur eigentlichen Geburt warten wollte und deshalb nun bereits die Nachricht über zu erwartenden kaiserlichen Nachwuchs zum Anlaß nahm. Zwei Vorstellungen Das von Jacob Lang entworfene und geleitete Ballett, bei dessen Vorstellung nach Auskunft der Vorrede neben den Ratsherren und anderen vornehmen Gästen aus der Stadt auch ein »Gn. Wohl=Adeliche[s] und Tugendsame[s] Frauen=Zimmer«49 zugegen war, scheint offenbar ein Erfolg gewesen zu sein. Denn nur kurze Zeit später wiederholte man das theatrale Spektakel mit erheblich erweitertem Aufwand und vermehrter Darstellerzahl. Auf diese bislang nicht bekannte Tatsache verweist bereits die auffällige Diskrepanz, daß in dem oben angeführten Ratsverlaß von 45 Kindern die Rede ist, während auf dem Titel des eingangs zitierten Drucks 60 Darsteller genannt werden. Daß es sich hierbei nicht um einen Schreibfehler des Ratsschreibers handelt und der Druck tatsächlich nicht zur Aufführung vom 16. August, sondern zu einer zweiten, zeitlich späteren Darbietung gehört, ergibt sich unzweifelhaft aus mehreren Gründen: So spielen zunächst auf eine erneute Vorstellung des Balletts wichtige Hinweise im Personenverzeichnis des Textbuchs an; dort sind für einige Rollen jeweils zwei Namen als Darsteller vermerkt und zudem sind Bemerkungen wie »und an dessen Stell zum letzten mahl« oder »an dessen Stell / wie mans zum letzten gehalten«50 angefügt. Darüber hinaus gibt es einen direkten Beleg für eine Wiederholung des theatralen Spektakels, anhand dessen sich die zweite Vorstellung sogar datieren läßt. Denn am 31. Dezember 1668 vermelden die Ratsverlässe: »Das von 48
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Dies geht aus der im Ratsverlaß gegebenen Bemerkung »in dem almosambt« hervor. Denn die Räume des Almosenamtes befanden sich im Augustinerkloster, so daß von daher wohl nur die dort vorhandene Bühne im großen Saal des Augustinerklosters in Frage kommt. Vgl. das Lemma >Almosamt< bei Nopitsch: Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg, S. 3. Kinder=Ballet, fol. Aijv. Dabei dürfte es sich um die Gräfin von Hohenlohe gehandelt haben, die zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Gemahl und Gefolge in der Stadt weilte und auch andere Theaterveranstaltungen besuchte (vgl. StaatsAN, RV Nr. 2615 vom 12. August 1668, fol. 93r). Kinder=Ballet, S. 2 u. 4.
374 Jacob Langen, Musico, offerirte gedruckte Kinderballet soll man annehmen, außtheilen und die Verehrung auf der Herren Losungere Herrl. belieben stellen«.51 Nicht zuletzt existiert eine weitere, bibliographisch bislang nicht erfaßte Ausgabe des Kinder=Ballets, die vom Titel her fast identisch ist mit dem eingangs zitierten Druck, jedoch 45 Kinder als Darsteller nennt und sich von daher mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Vorstellung vom 16. August beziehen dürfte. 52 Diese erste Ausgabe ist um rund die Hälfte schmäler als der spätere Druck des Kinder=Ballets und hat noch eher die Form einer Perioche denn die eines vollständigen Textbuches: Zwar stimmen Titel und Vorrede fast völlig überein, es fehlen jedoch hier noch der prächtige Kupferstich sowie das Personenverzeichnis, das die Darsteller beider Aufführungen nennt. Zudem gibt dieser zeitlich frühere Druck nicht den vollständigen Text, sondern nur ein knappes Szenarium vom Ablauf des Balletts wieder, wobei ein Vergleich beider Texte deutlich macht, daß das Ballett gegenüber der zweiten Aufführung in seinem Ablauf und Aufbau nicht gravierend geändert wurde. Damit ergibt sich folgendes Bild: Für die erste Vorstellung vom 16. August begnügte man sich zunächst mit einer Druckfassung im Stile einer Perioche. Als das (anscheinend wohlwollend aufgenommene) Spektakel Ende Dezember 1668 mit größerem Aufwand und erhöhter Darstellerzahl nochmals wiederholt wurde, hatte man offenbar auch das Bedürfnis nach einer repräsentativeren Ausgabe, wie sie der spätere Druck zur Aufführung vom 31. Dezember 1668 mit dem imposanten Kupferstich, dem ausführlichen Personenverzeichnis mit Namen- und Altersangaben sowie dem vollständigen Szenentext darstellt (siehe den Schluß des Kapitels). Nicht getanzt, sondern geritten Bereits dieser Hintergrund der Entstehungs- und Aufführungsgeschichte dürfte deutlich gemacht haben, in welchem Maße die Vorstellung des Kinder=Ballets mit den Ereignissen am Kaiserhof verknüpft war. Doch die theatrale Darbietung hat die kaiserliche Nachwuchshoffnung nicht nur zum Anlaß, sondern dieser spezifische Gelegenheitscharakter bestimmt auch Konzeption und Ablauf der Aufführung, bei der Huldigung an das Kaiserhaus sowie reichsstädtische Selbstdarstellung Hand in Hand gehen, wie im
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StaatsAN, RV Nr. 2621 vom 31. Dezember 1668, fol. 3r (fehlt bei Hampe). [Jabob Lang]: Kurtzer Entwurff / Eines anmuthigen Kinder=Ballets / Welches Durch XLV. Junge Knaben mit Multer=Pferden / ihres Alters von IV. biß in X. Jahren Jn Der Freyen Käyserl. Reichs=Stadt Nürnberg / repraesentirt und vorgestellet wird. Sampt Einem kurtzen Schäfer=Gespräch Und andern lustigen Tantz / angeordnet / Von Einem Deß Durchleuchtigst. Ertzhauses Österreich Weyl. Zehenjährigen Bedienten. [...]. [Nürnberg] 1668.
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Folgenden anhand des ausführlicheren Textbuches der zweiten Aufführung gezeigt werden soll. Schon der Titel der von Jacob Lang verfaßten Aufführung ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich: Denn demnach wurde die Vorstellung insbesondere mit Hilfe von Multer=Pferden [...] reprcesentirt und vorgestellet. Folglich handelte es sich bei dem Kinder=Ballet nicht um einen Tanz zu Fuß, sondern um ein gerittenes Ballett zu Pferde, ein sogenanntes Roßballett. Allerdings hatte man sich hierfür statt lebender Tiere speziell angefertigter Attrappen bedient. Denn wie der Zusatz Multer53 sowie verschiedene Hinweise aus dem Textbuch und dem beigefügten Kupferstich nahelegen, waren diese Nachbildungen offenbar aus einem der Pferdeform nachempfundenen Holzgestell gearbeitet, über das man reifrockartig eine Stoffverkleidung gespannt hatte. Wie außerdem auf dem Kupferstich gut zu sehen ist, verfügten die Pferdeattrappen etwa auf Höhe des Sattels über eine runde Öffnung, so daß die Darsteller die Konstruktion gleichsam um die Hüfte geschnallt hatten und sich mittels ihrer Füße fortbewegt haben dürften. Außerdem waren die Nachbildungen mit Mähne, Schweif und Zaumzeug ausgestattet, die man zudem mit Bändern und Federbüschen geschmückt hatte (siehe Abbildung Nr. 12 u. 14). Neben dem Titel spielt auch die Vorrede Jacob Langs auf die Aufführung eines Pferdeballetts mit Hilfe von Attrappen an: »Man wird sehen Waffen ohne Ernst / Reuter ohne Pferd; und doch gewaffenete und berittene Kinder«.54 Und schließlich stellt der Prolog des Kinder=Ballets ein nachgebildetes Roßballett in Aussicht: Nach einem ouvertürenartigen Musikstück, das von 12 Musikanten mit unterschiedlichen Instrumenten vorgetragen wurde,S5 tritt als Vorrednerin die Göttin Fama auf, die den Zuschauern als Höhepunkt der Veranstaltung ein mit Hilfe von Attrappen vorgestelltes Roßballett ankündigt: Wertheste Schauer! Was wollet ihr schauen? Schauen was wollet ihr wertheste Gäst! Glaubet / daß diese holdstrahlende Auen / Euch zugefallen anwenden das best. Sehet die kleine Welt will sich befleissen / Wie sie der grösten annehmlicher wird; Euch zu bedienen / verlangt sie zu Pferd. Pferde / die hurtig und muthig zum tantzen / Pferde / die ohne Füß gehen herein. Welche verachten die bebende Lantzen /
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»Multer« konnte ein längliches, ausgehöhltes Gefäß bzw. Trog bezeichnen und kommt in dieser (vornehmlich in oberdeutschen Gegenden gebrauchten) Verwendung etwa in den Dramen Jakob Ayrers vor. Vgl. DWb6 (1885), Sp. 2658f., s.v. >MulterJahrhundertoper< darstellt, sondern möglicherweise in Zusammenhang mit den Großkaufleuten und ihren Musikkränzen steht.
5.2. Ein Nürnberger Übersetzungsprojekt. Johann Gabriel Meyers Übertragung der >Jahrhundertoper< II pomo d'oro im zeitgenössischen Kontext (1672) Den Abschluß und zugleich letzten Höhepunkt der berühmten Feierlichkeiten anläßlich der Hochzeit Leopolds I. mit der spanischen Infantin Margarita Teresa bildete die von Francesco Sbarra und Marc Antonio Cesti verfaßte und im Juli 1668 aufgeführte Prunkoper JL POMO D'ORO.106 Sie greift den beliebten, antik-mythologischen Stoff um das Urteil des Paris auf, der den goldenen Apfel als Schönheitspreis einer der Göttinnen Minerva, Iuno und Venus zuerkennen soll, und entwickelt daraus ein die gesamte Welt umspannendes, Himmel und Hölle, Hades und Olymp mit einbeziehendes Huldigungsspiel an die junge Kaiserin: So erscheinen etwa im Prolog die Allegorien des Römischen Reichs, der spanischen Monarchie, des Kontinents Amerika, der deutschen Erblande sowie der Königreiche Italien, Ungarn und Böhmen auf dem »Schauplatz der Österreichischen Ehre« (»Teatro della Gloria Austriaca«107) zum gemeinsamen Lobpreis des Kaiserpaares, und im Schlußbild der Oper reißt unter dem Gesang eines von Jupiter (»Giove«) angeführten Chors der Götter das Himmelsgestirn auf, um die Welt angesichts der Glorie des Hauses Habsburg zu erleuchten. 108 Für diese Oper hatte man in Wien eigens ein Theater erbauen lassen, und ihre auf zwei Tage verteilte Vorstellung mit insgesamt 67 Auftritten, über 20maligem Wechsel des Bühnenbildes, mehreren Tanz- und Balletteinlagen
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Francesco Sbarra: JL POMO D'ORO Festa teatrale Rappresentata in Vienna PER L'AVGUSTISSIME NOZZE DELLE SACRE CESAREE Ε REALI MAESTÄ DI LEOPOLDO, Ε MARGHERITA [...]. Vienna 1668. Die erhaltenen Teile der Partitur liegen in einer modernen Edition vor: Marc Antonio Cesti: IL POMO D'ORO. Bühnenfestspiel. Hg. und mit einer Einleitung v. Guido Adler. 2 Bde. Graz 1959 (Ndr. der Ausgabe Wien 1896-1897) (Denkmäler der Tonkunst in Österreich, III/6 u. IV/9). Sbarra: JL POMO D'ORO, fol. B5 r (Prolog). Vgl. ebd., S. 155f. (Akt V, Szene 10). Zur Oper sowie ihrer Entstehungs- und Aufführungsgeschichte siehe neben den unten zitierten Arbeiten die informativen Überblicke bei Seifert: Der Sig-prangende Hochzeit-Gott, S. 23 - 40, sowie Carl B. Schmidt: Antonio Cesti's II pomo d'oro: A Reexamination of a Famous Hapsburg Court Spectacle. In: Journal of the American Musicological Society 29 (1976), S. 381-412.
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sowie zahlreichen Einsätzen von Flug- und anderer Theatermaschinerie soll die beachtliche Summe von 100.000 Reichstalern verschlungen haben. Die Aufführung von IIpomo d'oro sorgte in ganz Europa für Furore und erschien schon den Zeitgenossen als unübertreffliches Spektakel, wobei der Kaiserhof allerdings schon im Vorfeld gezielt auf dessen publizistische Verbreitung und repräsentative Wirkung hingearbeitet hatte: Bereits 1667 waren zwei Ausgaben des Librettos vorab gedruckt und veröffentlicht worden. Im Jahr der Aufführung folgten weitere Drucke, darunter eine Prachtausgabe in Quartformat sowie eine spanische Übersetzung und eine deutschsprachige Zusammenfassung. In Chroniken, Zeitungen und Publikationsorganen wie dem Theatrum Europaeum überschlugen sich die Berichte in ihrer Begeisterung. Auch der Kaiser schwärmte noch in der Erinnerung an das Stück: »Jst gewiss ein Werk gwest, dergleichen wenig sein gesehen worden.« 109 Und selbst zwei Generationen nach ihrer Aufführung wurde die »überaus künstliche Opera [...] für die allerkostbarste gehalten / so jemals gesehen worden.«110 Noch heute, nach über 300 Jahren, gilt die Oper als Glanzstück ihrer Gattung und ihre Aufführung als Inbegriff höfischer Festkultur, die selbst für moderne Forscher offenbar nur in Superlative zu fassen ist: So stellte bereits Ende des vergangenen Jahrhunderts Guido Adler in seiner Einleitung zur Publikation der Opernpartitur mit dem ersten Satz fest: »Unter den Festopern des siebzehnten Jahrhunderts nimmt der >Pomo d'oro< eine weithin ragende Stellung ein«.111 Viele Forscher sind ihm in diesem Urteil gefolgt, darunter etwa Egon Wellesz, der die »außerordentliche Stellung dieses Werkes im Rahmen der gesamten dramatischen Produktion des siebzehnten Jahrhunderts« 112 betont. Für Karl Sälzle bildet das Theaterstück gar den »Rahmen zu dem großartigsten Schaugepränge, das jemals auf einer europäischen Bühne gezeigt wurde«,113 und nach Margarete Baur-Heinold gehört ihre Inszenierung »zu den größten Ereignissen der barocken Theaterwelt«. 114 In diesem Sinne äußerte sich auch Carl Schmidt, ein ausgewiesener Kenner der Musik Cestis, der von der »legendary Viennese production« 115 spricht und dabei hervorhebt: »The opera clearly remains one of the colossal achievements in seventeenth-century theatrical spectacle«.116 Zu einem ähnlichen Fazit kommt schließlich auch Herbert Seifert in seiner Studie zur Wiener 109
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Kaiser Leopold I.: Brief Nr. 194 vom 16. Juli 1668. In: Pribram/Pragenau (Hg.): Privatbriefe, S. 397. Rinck: Leopold, Teil 1, S. 157. Guido Adler: Einleitung. In: Cesti: IL POMO D'ORO, Bd. 1, S. V-XXVI, hier S.V. Egon Wellesz: Ein Bühnenfestspiel aus dem 17. Jahrhundert. In: Die Musik 52 (1914), S. 191-217, hier S. 192. Alewyn/Sälzle: Epoche der höfischen Feste, S. 114. Baur-Heinold: Theater des Barock, S. 128.
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Schmidt: Cesti's II pomo d'oro, S. 381.
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Ebd., S. 400.
415 Festkultur im Barockzeitalter: »Etwas ähnliches begegnet am Kaiserhof im 17. Jahrhundert nicht mehr«.117 Von daher ist es um so erstaunlicher, daß diese vielgepriesene Oper bislang ausschließlich unter dem Aspekt der Prachtentfaltung betrachtet wurde und bis heute eine detaillierte, die vielfältigen funktionalen Aspekte des Librettos und der Aufführung berücksichtigende Untersuchung der Oper noch aussteht.118 Angesichts der engen Verbindungen und des regen Nachrichtenaustausches zwischen Wien und Nürnberg verwundert es nicht, daß damals die Kunde von der >Jahrhundertoper< rasch in die Reichsstadt gelangte und dort ebenfalls auf ein durchweg positives Echo gestoßen zu sein scheint, wie etwa Sigmund von Birkens Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst verdeutlicht, worin der Poetiker II pomo d'oro nicht nur erwähnt, sondern auch ausdrücklich als Mustertext für die Verfassung eines Schauspiels empfiehlt.119 Doch schon zuvor, nur einige Jahre nach der Aufführung des Spektakels entstand in Nürnberg ein bedeutendes Dokument zur Rezeptionsgeschichte dieser Oper in Deutschland. Denn 1672 erschien im Verlags- und Druckhaus Wolf Eberhard Felßeckers eine Übersetzung des Stücks unter dem Titel Der güldene Apfel, verfaßt von einem Autor namens Johann Gabriel Meyer.120 Zwar hatte bereits 1669 Caspar Stieler auf Wunsch von Johann Ernst Herzog zu Sachsen-Weimar eine handschriftliche und nicht publizierte Übertragung für den Weimarer Hof verfertigt.121 Doch die Nürnberger Ausgabe stellt die erste und einzige zeitgenössische, vollständige und gedruckte Verdeutschung des italienischen Librettos dar - letzteres bis auf den heutigen Tag. Während jedoch dem Original von Sbarra und Cesti sowie seiner Aufführung am Wiener Hof immer wieder große Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, wurde diese Nürnberger Übersetzung bislang mit kaum mehr als einigen wenigen Bemerkungen gewürdigt - geschweige denn, daß nach ihrer 117
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Seifert: Der Sig-prangende Hochzeit-Gott, S. 39. In diesem Sinne auch das Fazit bei Franz Hadamowsky: Wien - Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Wien, München 1988 (Geschichte der Stadt Wien, Bd. 3), S. 142: »Die Hochzeitsoper >11 pomo d'oro< war das größte theatralische Ereignis des Leopoldinischen Hoftheaters.« Vgl. hierzu die Kritik bei Jahn: L'Adelaide und L'Heraclio, S. 655. Vgl. Birken: Dicht-Kunst, S. 325. [Johann Gabriel Meyer]: Der güldene Apfel / Schauspiel / Gehalten in Wien / auf das höchstherrlichst=gesegnete / Vermählungs=Fest: Dero Römisch. Käiserl. und Königlichen Majestäten LEOPOLDJ und M A R G A R E T « / aufgesetzt von Francisco Sbarra, Rom. Kais. Majest. Raht. Anjetzo aber aus dem Jtaliänischen übersetzt. Bd. 1: Text u. Nachwort v. Margret Dietrich. Bd. 2: Die Kupferstiche des originalen Libretto-Druckes (Wien 1668). Wien 1965 (Faksimiledruck der Ausgabe Nürnberg 1672) (Jahresgabe der Wiener Bibliophilen Gesellschaft). In der Erlanger Universitätsbibliothek hat sich ein (offenbar bislang bibliographisch nicht erfaßtes) Exemplar des heute seltenen Drucks erhalten. Vgl. Ü B E , Nr. 4 an Kr. 1730. Siehe hierzu Herbert Zeman: Die Fama von »II pomo d'oro« im zeitgenössischen Weimar des 17. Jahrhunderts und die deutsche Barockliteratur. In: Literatur in Bayern 17 (1989), S. 3 5 - 4 2 .
416 Entstehungsgeschichte und weiteren Kontexten gefragt worden wäre. 1 2 2 Vergeblich sucht man nach Der güldene
Apfel
auch in den lokal orientierten
Darstellungen zur Nürnberger Theatergeschichte. 1 2 3 Ähnliches gilt schließlich für den Verfasser Johann Gabriel Meyer, von dem man noch in jüngster Zeit sogar irrtümlicherweise annahm, daß er »sonst nicht näher bekannt« 1 2 4 sei. Von daher sei deshalb an dieser Stelle das Augenmerk auf dieses bedeutende, in Nürnberg erschienene Rezeptionsdokument gerichtet und sein Verfasser wenigstens kurz vorgestellt - nicht zuletzt deshalb, weil seine Übertragung nicht nur einen bemerkenswerten Beleg für das im Nürnberg des 17. Jahrhunderts vorhandene Interesse an der theatralen Kunstform Oper darstellt, sondern sehr wahrscheinlich auch in unmittelbarem Kontext mit den kulturellen Aktivitäten der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« steht und gleichsam den Auftakt zu deren Theater- und Opernunternehmungen bildet.
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Bezeichnend hierfür ist, daß in den Handbüchern zum deutschen Barockdrama zwar die handschriftliche Bearbeitung Stielers noch erwähnt wird, ein Hinweis auf die gedruckte Nürnberger Übersetzung jedoch fehlt. Vgl. Aikin: German Baroque Drama, S. 134, und Alexander: Barockdrama, S. 160. Doch selbst in Einzelstudien zur Oper wird der Nürnberger Ausgabe (soweit ersichtlich) lediglich im Sinne einer bibliographischen Erfassung Genüge getan. So konstatiert etwa Zeman: Fama, S. 36, zwar noch, daß der Nürnberger Druck die einzige im Druck erschienene Übertragung des italienischen Librettos darstelle, übergeht diese dann jedoch mit dem ebenso knappen wie pejorativen Urteil: »[...], aber sie ist weder die erste noch die beste Übersetzung«. Und selbst Margret Dietrich geht in ihrem sonst informativen Nachwort zum Faksimiledruck der deutschen Übersetzung lediglich mit wenigen Bemerkungen auf die Übertragung von Meyer ein. Vgl. Margret Dietrich: Nachwort. In: [Meyer]: Der güldene Apfel, Bd. 1, nicht paginiert, S. [18]. Eine Ausnahme bildet allein Judith P. Aikin, die anders als in ihrem Barockdrama-Handbuch im Rahmen einer in jüngerer Zeit veröffentlichten Studie zur Entwicklung des deutschsprachigen Librettos im 17. Jahrhundert mit knappen, aber wertvollen Hinweisen auf die Fassung von Meyer und dessen Übersetzungsweise eingeht. Allerdings fragt auch sie nicht nach der Entstehung der Übersetzung und deren weiteren Kontexten. Vgl. Judith P. Aikin: Libretti without Scores. Problems in the study of early German opera. In: Music and German literature. Their relationship since the Middle Ages. Ed. by James M. McGlasthery. Columbia 1992 (Studies in German literature, linguistics, and culture, vol. 66), S. 51-64, bes. 56f. So findet sich in den Überblicken bei Hampe, Sandberger, Kertz und Schultheiß keinerlei Hinweis auf die Übersetzung Meyers. Frank-Rutger Hausmann: Bibliographie der deutschen Übersetzungen aus dem Italienischen. Von den Anfängen bis 1730. 2 Teile. Tübingen 1992, Teil 1/2, S. 1126. Hausmann irrt in seiner Annahme jedoch. Denn Johann Gabriel Meyer ist identisch mit dem Autor namens Johann Gabriel Maier, für den (wenn auch nur wenige und lediglich kurz gehaltene) biographische Artikel vorliegen. Noch am ausführlichsten der (nicht ganz fehlerfreie) Artikel im NGL 2 (1756), S. 534-536, u. 6 (1805), S. 346, sowie Herdegen: Historische Nachricht, S. 281-284. Weder das NGL noch Johann Herdegen kennen allerdings die Übersetzung Meyers.
417 Sprachbegabter Privatgelehrter Johann Gabriel Meyer (auch Maier, Mayer) wurde am 1. Februar 1639 im schweizerischen Arbon am Bodensee als Sohn des Kaufmanns Johann Georg Meyer geboren. 125 Schon im Kindesalter zeigte sich bei ihm offenbar eine Begabung für Sprachen, weshalb seine Eltern »auch keine Mühe noch Kosten gescheuet, Jhn in allerhand Künsten und wißenschaften [...] erlernen zu lassen«, wie es in dem handschriftlich verfaßten Lebenslauf Meyers heißt. 126 Nach erstem Unterricht durch verschiedene Privatlehrer kam er auf die höhere Schule nach Schaffhausen, wo er in »allen guten freyen künsten und wißenschaften in dem Gymnasio alldorten, biß in daß zehende Jahr seines Alters, von seinen Herren Praeceptoribus auf daß [...] sorgfältigste« 127 unterwiesen wurde. Als sein Vater jedoch Anfang Januar 1650 durch einen Schlaganfall starb, wurde Johann Gabriel Meyer bereits als Zehnjähriger zum Halbwaisen, und die Mutter sah sich gezwungen, mit dem Sohn in ihre ursprüngliche Heimatstadt Nürnberg zu ziehen, »in der getrösteten Hoffnung und Zuversicht[,] von ihren vornehmen und von Gott gesegneten ansehnlichen Freunden einige Consolution, Rath und Hülffe zu erlangen«, wie der anonyme Biograph Meyers berichtet. 128 Maria Magdalena Meyer sollte sich in diesem Glauben nicht irren und konnte auf die Hilfe ihrer Nürnberger Verwandten vertrauen, die zu den vornehmsten Bürgern der Reichsstadt zählten. Denn ihre Mutter Ursula Oertlin war ein geborene von Holzschuherin und stammte aus einer der ältesten Rats- und Patrizierfamilien Nürnbergs. Die Familie der Großmutter nahm sich der jungen Witwe und ihres Sohnes an und sorgte für die weitere Ausbildung des sprachbegabten Kindes, das man nun in die Privatschule von Johann Jacob Wider, Rektor der Spitalschule, schickte und darüber hinaus noch von Ulrich Hofmann unterrichten ließ, einem damals »Kunst= und weit berühmten Schreib= und Rechenmeister«, 129 der als äußerst gelehrter Mathematiker sowie Arithmetiker galt und sich zudem einen Ruf als angesehener Schreibkünstler erworben hatte. 130 125
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Das Folgende insbesondere nach der bislang nicht bekannten, anonymen und handschriftlich verfaßten Lebensbeschreibung, die sich im Stadtarchiv Nürnberg erhalten hat und acht, nicht paginierte Blätter umfaßt. Möglicherweise ist sie anläßlich des Todes von Johann Gabriel Meyer verfaßt worden und diente als Vorlage für eine (später gedruckte?) Leichenpredigt. Vgl. StadtAN, Rep. Ε 1 8 : Familienarchiv Merkel, Nr. 633: Anonym: Lebens-Lauff Johann Gabriel Meyers, Poet Laureati Caesar, und Correctoris zu Nürnberg in der Joh. Andr. Endters. Buchtruckerey, auch des löbl. Pegnesi. Blumen Gesellschaft Mitglied, Palemon genannt, gebohrn zu Arbon am Boden See, den 1. Febr. A. 1639. gestorben zu Nürnberg den 19. Febr. A. 1699. Ebd., fol. [3V], Ebd., fol. [ 3 v - 4 r ] . Ebd., fol. [4V], Ebd., fol. [5 r ],
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Nach dem Abschluß seiner Schulausbildung sowie dem anschließenden Besuch der öffentlichen Vorlesungen im auditorium publicum wechselte Johann Gabriel Meyer im September 1657 auf die Universität nach Altdorf, um Philosophie und Rechtswissenschaft zu studieren.131 Seine Vorliebe galt jedoch den alten Sprachen und der Dichtkunst, »dazu er einen besonderen Lust, und Geist gehabt«.132 Schon bald trat Meyer mit eigenen Gedichten hervor und 1662 wurde er durch Sigmund von Birken in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen, in dem er sich den Vergilischen Namen »Palaemon« erwählte.133 In dieser Wahl kommt bereits Johann Gabriel Meyers Begeisterung für die lateinische Dichtung sinnfällig zum Ausdruck. Denn neben der deutschen Dichtkunst versuchte er nach dem Bericht von Johann Herdegen, in der lateinischen Poesie etwa besonderes zu thun, als wo zu er gleichsam gebohren war, und worinnen er es auch weit gebracht. Man durffte ihm nur eine Materie vorlegen, so war er im Stand, sogleich aus dem Steg=Reif, lateinische Verse davon herzusagen.134
Mit insgesamt 16 Studienjahren bis 1673 verblieb Meyer ungewöhnlich lang an der Universität, wobei er jedoch zwischenzeitlich bereits in juristischen Diensten für die Hochschule tätig war und etwa 1670 während einer längeren Krankheit von Johann Pielnhuber dessen Amt als Vizenotar der Universität vertrat.135 Dennoch scheint er sich nach dem Studium nicht um eine weitere Karriere als Jurist bemüht zu haben. Denn wie Georg Andreas Will schreibt, bewarb sich Johann Gabriel Meyer »niemals um ein öffentliches Amt, sondern da er sich nach geendigtem Universitäts=Leben wieder nach Nürnberg begeben, widmete er sich in der Stille den Studien«.136 Möglich war ihm dieses Wirken als Privatgelehrter wahrscheinlich durch die Verwandtschaft mütterlicherseits, deren Vermögen ihn offenbar zu keiner geregelten Arbeit zwang. Denn als Broterwerb nahm er lediglich die Stelle eines freien Korrektors im Endterschen Verlag an, die er »gegen eine billige Besoldung«137 bis zu seinem Tod am 19. Februar 1699 ausübte.
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Vgl. N G L 2 (1756), S. 168-170, sowie Heisinger: Schreib- und Rechenmeister, S. 72-74 u. passim. Vgl. Elias von Steinmeyer (Hg,): Die Matrikel der Universität Altdorf. 3 Bde. Würzburg 1912-18 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Bd. 4), Bd. 1, S. 311. Lebens-Lauff Johann Gabriel Meyers, fol. [5V]. Zu Meyers Beziehung zum Pegnesischen Blumenorden siehe Jürgensen: Utile cum dulci, S. 39f. Ein Hinweis auf seine Tätigkeit als Übersetzer der Oper »II pomo d'oro« fehlt allerdings auch hier. Herdegen: Historische Nachricht, S. 282. Vgl. Steinmeyer: Matrikel der Universität Altdorf, Bd. 2, S. 369 Anm. 14. NGL 2 (1756), S. 535. Ebd.
419 Johann Gabriel Meyer galt als guter Stilist, dem seine Genossen im Pegnesischen Blumenorden öfters Werke zur Durchsicht vorlegten. So berichtet etwa Sigmund von Birken, daß er ein »Carmen« zunächst durch Johann Gabriel Meyer »censiren« 138 ließ, bevor er es nach Wolfenbüttel an Herzog Anton Ulrich schickte. Daneben verfaßte Meyer zahlreiche eigene Casualgedichte in deutscher und insbesondere lateinischer Sprache, wofür er durch Birken am 5. Mai 1674 nicht nur zum kaiserlichen Poeten gekrönt wurde, sondern für die er auch immer wieder »schöne VerEhrungen [!] von hohen und vielen Vortrefflichen Herren, und hohen Stands Personen, als sonderbahre Gnaden und Gunst bezeigungen« erhielt, wie die Lebensbeschreibung Meyers berichtet. 139 »Verdolmetschen« Wie kam es nun zu der außergewöhnlichen Übersetzung? Chronologisch gesehen fällt sie in das Ende der Studienzeit von Johann Gabriel Meyer - in eine Zeit also, in der er längst intensive Kontakte zu Sigmund von Birken und anderen Nürnberger Literaten geknüpft hatte sowie bereits mit etlichen eigenen Gedichtveröffentlichungen hervorgetreten war. Zu ihrer Entstehungsgeschichte schreibt Meyer zu Beginn seiner Vorrede »An den Edlen Leser«, daß die Übertragung zunächst nicht zur Publikation gedacht gewesen sei, da sie »sonsten mit zierlichem Worten und mehrerm Fleiß außgeschmükket worden / oder gar nachgeblieben seyn« würde. Ihr Anlaß sei dagegen vielmehr gewesen, »sich in zweyen Sprachen zugleich / durch Ubersetzen / zu üben«. 140 Man wird diesen Hinweis auf den vermeintlich ursprünglich >privatenNümbergern< siehe Jane O. Newman: Pastoral conventions. Poetry, language and thought in seventeenth-century Nuremberg. Baltimore, London 1990, S. 113-132.
421 nerhalb der Rhetorik Sprachrichtigkeit sowie insbesondere Klarheit und Deutlichkeit (perspicuitas) als oberste Stilprinzipien gelten. 146 Von daher wird die translatio ad verbum in den meisten Übersetzungstheorien des 17. Jahrhunderts als unzureichendes Verfahren abgelehnt, so etwa in Justus Georg Schottelius' grundlegender, präskriptiv verfahrender Anleitung Wie man recht verteutschen soll,147 in der die sinngemäße Übersetzung (translatio ad sensum) als vorbildlich empfohlen wird: [...] die verteutschung sol recht und gut seyn / das ist / daß der wahre Jnhalt der frömden übergesetzten Sprache mit eigentlichen und der Teutschen Sprach zugehörigen Worten und Redarten nach Teutschem Verstände recht bekannt werde. [...] Wen man der überzusetzenden Sprache Meynung und Jnhalt recht vernimmt / und die Worte so solches zuvernehmen geben recht Teutsch sind / so ist die interpretatio oder verteutschung richtig und untadelhaft. 148
Im Vordergrund steht bei Schottelius die getreue Übersetzung des Inhalts (res), eine Pflicht zur Nachahmung des sprachlichen und stilistischen Charakters {verba) der Vorlage besteht nicht. Im Gegenteil, zur Erreichung des Primärziels der perspicuitas kann die formale Struktur des Ursprungstextes sogar vernachlässigt bzw. gemäß den Eigenheiten der deutschen Sprache abgeändert werden. Denn es gehe nicht darum, »so bloß den frömden nachlallen«, sondern »daß der frömden und Ausländer Geistreiche Erfindungen / klar und verständig / nach der Teutschen Sprache Eigenschaft und Vermögen / verteutscht werden«.149 Ganz ähnlich äußert sich Georg Philipp Harsdörffer in seiner Übersetzungstheorie, die ebenfalls die sinngemäße Übersetzung gegenüber der als schülerhaft qualifizierten Wort-für-Wort-Übertragung favorisiert.150 Harsdörffer geht sogar soweit, daß er ein Abweichen bis hin zur völlig neuen 146
Siehe hierzu und für das Folgende Rener: Übersetzungskunst, bes. S. 10-12 u. 16, sowie jüngst Ralf Georg Czapla: »Wie man recht verteutschen soll«. Der Traktat des Justus Georg Schottelius als Paradigma einer Übersetzungstheorie in der Frühen Neuzeit. Mit einem Exkurs zur Vergil-Übersetzung im 16. bis 19. Jahrhundert. In: Morgen-Glantz 8 (1998), S. 197-226. 147 Justus Georg Schottelius: Wie man recht verteutschen soll. Samt anderen recht Teutschen / wie auch alten Teutschen Redarten / und anderen eigenschaften der Teutschen Sprache. In: ders.: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. Hg. v. Wolfgang Hecht. 2 Teile. Tübingen 1967 (Ndr. der Ausgabe 1663) (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock, Bd. 11 u. 12), Teil 2, S. 1216-1268. 148 Ebd., S. 1225. 149 Ebd., S. 1233. Als Autorität für diese Bestimmung diente Schottelius insbesondere Martin Luther, der in den Augen des Poetikers das Verfahren der sinngemäßen Übersetzung nicht nur theoretisch fundiert hat, sondern zugleich »als ein Meister der Teutschen Sprache und künstlicher Wolredner« (ebd., S. 1228f.) anhand seiner Bibelübertragung exemplifiziert hat. Siehe dazu ausführlich Czapla: Der Traktat des Schottelius, S. 204-206. 150 Ygj p e t e r Hess: Imitatio-Begriff und Übersetzungstheorie bei Georg Philipp Harsdörffer. In: Daphnis 21 (1992) Η. 1, S. 9-26, sowie den Abschnitt »Übersetzungstheorie« bei ders.: Poetik ohne Trichter, S. 159-172.
422 Disposition der formalen Struktur des Ursprungstextes billigt, wenn es der Verständlichkeit seines Sinns dienlich ist: »Ich will sagen / sollte der Dolmetscher von den Buchstaben abweichen / und nun [!] die Meinung behalten / so kann doch seine wolgemeinte Arbeit deß Ruhms nicht ermangeln«. 151 Wie schon in Opitz' Poetik fungiert auch bei Harsdörffer das »Verdolmetschen« als wichtige Übungsform für den Dichter, wobei jedoch der Nürnberger den selbständigen Wert einer Übersetzung betont: »Dergleichen hat das Lob einer guten Ubersetzung / wan[n] es so wol klingt / daß man nicht einmal abmerken kann / daß es in einer andern Sprache ursprünglich geschrieben worden.« 152 Im Idealfall strebt dabei die Übersetzung über die Vorlage hinaus und wird zu einem literarischen Werk mit eigenständigem Wert, das die rhetorischen Grundprinzipien der imitatio und aemulatio verwirklicht. 153 Vor dem Hintergrund der (hier notgedrungen nur skizzenhaft dargestellten) zeitgenössischen Übersetzungstheorie muß auch Johann Gabriel Meyers Übersetzung gesehen werden. Denn wie ein Blick in seine Vorrede zeigt, war sich der Nürnberger Sprachgelehrte der Anforderungen an eine Übertragung und der damit verbundenen Probleme bewußt: »Mit gleichgültigen [lies: gleichwertigen] Worten / insonderheit Verse übersetzen / ist schwer«,154 stellte Meyer fest. Damit spielt er wohl ohne Zweifel auf die Schwierigkeiten einer wörtlichen, die formale Struktur des Originals (hier madrigale Verse) nachahmenden Übersetzung an, wie sie in den zeitgenössischen Übersetzungstheorien diskutiert wurden. Und wie viele seiner Kollegen zog Meyer in seinem Fall eine weitgehend sinngemäß verfahrende Übertragung der Vorlage vor, wie später noch zu zeigen sein wird (siehe unten). Doch in dem hier gegebenen Zusammenhang der Übersetzung eines Opernlibrettos kommt der Bemerkung Meyers noch eine weitere, nicht minder wichtige Bedeutung zu. Denn wie anzunehmen ist (und zudem das Zitat aus der Übersetzungsvorrede nahelegt), wußte der >Pegnitzschäfer< nicht nur um die präskriptiven Anweisungen in den Poetiken und anderen Schriften seiner Blumengenossen Birken und Harsdörffer, sondern darüber hinaus war sich Meyer offenbar der spezifischen Eigenheiten und Strukturen des italienischen Rezitativstils und seiner anderen sprachlichen Bedingungen bewußt, die eine gleichwertige, und das heißt vor allem eine in gleicher Weise singbare Übersetzung ins Deutsche erheblich erschwerten. Denn mit seiner oben
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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Bd. 3, S. [80]. Vgl. hierzu mit weiteren Textbelegen Hess: Imitatio-Begriff, S. 15-19. Harsdörffer: Poetischer Trichter, Erster Teil, S. 103. Dies zeigt Sigmund von Birkens Poetik, die Harsdörffers Plädoyer für eine sinngemäße Übersetzung bestätigte: »Es ist aber ihre gröste Zier / wan[n] sie der Urschrift und dem Original so gar gleich sehen / als wan[n] sie Teutsch von ankunft / wären: welches geschihet / wan[n] man sich nicht bindet an die Eigenschaften der fremden Sprache / darin[n] sie erstlich geschrieben worden.« (Birken: Dicht-Kunst, S. 179). [Meyer]: Der güldene Apfel, fol. [Av],
423 zitierten Feststellung in der Vorrede hatte er zugleich eines der Kardinalprobleme des zeitgenössischen Opern-Diskurses aufgeworfen. Die Frage, ob und wie man das italienische Rezitativ mit seinem besonderen Tonfall ins Deutsche übertragen könne, wurde von Dichtern und Musikern gleichermaßen lebhaft diskutiert und mit verschiedenen Lösungsansätzen sowohl in der Theorie als auch in der Praxis beantwortet. Zur besseren Einschätzung der Vorgehensweise Meyers sowie ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Entwicklung einer deutschsprachigen Oper sei diese Auseinandersetzung um das italienische Vorbild hier wenigstens in Umrissen angedeutet. 155 Dichten nach der »Italiener Art« Anfang der 1590er Jahre fanden sich im Kreise der um den Grafen Giovanni Bardi gescharten sogenannten Florentiner Camerata mehrere Gelehrte, Dichter und Musiker mit der Absicht zusammen, in Anlehnung an das antike Drama mit seiner Verbindung von Wort und Musik gemeinsam eine neue theatrale Kunstform zu entwickeln, und schufen (vereinfacht ausgedrückt) in Gestalt des dramma per musica die Oper als eine neue, musikdramatische Schauspielform.156 Wie Jacopo Peri in seiner Vorrede zu L'Euridice beschreibt, stellte sich dabei zunächst das grundlegende Problem, inwieweit man singend reden und zugleich ein harmonisches Mittelmaß zwischen Musik und Sprache (bzw. Rezitation) finden könne: Onde veduto, che si trattava di poesia Dramatica, e che perö si doveva imitar col canto chi parla (e senza dubbio non si parlö mai cantando) stimai, che gli antichi Greci, e Romani (i quali secondo l'openione di molti cantavano su le Scene le Tragedie intere) usassero un'armonia, che avanzando quella del parlare ordinario, scendesse tanto dalla melodia del cantare, che pigliasse forma di cosa mezzana.157
Die Lösung fand man im instrumental begleiteten Sprechgesang, dem »recitar cantando«,158 das man aus der am affektbetonten Sprechen orientierten Monodie und unter Rückgriff auf die Gattung des Madrigals zu einer »nuova 155
Siehe hierzu ausführlich Hellmuth Christian Wolff: Die Sprachmelodie im alten Opernrezitativ. In: Händel-Jb. 9 (1963), S. 93-134, sowie die für das Folgende zudem herangezogene breite Diskussion mit umfänglicher Literatur bei Judith P. Aikin: Creating a language for German opera. The struggle to adept madrigal versification in 17th-century Germany. In: DVjs 62 (1988), S. 266-289. 156 Ygj a i i g e m e i n Anna Amalie Abert: Geschichte der Oper. Stuttgart, Weimar 1994, bes. S. 15ff., sowie Braun: Musik des 17. Jahrhunderts, S. 79ff. u. 94ff. 157 Jacopo Peri: A Lettori. In: LE MUSICHE DI IACOPO PERI NOBIL FIORENTINO Sopra L'Euridice DEL SIG. OTTAVIO RINUCCINI [...]. Firenze 1600. Zitiert nach dem vollständigen Wiederabdruck der Vorrede bei: Heinz Becker (Hg.): Quellentexte zur Konzeption der europäischen Oper im 17. Jahrhundert. Kassel, Basel, London 1981 (Musikwissenschaftliche Arbeiten Nr. 27), S. 20-22, hier. S. 20. 158 Emilio de' Cavalieri: A'Lettori. In: RAPPRESENTATIONE / DI ANIMA, ET DI CORPO / [...]. Roma 1600. Zitiert nach dem vollständigen Wiederabdruck der Vorrede bei: Becker (Hg.): Quellentexte, S. 13-15, hier S. 14.
424 maniera di canto« 1 5 9 entwickelte. 160 Das Madrigal in seiner melischen Ausprägung schien dabei ein ideales Vorbild für die Versform der neuen Gattung des Librettos zu liefern, da man glaubte, daß es aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften (freie Versfüllung mit wechselndem Metrum und variierender Anzahl der Hebungen) dem gesprochenen Wort nahekomme und sich zugleich aufgrund seiner Klangqualitäten im besonderen M a ß e als sangbar erweise. 161 Allerdings verlief diese Entwicklung keineswegs geradlinig, sondern es handelt sich hierbei um einen Prozeß, »in dessen Verlauf Librettisten wie Komponisten mit den verschiedenartigsten Möglichkeiten der Auswahl, Anordnung und Vertonung von Versen und Strophen experimentierten«, wie Silke Leopold hervorgehoben hat. 1 6 2 A m Ende dieser »Zeit des Experimentierens« 1 6 3 steht seit etwa 1650 in Italien die deutliche Scheidung in Rezitativ und Arie. Experimentiert wurde auch in Deutschland, wo man sich seit etwa 1630 ans Übersetzen der italienischen Librettovorlagen und ihrer madrigalen Verskunst machte. 1 6 4 Wie in fast allen literarischen Gattungen war bei der neuen, musikdramatischen Kunstform wieder Martin Opitz der Vorreiter in Deutschland. 1627 adaptierte er für die erste deutschsprachige Oper Rinuccinis Libretto Dafne,165 die zusammen mit der (heute verschollenen) Musik von Heinrich Schütz auf Schloß Hartenfels bei Torgau anläßlich der Hochzeit des Landgrafen Georg von Hessen-Darmstadt aufgeführt wurde. Zwar orientierte sich Opitz hierbei an der neuen »italienischen Art« und bemerkte in der Vorrede »An den Leser«, daß er das Stück »auß dem Italienischen Mehrentheils genommen« habe und »es gleichfalls auff selbige Art [...] geschrieben worden« 1 6 6 sei. Doch seine nach wie vor häufig auf den Alexandrinervers zurückgreifende Nachdichtung macht zugleich die Schwierigkeiten 159 160
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Peri: A Lettori. In: Becker (Hg.): Quellentexte, S. 20. Siehe hierzu den guten Überblick mit weiterer Literatur bei Reinhard Strohm: Rezitativ. In: 2 MGG Sachteil 8 (1998), Sp. 224 -242. Zum Madrigal und insbesondere seiner sprachlichen Musikalität als melisches Madrigal siehe die maßgebende Arbeit von Ulrich Schulz-Buschhaus: Das Madrigal. Zur Stilgeschichte der italienischen Lyrik zwischen Renaissance und Barock. Bad Homburg u.a. 1969 (Ars Poetica, Studien, Bd. 7), bes. S. 102-147. Silke Leopold: »Quelle bazzicature poetiche, appellate ariette«. Dichtungsformen in der frühen italienischen Oper (1600-1640). In: Studien zur Barockoper. Hellmuth Christian Wolff zum 70. Geburtstag. Hg. v. Constantin Floros, Hans Joachim Marx u. Peter Petersen. Hamburg 1978 (Hamburger Jb. für Musikwissenschaft, Bd. 3), S. 101-141, hier S. 102. Ebd. Vgl. hierzu grundlegend Karl Vossler: Das deutsche Madrigal, Geschichte seiner Entwicklung bis in die Mitte des XVIII. Jahrhunderts. Weimar 1898 (Literarhistorische Forschungen, H. 6). Martin Opitz: Dafne. In: ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. George Schulz-Behrend. Bd. IV: Die Werke von Ende 1626 bis 1630. 1. Teil. Stuttgart 1989 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 312), S. 61-85. Ebd., S. 65.
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deutlich, wollte man das italienische Modell und seine virtuose Madrigalkunst auf die deutsche Dichtung übertragen.167 Wie unterschiedlich die Lösungsansätze ausfallen konnten, zeigt auch eine andere berühmte Adaption einer italienischen Vorlage aus der Frühzeit des deutschen Opernlibrettos: das Geistliche Waldgedicht genannt Seelewig von Sigmund Theophil Staden und Georg Philipp Harsdörffer. Ähnlich wie Opitz berief sich auch Harsdörffer auf die »Jtalianische Art« 168 und verwies etwa hinsichtlich der Frage nach dem Gesangsvortrag auf das »genere recitativo«169 - obgleich das Ergebnis der Oper dann keineswegs als getreue Umsetzung des italienischen Modells ausfiel. Denn wie in der Forschung bereits mehrfach, insbesondere von Seiten der Musikwissenschaft, betont wurde, verzichte der Nürnberger in der Seelewig nicht nur auf madrigale Verse, sondern die von Staden komponierte Musik der Oper entbehre auch einer genauen Scheidung von Rezitativ und Arie und verfüge darüber hinaus im Grunde kaum über wirkliche Rezitativ-Partien. Die Struktur von Libretto und Partitur bildeten vielmehr eine Aneinanderreihung von Strophenliedern, Arien und ariosen Partien.170 Caspar Ziegler und seine Madrigale Eine bedeutende Zäsur für die Entwicklung einer deutschsprachigen Librettoform nach italienischem Muster bildete Caspar Zieglers 1653 erschienenes Traktat Von den Madrigalen,171 Zwar hatte es schon zuvor an Bemühungen und Hinweisen auf die »italienische Manier« nicht gemangelt und etwa Harsdörffer hatte im Poetischen Trichter für die Ausarbeitung der Dialoge in Schauspielen die Madrigalkunst der Italiener zwar nicht dem Namen nach benannt, aber der Sache völlig entsprechend als vorbildlich angeraten ohne diese Empfehlung in seinen eigenen musikdramatischen Werken freilich umzusetzen.172 Doch bereits die Zeitgenossen erkannten, daß sich mit 167 168 169 170
171
172
Vgl. hierzu Vossler: Madrigal, S. 2 9 - 3 2 , sowie Aikin: Creating, S. 269ff. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Teil IV, S. [533], Ebd., S. [89] (Marginalie). Vgl. Eugen Schmitz: Zur musikgeschichtlichen Bedeutung der Harsdörferschen [!] »Frauenzimmergesprächspiele«. In: Festschrift zum 90. Geburtstage Rochus Freiherrn von Liliencron. Leipzig 1910, S. 254-277, der bereits feststellte, daß in der Partitur Stadens »das eigentlich den Kern des italienischen Stile nuovo bildende Rezitativ fehlte« (ebd., S. 261). In diesem Sinne auch Abert: Geschichte der Oper, S. 220; Aikin: Creating, S. 274ff., sowie zuvor bereits Keller: Oper Seelewig, S. 72ff., und Huff: Early German libretto, S. 348, der betont hat: »Despite the librettist's references to recitative style, the work lacks a clear distinction between recitative and aria, and hardly a single passage resembles a true recitative.« Caspar Ziegler: Von den Madrigalen Einer schönen und zur Musik bequemen Art Verse wie sie nach der Jtalianer Manier in unserer Deutschen Sprache auszuarbeiten / nebenst etlichen Exempeln. Leipzig 1653. Vgl. Aikin: Creating, S. 280f.
426 Caspar Zieglers Schrift nun erstmals ein Autor vornahm, die Madrigalkunst in Deutschland sowohl anhand einer theoretischen Bestimmung als auch mit zahlreichen Beispielen einzuführen.173 Er diskutierte ausführlich die mit der neuen Versart verbundenen Schwierigkeiten und legte eine Gattungsbestimmung vor, die das Madrigal im Anschluß an das italienische Modell definierte als »ein kurtzes Gedicht / darinnen sie ohne einige gewisse mensur der Reime etwas scharffsinnig fassen«.174 Dabei hob er hervor, daß sich die neue Versart aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften insbesondere für den Sprechgesang und dialogische Gesangspartien in den aus Italien stammenden »Singe Comedien« eigne, und zeigte auf, wie eine deutschsprachige Opernform in Gestalt eines kontinuierlichen und lediglich von Arien unterbrochenen Madrigals aussehen könnte: Gewiß / Jch halte es vor das schwerste genus carminis, und die jenigen / so keine andere Kunst darinnen suchen / als wie sie vier und vier Zeilen mit ihren endungen zusammen bringen / halte Jch vor blosse Reimer / keines weges aber vor Poetefn], Weil nun ein Madrigal viel freyer ist und sich der Reime halber so sehr nicht binden darff / auch der natürlichen Art zu reden näher kömt / so meyn Jch / [ . . . ] wird ein Madrigal / (was die blossen Verse / nicht aber die composition belanget) dem Stylo recitativo fast gleich gemacht / und halt Jch besagten Stylum recitativum, wie ihn die Jtalianer in der Poesie zu ihren Singe Comedien gebrauchen vor einen stets werenden Madrigal / oder vor etliche viel Madrigaln / doch solcher gestalt / daß ie zuweilen darzwische[n] eine Arietta, auch wohl eine Aria von etliche[n] Stanzen lauffe / welches denn sowohl der Poet als der Componist sonderlich in acht nehmen / un[d] eines mit dem andern zu versüssen / zu rechter zeit abwechseln muß. 175
Zieglers Schrift erlebte eine enorme Wirkung und gab entscheidende Impulse für die Ausbildung einer am italienischen Modell orientierten deutschsprachigen Librettistik und Opernsprache. In etlichen Poetiken der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird der Rechtsgelehrte als Autorität in Sachen Madrigal zitiert und seine Ausführungen als maßgeblich referiert, wobei insbesondere seine Gleichsetzung von Madrigal und Rezitativ richtungsweisend werden sollte.176 Doch auch auf die dichterische Praxis dürfte Ziegler einen beträchtlichen Einfluß ausgeübt haben. Dies gilt nicht zuletzt für Caspar Stieler, der selbst im Anhang seines Liederbuchs Die Geharnschte Venus eine 173 174
175 176
Siehe hierzu ebd., S. 268f., sowie Vossler: Madrigal, S. 43-50. Ziegler: Von den Madrigalen, fol. Aiiijv. Diese erste Definition führt Ziegler dann im folgenden seiner Schrift noch aus, wobei er als weitere Merkmale des Madrigals nennt: die »grössere Freyheit«, die erlaube, daß man »an keine gewisse Anzahl Verse gebunden« (ebd. fol A8V) sei. Zudem seien beim Madrigal die Verse »nicht gleich lang« (ebd., fol. B r ) und dürften »auch nicht alle gereimt seyn« (ebd., fol. B2 r ). Außerdem betont Ziegler die Nähe des Madrigals zur epigrammatischen Dichtungsart. Vgl. auch Vossler: Madrigal, S. 44 - 46, sowie hinsichtlich der italienischen Tradition des epigrammatischen Madrigals Schulz-Buschhaus: Madrigal, S. 148-252. Ziegler: Von den Madrigalen, fol. Biiij r -Biiij v . Siehe zu diesem gesamten Aspekt Vossler: Madrigal, S. 53-91, sowie Aikin: Creating, S. 281-283.
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»Zugabe« mit Madrigalen veröffentlichte, in denen die Vorgaben Zieglers verwirklicht wurden und die selbst wiederum eine große Rezeptionswirkung entfalteten, darunter etwa auf die Entwicklung der Arien innerhalb der frühen Hamburger Operngeschichte.177 Stieler war es auch, der die madrigalen Verse in seinen eigenen Libretto-Dichtungen verwandte, allen voran in seiner für den Weimarer Hof verfertigten Übertragung von II pomo d'oro, die das italienische Original in seiner spezifischen Versstruktur nachzuahmen versuchte, so daß seine deutsche Fassung der Oper nach Maßgabe der Forschung durchaus singbar sei.178 Sangbare Verse versus beschreibende Prosa Damit schließt sich der Kreis wieder, und gerade das Beispiel von Stielers unveröffentlichter und sich nahe an der italienischen Vorlage orientierender Übertragung macht den Unterschied zu Johann Gabriel Meyer deutlich, der bei seiner Übersetzung von II pomo d'oro einen ganz anderen Weg einschlug. Zwar hielt sich der Nürnberger an die vorgegebene Akt- und Szeneneinteilung und übertrug etwa auch die zahlreichen Anweisungen für die wechselnde Szenerie oder die eingesetzten Maschineneffekte. Doch angesichts der oben skizzierten Entwicklung eines am italienischen Vorbild ausgerichteten deutschsprachigen Librettos ist es äußerst bemerkenswert, daß Meyer die sprachliche Struktur seiner Vorlage mit ihrer spezifischen Versform und den kunstvollen Madrigalen nicht nachahmte, sondern weite Passagen des Originals in Prosa übersetzte, darunter Teile des Rezitativs ebenso wie Arien und ariose Partien, und nur gelegentlich Verse (dabei zumeist sogar Langverse) verwendete, wodurch seine Fassung praktisch nicht mehr sangbar ist.179 Ein Vergleich anhand der ersten Szene der Oper mag dies veranschaulichen, die als ein ebenso signifikantes wie repräsentatives Beispiel für die abweichende formale Gestaltung von Original und deutscher Fassung gelten kann. Nach dem allegorischen Prolog eröffnet der erste Akt von II pomo d'oro sogleich mit einem eindrucksvollen Effekt und der kunstvoll gebauten Arie der Proserpina, die nach Egon Wellez »zu den Glanzpunkten der Oper«180 gehört. Zusammen mit den Töchtern des Danaos fährt Proserpina zu ihrem Gemahl Plutone in den von höllischen Ungeheuern wimmelnden
177
178
179
180
Vgl. Vossler: Madrigal, 91ff. u. 113f., sowie Wolff: Barockoper in Hamburg, Bd. 1, S. 197. Vgl. Zeman: Fama, S. 41£; Aikin: Libretti without Scores, S. 58-63, sowie dies.: Creating, S. 285, die hervorgehoben hat: »Stieler's versification frequently follows the Italian rhythms exactly, so that portions of the text could conceivably have been sung to the original music by Marc Antonio Cesti«. Dieser bedeutsame Aspekt scheint m.E. bisher allein von Aikin: Libretti without Scores, S. 57f., erkannt worden zu sein. Wellesz: Ein Bühnenfestspiel, S. 200.
428 Hades hinab (»Reggia di Plutone«), wobei ihr Gesang gemäß der düsteren Stimmung der Unterwelt von entsprechenden Instrumenten (zwei Kornetten, drei Posaunen, Fagott und Regal) begleitet wird: Ε dove t'aggiri Trä l'alme dolenti; Se pianti, e sospiri Non'altro qui senti; Se pene, e tormenti Ingombrano il tutto D'horror, di strida di querele, e lutto, La Tantalogeme Per'l'esca mendace, Qui Sisifo preme J1 sasso fugace, La rostro vorace Di crudo Avoltore Sbrana di Tizio il rinascente core. Ε in quest' horrido Abisso Hö da viver sepolta? ο Cieli, ο Die, Son questi gl'Himenei Di Proserpina vostra? Dunque senz' altra colpa, Che d'esser, qual si sia, Questa Bellezza mia Piaciuta al Re de l'ombre, Esser devo in'eterno Condannata a l'Inferno? 181 Schon vom Druckbild her wird ersichtlich, wie völlig anders dagegen die Übertragung Meyers geartet ist, der die Arien-Struktur mit ihrem Reimschema und zumeist kurzen Verslängen vollkommen aufbricht und in eine neue sprachliche Disposition in Form einer Prosaauflösung bringt, die zwar den Wortsinn des Originals getreu wiedergibt, jedoch nicht mehr seine »madrigaleske Dichtung« 1 8 2 übernimmt: UNd was machest du woll allhier bey denen armseeligen Seelen / wo nichts als lauter Weinen und Seufftzen gespührt; wo alles wegen unaußsprechlicher Marter und Pein von Winseln / Heulen / Wehklagen und Schröcken angefüllet? Hier seufzet der Tantalus über die betrügliche Speise; dorten kreuscht der Sisyphus unter der Last deß rückfälligen Steines. Dorten zerhackt der wilde Geyer mit seinem gefrässigen Schnabel dem Tityus sein immer=nachwachsendes Hertze. Und in solcher gräulichen Tieffe muß ich als begraben leben. Ο Himmel / Ο ihr Götter! habt ihr also eure Proserpinam vermählen wollen? Soll ich nun / unverschuld / ausser das meine Gestalt / weiß nicht warum den Höllen=König also wol gefallen / zu der Höllen in Ewigkeit verdammt verbleiben! 183 D e r Vergleich ließe sich durch andere Beispiele fortsetzen, doch bereits anhand der Anfangsszene der Oper dürfte die formale Verschiedenheit zwi181 182 183
Sbarra: JL POMO D'ORO, S. lf. (Akt I, Szene 1). Adler: Einleitung, S. XV. [Meyer]: Der güldene Apfel, nicht paginiert (Akt I, Szene 1).
429 sehen Ausgangstext und deutscher Übertragung deutlich geworden sein. Allerdings sollte dieser Befund nicht vorschnell auf eine fehlende poetische Begabung und mangelnde literarische Fähigkeiten des Übersetzers zurückgeführt werden. 184 Wie bereits erwähnt, genoß der sprachbegabte Privatgelehrte und Liebhaber der romanischen Sprachen als Stilist großes Ansehen und verfertigte etliche eigene kunstvolle Gedichte. Es scheint vielmehr, daß Meyer ganz bewußt auf eine Nachahmung der sprachlichen Struktur verzichtete und mit seiner Übersetzungsmethode ein anderes Ziel verfolgte. Denn wie der Textvergleich zeigt, ist der Nürnberger in erster Linie bestrebt, gerade mittels einer neuen Anordnung der sprachlichen Form, die auf die ursprüngliche Versstruktur verzichtet und demgegenüber auf Prosa und Langverse zurückgreift, den Inhalt (respektive das Geschehen) der Opernvorlage deutlich zu machen und den Sinn klar wiederzugeben. 185 Dieses Verfahren galt den Zeitgenossen keineswegs als ästhetischer Mangel. Im Gegenteil, wie oben gezeigt, konnte sich Meyer hierfür auf die einschlägigen Poetiker und Autoritäten berufen, die dem Übersetzer weitreichende Freiheiten in der formalen Gestaltung des Ursprungstextes ließen, die etwa bei Harsdörffer »bis zur völligen Neuorganisation des Textes reichen«. 186 Denn nach Maßgabe der prominentesten zeitgenössischen Übersetzungstheorien bedeutete Übersetzen gerade nicht eine möglichst getreue Wiedergabe der sprachlichen Form des Originals, sondern (bei Beibehaltung des ursprünglichen Sinns) in erster Linie das Anpassen des Ausgangstexts an die eigenen kommunikativen Absichten und Bedürfnisse des Übersetzers und die darauf abgestimmte formale und inhaltliche Adaption eines fremdsprachlichen Vorbilds an den Erfahrungshorizont und an den verschiedenartigen soziokulturellen Kontext des intendierten neuen Lesers. 1 8 7
Gerade diese Aspekte dürften auch im Fall von Johann Gabriel Meyer die entscheidende Motivation seines Vorgehens gewesen sein. Denn es erscheint wesentlich plausibler, daß der versierte Sprachgelehrte nicht etwa zu unbegabt war, sondern mit seiner Übertragung bewußt keine getreue sprachliche 184
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186 187
So konstatiert in diesem Zusammenhang etwa Aikin: Libretti without Scores, S. 58, einen »lack of poetic talent«. Auch bei Zeman: Fama, S. 36, scheint dieses abwertende Urteil vorzuherrschen, wenn er feststellt: »Meyers Arbeit ist die einzige im Druck erschienene Verdeutschung des italienischen Librettos, aber sie ist weder die erste noch die beste Übersetzung«. Bereits Dietrich: Nachwort, S. [18], sprach bei der Herausgabe des Faksimiledrucks von einer »für diese Zeit ungewöhnlich lebendige[n] Übersetzung«. Hess: Imitatio-Begriff, S. 18. Ebd. Siehe hierzu auch Rener: Übersetzungskunst, S. 22, der zu folgendem Resümee kommt: »Beim Übersetzen geht es nicht um die sprachlichen Besonderheiten[,] sondern um den Inhalt des Originals. Oberstes Gesetz ist es, dessen Inhalt vollständig und vor allem deutlich wiederzugeben. Im Falle eines Konflikts zwischen res und verba, [!] muß man sich für die res und ihre perspieuitas entscheiden.«
430 Nachahmung des Originals und damit eine sangbare Fassung anstrebte, die beispielsweise zu einer Aufführung hätte verwendet werden können. Offenbar verfolgte Meyer vielmehr eine ganz andere Absicht, für die in seinen Augen die von ihm gewählte Form der sinngemäßen Übersetzung die geeignetere schien. Hierauf verweist jedenfalls eine Bemerkung in der Vorrede, in der Meyer zur Intention seines Vorgehen bemerkt: Jn meinung / es würden noch etliche gefunden werden / denen diese Schauspiels= Ubersetzung beliebig seyn sollte / die es etwan begierigst mit Augen angeschauet / und weil alles darinn auf Jtaliänische Art Kunst=mässig abgesungen worden / angehört habe[n]. Nun / Geist und Leben / die würkliche Vorstellung / ist hinweg.188
Demnach richtete sich seine Übertragung an ehemalige Zuschauer bzw. an der Oper interessierte Personenkreise und sollte offenbar in erster Linie als eine Art Dokumentation dienen, anhand derer man sich das Spektakel von einst gleichsam lesend nochmals vergegenwärtigen konnte. Zu diesem Zweck eignete sich jedoch eine sinngemäß verfahrende Verdeutschung wesentlich besser, da sie nicht Gefahr lief, unverständlich zu werden. Und auf Deutlichkeit kam es Meyer bei seinem Vorhaben an. Dies zeigt nicht nur der oben angestellte paradigmatische Vergleich zwischen Original und Übersetzung. Bereits in der Vorrede betont der Sprachgelehrte: Um dem Leser »wol [zu] gefallen«, muß der Übersetzer »durch die Einbildungskraft / auf das prächtigste und möglichste Jhme selber alles vorstellen können / und also mit dem Gemüte zum öftern anschaue [n] dieses Schauspiel«.189 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist sicherlich, daß Meyers Vorgehen keineswegs einen Einzelfall darstellt. An vielen Höfen dieser Zeit wurden die dargebotenen Opern neben den italienischen Originallibretti in deutschsprachigen Fassungen verbreitet, die anders als das Original zum größten Teil in Prosa verfaßt waren. Sie dienten eben nicht direkt für die Aufführung und zur Vertonung, sondern repräsentativen Zwecken und hatten eher dokumentarischen Charakter. 190 Adressatenkreis Zumindest mit einem Hinweis deutet Johann Gabriel Meyer in seiner Vorrede explizit an, daß seine deutschsprachige Fassung nicht allein der rhetorischen Fingerübung und Erfüllung freier Mußestunden diente, sondern daß sich der durch sie erbrachte >Beweis< rhetorisch-dichterischer Fertigkeit auch an einen bestimmten Adressatenkreis richtete. Denn neben dem bereits oben erwähnten Zweck der Übung wurde das Werk darüber hinaus, wie Meyer schreibt, »besonders guten Freunden / als etwas Neues / Liebes und Beson188 189 190
[Meyer]: Der güldene Apfel, fol. [Av] (Vorrede). Ebd., fol. [Air], Vgl. Aikin: Libretti without Scores, S. 55.
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ders gewiesen.«191 Leider bestimmt er diese >Freunde< nicht näher, so daß eine endgültige Entscheidung über deren Identität wohl nicht möglich ist. Es spricht aber manches dafür, hierin den Kreis der sowohl literarisch als auch musikalisch interessierten und engagierten Kaufleute zu sehen. Schon der oben bereits skizzierte allgemeine Kontext und die zahlreichen Verbindungen zwischen den Kaufleuten und ihrer Musikgesellschaft sowie dem Pegnesischen Blumenorden, zu dem Johann Gabriel Meyer gehörte, scheinen dies nahezulegen, wobei bemerkenswert ist, daß sich bereits zu dieser Zeit ein lebhaftes Interesse am Theater auf Seiten der Großkaufleute belegen läßt.192 Zudem kann es wohl kaum lediglich ein Zufall sein, daß zum einen nur kurze Zeit nach der Gründung der geselligen Gesellschaft der Handelsleute, aus deren Kreis wichtige Impulse für das Musikleben der Reichsstadt ausgingen, die Übersetzung einer der bedeutendsten Opern des 17. Jahrhunderts am selben Ort entsteht. Zum anderen ist es nicht minder auffällig, daß wiederum nur wenige Jahre nach Erscheinen der Übertragung Meyers gerade aus diesem Kreis wiederum sowohl erste Aufträge an Musiker und Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens zur Ausarbeitung von Opern ergehen als auch bereits Versuche unternommen werden, diese zur Aufführung zu bringen - zunächst im engeren Kreis von geladenen Freunden und Gästen, schließlich als stadtgesellschaftliche Großereignisse. Musiktheater und Oper in Nürnberg zwischen 1650 und 1700 sind fast untrennbar mit der Geschichte der Nürnberger Großkaufleute verknüpft. Jeder, der damals in der Reichsstadt an dieser neuartigen theatralen Kunstform interessiert war, dürfte sich in den geselligen Runden und Musikkränzen der Kaufleute zusammengefunden haben - sei es als Mitglied, angestellter Musiker oder geladener Gast wie etwa viele Literaten aus den Reihen des Pegnesischen Blumenordens.193 Und es ist gut denkbar, daß hierzu auch der >Pegnitzschäfer< Johann Gabriel Meyer zählte, von dem gerade aus der Zeit der Entstehung bzw. Veröffentlichung seiner Fassung des II pomo d'oro überliefert ist, daß er an den geselligen Versammlungen und Musikgesellschaften des Kaufmanns Andreas Ingolstädter teilnahm. So vermerkt etwa Sigmund von Birken am 29. November 1672 in seinem Tagebuch: »Bey H[errn] Ingolstjetter] mit Ferrjando] Palaem[on] Damon Alcidfor] u. Polyantho, a[uch] H[errn] Schützen, M[usicis] Schmieden u. Löhner, [...] eine Musik u. das Band abgelegt]«. 194
191 192 193 194
[Meyer]: Der güldene Apfel, fol. [Air]. Vgl. Teil B, Kap. 5.3., Beispiel 1. Vgl. ebd., sowie Teil B, Kap. 5.1. Birken: Tagebücher, Bd. 2, Eintrag vom 29. November 1672, S. 161. Die von Kröll an dieser Stelle vorgenommene Lesart »M[agister]« dürfte falsch sein und muß wohl eher »M[usicis]Pegnitzschäfer< belegen läßt: Denn der 1682 von Christoph Adam Negelein verfaßten und ein Jahr später von diesem unter der Leitung der beiden Kaufleute Johann Conrad und Johann Christoph Götz zusammen aufgeführten Oper Abraham der Groß=glaubige hat Meyer ein mit seinem Gesellschaftsnamen »Palaemon« unterzeichnetes Lobgedicht in lateinischer Sprache beigegeben.195 Dies ist um so bedeutsamer, als es sich gerade bei dieser Oper um ein Stück handelt, dessen Pläne schon bis in die Zeit um 1675 zurückreichen und die damals in einer noch von Johann Ludwig Faber konzipierten Kurzfassung im engeren Kreis der Musikgesellschaft der Handelsleute vor geladenen Gästen dargeboten wurde (siehe die folgenden Kapitel 5.3. und 5.4.1.). Obgleich es sich nicht mit Bestimmtheit sagen läßt, ist es demnach gut denkbar, daß Meyers Übertragung in diesem Umfeld entstanden ist und als Adressaten neben Freunden aus dem Pegnesischen Blumenorden auch die literarisch-musikalisch interessierten und als Kulturmäzene auftretenden Kaufleute in Frage kommen, von denen mancher durch geschäftlich bedingte Reisen nach Wien die berühmte Kaiseroper vielleicht aus eigener Anschauung kannte. Immerhin soll II pomo d'oro nach seiner Premiere noch ein Jahr lang in Wien wiederholt worden und einem größeren Publikum zugänglich gewesen sein.196 Vielleicht waren darunter einige Nürnberger Großkaufleute, die das spektakuläre Stück (um mit den bereits zitierten Worten Meyers zu sprechen) »begierigst mit Augen angeschauet«. EXKURS
I: Verdolmetschen und Nachahmen. Nürnberger Schauspielübersetzungen des Barock
Johann Gabriel Meyers deutschsprachige Fassung von II pomo d'oro ist keineswegs die einzige und auch nicht die erste Schauspielübersetzung, die im Nürnberg des 17. Jahrhunderts entstand. Alle weiteren können in diesem Rahmen allerdings nicht alle im einzelnen dargestellt werden und seien lediglich mit Titel sowie knappen Angaben zu ihren Verfassern angeführt. Neben Meyer machten sich noch weitere Mitglieder aus den Reihen des Pegnesischen Blumenordens auf diesem Gebiet verdient.197 An erster Stelle ist hier Georg Philipp Harsdörffer zu nennen, dessen gesamtes literarisches 195 196
197
Vgl. Teil B, Kap. 5.4.1.a. Dieses berichtet zumindest Eucharius Rinck, der zur Oper unter anderem bemerkt, »daß sie ein gantzes Jahr durch / mit Zulassung aller Leute / praesentiret worden« (Rinck: Leopold, Teil 1, S. 60). Siehe hierzu allgemein den Abschnitt »Übersetzen« bei Jürgensen: Utile cum dulci, S. 187-192.
433 Schaffen über weite Strecken auf Übersetzungen beruht, so daß man den Nürnberger als »ideale[n] Vermittler«198 bzw. »Vermittler großen Stils«199 bezeichnet hat. Er selbst hat die Kunst des Übersetzens nicht nur immer wieder gepflegt, sondern auch anderen Autoren Anregungen gegeben.200 Wie bereits erwähnt, stammt von ihm darüber hinaus eine Übersetzungstheorie, die das Verfahren translatio ad sensum vorzog und der nach diesem Prinzip verfertigten Übertragung den Rang eines eigenständigen literarischen Werkes beimaß.201 Unter den Übersetzungen Harsdörffers befinden sich auch mehrere Texte nach ausländischen Dramen, die er in seinen Frauenzimmer Gesprächspielen veröffentlichte. Neben der bereits mehrfach erwähnten Oper Seelewig, die indirekt auf eine italienische Vorlage zurückgeht, wäre hier zum einen das Stück Vernunftkunst (das auf der englischen Studentenkomödie The Sophister beruht) sowie zum anderen das nach Lope de Vega verfaßte Drama Melisa Oder der Gleichniß Freudenspiel zu nennen. Auf einer Vorlage basiert schließlich das Schauspiel Teutscher Sprichwörter, das in Anlehnung an ein französisches Stück von Adrien de Montluc konzipiert ist.202 Wie alle seine Übersetzungen verstand Harsdörffer die Schauspielübertragungen als Teil eines »nationalen Bildungsprogramms«,203 in dessen Rahmen die Literatur insbesondere »im Dienst einer allgemeinen Verfeinerung der Sitten«204 steht. Christoph Fürer von Haimendorf Als Übersetzer von Schauspielen und Opern ist noch ein weiterer Nürnberger Autor aus den Reihen des Pegnesischen Blumenordens belegt: Christoph VII. Fürer von Haimendorf. Der 1663 geborene Patrizier machte nach 198
199 200 201
202
203 204
Blake Lee Spahr: Nürnbergs Stellung im literarischen Leben des 17. Jahrhunderts. In: Stadt - Schule - Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hg. v. Albrecht Schöne. München 1976, S. 7 3 - 8 3 , hier S. 81. Böttcher: Harsdörffer, S. 325. Vgl. ebd., S. 311. Vgl. dazu neben den bereits im vorangegangenen Kapitel genannten Arbeiten von Frederick M. Rener und Peter Hess noch die neuere Studie von Italo Michele Battafarano: Übersetzen und Vermitteln im Barock im Zeichen der kulturellen Angleichung und Irenik: Opitz, Harsdörffer, Hoffmannswaldau, Knorr von Rosenroth. In: Morgen-Glantz 8 (1998), S. 1 3 - 6 1 , bes. S. 2 8 - 4 2 . Battafarano hat betont, daß Harsdörffer unter den Übersetzern des 17. Jahrhunderts »eine herausragende Rolle« (ebd., S. 22) zukomme. Vgl. dazu Böttcher: Harsdörffer, S. 305f., sowie Georg Adolf Narciss: Studien zu den Frauenzimmergesprächspielen Georg Philipp Harsdörfers [!] (1607-1658). Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1928 (Form und Geist, H. 5), S. 133-158. Battafarano: Übersetzen und Vermitteln im Barock, S. 29. Ebd., S. 39.
434 seiner Schulzeit am Egidiengymnasium, Studium in Altdorf und anschließenden Reisen durch Europa in seiner Heimatstadt eine steile Karriere: 1690 gelangte er in den Inneren Rat, seit 1697 fungierte er als Kurator der Universität Altdorf, schließlich übertrug man ihm die Verantwortung für das gesamte Kirchen- und Schulwesen. Darüber hinaus wurde Fürer mehrfach als Gesandter der Reichsstadt mit bedeutenden diplomatischen Missionen beauftragt. Schon früh zeigte der Patrizier ein reges Interesse an der Dichtkunst: Schon als 17jährigen nahm ihn Birken unter dem Namen »Lilidor I.« in den Pegnesischen Blumenorden auf, dem Fürer seit 1709 schließlich bis zu seinem Tod 1732 vorstand.205 Während Fürers dichterisches Schaffen heute kaum noch bekannt ist und abgesehen von einer (in Deutschland nur als Mikrofiche erhältlichen) amerikanischen Dissertation auch in der literarhistorischen Forschung so gut wie keine Würdigung gefunden hat, stand er nach Meinung der Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts »billig unter den Staats=Männern, Gelehrten und Dichtern oben an, indem Nürnberg kaum seines gleichen gehabt hat«.206 Neben den Lyrikbänden Vermischter Gedichte-Kranz (1682) und Pomona / oder Aufgesammelte Früchte der Einsamkeit (1726) zählt der 1702 erschienene Sammelband Christliche Vesta und Indische Flora207 zu den literarischen Hauptwerken Fürers. In dieser Sammlung weltlicher und geistlicher Gedichte befinden sich im zweiten, »Irrdische Flora« überschriebenen Teil etliche »Dramatische Gedichte und Ubersetzungen« - darunter neben Auszügen aus Guarinis Pastor Fido und Tassos Aminta mehrere vollständige Übertragungen französischer und italienischer Schauspiele und Libretti: So zunächst unter dem Titel CINNA oder die Gütigkeit des AVGVST1208 eine in Alexandriner-Versen gehaltene Fassung von Corneilles Trauerspiel Cinna ou la climence d'Auguste, die von Gottsched in seiner Vorrede zum Sterbenden Cato lobend erwähnt und im 18. Jahrhundert mehrfach in Deutschland gespielt wurde, unter anderem 1731 in Nürnberg im Beisein des Überset205
Als bislang einzige ausfuhrlichere Arbeit zu Leben und Werk Christoph Fürers von Haimendorf siehe die kaum beachtete Studie von Ronald K. Morgan: The poetry of Christoph Fürer von Haimendorf. Diss, (ms.) Univ. of Tennessee 1980, auf S. 1 14 eine kurze Biographie mit bibliographischen Hinweisen. Zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens unter der Leitung Fürers vgl. Jürgensen: Utile cum dulci, S. 1 2 1 - 1 2 9 .
206
N G L 1 (1755), S. 498f. Schon Morgan: Christoph Fürer, S. vi, konstatierte in der Einleitung seiner Dissertation: »Almost nothing has been written about the man or his works, although his contemporaries highly esteemed his poetry«. [Christoph Fürer von Haimendorf]: Christliche Vesta und Irrdische Flora. Oder Verschiedene theils aus fremden Sprachen übersetzte theils selbst-erfundene Geistund Weltliche Teutsche Gedichte eines Mitglieds der Pegnesischen Blumen-Gesellschaft. o.O. 1702. [ders.]: CINNA oder die Gütigkeit des AVGVSTI; in einem Trauer-Spiel vorgestellt durch P. Corneille, und aus dem Französischen ins Hoch-Teutsche übersetzt. In: ebd., S. 9 5 - 1 8 4 .
207
208
435 zers. 2 0 9 Daneben findet sich an gleicher Stelle eine CAMILLA Volsker,210
/ Königin
der
der eine 1690 in Augsburg anläßlich der dortigen Kaiserkrönung
aufgeführte italienische Oper zugrunde liegt, deren Libretto Fürer bei seiner Übersetzung leicht verändert und um einige Arien erweitert hat. 2 1 1 Ebenfalls eine >Kaiseroper< diente als Vorlage bei Die Siegende sches Singspiel,212
Stärke oder
Jtaliäni-
das eine Übersetzung der im Juli 1687 zum Namenstag der
Kaiserin Eleonora Magdalena mit der Musik von Antonio Draghi gezeigten Oper La Vittoria della fortezza
von Nicolo Minato darstellt. 213 Offenbar eine
eigene Erfindung Fürers ist dagegen der als Kleine Aufzug Der vergnügte
Traum oder Die küßende
sammlung in der Indischen
Diana
Op[e]rette 214
bezeichnete
der die Schauspiel-
Flora abschließt.
Von einem Mitglied des Pegnesischen Blumenordens stammt möglicherweise auch das 1680 in Nürnberg im Endterschen Verlag unter dem Pseudonym »Christian ä Gletelberg« erschienenen Stück Eryfila. thene Zauber=
und Wahr-sager=Kunst.215
Oder Die
Verra-
Laut Vorrede basiert das 272 Seiten
umfassende Werk auf einem französischen Schauspiel, dessen ursprünglichen Autor der Übersetzer nicht zu nennen vermag. Bemerkenswert ist, daß sich in der Vorrede nicht nur ein verstecktes Zitat aus dem Schauspielkapitel von Birkens Poetik findet, sondern dem Stück auch ein Begleitgedicht in sechs Strophen beigegeben ist, das von niemand anderem als dem >Pegnitzschäfer< Johann Gabriel Meyer unterzeichnet ist. 216 Dabei geht es in dem auf morali-
209
210
211 212
213
214
215
216
Vgl. Morgan: Christoph Fürer, S. 10, sowie die bibliographischen Hinweise bei Reinhart Meyer (Hg.): Bibliographia dramatica et dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitungen und Übersetzungen und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart. 2. Abteilung: Einzeltitel. Bd. 2 (17011708). Tübingen 1993, S. 134f. [Christoph Fürer von Haimendorf]: CAMILLA / Königin der Volsker. In: ders.: Indische Flora, S. 185-304. Vgl. Meyer: Bibliographia dramatica, S. 133f. [Christoph Fürer von Haimendorf]: Die Siegende Stärke oder Jtaliänisches Singspiel / welches an dem erfreulichst-erschienenem Namens-Tage Jhrer Keiserl. Majestät der Regirenden Rom. Keiserin Eleonora Magdalena Theresia / samt einem herrlichen Ballet A. 1687, ohnfern Wien / vorgestellet und nachgehende in das Teutsche übersetzet wurde. In: ders.: Irrdische Flora, S. 305 - 342. Das Stück lag Fürer bereits in einer 1687 erschienenen (anonym verfaßten) Übersetzung vor. Vgl. Meyer: Bibliographia dramatica, S. 134, der zu Fürers Übertragung bemerkt hat: »Unbekannt ist auch, ob dieser Text jemals aufgeführt] worden ist und ob dazu eine neue Komposition verfertigt wurde«. [Christoph Fürer von Haimendorf]: Kleine Op[e]rette. Der Vergnügte Traum oder Die küßende Diana. In: ders.: Irrdische Flora, S. 343-354. Vgl. auch Meyer: Bibliographia dramatica, S. 134f. [Christian ä Gletelberg]: Eryfila. Oder Die Verrathene Zauber= und Wahrsager= Kunst: Welche Jn einem überaus lustigen Sinn= und Lehr=reichen Schau=Spiel von denen Könglichen Schauspielern in Frankreich der heutigen betrigerischen Welt fürgestellet und prasentirt worden. Nürnberg 1680. Vgl. ebd., fol. [ ) : ( ) : ( ) ( » - ) : ( ) : ( ) ( ? ] .
436 sehe Belehrung abzielenden Stück um die als »Ertz=Aeffin deß Teufels«217 titulierte Zauberin Eryfila und um allerlei Verwirrungen, Zauber- und Wahrsagerei, Gespenster, schwarze Kunst sowie den Teufel, der Tiere in Menschen verwandelt: E s ist und bleibt ein Lust=Spiel / in dem Wahr=sagen hier als Mahr=sagen / Geheim=Geister als Träum=Geister / Hand= und Stirn=Deutungen als Tand= und Hirn=Theidungen / und mit einem Wort / unter Zäuberern und Räubern / wie sie hierin beschrieben werden / kein andrer Unterschied gemacht wird / als daß diese mit offenbarer Gewalttätigkeit / jene mit allerhand verdeckten Räncken und heimlichen Griffen / die Leut um das Jhrige bringen. 218
5.3. Formen und Funktionen theatraler Kleinformen im kulturellen Leben der Reichsstadt anhand von Aufführungsbeispielen im Rahmen von Musikkränzen Theater und theatrale Kunst realisierten sich im Nürnberg des 17. Jahrhunderts keineswegs nur auf großen Bühnen und in öffentlichen Spielhäusern. In nicht unerheblichem Maße wurde die Theaterkultur geprägt von Stücken kleineren Umfangs, die oftmals unter Bezeichnungen wie »Aufzug« oder »Stück-Aufzug« im >halb-öffentlichen< Rahmen geladener Gesellschaften dargeboten wurden. Meistens waren diese Aufführungen Bestandteile oder gar Höhepunkte bestimmter Festlichkeiten, für die einzelne Personen oder Ereignisse den Anlaß gaben. Dabei zeigt sich abermals, in welchem Maße im 17. Jahrhundert theatrale Formen Casualfunktionen erfüllen konnten. Aufgrund der oftmals gegebenen Anlaßgebundenheit versagen gerade hier in vielen Fällen die gängigen Gattungseinteilungen und -begriffe, da sich die formalen Konkretisierungen der einzelnen, bisweilen nur halbszenischen Darbietungen erst aus der spezifischen Aufführungssituation und ihrem Anlaß ergeben und nur aus diesen heraus zu verstehen sind. Mit zwei ausführlicheren Beispielen sowie einem Exkurs sei das oftmals vernachlässigte Phänomen theatraler Klein- und Kleinstformen als Teil urbaner Festkultur vorgestellt.
217 218
Ebd., fol. [ ) : ( ) : ( v v ] , Ebd., f o l . ) : ( i i f v.
437 BEISPIEL 1:
Johann Ludwig Fabers und Johann Löhners Kurzopern für die geselligen Zusammenkünfte der Handelsleute (1675/76)
Der Reichskrieg gegen Frankreich hatte die auf den rauschenden Friedensfeiern am Ende des Dreißigjährigen Krieges an vielen Orten geäußerte Hoffnung auf einen längeren Frieden rasch zerstört und seit etwa Mitte der 1670er Jahre weite Teile des Alten Reichs wieder in seinen Bann gezogen. Diese kriegerischen Auseinandersetzungen hatten auch Nürnberg auf vielfache Weise betroffen: Jahrelang war in dieser Zeit das Bild der Reichsstadt abermals geprägt von Truppendurchzügen, Winterquartieren, Material- und Proviantleistungen sowie Handelsbeschränkungen.219 In erheblichem Maße war das gesellschaftliche Leben in dieser Zeit betroffen von den Kriegsereignissen und ihren Folgen, und insbesondere die Abhaltung öffentlicher Lustbarkeiten wurde während der Kriegsjahre merklich eingeschränkt: Mehrere Spielzeiten lang blieben die beiden Theater Nürnbergs geschlossen, durch die kriegsbedingte Pause war das Nachtkomödienhaus regelrecht verwaist und renovierungsbedürftig geworden. Vom Frühjahr 1674 bis zum Friedensschluß von Nimwegen Anfang 1679 sah man nur im Hochsommer 1676 ein einziges, kurzes Gastspiel der Wandertruppe Carl Andreas Paulsens im Fechthaus. Und auch hier bestätigt die Ausnahme die Regel. Denn andere, zwischenzeitlich ankommende Gesellschaften wurden mit dem Hinweis auf die »jetzige unglückhafte Zeit«220 wieder abgewiesen.221 Doch trotz aller Belastungen und Beschränkungen kam das kulturelle Leben keineswegs völlig zum Erliegen und erlebte auch während der Kriegsjahre insbesondere im Bereich der theatralen Kunst neue Impulse, die für die weitere Geschichte der Nürnberger Barockoper von großer Bedeutung waren. Ihren Ausgangspunkt hatten diese Aktivitäten in den kulturellen Anstrengungen und geselligen Musikkränzen der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute«.
219 220 221
Siehe hierzu die Ausführungen in Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 4. StaatsAN, RV Nr. 2719 vom 9. Mai 1676, fol. 42v. Dabei ging es dem Rat auch darum, daß die Obrigkeit durch Genehmigung von Schauspielen und anderen Lustbarkeiten auswärts nicht den Eindruck erwecken wollte, man sei in Nürnberg vom Krieg kaum betroffen und könne deshalb noch Lasten auf sich nehmen. So begründete man etwa die abermalige Ablehnung des Spielgesuchs der Truppe von Valentin Hering mit dem Hinweis: »zumalen es sonsten anderer orten das ansehen gewinnen werde, als hette man diese Winterquartier schon verschmerzet und ein mehrere bei diesen ohne das kümmerlichen Zeiten zu praestiren capable were« (ebd., RV Nr. 2720 vom 6. Juni 1676, fol. 66v).
438
Anregungen zur Oper Wie bereits dargelegt, fand die Pflege von Musik und Dichtkunst unter Nürnbergs Großkaufleuten im 17. Jahrhundert ein reges Interesse, und mehrere von ihnen erwiesen sich als ausgesprochene Förderer dieser beiden Künste, deren gemeinsame Ausübung seit Gründung der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« ein wichtiger Bestandteil ihrer geselligen Zusammenkünfte gewesen war. In diesen Musikkränzen versammelten sich führende Musiker der Reichsstadt und renommierte Dichter und Gelehrte.222 Es ist gut denkbar, daß in dieser Runde neben der gemeinsamen Musikübung und dem Rezitieren von Gedichten auch poetologische und musiktheoretische Fragen diskutiert wurden, gerade im Hinblick auf die Möglichkeiten der Verbindung von Musik und Dichtung, die insbesondere in den Reihen des den Handelsleuten nahestehenden Pegnesischen Blumenordens als »Schwesterkünste« galten.223 Dabei hatte die Verbindung der beiden Künste lange Tradition im Musikleben der Reichsstadt. Bereits in den im 16. Jahrhundert gegründeten Musikgesellschaften Nürnbergs pflegte man sowohl die lateinische als auch die deutsche Dichtung und diskutierte über Probleme der Dichtungstheorie.224 Nicht zuletzt dürfte in dem Kreis der Musikkränze sicherlich die Erinnerung an Harsdörffers und Stadens Oper Seelewig noch lebendig gewesen sein immerhin ist in der Person von Sigmund von Birken ein bedeutender Zeuge aus dieser Frühzeit der deutschsprachigen Oper als regelmäßiger Gast bei den Musikübungen der Handelsleute bezeugt. Vor diesem Hintergrund verwundert es jedenfalls nicht, daß man schon bald in diesem Kreis ein lebhaftes Interesse an der Oper entwickelte, wie die seit Mitte der 1670er Jahre nachweisbaren Anstrengungen aus dem Umfeld der Handelsleute verdeutlichen, auch in Nürnberg musikdramatische Formen auf die Bühne zu bringen. Anregungen mögen sie neben dem bereits skizzierten Austausch zwischen Dichtern und Musikern in den geselligen Musikkränzen noch auf andere Weise erfahren haben: So dürften einige der Kaufleute bereits auf ihren Reisen Opernaufführungen aus eigener Anschauung kennengelernt haben, die intensiven Verbindungen Nürnberger Kaufleute nach Wien und Italien in dieser Zeit sind jedenfalls bekannt. Zumindest von einem Mitglied der Großkaufleute ist belegt, daß es italienische und französische Opern »nicht nur gelesen / sondern auch auf ihren Bühnen gehört«225 habe. Doch auch in der Reichsstadt selbst gab es vor dem Ausbruch des Reichskrieges gegen Frankreich mehrfach Gelegenheit, Bearbeitungen italienischer 222 223 224 225
Siehe hierzu Teil B, Kap. 5.1. Vgl. Teil A, Kap. 3. Vgl. ebd. So Christoph Adam Negelein in der Vorrede zu seinem Libretto »Arminius«. Vgl. Teil B, Kap. 5.4.1.a, dort die genaue bibliographische Angabe für das Zitat.
439 Opernvorlagen auf der Bühne zu sehen. Seit 1668 besaß man in der Stadt ein eigenes überdachtes Theater, das über die zur Inszenierung von Barockopern notwendige Bühnentechnik verfügte und schon bald hierfür ausgiebig genutzt wurde: Noch im Eröffnungsjahr gastierte unter anderem die bekannte Truppe von Michael Daniel Treu in der Reichsstadt und stellte ihr (verglichen mit den Spielplänen der Englischen Komödianten) neuartiges Repertoire vor, das neben den noch weitgehend unbekannten spanischen Stücken insbesondere mehrere Adaptionen italienischer Opern beinhaltete.226 Die sicherlich noch vorhandene Erinnerung an Harsdörffers und Stadens Seelewig, der rege Austausch mit Dichtern und Musikern in den geselligen Musikkränzen, die eigene Kenntnis von Opernaufführungen auf Reisen sowie die Eröffnung des neuen Theaters und die Gastspiele von Wanderbühnen - all dies mag Anreize gegeben haben, Anreize allerdings, die bei den Handelsleuten bereits auf ein bestehendes Interesse am Theater trafen, wie eine Episode aus dem Eröffnungsjahr des neuen Schauspielhauses zeigt, die erstmals von Theaterunternehmungen aus dem Umfeld der Handelsleute berichtet: Kurz nachdem das Nachtkomödienhaus seine Pforten geöffnet hatte, genehmigte der Rat Anfang März 1668 »denen Handelsleuten und Consorten« die Vorstellung einer Komödie im neu errichteten Theater, die sie zuvor bereits in einem Privathaus am sogenannten Roßmarkt dargeboten hatten. 227 Leider ist über die beiden Aufführungen oder die beteiligten Personen nichts weiteres bekannt. Da jedoch der Roßmarkt (heute Adlerstraße) ehemals zu den »vorzüglichsten Plätzefn] oder Strassen mit den schönsten Häusern« 228 der Stadt gehörte und hier die großen Handelshäuser Nürnberger Kaufleute standen, ist es sehr wahrscheinlich, daß hinter den im Ratsverlaß genannten Handelsleuten die vermögenden und ehrbaren Großkaufleute zu sehen sind und die Aufführung von ihren Reihen ausging.229 Man wird jedenfalls darin
226 227 228 229
Siehe hierzu die Ausführungen in Teil B, Kap. 1. Vgl. StaatsAN, RV Nr. 2609 vom 5. März 1668, fol. 61v. Nopitsch: Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg, S. 139. Ein Indiz hierfür könnte eine Notiz in Sigmund von Birkens Tagebuch liefern: So vermerkte der Dichter am 25. November 1667: »H[err] Bartholomäus] Viatis, cum Vedt[er] Cornfelius] eingesprochen] die Comoedie Liebes-Sieg recomm[endiert]« (Birken: Tagebücher, Bd. 1, S. 323). Und nur kurze Zeit darauf heißt es: »M[onsieur] Viatis die Comoedi wieder abgeholt« (ebd., Eintrag vom 14. Dezember 1667, S. 326). Es ist auffallend, daß nur wenige Monate vor der überlieferten Aufführung der Handelsleute zwei Mitglieder einer Großkaufmannsfamilie beim angesehensten Dichter der Stadt vorsprechen und sich über aktuelle italienische Theaterstoffe unterhalten. Denn bei dem erwähnten Stück »Liebes-Sieg« handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine Übersetzung des 1651 aufgeführten »dramma musicale« »Gli amori di Alessandro Magno, e di Rossane« von Giacinto Andrea Cicognini, das in Deutschland auf den Wanderbühnen unter dem Titel »Liebes Sieg Alexandri des Grossen und Rossane« große Verbreitung fand. Vgl. Martino: Sprachraum, S. 91f. Möglicherweise war die Übersetzung das Stück, das dann im März 1668 von den Handelsleuten aufgeführt wurde.
440 wohl nicht fehlgehen, in der Nachricht ein Indiz für das Interesse zu sehen, das die Handelsleute dem Theater seit etwa Ende der 1660er Jahre verstärkt entgegenbrachten. Gleiches gilt vermutlich auch für die von Johann Gabriel Meyer verfertigte Übersetzung der kaiserlichen Prunkoper II pomo d'oro, deren Entstehung möglicherweise in engem Zusammenhang mit den gesellig-musikalischen Vereinigungen der Kaufleute und von Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens steht (siehe oben Teil B, Kap. 5.2.). Am deutlichsten zeigt sich das Interesse an der Kunstform Oper schließlich in den Darbietungen musikdramatischer Kleinformen aus dem Umfeld der Handelsleute und des Pegnesischen Blumenordens, die durch erhaltene Texte nachweisbar sind. Denn nur wenige Jahre nach Gründung der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« machten sich Mitte der 1670er einige ihrer Mitglieder daran, selbst erste Versuche auf dem Gebiet der Oper zu wagen. Unter Mitwirkung von befreundeten bzw. engagierten Dichtern und Musikern gingen sie daran, zu festlichen Anlässen im geselligen Kreis ihrer Musikkränze mehrere kurze, speziell für diesen Rahmen verfaßte Stücke aufzuführen, bei denen der Musik als Gestaltungsmittel mehr als nur eine begleitende oder schmückende Funktion zukam. Diese Darbietungen sollten später die Grundlage für Opernunternehmungen bilden, die aus dem Kreis der Handelsleute in Zusammenarbeit mit Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und in der Stadt ansässigen Musikern in den zwei darauffolgenden Jahrzehnten verwirklicht wurden. Ein eingespieltes Team: Johann Ludwig Faber und Johann Löhner Als Initiatoren, Veranstalter und wohl auch Geldgeber dieser Stücke erscheinen in den Widmungen die schon bekannten Namen von Großkaufleuten: darunter Johann Michael Mendtlein, Johann Zierl, die Gebrüder Götz und insbesondere Michael Martin Finn. Mit der Ausarbeitung der Texte und Kompositionen beauftragten die Kaufleute zwei Männer, die nicht nur seit längerem mit deren geselligen Vereinigung in Beziehung standen, sondern die hierfür auch besonders geeignet und talentiert erschienen: zum einen der Dichter und Gelehrte Johann Ludwig Faber sowie zum anderen der Musiker und spätere Stadtorganist Johann Löhner. Der 1635 in Hersbruck bei Nürnberg geborene Johann Ludwig Faber war nach seiner Schulzeit am Egidiengymnasium und anschließender Studienzeit in Altdorf, Tübingen und Heidelberg zunächst an Schulen in Öttingen und Hersbruck, schließlich seit 1670 bis zu seinem Tod 1678 als Lehrer am Egidiengymnasium in Nürnberg angestellt.230 Aufgrund seiner »großen Ge230
Zu Johann Ludwig Faber siehe Herdegen: Historische Nachricht, S. 284- 287; NGL1 (1755), S. 368f., u. 5 (1802), S. 304f.; ADB 6 (1877), S. 495, sowie Renate Jürgensen: Faber, Johann Ludwig. In: LL 3 (1989), S. 317f.
441 schicklichkeit in der deutschen und lateinischen Dichtkunst« 231 wurde er 1664 durch Sigmund von Birken als »Ferrando I.« in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen und vier Jahre später von demselben zum Dichter gekrönt. Neben mehreren Gelegenheitsgedichten, Hirtengedichten, Verserzählungen und Übersetzungen war Faber auch durch Liederdichtungen in Gesangbüchern hervorgetreten und wurde in den siebziger Jahren »einer der aktivsten Nürnberger Dichter«. 232 Darüber hinaus war der gelehrte Dichter der Musik kundig und ist zudem als Violinist und Sänger belegt. 233 Als besonders talentiert galt zu dieser Zeit der Musiker Johann Löhner, der 1645 in Nürnberg geboren wurde und seit Mitte der 1670er Jahre für mehr als ein Jahrzehnt zu einer der zentralen Figuren der Nürnberger Barockoper werden sollte. 234 In seiner Jugend erhielt Löhner unter anderem durch den Organisten Georg Caspar Wecker sowie möglicherweise durch den Stadtmusikus Gabriel Schütz Unterricht im Instrumentenspiel. Von 1665 an spielte er etwa fünf Jahre lang unentgeltlich das Regal in der Sebalduskirche und sang als Tenorist in verschiedenen Kirchen Nürnbergs. Um sich »in der music desto beßer zu perfectioniren«, 235 begab sich der angehende Musiker 1670 auf eine längere Studienreise, die ihn nach Wien, Salzburg und Leipzig führte. Währenddessen lernte er in Wien vielleicht auch die dortigen Opernproduktionen von Antonio Draghi und Nicolö Minato kennen - später sollte Löhner von letzterem ein Libretto vertonen. Nach einer Anstellung als Tenorist in Bayreuth kehrte er wieder nach Nürnberg zurück, wo er seit dem Frühjahr 1672 ein Wartgeld in Höhe von 25 fl. für eine nicht näher bezeichnete Stellung erhielt. Nachdem er 1682 das Organistenamt an der Spitalkirche erhalten hatte, folgte Löhner dem 1694 verstorbenen Albrecht Martin Lunßdörffer als Organist an St. Lorenz nach und stieg dadurch zu einem der führenden Musiker der Reichsstadt auf. Zum Zeitpunkt der Auftragsarbeiten für den Musikkranz der Handelsleute war Löhner allerdings noch verstärkt auf Förderung angewiesen, wobei er insbesondere in dem Musikliebhaber Sigmund von Birken einen Gönner gefunden hatte, der mit dem jungen Musiker in einem engen (und wohl auch freundschaftlichen) Verhältnis stand. Birken hatte Löhner auf verschiedene Weise Unterstützung zukommen lassen und Beziehungen zu Mäzenen und
231 232 233 234
235
N G L 1 (1755), S. 368. Jürgensen: Utile cum dulci, S. 48. Vgl. Birken: Tagebücher, Bd. 1, Eintrag vom 24. März 1668, S. 355. Zu Johann Löhner siehe Harold E . Samuel: Löhner, Johann. In: M G G 8 (1960), Sp. 1 0 9 7 - 1 1 0 0 ; ders.: Cantata in Nuremberg, S. 4 5 - 4 9 , sowie die materialreichen Ausführungen bei Braun: Einleitung, S. V I I - L H . So Johann Löhner in einem Gesuch an den Nürnberger Rat vom Mai 1672, in dem er seinen bisherigen Werdegang schilderte und um eine Unterstützung bat. Vgl. StaatsAN, Rep. 54a II: Nürnberger Stadtrechnungsbelege, Nr. 1087. Siehe auch Braun: Einleitung, S. X I V u. X V I I .
442 Förderern hergestellt.236 Der Präses des Pegnesischen Blumenordens war es möglicherweise gewesen, der Löhner Kontakt zu den Handelsleuten vermittelt hatte. Immerhin steuerte er eine programmatische Vorrede zu Löhners erster gedruckter (und mehreren Handelsleuten gewidmeten) Liedersammlung Geistliche Sing-Stunde bei, in der er den jungen Musiker lobte und der weiteren Förderung empfahl (siehe Teil B, Kap. 5.1.). Und Löhner wiederum zeigte sich sehr an der Dichtkunst interessiert, beschäftigte sich wahrscheinlich mit mehreren von Birkens Schriften und schrieb sogar selbst Verse.237 Auf dem Titel des 1673 von Johann Löhner vertonten und unter anderen dem Handelsherren und >Pegnitzschäfer< Andreas Ingolstetter gewidmeten Andacht-Klangs nannte er sich selbst der Sing-dichtkunst Beflissene.23* Hierin formulierte er in seiner »Vorrede zum wehrten Leser« ein theoretisches Programm, das nicht nur mit den Zielen des Pegnesischen Blumenordens sowie den poetologischen Äußerungen der beiden Poetiker Harsdörffer und Birken übereinstimmte, sondern gleichsam auch als Leitidee für die Musikübungen und Opernbemühungen aus dem Kreis der Handelsleute gelten kann: Von den beyden Edlen Künsten / der Poesy und Musik / ist bekandt / in was naher und schöner Verwandschaft sie miteinander stehen. Ohne Singweise / ist ein Lied wie todt; und ohne Lied oder Text / ist der Thon eine leere Stimme: also gibt eines dem andern das Leben.239
Vor dem biographischen Hintergrund der beiden Künstler wird deutlich, warum die Wahl der Handelsleute auf Johann Ludwig Faber und Johann Löhner als Librettist und Komponisten fiel. Beide galten um die Mitte der 1670er Jahre in Nürnberg als talentierte Fachleute auf dem Gebiet der Verbindung von Musik und Dichtkunst, wobei sich insbesondere Löhner seit der Veröffentlichung des Andacht-Klangs in der Stadt rasch den Ruf eines »Spezialisten für die Vertonung von sangbarer Dichtung«240 erworben hatte. Doch darüber hinaus dürfte noch eine Reihe weiterer Gründe für Faber und Löhner gesprochen haben: So hatten beide bereits zusammengearbeitet und waren ein im wahrsten Sinne des Wortes eingespieltes Team.241 Zudem besaßen (wie schon angedeutet) sowohl der Dichter als auch der Musiker schon 236
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240 241
Siehe hierzu den informativen Abschnitt »Löhner und Birken« bei Braun: Einleitung, S. X-XIII. Braun: Einleitung, S. XII, spricht von einem »indirekte[n] Poeterei-Studium«, das Löhner bei Birken betrieben habe. Johann Löhner: Der Geistlichen Erquickstunden des Fürtrefflichen Theologi H. Doct. Heinrich Müllers [...] Poetischer Andacht-Klang: von denen Pegnitz-Blumgenossen verfasset; und in Arien gesetzet durch Johann Löhner der Sing-dichtkunst Beflissenen. Nürnberg 1673. Ebd., fol.):(iv v . Zum »Andacht-Klang« siehe auch Wölfel: Gesangbuchgeschichte, S. 74-76. Braun: Einleitung, S. XII. Johann Löhner hatte 1672 zu Johann Ludwig Fabers vier »Trauer= und Trost=Liedern« die Kompositionen beigesteuert. Vgl. Samuel: Cantata, S. 453.
443
seit längerem enge Kontakte zu dem Kreis der vordersten Handelsleute und deren geselliger Vereinigung: Während Löhner seine Geistliche Sing-Stunde mehreren Handelsleuten gewidmet hatte, war Faber unter anderem mit einem Begleitgedicht an dem Hochzeitlichen Ehren= und Freuden=Fest für den Gold- und Silberdrahthändler Johann Christoph Götz beteiligt gewesen. Nicht zuletzt sind beide als ebenso häufige wie gern gesehene Gäste bei den Musikkränzen der Handelsleute bezeugt.242 HERODES Der Kinder=Mörder Den Auftakt von insgesamt drei Stücken, die Johann Ludwig Faber und Johann Löhner gemeinsam in den Jahren 1675 und 1676 für den geselligen Kreis der Großkaufleute schrieben, bildete ein HERODES Der Kinder= Mörder, der von ihnen nach Art eines Sing-Spiels auf das kürzeste verfasset243 wurde. Wie der Untertitel nahelegt, hatte man bei der Konzeption und Vorstellung des Stücks offenbar das Modell der Oper im Auge gehabt. Denn der deutsche Begriff >Singspiel< meint im 17. Jahrhundert nichts anderes als Oper mit deutschsprachigem Libretto. In der modernen Forschung war man sich lange Zeit nicht einig über die Verwendung des Ausdrucks und gebrauchte ihn zum Teil in sehr unterschiedlichen Bedeutungen: So konnte mit >Singspiel< ein in erster Linie gesprochenes, jedoch mit verschiedenen musikalischen Einlagen und gesungenen Partien versetztes Stück bezeichnet werden 244 oder aber auch eine »Unterhaltungsform« gemeint sein, »die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als das vom Bürgertum getragene Gegenstück zur höfischen Oper entwickelt wurde«.245 Angesichts solch divergierender Definitionsversuche verwundert es nicht, daß man schon mehrfach die Unschärfe einer Bezeichnung beklagte, die »alles und nichts bedeuten kann«.246 Doch der Unklarheit in der Forschungsliteratur steht zumindest für den hier behandelten Zeitraum ein eindeutiger historischer Gebrauch des Aus242 243
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Siehe hierzu oben Teil B, Kap. 5.1. Johann Ludwig Faber u. Johann Lohner: HERODES / Der Kinder=Mörder nach Art eines Sing-Spiels auf das kürzeste verfasset und Einer Namhafft=Löblichen Gesellschafft / als der edlen Dicht=Sing=Kunst besondern Liebhaberen / Zu glückseeligem Eingang deß 1675ten Jahrs Danckschuldigst und dabey wohlmeinend überreicht [...]. o.O. o.J. [Nürnberg 1675]. Im folgenden als »Herodes« zitiert. Vgl. Hans Michael Schletterer: Das deutsche Singspiel von seinen ersten Anfängen bis auf die neueste Zeit. Hildesheim, New York 1975 (Ndr. der Ausgabe von 1863) (Zur Geschichte dramatischer Musik und Poesie in Deutschland, Bd. 1), S. 1. In diesem Sinne noch Stefan Kunze: Singspiel. In: 2 RL 3 (1977), S. 830-841. Renate Schusky: Das deutsche Singspiel im 18. Jahrhundert. Bonn 1980 (Gesamthochschule Wuppertal, Schriftenreihe Literaturwissenschaft, Bd. 12), S. 1. Hans-Albrecht Koch: Das deutsche Singspiel. Stuttgart 1974 (SM 133), S. 28. Siehe auch die Diskussion bei Alexander: Barockdrama, S. 158-160, der ebenfalls betont hat: »Über den Begriff >Singspiel< selbst herrscht kein Konsens« (ebd., S. 159).
444 drucks >Singspiel< durch die Zeitgenossen entgegen. Zu Recht ist deshalb in jüngster Zeit sowohl von literatur- als auch musikwissenschaftlicher Seite betont worden, das Singspiel sei im 17. Jahrhundert und noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Dichtern und Musikern gleichermaßen als deutschsprachiges Äquivalent zur italienischen opera bzw. zum dramma per musica verstanden worden und man habe den Terminus verwandt, um die vom gesprochenen Drama unterschiedene, neuartige musikdramatische Kunstform der Oper zu kennzeichnen.247 In diesem Sinne hatte unter anderem schon Georg Philipp Harsdörffer als einer der ersten in Deutschland den Ausdruck zur Charakterisierung seiner Seelewig gebraucht, in der alle Personen singend auftraten und man von daher »dieses Waltgedicht wol ein Singspiel heissen«248 könne. Vor dem Hintergrund des historischen Wortgebrauchs legt die im Titel des Herodes gewählte Gattungsbezeichnung »Sing-Spiel« nahe, daß Johann Ludwig Faber und Johann Löhner bei ihrem Herodes ebenfalls die Gattung der Oper als Vorbild vor Augen hatten. 249 Allerdings war das Stück nur nach Art eines Sing-Spiels und auf das kürzeste abgefaßt worden, wie es im Untertitel ausdrücklich heißt. Der Herodes sollte demnach keine reguläre, vollständig ausgearbeitete Oper darstellen, sondern er war vielmehr in Anlehnung an das Modell >Singspiel/Oper< konzipiert - und dies dürfte in erster Linie bedeuten, daß das Stück singend vorgestellt wurde und vollständig durchkomponiert war, die Musikstücke also nicht nur begleitende Beigabe waren, sondern auch ein tragendes Element der musikdramatischen Konzeption bildeten. Von daher läßt sich der Herodes durchaus als eine Art Kurzoper bezeichnen,250 wobei die knappe Ausführung wohl auf den Gelegenheitscharakter des Stücks zurückzuführen ist (siehe unten). Die spezifische Form des Herodes als ein »auf das kürzeste« verfaßtes Singspiel schlägt sich auch im schmalen Umfang des insgesamt nur aus vier Folioseiten bestehenden Drucks nieder. Und ganz entsprechend dem Hinweis im Titel auf die knappe Durchführung besteht das Stück lediglich aus einem, im Druck knapp 100 Zeilen umfassenden Aufzug, der sich aus neun 247
Siehe hierzu jetzt die klärenden Ausführungen bei Joachim Reiber: Singspiel. In: MGG Sachteil 8 (1998), Sp. 1470-1489, bes. Sp. 1470, sowie Wade: Poetics of the Singspiel, S. 77-85. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Teil IV, S. [82]. Zu korrigieren ist damit die noch jüngst von Renate Jürgensen: Faber, Johann Ludwig. In: LL 3 (1989), S. 318, vertretene Auffassung, daß Fabers Stücke »von Schülern des Egidien-Gymnasiums aufgeführt wurden«. So erneut in: dies.: Utile cum dulci, S. 48, wo die nicht weiter verfolgte Vermutung geäußert wird, daß Faber versucht habe, »die Tradition des Schultheaters wiederzubeleben«. In diesem irrtümlichen Sinne bereits zuvor Brockpähler: Handbuch, S. 301, die (offenbar aus mangelnder Textkenntnis) ebenfalls mutmaßte, daß Fabers Stücke »als Schulspiele aufgeführt worden sind«. Für Hinweise danke ich Herrn Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Hirschmann, Erlangen. 2
248 249
250
445 aufeinanderfolgenden Nummern zusammensetzt und die biblische Episode des Kindermordes zu Betlehem in geraffter Form wiedergibt, wobei Faber für die einzelnen Partien durchaus sangbare Verse (hauptsächlich drei- und vierhebige Trochäen) verwendete:251 Den Auftakt macht eine »von Saiten= Spielen starckbesetzte Sonate«, es folgen der Einzug der drei Könige aus dem Morgenland mit ausdrücklichem Verweis auf Matthäus 2,2 und fast wörtlichem Zitat aus der entsprechenden Bibelstelle252 sowie daran anknüpfend der Auftritt des tobenden und von Rache an dem neugeborenen Kind erfüllten Herodes (20zeilige Strophe). Diesem schließt sich eine Partie an mit einer eng zusammenhängenden Dreier-Sequenz aus den Nummern Trompeter - Soldaten - Trompeter, die gleichsam die Ausführung des von Herodes angeordneten >Mordbefehls< versinnbildlichen (sechs-, acht- und sechszeilige Liedstrophen). Anschließend erscheinen die »Bethlemitischen Weiber« und beklagen das durch Herodes verursachte und über das Land gebrachte Leid (24zeilige Strophe), worauf zwei Chorpartien das Stück beenden: zunächst ein »Chor der Sänger« (achtzeilige Strophe) sowie abschließend »Der gesamte Chor von Stim[m]en und Saiten-Spielen« (vier vierzeilige Strophen aus paargereimten Daktylen). Gelegenheitscharakter Diese geringe Dimensionierung des Stücks mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, sie dürfte jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem spezifischen Gelegenheitscharakter und der besonderen Aufführungssituation des Herodes resultieren, der als ein signifikantes Beispiel für die vielfältigen Konkretisierungsmöglichkeiten barocker Gelegenheitsdichtung und ihrer Casualfunktionen gelten kann. Das Stück war nicht für eine großangelegte, öffentliche Aufführung in einem Theater der Stadt gedacht, was auch angesichts der herrschenden Kriegssituation und der obrigkeitlich verordneten Spielpause nicht zu realisieren gewesen wäre. Der Herodes sollte vielmehr in dem Kreis eines geselligen Musikkranzes mit vergleichsweise geringem Aufwand und im begrenzten Rahmen vor geladenen Gästen dargeboten werden, als eine konsolatorische Abwechslung angesichts der sonst wenig erfreulichen Zeitumstände dienen, worauf das Widmungsgedicht von Johann Ludwig Faber verweist: »Der Krieges=Kram bringt nur Verletzen /1 die Geigenbögen Euch erGötzen«. 2 5 3 Für diese Kurzweil gab es aber auch einen ganz konkreten Anlaß, wofür abermals der Titel des Herodes aufschlußreich ist. Demnach wurde das Stück 251 252
253
Vgl. auch die Beschreibung bei Braun: Einleitung, S. XVIII. Vgl. Herodes: fol. [2r]: »Matth. 2. Wo ist der neugebohrne König der Jüden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland / und sind kommen/ Jhn anzubeten«. Ebd., fol. [l v ] (Hervorhebung im Original).
446 einer Namhafft=Löblichen Gesellschaft / als der edlen Dicht=Sing=Kunst besonderen Liebhaberen / zu glückseeligem Eingang deß 1675ten Jahrs überreicht. Der chronologische Hinweis auf den Jahresbeginn ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Denn die Angabe zu glückseeligem Eingang deß 1675ten Jahrs stimmt wohl nicht nur zufällig mit dem Zeitpunkt der jährlichen >Hauptversammlung< der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« überein, bei der stets zu Beginn des Januars um den Dreikönigstag herum das neue Haupt der Gesellschaft (der »Bohnenkönig«) für das jeweils kommende Jahr mittels eines scherzhaften Losspiels bestimmt wurde.254 Es ist von daher sehr wahrscheinlich, daß das Stück speziell zur Feier dieses für die Gesellschaft wichtigen Anlasses verfaßt wurde und wohl unmittelbar im Anschluß an dieses Ereignis im Rahmen eines der geselligen Musikkränze der Kaufleute dargeboten wurde.255 Allerdings stellte diese Aufführung keine gegen Eintritt allgemein zugängliche und publik gemachte Veranstaltung dar (worauf das Fehlen eines Belegs für eine öffentliche Vorstellung in den Ratsverlässen hinweist), sondern es dürfte sich vielmehr um eine >halb-öffentliche< Aufführung im geschlossenen Kreis gehandelt haben, bei der neben den beteiligten Musikern sowie Mitgliedern des Kranzes auch Gäste und Freunde eingeladen waren, wie dies bereits bei >regulären< geselligen Musikübungen dieses Kreises der Fall war. Als Aufführungsort diente dabei höchst wahrscheinlich entweder einer der großen Musiksäle in den vornehmen Kaufmannshäusern oder möglicherweise die »Herrentrinkstube«, zu der die Großkaufleute Zutritt hatten und von der Christian Nopitsch 1801 noch zu berichten wußte, daß sie »zu Concerten, Musikkränzen und Schauspielen gebraucht wird«.256 In beiden Fällen wird man sich als Spielfläche eine Art Saalbühne aus einem einfachen, schnell auf- und abzubauenden Holzgerüst oder Podest vorzustellen haben, das nur eine einfache Ausstattung besaß - zumindest legt dies die Tatsache nahe, daß in allen drei Libretti so gut wie keine Anweisungen zu Dekoration oder Bühnenbild gegeben werden. Über die Besetzung der Rollen ist nichts Weiteres bekannt, sie dürften aber möglicherweise von einzelnen Teilnehmern der Musikkränze übernommen worden sein. Zumindest von Johann Ludwig Faber ist überliefert, daß er sich als talentierter Sänger hervortat.257
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Siehe oben Teil B, Kap. 5.1. Dies bestätigt auch die Angabe des Anlasses in der Widmung des dritten Stücks, das ein Jahr später, zu Jahresbeginn 1676, aufgeführt wurde (siehe unten). Nopitsch: Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg, S. 62. Vgl. Braun: Einleitung, S. XIX.
447 Herodes als Exempel Der spezifische Gelegenheitscharakter des Stücks bestimmte jedoch nicht allein die Sujetfügung, sondern war auch bereits bei der Wahl des Stoffes ausschlaggebend. Denn die Herodes-Geschichte gehört nicht nur ganz allgemein dem Kirchenjahr nach unmittelbar in die zeitliche Nähe des Dreikönigstags, sondern ihr kam ferner ein bedeutsamer exemplarischer Charakter zu.258 Der Geschichtsauffassung des 17. Jahrhunderts entsprechend, die der Historie keinen eigenständigen Wert beimaß, sondern in ihr lediglich das Allgemeine und Überzeitliche sowie im historischen Faktum stets den »Exemplum«-Charakter suchte,259 galt auch die Herodes-Figur weniger als konkrete historische Person denn als Exempel des Tyrannen schlechthin, der von unkontrollierten Affekten beherrscht ist und nicht zuletzt deshalb durch die Rache Gottes sein schreckliches Ende findet. Für die Zeitgenossen war die Gestalt des Herodes, wie schon Walter Benjamin feststellte, das »Emblem der verstörten Schöpfung«, der »wahnwitzige Selbstherrscher [...], ausbrechend in der Raserei wie ein Vulkan und mit allem umliegenden Hofstaat sich selber vernichtend«.260 Doch in dem Maße wie die Herodes-Figur vor allem auf dem Theater des 16. und 17. Jahrhunderts zum Prototyp des Bösewichts und blutgierigen Tyrannen wurde, konnte das von ihm heimgesuchte Palästina als Sinnbild eines unschuldig geplagten Landes schlechthin fungieren. Von daher eignete sich die Darstellung der Herodes-Geschichte und des Kindermords zu Betlehem insbesondere als Anspielung und Deutung von zeitgenössischen kriegerischen Ereignissen. Schon Andreas Gyphius hatte in seiner Jugendzeit Anfang der 1630er Jahre in zwei seiner lateinischen Epen die Herodes-Figur behandelt und dabei unter 258
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Zum Herodes-Stoff siehe allgemein die Übersicht bei Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, S. 324-327, sowie Marcus Landau: Die Dramen von Herodes und Mariamne. In: Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte N.F. 8 (1895), S. 175-212, 279-317, u. 9 (1896), S. 185-223. Geschichte ist den Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts - dem Diktum Ciceros nach - in erster Linie eine »Lehrmeisterin des Lebens« (»historia magistra vitae«). Dementsprechend fungierte die Disziplin der Geschichte vornehmlich als Hilfswissenschaft und als Sammelbecken für Beispiele (>ExemplaKurzoper< hier den Sachverhalt sehr genau trifft. Denn der Abraham war nicht mehr nur »auf das kürzeste«, sondern auch nach Art »eines kurzverfassten Sing= Spiels« ausgearbeitet worden. Und tatsächlich ist das Stück gegenüber dem Herodes erheblich mehr ausgebaut und der Opernform angenähert: So ist es nicht allein vom Umfang her dreimal so lang, sondern besitzt auch eine deutliche und fast durchweg beibehaltene dialogische Struktur, in die alle Personen des Stücks einbezogen sind. Zudem ist gegenüber der relativ losen Nummernfolge im Vorgänger nun eine gewisse Szenenanordnung erkennbar, bei der sich folgende Auftritte ausmachen lassen: 276 Den Auftakt bilden als eine Art Ouvertüre 1. »süßklingende Saiten=Spiele / da Abraham Jhm [lies: sich, M. P.] noch den Himmel / gleichsam Geigen behangen / einbildet« 277 sowie die Reflexionen Abrahams über die Verheißungen Gottes, die ihm die Rolle des Stammvaters eines großen Geschlechts prophezeien. 2. Gott erscheint Abraham und befiehlt ihm die Opferung seines einzigen Sohnes. 3. Abraham im Kreise seiner Familie mit Sarah und Jsaac, die sich um den plötzlichen Jammer des Vaters sorgen. Es folgt 4. zunächst die Vorbereitung zur Reise, vorgestellt durch »eine Stille Geigen=Music«, währenddessen »sich Abraham
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Johann Ludwig Faber [u. Johann Löhner]: Abraham der Gros=glaubige und Jsaac der Wunder=gehorsame. Nach Art eines kurzverfassten Sing=Spiels Zur Fasten= Zeit des 1675ten Jahrs flirgestellet [...]. [Nürnberg 1675]. Im folgenden als »Faber/ Abraham« zitiert. Ebd., fol. [l v ]. Aus diesem Widmungsgedicht geht unzweifelhaft hervor, daß Johann Löhner, der auf dem Titelblatt nicht genannt ist, die Musik komponierte: »Fehlt meinem Jsac ja die Kehle /1 Jhm unser Lehner leiht die Seele« (ebd.). Vgl. auch die Beschreibung bei Braun: Einleitung, S. XIX. Eine knappe Inhaltsangabe gibt Fritz Reckling: Immolatio Isaac. Die theologische und exemplarische Interpretation in den Abraham-Isaak-Dramen der deutschen Literatur insbesondere des 16. und 17. Jahrhunderts. Diss. Münster 1962, S. 2121 Faber/Abraham, fol. [2r],
453 mit seinem Sohn zur Reise ausrüstet«, 278 worauf beide »Jm fortreisen« ihren Glauben in Gott durch ein gemeinsam vorgetragenes Lied »nach der bekandten Sing=Art: Was mein Gott will / gescheh allzeit« 279 zum Ausdruck bringen. 5. Vorbereitung des Opferaltars sowie nach gegenseitigem Zusprechen von Mut und Vertrauen der Entschluß zur Opferung, die jedoch 6. durch das Eingreifen Gottes verhindert wird, worauf Abraham ein Freudenlied anstimmt. Den Schluß bildet 7. der »völlige Chor« mit einer vierzeiligen Liedstrophe. Den Worten Fabers in der »Zueignungs=Schrift« zufolge hatte man zunächst sogar offenbar daran gedacht, das Stück in Form einer vollkommen ausgearbeiteten Oper zu realisieren und in einem größeren Rahmen auf die Bühne zu bringen, sich aber dann doch für die bereits bewährte Form der Kurzoper entschieden. 280 Der Grund für die Aufgabe des Plans lag aber wohl weniger in den notwendigen, jedoch nicht vorhandenen Geldmitteln, 281 da man schon rund ein halbes Jahr später (eine bislang nicht bekannte Tatsache) ein drittes Stück aufführte (siehe unten). Ausschlaggebend hierfür waren zum einen wohl eher die kriegerischen Zeitumstände, derentwegen das öffentliche Leben stark eingeschränkt und zudem Nürnbergs Theater über Jahre hinweg geschlossen waren, sowie zum anderen der spezifische Aufführungsanlaß, der eine prächtige Inszenierung wohl als nicht angemessen erscheinen ließ. Denn das Stück wurde zur Fastenzeit dargeboten, wie neben dem Titel das Widmungsgedicht Fabers unterstreicht: »Hier habt Ihr / singend zu vertreiben /1 Die sonstbetrübte Fasten=Zeit«. 282 Mit diesem Gelegenheitscharakter korrespondiert die Wahl des Stoffes, der sich besonders zur Vergegenwärtigung des Karfreitagsgeschehens eignete. Bereits seit der frühen christlichen Exegese erfuhr die Abraham-IsaakGeschichte aus dem Alten Testament eine differenzierte typologische Auslegung als Vorausdeutung auf den Kreuzestod Jesu Christi und erscheint in diesem Sinne auch in vielen geistlich-erbaulich geprägten Abraham-IsaakStücken des 16. Jahrhunderts. 283 Noch ganz in dieser Deutungstradition steht die Kurzoper von Faber und Löhner, bei der ebenfalls die typologische Funktion des Isaakopfers Mittelpunkt ist. Bereits in den Anfangsversen des Widmungsgedichts hatte Faber den präfigurativen Charakter der Isaak-Figur als Typos für den Erlösertod und die Auferstehung Christi betont: 278
Ebd., fol. [3r]. Ebd. 280 Ygj e bd., fol. [l v ]: Noch ausgeschmückter müßt Er stehen / Wann Er / wie anfangs wir gerneint / Zu einem Aufzug sollte gehen / Ein kurzer Aufzug hier erscheint [...]. 281 So Braun: Einleitung, S. XIX. 282 Faber/Abraham, fol. [l v ], 283 Siehe hierzu die grundsätzlichen Ausführungen bei Reckling: Immolatio Isaac, bes. S. 19ff. u. 43ff. 279
454 Der Himmlisch Jsaac wird gebunden / Das Opfer=Lamm sein Creutz=Holz trägt / Es eilen her die Marter=Stunden / Die Jhm der Vatter zugelegt / Der / todte Kinder zubeleben / Sein einigs Kind in Tod gegeben. 284
Diesem Deutungsmuster entsprechend wird im Stück immer wieder die ungebrochene Ergebenheit des schon im Titel als Wunder-gehorsam ausgewiesenen Jsaac in den Willen des Vaters betont, die ein wichtiges Element innerhalb der typologischen Deutung bildete. Eine etwas andere Akzentuierung liegt bei Abraham vor. Seine Charakterisierung im Titel als der Gros=glaubige verweist darauf, daß er vor allem als gläubig dargestellt wird. Hierfür ist von Bedeutung, daß schon innerhalb der christlichen Exegese und in den protestantischen Dramen des 16. Jahrhunderts der Opferbefehl Gottes als eine Prüfung im Glauben verstanden wurde.285 consolatio Der Aspekt der Prüfung spielt auch bei Faber eine wichtige Rolle, dessen Abraham mehrfach deutlich macht, daß der Opferbefehl Gottes eine von Gott auferlegte Prüfung darstellt, in der sich Glauben und Gehorsam bewähren müssen: So hebt etwa das von Abraham und Jsaac bei Aufbruch ihrer Reise gemeinsam angestimmte Lied mit den Versen an: Wie GOTTES Will ist / wollen wir in Furcht und Hoffnung schweben / Er menget Gall und Honig hier / Zu prüfen unser Leben. 286
Eine Verbindung zwischen Opferbefehl und Prüfung stellt auch das von Abraham nach dem erlösenden Eingreifen Gottes gesungene Freudenlied her, in dem es heißt: [...] Auf mein Sohn! Gott liebet uns Sey von Stricken los gewunden / Zeichen mein=und deines Thuns sind durch diese Prob gefunden / unser Opfer ist gerathen.287 284 285
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Faber/Abraham, fol. [l v ]. Abraham wird durch Gott geweissagt, daß er durch seinen einzigen Sohn Isaak zum Stammvater eines großen Geschlechts werden solle. Dem göttlichen Befehl zufolge muß er nun diesen einzigen Sohn opfern, was die Erfüllung der zuvor ausgesprochenen Verheißung unmöglich macht. Dennoch hält Abraham die Verheißung Gottes für wahr und läßt sich auch durch das Opfer nicht von seinem Glauben abbringen, wofür er schließlich von Gott belohnt wird. Zur Bedeutung des Opferbefehls als einer Glaubensprüfung siehe allgemein Reckling: Immolatio Isaac, S. 81f. u. passim. Faber/Abraham, fol. [3r]. Ebd., fol. [4V].
455 Nicht zuletzt stellt zum Schluß der Kurzoper der »völlige Chor« diesen Zusammenhang heraus, indem er in seiner Deutung des Stücks besonders den Gedanken der Prüfung betont: Ewig mit ewigem Ehren und Loben Werde die ewige Gottheit erhoben / Welche die Jhrigen drücket und presst / aber im Drücken ersticken nicht läßt. 288
Diese Hervorhebung des Aspekts des Leides und der Prüfung durch die abschließende Deutung des Chors legt nahe, daß sich die im Widmungsgedicht ausgesprochene Wirkungsabsicht der geistlich-religiösen Erbauung nicht allein in der Versinnbildlichung des Karfreitagsgeschehens erschöpft,289 sondern - wie schon der Herodes - vor dem Hintergrund der aktuellen Kriegssituation gleichfalls auf eine konsolatorische Wirkung abzielt. Denn neben dem Verlauf des Stücks weisen nicht zuletzt die Selbstdeutungen in den gesungenen Liedern sowie der Kommentar des Schlußchors Abraham als einen Menschen aus, der selbst in einer extremen Ausnahmesituation nicht von seinem Glauben und Handeln abrückt und sich trotz des drohenden Unheils als standhaft erweist. Anders als Herodes demonstriert er damit in vorbildlicher Weise die richtige Haltung zur Fortuna und die dem Christen angemessenen lügenden der »Constantia und patientia im Labyrinth der Welt«.290 Abraham wird dadurch zum Exempel belohnter Beständigkeit und zum nachahmenswerten Paradigma in Krisenzeiten: Gab die Figur des von Affekten beherrschten und daran zugrunde gehenden Herodes das negative Verhaltensmuster ab, so fungiert Abraham nun als das positive Gegen- und Vorbild, dessen exemplarischer Charakter durch die moralische und aufs Allgemeine abhebende Deutung des Chors unterstrichen wird. Es geht in der Kurzoper also auch um die grundsätzliche Frage nach der »Vergewisserung providentiellen Heils in allen Katastrophen«291 sowie um eine auf konsolatorische Wirkung abzielende »Einübung in die constantia«,292 der in diesem Fall eine politische Bedeutung zukommt. Zwar wird es diesmal im Stück nicht explizit ausgesprochen, doch der im Abraham betonte Aspekt des Leids und der Prüfung dürfte abermals auf die zeitgenössische Kriegssituation anspielen. Wie der Opferbefehl für Abraham ist auch der Reichskrieg als eine Prüfung zu verstehen, in der sich der Mensch zu bewähren habe. Daß dieser Bezug zur politischen Lage ebenfalls als Hintergrundfolie für die Wirkungsintention des Abraham zu sehen ist, legen jedenfalls nicht nur die Anspielungen auf den Reichskrieg im Herodes, sondern zudem das dritte,
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Ebd. So Reckling: Immolatio Isaac, S. 98 u. 213f. Krämer: Hallmann, S. 103. Schings: Consolatio Tragoediae, S. 38. Ebd., S. 36.
456 auf den Abraham folgende Stück nahe, das ebenfalls in seiner Darstellung auf die kriegerischen Zeitläufte abhebt. Ein Musikalisches Mischspiel für den »Bohnenkönig« Mit der Vorstellung der Kurzoper Abraham war die Zusammenarbeit zwischen Dichter, Musiker und der Kranzgesellschaft der Großkaufleute keineswegs beendet. Wie bislang kaum bekannt ist, wurde Johann Ludwig Faber nur knapp ein dreiviertel Jahr später von den Handelsleuten erneut mit der Ausfertigung und Vorstellung eines Spiels beauftragt, und man kann davon ausgehen, daß auch diesmal der Komponist Johann Löhner mit von der Partie war. Denn (wie schon in beiden vorangegangenen Stücken) spielte erneut die Verbindung von Musik und Dichtung eine entscheidende Rolle, wie der Titel des dargebotenen Stücks zeigt: Musikalisches Misch=Spiel: Oder Demokritus und Heraklitus.293 Die hier gegebene Gattungsbezeichnung »Musikalisches Misch=Spiel« dürfte in dieser Kombination im 17. Jahrhundert (soweit ersichtlich) selten sein. Dennoch sind beide Bezeichnungen durchaus aufschlußreich für die Konzeption des Stücks. Zum ersten: Zwar ist diesmal nicht, wie bei den Vorgängern, ausdrücklich von »Sing-Spiel« die Rede, doch die Betonung des musikalischen Charakters durch die attributive Hervorhebung läßt darauf schließen, daß wiederum das Modell der Oper als Vorbild diente. Hierauf deutet auch ein weiterer, äußerst signifikanter Zusatz im Untertitel hin. Demnach war das Stück in eine RednerischeSing=Art gesetzet worden. Von daher wird man diesen Text ebenso als ein zur Vertonung gedachtes Libretto ansehen können, was nicht zuletzt seiner sprachlichen Gestaltung entspricht. Denn durch die zumeist drei- bis vierhebige Versstruktur des Musikalischen Misch=Spiels läßt sich genau das erreichen, was Werner Braun im Zusammenhang des Herodes von Faber und Löhner als »Singbarmachung der Dichtung« 294 bezeichnet hat. Aufschlußreich ist zweitens die Bezeichnung »Mischspiel«. Sie wurde im 17. Jahrhundert und auch noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als deutsches Synonym für »Tragico-Comoedia« verwandt und bezeichnete dramatische Texte, in denen sowohl Elemente der Tragödie als auch der Komödie miteinander verbunden waren. 295 Wie bereits in Teil A, Kap. 4., darge-
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[Johann Ludwig Faber u. Johann Löhner]: Musikalisches Misch=Spiel: Oder Demokritus und Heraklitus / Einer namhafften Kräntzleins=Gesellschafft von sonderbahren Musik=Liebhabern zu glücklichen / und (GOtt gebe!) friedlichen Ein=Fort= und Ausgang deß 1676ten Heil= und Schalt=Jahrs: zu Ehren / und schuldigster Danck=bezeugung um viel im vorigen Jahr genossenen Gunst und Freundschafft erfunden Und in eine RednerischeSing=Art gesetzet, o. O. [1676]. Im folgenden als »Mischspiel« zitiert. Braun: Einleitung, S. XIX. Vgl. DWb 6 (1885), Sp. 2255f., s.v. >Mischspiek
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legt, konnten diese Mischungen verschiedener Art sein und sich etwa auf die Vermengung von hohem und niedrigem Personal oder auf ein Stück beziehen, in dem sich traurige und heitere Elemente die Waage halten, wobei dies oftmals in Aufnahme des Topos vom theatrum mundi mit dem Argument begründet wurde, daß in der Welt Freud und Leid stets gemeinsam vorkämen. So meint etwa Sigmund von Birken: »Die Welt ist eine Spiel-buene / da immer ein Traur- und Freud-gemischtes Schauspiel vorgestellet wird«.296 Letztere Variante liegt auch im Fall des Musikalischen Misch=Spiels vor. Dies geht eindeutig aus der beigegebenen »Zueignungs=Schrifft« von Faber hervor, in der es heißt: »Man sieht auch / wie vermischt nun alles Wesen steht /1 darum aus meiner Hand dergleichen Jnhalt geht«.297 Es wird auf diesen Aspekt später noch einmal zurückzukommen sein. Doch Fabers Widmungsgedicht ist noch in anderer Hinsicht aufschlußreich, da es Auskunft über Adressaten und Anlaß gibt, zu dem das Stück verfaßt und vorgestellt wurde. Wie schon der Herodes (und mit fast identischer Titelformulierung und -gestaltung) wurde das dritte Stück Einer namhafften Kräntzleins=Gesellschaft von sonderbahren Musik=Liebhabern zum Jahreswechsel übergeben, und zwar, zu glücklichen / und (GOtt gebe!) friedlichen Ein=Fort=und Ausgang deß 1676ten Heil= und Schalt=Jahrs, wie es auf dem Titel heißt. Es scheint also, daß auch diesmal die seit 1671 jedes Jahr Anfang Januar abgehaltene Hauptversammlung der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« den Anlaß für das Stück bildete. Und in diesem Fall läßt sich die Vermutung durch die »Zueignungs=Schrifft« mit Sicherheit belegen. Denn hierin erwähnt Faber zweimal ausdrücklich die Jahresversammlung der Gesellschaft als Anlaß des Stücks, wobei diesmal nicht ein einzelner Kaufmann (wie beim Abraham), sondern wiederum (wie beim Herodes) die gesamte Krantzgesellschaft als Adressat und Auftraggeber angesprochen wird: Doch eure wahre Lieb / und die gewohnte Weise / wodurch ich ihren Krantz neujährlich grünen heise / Jhr wehrt=geehrte Freund! Entblödet meinen Kiel / daß ich auch dieses noch / zu Euren Ehren / spiel.
Und etwas weiter heißt es: [...] Nehmt an mit Gunst=belieben / was meine ALTE Lieb' / im NEUEN Jahr / geschrieben / damit NEU Eure wird': Es grün / im vollen Glantz der Welt=Glückseeligkeit so JHR / als Euer KRANZ! 298
Nochmals unterstrichen wird dies schließlich durch die Datumsangabe »14. Jenner deß 1676ten Schalt=Jahrs«, die dem Widmungsgedicht angefügt ist 296
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Birken: Vor-Ansprache zum Edlen Leser, fol.):(iij r . Siehe zu diesem Topos Curtius: Europäische Literatur, S. 148-154, sowie Barner: Barockrhetorik, S. 109f. Mischspiel, fol. [):(i v ], Ebd. (Hervorhebung im Original).
458 und die zeitlich wieder mit der Anfang Januar, etwa um Dreikönig, einberufenen Hauptversammlung übereinstimmt, die dadurch zweifelsfrei als Anlaß des Stücks ausgewiesen ist. Damit wird aber zugleich die oben geäußerte Vermutung indirekt bestätigt, daß die ein Jahr zuvor zur gleichen Zeit dargebotene Aufführung des Herodes ebenso zur Feier dieses für die »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« wichtigen Ereignisses diente. Von daher dürfte die Vorstellung des Musikalischen Misch=Spiels in einem ähnlichen, festlichen Rahmen vor geladenen Gästen aufgeführt worden sein, wie er oben bereits beschrieben wurde. Dieser spezifische Gelegenheitscharakter wird ebenfalls ausschlaggebend für die Sujetfügung des Stücks gewesen sein, die wiederum von einer sehr knappen Dimensionierung geprägt ist: Insgesamt umfaßt der Druck vier Folioseiten, von denen zwei den eigentlichen Spieltext mit rund 80 Versen bieten. Dabei sind das ausgeprägte dialogische Prinzip und die latente Szenenanordnung des Abraham nun wieder der Struktur eines Aufzugs mit Nummernfolge gewichen, wie es schon beim Herodes zu beobachten war. Mit dem Herodes verbinden das Musikalische Misch=Spiel aber auch inhaltliche Parallelen, indem es ebenfalls auf die zeitgenössischen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Deutschland direkt anspielt und auf musikdramatische Weise umsetzt - diesmal jedoch nicht mittels einer exemplarisch gedeuteten Episode aus der Bibel oder Historie, sondern indem es die Kriegsereignisse in einem allegorischen Spiel versinnbildlicht und auslegt, wie im folgenden kurz dargelegt sei. Inhalt Den Auftakt des Musikalischen Misch=Spiels bildet mit der Figur Fürwitz die Allegorie der Neugierde (drei achtzeilige Liedstrophen), die dem Publikum nach dem rhetorischen Prinzip des locus ex definitione sich selbst erklärend vorstellt und zugleich deutlich macht, daß ihr Erscheinen mit dem Beginn des neuen Jahres zusammenhängt, in das die Neugierde einen ersten Ausblick wagt: [•··]
Jch höre mit viel offnen Ohren / und führ' ein scharffes Augen=Licht: Was da / und dorten wird gebohren / nach allen mein Gefallen sticht. [...] Bald geh' und sitz' ich mit zu Rhat / bald spürt man mich in Kirch= und Schulen / bald in dem Haus / und bey dem Buhlen / zu sehn' / was der und jener that. Nun hab' ich mich hier eingeschliechen zu kauften neue Musen=Waar: Es wird was neues ja gestriechen bey einem wieder=neuen Jahr.299
459 Bei seinem Ausblick ins neue Jahr erkennt der Fürwitz allerdings zunächst nichts Gutes. Denn nun erscheint mit der Teutonie die Allegorie des vom Krieg geplagten Deutschland. In zwei aufeinanderfolgenden Nummern (sechs- und zwölfzeilige Liedstrophen) klagt sie ihr Leid über den gegenwärtigen Kriegszustand - wobei insbesondere die zweite Nummer der Teutonie mit ihrer nach dem rhetorischen Loci-Prinzip (vor allem locus ex effectis und locus a causis) aufgebauten Argumentationsstruktur an die poetische Struktur von Gryphius' berühmtem Sonett Thränen des Vaterlandes erinnert, wie sie Theodor Verweyen beschrieben hat:300 Zweymahl drey Jahr fast verstreichen / seit mir Mars mit bleichen Leichen meine Ruhstätt hat verletzt: Seit / von seinem grimmen Morden / beyde Rheinström unrein worden / und ich ward in Noth gesetzt. Was hat in so kurtzen Jahren / nicht mein armes Volck erfahren? Herd und Hürden sind verhört / viel Altäre Ehrloß liegen / die Gewerbe nimmer siegen / Städt und Dörffer sind zerstört.301
Man wird in dieser Textstelle keine >realistische< Beschreibung des Kriegszustandes Anfang 1676 zu sehen haben, denn die nach rhetorischen Prinzipien konzipierte poetische Struktur macht deutlich, was in diesem Fall bezweckt werden sollte: die augenfällige Vergegenwärtigung des zu behandelnden Gegenstandes >Klage über Kriegszustands Hierfür ist vor allem die verwendete amplifizierende Figur der enumeratio partium aufschlußreich. Denn wie Joachim Dyck gezeigt hat, wohnt gerade der »Darstellung durch sinnfällige Einzelheiten« eine affekterregende Wirkung auf die Zuhörer inne: »Die Zerlegung des Vorgangs in seine Einzelteile erhöht das Pathos, das Publikum wird dank der Vorstellungskraft des Redners zum teilnehmenden Zuschauer aller beschriebenen Details«.302 Dabei dürfte dies beim Musikalischen Misch= Spiel auch spielökonomische Gründe gehabt haben, da hier auf knappstem Raum, im Rahmen eines kurzen Auftritts eine Vergegenwärtigung des Kriegsgeschehens zu leisten war. Wie bereits im Titel durch den Zusatz Misch=Spiel angedeutet, beläßt es das Stück nicht nur beim Vorstellen einer klagenden Schilderung des Kriegszustandes und seiner Folgen. Es zielt vielmehr (wie schon die beiden vorangegangenen Stücke) auf eine konsolatorische Wirkung ab. So schließt sich dem Wehklagen der Teutonie der Einzug der allegorischen Figur der Frie299 300 301 302
Mischspiel, fol. [):(if. Verweyen: Thränen des Vaterlandes, bes. S. 37-39. Mischspiel, fol. [):(ijv. Dyck: Ticht-Kunst, S. 49.
460 densgöttin Jrene an, die in einer tröstenden Wendung an die Teutonie (womit zugleich die Zuschauer angesprochen waren) die Zuversicht äußert, daß der aktuelle Krieg nicht von Dauer sein werde und man in der Hoffnung auf baldigen Frieden geduldig ausharren solle: Getrost nur / Teutonie / mächtige Schöne! Jch hebe den halb=schon=versunckenen Fuß / von neuem aus Lethens Tod=quillendem Fluß / zu dämpfen das kämpfende Waffen=Gethöne: zu küssen dich wieder / in Hoffnung ich steh: Wol! da wir uns küssen bald: ha / ha / ha / he! 303
Lachen oder Weinen? Bemerkenswert ist nun, daß die Nummern im Stück jeweils unterbrochen bzw. beendet werden von einem kurzen, fast nur als eine Art Zwischenruf eingesetzten Auftritt des Figurenpaares Demokritus und Heraklitus, die den ihnen vorangehenden einzelnen Nummern stets Ausrufe des Klagens und Lachens anfügen. So folgt etwa auf die oben zitierte Vorstellung der Allegorie des Fürwitz der Einschub: Demokritus: Ha / ha / ha /he! Heraklitus: Ey / ey / ey / weh! 304
Und nach der Klage der Teutonia heißt es diesmal in umgekehrter Reihenfolge: Herakl. Ey / ey / ey / weh! Demokr. Ha / ha / ha / he! 305
Wie ist dies zu verstehen? Welchen Zweck erfüllen diese Einschübe von Lachen und Weinen der Figuren Demokritus und Heraklitus, denen offenbar schon durch die Nennung im Titel des Stücks eine besondere Bedeutung zukommt? Hierzu ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß im 17. Jahrhundert die antiken Philosophen Demokritus und Herakleitos (insbesondere in der Kombination ihres gemeinsamen Auftretens) zu feststehenden Figuren mit topischem Charakter geworden waren: Das Bild vom lachenden Demokrit und weinenden Heraklit kannte schon die Antike, und bereits bei Sotion und Seneca tauchen die beiden Philosophen in der Form des Kontrastmotivs auf. In dieser Verknüpfung wurden sie sowohl in der Literatur als auch in der Kunstgeschichte als Motiv und Bildthema rasch populär und bildeten zu Beginn der Frühen Neuzeit längst einen stehenden 303 304 305
Mischspiel, fol. [):(ij v . Ebd., fol. [):(ij r . Ebd., fol. [):(if.
461 Begriff als Gegensatzfiguren. 306 Dabei stand ganz allgemein der lachende Demokrit für eine optimistische und der weinende Heraklit für eine pessimistische Anschauung der Welt, bei der jener das menschliche Leben beklagt, dieser dagegen die Torheit der Welt verlacht, 307 wie es etwa ein Emblem in Andreas Alciatus' berühmter Sammlung Emblemata darstellt. 308 Von großer Bedeutung ist dabei, daß im Laufe der Rezeptionsgeschichte des Motivs sich eine christliche Deutungstradition der beiden Kontrastfiguren herausbildete, in der die Haltung des lachenden Philosophen gegenüber der Welt eindeutig präferiert wurde, weshalb man gar von einem »Christian Democritus« 309 gesprochen hat. In diesem Zusammenhang ist sicherlich bemerkenswert, daß das Bild vom gegensätzlichen Philosophenpaar in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts allgemein bekannt war und in den 1670er Jahren auf zeitgenössischen Flugblättern verbreitet wurde, die das damalige Kriegsgeschehen mittels der beiden Kontrastfiguren kommentierten. Dies zeigt etwa die 1675 anonym veröffentlichte Flugschrift Traum-Gesicht vom Demokritus und Heraklitus, bei der jener den itzigen Zustand in Teutschland belachet / dieser aber beweinet?10 Vor diesem Hintergrund wird die Verwendung des Topos vom lachenden und weinenden Philosophen in Fabers Musikalischem Misch=Spiel wesentlich klarer: Beide Figuren stellen auch hier zwei verschiedene Haltungen dar, die gegenüber den Kriegsereignissen eingenommen werden können: die klagende oder die lachende. Doch entscheidend dabei ist nun, daß im Stück der Zuschauer nicht vor eine Wahl gestellt ist, sondern einer der beiden Kontrastfiguren eindeutig der Vorzug gegeben und damit zugleich deren Gesinnung als adäquate Haltung gegenüber den aktuellen Kriegsereignissen hervorgehoben wird. Hierfür ist die letzte Zeile der Jrene von großer Bedeutung, die mit dem Versschluß »ha / ha / ha / he!« endet. Damit wird durch die Allegorie der Friedensgöttin die lachende Haltung als die richtige Haltung ausgewiesen. Unterstrichen ist dies vor allem dadurch, daß auf die Jrene nicht mehr beide Philosophen mit ihren Zwischenruf auftreten, sondern Heraklitus nun ausgeklammert wird und das Stück mit einer Art Schlußchor
306 Ygj dazu Werner Weisbach: Der sogenannte Geograph von Velazquesz und die Darstellungen des Demokrit und Heraklit. In: Jb. der preußischen Kunstsammlungen 49 (1928), S. 141-158. 307 Vgl. ebd., S. 147. so« y g j Arthur Henkel u. Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Taschenausgabe. Stuttgart, Weimar 1996 01967), Sp. 1157. 309 Edgar Wind: The Christian Democritus. In: Journal of the Warburg Institute 1 (1937/38), S. 180-182. 310 Anonym: Traum=Gesicht vom Demokritus und Heraklitus / da jener den itzigen Zustand in Teutschland belachet / dieser aber beweinet. Worinnen deren bedrängten Mit=Brüdern seiner nothleidenen Nation / treuhertzig alles eröffnet ist / [...]. o.O. 1675.
462 schließt, den der lachende Philosoph anführt: »Demokritus mit Einstimmung aller: Ha / ha / ha / he!«.311 Die lachende, optimistischere Haltung, die sich angesichts der Krisensituation nicht dem Klagen und Weinen hingibt, behält die Oberhand. Sie erscheint damit als vorbildlich und nachahmenswert. Dabei ist von Bedeutung, daß es sich bei diesem Lachen genaugenommen um ein Belachen handelt, und dies vor allem im Sinne eines Belachens der Fortuna, worauf bereits Faber in seinem Widmungsgedicht hinweist: »Jch muß Demokritus / offt Heraklitus erscheinen /1 und meines Lebens Glück belachen und beweinen«.312 Der Lachende weiß um die Narrheit und Nichtigkeit der Welt, weshalb sie ihm nichts anhaben kann. Doch das Belachen ist keine spontane Affektreaktion, sondern Ergebnis einer rationalen Überlegung und wird dadurch als eine Art Heilmittel gegen Leid und Vanitas ausgewiesen. Es handelt sich also hier um kein subversives und auf Komik abzielendes, sondern um ein gezähmtes, domestiziertes, auf die consolatio und constantia hin funktionalisiertes Lachen. Hinter der Vorstellung einer weinenden und lachenden Haltung steht somit eigentlich die Frage nach der richtigen Haltung zur Fortuna und damit geht es im Musikalischen Misch=Spiel (wie schon in den beiden Stücken davor) um eine »Einübung in die constantia«313 vor dem Hintergrund einer Krisensituation. Daß dies ebenfalls auf eine konsolatorische Wirkung abzielt, veranschaulicht unter anderem der mit den Worten »Getrost nur« eingeleitete, tröstende Appell zur constantia, den die Allegorie der Jrene an die Teutonie richtet. Hierfür ist schließlich die oben erwähnte Bezeichnung »Misch=Spiel« von Bedeutung. Denn bereits dadurch wird signalisiert, daß in der Welt nicht nur Leid, sondern auch Freude herrscht, d.h. in diesem Fall, daß die aktuelle Krisensituation keinen Dauerzustand darstellt, sondern friedlichere Zeiten folgen werden, wie es die Allegorie der Friedensgöttin verspricht. Die >Mischung< besteht hier also nicht in einer wie immer auch gearteten Vermengung von Elementen der Tragödie oder Komödie; sie verweist vielmehr auf die von Gott eingerichtete, prästabilisierte und dem Gesetz der Providentia folgende Ordnung der Welt, die dem nicht sofort einsichtigen Auf und Ab des Lebens einen Sinn zu geben vermag, und ist somit ebenfalls auf die consolatio und constantia hin funktionalisiert. Nicht zuletzt ist für diese Wirkungsintention ein bemerkenswerter Zusatz im Titel aufschlußreich. Demnach sollte das Stück aufgeführt werden: Zu glücklichen / und (GOtt gebe!) friedlichen Ein=Fort-und Ausgang des 1676ten Heil= und Schalt=Jahrs.
311 312 313
Mischspiel, fol. [):(ijv. Ebd., fol. [):(i v ]. Schings: Consolatio Tragoediae, S. 36.
463 Affektschule und Selbstdarstellung der Handelsleute Faßt man die bisherigen Ergebnisse zusammen, so läßt sich zunächst festhalten, daß alle drei Kurzopern auf unterschiedliche Weise (mal im allegorischen, mal im historisch-biblischen Gewand) stets vor dem Hintergrund der Krisensituationen exemplarischer Figuren deren Haltungen gegenüber der Fortuna präsentieren und diese durch jeweils verschiedene deiktische Signale als vorbildlich oder abschreckend darstellen. So gesehen erweisen sich die Kurzopern wie die regulären, großen Opern dieser Zeit ebenfalls als Schule der Tugend und des Lebens314 und erfüllen wie diese mithin Funktionen einer »Schule der Affektkontrolle«. 315 Als Hintergrund fungiert dabei die zeitgenössische Situation des Krieges gegen Frankreich, auf die zumindest in zwei der drei Stücke explizit hingewiesen wird. Daß man die politischen Ereignisse mit großem Interesse in Nürnberg verfolgte, wurde bereits erwähnt. Im besonderen Maße dürfte dies für die Kaufleute gegolten haben, für die jede kriegerische Auseinandersetzung mit all ihren negativen Folgen für den allgemeinen Handelsverkehr von höchster wirtschaftlicher Bedeutung war. Die in den Stücken propagierte Zuversicht auf Frieden traf von daher neben ihrer allgemeinen konsolatorischen Wirkungsabsicht wohl auch den ökonomischen Nerv der als Veranstalter fungierenden Kaufleute. Doch daneben erfüllen die Kurzopern wichtige repräsentative Aufgaben. Denn trotz der >halb-öffentlichen< Darbietungssituation würde man in der Annahme fehlgehen, in den Vorführungen lediglich Veranstaltungen mit privatem Charakter zu sehen. Es wurde bereits angesprochen, daß Versammlungen wie die Musikkränze in hohem Maße inszenierte Formen barocker Geselligkeit darstellten und wichtige Medien öffentlicher Kommunikation innerhalb der Stadtgemeinschaft bildeten.316 Dies gilt auch für die vor geladenem Publikum gespielten Aufführungen der von Faber und Löhner verfaßten Kurzopern. Sie waren keine Freizeitveranstaltungen zum Privatvergnügen, sondern Gelegenheitsdichtungen zu spezifischen Anlässen und besaßen dadurch einen feierlichen Charakter, der auf Repräsentation der Veranstalter bzw. Adressaten abzielte, wie unter anderem die Tatsache belegt, daß die mit Widmungen versehenen Libretti in Druck gegeben und damit öffentlich wurden. Durch das Auftreten als Kunstmäzene und Adressaten musikdramatischer Aufführungen ließ sich der postulierte Anspruch auf die eigene hervorgehobene Position und soziale Rolle unterstreichen. Zudem dürften derartige Veranstaltungen zur Stärkung der Gruppenidentität der vornehmen Großkaufleute beigetragen haben, die mehr und mehr versuchten, sich nach unten abzugrenzen. 314
315 316
Richard Taubald: Die Oper als Schule der Tugend und des Lebens im Zeitalter des Barock. Die enkulturierende Wirkung einer Kunstpflege. Diss. Erlangen 1972. Jahn: L'Adelaide und L'Heraclio, S. 665. Vgl. oben Teil B, Kap. 5.1.
464 Von daher kann man die von den Nürnberger Großkaufleuten veranstalteten (und finanzierten) theatralen Darbietungen im Rahmen von feierlichen Anlässen der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« als Ausdruck sowohl des gesteigerten Selbstbewußtseins dieser aufstrebenden Schicht als auch des Willens zur eigenen Selbstdarstellung mittels kultureller Repräsentation sehen, wodurch sich die tatsächliche politische Ohnmacht zwar nicht kompensieren, aber zumindest nach außen hin etwas kaschieren ließ. Denn auch hier gilt, was Richard van Dülmen festgehalten hat: »In keiner Zeit gehörte der >äußere< Lebensstil so zur Signatur der Gesellschaft wie in der frühen Neuzeit«.317
BEISPIEL 2:
Eine Trauerfeier als Schauspiel. Die Pia Memoria Joachim Müllners, Jacob Langs und Albrecht M. Lunßdörffers zu Ehren Melchior Schmieds (1682)
Sein Tod scheint das gewesen zu sein, was gemeinhin wohl als ein >schöner< Tod bezeichnet wird: An einem Samstag im März 1682 soll er sanft eingeschlafen sein, im hohen Alter und im Kreise vieler Freunde, Schüler und Verehrer beim gemeinsamen Musizieren im Rahmen eines Musikkranzes. Und Melchior Schmied hatte viele Freunde und Verehrer. Obwohl er bis zu seinem Tode kein festes Amt als Musiker in der Stadt bekleidete, war der Nürnberger zu seinen Lebzeiten als berühmter Instrumentalist und Lautenspieler bekannt und galt seinen Zeitgenossen als der »Nürnbergische Amphion«, dessen Bildnis man sogar auf einen Flügel der Orgel in St. Sebald malte. 318 Heute ist der einst gefeierte Musiker praktisch ein Unbekannter und nur noch mit wenigen biographischen Zeugnissen vornehmlich in Tauf- und Trauungsbüchern der Kirchenarchive faßbar: Melchior Schmied stammte aus einer fränkischen Musikerfamilie und wurde als Sohn des Lautenisten Wilhelm Schmied und dessen Frau Barbara am 18. Februar 1608 in Nürnberg getauft. 319 Als Musiker ist er zum ersten Mal bei seiner Hochzeit mit Maria Magdalena Löhnlein, Tochter des Kaufmanns Heinrich Löhnlein, am 26. Januar 1631 bezeugt, bei der ihn das Trauungsbuch von St. Sebald als Lautenisten führt. 320 Da seine Frau früh verstarb, ging Schmied kurz darauf eine zweite Ehe ein und heiratete am 24. November 1633 Helena Tretzel, die 317 318
319
320
van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 2, S. 287. Vgl. Ernst Ludwig Gerber: Historisch=biographisches Lexicon der Tonkünstler. Teil 2. Leipzig 1792, Sp. 438. Vgl. LKAN, S 5: Taufbuch St. Sebald vom 18. Februar 1608, S. 341. Zu korrigieren ist damit die Angabe von Max Seiffert, der ohne Nennung eines Belegs meinte, Melchior Schmied sei 1648 von auswärts nach Nürnberg gezogen und habe zu dieser Zeit das Bürgerrecht erworben. Vgl. Seiffert: Nürnberger Meister, S. XII. Vgl. LKAN, S 24: Trauungsbuch St. Sebald vom 26. Januar 1631, S. 274.
465 Tochter des Lautenisten Wilhelm Tretzel, wodurch er mit einer der damals angesehensten Musikerfamilien Nürnbergs verwandt wurde. 321 Schmied strebte offenbar kein festes Amt als Musiker an, sondern konnte als freischaffender Musiker arbeiten. Dabei war der Lautenspieler ein gefragter Künstler, den man auch für die Friedensmusik beim großen Nürnberger Friedensmahl engagierte, bei dem er als Lautenist im zweiten der vier Chöre mitwirkte 322 - Seite an Seite mit dem Stadtmusikus Jacob Lang, der rund 30 Jahre später für ihn ein Schauspiel zu seinem Tode inszenieren sollte (siehe unten). Ende der 1660er Jahre taucht Melchior Schmied mehrmals in den Tagebüchern Sigmund von Birkens auf, und es scheint, daß der Musiker mit dem Vorsitzenden des Pegnesischen Blumenordens in gelegentlichem Kontakt stand: das erste Mal erscheint sein Name im Frühjahr 1668 im Zusammenhang mit der Dichterkrönung Johann Geuders, bei der Schmied mit seiner Laute aufspielte. 323 Aus diesem Jahr stammt auch das Lobgedicht Uber H. Melchior Schmids Nürnb. Lautenisten Bildnis, das Birken für Schmied verfaßte und das sich in einer handschriftlichen Fassung in den Birken-Wäldern erhalten hat. Hierin preist Birken den Musiker als Virtuosen und vergleicht ihn mit Orpheus und Amphion. 324 Daneben erscheint er immer wieder als Gast bei den geselligen Treffen der >PegnitzschäferWiedersehen in der Ewigkeit< bildete einen »wichtigen Trostgrund gegen die Bitterkeit des Todes«.387 Dies gilt insbesondere für das Wissen über die Seligkeit eines Verstorbenen, die in den Leichenpredigten des 17. Jahrhunderts das »kräftigste Trostmotiv«388 darstellte. Und die Vermittlung dieser Gewißheit spielt auch in der Pia Memoria eine zentrale Rolle. Dies zeigen die oben zitierten Anfangsverse des Theologus sowie der Schluß der Rede, in deren Resümee nochmals die Seligkeit hervorgehoben und zugleich in Form einer appellativen Wendung ans Publikum als Trostmittel für die Zuhörer eingesetzt wird: So wisset demnach nochmal / ihr betrübte Trauer=Freunde: Der seelige Herr Schmied ist nicht tod / er lebet! [...] Gedencket ihr werthesten! ja seiner / so unterlasset die Thränen / und wisset / daß Er dorten vielmehr aller dieser Eitelkeit lachet.389
Diese Passage macht zudem deutlich, daß innerhalb der Rede erneut die Einbeziehung des Publikums ein wichtiges Element bildete. Doch neben den schon genannten Appellfiguren und Anredeformen tritt hier ein verstärkendes Moment hinzu: die direkte, zum Teil namentliche Hinwendung an einzelne Personen im Publikum, vornehmlich aus dem Kreis der näheren Verwandten des Verstorbenen. So heißt es etwa an einer Stelle der Trostrede: »Jhr / als ein hertzbetrübter [...] Sohn / Herr Otto Friedrich Schmied! Gehet es Eurem Freund / Eurem Vatter / dem guten Alten wohl / und lebet Er auch noch?«390 Darüber hinaus fällt noch ein weiteres auf: die Nähe dieses Abschnittes der Pia Memoria zur Leichenpredigt im engeren Sinn.391 Hierfür ist schon signifikant, daß die Trostrede von der Figur des Theologus vorgetragen wird, der dem Textbuch zufolge von einem Theologiestudenten aus Altdorf na385 386
387 388 389 390 391
Ebd., S. 19. Zu der bereits auf die Bibel zurückgehenden und in vielen Leichenpredigten des 17. Jahrhunderts verwendeten Vorstellung, daß die Seligen im Himmel musizierten, siehe Mohr: Protestantische Theologie, S. 430. Ebd., S. 421. Ebd., S. 99. Pia Memoria, S. 19. Ebd., S. 16. Zur Unterscheidung der Begriffe >Leichenpredigt< (geistliche Rede eines Pfarrers) und >Parentation< (weltliche Totenrede) sowie dem Oberbegriff >Leichenrede< siehe Rusterholz: Leichenreden, S. 180f.
480 mens Seling vorgestellt wurde.392 Doch der predigthafte Charakter spiegelt sich vor allem darin wieder, daß im Zentrum der »Trost=Rede« die Auslegung und Applikation einer konkreten Bibelstelle steht. Um die Vorstellung vom Tod als Beginn des ewigen Lebens zu unterstreichen, rekurriert der Theologus auf die Verse 7 und 8 aus dem 14. Kapitel des Römerbriefes von Paulus, die sowohl im Wortlaut zitiert als auch mit einem Quellenvermerk in Form einer Fußnote deutlich gemacht werden: Dann: unser keiner lebt ihm selber / und unser keiner stirbt ihm selber / leben wir / so leben wir dem Herrn / sterben wir / so sterben wir dem Herrn; Darum / wir leben oder sterben / so sind wir auch des Herren / nach des theuren Pauli Zeugnüs.(a) Jst also derjenige nicht tod zu nen[n]en / welcher seinem lieben GOtt auf Erden so treu gelebet [...]. 3 9 3
Nach einer weiteren Ausführung dieser Deduktion folgt schließlich (ganz entsprechend der homiletischen Praxis der Leichenpredigten) die Applikation der Schriftauslegung auf das persönliche Leben des Toten: Da der verstorbene Melchior Schmied ein »wohl-geführtes from[m]es und feines Christen Leben« 394 gelebt habe, so könne er nicht tot sein, sondern lebe vielmehr im Reich des Herrn. Doch auch hier verweist die vielfache Einbeziehung des Publikums darauf, daß diese Darstellung nicht allein der Totenehrung diente und als Trostmotiv fungierte, sondern zudem auf eine erbauliche Wirkung abzielte. Denn das Lob, die Schilderung des frommen Lebens und der Verweis auf die Seligkeit des Verstorbenen sollten zugleich den Hinterbliebenen als Vorbild dienen. 395 Ganz im Sinn der christlichen Trostliteratur spielt hier erneut die »seelsorgerliche Hinwendung zu den Hinterbliebenen« 396 eine wichtige Rolle. Engelsmusik Bemerkenswert ist nun, daß die Trostrede nicht nur mit der Aussage des »Vorberichts« korrespondiert, sondern zugleich eine Bestätigung >von oben< erhält. Denn als der Theologus seinen Vortrag mit den Worten »Trauret nimmer! Euer Freund Lebet Ewig« schließt, »schlüge sich das hintere Portal auf« und von oben »führe ein Engel herunter«, wie das Textbuch vermerkt. 397 Als 392 393
394 395
396 397
Vgl. Pia Memoria, S. 24. Vgl. ebd., S. 16f. In der am Seitenende vermerkten Fußnote »(a)« folgt der Verweis auf »Rom. 14. v. 7. 8«. Ebd., S. 17. Vgl. Winkler: Leichenpredigt, S. 156; Mohr: Protestantische Theologie, S. 1 0 1 - 1 0 7 , sowie Fürstenwald: Gryphius, S. 85, die darauf hingewiesen hat: »Im Lob ist immer eine Aufforderung zur Wiederholung an den Gelobten und zur Nachahmung an den Zuhörer enthalten«. Grözinger: Consolatio, Sp. 369. Pia Memoria, S. 20.
481
ein göttlicher Bote und gleichsam Abgesandter der »Englische[n] Music= Canthoreyen« stimmt er nun eine mehrstrophige Arie an, die von »zwey darein gehenden Lauten« begleitet wird. Hierin greift der Engel die Worte des Vorredners nochmals auf: Stimmet nimmer Trauer=Lieder / über Euren Kunst=Consorten / Ach Er wünscht hierher nicht wieder / weil es Jhm weit bässer worden / Er lebet und lachet / und jauchzet dort oben / u[nd] hüllfet des Höchsten mit Psalmen beloben. 398
Wie schon bei der ersten Einlagearie sind hierzu wiederum im Textbuch die Noten abgedruckt, und abermals läßt sich zeigen, daß die heiter gefaßte Aussage auf der Textebene sich in der Notation des Gesangsstücks niederschlägt, die diesmal vollständig mit beziffertem Generalbaß angegeben ist. Demnach handelt es sich um eine Soloarie (»Voce Sola«) in D-Dur mit Sopranschlüssel (c' auf der 1. Linie) mit einem Wechsel in den Tripeltakt 6/4.399 Dabei kommen sowohl der gewählten Tonart und Sopranlage als auch der veränderten Taktzahl wichtige bedeutungstragende Funktionen zu, indem sie die Freude über das ewige Leben widerspiegeln und dadurch die auf Trost abzielende Aussage auf der Textebene unterstützen.400 Mit dieser zweiten Einlagearie ist in der Pia Memoria nicht nur der Übergang vom Klageteil zum Trostteil abgeschlossen, sondern zugleich der Trauergestus der Stimmung einer freudigeren Gewißheit in das Seelenheil des Verstorbenen gewichen. Denn nachdem sich »der Engel allgemach widerum hinauf begeben / und das hintere Portal geschlossen«, stimmt neben dem Theologus nun auch der zuvor klagende Philosophicus in die Freude ein und ermuntert die Zuhörer mit einem ad spectatores gerichteten Appell: So ist dann unser Schmied nicht todt / Er lebt in einem bässern Leben / Und hat hier nur der Erden=Noth Die letzte gute Nacht gegeben / So lasst uns dann Jhr Klag=Consorten / Auch folgen solchen Tröstungs=Worten: Es soll kein Achen mehr erschallen / Es sollen keine Zähren=Güß / Und keine Seufzer weiter fallen / [...]. 401
398 399
400
401
Ebd. Für freundliche Hinweise gilt erneut mein Dank Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Hirschmann, Erlangen. Die Verwendung von Dur, höherer Klanglage sowie schnelleren Tempi galten innerhalb der zeitgenössischen Musiklehre als Ausdruck freudiger Affekte. Vgl. Krämer: Musikalische Affektenlehre, Sp. 250. Pia Memoria, S. 22. Diesen Schlußworten schließt sich nochmals ein Musikstück an in Form einer Arie »zur Valedicirung des Wohlseligen Herrn Schmieds« (ebd.).
482 Erbauung und konsolatorische Wirkung Gewiß, die Pia Memoria stellt weder eine Leichenpredigt oder Parentation noch eine Trostschrift dar. Das Stück bildete eine Art szenischen Aufzug und fungierte als eine mit theatralen Mitteln inszenierte und auf einer Bühne vorgestellte Trauerfeier zu Ehren eines Verstorbenen, die höchstwahrscheinlich eine geplante, jedoch verhinderte Leichenfeier am Grab ersetzte. Doch gerade aufgrund dieser Intention ergaben sich ähnliche Funktionszusammenhänge, auf die wohl die Parallelen zurückzuführen sind. Denn die Schilderung des Verlaufs der Pia Memoria dürfte deutlich gemacht haben, daß einige auffällige Analogien hinsichtlich Struktur, Thematik und Funktion zwischen dem Stück einerseits sowie der Tradition der Trostliteratur und Leichenpredigt bzw. -rede des 17. Jahrhunderts andererseits bestehen: so etwa hinsichtlich der Anlage als ehrendes Gedenken an den Toten, der spezifischen Deutung des Lebens und des Todes, der obligatorischen Trauerklage, der daran anschließenden Trostrede mit Auslegung einer biblischen Textstelle und Vergewisserung der Seligkeit des Verstorbenen sowie nicht zuletzt der wiederholten, direkten Einbeziehung der Zuhörer in das Geschehen mit der Aufforderung, nicht mehr zu trauern. Gerade letzteres macht deutlich: Neben dem Gedenken an den Verstorbenen spielte die konsolatorische Wirkung auf das Publikum eine wichtige Rolle. So sollte zunächst den Trauergefühlen der Zuschauer Rechnung getragen und ihnen zugleich Trost vermittelt werden. Hinzu kommen wichtige erbauliche und pädagogische Funktionen, indem sowohl das Beschwören der Eitelkeit der Welt als auch die Verweise auf die Seligkeit des Verstorbenen dazu dienen sollten, »unserer Nichtigkeit uns zu erinnern / und dahero zu einem gleichseeligen Ende und Nachfolge desto bässer zu bereiten und gefast zu halten«, wie es im oben zitierten Vorwort heißt.402 Eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielte bei der Pia Memoria sicherlich auch der Aspekt der Repräsentation und Selbstdarstellung, deren Bedeutung (wie bereits mehrfach dargelegt) im Bereich der theatralen Kunst kaum überschätzt werden kann. Denn die lobende Ehrung des Toten fiel positiv auf die Familie des Verstorbenen zurück und erfüllte damit gesellschaftliche Zwecke - eine Funktion, die insbesondere im 17. Jahrhundert bei der Abhaltung von Leichenpredigten ein immer wichtiger werdendes Motiv bildete.403 Nicht jede Trauerfeier verlief in dieser Weise und mit dem gleichen Aufwand, wie es beim Tod von Melchior Schmied der Fall war. Dennoch würde man der Pia Memoria nicht gerecht werden, wenn man in ihr nur einen ungewöhnlichen Ausnahmefall sähe - zumal es trotz der Regulierungstendenzen
402 403
Pia Memoria, S. 2. Vgl. Winkler: Motivation, S. 57.
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des Rats mehrere Beispiele für prächtig gestaltete Trauerfeiern gibt, bei denen reichlich musiziert und gesungen sowie größere Musikstücke mit Arienund Rezitativpartien vorgetragen wurden.404 Vielmehr kann das Stück als Beleg für die facettenreichen Formen theatraler Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts gelten. Wie schon die Kurzopern von Faber und Löhner lenkt die Pia Memoria zudem den Blick auf die Inszenierung theatraler Kleinformen im geselligen bzw. feierlichen Rahmen, die in vielen Darstellungen zum Barockdrama und -theater zumeist vernachlässigt werden, jedoch in ihrer Zeit offenbar ein bedeutendes Phänomen innerhalb der reichsstädtischen Festkultur darstellten.
EXKURS
II: Spielen bei Gelegenheit. Die unbekannte Masse halbtheatraler Darbietungsformen im Kreise geladener Gesellschaften
Als Liesbeth Weinhold 1972 von musikwissenschaftlicher Seite aus einen ersten allgemeinen Überblick über die Gelegenheitskomposition des 17. Jahrhunderts vorlegte, wies sie mit Nachdruck auf die quantitative Relevanz dieser Gattung hin: »Das Thema muß sich dem Betrachter geradezu aufdrängen, denn weder vor noch nach dem 17. Jahrhundert haben in Deutschland Werke, für die einzelne Personen oder Ereignisse den Anlaß gaben, eine zahlenmäßig so erhebliche Rolle gespielt«.405 Auch in der Folgezeit ist die Bedeutung der Gelegenheitsdichtung für die Erforschung des kulturellen und literarischen Lebens in den Städten der Frühen Neuzeit von unterschiedlichen Fachdisziplinen immer wieder betont worden, und doch dürfte ihre Auswertung bis heute größtenteils noch ausstehen - so auch im Fall von Nürnberg.406 Allein der Genealogica-Katalog der Stadtbibliothek Nürnberg birgt für die Zeit von 1550 bis 1750 Hunderte von Drucken, die durch unzählige 404
So schrieb etwa Sigmund von Birken 1675 zum Tode des Patriziers Burckhard Löffelholz von Kolberg ein über 130 Verse umfassendes »Trauer-Fest«, das im »Stylo recitativo nach Welscher Art verfasset« war und von Paul Hainlein »in eine Instrumental und Vocal. Music, vor und nach der Leich-Predigt abzusingen gesetzet« wurde. Vgl. Sigmund von Birken: Unbekannte Gedichte und Lieder. Hg. v. John Roger Paas. Amsterdam 1990 (Chloe, Bd. 11), S. 223-226. 405 Liesbeth Weinhold: Die Gelegenheitskomposition des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Nach dem Stand der westdeutschen RISM-Kartei. In: Quellenstudien zur Musik. Wolfgang Schmieder zum 70. Geburtstag. Hg. v. Georg von Dadelsen u. Kurt Dorfmüller. Frankfurt, London, New York 1972, S. 171-196, hier S. 171. 406 Ygj (jjg Feststellung bei Jürgensen: Norimberga Literata, S. 488: »Mit der Erschließung des Gelegenheitsschrifttums [...] könnte ein wichtiges Fundament zur Erforschung des literarischen Lebens im Nürnberg der Frühen Neuzeit gelegt werden. Das Kasualschrifttum darf als die heute ergiebigste Quelle zur Sozial-, Mentalitätsund Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit im städtischen Raum angesehen werden«.
484 andere Casualschriften in den ebenfalls dort befindlichen Sammlungen Will, Schwarz/Amberger und Norica noch ergänzt werden. 407 Sie zusammen bieten eine (bislang kaum ausgewertete) Vielzahl an Gelegenheitsdichtungen und -kompositionen, verfaßt zu den unterschiedlichsten Anlässen, von denen eine ganze Reihe ein beredtes Zeugnis für die Vielfalt festlicher Darbietungsformen im Barockzeitalter ablegen: zu Geburten, Hochzeiten, Trauerfällen, Promotionen, Ehrungen, Danksagungen, Jubiläen oder Zeitereignissen wurden reichlich Gedichte rezitiert, Dialogpartien vorgetragen, Lieder, Arien und Rezitative gesungen, Instrumentalmusik aufgespielt und mehrstimmige Chorpartien dargeboten. 408 Nun ist gerade im Zusammenhang dieser Arbeit von Bedeutung, daß hierbei (wie es bereits im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde) die Grenzen zu Vorstellungen mit szenischem Charakter und theatralen Elementen oftmals fließend waren - was nicht zuletzt auf die im 17. Jahrhundert besonders ausgeprägte Beliebtheit optisch ausgerichteter Präsentationsformen und die eindeutige »Privilegierung visueller Rezeption« 409 zurückzuführen sein dürfte. Die genaue Anzahl dieser anlaßbezogenen, halbtheatralen Darbietungsformen und ihr Anteil an der reichsstädtischen Festkultur läßt sich nur schwer bestimmen, da bislang weder die Nürnberger Casualdrucke in einem zufriedenstellenden Maße ausgewertet noch andere Quellen wie Ratsverlässe oder Stadtchroniken hierzu untersucht wurden. Ganz zu schweigen von den Zeugnissen, die als verschollen gelten müssen bzw. nicht überliefert wurden. 410 Doch die vorhandenen Texte und Nachrichten deuten auf eine gängige Praxis hin und legen zumindest nahe, daß es sich bei diesem, in den Quellen häufig mit »Aufzug« oder ähnlichen Ausdrücken bezeichneten Phänomen urbaner Festkultur um keine Ausnahmeerscheinung, sondern eher um eine unbekannte Masse handeln dürfte. Bereits ein Blick in Sigmund von Birkens Tagebücher liefert hierfür einige signifikante Beispiele: So berichtet der Autor etwa im Hochsommer 1671 von einem »Stück-Aufzug in M[onsieu]r Kirchmfairs] Garten«, 411 bei dem sich etliche Gäste einfanden. Ähnliche Veranstaltungen scheint man bei den geselligen Treffen der >Pegnitzschäfer< gelegentlich abgehalten zu haben, wie etwa im Sommer 1673, als sich Mitglieder des Blumenordens im Garten von Johann Leonhard Stöberlein zusammenfanden, um der Vorstellung eines kleinen, offenbar von Musik begleiteten Schäferspiels beizuwohnen: »Bey 407 408
409 410
411
Vgl. ebd., 476-478. Vgl. auch das Fazit bei Weinhold: Gelegenheitskomposition, S. 184: »Nürnbergs Vorherrschaft in lückenloser Folge durch das ganze Jahrhundert ist offenkundig«. Garber: Stadt und Literatur, S. 18. Schon Weinhold: Gelegenheitskomposition, S. 171, stellte bei ihrem allgemeinen Situationsbericht fest, »daß die erhaltenen Dokumente nur einen Bruchteil der einst vorhanden gewesenen darstellen«. Birken: Tagebücher, Bd. 2, Eintrag vom 28. August 1671, S. 57f.
485 H[errn] Stöberl[ein] mit der Gesellschaft] a[uch] H[errn] M[usici] Schmied, Schütz und Lehnern gespeiset. Aufzug Merc[urs] u. eines Schäfers. Blumen«.412 Ein Aufzug der Musen zur >Goldenen Hochzeit< Ein eindrucksvolles Beispiel für diese unbekannte Masse an >Gelegenheitsspielen< sei hier stellvertretend wenigstens kurz vorgestellt, um damit zugleich das vielfältige Spektrum der theatralen Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts aufzuzeigen: Am 26. August 1696 feierte der (in dieser Arbeit bereits näher vorgestellte) Stadtmusikus Jacob Lang mit seiner Frau Maria den 50. Hochzeitstag - ein Anlaß, der im 17. Jahrhundert an sich schon ein selteneres Ereignis dargestellt haben dürfte. Zugleich konnte Lang in diesem Jahr sein 50. Dienstjubiläum als Mitglied der Nürnberger Stadtkapelle feiern, der seine Familie (darunter der Vater und drei Brüder) über mehrere Generationen hinweg zum Zeitpunkt des Hochzeitstages insgesamt bereits 150 Jahre lang angehörte. Nicht zuletzt konnten die Eheleute an ihrem Hochzeitstag zusammen auf 150 Lebensjahre zurückblicken. Angesichts dieses vierfachen Jubiläums verwundert es nicht, daß der Musiker und seine Familie das Ereignis mit einem aufwendigen Fest feierten, das in der Stadt einiges Aufsehen erregt zu haben scheint. So hatten hierzu nicht nur Verwandte und Bekannte mehrere Glückwunschgedichte und »Jubelzufrufe« verfaßt, darunter etwa der >Pegnitzschäfer< Christoph Adam Negelein, der unter seinem Gesellschaftsnamen »Celadon« ein Hertzliches Glück-zu413 beisteuerte. Auch der Patrizier Johann Hieronymus Imhoff hielt das Ereignis für erinnernungswürdig und notierte in seiner Stadtchronik zum entsprechenden Datum: hat Jacob Lang, eines Hochedl. Rath alhier ältester Musicant mit seinem Eheweib Maria, nachdem sie beide über 50. Jahr friedlich miteinander gelebet [...], ihren hochzeitl. Ehrentag [...] in beysein vieler vornehmer, befreundeter u. anderer Mans, u. Weibspersonen im Schießgraben gehalten und begangen.414
Der Hinweis auf den Veranstaltungsort ist äußerst aufschlußreich: Der sogenannte Schießgraben bzw. »der Herren Schießgraben« bildete einen Teil des älteren Stadtgrabens und zog sich unterhalb des Laufer Platzes in Richtung Pegnitzfluß hinab (heute Grübelstraße). Er umfaßte einen öffentlichen Gar412
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414
Ebd., Eintrag vom 11. Juni 1673, S. 212. In der Edition bei Kroll wird »M[usici]« mit »M[agister]Goldene Hochzeit< bereits ein Indiz für das ausgesprochene Standesbewußtsein der angestammten Musikerfamilie sehen können. Doch dieses kommt noch auf andere Weise zum Ausdruck. Wie aus einem der Gelegenheitsdrucke zu diesem Ereignis ersichtlich ist, bildete die gesellige Zusammenkunft im Schießgraben nur einen Teil des Festes. Im Verlauf der Feier zog die Gesellschaft zu einem großen Festmahl ins Haus der Familie Lang, das sich am alten Milchmarkt (heute AlbrechtDürer-Platz) befand. Bevor jedoch die Tafel eröffnet wurde, sollten die Jubilare noch mit einer besonderen Darbietung gefeiert werden: Zu Ehren der »Jubel-Hochzeit« hatte man ein kurzes szenisches Spiel entworfen, das dem Titel nach vor der Freuden-Mahlzeit in Form eines Aufzugfs] in dem Saal beyder rühmlich-alten Eheleute / auf dem Milch-Markt aufgeflihret [wurde] von Ihren Enkeln sowie im nachhinein in Druck gegeben wurde.417 Dieser »Aufzug« umfaßt im Druck ohne Titelblatt drei Quartseiten mit rund 80 Versen und präsentiert in einer Art halbtheatralen Darbietung die neun antiken Musen in einer Art Nummernfolge. Den Auftakt hierzu bildet die Erscheinung der Allegorie der Musik, die »auf dem PEGASO« reitend erscheint, um die Jubilare und Gäste des Fests zu begrüßen: JCh komm' / ein seltnes Fest zu zieren aus der Höh / und zu dem Jubel-Tag der Hochzeit mich zu finde[n). [...] Gott hebe / daß das Zwen sein Glück aufs neu mög gründen / daß es halb 50 Jahr vergnügt beysam[m]en steh!418
Hierauf folgt der Einzug der neun Musen, die in der Reihenfolge Clio, Melpomene, Thalia, Euterpe, Terpsichore, Erato, Calliope, Vranie und Polyhymnia nacheinander mit jeweils einer Liedstrophe von vier bis acht Zeilen Jacob und Maria Lang besingen und beglückwünschen. Sie alle spielen dabei wechselweise mal auf den 50. Hochzeitstag, mal auf das 50. Dienstjubiläum 415 416 417
418
Vgl. Nopitsch: Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg, S. 144. Ebd. Anonym: Bey rühmlich-erlebter Jubel-Hochzeit Des Erbar= und Kunsterfahrnen Jacob Langens Eines Hoch Edlen Raths allhier ältesten Stadt-Musici mit der Erbar und Ehren-TVigendsamen Frauen Maria welche Sie im 50 Jahr ihrer Ehe im 150 Jahr beyder Alters Er im 50 Jahr Seiner hiesigen Dienste und im 150 Jahr der Dienste bey einem Hoch Edlen Magistrat dieser Stadt / worinnen Sein Vatter samt des Hochzeiters dreyen Brüdern gestanden / angestellet / wurde vor der Freuden-Mahlzeit dieser Aufzug in dem Saal bey der rühmlich-alten Ehleute / auf dem MilchMarkt aufgeführet von Jhren Enkeln. 1696. den 26 Augusti. Nürnberg [1696]. Ebd., fol. [l v ].
487 des Stadtpfeifers an oder heben das gemeinsame Alter des Ehepaares von 150 Lebensjahren hervor, wie etwa beim der Auftritt der Calliope: Jch schreibe viel Gedicht von neu= und alten Helden; doch will ich dieses auch nebst andern Helden melden: daß dieses Paar / das fromm und treu hat hundertfunfzig Jahr gelebet / bey GOtt mehr hoch geachtet sey / als hoch man Helden sonst erhebet. 419
Es ist gut denkbar, daß die Musen, die wohl von den Enkeln der Langs dargestellt wurden, entsprechend ihrem überlieferten Habitus kostümiert waren. In jedem Fall waren ihnen Requisiten in Form ihrer jeweils typischen Merkmale beigegeben. So vermerkt das Textbuch für die Muse Euterpe etwa den Zusatz: »mit der Zinken«, womit bis ins 18. Jahrhundert hinein ein aus Holz gefertigtes Blasinstrument in Form eines Rohrs gemeint war, das offensichtlich auf das Flötenspiel der Muse verweisen sollte. Dem Reigen der Musen folgt der Auftritt ihres Vorstehers, des Gottes Apollo, der sich den Glückwünschen seiner Untergebenen anschließt und diese gleichsam vermittels seiner Kraft als einer der höchsten Götter des Olymps bestätigt sowie in einer direkten Ansprache an die Festgäste zum aufgetischten Galadiner überleitet: Was diese sämtlich thun / kann ich zusam[m]en geben. Drumm will ich / daß das Paar / so lang es wünscht / soll leben. [···] Jhr aber / die Jhr Euch zu diesem Fest bemühet / ermuntert Euren Sinn kommt mit zur Tafel hin und sehet wie das Glück aus reinen Gläsern blühet. 420
Schließlich erscheint wieder »MUSICA auf dem PEGASO«, um den »Aufzug« zu beenden und zugleich als Höhepunkt der Feier das gemeinsame Festmahl zu eröffnen: Jch fliege vor Euch hin die Tafel zu bestellen / zu kützeln Euer Ohr mit einem frohen Lied. Die Luft selbst solle sich zu Euch am Tisch gesellen / Wann Jhr die Speise[n] schluckt und volle Glässer zieht. Kommt nur in solcher Meng / als man heunt kom[m]en soll Adieu! Jch fliege fort! Jhr alle / lebet wohl! 421
Die Wahl eines »Aufzugs« der neun Musen dürfte ganz durch den spezifischen Gelegenheitscharakter der Darbietung bedingt sein und kann als ein weiteres Beispiel der vielfältigen Konkretisierungsmöglichkeiten barocker Casualdichtung angesehen werden: Denn die Musen galten nicht nur als 419 420 421
Ebd., fol. [2r]. Ebd., fol. [2V]. Ebd.
488 Schutzgöttinnen der schönen Künste, der Musik und Literatur, sondern sie standen auch in dem Ruf, bei Hochzeiten und anderen göttlichen Festlichkeiten im Olymp zu tanzen, singen und mit Musik aufzuspielen. Von daher ließ sich mit einem Musen-Aufzug auf sinnfällige und doppelte Weise auf den Anlaß der »Jubel-Hochzeit« eines Stadtmusikus anspielen, der sich zudem als Dichter und Choreograph hervorgetan hatte (vgl. Teil B, Kap. 4.). Unterstützt wurde dies noch durch den Auftritt Apollons, der neben seiner Funktion als Führer der Musen sowohl der Gott der Musik als auch der Weisheit war, womit den ausgesprochenen Segnungen und Glückwünschen gleichsam höhere Weihe zukam. Doch diese halbszenische Vorstellung der antiken Musen im Rahmen einer geladenen Gesellschaft ist noch in anderer Hinsicht von großer Signifikanz. Wie bereits die äußeren Umstände des Ehrenfestes anläßlich der »Goldenen Hochzeit« von Jacob und Maria Lang deutlich machen, stellte die Abhaltung der Feier keineswegs etwa eine Veranstaltung mit privatem Charakter dar. Die »Jubel-Hochzeit« kann vielmehr als ein weiteres, prägnantes Beispiel dafür gelten, wie im 17. Jahrhundert Festlichkeiten, für die einzelne Personen oder Ereignisse den Anlaß gaben, im >halb-öffentlichen< Kreis zu Formen inszenierter Geselligkeit instrumentalisiert wurden, denen wichtige kommunikative und gesellschaftliche Funktionen innerhalb der Stadtgemeinschaft zukamen. Denn sie zielten auf die Selbstdarstellung einer Familie ab, deren Ansehen im feierlichen Rahmen gesteigert werden sollte. Daß man hierzu nun mit den Musen und Apollo antike Götter bemühte, um die Jubilare zu feiern, unterstreicht, welches Standesbewußtsein und Bild die Musikerfamilie von sich demonstrieren wollte. Hier zeigt sich, daß derartige Formen urbaner Festkultur mit der Kategorie »bürgerlich« nur schwer in Einklang zu bringen sind. Dabei richtete sich diese Zurschaustellung nicht nur an den Kreis der unmittelbar anwesenden Festgäste, sondern sollte auch das Bild und den Ruhm der Familie innerhalb der Stadtgemeinschaft positiv beeinflussen. Dies machen sowohl die nachträgliche Publikation des »Aufzugs« der Musen als auch der Niederschlag in den Stadtchroniken deutlich. Und nicht zuletzt wird dieser wichtige funktionale Aspekt auch explizit im Text genannt: Bezeichnenderweise ist es die Muse Clio, die Verkörperung der Geschichtsschreibung, die beim »Aufzug« als erste der neun Göttinnen erscheint und in ihrer Eigenschaft als Prophetin von »Ansehen« und »Ruhm« dem Publikum verkündet: Jch schreibe die Geschieht. Und will der Nachwelt sagen: Es hab der Langen Stam[m] mit hoher Kunst und Treu / auf dreymal 50 Jahr der Music-Amt getragen! und wünsch: daß Jhm das Glück / wie Clio, günstig sey. 422
422
Ebd., fol. [l v ] (Hervorhebung M. P.).
489
5.4. Die Nürnberger Barockoper als Höhepunkt urbaner Festkultur Nürnberg und Barockoper - dies wurde bis in die jüngste Zeit hinein fast als regelrechter Gegensatz angesehen. Verbindet man doch mit letzterem neben Hof und Adel ganz allgemein die Schlagworte Glanz, Prunk und kulturelle Hochblüte, also genau das, was es seit dem vermeintlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Abstieg Nürnbergs im 17. Jahrhunderts in der Reichsstadt nicht mehr gegeben habe. Diese Auffassung mag dazu beigetragen haben, daß man es nicht für notwendig erachtete, die weitverbreitete Vorstellung kritisch zu überprüfen, nach der die belegten Opernaufführungen in den 80er und 90er Jahren des 17. Jahrhunderts vornehmlich »von auswärtigen Schauspielertruppen besorgt«423 wurden. Tatsächlich verhielt es sich jedoch bei einer ganzen Reihe von Aufführungen keineswegs so. Aus dem Umfeld einheimischer Kaufleute ging nicht nur Mitte der 1670er Jahre die Initiative zu den Opernunternehmungen in Nürnberg aus und wurden (wie gezeigt) mit der Darbietung von einigen Kurzopern in Zusammenarbeit mit Dichtern und Musikern erste Schritte auf diesem Gebiet unternommen, sondern die Mitglieder aus dem Kreis der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« waren auch in den 1680er und 1690er Jahren an den großen Opernvorstellungen im Nachtkomödienhaus vor vornehmem Publikum in entscheidender Weise beteiligt: als Mäzene, Veranstalter und Librettisten. Unterstützt wurde das erstaunliche Engagement Nürnberger Handelsleute auf dem Gebiet des Musiktheaters nicht zuletzt vom Nürnberger Rat, der sich ebenfalls organisatorisch an den Aufführungen beteiligte und mehrfach die Stadtkasse öffnete, um Gelder für die Inszenierungen bereitzustellen. Selbst als im Frühjahr 1697 eine auswärtige Operntruppe in der Stadt eintraf, waren zumindest anfangs auch einheimische Kräfte an den Vorstellungen beteiligt. Diese Initiative und Bereitschaft zu kulturellem Mäzenatentum auf Seiten etlicher Nürnberger Großkaufleute und der Stadtobrigkeit trugen in den letzten zwei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ganz entscheidend zu einer der glanzvollsten, heute jedoch nahezu vergessenen Epoche der Nürnberger Theatergeschichte bei. Eine Epoche, die als Paradigma dafür dienen kann, daß im Barockzeitalter die Kunstform der Oper keineswegs nur eine höfische Form der Festkultur war, sondern auch in den Reichsstädten gepflegt wurde sowie als Teil und Höhepunkt urbaner Festkultur nicht minder für repräsentative und politische Zwecke eingesetzt werden konnte. Gewiß, die Nürnberger Oper des ausgehenden 17. Jahrhunderts läßt sich nicht mit der Geschichte des Hamburger Musiktheaters vergleichen, weder in quantitativer Hinsicht noch in zeitlichem Umfang. Doch dies kann für eine Einschätzung 423
Röder: Nürnberg, Sp. 503. So auch Samuel: Cantata, S. 8 u. 48, sowie Kertz: Barocktheater, S. 348.
490 in historischer Hinsicht nicht der alleinige Maßstab sein. Vielmehr gilt es zu bedenken, wie wenig Städte im 17. Jahrhundert überhaupt eine eigenständige Oper besaßen.424 Nürnberg gehörte in dieser Zeit »zu den ganz wenigen deutschen Städten, die ohne Einwirkung eines Fürstenhauses mit der Oper bekannt wurden«.425 Zwischen etwa 1680 und 1700 war Nürnberg die heimliche Opernhauptstadt unter den Reichsstädten im Süden Deutschlands und bildete (wenn auch mit deutlichem Abstand) nach Hamburg zumindest für etliche Jahre ein zweites Zentrum städtischer Opernpflege,426 das von sich reden machte. Dies verdeutlichen beispielsweise die Besuche auswärtiger Regenten und Fürsten, die zum Teil von Ferne nach Nürnberg zum Opernbesuch anreisten. Auch wenn letztendlich die Oper im finanziellen Debakel und wirtschaftlichen Bankrott enden und um 1700 durch verschiede Vorfälle in Verruf gelangen sollte, erlebte die Stadt im ausgehenden 17. Jahrhundert eine bis dahin und auch im folgenden Jahrhundert nicht mehr erreichte Blüte des Musiktheaters. Dabei lassen sich für den konkreten Fall Nürnberg zwei zeitlich aufeinanderfolgende Phasen mit rund 15 Opernrealisierungen (von denen sich einige Libretti erhalten haben) voneinander abgrenzen: von 1682 bis 1688 und von 1696 bis 1698 - wobei sich die chronologische Lücke im wesentlichen durch eine von etwa 1689 bis 1695 andauernde, kriegsbedingte Beschränkung des öffentlichen Lebens und der damit einhergehenden, vom Rat verordneten Spielpause in der Reichsstadt erklärt. Im folgenden soll nun diese vernachlässigte Epoche nachgezeichnet sowie insbesondere anhand der Entstehungsgeschichte der einzelnen Stücke sowie ihrer Aufführungssituation gezeigt werden, in welchem Maße die Opernaufführungen zum stadtgesellschaftlichen Festereignis wurden; dabei sollen zunächst in zwei Abschnitten die Opernunternehmungen der Handelsleute und von Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens näher vorgestellt sowie anschließend und in einem korrelativen Verhältnis dazu die Bedeutung der Oper als Repräsentationskunst und ihre sozial-politische Funktion beleuchtet werden. Schließlich sei in einem eigenen Abschnitt das gescheiterte Vorhaben nachgezeichnet, in der Reichsstadt eine von Mäzenen unabhängige, auf ökonomischen Profit ausgerichtete, professionelle Opernbühne zu betreiben, wie es die Operntruppe unter Leitung des Komponisten Johann Sigis424 Ygj j e t z t £i en überblick mit weiterer Literatur bei Werner Braun: Oper in the Empire. In: Spectaculum Europaeum. Theatre and spectacle in Europe (15801750). Ed. by Pierre Behar u. Helen Watanabe-O'Kelly. Wiesbaden 1999 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 31), S. 437-464. 425 Brockpähler: Handbuch, S. 305. 426 Vgl. auch die bislang unbeachtet gebliebenen Bemerkungen bei Braun: Einleitung, S. LI, sowie erneut in: ders.: Oper in the Empire, S. 453, der angesichts der Nürnberger Opern in den 1680er und 1690er Jahren feststellte: »Although no standing opera company was founded, the regularity of performance and the existence of religious theatre are reminiscent of Hamburg«.
491 mund Kusser in den Jahren 1697/98 in Nürnberg versuchte. Gerade hier läßt sich zeigen: Barockes Musiktheater in der Reichsstadt war nicht als wirtschaftliches Unternehmen, sondern nur als eine von Mäzenen und Förderern subventionierte Kunstform überlebensfähig.
5.4.1. Die gemeinsamen Opernunternehmungen von Nürnberger Handelsleuten und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens a) »Eine herrliche Music von den fürnehmbsten Musicanten«: Christoph Adam Negeleins und Johann Löhners Opern (1682/83-1688) Es ist wohl nur einer der vielen Zufälle der Geschichte, und doch erscheint es in der Rückschau fast wie eine Fügung: Im gleichen Jahr, in dem nach langjähriger, durch den Krieg mit Frankreich bedingter Pause Mitte 1679 die Nürnberger Theater wieder ihre Pforten öffneten und auf ihren Bühnen unter anderem der Frieden von Nimwegen mit mehreren Friedensschauspielen gefeiert wurde, erscheint erstmals ein Name in der Literaturlandschaft der Reichsstadt, der in den folgenden zwei Jahrzehnten bis zum Ende des Jahrhunderts für die Entwicklung des Nürnberger Musiktheaters von großer Bedeutung werden sollte: Christoph Adam Negelein. Ende der 1670er Jahre hatte der junge Kaufmann seine Ausbildung beendet und war nach ausgedehnten Reisen durch weite Teile Europas in seine Heimatstadt zurückgekehrt, wo er nicht zuletzt durch seine im September 1679 vollzogene Heirat mit einer Tochter aus einer der angesehensten Handelsfamilien Nürnbergs Fuß faßte. Zuvor war der literarisch gebildete und sprachbegabte Kaufmann bereits im Frühjahr durch Sigmund von Birken in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen worden - als Mitglied Nr. 65 seit der Gründung der Sprachgesellschaft und unter dem Namen »Celadon«. 427 Nur wenige Jahre nach seiner Aufnahme in die Sprachgesellschaft fungierte der Kaufmann als eine der zentralen Figuren bei den Aktivitäten der Verwirklichung einer Oper. Und es scheint, daß gerade von ihm die entscheidenden Impulse ausgegangen sind, die früheren, in den geselligen Musikkränzen der Handelsleute und >Pegnitzschäfer< bereits vorhandenen Pläne und ersten Ansätze wieder aufzugreifen. Abraham / der Groß=glaubige Den Auftakt zur ersten Phase dieser Blüte der Nürnberger Oper im späten 17. Jahrhundert bildet das von Christoph Adam Negelein verfaßte Libretto 427
Vgl. Teil B, Kap. 5.1.
492 Abraham / der Groß=glaubige; und Jsaac / der Wunder=gehorsamef2& das 1682 im Felßeckerschen Verlag erschien. Das Stück war allerdings keine völlig eigenständige Arbeit Negeleins, sondern mit ihm knüpfte der Dichter bewußt an ein Projekt an, dessen Pläne einige Jahre zurückreichten. Dabei verweist bereits der (fast identische) Titel auf das Vorbild Negeleins und zeigt die nahe Verwandtschaft des Stücks zu der von Johann Ludwig Faber und Johann Löhner konzipierten Kurzoper Abraham der Gros=glaubige und Jsaac der Wunder=gehorsame, die 1675 im Kreis einer geladenen Gesellschaft der Handelsleute zur Aufführung gelangte. Schon damals hatten Überlegungen existiert, das Stück in einem größeren Rahmen und als vollständig ausgearbeitete Oper auf die Bühne zu bringen, was jedoch aufgrund der widrigen Zeitumstände nicht verwirklicht werden konnte. Als sich die Zeitläufte seit dem Frieden von Nimwegen wieder zu entspannen begannen und man zu einer Realisierung der Pläne hätte schreiten können, war jedoch mit Johann Ludwig Faber einer der beiden Teile des harmonierenden Gespanns gestorben, weshalb das Vorhaben vorerst nicht in Angriff genommen wurde. Anfang der 1680er Jahre schien der Moment für eine Wiederaufnahme der alten Pläne nun offenbar günstiger, denn nun weilte mit dem Kaufmann Christoph Adam Negelein sogar aus den eigenen Reihen wieder ein talentierter und insbesondere an Theater und Oper interessierter Literat in der Stadt. Und schon bald scheinen die Mitglieder der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« an ihren jungen und musikbegabten Standeskollegen mit der Idee zur Verwirklichung des ursprünglichen Projekts herangetreten zu sein. Hierauf verweist jedenfalls die »Vor=Anrede«, die Negelein 1682 dem Libretto beigegeben hat und in der er ausdrücklich darauf hinweist, daß die Oper als Fortsetzung der Arbeit von Johann Ludwig Faber und des Vorhabens von 1675 konzipiert ist, das durch dessen frühzeitigen Tod jedoch nicht realisiert werden konnte: Es hat / vor etlichen Jahren / der weit=berühmte / nunmehr seelige Ferrando / Jsaacs Opferung / so / wie sie in der letzten Abhandlung (ausser zweyen eingefügten Auftritten) enthalten / ausgefertigt / und hätte / mit der Zeit / ein völliges und vielleicht diesem meinigen gleich=langes / [...] Sing=Spiel / einigen seiner Gönner zu Lieb / verfertigt / [ · · . ] / wann er nicht inzwischen / dem frohen Himmel / selbst zum Opfer worden wäre. Nachdem mir aber / dieses seines ehemaligen Fürhabens Fortsetzung / aufgetragen worden: ist endlich / mit nicht=geringem Freude=Zwang / dieses Spiel / nach und nach / aus meiner geringen Feder / und von dieser / gar unter die Presse gespielet worden.429
Zu diesem Vorhaben baute Negelein die Oper nun auf fünf Akte mit 17, vornehmlich einstrophigen Arien aus, indem er auf mehrere Teile der Abra428
429
[Christoph Adam Negelein]: Abraham / der Groß=glaubige; und Jsaac der Wunder=gehorsame; Jn einem Sing=Spiel / vorgestellet / von dem Pegnesischen Blum= genossen Celadon. Nürnberg 1682. Im folgenden als »Negelein/Abraham I« zitiert. Negelein/Abraham I, fol. Aiii v -Aiiij r (Vorrede).
493 ham-Geschichte des Alten Testaments zurückgriff: So sind der >eigentlichen< Episode um die verhinderte Opferung Isaaks nun in vier Akten die ihr im biblischen Text vorausgehenden Kriegshandlungen Abrahams sowie die Liebesaffären und Verwicklungen an seinem Hof vorangestellt, wobei der ursprüngliche Text von Fabers Kurzoper - wie es die oben zitierte Passage aus der Vorrede schon andeutet - fast vollständig als fünfter Akt in das Stück integriert wurde. Dabei hatte Negelein sich (wie schon Faber) um sangbare Verse bemüht, indem er sich nach eigener Auskunft an den »Arten der [...] neuen Frantzösisch= und Wälschen / in denen Sing=Spielen üblich= freyen«430 orientierte. Wie schon bei der Kurzoper von 1675 stammte die Musik erneut von Johann Löhner, der Anfang der 1680er Jahre in Nürnberg zum führenden Künstler in Sachen Musiktheater aufgestiegen war und sich längst den Ruf eines begehrten »Opernfachmann[es]«431 erworben hatte: Nach seinem zwischenzeitigen Engagement am Ansbacher Hof, wo er 1679/80 zusammen mit dem Librettisten und >Pegnitzschäfer< Christian Heuchelin die Oper Die Triumphierende Treue432 zur Aufführung gebracht hatte, war der Musiker seit 1682 als Organist an der Spitalkirche mit einem ersten respektablen Posten fest in Nürnberg angestellt. Spätestens seit diesem Jahr ist die Zusammenarbeit mit Negelein belegt. Anfang 1682 trug der Kaufmann mit einem Lobgedicht zu Löhners Auserlesener Kirch= und Tafel-Music bei, worauf dieser sich am 10. März mit einem kleinen Musikstück auf den letzten Seiten von Negeleins Stammbuch verewigte, bei dem der Musiker den Kaufmann als seinen Gönner bezeichnete 433 Ihren sinnfälligen Ausdruck fand diese Zusammenarbeit in dem schmuckvollen Kupferstich, der dem Libretto von Negeleins Abraham-Oper vorangestellt ist und der sich wie eine graphische Umsetzung des poetologischen Programms der Verbindung von Musik und Dichtung ausnimmt, wie sie in den geselligen Musikkränzen der Kaufleute zusammen mit Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und Musikern wie Johann Löhner seit längerem diskutiert und gepflegt wurde: Der Stich zeigt eine Bühne, deren (vom Betrachter aus gesehen) linke Seite die Allegorie der Dichtkunst einnimmt, ausgestattet mit Dichterlorbeer, Hirtenstab und zusammengerolltem Schreibblatt. Ihr ist auf der rechten Seite die Allegorie der Musik gegenübergestellt, die inmitten von Notenblättern und Instrumenten sitzt. In der rechten Hand eine Panflöte haltend, greift sie zugleich mit ihrer linken nach dem sich erhebenden Theatervorhang, der die Darstellung der Opferungsszene 430 431 432
433
Ebd., fol. Aiiif. Braun: Einleitung, S. L. Johann Löhner: Die triumphierende Treu. Sing-Spiel. Nach den Quellen rekonstruiert u. hg. v. Werner Braun. Wiesbaden 1984 (Denkmäler der Tonkunst in Bayern, N. F., Bd. 6). Vgl. Braun: Einleitung, S. XLVIII.
494 Isaaks preisgibt (vgl. Abbildung Nr. 16). Wie Werner Braun angemerkt hat, erinnert dieses Arrangement nicht nur an die Gestaltung des Titelkupfers der theologisch geprägten Poetik Sigmund von Birkens, sondern auch an den Kupferstich, der Johann Löhners geistlich-erbaulicher Liedsammlung Andacht-Klang von 1673 beigegeben ist.434 Letzterer zeigt in seiner Mitte die Allegorie der Andacht, die auf der linken Seite flankiert wird von der Allegorie der Dichtkunst (versehen mit Lorbeerkranz und Schriftrolle) sowie rechter Hand von der Allegorie der Musik, der als Instrument eine Harfe beigegeben ist. Und gerade in dem genannten Gesangbuch hatte Löhner sein bereits erwähntes theoretisches Programm formuliert, nach dem zwischen Text und Ton eine enge Beziehung bestehe, bei der »eines dem andern das Leben« gebe 435 Diese Entsprechungen zwischen den einzelnen Kupferstichen machen deutlich, daß mit der Abraham-Oper die Anfänge der Nürnberger Barockoper aus der spezifischen Lokaltradition hervorgingen, in der die Musik als eine »etwas ältere Schwester«436 der Dichtkunst galt und die angestrebte Verbindung beider als eine Form christlicher Kunst mit geistlich-erbaulichen Zwecken bestimmt wurde, wie sie bereits in den poetologischen Konzepten des Pegnesischen Blumenordens diskutiert sowie in den Musikkränzen der Kaufleute und >Pegnitzschäfer< praktiziert wurde (vgl. Teil A, Kap. 3.). Veranstalter und Finanziers Negeleins Debütoper sollte sich zum regelrechten Erfolgsstück entwickeln und weit über Nürnberg hinaus von sich reden machen. Bislang ging man davon aus, daß die Oper bereits 1682 im Erscheinungsjahr des Librettos erstmals aufgeführt wurde, wie es der Zusatz vorgestellet im Titel nahezulegen scheint.437 Gegen diese Datierung spricht jedoch, daß sich trotz intensiver Recherche für das Jahr 1682 kein Aufführungsbeleg in den Ratsverlässen finden ließ, wie es für die späteren Aufführungen des Stücks jedoch der Fall ist. Zudem gibt es in der Vorrede Negeleins konkrete Hinweise dafür, daß die Oper bei Erscheinen des Librettos noch nicht über die Bühne gegangen war, sondern umgekehrt zuerst der Librettodruck vorlag und der Vermerk vorgestellet in diesem Fall eher auf eine geplante Aufführung verweist. Denn bei Erscheinen des Librettos waren offenbar die Kompositionen der Partitur noch nicht vollständig fertiggestellt. Hierauf deuten jedenfalls die Bemerkungen von Negelein zum Schluß seiner »Vor=Anrede« des Stücks:
434 435 436 437
Vgl. ebd., S. XLVIIf. Siehe hierzu Teil B, Kap. 5.3., Beispiel 1; dort der Nachweis für das Zitat. Birken: Dicht-Kunst, fol. ):( vif (Vorrede). So etwa Sandberger: Oper in Nürnberg, S. 190; Brockpähler: Handbuch, S. 301f., und Braun: Einleitung, S. XLVIIf.
495 Noch eines: Wie dieses Spiel / mit denen Sing=Weisen / auf der Bühne / klingen und in das Gehör dringen werde? Wird daher bald zu ermessen seyn / wann man sich versichert hält / daß der Stimmen=Setzer / Herr Löhner /[...] diesesmal seinen Fleiß gantz ungemeinwol erwiesen habe! So viel seye genug: Dann wie der Schau= Platz und dessen Veränderungen etwan anzuordnen? Hat hier / weilen die Geschichte / ohne dem / den meisten bekandt ist / keiner sonderlichen Anweisung vonnöthen. Fahre Wohl / lieber Leser!438
Auch wenn das Stück somit wahrscheinlich noch nicht 1682 realisiert werden konnte, ließ seine Premiere nicht lange auf sich warten. Denn bereits für den Frühsommer des folgenden Jahrs ist eine Aufführung der Abraham-Oper sicher belegt. Am 11. Juni 1683 beschloß der Rat auf das zuvor eingegangene Gesuch hin: Christoff Adam Nägelein, handelsmann, und seiner Poeten-Gesellschafft, soll man erlauben, Jhre vorhabende repräsentation einer Comoedie im Augustiner Closter den morgenden diens- und folgenden donnerstag, gebettener maßen, anzustellen.439
Wer ist mit der »Poeten-Gesellschafft« von Negelein gemeint, die der Dichter selbst ein Jahr später seinen Lesern in der zweiten Auflage des Librettos als die »bekannte Academie der Poesie= und Music=Liebenden« vorstellen wird (siehe unten)? Ohne Zweifel wird man damit zunächst den Pegnesischen Blumenorden identifizieren. Hierfür spricht neben der von sich aus schon signifikanten Bezeichnung insbesondere die Aufmachung des Drucks, der sich ganz als ein >Produkt< aus den Reihen der Sprachgesellschaft präsentierte: Neben dem bereits erwähnten Kupferstich, der mit Panflöte, Blumenkranz und Hirtenstab zentrale Insignien der >Pegnitzschäfer< abbildete (vgl. Abbildung Nr. 16), zeichnete Negelein auf dem Titelblatt mit der Signatur: »von dem Pegnesischen Blum=genossen Celadon«. Darüber hinaus ist dem Libretto ein (lateinisch verfaßtes) Lobgedicht von dem bereits mehrfach erwähnten Sprachgelehrten Johann Gabriel Meyer beigegeben, das dieser ebenfalls mit seinem Gesellschaftsnamen »Palaemon« unterzeichnete. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß mit der als Veranstalter auftretenden »Poeten-Gesellschafft« der Pegnesische Blumenorden oder doch zumindest etliche seiner Mitglieder gemeint waren. Doch dies hat nicht unerhebliche Konsequenzen für die Beurteilung der Sprachgesellschaft und ihrer gesellschaftlichen Rolle innerhalb der Stadtgemeinde. Denn angesichts dieser engen Verbindung des Pegnesischen Blumenordens und seiner Mitglieder mit den Opernunternehmungen, die in Nürnberg festlich und unter großer Aufmerksamkeit sowie organisatorischer Beteiligung und Anwesenheit der Obrigkeit aufgeführt wurden (siehe unten), kann man wohl nicht mehr davon sprechen, daß die Sprachgesellschaft nur eine rein private Vereinigung gewesen sei, die kaum in der Öffentlichkeit aufgetreten sei, wie immer wieder zu lesen ist und erst jüngst von Hartmut Laufhütte hervorgehoben wurde: 438 439
Negelein/Abraham I, fol. Av r -Av y (Vorrede). StaatsAN, RV Nr. 2814 vom 11. Juni 1683, fol. 33r.
496 »Auch die literarische Institution im Nürnberg des 17. Jahrhunderts, der Pegnesische Blumenorden, war eine private Vereinigung und wurde von der Stadt als Obrigkeit gar nicht zur Kenntnis genommen«.440 Doch damit ist der Kreis der Veranstalter keineswegs vollständig erfaßt. Auffällig ist bereits die Titulierung Negeleins im Ratsverlaß als Handelsmann, was darauf schließen läßt, daß er in seinem Gesuch mit dieser Berufsangabe gezeichnet haben dürfte. Schon dies lenkt den Blick auf das Umfeld der vornehmen Großkaufleute und ihrer Musikgesellschaft. Hierfür ist zudem die von Negelein dem Stück vorangestellte Widmung aufschlußreich. Denn sie richtet sich mit den Gebrüdern und Handelsmännern Johann Conrad und Johann Christoph Götz an zwei Mitglieder der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute«, die bereits an den geselligen Aufführungen von Kurzopern Mitte der 1670er Jahre beteiligt waren und als Adressaten von Johann Ludwig Fabers Widmungen fungierten.441 Und damit schließt sich der Kreis wieder. Denn wie bereits gezeigt, ist die Entstehungsgeschichte und >Urform< der Abraham-Oper unmittelbar mit dieser Gesellschaft verbunden, für die das Stück von Faber und Löhner ursprünglich konzipiert und schließlich im Rahmen eines ihrer Musikkränze aufgeführt worden war. Nicht zuletzt spricht für eine unmittelbare Beteiligung der Handelsleute an den Aufführungen, daß ein Jahr später bei der Wiederholung der Abraham-Oper einige ihrer Mitglieder ausdrücklich und offiziell als Initiatoren und Veranstalter gegenüber dem Rat auftreten (siehe unten). Von daher sind als Veranstalter, Mitwirkende, Mäzene und Finanziers der Anfang der 1680er Jahre einsetzenden Opernaktivitäten in Nürnberg neben Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und Musikern in städtischen Diensten auch Teile der vorderen Kaufleute anzusprechen und die Theaterunternehmungen als ein > Gemeinschaftsprojekt< zwischen diesen Gruppen anzusehen - eine Zusammenarbeit, die in dem >Pegnitzschäfer< und Handelsmann Christoph Adam Negelein gleichsam ihren personellen Mittelpunkt hat. Diese Überschneidungen zwischen den verschiedenen beteiligten Gruppen mögen erklären, warum sich in den Ratsverlässen, Gesuchen und Libretto-Vorreden für die Veranstalter so unterschiedliche Bezeichnungen wie »Akademie«, »Compagnie«, »Liebhaber« sowie »Poetengesellschaft« oder auch »Music liebhabende handels Leute« finden. Spektakel vor Fürsten, Herzögen und Ratsherren Bereits bei der Premiere am 12. Juni 1683 scheint Negeleins und Löhners Abraham-Oper auf ein reges Interesse in der Reichsstadt gestoßen zu sein, 440
441
Laufhütte: Philologisches Detektivspiel, S. 492. In diesem Sinne zuvor bereits unter anderem Garber: Städtischer Ordenspräsident, S. 228, sowie Jons: Literaten in Nürnberg, S. 87f. Siehe oben Teil B, Kap. 5.1. u. 5.3., Beispiel 1.
497 da man das Stück in der gleichen Woche noch ein zweites Mal auf der Bühne im Augustinerkloster zur Aufführung brachte und dabei nicht nur einen beachtlichen Publikumsandrang bewältigen, sondern offenbar auch viele Schaulustige abhalten mußte, die der ersten öffentlichen Opernaufführung in der Reichsstadt beiwohnen wollten. Denn der Rat sicherte den Veranstaltern eine Unterstützung mit Aufsichtskräften zu und wies das Kriegsamt an, »man solle Jhnen auch 2 Provisoner aus der Löbl. Kriegstuben, wegen des gedrängs, zugeben.« 442 Schon die bloße Erteilung einer Spielerlaubnis kann zu dieser Zeit durchaus als ein Privileg angesehen und als Ausdruck der aufgeschlossenen Haltung des Rats gegenüber den Opernunternehmungen gewertet werden. Denn angesichts der kriegerischen Zeitläufte und drohenden Türkengefahr im Osten sowie der Franzosen im Westen schränkte die Obrigkeit seit Jahresbeginn 1683 das Theaterleben ein und erlaubte keine öffentlichen Schauspiele mehr - davon ausgenommen waren nur die Opernunternehmungen: So ließ man etwa zur gleichen Zeit, während die Vorbereitungen für Negeleins und Löhners Opernpremiere bereits auf Hochtouren liefen, einen aus Augsburg kommenden »Pollicinello=Spieler« trotz seiner vorgelegten Reverenz des Grafen Ludwig Gustav von Hohenlohe »in Erwegung jeziger gefährlich außstehender Zeiten beharrlich abweißen«. 443 Gleiches gilt für die »Fürstlich Eggenbergischen Hofcomoedianten«, denen ihr Mitte Juni eingereichtes Gesuch um eine Konzession »wegen übler beschaffenheit der kriegerischen gefährlichen lauften« 444 abgeschlagen wurde. Nur wenige Tage zuvor, als am 12. und 14. Juni die Abraham-Oper über die Bühne im Augustinerkloster gegangen war, wollte man von solcher Kriegsgefahr noch nichts wissen. Die Premiere gestaltete sich offenbar als Erfolg, da man die Oper im folgenden Jahr in erweiterter Aufmachung wiederholte: Für den Nachmittag des 10. Aprils 1684 luden die beiden Kaufleute Gabriel Scheller 445 und Johann Christoph Götz »im nahmen Jhrer Compagnie« 446 zu einer Wiederholung der Oper auf der Bühne im Augustinerkloster, deren Darbietung unter erheblichen, gegenüber dem Vorjahr noch verstärkten Sicherheitsvorkehrungen zu einem exklusiven, stadtgesellschaftlichen Spektakel von hohem Rang 442 443 444 445
446
StaatsAN, RV Nr. 2814 vom 11. Juni 1683, fol. 33r. Ebd., RV Nr. 2811 vom 4. April 1683, fol. 122r (fehlt bei Hampe). Ebd., RV Nr. 2814 vom 18. Juni 1683, fol. 74r. Gabriel Scheller stammte aus einer Nürnberger Familie und war seit 1688 »Genannter des Großen Rats«. Nach Marperger: Erstes Hundert Gelehrter Kauffleut, S. 136, war Scheller ein »berühmter Kauffmann« und hatte eine »Material-Handlung etabliert, die unter denen considerabelsten / den Preiß des Vorzuges mit praetendiren kann«. Durch die in Teil B, Kap. 5.1., angeführten Lobgedichte auf die »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« ist er ebenfalls als deren Mitglied bezeugt. Vgl. auch Roth: Geschichte des nürnbergischen Handels, Bd. 2, S. 95, sowie ders.: Verzeichniß aller Genannten, S. 143. StaatsAN, RV Nr. 2825 vom 10. April 1684, fol. 61v.
498 und mit ausgesprochen repräsentativen Qualitäten werden sollte: Neben den geladenen Ratsherren und Honoratioren der Reichsstadt wohnten der Oper mehrere fürstliche und adelige Gäste von auswärts bei. So war für die Vorstellung nicht nur der »gesambte wohledle Raht [...] gehorsamlich invitiret« worden, sondern es sollten zudem »unterschiedliche hohe Fürstl. und Gräfliche Personen hierbey erscheinen«, weshalb die Initiatoren darum gebeten hatten, »zu mehrerem respect und zu abhaltung des gemeinen eindringenden Pövelvolks Jhnen etliche Provisoner zu vergünstigen«.447 Aus bislang nicht bekannten Berichten in mehreren Nürnberger Stadtchroniken läßt sich der erlauchte Kreis auswärtiger Gäste noch näher bestimmen, dem eine ganze Reihe hochrangiger Personen von Adel angehörte: Demnach waren bei der Opernaufführung im Augustinerkloster »unter anderen darinnen geweßen, der Fürst von Lobcowiz, und der Marggraf von Anßbach, ein Herzog von Württemberg, ein Graf von Cassel, vnd viel andere Graffen vnd Herren mehr«.448 Es verwundert nicht, daß der Rat diesem, vor äußerst exklusivem Publikum dargebotenen Theaterspektakel, das den Ruhm Nürnbergs weit über die Stadtgrenzen hinaus verbreiten konnte, sehr wohlwollend gegenüberstand und versuchte, dessen Durchführung und Gelingen organisatorisch zu unterstützen.449 Sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil die prächtige Operndarbietung auch positiv auf das Ansehen der Obrigkeit zurückfiel und den Stadtvätern eine Gelegenheit bot, sich vor den auswärtigen Gästen im festlichen Gewand und feierlichem Rahmen zu präsentieren - wobei dem Rat von den Veranstaltern neben etlichen Exemplaren eines »von dieser Materi gedruckten teutschen Lieds« die beachtliche Anzahl von 200 Vorzugskarten (»billeten«) überreicht worden war. Sowohl die Drucke als auch Eintrittskarten wurden zu Dank angenommen und auf Anweisung der Obrigkeit unter den Mitgliedern des Rats sowie den Richtern des Stadtgerichts verteilt. Zugleich ordnete man an, daß die Herren Kriegsverordneten für die anberaumte Vorstellung »die anschaff- und instruirung der Provisoner« vornehmen sollten, um »die Gemeinen Leuthe davon, so viel müglich, für heut abzuhalten und auf andere Täge, an denen die Comoedi öfters wird gesehen werden, zu vertrösten«. Darüber hinaus wurden zugleich die »Beamten im Löbl. Almosambt« beauftragt, »die anweisung und notdurftige accommodirung der Fürstl. und anderer vornehmer Spectatorum anzubefehlen«.450 447 448
449
450
Ebd., fol. 61 v -62 r . SBN, Amb. 87.2°: Chronik der Stadt Nürnberg von Anfang bis 1687, fol. 234v. So auch der Bericht bei Imhoff: Contjnvatio Annalivm, S. 218-219. Wie schon im Vorjahr kann auch diesmal die erteilte Spielerlaubnis als ein besonderes Privileg und Ausdruck des obrigkeitlichen Interesses an den Opernunternehmungen angesehen werden, da wiederum zur gleichen Zeit alle anderen Theater in der Reichsstadt geschlossen waren und ankommende Wandertruppen mit dem Hinweis auf die Kriegsgefahr abgewiesen wurden: so etwa Anfang Mai die Truppe von Andreas Elenson. Vgl. StaatsAN, RV Nr. 2826 vom 6. Mai 1684, fol. 34r. Ebd., RV Nr. 2825 vom 10. April 1684, fol. 62r-v.
499 Von einer späteren Opernaufführung von 1697 ist überliefert, daß derartige Empfänge regelrecht zeremonielle Züge annehmen konnten, indem etwa die sieben Herren Älteren als ranghöchste Repräsentanten der Stadt vor der Aufführung den fürstlichen Gästen ihre offizielle Aufwartung machten und diese dann zum Opernhaus geleiteten.451 Es ist gut denkbar, daß man hier die vornehmen Ehrengäste nochmals offiziell vor anwesendem Publikum begrüßt hat, wie es bei der Hamburger Oper Brauch war.452 Hierauf deutet zumindest die erwähnte Überreichung eines »teutschen lieds«, das möglicherweise als Begrüßungsprolog vorgetragen wurde. Pompöse Aufmachung und Berufssänger Die repräsentative Bedeutung der Aufführung als eines stadtgesellschaftlichen Ereignisses vor geladenen fürstlichen Gästen und patrizischen Ratsmitgliedern spiegelt sich auch in dem größeren Aufwand wider, den man 1684 bei der Wiederholung der Abraham-Oper betrieb. Für die Neuaufnahme des Stücks wurde das Libretto zum zweytenmal gedruckt und vermehrt, wie es im Titel heißt.453 Tatsächlich ist das neue Libretto gegenüber dem vorherigen Druck erheblich erweitert worden, was darauf schließen läßt, daß die Aufführung von 1684 pompöser gestaltet war: So wurden insbesondere dem vierten Akt sieben Szenen hinzugefügt, was die Zugabe von vier neuen Soloarien (nun insgesamt 21) bedeutete. Zudem erhielt das Stück einen um zwei Strophen vergrößerten Schlußchor sowie zehn instrumentale Zwischenspiele, die zumeist als Abschluß oder Eröffnung einzelner Szenen vorgetragen wurden, wie die Hinweise »Hier wird musiziert«454 oder »Hier wird zugezogen und unter einer Music die Bühne in einen Wald mit Gebürg verändert«455 verdeutlichen. Neben den Wald- und Gebirgsdekorationen nennt das Libretto von 1684 als Bühnenbilder noch verschiedene Gärten- und Wüstendarstellungen sowie das »unter einer Music /[...] brennende Sodoma in der Ferne« 456 Als Musiker für das Orchester dürften in erster Linie die Mitglieder der Stadtkapelle in Frage kommen, die in der Regel bei offiziellen Anlässen aufspielten und das Privileg genossen, alle wichtigen privaten Veranstaltungen musikalisch zu versorgen457 - wobei einige der Stadtpfeifer (wie gesehen) bei den geselligen Veranstaltungen der Großkaufleute und >Pegnitzschäfer< 451 Siehe hierzu Teil B, Kap. 5.4.3. 452 V g l Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne, S. 55-59. 453 [Christoph Adam Negelein]: Abraham / der Groß=glaubige; und Jsaac / der Wunder=gehorsame; / Jn einem / Sing=Spiel / Zum zweytenmal gedruckt und vermehrt / vorgestellet von dem / Pegnesischen Blumen=genossen / Celadon. Nürnberg 1684. Im folgenden als »Negelein/Abraham II« zitiert. 454 Ebd., S. 2 (Akt I, Szene 1). 455 Ebd., S. 56 (Akt V, Szene 6). 456 Ebd. S. 33 (Akt IV, Szene 1). 457 Vgl. Teil A, Kap. 3.
500
teilnahmen und dort musizierten. Für die Neuaufnahme der Abraham-Oper ist zudem belegt, daß die Aufführung nicht von Laienspielern bestritten wurde, sondern die als Finanziers auftretenden Großkaufleute bereit gewesen waren, Berufssänger und -schauspieler zu engagieren. Dies geht aus der Vorrede hervor, die Christoph Adam Negelein der Fassung von 1684 beigegeben hat. Hierin erinnert er zunächst daran, daß »die bekannte Academie der Poesie= und Music=Liebenden« bereits im vorangegangenen Jahr die Erlaubnis hatte, »die Vorstellung dieses Sing=Spiels etlich-mahl zu wiederholen«.458 Daneben verwies er auf die Tatsache, daß man mehrere »Sing=Spieler und Spiel=Sänger« angeworben hatte, »die / in dergleichen / ihre Zeit nicht vergeblich zu zubringen / Beruf machen«, weshalb man das erlauchte Publikum um eine »Ergötzung« bat, um »so manche vor die Vorstellung gemachte Unkosten und Verehrungen / erträglich zu machen«.459 Unter diesen professionellen Künstlern befanden sich möglicherweise auch auswärtige, von benachbarten fränkischen Höfen angeworbene Musiker zur Verstärkung des Orchesters. Denn nach dem Bericht einer Stadtchronik war bei der Oper »eine herrliche Music von den fürnehmbsten Musicanten gehalten worden«460 - eine Titulierung, die für die Nürnberger Stadtpfeifer allein wohl nicht angemessen war. Eine mißglückte Fortführung der Vorlage? Während die Oper unter den Zeitgenossen offenbar auf großen Anklang stieß, fand Negeleins Libretto (soweit ersichtlich) in der modernen Literatur bislang so gut wie kein näheres Interesse und erscheint in der einzigen Untersuchung, die sich der Oper über eine bloße bibliographische Erwähnung hinaus annahm, als eine >mißglückte< Fortführung der ursprünglichen Vorlage von Johann Ludwig Faber. So wurde von Fritz Reckling, der im Rahmen seiner Untersuchung zu den Abraham-Isaak-Dramen dem Libretto einen kurzen Abschnitt widmete, insbesondere kritisiert, daß durch den Ausbau der Oper auf fünf Akte die ursprünglich im Zentrum stehende Episode um die verhinderte Opferung Isaaks keinerlei Beziehung zu der ihr vorausgehenden Handlung habe und nur noch als zusammenhangloser Nachtrag fungiere.461 Während bei Faber noch der religiös-erbauliche Charakter im Vordergrund stehe, dienten in der Fassung von Negelein »die Ereignisse aus dem Leben des Patriarchen nur dazu, das Liebesabenteuer einer Magd abrollen 458 459
460 461
Negelein/Abraham II, fol. Aijr-Aijv (Vorrede). Ebd., fol. Aij v -Aiij r . Bei der Bitte um eine »Ergötzung« für die aufgewandten Unkosten vergaß Negelein nicht, auf die geschenkten Billetts hinzuweisen. SBN, Amb. 87.2°: Chronik der Stadt Nürnberg von Anfang bis 1687, fol. 234v. Vgl. Reckling: Immolatio Isaac, S. 100-102. Selbst Braun: Einleitung, S. XLVII, meint, daß durch den von Negelein vorgenommenen opernhaften Ausbau der Abraham-Geschichte die verhinderte Opferung Isaaks »mehr als Anhang denn als eigentliches Thema erscheint«.
501 zu lassen«. 462 Von dieser nach Reckling vermeintlich im Mittelpunkt stehenden Liebesgeschichte um die Magd Hagar und den Knecht Etzbon bestehe jedoch »keine Verbindung zu der plagiierten Opferungshandlung«. 463 Auch wenn hier nicht der Raum für eine erschöpfende Analyse des Stücks ist, sei dieser Ansicht dennoch widersprochen und zumindest mit wenigen Bemerkungen angedeutet, daß Negeleins Ausbau der Oper keineswegs >mißglückt< ist, sondern die neu hinzugefügten Episoden (insbesondere bei der zweiten, nochmals erweiterten Fassung von 1684) durchaus in enger struktureller und funktionaler Beziehung zur Isaak-Opferung stehen, indem sie die Grundgedanken der Abraham-Isaak-Geschichte (Glauben, Gehorsam, Vertrauen in Gott, Prüfungsgedanke und Standhaftigkeit) unter mehreren Aspekten aufgreifen und mittels der Schilderung verschiedener Beispiele von Affektkontrolle und Affektdarstellung thematisieren. 464 Das Stück setzt ein mit Abrahams Feldzug gegen die vier Könige des Ostens, um Loth aus der Gefangenschaft zu befreien. Doch nicht Kriegsund Schlachtszenen stehen nun im Mittelpunkt des weiteren Geschehens, sondern die am Hofe zurückgebliebenen Frauen, deren Ängste thematisiert werden. Dabei wird deutlich, daß der Krieg als eine Prüfung zu verstehen ist, in der sich die eigene Standhaftigkeit und der Glaube an die Fügung Gottes zu bewähren haben. Dies zeigt sich insbesondere an der Figur von Sarai, der Frau Abrahams, deren Reaktionen auf das Kriegsgeschehen ganz im Mittelpunkt des ersten Akts stehen: Zunächst ist Sarai noch ganz von Affekten bestimmt, indem sie von Zweifel und Ängsten geplagt wird: »Ach GOtt! Wie leid ist mir! Wie bebt mein zages Hertz! | Der Sieg ist ungewiß«, eröffnet sie ihrer Magd Hagar. 465 Unterstrichen wird diese von Affekten geleitete Gefühlsdisposition noch durch die erste Arie von Sarai, die zugleich die Eröffnungsarie des gesamten Stücks ist und ein signifikantes Beispiel für die Funktion der Arie als Mittel der Affektdarstellung ist: Wann ich die Noth betracht / die meines Liebsten Leben / mir höchst=gefährlich macht; Jch mögte meines geben! Alles wird mir gantz verhasst; Alle Lust zur Last! Jch muß in tausend Aengsten schweben / wann ich die Noth betracht / die meines Liebsten Leben / mir höchst=gefährlich macht! 466 462 463 464
465 466
Reckling: Immolatio Isaac, S. lOlf. Ebd., S. 101. Zur grundsätzlichen Funktion der Barockoper als Mittel der Affektdarstellung siehe Taubald: Oper als Schule der Tugend, bes. S. 139ff., sowie Jahn: L'Adelaide und L'Heraclio, S. 661-667. Negelein/Abraham II, S. 2 (Akt I, Szene 2). Ebd., S. 3 (Akt I, Szene 2).
502 Doch auf diese Affektdarstellung in der Arie folgt schon bald der Umschwung zur wiedergefundenen Gemütsruhe und Affektkontrolle, die (ganz entsprechend den Vorstellungen des christlich geprägten Neostoizismus) als eine aus Vernunft und Überlegung gewonnene Einsicht in die göttliche Vorsehung und die daraus resultierende Entscheidung zur Selbstdisziplin dargestellt wird. So schildert Sarai nur kurz darauf in einer Rezitativ-Partie ihrer Magd: Sarai [...] tröste dich / mit mir! Jch hab es besser überwogen: Der höchste GOtt ist / mit Jhm / ausgezogen; Jch weiß / daß ich / mit diesem / nichts verlier! Geh jetzt / und rieht mir was zu essen zu! Hagar Auf Euren Trost / fühlt sich mein Hertz in Ruh!467
Diesen Aspekt greift der aus dem Krieg siegreich zurückkehrende Abraham zu Beginn der zweiten »Abhandlung« nochmals auf: Es komm / was woll / und immermehr zu Händen; Wer GOtt vertraut / wird nimmermehr zu Schanden! Das Unglück Loths hat mich zwar sehr gerührt; Doch hat mein Hertz / gleich / Trost und Muth gespührt / als ich an GOtt und seine Hülffe dachte [...]. 468
Das Thema der Selbstdisziplin, Beständigkeit und des Vertrauens in die göttliche Vorsehung, die sich in Krisensituationen bewähren müssen, zieht sich wie ein roter Faden durch das Stück. Dies ließe sich an weiteren Passagen der Oper belegen und sei hier nur noch an einem Beispiel angedeutet: an der im vierten Akt dargestellten (und erst in der Fassung von 1684 eingefügten) Verbannung Hagars und ihres Sohnes Jsmael. Zunächst hatte die kinderlos gebliebene Sarai ihren Mann Abraham dazu überredet, mit der Magd Hagar ein Kind zu zeugen, um so die ungeklärte Nachfolge zu sichern. Als Sarai jedoch wider Erwarten mit Jsaac in späten Jahren noch einen Sohn zur Welt bringt, drängt sie nun Abraham dazu, die Magd Hagar mit ihrem unehelichen Kind Jsmael vom Hof in die Wüste zu verbannen, was dieser auf Geheiß Gottes schließlich anordnet. 469 Diese Vertreibung470 wird nun eindeutig als eine Prüfung des Glaubens, Gehorsams und der Standhaftigkeit geschildert und steht dadurch in enger Beziehung zur der im fünften Akt folgenden Abraham-Isaak-Episode, als deren Präfiguration sie gleichsam fungiert. Hierauf verweisen die mannigfa467 468 469
470
Ebd., S. 5 (Akt I, Szene 4). Ebd., S. 13 (Akt II, Szene 1). Vgl. auch die komprimierte Inhaltsangabe bei Reckling: Immolatio Isaac, S. 101, der allerdings die neu hinzugefügte Hagar-Ismael-Episode nicht berücksichtigte und von daher deren figuraltypologischen Charakter nicht erkannte. Vgl. Negelein/Abraham II, S. 45-50 (Akt IV, Szene 13-17).
503 chen Parallelen zwischen der Hagar-Ismael- und der Abraham-Isaak-Episode: Ziehen hier Vater und Sohn aus, sind es dort Mutter und Sohn, die ebenfalls durch höhere Gewalt mit unerwarteten »Zufällen« konfrontiert werden. Und beide werden schließlich durch göttliche Kraft von ihrem Schicksal erlöst. Ist es bei Abraham und Jsaac Gott selbst, der den Opferbefehl verhindert, errettet Hagar und Jsmael ein gesandter Engel vor dem Tod durch Verdursten. Besonders deutlich zeigt sich die Analogie der beiden Episoden in der als Duett gesungenen Schlußarie der Hagar-Ismael-Episode, die den Abschluß des vierten Aktes markiert und deutlich auf den Schlußchor des fünften Akts verweist, der sich an die verhinderte Opferhandlung anschließt. So heißt es nach der Errettung Hagars und Jsmaels durch den Engel am Ende des vierten Akts: Auf! Freut euch / ihr Himmel! Mit unseren Hertzen! GOTT sendet und wendet / die Klagen / die Schmertzen! Verstösset / vergrösset; Er drucket / erquicket! Die Ehre / Preis / Rühmen / sey ihme geschicket!471
Und dazu im Vergleich die erste Strophe des Schlußchors der Oper: Ewig mit ewigen Ehren und Loben / werde die ewige Gottheit erhoben / welche die Jhrigen drücket und presst / aber / im Drücken / ersticken nicht lässt!472
Auch wenn hier nicht der Raum für eine weitergehende Analyse ist, dürfte deutlich geworden sein, daß Negeleins Fassung keineswegs eine mißglückte Fortführung des früheren Stücks von Faber darstellt, sondern daß in dem ausgearbeiteten Libretto vielmehr das bereits in der Kurzoper vorhandene Grundthema von geprüftem Gehorsam, Selbstdisziplin und Beständigkeit variierend aufgegriffen und anhand mehrerer Figuren durchspielt wird, die mit dem Walten der Fortuna bzw. den Entschlüssen Gottes konfrontiert werden und sich dabei als standhaft bewähren müssen, ganz ähnlich dem FortunaKonzept, wie es Kristine Krämer für die Schauspiele Johann Christian Hallmanns beschrieben hat. 473 Von daher erweist sich Negeleins Abraham-Oper als ein signifikantes Beispiel für die »These von der Oper als Schule der Affektkontrolle«.474 Auch sei hier nur angedeutet, daß dem in der Oper verkündeten sittlichen Programm der Affektkontrolle, Selbstdisziplin und gehorsamen Standhaftigkeit in Krisenzeiten nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Türkenkrieges wichtige gesellschaftspolitische Implikationen innewohnten und es im allgemeinen Kontext der Tugendlehre gesehen werden muß, die auf eine Disziplinierung der Bevölkerung abzielte.475 471 472 473 474 475
Ebd., S. 49f. (Akt IV, Szene 17). Ebd., S. 61 (Akt V, Szene 9). Vgl. Krämer: Hallmann, S. lOOff. u. passim. Jahn: L'Adelaide und L'Heraclio, S. 665. Siehe hierzu unten Teil B, Kap. 5.4.2.
504 Exkurs: ein Nürnberger >Opernexport< Mit der Abraham-Oper war den Handelsleuten und >Pegnitzschäfern< um Christoph Adam Negelein ein erfolgreicher Einstand gelungen, der auch über die Stadtmauern hinaus von sich reden machte, wie nicht nur die Anwesenheit vornehmer und fürstlicher Gäste von auswärts verdeutlicht, sondern auch eine weitere Episode der Aufführungsgeschichte zeigt. Denn das Stück wurde in Nürnberg mit Begeisterung aufgenommen und entwickelte sich gleichsam zum Exportschlager, wobei die Nürnberger Aufführung vom Frühsommer 1683 sich im fränkischen Raum schnell herumgesprochen und insbesondere die Aufmerksamkeit Herzog Albrechts von Sachsen-Coburg gefunden zu haben scheint: Nur rund ein halbes Jahr nach ihrer Nürnberger Premiere wurde die Oper vom Coburger Hof übernommen. Seitdem Coburg 1680 mit dem Regierungsantritt des musikliebenden Herrschers wieder herzogliche Residenz geworden war, begann das höfische Leben in der kleinen Residenzstadt wieder Einzug zu halten.476 So kam es unter Herzog Albrecht zur Bildung einer Hofkapelle sowie regelmäßigen Opern- und Schauspieldarbietungen. Hierzu ließ der Regent Ende 1683 den oberen Teil des Zeughauses zu einer »Schaubühne mit vielen Machinen [!] und Veränderungen, Jtaliänischer Manier nach« umbauen, »vor welche [r] etzliche 100. Personen zum Zuschauen genugsam Platz haben«.477 Mit der Geschichte dieses Hoftheaters ist der Nürnberger Abraham aufs engste verknüpft. Denn auf Geheiß Herzog Albrechts wurde die Oper am 27. Januar 1684 anläßlich des Geburtstags der Herzogin Marie Elisabeth in einer gegenüber der Fassung des Librettos von 1682 ebenfalls neubearbeiteten und erweiterten Version unter dem Titel Der gehorsame Wunder=Glaube Abrahams in der willigen Opfferung seines Sohns Jsaacs aufgeführt, und zwar auf dem darzu neu=bereiteten Schau=Platz·478 Damit kam dem Nürnberger 476
477
478
Vgl. Heinz Pellender: Chronik der Stadt und der Veste Coburg, der Herren und Herrscher über Coburg und das Coburger Land. Coburg 41985 (11983), S. 85, sowie Rudolf Potyra: Coburg. In: 2 MGG Sachteil 2 (1995), Sp. 924-932, bes. 926f. G[eorg] P[aul] Hönn: Sachsen=Coburgische Historia / in zweyen Büchern [...]. Neustadt a.d.A. 1986 (Ndr. der Ausgabe Frankfurt, Leipzig 1700), Bd. 1, S. 231f. Siehe hierzu auch Herbert A. Frenzel: Thüringische Schlosstheater. Beiträge zur Typologie des Spielortes vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin 1965 (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Bd. 63), S. 151-155, sowie Harald Bachmann: Coburger Theatertradition im Rahmen der allgemeinen Landesgeschichte (bis 1945). In: 150 Jahre Coburger Landestheater. Festschrift. Hg. v. ders. u. Jürgen Erdmann. Coburg 1977, S. 59-99, bes. S. 63-67. [Christoph Adam Negelein]: Der / gehorsame / Wunder=Glaube / Abrahams / in der willigen Opferung seines Sohns / Jsaacs / welchen / auf / [ . . . ] / Frauen / Marien Elisabethen / Herzogin zu Sachsen / [ . . . ] / am 27. Januarii 1684 / durch GOttes sonderbahre Güte glücklich wieder erlebten HochFürstl. Geburts=Tag / Der [...] / Herr / Albrecht / Herzog zu Sachsen / [ . . . ] / Zu Bezeigung Dero Herzvergnüglichen Freude / in einem / Singe=Spiel / auf dem darzu neu=bereiteten Schau=Platz / vorstellen lassen. Coburg [1684].
505 >Opernexport< sogar die Ehre zu, zusammen mit dem ebenfalls aufgeführten Schauspiel Das von Jason durch Hülffe der Medea eroberte Güldine Fließ das neu errichtete Hoftheater einzuweihen. Bei dieser - chronologisch gesehen - zweiten Fassung des Abraham, die sich völlig unabhängig von der dritten ebenfalls wie diese direkt auf das Libretto von 1682 bezieht, handelt es sich um ein für ein höfisches Fest konzipiertes »Casualgebilde«,479 was in diesem Rahmen nur in Umrissen angedeutet werden kann. Für den spezifischen Gelegenheitscharakter des Coburger Abraham ist bereits der Titel des Librettos aufschlußreich: Er nennt nicht nur das Geburtstagsfest der Herzogin als Anlaß, sondern bestimmt dieses zugleich näher und gibt damit bereits wichtige Hinweise. Demnach handelte es sich bei dem Fest um einen durch GOttes sonderbahre Güte glücklich wieder erlebten HochFürstl. Geburts=Tag. Damit spielt schon der Titel auf die Tatsache an, daß die Herzogin eine schwerere Krankheit überstanden hatte und erst kurz vor der Aufführung wieder genesen war. Hierauf verweist auch der (neu hinzugefügte) Prolog der Oper, in dem die allegorische Figur des Glaubens (»Fides«) die Abraham-Isaak-Geschichte als Exempel für bewährte Beständigkeit deutet und dies zugleich auf die überstandene Krankheit der Herzogin bezieht, wodurch Abrahams belohnte Glaubensprüfung als Präfiguration der herzoglichen Genesung erscheint: [•··] Schau Abraham / den alle Welt Erkennt für einen Glaubens=Held / wie Er / da nichts gebauet: Ob waren gleich die Glieder kalt / Und Sara alt und ungestalt / Hat Er doch GOTT vertrauet / Daß Er noch würd' in Freuden gehen / Und einen Sohn in Wiegen sehn. Sein Glaube war so steiff und fest / Daß / da ihm GOTT befehlen läst / Das Söhnlein zu entleiben / Er führte bald zum Schlacht=Altar / Der seines Lebens Pfeiler war / Dem Himmel treu zu bleiben / Darumb gefiel dem Höchsten wohl Sein Glaub / und macht ihn Segens voll. So auch / ihr Himmel=gleiches Bild / Princeßin / Euer Glaubens=Schuld Bißhero Euch beschirmet / Daß / da Sie GOTT in Trübsal preßt / Und auf Sie zu im Krancken Nest Mit seinem Zorne stürmet / 479
Jörg Jochen Berns: Die Festkultur der deutschen Höfe zwischen 1580 und 1730. Eine Problemskizze in typologischer Absicht. In: GRM N.F. 34 (1984), S. 295-311, hier S. 302.
506 Blieb Sie im Glauben unverletzt / Der auf den Höchsten war gesetzt. Der Himmels=Segen hat geschneyt / Daß Sie kan in vergnügter Freud / Heut Jhr Geburts=Liecht sehen / Sie stöhnte sich auf jenes Guth / Das macht / daß Sie kan Wohlgemuth / Jn Glück und Rosen gehen / Und wird / wie Sie zu GOtt sich fügt / Von GOtt und Himmel wohl vergnügt. [.. -]480 Nochmals wird diese parallelisierende Auslegung im (ebenfalls neu beigegebenen) und von allen Figuren gesungenen Epilog der Oper herausgestrichen. Dabei ist von Bedeutung, daß diese figuraltypologisch verfahrende Interpretation mit einem wichtigen dynastischen Aspekt verbunden wird. Denn das durch Gott prophezeite Wachstum des Stammes Abrahama wird zugleich als Präfiguration einer florierenden Dynastie der Linie Sachsen-Coburg gedeutet: [...] Der Abram Hertzens=Angst empfand / Als er mit seinen Händen band Den Sohn / die einge Wonne / Doch kehrte dieses Hertzeleid / Jn die vergnügte Frölichkeit / Des Himmels=Gnaden=Sonne / Daß der / nach dem des Vaters Lieb Stets brannte / an dem Leben blieb. So / theüre Landes=Fürstin / muß Des gütgen Himmels Anmuth=Kuß Die Last in Lust verkehren! Das muste / wenn der Himmel stürmt / Den Unfall / der sich hoch aufthürmt / Der Himmel selber wehren. Drümb wünschen Wir zu dieser Stund / Und singen all mit Hertz und Mund: [...] Mit freudigen Freuden beglückte / verglückte / Das Glücke der Fürstin / des Himmels=Geschicke! Das Sachsen=Hauß wachse und breite sich ferne / Und werde vermehret wie Fackeln der Sterne! Sie lebe / Ο Fürstin / mit Lieben und Loben / Biß einsten der Himmel Sie ruffet dort oben.481
480 481
[Negelein]: Der / gehorsame / Wunder=Glaube / Abrahams, fol. A2 r_v (Prolog). Ebd., fol. [F4r] (»Epilogus«). Diese Deutung ließe sich noch anhand anderer vorgenommener Änderungen des Librettos gegenüber der Urfassung von 1682 demonstrieren. So ist der Coburger Fassung im Anschluß an den Schlußchor des fünften Akts eine Szene zwischen Gott und Abraham hinzugefügt, in der die Funktion Abrahams als Exempel für den Begründer eines langlebigen Stammes und Herrschergeschlechts hervorgehoben wird. Vgl. ebd., fol. F3V (Akt V, Szene 10).
507 Die Oper diente demnach nicht nur der Feier des Geburtstags der Fürstin und ihrer Genesung. Mit der Parallelisierung zwischen dem biblischen Herrschergeschlecht Abrahams und dem Hause Sachsen-Coburg erfüllte sie zugleich wichtige dynastische Legitimation, indem sie nicht nur nach innen der Selbststilisierung und Selbstvergewisserung der eigenen Herrschaftslinie diente, sondern zugleich nach außen hin das Bild einer gesicherten Dynastie vermitteln half. Diesen hier notgedrungen nur mit wenigen Bemerkungen angedeuteten funktionalen Aspekten der Oper kamen enorme politische Bedeutung zu. Denn das Fürstenhaus Sachsen-Coburg befand sich zu dieser Zeit aufgrund mangelnden männlichen Nachwuchses und einer kränkelnden Regentin in einer dynastischen Krise um eine ungelöste Nachfolgeregelung, die bis zum Tode des kinderlos bleibenden Herzogs Albrecht nicht mehr geklärt wurde.482 Von daher wird man in der Coburger Abraham-Oper vom Frühjahr 1684 ein signifikantes Beispiel für eine (um mit Jörg Jochen Berns zu sprechen) »absolutistisch-höfische Demonstrationsinszenierung«483 zu sehen haben. Eine Kaiseroper: Der Gerechte ZALEUCUS Der erfolgreiche Einstand mit der Abraham-Oper mag den Kreis um die Handelsleute und >Pegnitzschäfer< darin bestärkt haben, eine weitere OpernInszenierung in Angriff zu nehmen. Abermals konnte hierfür Johann Löhner als Komponist gewonnen werden. Und Löhner war es auch, der sich Ende November 1686 an den Rat mit dem Bericht wandte, »daß die auß dem Jtaliänischen in das Teutsche übersetzte Musicalische Comödi, oder Opera, wie es genannt wird, nun dergestallt zusammengerichtet, daß es öffentlich vorgestellet werden könne«, weshalb man darum bat, »das Comoedien=hauß hierzu zu vergünstigen«.484 Wie schon 1684 zeigte sich der Rat erneut dem Projekt aufgeschlossen und sagte seine Unterstützung zu, da insbesondere durch die längere Spielpause »das Theatrum notwendiger maßen annoch hierzu eingerichtet werden mögte«. Zur schnelleren Durchführung der Ausbesserungen und Umbauten beauftragte man deshalb »den herrn Baumeister«, er solle den Veranstaltern »mit deme, was zu des Theatri notwendiger Reparation und Änderung allda vonnöten seyn wird, an hand gehen«. Zudem stellte der Rat in Aussicht, daß von den geladenen Zuschauern (ähnlich dem schon zuvor bei der Abraham-Oper praktizierten Verfahren) »ein billiches zur Ergäzung für angewandte Müh und Kosten möge erfordert werden«.485
482 V g l p e i[ e n ( j e r . Chronik der Stadt und der Veste Coburg, S. 84-89. 483 Berns: Festkultur der deutschen Höfe, S. 305. 484 StaatsAN, RV Nr. 2859 vom 23. November 1686, fol. 41 v -42 r . 485 Ebd., fol. 42 r_v .
508 Hinter dieser im Ratsverlaß erwähnten »Musikalischen Comödi« verbirgt sich die von Johann Löhner komponierte Oper Der Gerechte ZALEUCUS, von der sich zwar keine Noten erhalten haben, jedoch ein gedrucktes Textbuch überliefert ist.486 Hierbei handelt es sich um eine Übertragung der von Nicolo Minato verfaßten Oper ZALEVCO,4R7 die mit der Musik von Antonio Draghi 1675 am Kaiserhof anläßlich des Geburtstags Leopold I. in italienischer Sprache aufgeführt und neben der Originalfassung in einer deutschen Übertragung unter dem Titel Saleuco488 gedruckt worden war. Wie ein Vergleich der drei Libretti zeigt, ist die Nürnberger Übersetzung jedoch unabhängig von der offiziellen, vom Hof verbreiteten deutschen Übersetzung und bezieht sich direkt auf das italienische Original von Minato. Als Verfasser des Nürnberger Zaleucus nennt der Titel des Librettos neben dem Komponisten Löhner als Dichter nur einen Liebhaber beedes selbiger Sprach und der Teutschen Poesi, womit entweder der sprachbegabte und bereits als Übersetzer vorgestellte Johann Gabriel Meyer oder aber auch Christoph Adam Negelein gemeint sein könnten - letzterer übernahm später am Kaiserhof als Hofpoet die Übersetzung italienischer Schauspiele, Opern und Oratorien. Während Meyers deutsche Fassung des II pomo d'oro von 1672 mit ihrer weitgehenden Auflösung in Prosa und Langverse keine sangbare Fassung darstellte und als solche wohl auch nicht intendiert war, ging es diesmal ausdrücklich um eine sangbare und zur Aufführung bestimmte Übersetzung des Italienischen Sing=Spiele von Minato, das man in deutscher Sprache auf gleiche Art nachzuahmen versuchte, wie bereits der Titel hervorhebt.489 Rund zwei Monate nach Löhners Eingabe vom November 1686 waren die Vorbereitungen für das Stück abgeschlossen worden, die diesmal durch die notwendige Renovierung des Nachtkomödienhauses wesentlich kostenintensiver gewesen sein dürften. Zudem verlangte der Zaleucus mit seinen auf drei Akte verteilten 36 Auftritten gegenüber der Abraham-Oper von 1684 einen größeren musikalischen Aufwand und bietet in Löhners Nürnberger Fassung immerhin 32, überwiegend einstrophige Soloarien mit zum Teil ver-
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Johann Löhner: Der Gerechte ZALEUCUS, hiebevor in einem Italienischen Sing= Spiele beschrieben / nunmehr / auf gleiche Art / von einem Liebhaber beedes selbiger Sprach und der Teutschen Poesi übersetzet / und in die Music gebracht [...]. Nürnberg 1687. [Nicolo Minato]: ZALEVCO. Drama per Musica, Nel Giorno Natalizio Deila S. C. R. Maestä Dell' IMPERATORE LEOPOLDO [...]. Posto in Musica dal S. ANTONIO DRAGHI [...]. Vienna [1675], [Nicolo Minato]: Saleuco An dem Geburts=Tag Ihrer Kayserlichen Mayestett LEOPOLD Deß Ersten [...] Gesungener vorgestellt. Mit der Music Zu den Worten / Herrn Antoni Dragi [...]. Wien 1675. Dementsprechend hat sich die madrigaleske Struktur des Originals in der Nürnberger Übertragung weitgehend durchgesetzt, bei der sowohl in den Rezitativ- als auch Arien-Partien eine freie Versfüllung mit zumeist kürzeren Versen vorherrscht (drei-, vier- und fünfhebige lamben und Trochäen).
509 wendeter Dacapo- und/oder Refrain-Form sowie drei Duette, zwei Chorpartien und ein Schlußensemble.490 Wiederum fungierte dabei der theaterinteressierte Kreis um die Großkaufleute und Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens als Veranstalter und Mäzene der von Johann Löhner komponierten Oper. Denn wie schon 1684 lud der bereits bekannte Kaufmann Johann Christoph Götz samt »selbiger Compagnie« für den 2. Februar 1687 den gesamten Rat zu der »angestellten Musicalischen Comödi«, wofür man erneut etliche gedruckte Textbücher des Stücks sowie Vorzugsbillets (»Exemplaria und Signa«) überreicht hatte, die der Rat zu Dank annehmen und unter seinen Mitgliedern verteilen ließ.491 Zugleich stellte er den Antragstellern finanzielle Unterstützung in Aussicht und ließ deshalb beim Kriegsamt nachfragen, »ob Sie denenselben wegen zimlich aufgewandter Unkosten von denen bey Löbl. Kriegsambt eingegangenen Comödiengeldern ein Adjuto angedeyen lassen wollen«.492 Dies unterstreicht die bereits oben gemachten und auch später während der zweiten Phase in den 1690er Jahren erneut festzustellenden Beobachtungen, daß den Operndarbietungen innerhalb der reichsstädtischen Gemeinde die Bedeutung von gesellschaftlichen, die Stadt als Ganzes betreffenden Ereignissen zukamen. Wie schon 1684 hatte auch diesmal der Rat die Vorbereitungen materiell und organisatorisch unterstützt sowie die Aufführung selbst durch seine Anwesenheit zu einer repräsentativen Veranstaltung und gleichsam offiziellen Handlung erhoben. Und nicht zuletzt war der Rat höchstwahrscheinlich neben den Kaufleuten ebenfalls als Mäzen der Oper hervorgetreten, wie der Hinweis auf das in Aussicht gestellte »Adjuto« nahelegt. Zu einem nicht geringen Teil mag diese Unterstützung an der Wahl der Oper und ihres Stoffs um den antiken Gesetzgeber und Herrscher Zaleukos gelegen haben. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der Oper um die Übernahme eines ursprünglich am Wiener Hof aufgeführten Stücks zu Ehren des Kaisers. Von daher konnte man mit der Aufführung nicht nur die eigene kulturelle Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen, sondern die Oper eignete sich auch zur Demonstration der Verbundenheit mit dem Kaiserhaus - und dies gerade vor dem bereits erwähnten Hintergrund, daß der Kaiser in der Reichsstadt durch einen Gesandten vertreten war, der minutiös nach Wien über aller Festaktivitäten berichtete, insbesondere über diejeni490 491
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Vgl. auch Braun: Einleitung, S. L. Vgl. Staats AN, RV Nr. vom 31. Januar 1687, fol. 114r. Der Zusammenhang zwischen Handelsleuten und Pegnesischem Blumenorden wurde bislang nicht erkannt. So ist in den Erwähnungen der Oper (abgesehen von den knappen Hinweisen bei Werner Braun) stets die Rede davon, daß die Oper »von der in Nürnberg anwesenden Schauspielergesellschaft unter Johann Christoph Götz gespielt« worden sei, wie etwa Kertz: Barocktheater, S. 348, meinte. StaatsAN, RV Nr. vom 31. Januar 1687, fol. 114r. Leider ist der Jahrgang 1687 der Kriegsamtsrechnungen nicht erhalten, so daß die Höhe des »Adjuto« nicht bestimmt werden kann.
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gen, die in irgendeiner Weise mit dem Kaiserhaus in Verbindung standen.493 Und ein solcher Zusammenhang scheint auch beim Zaleucus möglicherweise gegeben zu sein. Denn nur kurze Zeit bevor Löhner die Pläne für die Aufführung der Kaiseroper beim Rat einreichte, feierte man in der Stadt am 5./15. November 1686 (Namenstag des Kaisers) aus Anlaß der Siege in Ungarn ein Fest zu Ehren Leopolds I., bei dem auf dem Schießplatz von St. Johannis »ein schönes Feuerwerk geworffen, darbey diese drey Buchstaben L. R. V., bedeutend Leopoldus Restitutor Vngaria, brennend gesehen worden«.494 Vorbildliche Gesellschaftsordnung Doch neben der Tatsache, daß es sich um eine Oper vom Wiener Hof handelte, dürfte der Stoff selbst auf Interesse gestoßen sein. Der Titelheld Zaleucus war dem 17. Jahrhundert für seine strenge Gesetzgebung bekannt und galt den Zeitgenossen als Exempel eines harten, jedoch gerechten und von daher vorbildhaften Herrschers 495 Als solcher erscheint er auch in der Oper, in deren Mittelpunkt die von Valerius Maximus überlieferte Episode um den vermeintlichen Ehebruch eines Kindes des Herrschers steht, nach der Zaleucus das Vergehen seines Sohnes Ermegistus ohne Rücksicht auf dessen Stand mit der dafür vorgesehenen Strafe des Ausstechens beider Augen ahnden lassen will, damit die Gesetze nicht verletzt werden. Auf Bitten des Volkes verschont er schließlich Ermegistus, ohne dabei jedoch die Gesetze brechen zu müssen, indem er selbst ein Auge für den Sohn opfert, wobei sich am Schluß der angebliche Ehebruch als rechtmäßige Eheschließung herausstellt. Dabei war man in Nürnberg offenbar bemüht, das bereits im Original mit der Vorstellung des Königs Zaleucus entworfene positive Bild eines zwar strengen, jedoch in erster Linie gerechten und damit vorbild- und tugendhaften Herrschers noch zu verstärken, worauf bereits der im Titel neu beigegebene Zusatz Der Gerechte verweist, der den Herrscher als Exemplum eines Regenten ausweist.496 Und die sonst fast wörtlich aus dem Original übernommene und der Oper vorangestellte Inhaltsangabe bekam in der Nürnberger Fassung nochmals ausdrücklich den Hinweis auf die »ungemeine Gerech-
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495 496
Siehe hierzu die Ausführungen in Teil B, Kap. 5.4.2. StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 55, fol. 51r"v. Bereits am 29. August 1686 hatte man ein Dankfest aus Anlaß der Eroberung der Stadt Ofen abgehalten (vgl. ebd., fol. 50r~v). Zur Bedeutung derartiger Zusammenhänge von Operndarbietungen und festlichen Anlässen im Kaiserhaus siehe Teil B, Kap. 5.4.2. Vgl. Zedier 60 (1749), Sp. 1424-1433, s.v. >ZaleucusZaleucusKastraten-Projekt< stand. Denn nur kurze Zeit nach dem genehmigten Antrag zahlte das Konvertitenamt am 24. April 1696 erstmals eine Summe von 6 fl. 10 kr. an Christoph Gottlieb Sauern, Musico, wegen des, von diepersdorff hereingebrachten castrirten Jungen, Georg Schrammeis, welcher künftighin zur Music angewehnet und hierinnen informirt, und zu desto leichterer fortkommung, Jhme aus dieser Cassa [...] an die hand gegangen werden solle. 535
Demnach wird man wohl in der Annahme nicht fehlgehen, in dem frisch ernannten Stadtkapellmeister und Lehrer Christoph Gottlieb Sauer denjenigen zu sehen, der die Fäden bei der Vorbereitung der Oper zog und in seiner Funktion als Verantwortlicher des städtischen Musikwesens die Betreuung und Aufsicht über die Ausbildung des Kastraten übernahm. Ganz sicher dürfte er einer von den im oben angeführten Ratsverlaß genannten »Collegen des Löbl. Gymnasii zu St. Egidien« gewesen sein, die den Handelsleuten bei der Oper zur Hilfe gehen wollten. Nicht zuletzt war es Sauer, der bereits seit seiner Studienzeit engere Kontakte zu führenden Nürnberger Handelsleuten besaß. 536 Bemerkenswert ist auch, daß man offenbar in der Ausbildung des Kastraten ein langfristiges Projekt sah. Hierauf verweisen bereits die zitierten Formulierungen im Ratsverlaß und in den Akten des Konvertitenamtes, nach denen der Kastrat »künftighin zur Music angewehnet« werden solle. Zudem wird diese Annahme dadurch belegt, daß es sich bei der Unterstützung vom April 1696 um keine einmalige Zuwendung handelte. Vielmehr erhielt Christoph Gottlieb Sauer in den folgenden Jahren für diesen Zweck pro Quartal den Betrag von 6 fl. 30 kr., die dem Stadtkapellmeister einmal pro Jahr als Gesamtbetrag von 26 fl. für alle vorangegangenen Quartale ausbezahlt wurden und in den Rechnungsbüchern mit fast gleichem Wortlaut in stetiger 534 535 536
Ebd., fol. 6 6 v - 6 7 r . StaatsAN, Rep. 53: Konvertitenamt, Rechnungen, Nr. 15 (1695/96), fol. 8 v - 9 r . So hatte Sauer etwa dem Kaufmann Wolfgang Schlicht unter dem Titel »Schuldgebührende Glückwunsch-Zeilen« ein 1673 in Altdorf gedrucktes Gelegenheitsgedicht zu dessen Namenstag verfaßt, in dem er diesen im Titel als »werthesten Gönner« anspricht. Vgl. die bibliographische Angabe im V D - 1 7 (Nr. 125: 026978 V).
522 Gleichmäßigkeit wiederkehren: »Jtem Christof Gottlieb Sauren, Directori Musicae, wegen deß Castrirten Jungen, Georg Schrammeis, von diepersdorff, zu seiner Unterhaltung, von Laet[are], 1696 biß Walburg [is]. 1697 gereicht 26 fl.«537 Insgesamt flössen so vom Frühjahr 1696 bis zur Mitte des Jahres 1706 Stipendiengelder aus dem Konvertitenamt zur Finanzierung der Kastratenausbildung, die sich in zehn Jahren auf den stattlichen Betrag von 266 fl. beliefen.538 Angesichts dieser regelmäßigen Zahlungen erscheint es nicht übertrieben, zumindest für den Zeitraum von 1696 bis 1706 von einem von der Stadt finanzierten und gleichsam angestellten Kastraten zu sprechen, der aller Voraussicht nach für die Musikdarbietungen herangezogen werden sollte und wohl der Stadtkapelle unter Christoph Gottlieb Sauer zugeordnet war. Lange mußte man in Nürnberg nicht auf den ersten Einsatz des Kastraten warten. Ein knappes viertel Jahr nach dem Antrag konnten die Veranstalter den Abschluß der Vorbereitungen für die neue Oper im Nachtkomödienhaus vermelden, woraufhin der Rat am Samstag dem 18. April festlegte: »Die elaborate, und zu völligen Stand gebrachte Opera von des Josua, wieder die Stadt Jericho erhaltenen Sieg, Soll man künftigen Montag, in dem Comoedienhaus, zu praesentiren«539 erlauben. Zudem erteilte man den Verantwortlichen genaue Anweisungen über die zu treffenden Vorkehrungen für den Ablauf der Aufführung: So sollte etwa ausreichend städtisches Wachpersonal »zur abhaltung des Pöfels« bereitgestellt werden, da man offenbar mit einem großen Andrang von Schaulustigen rechnete, die sich um den Eingang des Opernhauses zusammenfinden könnten. Dies dürfte sowohl mit der (wohl bis dahin einmaligen und dementsprechend angekündigten) Präsentation eines Kastraten als auch mit dem hochrangigen Besuch zusammenhängen, den man erneut erwartete und den es gebührend zu empfangen und zu logieren galt. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, die Veranstalter sollten Sorge dafür tragen, daß »sie jemand bestellen, der denen Fremden Standt= u. andern vornehmen Personen, einen bequemen plaz anweisen möge«. Darüber hinaus wollte der Rat sicherstellen, daß die Oper an diesem Tag die einzige öffentliche Veranstaltung in der Stadt blieb und nicht etwa durch gleichzeitige Schauspieldarbietungen im Fechthaus gestört bzw. in ihrer Bedeutung entwertet werden könnte. Deshalb beschloß man, »auf solchen Tag auch, da diese opera aufgeführt wird, des Schüberls Action einstellen lassen«.540 Am Tag der Aufführung (20. April) schließlich wurden dem Rat, wie es schon bei den Opern in den 1680er Jahren üblich war, ganz offiziell am Vormittag vor der Vorstellung neben einem »gedruckten Carmen« auch »Zei537 538 539 540
StaatsAN, Rep. 53: Konvertitenamt, Rechnungen, Bd. 16 (1696/97), fol. 9V. Vgl. ebd., Bd. 15 (1695/96) bis Bd. 25 (1705/06). StaatsAN, RV Nr. 2985 vom 18. April 1696, fol. 26v (fehlt bei Hampe). Ebd. Mit »Schübler« waren der Sprachmeister Johann Jacob Schübler d.Ä. und seine Handwerkertruppe gemeint. Vgl. Teil B, Kap. 6.1.
523 chen zu dem im Neuen Comoedihaus aufzuführen gewillten Schauspiel« übergeben, womit wohl gedruckte Auszüge bzw. Inhaltsangaben des Opernlibrettos gemeint waren, die der Magistrat »in Gunsten« annahm und unter seinen Mitgliedern »austheilen«541 ließ. Als Überbringer der Einladung nennen die Ratsverlässe dabei keinen anderen als den Stadtkapellmeister Christoph Gottlieb Sauer, dessen führende Rolle bei der Oper damit nochmals unterstrichen wird. Zudem legt dies nahe, daß Sauer höchst wahrscheinlich für die Musik der Oper verantwortlich war und als ihr Komponist anzusehen ist. Überblickt man diese Chronologie der Oper von den ersten Vorbereitungen bis zum eigentlichen Vorstellungsbeginn, wird deutlich, in welchem Maße auch diese Opernaufführung zu einem stadtgesellschaftlichen Ereignis ersten Ranges avancierte, bei dem führende gesellschaftliche und geistige bzw. künstlerische Eliten und Funktionsträger der Stadt beteiligt waren: Neben den wieder als Mäzene und Hauptfinanziers auftretenden Handelsleuten, womit ohne Zweifel die Großkaufleute gemeint sein dürften, wirkten Lehrer des Egidiengymnasiums mit, unter denen sich Christoph Gottlieb Sauer befand, der zugleich in seiner Rolle als Stadtkapellmeister in die Vorbereitungen involviert war. Dies legt zudem nahe, daß die ihm unterstellten Stadtpfeifer als Orchester eingesetzt wurden, wie es bei feierlichen Anlässen in Nürnberg Brauch war. Hierfür spricht schließlich der offizielle Charakter der Oper, der nicht zuletzt durch die organisatorische und materielle Beteiligung des Rats zum Ausdruck kommt. Denn die Obrigkeit war nicht nur im Vorfeld über die Pläne und die verschiedenen Fortschritte des Projekts genau informiert, sondern unterstützte das Unternehmen (wie gezeigt) auch finanziell und organisatorisch, wobei man insbesondere bestrebt war, den Programmablauf am Tag der Aufführung nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und zu kontrollieren, was auf die repräsentative Bedeutung der Operndarbietung verweist. Die Vorstellung der Josua-Oper sollte sich offenbar als Erfolg erweisen und scheint bei der Obrigkeit auf ein positives Echo gestoßen zu sein. Denn als sich der Stadtkapellmeister Christoph Gottlieb Sauer Ende September 1696 in einem Gesuch an den Rat mit der Bitte um eine nachträgliche Zuwendung für das Projekt wandte, war man bereit, die vollständigen Ausgaben für das Bühnenbild aus der Stadtkasse zu finanzieren, wobei die Oper offenbar Fürsprecher an oberster Stelle der Reichsstadt besaß. Denn diesmal entschied nicht der Innere Rat, sondern auf Geheiß der sieben Herren Älteren wurde am 24. September 1696 angeordnet, man solle aus der Kasse im Bauamt »die für ausmahlung des Theatri im Comoedienhaus, bey lezt vorgestellter opera, ausgelegte Unkosten bezahlen laßen«.542 Möglicherweise war dabei 541 542
StaatsAN, RV Nr. 2985 vom 20. April 1696, fol. 34r (fehlt bei Hampe). Ebd., VHÄ Nr. 57 vom 24. September 1696, fol. 300r (fehlt bei Hampe).
524 die Argumentation des Stadtkapellmeisters ausschlaggebend gewesen, der die Bitte um eine »Aufmunterung« in seinem Gesuch damit begründet hatte, daß durch eine obrigkeitliche Unterstützung der Bemühungen um die Oper die »in hiesiger Stadt ziemlich verfallenen Vocal Music wieder möge aufgeholfen werde«. 543 Das rege Interesse des Rats an der Aufführung dürfte aber auch darin begründet sein, daß die Oper auf eine Verherrlichung Leopolds I. als siegreichen Feldherren abzielte, wie im folgenden gezeigt werden soll. Verfasserfrage, Ausstattung und Inhalt der Oper Vor dem Hintergrund der Lokaltradition mit Zaleucus und Theseiis scheint es nahezuliegen, daß bei der Eroberung Jericho eine ausländische, wohl italienische Oper als Vorbild diente. Allerdings findet sich auf dem Nürnberger Libretto weder ein Hinweis auf eine Übersetzung, wie es sonst vielfach üblich war, noch eine Verfasserangabe für den deutschen Text. Bislang ließ sich keine Opernvorlage ermitteln, auf die sich das Nürnberger Stück beziehen könnte. Die bekannten Behandlungen des Josua-Stoffes stammen fast alle aus dem 18. Jahrhundert und sind zumeist Oratorien. Soweit ersichtlich wurde der Stoff von der Oper des 17. Jahrhunderts so gut wie nicht behandelt. Das 1695 am Wiener Hof aufgeführte Oratorium La caduta di Gericho bzw. Fall der Stadt Jericho übte zwar möglicherweise einen Einfluß hinsichtlich der exemplarischen Deutung der Josua-Gestalt aus, kann jedoch nicht die unmittelbare Textvorlage gebildet haben (siehe hierzu unten). Nicht auszuschließen ist daher, daß einer der >NürnbergerPegnitzschäfers< und Nürnberger Theologen David Nerreter, in der im dritten Kapitel unter der Überschrift »Wie und wo Gott die Erlösung durch Christum gleich von Anbeginn des Sündenfalls und zu unterschiedlichen Zeiten offenbart« eine exegetische Typologie geliefert wird, in der Josua eine herausragende Stellung einnimmt: Josua (Jesus) welcher mit seinem vollkommenen Sieg über die Feinde GOttes / JEsum Christum noch besser vorstellte [als der zuvor behandelte Mose] / da er sein Volck durch den zertheilten Jordan ( in welchem Er 12. Steine zum Zeugnis / wie Christus seine Apostel / aufgerichtet) ins gelobte Land einführte / und die Abgötter hinaus jagte / sein Volck zuletzt in dem Bund mit GOtt bekräftigte.553
Diese Deutungstradition liegt auch noch dem Artikel in Zedlers UniversalLexikon zugrunde,554 der ebenfalls die Identität der Namen hervorhebt (»Jehoschua oder Josua, d. i. so viel, als Jesus«555) und nach einer ausführlichen Darlegung der einzelnen, typologischen Entsprechungen resümiert: »Josua war in vielen Stücken ein Vorbild des HERRN Meßiä«.556 Ist die Gestalt Josuas damit schon ganz allgemein von der theologischen Deutungstradition her als Figura Christi ausgewiesen, spielt die Oper auch auf diese Funktion an: So wird etwa ausführlich die von Josua geleitete AufEntsprechungen fast ausschließlich aus den Versen des 136. Psalms gebaut ist, wie die neun, am Textrand angegebenen Stellennachweise deutlich machen. Vgl. ebd., S. 63 (Akt V, Szene 5). 551 Der Ostermontag 1696 fiel auf den 13. April. Vgl. StaatsAN, RV Nr. 2984, fol. 81v. 552 Ygj ohiy. Synagoge und Ecclesia, S. 361£ 553 David Nerreter: Schau-Platz / Der / Streitenden doch unüberwindlichen / Christlichen Kyrchen [...]. Nürnberg 1707, S. 11. 554 Vgl. Zedier 14 (1735), Sp. 1210-1216, s.v. >JosuaHeiliger Krieg< erscheint. Bemerkenswert ist dabei, daß dieser Kampf zwischen christlichen und heidnischen Parteien als ein Kampf zwischen Gut und Böse, Tugend und Laster dargestellt wird, in dem die >heidnischen< Bewohner Jerichos als lasterhaftes, unzivilisiertes Volk erscheinen. Dies zeigt sich insbesondere bei der Eroberung der Stadt, die als ein Strafgericht dargestellt wird. So kündigt der Hohepriester Eleasar unmittelbar vor dem Beginn der Schlacht den Untergang Jerichos mit einer Arie an, die dessen Ende mit einer bezeichnenden Licht- und Wettermetaphorik prophezeit: Wann auf den Blitz in großer Hitz der Donner plötzlich kracht / so hat er desto größre Macht daß alles erzittert / und was er erreichet zersplittert / wird gänzlich in Feuer und Flammen gebracht / nichts nutzet und schützet die menschliche Witz wann auf den Blitz in großer Hitz der Donner plötzlich kracht. 569
Direkt im Anschluß daran schildert die Oper die eigentliche Katastrophe, indem zu den Klängen eines »Lamentos« mit Hilfe von Feuer- und Lichteffekten »das im Rauch und Flammen aufgehende Jericho von fernen vorgestellet« 570 wird. Diese Vorstellung der Eroberung ist jedoch höchst bedeutungstragend: Durch die kommentierende Arie des Hohepriesters sowie die eingesetzten Beleuchtungseffekte wird der sündhafte Charakter der Stadt und ihrer Einwohner signalisiert. Denn Blitze, Gewitter und Feuer besaßen als grelle Lichteffekte im Zeichensystem des Barocktheaters eine eindeutige Zuordnung und galten als Ausdruck des Bösen und Teuflischen. 571 Unterstrichen und bestätigt wird diese Deutung durch die von Josua gesungene Arie, die sich in der nächsten Szene direkt anschließt und mittels derer die Zerstörung Jerichos nochmals als Strafgericht ausgelegt wird, wodurch sich für die gesamte Szenerie eine emblematische Struktur und ein Deutungsverhältnis zwischen vorgestelltem Bühnenbild und Figurenrede ergeben:
568 569 570 571
Weitere Belege vgl. ebd., S. 9, 21, 38, 46. Ebd., S. 57f. (Akt V, Szene 4). Ebd., S. 58. Vgl. dazu Fischer-Lichte: Theater des Barock, S. 79f., die zur Bedeutung der Feuereffekte hervorgehoben hat: »Sie sind ganz eindeutig dem Bereich des Bösen, des Satanischen zuzuordnen und fungieren als Zeichen für nahendes Unheil oder Katastrophen, in denen das Wirken des Teufels in der Welt sich offenbart« (ebd., S. 80).
530 Wo Boßheit / Greul / und Frevel wohnet / hält Flamm und Schwerd das Straf=Gericht / auch wird der Steine nicht verschonet / weil sie die Räch' im Grund zerbricht / um künfftig den Schlangen / den Kröten und Drachen die greßliche Wohnung bequemer zu machen / so wird mit scharfer Straf gelohnet / dem Ort / wo Greul und Frevel wohnet. 572
Und der Hohepriester Eleasar fügt in einer weiteren Arie hinzu: Wo die lügend flüchtig gehet / und der Laster greul bestehet / wo die Lehre nimmer rein / kann kein Glück und Segen seyn; es wird nur die Straf erhöhet wo die Tilgend flüchtig gehet. 573
Leopold I. als christlicher Streiter und zweiter Josua Nun verweisen gerade diese spezifischen Akzentuierungen darauf, daß es in der Eroberung Jericho nicht um eine von historischem Interesse geprägte Darstellung der biblischen Figur Josuas geht.574 Vielmehr stellt sich angesichts des ausgesprochenen und auch in der Oper hervorgehobenen Exempelcharakters Josuas als eines siegreichen Feldherrn der Christenheit gegen ein sündhaftes Heidentum die Frage, wer mit der Vorstellung dieses beispielhaften christlichen Helden und Anführers eines Heiligen Kriegs eigentlich gemeint sein könnte? Vor dem Hintergrund des im Jahr 1696 aktuellen Türkenkrieges läge es jedenfalls nahe, diese Deutung auf Leopold I. zu beziehen - zumal wenn man bedenkt, daß der Türkenkrieg unter großer Anteilnahme im ganzen Reich als regelrechter Kreuzzug gegen die heidnischen Heere der Türken geführt wurde und Leopold I. dabei die Rolle des »Schirmherrn des christlichen Abendlandes«575 zufiel. Der erneute Ausbruch des Türkenkrieges 1683 hatte die öffentliche Stimmung im Reich stark bewegt und alte, tiefsitzende Ängste heraufbeschworen 576 Nicht zuletzt die mit Schrecken aufgenommene Nachricht vom Sturm auf Wien führte nochmals zur Vorstellung einer »christlichen Solidargemein572 573 574
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Eroberung Jericho, S. 59 (Akt V, Szene 5). Ebd., S. 60. Zur exemplarisch-typologischen Deutungstradition historischer Stoffe und Figuren siehe neben der bereits erwähnten Arbeit von Voßkamp: Geschichtsauffassung, bes. S. llff. u. 34ff., jetzt insbesondere im Hinblick auf die Barockoper den Abschnitt »Das Geschichtsbild der Barockoper und das Problem der Fürstendarstellung« bei Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne, S. 71-81. Helmut Neuhaus: Das Reich in der frühen Neuzeit. München 1997 (EDG, Bd. 42), S. 15. Vgl. dazu die Überblicke bei Schilling: Höfe und Allianzen, S. 244-252, sowie Duchhart: Altes Reich, S. 67-72.
531 schaft«,577 die sich zum Kreuzzug gegen den türkischen »Erbfeind« aufmachte.578 Wie im gesamten Reich wurde der Türkenkrieg auch in Nürnberg mit großem Interesse verfolgt und abermals brachte die Stadt riesige Summen zur finanziellen Unterstützung der kaiserlichen Truppen auf: Seit Juli 1683 wurde wieder regelmäßig in allen Kirchen nach den Predigten das vom Rat verordnete »Türkengebet« verlesen.579 Zeitungen wie der Teutsche Friedens= und Kriegs=Curier berichteten wöchentlich über die militärischen Ereignisse und Kämpfe. In der Stadt erschienen Flugblätter, auf denen die Grausamkeiten der türkischen Heere in den dunkelsten Farben gemalt wurden. Bei jedem größeren Sieg ließ der Rat Dankfeste abhalten und offizielle Gratulationsschreiben nach Wien schicken, während die Schulen öffentliche Redeactus veranstalteten, bei denen der Kaiser und seine Generäle verherrlicht wurden.580 Ohne Zweifel herrschte in der Stadt die im gesamten Reich nachweisbare »Kreuzzugstimmung« ,581 Dabei ist in diesem Zusammenhang besonders aufschlußreich, daß in den Lobreden und Dankfesten Leopold I. mehrfach und auch in Nürnberg als zweiter Josua gefeiert wurde und die Erfolge der kaiserlichen Truppen in typologische Parallele zu den Siegen des biblischen Feldherrn gesetzt wurden. So hielt etwa der junge Patriziersohn Christian Peter Kreß von Kressenstein aus Anlaß des Sieges in der Schlacht bei Ofen eine öffentliche Freudjauchzende Teutschen Siegs= und Wunsch-Rede, die unter dem Titel Der Triumphirende ADLER59,2 gedruckt wurde. Hierin pries er den Kaiser vor allem als »gesalbten und Siegs belorbeerten Josua«583 und »Christlichen HeldenStreitere für die Ehre GOttes«. 584 Wie in der Oper spielt hier der religiöse Aspekt eine große Rolle, indem die Auseinandersetzung als Glaubenskrieg zwischen Christen und Heiden gedeutet wird.585
577
Duchhart: Altes Reich, S. 69. Vgl. das Resümee bei Bosbach: Erbfeind, S. 123, der für das herrschende Feindbild im ausgehenden 17. Jahrhundert konstatiert hat: »Der Türke bedroht politisch-militärisch die Staatenordnung des christlichen Europa und ist zugleich der religiöse Feind, weil er gegen den christlichen Glauben streitet«. 579 vgl. Imhoff: Contjnvatio Annalivm, S. 213. 580 Vgl. Berbig: Nationalgefühl in Nürnberg, S. 72f. u. bes. 89f. 581 Schilling: Höfe und Allianzen, S. 245. 582 Christian Peter Kreß von Kressenstein: Der Triumphirende ADLER / Unter Glor= Glücks= und Schutz-reicher Regierung LEOPOLDI I. Uber die Christen=Siegs= bepurpurte Eroberung / Ofen / Den 2. September Styl. Nov. 1686 vorgestellet / und in einer Freud-jauchzenden Teutschen Siegs=und Wunsch-Rede / Memoriter abgestattet / Sonntags / den 12. Sept. [...]. Nürnberg 1686. 583 Ebd., fol. [B4V], 584 Ebd. (Marginalie). 585 »FAhret fort / in dem Sieg des HErrn! Jhr Leopoldischen Löwenholds=Waffen! Schneidet scharff ihr Schwerdter! Unter den Händen deren / die Euch / als tapffere Christen=Streitere führen. Wütet in die Heyden / und sieget wohl [...]« (ebd., fol. Cr). 578
532 Doch die Rede des Nürnberger Patriziersohns ist keineswegs das einzige Beispiel für eine Parallelisierung nach dem Verfahren der Figuraltypologie von Josua und Leopold I. Es scheint sogar, daß der Kaiser selbst sich in dieser Deutung gefiel und sie als offizielles Bild und Propaganda verbreitet wurde. Denn auf dem Höhepunkt des Türkenkrieges ließ sich der Kaiser am Wiener Hof selbst als zweiter Josua feiern. Dies zeigt das im Frühjahr 1695 in Wien aufgeführte und von Ferdinand Tobias Richter komponierte Oratorium La Caduta di Gerico, das auch in deutscher Sprache unter dem Titel Fall der Stadt Jericho586 gedruckt und publiziert wurde. Hier wird in der Vorrede »An den Leser« ebenfalls auf den exemplarischen Charakter der biblischen Episode verwiesen und eine Parallele zwischen der Eroberung Jerichos unter Anführung von Josua und der aktuellen zeitgenössischen Auseinandersetzung zwischen den kaiserlichen Truppen und den Türken gezogen: Was du hier findest / ist Gleichnuß weiß geredet. Da Du es durchlesest / wird deine Vernunft erkennen / worauff ich gezihlt / da ich es geschrieben habe. Dieses erinnere ich allein / das / so zu den Getöß deß auserwehlt= vnd geheiligten Volcks vnd zu den Schall der frohlockenden Trompetten das Gemäuer der Stadt Jericho einfallet / so werden wir auch die Bollwercke anderer Vöstungen gefeilet sehen. 587
Sollte es nur ein Zufall sein, daß ein Jahr später in Nürnberg ebenfalls vor dem Hintergrund des Türkenkrieges eine Oper aufgeführt wurde, in der Josua und die Episode um die Zerstörung Jerichos im Mittelpunkt stehen und als Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden gedeutet werden? Obgleich es in der Oper Eroberung Jericho nirgends explizit ausgesprochen ist, 588 erscheint es angesichts der Tatsache, daß die figuraltypologisch geprägte Stilisierung von Leopold I. zum christlichen Feldherrn und zweiten Josua offenbar ein gängiges, gleichsam offiziell propagiertes Bild darstellte und (wie gezeigt) in Nürnberg bei festlichen Anlässen verwandt wurde, durchaus wahrscheinlich, daß die Oper auf eine Verherrlichung des Kaisers abzielte und mit der Vorstellung von Josua als christlichem Feldherrn par excellence eigentlich Leopold I. gemeint war. Folgt man dieser Sicht, dann liefert die Oper eine bezeichnende Interpretation der zeitgenössischen Kriegssituation: Durch die parallelisierende, typologisch ausgerichtete Deutung mit dem biblischen Vorbild wird der Türkenfeldzug des Kaisers gleichsam als göttliche Sendung legitimiert und erhält
586
587 588
[Anonym]: Fall der Stadt Jericho. Oratorjo Jn Der Rom: Kayserl: Majestät Leopold D e ß Ersten Hof=Capellen Gesungen Jm Jahr 1695. Mit der Music / Herrn Ferdinand Tobias Richter [...]. Wien 1695. Vgl. auch Herbert Seifert: Die Oper am Wiener Kaiserhof im 17. Jahrhundert. Hitzing 1985 (Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, Bd. 25), S. 546. Anonym: Fall der Stadt Jericho, fol. A2. Es ist allerdings sehr gut möglich, daß diese Deutung in dem höchstwahrscheinlich als Prolog vorgetragenen »Carmen« geschah, das man dem Rat am Vormittag vor der Aufführung zusätzlich zu den »Zeichen« in gedruckter Form überreicht hatte.
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heilsgeschichtliche Züge, indem Leopold I. wie Josua als Vollstrecker des Willens Gottes erscheinen, was noch dadurch verstärkt wird, daß gerade das Josua-Buch von der Thematik Verheißung und Erfüllung bestimmt ist.589 Dadurch konnte man aber nicht nur Leopold I. als christlichen Helden und Türkenbezwinger feiern, sondern zugleich auch auf die Frömmigkeit als der vornehmsten Herrschertugend der Habsburger anspielen, die Pietas Austriaca.590 Gerade sie beruhte auf der Überzeugung, »daß dem Hause Österreich von Gott her eine bestimmte Mission für Reich und Kirche zuteil geworden ist«.591 Diese hier vorgelegte Deutung gewinnt schließlich dadurch an Wahrscheinlichkeit, daß nicht einmal ein Jahr später in Nürnberg eine Oper zu Ehren Leopolds I. und seines Sohnes Joseph I. aufgeführt wurde, die den Kaiser erneut mit dem berühmten Exempel eines siegreichen Feldherren gleichsetzte. Christoph Adam Negeleins Oper Arminius Der Teutschen Erz-Held, Das Interesse und die Unterstützung, die man in der Stadt der Josua-Oper entgegengebracht hatte, mögen die operninteressierten Kreise um die Handelsleute dazu bewegt haben, rasch ein neues Projekt in Angriff zu nehmen. Denn nur ein halbes Jahr nach der Aufführung von Die Eroberung Jericho wandten sich Anfang Dezember 1696 die Großkaufleute im Namen ihres Standeskollegen Christoph Adam Negelein mit einer Supplikation an den Rat und unterbreiteten den Vorschlag, eine von ihm verfaßte Oper anläßlich des Jubiläums der Krönung von Joseph I. zum Römischen König am Jahrestag derselben, dem 16./26. Januar 1697, zur Aufführung zu bringen. Gezeigt werden sollte ein Stück nach der Vorlage eines französischen Dramas, das man unter dem deutschen Titel Arminius, Der Teutschen Erz-Held, vorstellen wollte.592 Das Anliegen stieß auf positive Resonanz. Allerdings scheint man es im Rat aufgrund der großen Bedeutung des Anlasses für besser gehalten zu haben, das Gremium der Herren Älteren über das Gesuch entscheiden zu lassen. Letzteres stand dem Vorhaben positiv gegenüber und erlaubte die »praesentierung einer Opera in dem Neuen Comoedienhaus, auf den 16/26 Januarii nächstkünftigen Jahrs«. Allerdings wollte man diesmal offenbar 589
So heißt es schon im Artikel des Universal-Lexikons von Zedier 14 (1735), Sp. 1215f., s.v. >JosuaNationalstoffes< um den germanischen Feldherren Arminius sich eine ausländische Quelle zum Vorbild nahm. Doch eine derartige Sicht gerät nicht nur in die Gefahr einer volkstümelnden Betrachtungsweise, sondern geht vor allem auch an den historischen Gegebenheiten und poetologischen Vorstellungen des 17. Jahrhunderts vorbei, denen der Geniegedanke fremd war. In den Poetiken wurde die wetteifernde Nachahmung von Musterautoren und -texten propagiert und bei aller Betonung des »kulturpatriotischen« Anliegens der Vorbildcharakter der Romania ausdrücklich unterstrichen.604 Gerade Christoph Adam Negelein kann hierfür als ein signifikantes Beispiel gelten. Schon im Vorwort seiner geistlichen Oper Abraham bemerkte er, daß er sich bei der sprachlichen Gestaltung des Librettos »die neuen 598
599 600 601 602 603 604
Vgl. etwa Jürgensen: Utile cum dulci, S. 87, die irrtümlicherweise feststellte: »Schon 1667 [!] soll er [Negelein] in Nürnberg eine Arminius-Oper veröffentlicht haben; erhalten blieb nur sein Singspiel Abraham«. Hampe: Theaterwesen, S. 141. Ebd., S. 150. Sandberger: Oper in Nürnberg, S. 194. Ebd., S. 195. Ebd., S. 196. Vgl. zu diesem Komplex Theodor Verweyen: Nationale Identität als Problem im Barock: Opitz und die »Fruchtbringende Gesellschaft«, Grimmelshausen und Moscherosch. In: Die Deutschen und die andern. Patriotismus, Nationalgefühl und Nationalismus in der deutschen Geschichte. Hg. v. Stefan Krimm u. Wieland Zirbs. München 1997 (Reihe: Dialog Schule und Wissenschaft), S. 6 7 - 9 1 , bes. S. 6 7 - 7 3 .
536 Frantzösisch= und Wälschen / in denen Sing=Spielen üblich=freyen«605 Versarten zum Vorbild genommen habe. Auch im Fall des Arminius machte Negelein keinen Hehl daraus, sich bei seiner Fassung stark an einer Vorlage orientiert zu haben. So wies er bereits in der Supplikation an den Rat vom Dezember 1696 hinsichtlich der geplanten Oper ausdrücklich darauf hin: »Enthaelt die Geschichte des Arminii einen Theil; guten Theils, wie solcher der berühmte Franz. Comicus Campistron disponirt und tractirt hat«.606 Und in der Vorrede »An den Stands Gebühr nach Höchst= und Hochgeehrten Leser« des Librettos betonte er ebenfalls: »Jn guten Theils solcher Disposition und Ordnung hat der Arminius der berühmte neue Frantzös. Tragödiant Capistron ans Liecht geleget: welcher ich dann [...] soviel mich thunlich zu seyn dünckte / nachgegangen bin.«607 Dabei hob er ausdrücklich die Vorrangstellung italienischer und französischer Opern hervor, denen er in der eigenen Sprache nachzueifern suchte: Als hab ich mich / wie andere vor mir / meist befleissen wollen / sowol in den Versen / als Arien / bald die Jtaliäner / bald die Frantzosen (derer beyder Manieren ich nicht nur gelesen / sondern auch auf ihren Bühnen gehört) dergestalt nachzuahmen / daß ich verhoffe / es werden solcher Theatralischen Vorstellungen Erfahrne mir zu zugeben belieben / daß ich meinen Zweck / erstgedachte beyde in ihren Würden bleibende fremde Arten / in meinem Teutschen miteinander zu vermischen / einiger massen erreichet habe.608
Bei der von Negelein benutzten Vorlage handelt es sich um Jean Galbert de Campistrons Tragödie Arminius,609 die der französische Dichter 1684 Marianne Mancini, der Duchesse de Bouillon, widmete und die sich rasch zum großen Erfolg entwickeln sollte.610 Für sein Stück hat sich Campistron weitgehend der Darstellung des Stoffes bei Tacitus im zweiten Buch der Annalen bedient. Dabei steht in der Tragödie vornehmlich eine Liebesgeschichte im Mittelpunkt, bei der sich die Handlung vor allem um die Frage dreht, ob Arminius oder Varus die Hand von Ismenie erhält, der Tochter des Chattenfürsten Segeste. Dieser hat entgegen dem Willen seines Volkes mit den Römern paktiert und zur Bestätigung dieses Vertrages dem Feldherrn Varus 605 Negelein/Abraham, fol. Aiiijv. 606 SBN, Nor. H. 991, fol. [2V]. 607 Arminius, fol. [):(4 r ] (Vorrede). 608 Ebd. 609 Jean Galbert de Campistron: Arminius, Tragedie. In: ders.: CEuvres. Nouvelle Edition, Corrigee & augmentee de plusieurs Pieces qui ne se trouvent point dans les Editions precedentes. Tome Premier. Farnborough 1972 (Ndr. der Ausgabe Paris 1750), S. 103-207. Zu den einzelnen zeitgenössischen Ausgaben und posthum herausgegebenen Sammeleditionen siehe Dorothy F. Jones: Jean de Campistron. A study of his life and work. University Mississippi 1979 (Romance monographs, vol. 32), S. 221-223. 610 Vgl. dazu Jones: Campistron, bes. S. 37-51, sowie Curt Hausding: Jean Galbert de Campistron in seiner Bedeutung als Dramatiker für das Theater Frankreichs und des Auslandes. Diss. Leipzig 1903, S. 14-16.
537 seine Tochter versprochen, die seit ihrer Kindheit jedoch für Arminius bestimmt war. 611 Doch die Liebesgeschichte bildet nur die Oberfläche. Das Stück behandelt vielmehr das grundsätzliche »problem of loyalty«, 612 indem es aufzeigt, wie »each of the characters is forced to cope with the issue of loyalty, and for each the conflict takes a different shape.« 613 Dieses Thema bildet auch den roten Handlungsfaden bei Negelein, der für seine Opernübertragung weite Teile der Tragödie übernommen hat: So behält er etwa das Figurenpersonal, die Schauplätze sowie die genaue Akt- und Szeneneinteilung bei und greift für das Rezitativ auf die französische Vorlage zurück, deren Text über weite Strecken von Negelein als Übersetzung eingebaut wird. Allerdings gibt es einige signifikante Veränderungen, wie etwa die für die Opernform notwendige Hinzufügung von nicht weniger als 49 Arien. Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht der Raum für eine eingehende Textanalyse des Librettos, welche die pejorativen Werturteile von Hampe und Sandberger zu relativieren hätte. Sie müßte zudem der Frage nachgehen, inwieweit das in der Vorlage von Campistron behandelte Thema von »Treachery and loyalty« 614 bei Negelein mit politischen Implikationen verbunden ist und in diesem Fall die mit Kriegshandlungen vermengte Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Türkenkriegs und des spezifischen Gelegenheitscharakters der Oper möglicherweise als sinnbildliche Verkleidung einer politischen Konstellation zu deuten wäre, wie es in vielen Opern dieser Zeit der Fall war. 615 Im Kontext dieses Kapitels sei hier jedoch ein anderer Aspekt berührt, der für die Aussage der Oper eine zentrale Rolle spielen dürfte: die figuraltypologisch strukturierte Stilisierung Leopolds I. zum zweiten Arminius. Gerade hierfür sind nicht nur einige von Negelein vorgenommene Veränderungen gegenüber der Vorlage signifikant, sondern es läßt sich auch zeigen, daß die Oper vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Situation des Türkenkrieges zu sehen ist und dem Theaterereignis als kommunikativem Medium nach außen wichtige politische Bedeutung für die gesamte Stadt zukam.
Leopold I. als zweiter Arminius und »Teutschlands=Retter« Bei den Veränderungen fällt bereits im Titel des Stücks eine bedeutungstragende Abweichung zur Vorlage auf, die in diesem Zusammenhang aufschlußreich ist. So hebt der Titel durch den neuen Zusatz Der Teutschen Erz-Held nicht nur die exemplarische Bedeutung der Hauptfigur als einer der »ganz gro611 612 613 614 615
Vgl. auch die Inhaltsangabe bei Hausding: Campistron, S. 14f. Jones: Campistron, S. 40. Ebd., S. 41. Ebd., S. 40. Vgl. dazu Fischer-Lichte: Theater des Barock, S. 33, sowie Jahn: L'Adelaide L'Heraclio, S. 652f.
und
538
ßen Empörer und Befreier« 616 hervor, sondern nennt zugleich auf dem Titelblatt die Widmung an den Kaiser und stellt so eine erste Verbindung zwischen Arminius und Leopold I. her. Unterstrichen wird dies in der beigegebenen Widmungsvorrede an den Kaiser. Zum einen streicht Negelein dort erneut den paradigmatischen Charakter der Arminius-Gestalt als siegreicher Feldherr heraus und betont, »daß Er freylich! Teutschlands Retter gewesen«617 sei. Zum anderen setzt er diese Deutung in direkte Beziehung zum Kaiser, indem er die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Herrschern hervorhebt: Arminius / der sichs / für seine Teutschen / so sauer werden lassen / siehet sich eben dem am liebsten wiedmen und unterwerffen / der sich um Teutschland am meisten verdient hat. Wem ist dieses aber mehr verbunden / als dem höchst-bezepterten Erz-Haus Oesterreich? Wem sonderbarer / als Seinem Grossen Kayser Leopold
Schließlich wird diese parallelisierende Deutung nach dem Verfahren einer »außerbiblischen Typologie«619 nochmals aufgegriffen in der wohl auffälligsten Neuerung gegenüber der Tragödie von Campistron: dem von Negelein entworfenen und der eigentlichen Opernhandlung vorausgehenden allegorischen Vorspiel, das bei Sandberger völlig übergangen und mit der Bemerkung, es handle sich um eine »öde Reimerei«,620 abgetan wurde. Bereits in der Eingabe an den Nürnberger Rat hatte Negelein darauf hingewiesen, daß bei der Aufführung »die Teutonie [...] als eine Vorrednerin der Opera die Entree machen solle«.621 Wie aus den Angaben im Libretto ersichtlich wird, erscheint zum Auftakt der Oper die Allegorie Deutschlands »in ihres Landes alt-heroischer Tracht; hat in der rechten Hand eine Lanze / am linken eine Tartsche« 622 Dabei agiert sie vor einem äußerst beziehungsreich arrangierten Bühnenbild, das nicht nur dem Librettodruck als Titelkupfer beigegeben ist (vgl. Abbildung Nr. 17), sondern auch im Textbuch ausführlich beschrieben wird: Bey ihrem Auftritt Zieret die Bühne / zur rechten Seiten / Seiner Römisch=Käyserl. Majestät Leopold deß Grossen Spruch-Bild / mit der Beyschrifft: Consilio & Industria. Mit Rath und Fleiß. Auf der andern Seiten der Bühne erhellet Seiner Rom. Kön. Maj. Josephs SpruchBild / mit der Umschrifft: Amore & Timore. Mit Lieb und Furcht. Auf der Bühne stehet ein mit einem Teppicht bedeckter Tisch / auf welchem sich der Käyserl. Ornat auf einem Küssen vorstellet; der Teppicht bemerket das alte Wappen der Stadt Nürnberg / woselbst solche Reichs-Kleinodien verwahret werden.
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Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, S. 61. Arminius, fol. [):(2V] (Widmung). Ebd., fol. [):(3r]. Ohly: Skizzen zur Typologie, S. 513. Sandberger: Oper in Nürnberg, S. 196. SBN, Nor. H. 991, fol. [3r], Arminius, fol. [):(4V] (Vorspiel).
539 Den obern Theil der Bühne erfüllen lauter Trophäen und Sieg-Zeichen. Und lässet sich ein Adler (das Käyserthum bedeutend) aus den Wolken hernider / der den Erz-Herzogl. Oesterreichis. Wappen-Schild in den Klauen hält; wie es alles besser auf vornen-anstehendem Kupffer-Blat ausgedruckt zu sehen ist.623 Schon durch diese Beschreibung, die dem Zuschauer mit dem ausgeteilten Libretto vorlag, erhält die Szenerie gleichsam eine emblematische Struktur. Unterstrichen wird dies noch durch die Rede der Teutonia, die bei ihrem Auftritt quasi im Sinne der subscriptio eine Deutung des als pictura fungierenden Bühnenbildes gibt, wodurch das Vorspiel zu einem (nach der prägnanten Formulierung Albrecht Schönes) »Theatrum Emblematicum« 6 2 4 wird: Zunächst verweist die Teutonia auf den Anlaß der Oper als eine Ehrung für das Kaiserhaus und liefert dann die Erklärung des auf der Bühne gezeigten »Spruch-Bildes« Leopolds I. Hierauf wendet sie sich dem »SpruchBild« Josephs I. zu, um daraufhin den hinter ihr aufgebauten Tisch sowie das über ihr installierte Bühnenbild zu deuten:
[...] Seht! Wie erfreut mein Adler-Bild hält Seiner-Herzogen Schild? Doch hat sich meine Brust vergnügter nie gespühret / als jetzt / da Leopold des Reiches Zepter führet! Seht seine Trophäen / und wünschet / ihr Treuen! Daß Jhm noch viel herrliche Siege gedeyen! Und / Treue Noris du! die du die heiigen Zeichen der Käyser-Würd verwahrst! Du stimmst mir redlich bey / ich hör / zum öfftern ja / dein freudigstes Geschrey: Lang lebe Leopold! Muß Nestors Jahr erreichen! [.. .]625 Schließlich leitet die Teutonia auf das im folgenden vorgestellte Stück über, wobei sie den exemplarischen Charakter der Titelfigur als Retter Deutschlands hervorhebt und die Siegeszüge des Feldherrn Arminius in direkte Beziehung zum Kaiser und dessen aktuelle Kriege setzt, auf die angespielt wird: Zu dieses Grossen Käysers Ehren / läst sich / auf dieser Bühn / Arminius heut hören: Mein Held / den ich nie satt gepriesen! Der uns den Weg zum Reich / so sieg-reich / hat gewiesen! Wie Er Augusten dort / empfindlich hat betrübt; so suchet er hier Leopolds Ergötzen; und / sich in dessen Gnad zu setzen / der / was vom Helicon stammt / liebt / und selber übt!
623 624
625
Ebd. Schöne: Emblematik und Drama, S. 214. Für die Barockoper hat jüngst Jahn: L'Adelaide und L'Heraclio, S. 685 - 692, diese emblematisch ausgerichtete Beziehung zwischen Bühnenbild, Requisiten und Handlung an einigen Beispielen beschrieben und betont: »Der Text deutet das Bühnenbild und das Bühnenbild interpretiert den Text« (ebd., S. 692). Arminius, fol. A v (Vorspiel).
540 Wünscht zuvor: Der Käyser siege / Unser größter Mäcenat! Wünschet / daß Er glücklich kriege: dann Er kriegt mit Fleiß und Rath! Wünscht / daß Jhn ein Freid vergnüge / der mein Heil sey in der That! 626
Durch dieses emblematisch strukturierte Wechselspiel zwischen zeigendem Bühnenbild und kommentierender Figurenrede wird das Vorspiel gleichsam »zum gedeuteten und vorausdeutenden Sinnenbild«627 der Oper, das die Blickrichtung auf die folgende Spielhandlung vorgibt. Wie schon Titel und Widmungsvorrede nahelegen, macht gerade das Vorspiel nochmals deutlich, daß mit dem germanischen Heroen Arminius bzw. Teutschen Erz-Helden eigentlich Leopold I. gemeint ist und die Vorstellung der Oper in erster Linie darauf abzielte, dem Kaiser als »meiner Länder Schutz und Gold«628 zu huldigen, wie es die Teutonia im Vorspiel bei der Auslegung des »Spruch-Bilds« Leopolds I. formuliert. Auf diesen zentralen Wirkungsaspekt der Oper wies Negelein bereits in seiner Eingabe an den Rat der Reichsstadt hin, als er feststellte, »also redundiert dieses Werk in Gloriam Augustissimi Caesaris«.629 Dabei zeigt das Vorspiel zudem, daß sich diese typologische Parallelisierung im Sinne einer präfigurativen Vorausdeutung auslegen ließ: Wie Arminius Deutschland befreite und den übermächtigen Varus besiegte, so wird Leopold I. in seinem Krieg siegen und Deutschland Frieden bringen, wobei damit vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund wohl nur die Auseinandersetzung mit den Türken gemeint sein kann. Unterstrichen wird dieser Bezug auf die politische Kriegssituation nicht zuletzt durch das Bühnenbild, das unter den präsentierten »Trophäen und Sieg-Zeichen« des Kaisers auch Trophäen türkischer Heere vorstellte, wie auf dem beigegebenen Titelkupfer gut zu erkennen ist (vgl. Abbildung Nr. 17). Die Oper als Demonstration reichsstädtischer Kaisertreue Doch damit ist die politische Bedeutung der Oper nicht erschöpft. Denn die mittels der Oper transportierte, panegyrisch ausgerichtete Deutung von Leopold I. im Bild des siegreichen Helden Arminius ließ sich gerade im Zusammenhang eines begangenen Festjubiläums im Kaiserhaus auch für eine repräsentative Selbstdarstellung Nürnbergs und zur Demonstration reichsstädtischer Kaisertreue instrumentalisieren (vgl. dazu auch das folgende Kapitel 5.4.2.). Auf eine derartige Wirkungsabsicht spielt bereits der 626 627 628 629
Ebd., fol. A 2r. Jahn: L'Adelaide und L'Heraclio, S. 687. Arminius, fol. A r (Vorspiel). SBN, Nor. H. 991, fol. [3r],
541 Prolog des Arminius an. Durch die zentrale Positionierung des Nürnberger Stadtwappens im emblematisch angelegten Arrangement des oben zitierten Bühnenbildes ließ sich sowohl die besondere Rolle der Reichsstadt als Hüterin der Reichskleinodien hervorheben als auch die enge Verbundenheit Nürnbergs mit dem Kaiserhaus zum Ausdruck bringen. Dabei hielt man mit derartigen Bekundungen nicht hinter dem Berg, wie die Widmungsvorrede an den Kaiser zeigt, in der Negelein ausdrücklich hervorhebt: Noris will ihm indessen allhier ihre Bühne / und ein geneigtes Gehör gönnen. Und gleichwie / in den alt-bekandten Mauren dieser Treu-ergebensten Nymfe / der geheiligte Name Eurer Kayserl. Majestät / wie des ganzen Majestätischen Hauses Oesterreich / bey allen Gebietenden und Gehorchenden / in unverwelcklichster höchster Veneration immerfort grünet; also wird Sie dabey das heutige erwünschteste Anniversarium der Krönung Seiner Königlichen Maijestät Josephs zum Römischen König / höchsterfreulich feyren und begehen / auch / mit allen ihren getreuen Patrioten / von dem König aller Könige [...] nicht nur für dieses neu-eingetrettene Jahr / sondern auch für noch unzählig-viele folgende Zeiten / aus Treu-verbundenster und gehorsamster Seele / erflehen! 6 3 0
Wie bewußt man diese Effekte einkalkulierte, zeigt die Tatsache, daß derartige Aspekte im Vorfeld der Oper diskutiert und gezielt als Argumente für eine Aufführung eingesetzt wurden. Denn in der bereits mehrfach erwähnten Supplikation an den Nürnberger Rat vom Dezember 1696 wies Negelein (mit fast identischem Wortlaut zur eben zitierten Widmungsvorrede) die Obrigkeit auch auf den Werbeeffekt hin, der sich mit der Oper beim Kaiser erzielen lasse, zumal man beabsichtigte, das Libretto nach Wien zu schicken: »also redundiert dieses Werk in Gloriam Augustissimi Caesaris : soll auch Seiner Käyserl. Maj. an obgedachtem Anniversario, vnterwerffenst conferrirt werden«.631 Eine Nürnberger Oper macht von sich reden Negeleins Oper fand in der Stadt großen Anklang. Mehrere zeitgenössische Stadtchroniken vermerkten ihre Aufführung,632 und der lokalen Historiographie aus der Zeit um 1800 galt das Stück (nicht ganz korrekt) noch als »die erste große Oper«,633 die man in Nürnberg aufführte. Doch der Arminius dürfte nicht nur in Nürnberg, sondern auch weit über die Stadtmauern hinaus Aufsehen erregt und unter anderem in Wien von sich reden gemacht haben.
630 631 632
633
Arminius, fol. [):( 3 r " v ] (Widmungsvorrede). SBN, Nor. H. 991, fol. [3 r ], Vgl. StadtAN, Rep. F l : Nürnberger Chroniken, Nr. 43, S. 583, sowie StaatsAN Rep. 52a: Nürnberger Handschriften, Nr. 173: Nürnbergische Geschichten Anno 1697, S. 2. Christoph Gottlieb von Murr: Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in der Reichstadt Nürnberg [...]. Zwote, durchaus vermehrte Ausgabe. Nürnberg 1801 ('1778), S. 635.
542 Hierfür spricht etwa, daß der in der Stadt weilende, ständige Gesandte des Kaisers (wie bei allen Feierlichkeiten zu Ehren des Kaiserhauses) wahrscheinlich auch von der Opernaufführung anläßlich des Krönungsjubiläums Josephs I. Meldung nach Wien erstattet haben dürfte. Außerdem war man in Nürnberg selbst an einer Berichterstattung und Verbreitung interessiert, wie die Ankündigungen in den Zeitungen deutlich machen. Es ist von daher gut möglich, daß man in diesem Fall erneut dafür zu sorgen wußte, daß die Oper und das Libretto ihren Weg nach Wien finden würden, wie es der oben zitierte Hinweis in Negeleins Supplik nahelegt. Nicht zuletzt spricht hierfür die Tatsache, daß der Kaufmann nach seiner (später noch zu schildernden) Flucht aus Nürnberg am Wiener Hof ein Refugium fand und als Hofpoet sowie Operndichter angestellt wurde, was wahrscheinlich macht, daß man am Kaiserhof von den Qualitäten des Nürnbergers zuvor bereits Kenntnis genommen hatte. Doch der Nürnberger Arminius fand nicht nur ein positives Echo, wie die Reaktion eines der renommiertesten Opernfachmänner dieser Zeit verdeutlicht, dessen Urteil nicht gerade schmeichelhaft ausfiel. In seiner 1695-1697 konzipierten und als Poetikvorlesung vorgetragenen, jedoch erst 1707 erstmals publizierten Schrift Die Allerneueste Art, Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen setzte sich Erdmann Neumeister auch mit den Dichtungen der >Nürnberger< auseinander, die »viel schöne Gedichte, welche gut und zierlich nach unserer Art elaboriret gewesen, verlacht, und nicht einen Creutzer werth geachtet haben«. Dabei produzierten sie selbst nur »Saalbadereyen«, die sie »wie die Affen ihre Jungen, und wie die Spanier ihre Mäntel, über alles geliebet und aestimiret«.634 Und an anderer Stelle schimpft der Poetiker: »Die Nürnberger, oder so genannten Pegnitz=Schäfer [...] brüten allerhand Worte aus, welche man zu tausenden, wie die Raupen=Nester verbrennen sollte«.635 Diese Animositäten mögen ausschlaggebend gewesen sein, daß Neumeister es sich 1697 nicht nehmen ließ, das neueste Werk aus der Reichsstadt mit Spott zu überhäufen: Es ist eben eine Opera, Arminius genannt, in Druck kommen, welche Negelein gemacht, von dieser machen sie einen grössern Staat, als weyland August von der jEneide des Virgilii. Als ich sie aber laß, kriegte ich die Colica davon.636
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[Erdmann Neumeister]: Die Allerneueste Art, Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschaft geneigten Gemüthern, zum Vollkommenen Unterricht, Mit Uberaus deutlichen Regeln, und angenehmen Exempeln ans Licht gestellet, Von Menantes [Christian Friedrich Hunold]. Hamburg 4 1722 01707), S. 501. Ebd., S. 499. Ebd., S. 501.
543
Vom Bankrotteur zum Hofpoeten Dieses abfällige Urteil zeigt bereits, daß Christoph Adam Negelein keineswegs nur Ruhm von seiner Theaterleidenschaft und Operntätigkeit beschert war. Es scheint sogar, seine Liebe zum Musiktheater und insbesondere sein finanzielles Engagement bei den Nürnberger Opern haben in erheblichem Maße zum wirtschaftlichen Ruin seines Handelshauses beigetragen, was den Kaufmann schließlich zum Weggang aus Nürnberg zwang. Denn nur kurze Zeit nach der glanzvollen OpernVorstellung, die ihm 1698 noch den durch Johann Paul Wurfbain verliehenen Titel eines gekrönten Dichters eingebracht hatte, begab sich Negelein nach Wien - und dies nicht ganz freiwillig, da er sein Handelsgeschäft in den finanziellen Ruin getrieben hatte und in seiner Heimatstadt von Schulden und Gläubigern bedrängt wurde. Und es hat ganz den Anschein, daß es sich bei dem Aufbruch nach Wien um eine regelrechte Flucht nach Art einer Nacht- und Nebelaktion handelte, da er Frau und Familie in Nürnberg zurückließ. Und auch ein mit Negelein befreundeter Zeitgenosse meinte in einer bezeichnenden Formulierung, der Kaufmann habe sich angesichts der Schuldenlast »dann auch deßen widrigen Aspecten zu entziehen, von Nürnberg nach Wien begeben«.637 Negelein wäre nicht der erste Opernmann gewesen, der in dieser Zeit seine Stadt wegen Schulden fluchtartig hatte verlassen müssen. Um in Wien Fuß fassen zu können, legte Negelein seine evangelische Konfession ab und konvertierte zum katholischen Glauben, was man ihm in Nürnberg noch lange verübeln sollte und eine Rückkehr nahezu ausschloß (siehe unten). In den wenigen biographischen Notizen aus dem 18. Jahrhundert wird dieses unrühmliche Ende eines gefeierten Dichters mehrerer Opern, jedoch im Beruf gescheiterten Kaufmanns entweder ganz verschwiegen oder nur kurz erwähnt und dabei zumeist euphemistisch umschrieben: Während etwa Herdegen in seiner Geschichte des Pegnesischen Blumenordens Negeleins Bankrott mit keinem Wort erwähnt,638 heißt es bei Paul Jakob Marperger in diesem Zusammenhang allegorisch verbrämt, »daß Apollo und Minerva ihm jederzeit günstiger als Mercurius gewesen«639 seien. In Johann Riederer Merckwürdiges Leben einiger hier und dar gewesenen Kauf=Leuthe wird der Gang nach Wien damit begründet, »weil ihm das Commercium nicht favorable war, entschlug er sich desselben völlig«.640 Und im Nürnberger Gelehrtenlexikon ist lediglich von »unglücklicher Handlung«641 die Rede. Deutlichere Töne spricht dagegen Johann Ferdinand Roth in seiner Geschichte des Nürnbergerischen Handels, in der nicht nur vermerkt wird, daß Negelein 637 638 639 640 641
Marperger: Erstes Hundert Gelehrter Kauffleut, S. 91. Vgl. Herdegen: Historische Nachricht, S. 484-486. Marperger: Erstes Hundert Gelehrter Kauffleut, S. 91. Riederer: Negotianten, Bd. 2, S. 133. NGL3 (1755), S. 11.
544 »fallirte«, sondern auch als Grund indirekt seine Leidenschaft für die Dichtkunst und das Theater angegeben wird: »Er vernachlässigte aber seine Handelsgeschäfte, daher er auch in der Folge Bankerott machte«. 6 4 2 In Wien dürfte Negelein spätestens im Herbst 1699 eingetroffen sein, da er zu dieser Zeit erstmals mit einer Gelegenheitsdichtung bei H o f e in Erscheinung tritt. Z u m Namenstag Leopolds I. widmete er d e m Kaiser eine in Glück-Wunsch-Ode.643
Wien gedruckte Pindarische
644
unter d e m Titel Glück-Wunsch
Kurz darauf verfaßte er
im Januar 1700 anläßlich des Geburtstags
der Kaiserin ein mehrstrophiges Gedicht. Wahrscheinlich auf Vermittlung des Kardinals Graf Leopold von Kollonitsch, den Riederer Negeleins »Protector« 6 4 5 nennt, wurde der Nürnberger etwa Anfang Juni zum offiziellen kaiserlichen H o f p o e t e n ernannt. D a b e i scheint man sich offenbar an seine Tätigkeit als Librettist erinnert zu haben, da er mit d e m Auftrag angestellt worden war, italienische Opern und Oratorien ins D e u t s c h e zu übersetzen sowie eigene Stücke für das Hoftheater zu entwerfen, wie er in einem Brief v o m 12. Juni 1700 nach Nürnberg an Magnus Daniel Omeis berichtet: Gleichwie von Jhro Rom. Kaiserlichen Majestät, meinem allergnädigsten Kaiser und Herren, die, durch Herrn D. Langetes von Langet vor bereits sechs Monaten erfolgtes seliges Absterben, erledigt gewesene Hof=Poeten=Stelle mir seither wenig Tagen allergnädigst conferiret worden. [...]. Es sind dahier nur zween Hof=Poeten, welche von Jhro Kaiserlichen Majestät würkliches appointement genießen, nemlich Tit. Herr Donatus Cupeda, ein Jtaliäner, und ich. Jener hat sich das Jahr über mit den Erfindungen von 6. Jtaliänischen Opern, und einen paar Operetten zu beschäftigen, welche sowohl als die Jtaliänische und lateinische Oratoria, so in der Fasten= Zeit vor Jhro kaiserlichen Majestät musiciret werden, so dann ich zu verteutschen, auch dann und wann teutsche Theatralia selbst zu inventiren bekomme. Die Ehre der lateinischen Poesie und Comödien aber bleibt denen Herren Patribus Jesuitis reservirt. 646 Trotz verschiedener Anfragen bei mehreren Stellen in Wien konnte weder über Negeleins Konversion zum Katholizismus noch über seine Tätigkeit als Hofdichter Näheres in Erfahrung gebracht werden. 6 4 7 Auch läßt sich seine 642 643
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Roth: Geschichte des Nürnbergischen Handels, Bd. 2, S. 78. Christoph Adam Negelein: Pindarische Glück-Wunsch-Ode Womit Der Geheiligten Römischen Kayserlichen Majestät LEOPOLD Dem Grossen An Höchstgedachter Jhro Kayserlichen Majestät / [...] Nahmens-Fest / Dieses 1699sten HeilJahrs / Jn allerunterthänigster Demuth auffwarten sollen /[...]. Wienn 1699. Christoph Adam Negelein: Glück-Wunsch / Womit Der Allerdurchleuchtigsten / und Großmächtigsten Fürstin und Frauen Frauen [!] ELEONORA MAGDALENA THERESJA Gekrönten Römischen Kayserin [...] Fünff und vierzigsten Geburts-Fest Am 6. Des Jenners dieses 1700. Heil-Jahrs / Jn allerunterthänigster Demuth auffwarten sollen [...]. Wienn 1700. Riederer: Negotianten, Bd. 2, S. 133. Zitiert nach dem Abdruck des Briefes bei Herdegen: Historische Nachricht, S. 485f. Laut freundlicher Auskunft von Herrn Hofrat Dr. Franz Dirnberger, Schreiben vom 10. Februar 1999, existierten im Österreichischen Staatsarchiv (Haus-, Hof- und Staatsarchiv) keine Unterlagen zu Negelein als Hofdichter am Kaiserhof. Allerdings gebe es (nicht zuletzt aufgrund verschiedener Verluste) aus der Zeit vor 1800
545 Aufgabe als Librettist am Hoftheater nicht mit Texten belegen und nachzeichnen. 6 4 8 Überliefert ist allein die Nachricht von der Übersetzung eines italienischen Oratoriums, die Negelein noch vor seiner Anstellung bereits zum Osterfest 1700 anfertigte und unter dem Titel Jesus im Richthaus die Unschuld
von der Bosheit
verurtheilet
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/ oder
in Druck gab. Während Gott-
sched noch ihren Titel kannte, 6 5 0 muß sie heute wohl als verschollen gelten und genießt den Ruf eines »bibliographische[n] Curiosum[s]«. 6 5 1 D a s erste und zugleich letzte Mal ist Negelein in seiner Rolle als H o f p o e t in einem Glückwunschgedicht greifbar, das er E n d e Oktober zur Geburt des kaiserlichen Prinzen Leopold Joseph verfaßte und auf d e m er sich Jhro serl. Majest: gekrönter
Teutscher Hoff=Poet652ncnnt.
Käy-
Besonders glücklich ver-
lief seine Karriere in dieser Funktion jedoch nicht. Bereits ein Jahr später starb Negelein im Alter von 45 Jahren »nicht in gar zu grosser B e q u e m lichkeit«, wobei man sich unter den Zeitgenossen erzählte, »daß, seit er seine Religion geändert, seine Poesie nicht mehr das vorige pondus gehabt habe«. 6 5 3 Offenbar war Negelein trotz der wenig ruhmvollen Flucht bemüht gewesen, seinen Ruf in der Heimat noch zu retten und sich durch seine Beförderung zum H o f p o e t e n empfehlen zu können, wie eine Stelle aus dem Brief an Omeis zeigt, in d e m er den Vorsitzenden des Pegnesischen Blumenordens
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kaum Informationen über derartige Ämter. Einen negativen Bescheid in dieser Frage brachte auch die Anfrage beim Finanz- und Hofkammerarchiv des Österreichischen Staatsarchivs (Schreiben vom 3. März 1999, Direktor Dr. Herbert Hutterer). Ebenfalls keine Ergebnisse ließen sich für die Konversion von Negelein finden, für die das Diözesanarchiv der Erzdiözese Wien sowie die Wiener Dompfarre St. Stephan angeschrieben wurden. Neben den gängigen Bibliographien wurden herangezogen die Verzeichnisse bei Alexander von Weilen: Die vom Jahre 1629 bis zum Jahre 1740 am Wiener Hofe zur Aufführung gelangten Werke theatralischen Charakters und Oratorien. Wien 1901 (Schriften des österreichischen Vereins für Bibliothekswesen zur Wiener Theatergeschichte), und Anton Bauer: Opern und Operetten in Wien. Verzeichnis ihrer Erstaufführung in der Zeit von 1629 bis zur Gegenwart. Graz, Köln 1955 (Wiener musikwissenschaftliche Beiträge, Bd. 2), sowie der Abschnitt »Spielplan 16221705« bei Seifert: Oper am Wiener Kaiserhof, S. 429-585. Christoph Adam Negelein: Jesus im Richthaus, oder die Unschuld von der Bosheit verurteilet. Oratorium bey denen hochwürdigen Kloster=Jungfrauen der Ursulinerinnen in Wien, an heil. Oster=Abend [...], aus dem italiänischen ins Teutsche übersetzt [...]. Wien 1700 [= Verlust], Vgl. Gottsched: Nöthiger Vorrat, Zweiter Teil, S. 265. Meyer: Bibliographie dramatica, 2. Abt., Bd. 1, S. 479. Christoph Adam Negelein: Glück=Wunsch / Womit Denen Rom: Käyserl: Majestäten Leopold dem Grossen / Und Eleonora Magdalena Theresia / Dann Denen Rom: Königl: Majestäten Joseph dem Ersten / Und Wilhelmina Amalia / Bey angestellten höchst=erwünscht=und erfreulichen Geburts=Festivitäten Des Königlichen Printzen Leopold Josephs / Am 31. Octobris dieses 1700. Heil=Jahrs Jn allerunterthänigst=und allerschuldigster Devotion, auffwartet / Jhro Käyserl: Majest: gekrönter Teutscher Hoff=Poet [...]. Wienn [1700], Riederer: Negotianten, Bd. 2, S. 134.
546 darum bat, von »dieser meiner Promotion« auch die »mir bekannten wertesten Altdorfisch= und Nürnbergischen Herrn Gelischaftern und Frauen Gesellschafterinnen [...] mit guter und beliebiger Gelegenheit bekannt machen zu lassen, und hierunter mich sonderbarst zu obligiren«.654 Doch die offizielle Rehabilitation blieb dem einst als »erbar und wolfürnehm« angesehenen Kaufmann und »Genannten des Größeren Rats« verwehrt. Er galt in seiner Heimatstadt als verfemter Bankrotteur und Renegat, dessen Schmach und Schande selbst seine zurückgelassene Frau bis in ihren Tod verfolgte, indem man ihr Begräbnis ausdrücklich nicht auf der offiziellen Leichentafel notierte, was als Strafe und Ausdruck der verlorenen Ehre anzusehen ist: Mittwoch den 1. Oktobris 1710 wurde Fr. Anna Helene Nägelein, Hernn Christoph Adam Negeleins, eines Panquerotten und Apostatae Ehefr. und Wittib mit öffentl. Procession begraben und doch nicht an die Leichtafel geschrieben.655
5.4.2. Die Oper als städtische Repräsentationskunst und ihre sozial-politischen Funktionen Betrachtet man die von den Handelsleuten, >PegnitzschäfernStadt< im bekanntesten Lexikon des 18. Jahrhunderts heißt.659 Die einzelnen Ratsmitglieder besuchten das Theater nicht als Privatpersonen und zum Freizeitvergnügen, sondern als Souveräne und Repräsentanten der Reichsstadt und erhoben durch ihre Anwesenheit die Vorstellungen in den Rang offizieller Repräsentationskunst.660 Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den Einladungen wider, die den Rat stets als Ganzes und in corpore ansprechen.661 Durch die von obrigkeitlicher Seite organisierte und als offizieller Empfang durchgeführte Begrüßung der auswärtigen Fürsten und anderer Standespersonen konnte der Ablauf der Opernaufführungen sogar zeremoniellen Charakter und geradezu Züge eines Staatsaktes annehmen, wie dies etwa bei den Aufführungen der Opern Abraham vom April 1684 oder Eroberung Jericho vom April 1696 deutlich wurde. Von daher wird man nicht fehlgehen, das Nürnberger Opernhaus (wie es Dorothea Schröder für das große Pendant in Hamburg jüngst getan hat) unter dem Ensemble der städtischen Gebäude und Orte als eine hervorgehobene »Repräsentationsstätte« 662 anzusprechen. Und vor dem Hintergrund von Publikumsstruktur und Auffüh659 660
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Zedier 39 (1744), Sp. 768-792, s.v. >StadtNobiles NorimbergensesBürgeroper< in Hamburg siehe die kritischen und klärenden Bemerkungen bei Meyer: Einführung, S. 5 1 - 5 7 , sowie Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne, S. 2f. u passim. 665 Wiedemann: Barocksprache, S. 40. 666 Endres: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 209. 667 Vgl. allgemein Reinhart Meyer: Von der Wanderbühne zum Hof- und Nationaltheater. In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789. Hg. v. Rolf Grimminger. München, Wien 1980 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), S. 186-216, der betont hat: »Das Theater ist ein gesellschaftliches, kein Kunstereignis. Deshalb wollen die Adligen und höhergestellten Bürger in den Städten auch während der Vorstellung nicht auf die Kennzeichen ihres Ranges verzichten« (ebd. S. 197). 664
549 Nicht zuletzt lassen sich die als Finanziers und Initiatoren auftretenden Großkaufleute kaum mit dem Begriff »bürgerlich« klassifizieren, da sie (wie gezeigt) sich am adeligen Lebensstil der Patrizier orientierten und bestrebt waren, ihre eigene hervorgehobene soziale Stellung und »Ehrbarkeit« zu demonstrieren. Politische Bedeutung Als gesellschaftliche Großereignisse kamen den Operndarbietungen eine ganze Reihe wichtiger Funktionen zu. Zunächst dienten sie ganz allgemein der Repräsentation. Festliche Aufführungen von Opern galten als Ausdruck der Prosperität einer Stadt und trugen in erheblichem Maße dazu bei, das Ansehen der Gemeinde und ihrer Obrigkeit zu steigern sowie Ruhm und Glanz der Stadt nach außen hin zu verbreiten. 668 Deutlicher Beleg hierfür ist nicht zuletzt die Tatsache, daß in den 80er und 90er Jahren des 17. Jahrhunderts zum einen auswärtige Fürsten und Herzöge nach Nürnberg reisten, um ins Theater zu gehen, und zum anderen an fränkischen Residenzen Nürnberger Opern aufgeführt wurden und die Ehre erhielten, Hoftheater einzuweihen. Diese Befunde sind jedoch weniger von anekdotischem Interesse, sondern implizieren vielmehr wichtige politische Bedeutungen. Denn die Steigerung des kulturellen Ansehens diente in erheblichem Maße der Demonstration reichsstädtischer Eigenständigkeit, die gerade in dieser Zeit durch die Machtgelüste der benachbarten Markgrafen und Fürsten bedroht war. Nicht zu Unrecht hat man Nürnbergs Zeit nach 1648 als einen politischen »Kampf um die Selbstbehauptung« 669 bezeichnet. Wenn die Markgrafen von Ansbach nach Nürnberg in die Oper gingen und dazu von hochrangigen Deputationen des Rats empfangen wurden, dann kam diesem Akt fast staatspolitische Bedeutung zu. Hier fungierte die Oper nicht als Kunstgenuß, sondern war in erster Linie Mittel zum repräsentativen Zweck, mit dem man (in diesem Fall etwa) dem fürstlichen Rivalen aus der Nachbarschaft die kulturelle und geistige Potenz der Reichsstadt sieht- und hörbar vor Augen führen konnte. 670 Und diese Zurschaustellung im festlichen Habitus ließ sich nicht zuletzt nach außen hin zugleich als ein wirkungsvolles Zeichen von politi-
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Dieser Aspekt wurde auch in den politischen Lehrbüchern der Zeit hervorgehoben, um die Oper zu rechtfertigen. Vgl. Martens: Obrigkeitliche Sicht, S. 33. Hofmann: Kampf, S. 303. Auf diese Funktionszusammenhänge städtischer Musikpflege hat Braun: Musik des 17. Jahrhunderts, S. 34, aufmerksam gemacht: »Ohne ein gewisses Maß von Selbstinszenierung ist keine Selbstbehauptung möglich, auch nicht für eine Stadt, und zumal nicht für eine Stadt im Zeitalter des Barock. Größe, Mannigfaltigkeit und Pracht der Gebäude und Plätze sollten den Fremden sichtbar, die ihnen zugeordnete Musik ihn hörbar beeindrucken.«
550 scher Macht und Unabhängigkeit sowie wirtschaftlicher Prosperität einsetzen, mit dem die de facto vorhandene politische Ohnmacht und ökonomische Krise kaschiert werden konnte. Einen Hinweis auf die öffentliche Bedeutung und politische Brisanz, die man den Operndarbietungen beimaß, kann man sicherlich darin sehen, daß die Beschlüsse über die Oper in mehreren Fällen nicht allein vom Inneren Rat getroffen wurden, sondern zur Entscheidung auch an das hohe Gremium der sieben Herren Älteren (Septemviri) weitergeleitet wurden - ein Kollegium, das in der Regel »alle Staats=Geheimnisse und schwierigen Sachen in geheimer Sitzung«671 behandelte. Opern für den Kaiser Politische Bedeutung kam den Aufführungen aber auch dadurch zu, daß einige von ihnen zu Ehren des Kaisers vorgestellt wurden. Feste aus Anlaß feierlicher Ereignisse im Kaiserhaus waren das Übliche und standen im Nürnberg des 17. Jahrhunderts (wie gezeigt) in regelmäßiger Wiederkehr auf der Tagesordnung. Dabei mehrten sich in den 1680er und 1690er Jahren mit den Erfolgen der kaiserlichen Truppen gegen die Türken die Dankfeste in der Stadt, in denen die Siege der christlichen Heere< mit Gottesdiensten, Glockenläuten und Salutschüssen gefeiert wurden.672 So verwundert es nicht, daß man in dieser Zeit die Kunstform der Oper entdeckte, um vor dem Hintergrund des Türkenkrieges Leopold I. als siegreichen Feldherrn zu feiern und in eine Linie mit sagenhaften Heroen und Streitern aus der antiken oder biblischen Geschichte zu stellen, seien es nun Theseus, Josua oder Arminius. Dabei kam diesen Opern nicht nur durch die Anspielung auf das zeitgenössische Kriegsgeschehen politischer Charakter zu, der von überregionaler Bedeutung war. Denn wie bei den Dankfesten ließ sich durch die von Nürnberger Bürgern veranstalteten und finanzierten Opernaufführungen zu Ehren des Kaisers die Verbundenheit der Stadt und Bevölkerung mit dem Reich und seinem Oberhaupt glanzvoll demonstrieren. Ganz ähnlich der Aufführungspraxis in Hamburg wurden hier (um mit Reinhard Meyer zu sprechen) »auf kultureller Ebene politische Verbindlichkeiten gefestigt«.673 So erhoffte man sich, durch derartige Manifestationen der Kaisertreue das
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Reicke: Geschichte der Reichsstadt Nürnberg, S. 261. Vgl. auch Endres: Grundzüge der Verfassung, S. 409, der vom »Geheimkabinett« spricht, das als »eigentliche Regierung« der Stadt »alle Staatsgeschäfte« erledigt habe. Dem oben erwähnten Dankfest vom September 1688 Schloß sich etwa ein Jahr später am 8. September ein Dankfest zu Ehren der errungenen Siege in Ungarn an. Vgl. SBN, Amb. 172.2°: Nürnbergische Geschichten Anno 1689, fol. ll r . Und am 12. September 1697 feierte man in Nürnberg den Sieg bei Temesvar in Ungarn. Vgl. StaatsAN, Rep. 52a: Nürnberger Handschriften, Nr. 173, S. 19. Meyer: Einführung, S. 55.
551 Bild der Stadt beim Reichsoberhaupt positiv zu beeinflussen und zugleich dessen Verantwortungsbewußtsein für die Gemeinde als deren nomineller Schutz- und Oberherr zu stärken.674 Und wie bei den Dankfesten war man offenbar auch bei den Opern an einer nachrichtlichen Verbreitung der Aufführungen interessiert, worauf etwa die Zeitungsberichte im Vorfeld der Arminius-Oper hindeuten. Es wurde bereits erwähnt, daß die Reichsstädte untereinander peinlich genau darauf achteten, wer von ihnen und auf welche Weise mit Feiern für das Kaiserhaus hervortrat und die anderen dabei in den Augen der Zeitgenossen ausstach. Ganz zu Recht hat man jüngst auf die Intentionen der Reichsstädte hingewiesen, die fast eifersüchtig bestrebt waren, »sich bei der Demonstration ihrer Kaisertreue durch Prachtentfaltung gegenseitig zu übertreffen«. 675 Angesichts dessen ist es nicht nur auffällig, sondern kann auch als Beleg dafür gelten, daß Nürnberg hierbei ein hervorgehobene Rolle spielen wollte, wenn in der Stadt eine ganze Reihe von Opern in direktem Zusammenhang mit Ehrenbezeugungen für den Kaiser standen, wie etwa die vor dem Hintergrund reichspolitischer Ereignisse aufgeführte Eroberung Jericho, der zum Namenstag des Kaisers gezeigte Theseus oder der Arminius anläßlich eines Krönungsjubiläums. Gerade bei letzterer wurde deutlich, in welchem Maße man die Oper zu einem kommunikativen Medium für politische Botschaften funktionalisierte, wie insbesondere das Vorspiel mit seiner bühnentechnisch aufwendig umgesetzten Demonstration der besonderen Stellung der Reichsstadt als Hüterin der Reichskleinodien veranschaulicht. An den Beispielen Zaleucus und Theseus konnte zudem gezeigt werden, daß den Vorstellungen jeweils ein offiziell abgehaltenes Dankfest für den kaiserlichen Sieg über die Türken fast unmittelbar vorausging und sie von daher mit diesen wohl in engem Zusammenhang gesehen werden müssen. Damit kam den Opernaufführungen jedoch eine allgemeinere und überregionale Bedeutung zu, da in diesen Fällen Nürnberg als »Glied in der Feiergemeinschaft des Heiligen Römischen Reiches«676 agierte. Wie bereits erwähnt, verfolgte nicht nur der Rat bei allen Feierlichkeiten, die im Zusammenhang mit dem Kaiserhaus standen, die Planungsabläufe genau und betrieb im nachhinein zur Verbreitung der Gunst- und Ehrenbezeugungen eine gezielte Politik der Nachrichtensteuerung, sondern auch der Wiener Hof nahm über seine Gesandten und Informanten in der Reichsstadt von den dortigen Ereignissen sehr wohl Notiz.677 Schließlich dürfte hier (wie es bereits bei anderen angeführten Paradigmen gezeigt werden konnte) eine nicht geringe Rolle gespielt haben, daß bei allen Feierlichkeiten zu Ehren des Kai674
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Auf ähnliche politische Funktionszusammenhänge bei der Hamburger Barockoper hat jüngst Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne, S. 91f., hingewiesen. Ebd., S. 45. Berbig: Kaisertum und Reichsstadt, S. 276. Vgl. Teil B, Kap. 4.
552 sers und des Kaiserhauses der Glanz des Kaisertums auf den Austragungsort und die Veranstalter zurückfiel. Nimmt man all diese Aspekte zusammen, dürfte klar geworden sein: Nicht nur an Höfen und Residenzen, sondern auch in der Reichsstadt Nürnberg wußte man um die Bedeutung der Oper »als politisches Sprachrohr«. 678 Obgleich dies in einem zeitlich geringeren und quantitativ erheblich bescheideneren Rahmen als etwa in Hamburg geschah, belegen die Beispiele: Man verstand es in der fränkischen Metropole durchaus, »politische Botschaften im musikalischen Gewand« 679 auszusenden, wie es unter anderem das Beispiel des Arminius demonstriert.
Die Oper als festliche Demonstration vor den Untertanen Doch die Opernaufführungen dienten nicht nur der Repräsentation nach außen, sondern ließen sich auch (wie der gesamte Bereich des Theaters und der Festkultur) nach innen für Herrschaftszwecke instrumentalisieren. Denn neben den hochrangigen Gästen und geladenen Honoratioren hatte das breite Publikum Zutritt zu den Aufführungen und fand sich dicht gedrängt im Parterre sowie auf der obersten Galerie ein, wie unter anderem die Hinweise in den Ratsverlässen auf das benötigte Wachpersonal zeigen. Nur bei der ersten gezeigten Oper in Nürnberg, dem Abraham, blieb man offenbar exklusiv und hatte ausdrücklich festgelegt, »die Gemeinen Leuthe davon, so viel müglich, für heut abzuhalten« und sie erst bei der speziell für das Volk angesetzten Wiederholung am nächsten Tag einzulassen. 680 Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, daß die frühneuzeitliche Festkultur in erheblichem Maße obrigkeitlicher Machtdemonstration diente, um damit Respekt und Anerkennung der Untertanen zu erlangen. 681 Hierfür eigneten sich auch Opernaufführungen und deren festlich arrangierter Rahmen: So konnten die Ratsherren die eigene Vornehmheit vor ihren Bürgern demonstrieren und zugleich deren Ehrfurcht erzielen, wenn sie mit den auswärtigen Fürsten und Herzögen gleichsam im Spalier ins Theater einzogen und dort mit den hochrangigen Besuchern zusammen in den repräsentativ ausgestatteten Logen Platz nahmen, während sich vor dem Opernhaus die Schaulustigen drängten. 682 Daß der Rat auf die Einhaltung derartiger zeremonieller Akte genau achtete, machen unter anderem die (bereits erwähn-
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Jahn/Plachta: Zur Edition deutschsprachiger Opernlibretti, S. 233. Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne, S. 297. Siehe oben Teil B, Kap. 5.4.1.a. Siehe hierzu vor allem Teil A, Kap. 2. Daß sich bei den Opernaufführungen offenbar eine größere Menge Volk vor dem Theater zusammenfand, veranschaulichen die Hinweise in den Ratsprotokollen, nach denen man des öfteren Wachpersonal »zur abhaltung des Pöfels« bereitstellen mußte, wie es bei der »Eroberung Jericho« der Fall war.
553 ten) Anweisungen an die Veranstalter deutlich, in denen man verlangte, daß sie »jemand bestellen, der denen Fremden Standt= u. andern vornehmen Personen einen bequemen Plaz anweisen möge«. 683 Es zeigen sich hier Tendenzen einer Festpraxis, die Axel Schmitt im Zusammenhang der Funktionen höfischer Festkultur als »Auratisierung des Herrschers« 684 bezeichnet hat. Denn durch die gesellschaftlich, genau genommen ständisch strukturierte Sitzordnung im Nürnberger Opernhaus konnten die Patrizier ganz im Sinne eines »Zeremoniells der Distinktion« 685 ihren Abstand zum Volk unterstreichen und zugleich ihre Nähe zu anwesenden adeligen Gästen hervorheben. Welche Bedeutung diesen zeremoniell geprägten Festveranstaltungen zukam, läßt sich erst ermessen, wenn man bedenkt, daß die Nürnberger Patrizier im ausgehenden 17. Jahrhundert vehement bestrebt waren, ihren Anspruch auf Nobilität mit einem entsprechendem adeligen Lebenswandel nach außen hin zu demonstrieren, um damit unter anderem Anerkennung beim fränkischen Ritteradel als gleichgestellte Standespersonen zu finden. 686 Zugleich kam den Aufführungen herrschaftsstabilisierende und integrierende Wirkung zu, indem sie den Stolz auf und die Anhänglichkeit der Untertanen an ihr Gemeinwesen stärken halfen. Es wurde bereits erwähnt, daß ganz allgemein alle Feste und Feiern die Ordnung und Lebenszusammenhänge innerhalb der städtischen Gemeinde festigen sollten. Wenn es nun Nürnberg als Reichsstadt mit den Fürstenhöfen gleichtat und ebenfalls Opern auf die Bühne brachte, so half dies, das Selbstbewußtsein der Bürger und deren Identifikation mit ihrer Stadt zu fördern 687 Nicht zuletzt boten die Opern mit ihrem aufwendigen Einsatz von Musik, Theatermaschinerie und Bühnenkunst Spektakel und Marksteine im Festkalender, die nicht nur Staunen hervorriefen, sondern als »multimediales Ereignis par excellence« 688 auch einen beträchtlichen Unterhaltungswert boten, dessen narkotisierender Wirkung auf etwaige unzufriedene Stimmungen innerhalb der Bürgerschaft man sich durchaus bewußt war. Oder wie es Richard van Dülmen prägnant formulierte: »Was durch alltägliche Konflikte gestört wurde, das halfen Feste heilen«. 689
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StaatsAN, R V Nr. 2985 vom 18. April 1696, fol. 26 v (fehlt bei Hampe). Schmitt: Inszenierte Geselligkeit, S. 731. Berns/Rahn: Zeremoniell und Ästhetik, S. 661. Siehe hierzu die Ausführungen in Teil B, Kap. 4. Auf die Bedeutung des >breiten Publikums< als einen der Adressaten der Opern und ihrer Botschaften hat in einem früheren Beitrag schon Hellmuth Christian Wolff aufmerksam gemacht. Vgl. Hellmuth Christian Wolff: Das Opernpublikum der Barockzeit. In: Festschrift Hans Engel zum 70. Geburtstag. Hg. v. Hort Heussner. Kassel, Basel u.a. 1964, S. 442 - 452. Jahn: Festgemeinschaft, S. 118. van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 2, S. 286.
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Schule der lügend und des Gehorsams Gerade in diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß den Opern auch belehrende und erbauliche Wirkung zugeschrieben wurde. Sieht man einmal von der Kritik seitens Teilen der Geistlichkeit ab, galt sie den Zeitgenossen (wie erwähnt) als »Schule der Affektkontrolle« 690 bzw. als Schule der Tugend und des Lebens.691 Neben Literatur und Dichtung wurde die Oper »ausdrücklich als ein nicht nur unterhaltendes, sondern auch lehrreiches Vergnügen angesehen und unterstützt«692 und galt »als Bildungsinstitut für die Öffentlichkeit« 693 Wie bereits mehrfach angedeutet, bildete jedoch die Unterweisung in sittlichem Verhalten keinen Selbstzweck. Insbesondere die vielfachen Anweisungen und Mahnungen in der Barockliteratur zu tugendhaftem Wandel sind in dieser Zeit »losgelöst von gesellschaftlich-politischen Funktionszusammenhängen gar nicht denkbar«.694 Und dies gilt auch für die ad spectatores vorgetragenen Appelle zu Tugend, Standhaftigkeit und Selbstdisziplin in den sentenzenhaften Arien, Ensemble- und Chorpartien der Opern: Jede Aufforderung, sich tugendhaft zu verhalten - und meist, vor allem in der Dichtung, erfolgte sie in dieser allgemeinen Form - , enthielt daher auch die politische Komponente des Untertanen-Gehorsams. Das Prinzip der T\igenderfüllung erweist sich so gesehen als eines der wirksamsten Mittel der Disziplinierung breiter Bevölkerungskreise.695
Wenn nun vor dem Hintergrund des Türkenkrieges während der 1680er und 1690er Jahre in Opern wie dem Abraham gerade in den α parte gesungenen Arien ein sittliches Programm der Affektkontrolle, Selbstdisziplin und Standhaftigkeit in Krisenzeiten verkündet wird oder etwa in der Oper Zaleucus ein auf Gesetzestreue und Gehorsam basierendes Gemeinwesen als ideale Ordnung und Gesellschaft propagiert wird, dann dürften die angesprochenen sozialen und gesellschaftspolitischen Implikationen derartiger, mittels Dichtung, Musik und theatraler Mittel transportierter und durch verschiedene interaktive Textelemente (Prolog, Arien etc.) eindeutig an die Zuschauer
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Jahn: L'Adelaide und L'Heraclio, S. 665. So der Titel der bereits erwähnten Arbeit von Richard Taubald. Auf die Funktion der Oper als Mittel der Erbauung und Belehrung hat im Zusammenhang der Hamburger Oper Meyer: Einführung, S. 64-68, hingewiesen. Taubald: Oper als Schule der lügend, S. 5. Diese Funktion übernahmen in der Oper insbesondere die Arien. Sie waren nach der Definition von Erdmann Neumeister die »Seele einer Opera«, da »sie allemahl die Sententiam Generalem desjenigen, was vorher geredt ist, oder noch geredt werden soll, oder einen besonderen Affect, oder eine Morale in sich begreiffen müssen« (Neumeister: Allerneueste Art, S. 408f.). Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen bei Schöne: Emblematik und Drama, S. 181 -185. Wolff: Opernpublikum, S. 448. Mauser: Dichtung, S. 24. Ebd.
555 adressierter Tugendbotschaften auf der Hand liegen.696 Gerade das Beispiel des Zaleucus zeigt, wie die Oper im reichsstädtischen Bereich zum Medium inszenierter Selbstdeutung instrumentalisiert werden und als (wie es Sarah Colvin formuliert hat) »pattern for social order«697 fungieren konnte. Vor dem hier skizzierten Hintergrund scheint es nicht übertrieben, in den mit zeremoniellem Charakter arrangierten Opernaufführungen ebenfalls eine praktizierte Festkultur zu sehen, bei der (wie es Axel Schmitt für die höfischen Feste des Barockzeitalters hervorgehoben hat) eine »ausgeprägte >vertikale Kommunikation zwischen Herrschern und Beherrschten stattfand, über die Herrschaftsstrukturen im öffentlich-geselligen Rahmen legitimiert wurden«.698 Daß der Nürnberger Rat jedenfalls die vielfältigen sozialpolitischen Funktionen und kommunikativen Potentiale des Musiktheaters bewußt einkalkulierte, machen das Interesse und die Unterstützung deutlich, die man von Seiten der Stadtobrigkeit den Opernunternehmungen entgegenbrachte. Während etwa Spielgesuche von Wandertruppen mit dem Hinweis auf die gefährlichen, kriegerischen Zeiten abgelehnt wurden, genehmigte man fast im selben Atemzug die von den Handelsleuten initiierten Opernaufführungen, bei denen der Rat sich sogar organisatorisch und materiell beteiligte: Man ließ das Opernhaus auf städtische Kosten renovieren und gewährte finanzielle Hilfen. Dabei handelte es sich nicht um einmalige Maßnahmen, sondern angesichts der Tatsache, daß man mehrfach bereit war, etwa die Kosten für die Theaterdekoration zu übernehmen oder ein Stipendium zur Ausbildung eines Kastraten bereitzustellen, läßt sich hier eine gezielte Kulturpolitik erkennen. Gewiß, die finanziellen Hauptträger der Oper waren die Handelsleute. Auch ging von ihnen und nicht vom Rat die Initiative aus. Dennoch dürfte die Beschreibung der Entstehungsgeschichten und Aufführungssituationen der gezeigten Opern die Rolle des Magistrats deutlich gemacht haben. Und zumindest nach außen hin traten die Stadtväter mit als Veranstalter und Förderer auf, wie es unter anderem die AbrahamAufführung veranschaulicht, bei der die Obrigkeit die fürstlichen Besucher von auswärts empfing und betreuen ließ. Nicht zuletzt weisen die an den Rat gerichteten und in corpore ausgesprochenen Einladungen der Handelsleute die Stadtoberhäupter als primäre Adressaten aus.
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Zur Funktion von Prologen und Arien als Interaktionsmedien siehe den Abschnitt »Direkte Interaktion zwischen Darsteller und Publikum« bei Taubald: Oper als Schule der Tilgend, S. 579-582, sowie die treffenden Bemerkungen bei Jahn: Festgemeinschaft, S. 135, der hervorgehoben hat, daß die Arie »als episches Moment« fungiert, »das auf den Dialog mit dem Publikum abzielt«. Und weiter: »Der Sänger interagiert mit dem Publikum. [...] Der explizite Bezug zu einem Adressaten auf der Bühne fehlt in der Regel, die Arie wendet sich implizit ans Publikum« (ebd., S. 136). Colvin: Pattern for Social Order, S. 679. Schmitt: Inszenierte Geselligkeit, S. 734.
556 Selbstdarstellung und Reputationssteigerung: Motive der Handelsleute Zur Beurteilung der sozial-politischen Funktionen der Nürnberger Oper ist von nicht minderem Interesse, welche Motive die Nürnberger Großkaufleute bei ihrem Vorhaben verfolgten, über Jahre hinweg Opernunternehmungen sowohl finanziell als auch mit persönlichem und organisatorischem Einsatz zu unterstützen. Das bei vielen Kaufleuten sicherlich vorhandene und auch belegbare Interesse für Dichtkunst, Musik und Theater dürfte ein derartiges Mäzenatentum wohl kaum ausreichend erklären. Vielmehr scheinen hier konkrete Interessen einer sozialen Gruppe mit ausschlaggebend gewesen zu sein, in deren Augen sich Theater und Oper ebenfalls in erster Linie als Gebrauchs- und Repräsentationskunst zum Zwecke der Selbstdarstellung und Reputationssteigerung innerhalb der Stadtgemeinschaft instrumentalisieren ließen. Es wurde bereits ausführlich dargelegt, daß die vornehmen Großkaufleute aus dem zweiten Stand eine ebenso wirtschaftlich potente wie sozial aufstrebende Schicht darstellten, die seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts verstärkt bemüht war, sich nach unten hin abzugrenzen und demgegenüber die Würde des eigenen Stands herauszustellen, wofür etwa die Gründung der exklusiven »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« von 1671 ein eindrucksvolles Beispiel ist. Als soziales Vorbild fungierten die Patrizier, deren am Adel ausgerichteten Lebensstil man nachzuahmen versuchte. Dabei ist von Bedeutung, daß innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft die jeweilige Standeszugehörigkeit keine unabänderliche Größe darstellt, sondern »der einzelne mußte seinen Stand behaupten, sich seiner würdig erweisen«. 699 Die sozial hervorgehobene Position und »Ehrbarkeit«, welche die Großkaufleute aus dem zweiten Stand durch ihre Zugehörigkeit zum Kollegium der »Genannten des Größeren Rats« genossen und beanspruchten, mußte mit einer aufwendigeren, diesem Status angemessenen Lebensführung demonstriert werden. 700 Diesem Zweck dienten etwa die Bemühungen, sich repräsentative Häuser zu bauen oder prunkvolle Gärten und Landsitze vor den Toren der Stadtmauern anzulegen. Derartige Erwerbungen waren sichtbares Zeichen sozialen Prestiges und sollten zur Steigerung der sozialen Ehre und des gesellschaftlichen Ansehens beitragen (siehe hierzu Teil B, Kap. 5.1.). Vor diesem Hintergrund ist das kulturelle Engagement der Kaufleute zu sehen, das in Nürnberg eine lange Tradition besaß und (wie gezeigt) in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts insbesondere aus dem Umfeld der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« mit der Förderung von Dichtern und Musikern intensiv gepflegt wurde. Die an Handelsleute gerichteten Widmun-
699 700
van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 2, S. 286. Vgl. auch Münch: Lebensformen, S. 88.
557 gen in literarischen und musikalischen Werken, das Abhalten von geselligen Musikkränzen sowie die Aufführung theatraler Kleinformen zu festlichen Anlässen im Kreis geladener Gesellschaften - all dies trug zur Mehrung des Ansehens bei und muß in dem oben beschriebenen funktionalen Zusammenhang der stetigen Dokumentation und Repräsentation der eigenen »Ehrbarkeit« gesehen werden. Nicht zuletzt ist unter diesem Aspekt die finanzielle Unterstützung der Oper einzuordnen, die ein Mäzenatentum im Dienste der eigenen Ehre und Standesqualität darstellte. Denn gerade hierbei ließ sich optimal die Hebung des eigenen Images erreichen. Es konnte das Ansehen der Kaufleute innerhalb der Stadtgemeinschaft nur steigern, wenn bei den von ihnen finanzierten und gleichsam der Stadt gespendeten Opernspektakeln wie beim Abraham oder der Eroberung Jericho von auswärts hochrangige Standespersonen nach Nürnberg reisten und Fürsten, Herzöge und Markgrafen den Opern beiwohnten. Vom adeligen und fürstlichen Glanz im anwesenden Publikum fiel auch ein Teil für die als Mäzene auftretenden Handelsleute ab. Es zeigt sich hierin der Wunsch, an der Sphäre des Adels teilzuhaben, dem man in vielen Dingen nacheiferte. Daneben dürften noch weitere Motive für die Handelsleute ausschlaggebend gewesen sein. So ist in jüngerer Zeit im Zusammenhang einer Tagung zum Thema Stadt und Repräsentation darauf aufmerksam gemacht worden, daß in etlichen frühneuzeitlichen Gemeinden neben den offiziellen Aktivitäten seitens der Obrigkeit in erheblichem Maße einzelne Bürger einer Stadt sich vielfach und mit unterschiedlichsten Schenkungen hervorgetan haben. Man habe dadurch die Zugehörigkeit und Identifikation mit dem eigenen Gemeinwesen demonstrieren sowie zugleich zur Repräsentation der Stadt insgesamt beitragen können, was nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt geschehen sei, nach außen hin die Kreditwürdigkeit einer Stadt zu dokumentieren. 701 Derartige Aspekte dürften bei dem Mäzenatentum der Nürnberger Handelsleute eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Denn die Finanzierung einer Oper läßt sich in gewisser Weise als Schenkung an die eigene Stadt verstehen, und in einigen Ratsverlässen kommt dieser Punkt auch indirekt zum Ausdruck, wenn in den Quellen von den Handelsleuten ausdrücklich hervorgehoben wird, daß sie sich als »Liebhaber« bereit erklärt hätten, die Kosten für Ausstattung und Personal weitgehend zu übernehmen. Wie bereits erwähnt, konnten neben kulturellen Festen und Feierlichkeiten insbesondere Opernaufführungen als Zeichen von wirtschaftlicher Potenz (ob de facto vorhanden oder nicht) angesehen werden. Dabei dürfte es auf der
701
Siehe hierzu den Abschnitt »Diskussionsbeiträge« bei Becht/Kirchgässner: Stadt und Repräsentation, S. 127-149, bes. S. 130.
558 Hand liegen, daß gerade die Handelsleute großes Interesse an der Kreditwürdigkeit der eigenen Stadt besaßen. Es gilt festzuhalten: Die Unterstützung der Opernaufführungen seitens der Handelsleute stellte ein Mäzenatentum und nicht ein auf finanziellen Erwerb ausgerichtetes Unternehmertum dar. Hierfür ist die Vorrede aufschlußreich, die Christoph Adam Negelein der zweiten Auflage seines Abraham-Librettos von 1684 beigegeben hat. Hierin betonte er ausdrücklich, es sei den Veranstaltern der Oper nicht um »die schnöde Gewinnsucht« gegangen, sondern man habe lediglich gehofft, durch eine Zuwendung von den geladenen Zuhörern, also in diesem Fall vor allem der Ratsherren und adeligen Gäste, die »vor der Vorstellung gemachte[n] Unkosten und Versehungen / erträglich zu machen«, da man beabsichtigte, den engagierten Berufsschauspielern und -Sängern »vor ihre wohlangebrachte löbliche Ergötzung / hinwieder einige Ergötzung zu thun«.702 Diese Bemerkung ist deshalb von Bedeutung, weil sie unterstreicht, daß hinter den Opernaktivitäten der Handelsleute kein Konzertunternehmen stand, das nach wirtschaftlichem Gewinn strebte und um die Gunst einer möglichst breiten Publikumsmasse buhlte. Die Theater- und Operndarbietungen fungierten nicht als Ware, sondern stellten in erster Linie Gebrauchskunst dar und waren >Gelegenheitsdichtungen im Großformate Dies zeigt sich auch darin, daß der überwiegende Teil der Opern nur ein einziges Mal aufgeführt oder in Ausnahmefällen lediglich an zwei Tagen hintereinander gespielt wurde, um den Andrang zu befriedigen. Dementsprechend steht hierbei noch ganz das Mäzenatentum im Mittelpunkt. Die Bedeutung dieses (neudeutsch gesprochen) »Kultursponsorings« für die Entwicklung eines Musiktheaters in der Reichsstadt wird in vollem Umfange jedoch erst vor dem Hintergrund ersichtlich, daß der von einer auswärtigen Operntruppe unternommene Versuch, mittels einer professionell betriebenen Opernbühne wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen, aufgrund der immensen Kosten und des mangelnden Zuschauerzuspruchs angesichts hoher Eintrittspreise scheiterte und einen Schuldenberg hinterließ. Dies soll im folgenden anhand der Gastspiele der Operistenbande unter dem Kapellmeister Johann Sigismund Kusser gezeigt werden, wobei zugleich auf die Frage einzugehen sein wird, warum die Handelsleute nach dem Arminius sich nicht mehr auf dem Gebiet des Musiktheaters engagierten und auch der Rat seit etwa 1698 der Oper distanzierter gegenüberstand.
702
Negelein/Abraham II, fol. Aij v -Aiif.
559 5.4.3. Pleite mit Pauken und Trompeten? Musiktheater im Schatten verstärkter Theaterfeindlichkeit: die Gastspiele der Operntruppe Johann Sigismund Kussers (1697/98) und das Ende der Nürnberger Barockoper Nürnberg machte in den letzten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts von sich reden in Sachen Musiktheater. Hierauf verweisen etwa die Besuche auswärtiger Standespersonen und Fürsten oder die Reaktionen auf die Arminius-Oper. Nicht zuletzt zeigt sich dies darin, daß die Stadt nach den erfolgreichen Aufführungen vom April 1696 und Februar 1697 Anziehungspunkt für fremde Opernkräfte wurde und mit der Gesellschaft von Johann Sigismund Kusser eine der damals bekanntesten Operntruppen nach Franken lockte, deren Gastspiele wohl ohne Zweifel als Reflex auf die Pflege des Musiktheaters in den 1680er und 1690er Jahren anzusehen sind. Johann Sigismund Kusser und seine Operntruppe Johann Sigismund Kusser galt um 1700 als einer der renommiertesten Dirigenten und ausgesprochener Fachmann für Opernaufführungen. Seiner Zeit war er weniger als Komponist denn vornehmlich als Kapellmeister und Theatermann bekannt.703 Nach erster Ausbildung durch den Vater und längeren Lehrjahren in Frankreich bei Jean-Baptiste Lully erlangte Kusser 1682 eine erste respektable Anstellung als Musiklehrer am Ansbacher Hof, die er bis Oktober 1683 innehatte. Hieran Schloß sich eine längere Wanderzeit durch ganz Deutschland an, über die wenig bekannt ist und die den Musiker schließlich an den Braunschweiger Hof führte. Hier wurde ihm 1690 als herzoglicher Kapellmeister die Leitung der neugegründeten BraunschweigWolfenbüttelschen Oper übertragen. Offenbar nach Streitigkeiten mit dem dortigen Librettisten siedelte Kusser 1694 nach Hamburg über, wo er alsbald an der dortigen Oper mitwirkte und 1695 für gut ein Jahr deren Leitung übernahm. Trotz der knappen Zeit konnte er dabei eigene Impulse setzen, indem er insbesondere die französische und italienische Gesangskunst einführte und sich um das Orchester sowie die Ausbildung der Sänger verdient machte.704 Dieser Ruf sollte ihm vorauseilen und später bei der Anstellung am Stuttgarter Hof nochmals von großem Nutzen sein, wie die Beurteilung in dem Gutachten der Oberhofmarschallamts-Registratur in Stuttgart veranschaulicht: 703
704
Zu Kusser siehe die immer noch grundlegende Arbeit von Hans Scholz: Johann Sigismund Kusser. Sein Leben und seine Werke. Leipzig 1911, sowie den knappen, aber informativen Überblick bei Heinz Becker: Kusser (Cousser), Johann Sigismund. In: MGG 7 (1958), Sp. 1913-1918. Zu Kussers Wirken an der Hamburger Oper siehe unter musikgeschichtlicher Perspektive Wolff: Hamburger Oper, Bd. 1, S. 233 - 240.
560 Jst ein guter Mann in seiner Kunst und Wissenschaft, führt aber mehr stücke von andern alss von sich selber auf. [...] ist in seinem Compartement etwas bizarr, sonsten erhält er seinen respect sehr woll bey denen Musicis und ist ein capabler Mann eine Music zu dirgiren.705
Zank und Reibereien blieben allerdings auch in Hamburg nicht aus, so daß Kusser bereits 1696 die Hansestadt wieder verließ. Nun begab er sich mit seiner vornehmlich aus Mitgliedern des Hamburger Theaters zusammengestellten Operntruppe 706 auf eine mehrjährige Tournee durch weite Teile Deutschlands, die ihn zunächst 1696 bis Anfang 1697 nach Kiel führte, wo er in den Jahren zuvor mit der Hamburger Oper bereits mehrere Gastspiele gegeben hatte. 707 Der Gesellschaft Kussers gehörte unter anderen die Sängerin Magdalena Sibylla de Bex an. Sie sollte später vor Nürnberger Publikum singen und galt damals offenbar als Primadonna mit überregionalem Ruf, der allerdings nicht überall unumstritten war, wenn man dem bereits erwähnten Gutachten der Oberhofmarschallamts-Registratur in Stuttgart Glauben schenken darf: »Jst schon gewiss dass sie parfait in der music und eine artige manier hat, allein die Stimme lässt ziemlich nach, und schettert sehr unangenehm«. 708 Kussers erste Gastspielsaison in Nürnberg Im Frühjahr 1697 traf in Nürnberg eine Operntruppe ein, die bis zum Juli auf der Bühne im Nachtkomödienhaus auftrat und in den Ratsprotokollen unter den verschiedenen Bezeichnungen »Jnteressenten von der Opera«, »Operisten«, »Societät von der Opera« oder »Banda von denen Operen« geführt wird. 709 Hierbei kann es sich nur um die Gesellschaft Johann Sigismund Kussers handeln. Denn Kusser langte Mitte Juni 1697 mit seiner Truppe in Augsburg an und wies dort in seinem Gesuch an die Stadtväter darauf hin, daß es zuvor »in des Heyl: Rom: Reichs Statt Nürnberg mir gnädig und großgünstig erlaubet worden, einige in hochteutsche Sprach gebrachte Operen aufzuführen«. 710 705
Zitiert nach dem Abdruck des Gutachtens im Quellenanhang bei Scholz: Kusser, S. 202-205, hier S. 202. Vgl. dazu allgemein Richard Schaal: Operntruppe. In: MGG 10 (1962), Sp. 111117. 707 vgl. Wolfgang von Gersdorff: Geschichte des Theaters in Kiel unter den Herzogen zu Holstein-Gottorp. Kiel 1912, S. 114-122. 708 Zitiert nach dem Andruck des Gutachtens im Quellenanhang bei Scholz: Kusser, S. 202. 709 Ygj dazu unten sowie die im Anhang abgedruckten Ratsverlässe. 710 Stadtarchiv Ausgburg, Meistersinger=Acten von 1552-1699, Fase. I., Nr. 134 (1), Eingabe vom 18. Juli 1697, fol. 441 r -442 v , hier 441r. Zu Kussers Aufenthalt in Augsburg siehe Willibald Nagel: Kleine Mitteilungen zur Musikgeschichte aus Augsburger Akten. In: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 9 (1907/08), S. 152-154, der auch einen Abdruck von Kussers Eingabe an den Augsburger Rat liefert. 706
561 Anfang April hatten Kusser und seine Gesellschaft die Bühne im Opernhaus bezogen und begonnen, ihre Stücke vorzustellen. Dabei warb der Impresario zur Unterstützung seines Bühnenpersonals ortsansässige Kräfte an. Insgesamt waren es in Nürnberg 18 Personen, die er vom 5. April bis zum 8. Juni für 12 Opern als Statisten anstellte und die für diese Zeit mit 27 fl. Gage entlohnte. 711 Doch die Zusammenarbeit mit einheimischen Bürgern beschränkte sich nicht nur auf die Übernahme von Statistenrollen. Wie eine Oper aus den ersten Wochen der Gastspielsaison zeigt, waren zumindest anfangs einige Nürnberger intensiv an Kussers Opernprojekten beteiligt, allen voran der bereits bekannte Lehrer und Stadtkapellmeister Christoph Gottlieb Sauer, der wahrscheinlich die Komposition für zumindest eine Oper von Kusser besorgte. Und Sauer dürfte in seiner Rolle als Stadtkapellmeister am Anfang die zentrale Rolle als Organisator gespielt haben, wie die Tatsache verdeutlicht, daß nicht Kusser oder seine Truppe, sondern Sauer gegenüber dem Rat als Verantwortlicher und Veranstalter auftrat: So war er es, der am 8. April 1697 beim Nürnberger Rat das Gesuch um die Aufführungserlaubnis einer Oper einreichte, worauf ihm vom Gremium der Herren Älteren bewilligt wurde, »eine neue Opera, von Alarico, in dem Comoedienhaus zu praesentiren«. 712 Knapp vier Wochen später waren die Vorbereitungen hierfür abgeschlossen, so daß am 3. Mai dem Rat die offiziellen Einladungen und gedruckten Textbücher samt Vorzugsbilletts überreicht werden konnten, wobei erneut allein der Name von Sauer in den Ratsprotokollen genannt wird: »Die dem Regierenden Jüngeren Herrn Bürgermeister von Christof Gottlieb Sauern übergebene gedruckte Opera, von Alarico, Soll man samt denen billeten annehmen und austheilen« 713 lassen. Derweil scheint sich die Aufführung bereits im Vorfeld bei den (vornehmlich adeligen) Opernliebhabern im fränkischen Umland herumgesprochen zu haben. Denn noch am Vormittag der Premiere war den Stadtvätern berichtet worden, daß »der Herren Marggrafens zu Onolzbach Hochfrl. Dhl. incognito herein in die Stadt kommen, im Reichs=Adler wirtshaus die Mittagsmalzeit einnehmen u. die angestellte Opera besuchen wollen«. 714 Gemeint war damit Markgraf Georg Friedrich der Jüngere, der seit 1694 in Ansbach regierte. Der als »eleganter Weltmann« 715 bekannte Regent war (wie schon sein Vater Johann Friedrich) ein begeisterter Verehrer der Oper und hatte an seinem Hof Sänger und Musiker aus Italien engagiert. 716 Für den Rat galt es nun, rasch die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen, um den Gast gebührend zu begrüßen: Sämtliche Bürgermeister sowie die Deputierten zum Kriegsamt 711 712 713 714 715 716
Vgl. SBN, Nor. H. 991, fol. [3V], StaatsAN, V H Ä Nr. vom 58 vom 8. April 1697, fol. 2 r (fehlt bei Hampe). Ebd., RV Nr. 2998 vom 3. Mai 1697, fol. 129 r (fehlt bei Hampe). Ebd., fol. 129 r ~ v . Schuhmann: Markgrafen, S. 175. Vgl. ebd., S. 569.
562 wurden von der Ankunft des Markgrafen verständigt und zugleich sollten die Herren Älteren entscheiden, »ob demselben einige Aufwartung, nach beschehener Anfrag, ob solche gefällig seye, geleistet werden solle«.717 Überblickt man diese Chronologie der Oper von der Genehmigung über das Einreichen der Einladungen und Vorzugskarten bis hin zum formellen Empfang der adeligen Gäste, dann stellt sich die Aufführung (wie es schon bei anderen Opern der Fall war) als ein offizielles Ereignis dar, das den Charakter eines regelrechten Staatsakts mit zeremoniellen Zügen annahm. Laut erhaltenem Textbuch handelte es sich bei der am 3. Mai präsentierten Oper um das Stück Alarich vermittelts eines hochdeutschen Sing-Spieles / in PULCHERIAM verliebt,718 das nach Sandberger eine Übersetzung des italienischen Originals Alarico Re de Goti von Bassani darstellte, die man bereits 1686 in Dresden gezeigt hatte, jedoch in Nürnberg in einer neuen Übertragung vorstellte.719 Während Sandberger noch glaubte, Kusser sei der Komponist, dürfte nach den oben mitgeteilten Quellen Christoph Gottlieb Sauer für die Musik verantwortlich gewesen sein, der vielleicht auch den Text besorgte. Da Kusser Ende 1698 in Stuttgart einen Alarich720 vorstellte, der vom Titelblatt über die »Vorerinnerung an den Leser« und das Personenverzeichnis bis hin zum eigentlichem Spieltext fast Wort für Wort mit der Nürnberger Oper übereinstimmt, ist es aber auch möglich, daß Kusser das Libretto mit in die Reichsstadt gebracht hatte und Sauer ihm die Partitur für die Nürnberger Aufführung besorgte. Bemerkenswert ist vor allem, daß die Vorstellung zu einem Lobpreis an die Nürnberger Stadtobrigkeit wurde, wie der eigens für die Nürnberger Aufführung verfaßte Prolog zeigt, der in der 1698 in Stuttgart präsentierten Fassung fehlt. Schon die ersten Verse des Eröffnungschors verherrlichen die (hochverschuldete) Reichsstadt als Sitz der Musen und stimmen das Lob auf die Ratsherren als kunstsinnige Mäzene an: Ihr Musen / wann Euch Mars und Neidhart plagt / sucht Schutz bey unsrer edlen Noris! [...] So hegt und pflegt euch / wann ihrs wagt / (Trutz Neid und Krieg) die edle Noris. Jch streif den Schlaf von meiner Stirn / und setz mich in der Sonnen-Wagen / nicht der Natur Gesetze zu verwirren; Nein! Nur vom Ost nach Westen / auf der Post / 717 718
719 720
StaatsAN, RV Nr. 2298 vom 3. Mai 1697, fol. 129v (fehlt bei Hampe). [Christian Gottlieb Sauer]: Alarich vermittelst eines hochdeutschen Sing-Spieles / in PULCHERIAM verliebt / mit Grosg. Erlaubnis eines Hochedlen Rhats [!] Der [...] Stadt Nürnberg aufgeführt 1697. Nürnberg 1697. Vgl. Sandberger: Oper in Nürnberg, S. 198. Anonym: Alarich Jn PULCHERIAM verliebt. Sing=Spiel / Auf dem Hoch=Fürstl. Würtembergischen [!] Schau=Platz vorgestellet. o. O. 1698.
563 die gute Post zu tragen: daß in der Norfs Staat der Klugheit Hofstatt sey / da die gesammte Musen-Reih so manchen Mäcenat / als viel man Vätter zählt im Rhat / bey dieser Stadt gefunden hat.721
Die Stadtväter werden dieses Lob gewiß mit Wohlwollen aufgenommen haben, nicht zuletzt aufgrund der Anwesenheit des Rivalen aus der markgräflichen Nachbarschaft im Publikum. Nochmals zeigt sich hier, wie die Oper als kommunikatives Medium der Selbstdarstellung und Selbstbehauptung funktionieren konnte, indem sie dem anwesenden Publikum und auswärtigen Gästen das Bild einer selbstbewußten, kulturell blühenden und damit allgemein prosperierenden Stadt vermittelte - ein Bild, das über die Stadtgrenzen hinaus von sich reden machen sollte, wie der Hinweis auf die »gute Post« im Eröffnungschor zeigt. Die Stadtväter scheinen diese Darstellung goutiert und zugleich den damit verbundenen >Wink mit dem Zaunpfahl< um eine finanzielle Unterstützung verstanden zu haben. Denn auf Anordnung der sieben Herren Älteren wurden die bei der Oper angefallenen Kosten von 92 fl. für die vom Maler Johann Andreas Gebhardt besorgte Dekoration aus der Stadtkasse bezahlt. 722
Streit und Theaterhändel Doch die erfolgreiche und vom Rat anfänglich sogar finanziell unterstützte Zusammenarbeit einheimischer Bürger mit Kussers Truppe währte nicht lange und sollte nach kurzer Zeit auf obrigkeitliches Geheiß beendet werden. Man wußte zwar auf Seiten des Magistrats festliche Opernaufführungen mit Beteiligung von einheimischen Kräften und in Anwesenheit hochrangiger Gäste zu schätzen, konnte aber nicht dulden, daß sich etliche Lehrer (darunter wohl Christoph Gottlieb Sauer) bei einer professionellen, durch die Lande ziehenden Operntruppe regelrecht heimisch fühlten und mehr auf sowie hinter der Bühne im Nachtkomödienhaus standen, als ihren beruflichen Pflichten in den Schulen nachkamen. Gerade dies war jedoch offenbar geschehen. Denn Mitte Mai 1697 wurde dem Rat zugetragen, »daß einige Praeceptores sowol im Löbl. Gymnasio als anderen Schulen sich bey den Operen gebrauchen ließen, da sie doch die Zeit in ihren Amts=Verrichtungen, und ordentlichen Beruff nuzlicher anwenden könnten«. Hierauf befahl man, durch die Herren Scholarchen die betroffenen Pädagogen scharf zurechtzuweisen und ihnen in unmißverständlichem Ton klarzumachen, sie sollten »ihrer anvertrauten Jugend mit löblichen Exempeln vorleuchten, sie zur Gottes721 722
[Sauer]: Alarich, fol. [):(2V] (Prolog). Vgl. SBN, Nor. H. 991, fol. [3r],
564 furcht u. Christlichen Tugenden, deren sie sich selbst auch zu befleißigen haben, anweisen und der mit ihrem amt nicht stimmenden händel sich enthalten«. 723 Damit war der Beteiligung Nürnberger Kräfte bei den Opern ein Ende gesetzt worden, und soweit ersichtlich ist, kam es in dieser Saison zu keiner weiteren Zusammenarbeit mehr. Hierauf verweist ein bemerkenswertes Indiz: In den folgenden Monaten taucht im Zusammenhang mit der Oper in den Ratsverlässen nicht mehr Christoph Gottlieb Sauer auf, sondern es werden nur noch Kusser und seine Truppe genannt. Dieser unrühmliche Vorfall dürfte unter anderem zu einem Stimmungswandel gegenüber der Oper in Nürnberg beigetragen haben (siehe unten). Der Ärger war damit jedoch noch nicht beendet und sollte für Johann Sigismund Kusser erst beginnen. Denn während der Wegfall der Opernlaien aus den Reihen des Nürnberger Lehrkörpers wohl noch zu verschmerzen war, bedeutete das Eintreffen einer neuen Wandertruppe in der Stadt eine ernsthafte und schließlich auch ökonomisch bedrohliche Konkurrenz für die »Operisten«: Anfang Mai hatte die Prinzipalin Catharina Elisabeth Velten die Erlaubnis erhalten, mit ihrer »Chursächsichen Comoediantenbanda« etliche Stücke im Fechthaus aufführen zu dürfen. 724 Am 20. Mai berichtete das Kriegsamt, »daß die Feldische Comoedianten Compagnie nunmehr [...] ein Theatrum im Fechthaus aufgerichtet« und in wenigen Tagen »ihre Erste Action aufzuführen gewillet seye«. Gegen diesen Beschluß liefen nun Kusser und seine »bei der opera interessierte Personen« Sturm, reklamierten drohende finanzielle Einbußen und baten darum, der Velten und ihrem Ensemble in jedem Fall das Spielen an den Tagen zu untersagen, an denen sie im Opernhaus agierten. Der Rat wollte jedoch keine Gesellschaft grundsätzlich bevorzugen und erlaubte beiden das Spielen, wobei der Operntruppe offengehalten wurde, sich mit den Wanderkomödianten der tage halber zu vergleichen, indem die handwerksleute die Comoedien, worinnen nicht soviel gegeben wird, an Montagen lieber besuchen würden, daher dann, wann sie den dienstag sich vorbehalten wollen, sie über einen Eintrag sich nicht beklagen könnten. 725
Dieser Beschluß brachte die Mannschaft um Kusser auf. Keine zwei Tage später überreichten die »Interessenten der Operen« eine erneute Supplik, in der sie sich »dieses zu Gemüth bringen laßen wollen, daß in dem neulichen Rathsverias ihnen zu gemuthet worden, mit denen Comoedianten sich der Tagregelung halber zu vergleichen«. 726 Die Beschwerde hatte zunächst Erfolg. Nun wurde vorgeschlagen, die Opern sollten montags und mittwochs, die Schauspiele im Fechthaus dagegen dienstags und donnerstags gezeigt 723 724 725 726
StaatsAN, RV Nr. 2999 vom 20. Mai 1697, fol. 56v. Vgl. Teil B, Kap. 1. StaatsAN, RV Nr. 2999 vom 20. Mai 1697, fol. 56r"v. Ebd. vom 22. Mai 1697, fol. 67r (fehlt bei Hampe).
565 werden. Doch dies konnte die Gemüter nicht beruhigen, da nur kurze Zeit später die »Chursächsischen Hofcomoediantenbanda« den Rat bestürmten und schließlich durchsetzen konnten, ebenfalls an den offenbar lukrativeren Tagen montags und mittwochs zu agieren. Auf Seiten des Rats war man inzwischen die andauernden Theaterhändel leid, und der »Societät von der Opera« blieb nun nichts anderes übrig, »diese tage für sich ebenmäßig zu behalten oder andere auszuwehlen«.727 Diese Streitigkeiten wurden hier etwas ausführlicher referiert, da sie den großen Konkurrenzdruck veranschaulichen, dem beide Wandertruppen ausgesetzt waren und dem die Operngesellschaft unter Kusser letztendlich nicht standhalten konnte. Die immense Wettbewerbssituation in einer hart umkämpften Theaterlandschaft trug nicht unerheblich zum späteren Konkurs von Kussers Nürnberger Opernplänen bei. Denn die erste Saison in der Reichsstadt sollte erhebliche finanzielle Einbußen mit sich bringen und damit bereits der finanziellen Pleite der Operntruppe und dem Scheitern ihres zweiten Gastspiels in Nürnberg 1698 Vorschub leisten (siehe unten). Offenbar lief das Gros der Zuschauer zu den billigeren Stücken in das Fechthaus, wo der Eintritt noch um die 8 kr. lag. Dagegen mußte man zu dieser Zeit an der Kasse des Nürnberger Opernhauses nicht weniger als 30 kr. für eine Karte zahlen.728 Es scheint, als habe Kusser offenbar erkannt, daß er vorzeitig das Feld räumen müsse, um einen größeren Verlust abzufangen. Während die Komödianten unter ihrer Prinzipalin Catharina Velten bis Ende September erfolgreich im Fechthaus agierten und über 21.000 Zuschauer in ihre Stücke lockten, zog die Operntruppe bereits Anfang Juli in Richtung Augsburg weiter, wo sie seit Mitte Juli gastierte. »Merklicher Einbuß«: Kussers zweite Opernsaison in Nürnberg In Augsburg konnte sich Kusser zwar rühmen, erstmals die Oper in der Stadt eingeführt zu haben, dennoch kam er auch hier nicht auf seine Kosten.729 Nach einigen erfolglosen Monaten ging er den Augsburger Rat im Dezember nochmals um eine Spielverlängerung in der Hoffnung an, »daß ich meine grosse aufgewandte Kosten wider erheben möchte«. Denn bisher seien »aus mangel der Spectatorum an meinen gemachte Spesen noch viel und fast ganz zurück geblieben«. Nun hoffe er jedoch, »weiln sich vieler Frembde von Standts-Persohnen und Officiers hier einfinden, daß ich mehrere Zuschauer bekommen, und also meines Schadens zukommen möchte«.730
727 728 729 730
Ebd., RV Nr. 3000 vom 5. Juni 1697, fol. 15r. Vgl. Stadt AN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 51/111, fol. 434v. Vgl. Nagel: Kleine Mitteilungen, S. 153, sowie Brockpähler: Handbuch, S. 49f. Stadtarchiv Augsburg, Meistersinger=Acten von 1552-1699, Fase. I., Nr. 138 (1), Eingabe vom 10. Dezember 1697, fol. 456 v -457 v .
566 Doch die Hoffnung scheint sich nicht erfüllt zu haben. Zwar wurde ihm vom Augusburger Rat gestattet, bis Aschermittwoch 1698 spielen zu dürfen, trotzdem brach Kusser schon frühzeitig seine Zelte in der Fuggerstadt wieder ab. Denn Mitte Februar 1698 tauchte er wieder in Nürnberg auf, wofür sich erstmals ein Quellenbeleg gefunden hat: Am 17. Februar dieses Jahres bat Kusser den Nürnberger Rat darum, »ihme die Aufführung einiger unärgerlichen Operen zu erlauben u. darzu mit tauglichen Subjectis und Instrumenten an hand gehen zu lassen«. Der Magistrat bewilligte das Anliegen und beauftragte den Stadtkapellmeister hierzu »die Nothdurfft [zu] verschaffen«.731 Nun war der Stadtkapellmeister zu dieser Zeit niemand anderes als Christoph Gottlieb Sauer, der damit offenbar bei der zweiten Opernsaison wieder mit von der Partie war. Allerdings scheint er diesmal in weit geringerem Maße beteiligt gewesen und nach außen gar nicht in Erscheinung getreten zu sein. Möglicherweise stellte er nur die angeforderten Instrumente zur Verfügung. Denn anders als noch im Vorjahr werden in der Folgezeit nur Kusser und seine Gesellschaft in den Ratsprotokollen genannt. Nachdem Kusser die strengen Sicherheitsauflagen bezüglich der Feuergefahr erfüllt hatte,732 wurde rund vier Wochen nach seiner Ankunft in der Stadt am 15. März 1698 die neue Opernsaison auf der Bühne im Nachtkomödienhaus eröffnet 733 - besonders einträglich sollte sie für Kusser wiederum nicht werden. Bei der leider nicht näher bezeichneten Premierenaufführung wurde möglicherweise Gianettinis Oper Die glücklich wiedererlangte Hermione dargeboten, die Kusser auch in anderen Städten spielte und von deren Nürnberger Vorstellung Georg Andreas Will noch ein gedrucktes Textbuch von 1698 vorlag.734 Gezeigt wurden von den »Operisten« in dieser Saison unter anderem noch am 25. März Gianettis Oper Medea sowie am 12. Mai Steffannis Herzog Heinrich der Löwe, die Kusser beide bereits in Augsburg und schon während seiner Zeit in Hamburg gespielt hatte.735 In beiden Fällen hatte er - wohl in der Hoffnung auf eine Zuwendung dem Nürnberger Rat jeweils »Exemplaria der gedruckten Opera« überreicht.736 Doch der Rat zeigte sich diesmal weniger spendabel. So wurde 731 732
733 734 735 736
StaatsAN, RV Nr. 3009 vom 17. Februar 1698, fol. 45 v -46 r (fehlt bei Hampe). Der Rat zeigte großes Interesse an Maßnahmen, welche die Feuergefahr bei den Aufführungen soweit wie möglich einschränkten. So sollten die Veranstalter »die Anstalt machen lassen, daß auf die Liechte gute Acht bestellet, und ob nicht etwan ein Funcken sich verhalten möge«. Zugleich sollte hierzu den »werckleuten« aufgetragen werden, »nach geendigter Action, fleissig nachzusehen« (ebd. vom 4. März 1698, fol. 123r; fehlt bei Hampe). Vgl. ebd., RV Nr. 3010 vom 15. März 1698, fol. 27r"v (fehlt bei Hampe). Vgl. Will: Geschichte der Nürnbergischen Schaubühne, S. 214. Vgl. Scholz: Kusser, S. 34f. Vgl. zur »Medea« StaatsAN, RV Nr. 3010 vom 23. u. 24. März 1698, fol. 78v u. 87r (fehlen bei Hampe), sowie zu »Herzog Heinrich der Löwe« RV Nr. 3012 vom 12. Mai 1698, fol. 92 v -93 r (fehlt bei Hampe).
567
etwa den »Operisten« für die Oper Medea lediglich ein »geringes Gratial«737 in Aussicht gestellt und selbst dies scheint nicht ausbezahlt worden zu sein. Denn vier Wochen später erinnerte die Operntruppe bei der Übergabe der Textbücher zu Herzog Heinrich der Löwe den Rat daran, daß »ihnen für dergleichen schön öffters übergebene Comoedien noch nichts gegeben worden seyen«.738 Abermals wurden die überreichten Libretti zwar angenommen, jedoch nicht mit barer Münze entgolten, so daß Kusser sich gezwungen sah, nur zwei Tage später erneut ein Gesuch an den Rat einzureichen, worin er und seine »Banda von denen Operen« auf den »erlittenen Einbus«739 hinwiesen. Dieses Gesuch hat sich in den Akten des Staatsarchivs Nürnberg erhalten und bestätigt die oben dargelegte Sicht, daß Kusser in Nürnberg mit erheblichen finanziellen Problemen zu kämpfen hatte.740 In der mit »Die bey denen Operen interessierten Personen« unterzeichneten Supplik bedankten sich Kusser und seine Leute zunächst für die vom »Hoch Edlen Magistrat alhier« gewährte »hohe Gnade in erlaubter aufführung ein und anderer unärgerlichen Stücke«. Zugleich kündigten sie ihre Abreise in Richtung Stuttgart an, obwohl sie »solche musicalische Exercitium auch alhier noch länger gerne getrieben hätten«. Da jedoch mit der Sängerin »Mademoiselle Bexin« ein Mitglied des Ensembles eine »hoch fürstl. Würtemberg[ische] vocation bekommen« habe, könne »derer nothwendige Abriß nicht länger verschoben bleiben«. Hinzu komme noch, daß »wieder verhoffen sich abermal merklicher Einbuß statt einer vermeinten profits hervorgethan, dahero nicht gerathen seyn will, dergleichen von spesen reiche operen mehr zu continuiren«. Schließlich sei keine baldige Besserung in Sicht, da während des bevorstehenden Sommers sowohl »die Hitz in dem OpernHauß als auch die [...] Comoedien denen Liebhabern den Lust benehmen dürften«. 741 Die Reaktion fiel bescheiden aus und mußte die Operntruppe in ihrer Annahme bestärken, daß in Nürnberg nichts mehr zu holen war. Denn der Rat überließ es dem Ermessen des Losungsamtes, »was ihnen [der Operntruppe, M. P.] etwan an diesen ausgelegten Unkosten zu einiger Ersezung möge zu bezahlen seyen.«742 Laut einem handschriftlichen Aktenvermerk des Losungsamtes fiel diese »Ersezung« jedoch nicht gerade üppig aus. Denn für die gesamte Gastspielzeit von Mitte März bis Mitte Mai 1698, während der für etliche Opern jeweils mehrere Exemplare der Textbücher dem Rat verehrt worden waren, wurden Kusser und seiner Truppe am 21. Mai ledig737 738 739 740
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StaatsAN, RV Nr. 3010 vom 24. März 1698, fol. 87r (fehlt bei Hampe). Ebd., RV Nr. 3012 vom 12. Mai 1698, fol. 93r (fehlt bei Hampe). Ebd. vom 14. Mai 1698, fol. l l l r (fehlt bei Hampe). Vgl. ebd., Rep. 54a II: Nürnberger Stadtrechnungsbelege, Nr. 1179: Musik 16801699: Eingabe der Interessenten bei den Opern. Alle Zitate ebd. Ebd., RV Nr. 3012 vom 14. Mai 1698, fol. l l l r (fehlt bei Hampe).
568 lieh 24 fl. ausbezahlt 743 - was nicht einmal für die Entlohnung der angeworbenen Statisten gereicht haben dürfte. Möglicherweise mußte Kusser in Nürnberg sogar seinen Kleider- und Requisitenfundus (wie es viele Wandertruppen in finanziell prekären Situationen taten) als Pfand hinterlassen. Ein Indiz hierfür ist zumindest, daß er sich in Stuttgart seine Ausstattung von Nürnberg aus nachschicken lassen mußte, wie ein Rechnungsbeleg zeigt, laut dem die fürstliche Kasse 1698 einem Fuhrmann »für 9 Kastell und 2 Kupfer mit opera Kleyden von Nürnberg anhero Zuliefern, besag Zettels Zalt 23 fl.« 744 Verglichen mit den finanziellen Strapazen in Nürnberg sollten auf Kusser und seine Primadonna de Bex am Hof in Stuttgart regelrecht paradiesische Zustände warten, denn beide waren für jeweils 500 fl. Jahresgage angestellt worden, was die Oberhofmarschallamts-Registratur zu dem Urteil veranlaßte: »Wir hier hätten eben nicht nöthig, einen solchen mann, der eine solche grosse Gage wegfrisst, zu halten, es thäte uns woll etwas geringeres, denn weder der Herr noch die meisten bedienten etwas ja gar nichts von der Music verstehen«. 745
Gescheitert: die Oper als Ware und Wirtschaftsunternehmen Was waren nun die Gründe für das Scheitern von Kussers Gastspielen und das finanzielle Debakel seiner Opernprojekte? Überblickt man die hier nachgezeichneten Gastspiele der Kusserschen Operntruppe und vergleicht sie mit der Nürnberger Oper aus dem Umfeld der Handelsleute und Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens, dann ist vor allem eines festzuhalten: Johann Sigismund Kusser war der erste Theatermann, der in der Reichsstadt mit Opernaufführungen Geld verdienen wollte. Bis 1697 war die Oper in der Stadt ein von Liebhabern und Mäzenen getragenes Unternehmen, für das zwar professionelle Kräfte wie Berufssänger und -schauspieler angeworben wurden, das jedoch nicht auf ökonomischen Gewinn ausgerichtet war, was für den Charakter dieser Aufführungen von entscheidender Bedeutung ist. Oper und Musik sind hier noch völlig Gebrauchskunst, die nicht zum finanziellen Erwerb vor großem Publikum möglichst oft wiederholt wird, sondern mit ein oder zwei Vorstellungen ein singuläres, vielfach sogar an einen konkreten Anlaß gebundenes Ereignis darstellt. 746 Daß dies naturgemäß ein Zuzahlgeschäft war, war den Handelsleuten bewußt, wie die Hinweise verdeut-
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Vgl. ebd., Rep. 54a II: Nürnberger Stadtrechnungsbelege, Nr. 1179: Musik 16801699. Zitiert nach dem Abdruck der Rechnung im Quellenanhang bei Scholz: Kusser, S. 202. Zitiert nach ebd. Daß man die »Abraham«-Oper in zwei aufeinanderfolgenden Jahren spielte, dürfte damit zusammenhängen, daß diese die erste Oper darstellte. Und auch sie wurde (wie gesehen) nicht in der gleichen Fassung gespielt.
569 liehen, daß sie sich von vornherein bereit erklärten, die anfallenden Kosten zu übernehmen. Die Akzente beginnen sich jedoch zu verschieben, als die Nürnberger Oper im Lauf des Jahres 1697 und insbesondere im Jahr 1698 nicht mehr von den Handelsleuten veranstaltet wird, sondern in die Hände der professionell auftretenden Operntruppe des Kapellmeisters Johann Sigismund Kusser übergeht. Während das Musiktheater bislang in der Stadt von Gruppen getragen wurde, die dem Schauspiel nicht berufsmäßig verbunden waren, nimmt nun die Oper einen neuen Charakter an. Denn Kusser war als Leiter einer sich auf Tournee befindenden und durch Deutschland ziehenden Operntruppe ein Impresario und primär nach wirtschaftlichen Aspekten handelnder Unternehmer, dessen Vorhaben auf ökonomischen Gewinn abzielten und bei dem die Vorstellungen einen auf Profit ausgerichteten Warencharakter annehmen. 747 Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß unter Kusser der Rat nicht mehr mit »Billets« beschenkt wird, für die man lediglich eine »Ergötzung« erhoffte, wie es etwa noch bei den von den Handelsleuten organisierten Opern Abraham oder Zaleucus der Fall gewesen war. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Werbung um ein größeres Publikum und der Eintritt durch Entgelt eine bedeutende, wenn nicht gar die entscheidende Rolle zu spielen. Besonders deutlich wird dies in der von Kusser und seinen »Operisten« beklagten Konkurrenz mit den gleichzeitig in der Stadt agierenden Darbietungen der Wandertruppen. Letztere wurden zu wesentlich geringeren Preisen angeboten und konnten von daher ein breiteres Publikum erreichen. Während die Opern der Handelsleute ausgesprochenen Gelegenheitscharakter besaßen und zumeist nur ein Mal gezeigt wurden, ging es Kusser darum, möglichst viele Zuschauer zu erreichen, weshalb die Truppe die jeweils angekündigte Oper längere Zeit, sogar bis zu zweimal wöchentlich präsentierte und sie auch in anderen Städten aufführte. Bezeichnend für den auf ökonomischen Gewinn fixierten Charakter der Darbietungen ist schließlich die Tatsache, daß der Kapellmeister und seine Truppe in dem Moment die Stadt verließen, als sich die Oper finanziell nicht mehr trug und zu erheblichen wirtschaftlichen Einbußen führte. Unter Kusser fungierte die Oper in der Stadt erstmals als angebotene Ware und unter dem Dach eines nach wirtschaftlichen Aspekten ausgerichteten Unternehmens einer Repertoirebühne. In dieser Form war die (um die von Kusser selbst gewählte Bezeichnung nochmals aufzugreifen) »von Spesen reiche Oper« aber in ökonomischer Hinsicht nicht selbständig und schon 747
Vgl. Meyer: Wanderbühne, S. 194, der allgemein festgehalten hat: »Das Theater als Schauspiel-Unternehmen untersteht vor allem wirtschaftlichen Gesetzen. [...] Der Prinzipal ist Unternehmer, die Schauspieler stehen zu ihm in einem lohnabhängigen Verhältnis und die Vorstellungen, die von ihnen produzierten Stücke, sind Waren, in deren Genuß sich der Zuschauer durch Zahlung des Eintrittsgeldes bringen kann.«
570 gar nicht gewinnträchtig. Denn um die Kosten für den notwendigen, immensen künstlerischen, personellen, bühnentechnischen und musikalischen Aufwand der Vorstellungen wieder einzuspielen, mußten die Preise auf ein Niveau angehoben werden, das den potentiellen Publikumskreis von vornherein einschränkte. Die Barockoper als theatrale Kunstform war stets auf Subventionen und Mäzenatentum angewiesen und unter ökonomischen Gesichtspunkten alles andere als ein lohnendes Geschäft. Dies verdeutlichen nicht nur die Nürnberger Opernereignisse um 1700. Auch das große Pendant in Hamburg ist geprägt von Bankrotten und Schuldenbergen, wobei hier Kusser in seiner Zeit als Leiter der Hamburger Bühne in Finanzdingen gleichfalls keine gute Figur machte.748 Angesichts der vielen Pleiten Hamburger Opernimpresarios kam bereits Dian I. Lindberg bei seinem Überblick über die geschäftliche Seite des barocken Musiktheaters in der Hansestadt zu dem Resümee: »Indeed, the history of the Hamburg opera is one of repeated financial disasters«.749 Und erst jüngst wurde darauf hingewiesen, welche Bedeutung dem adeligen und obrigkeitlichen Auftraggeber- und Mäzenatentum für die Entwicklung der Hamburger Barockoper zukam. 750 Nicht zuletzt gab es auch an manchen Hoftheatern wirtschaftliche Schwierigkeiten, wie etwa am Wolfenbütteler Hof von Herzog Anton Ulrich, bei dessen Planung als ein sich selbst tragendes, kommerzielles Unternehmen sich der Herzog erheblich verkalkulierte. Die im Vorfeld veranschlagten Einnahmen blieben weit hinter den anfallenden Kosten zurück und anstatt des anvisierten Gewinns mußte die Oper jährlich mit rund 2.800 Talern subventioniert werden. Es dauerte über ein Jahrzehnt, bis die Ausgaben sich mit den Einnahmen deckten.751 Skandale, Verfehlungen und Kritik: die Nürnberger Oper im Zwielicht In diesem Zusammenhang stellt sich die nicht unbedeutende Frage, warum sich für Kussers Operntruppe in Nürnberg keine Mäzene finden ließen? Weshalb war man bereit gewesen, zwar die Unternehmungen Nürnberger Opernkräfte mit zum Teil beträchtlichen Mitteln zu unterstützen, das von dem Impresario Kusser betriebene Musiktheater jedoch nicht? Damit verbunden ist zugleich eine weitere Frage: aus welchen Gründen findet die Nürnberger Oper nach dem Abzug von Kusser und seiner Truppe vorerst ihr Ende? Denn immerhin sollte es fast zwei Jahrzehnte dauern, bis wieder Opern im 748
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Vgl. Dian Igor Lindberg: Literary aspects of the German baroque opera. History, theory and practice (Christian H. Postel and Barthold Feind). Diss, (ms.) Los Angeles 1964, S. 11-19. Ebd., S. 11. Vgl. Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne, S. 49-54. Vgl. hierzu Lindberg: German baroque opera, S. 23f.
571 Nachtkomödienhaus über die Bühne gingen. Aufgrund mangelnder Quellen können hier allenfalls einige Punkte aufgezeigt werden, wobei es festzuhalten gilt, daß dem vorläufigen Ende der Nürnberger Oper sicherlich keine monokausale Ursache zu Grunde lag, sondern mehrere, sich zum Teil gegenseitig bedingende Aspekte eine Rolle gespielt haben, die hier im folgenden angedeutet seien. Einer der Hauptgründe für das Ende der Oper in der Reichsstadt dürfte in dem Rückzug der Handelsleute aus diesem Bereich liegen. Wie gezeigt, war von ihnen die Initiative ausgegangen und sie bildeten die entscheidende Stütze des Musiktheaters als Veranstalter und Finanziers. Nun gibt es keine direkten Belege im Sinne eines eindeutigen Quellendokuments dafür, warum man dieses Engagement nach dem Arminius vom Frühjahr 1697 nicht mehr fortsetzte. Doch nach dem bisherigen Quellenstand scheint dieser Rückzug durch den Bankrott und die anschließende Flucht Christoph Adam Negeleins begründet zu sein. In ihm wird man eine, wenn nicht sogar die zentrale Figur aus dem Kreis der »Music liebhabenden handels Leute« zu sehen haben. Als er vor seinen Schulden aus der Reichsstadt nach Wien floh, war der Nürnberger Oper einer ihrer exponiertesten Vertreter und Protagonisten abhanden gekommen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der wirtschaftliche Ruin des literarisch talentierten Handelsmanns in nicht unerheblichem Maße wohl mit seinem (finanziellem und künstlerischem) Engagement und der Leidenschaft für das Musiktheater zusammenhing. Zugleich dürfte dadurch die Oper insgesamt diskreditiert worden sein, da Negeleins Fiasko und anschließende Flucht einen beträchtlichen Skandal in der Stadt darstellten, wie die noch Jahre andauernde Verfemung seiner zurückgelassenen Familie verdeutlicht. So scheint man aus den Reihen der Großkaufleute nach dem Konkurs und unrühmlichen Ende eines ihrer Mitglieder offenbar nicht gerade mehr begeistert gewesen zu sein, sich weiterhin auf diesem Gebiet zu engagieren. Eventuell spielte dabei die Angst eine Rolle, daß Negeleins (Opern)Bankrott und schandbares Reißaus nehmen negative Folgen für ihr soziales Ansehen und ihren wirtschaftlichen Erfolg haben könnte.752 Hinzu kamen schließlich noch andere Vorfälle, die dazu beitrugen, die Oper in einigen Mißkredit zu bringen (siehe unten), was manchen der Handelsleute in dieser Haltung bestärkt haben mag. Von daher stellte es sicherlich keinen großen Anreiz dar, den Impresario Kusser zu unterstützen. Darüber hinaus war es etwas völlig anderes, ob man Aufführungen finanzierte, an denen man selbst als Veranstalter beteiligt war und die zu Ehren des Kaisers sowie ohne Motive des Gelderwerbs veranstal752
Vgl. Münch: Lebensformen, S. 245, der im Zusammenhang der zentralen Bedeutung des Ehrbegriffs für die frühneuzeitliche Gesellschaft darauf hingewiesen hat, »daß die Ehrminderung nicht auf eine Person beschränkt blieb, sondern stets auch die Ehre der Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft und aller anderen Korporationen, denen man noch angehören mochte, schädigte«.
572 tet wurden, oder ob es um die Unterstützung für die Gastspiele einer fahrenden Operntruppe ging, die in erster Linie finanzielle Interessen verfolgte und deren Sozialprestige im allgemeinen deshalb nicht gerade hoch war.753 Für die gesellschaftlich aufstrebende Schicht der ehrbaren Großkaufleute wäre es wohl kaum angemessen und erstrebenswert gewesen, in einem Atemzug mit den auf finanziellen Erwerb gerichteten Unternehmungen einer Wandertruppe genannt zu werden - einer Truppe, die in der Stadt vor allem durch Händel und Reibereien mit den Komödianten auffiel. Wenig förderlich für das Image der Oper in der Stadt war sicherlich auch, daß es im Mai 1697 im Zusammenhang mit den Aufführungen zu einem Eklat gekommen war: Wie oben erwähnt, hatte es sich schnell in der Reichsstadt herumgesprochen, daß einige Lehrer sich mehr hinter und auf der Bühne im Opernhaus sehen ließen als an ihren Schreibpulten in den Klassenzimmern. Der Rat war dagegen mit einer entschiedenen Maßregelung vorgegangen und hatte den Lehrern eine weitere Beteiligung untersagt. Damit waren neben Negelein nicht nur erneut Interessierte und Mitwirkende bei der Oper ausgeschieden (darunter mit Christoph Gottlieb Sauer eine wichtige Kraft), sondern das Musiktheater dürfte ganz allgemein durch diesen Skandal abermals erheblich an Ruf eingebüßt haben. Zudem scheint man auf Seiten des Rats gegenüber den Unternehmungen von Kusser im Lauf der Jahre 1697 und 1698 eine reserviertere Haltung eingenommen zu haben. Offenbar brachte man nach den Skandalen und Querelen rund um die Oper den Darbietungen der »Banda von den Operen« weniger Gegenliebe entgegen als noch den Unternehmungen der Handelsleute. Denn nun blieben die oben beschriebenen angenehmen »Nebenwirkungen« für die Stadt aus (festliche Selbstdarstellung der Gemeinde etc.). Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, daß man die Vorstellungen Kussers nicht in dem Maß unterstützten wollte, wie man es bei den Opern der Handelsleute und >Pegnitzschäfer< getan hatte.754 Im Gegenteil, die Truppe von Kusser schien man nach einiger Zeit sogar regelrecht wieder loshaben zu wollen, wie einige Formulierungen in den Ratsprotokollen nahelegen. So hatte der Rat auf die Ende April 1698 eingereichte Bitte der »Interessenten der Opera« um eine weitere Spielerlaubnis geantwortet, man solle ihnen »in End willfahren«.755 Und nur kurze Zeit später wollte man von ihnen wissen, »wie
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Vgl. Schaal: Operntruppe, Sp. 111. Gegen diese Sicht spricht auch nicht, daß man zunächst die Aufführung des »Alarich« vom Mai 1697 noch finanziell unterstützt hatte. Denn gerade hierbei hatten Nürnberger Opernkräfte mitgewirkt, und gegenüber dem Rat war als offizieller Veranstalter der Stadtkapellmeister Christoph Gottlieb Sauer aufgetreten. Auf seine (und nicht etwa auf Kussers) Eingabe hin hatte man die Ausstattung mit Mitteln aus der Stadtkasse bezahlt. StaatsAN, RV Nr. 3011 vom 25. April 1698, fol. 80 r " v (fehlt bei Hampe).
573 lang sie denn noch hier zu bleiben gedencken« und überlegte bereits, »wie diesen Sachen ein End gemachet werde«. 756 Nicht zuletzt spielte in diesem Zusammenhang wohl noch ein weiterer Aspekt eine Rolle, der wahrscheinlich ebenfalls für die distanziertere Haltung des Rats verantwortlich war und der zu einer Diffamierung der Oper und zu einem allmählichen Stimmungsumschwung in der Stadt einiges beigetragen haben dürfte: die Kritik aus den Reihen der Geistlichen, die gerade um 1695 einen neuen Schub erlebte. Exkurs: Theaterfeindlichkeit in Nürnberg Theaterfeindlichkeit hat im Nürnberg des 17. Jahrhunderts fast Tradition. Das gesamte Jahrhundert hindurch lassen sich aus den Reihen der Geistlichkeit kritische Stimmen gegen Theater, Schauspiel und andere öffentliche Lustbarkeiten nachweisen, die keineswegs nur gegen das Spiel fahrender Komödiantentruppen gerichtet, sondern grundsätzlicher Natur waren. Dies zeigt etwa der bereits im ersten Teil der Arbeit beschriebene Zwischenfall aus dem Jahre 1605, als der Prediger Paul Schneider von seiner Kanzel in St. Egidien gegen das Schultheater wetterte und sogar ein »gespenst mit klingeln« heraufbeschwor, um die Aufführungen zu diskreditieren und zu verhindern. 757 Wenngleich diese Episode aus heutiger Sicht amüsant klingen mag, Dämonengeschichten bildeten eine gängige Waffe der Geistlichkeit beim Kampf gegen das Theater und waren schon von den Kirchenvätern eingesetzt worden, um die Verwandtschaft des Schauspiels mit der Hölle zu belegen. 758 Und dieser erste Beleg einer Schauspielfeindlichkeit muß wohl als Reaktion auf die sich seit etwa 1600 sowohl quantitativ als auch qualitativ verändernde Theaterlandschaft in der Reichsstadt gedeutet werden. Mag das »merlein« 759 von der Gespenstererscheinung in der Kirche zu St. Egidien noch manchen Ratsherren mehr belustigt denn beunruhigt haben, so sollte sich der Ton in der Auseinandersetzung um die Sittlichkeit des Theaters jedoch bald ändern. Denn während des Dreißigjährigen Krieges nahm die Theaterfeindlichkeit eine neue Dimension an und war von einer bis dahin in der Stadt in dieser Frage unbekannten Schärfe gekennzeichnet. Auf Seiten der Gegner stand dabei Johann Saubert d.Ä., einer der führenden Theologen und Prediger Nürnbergs: Saubert hatte sich offen und in mehreren Schriften als einer der ersten Anhänger des vorpietistischen Gedankenguts Johann Arndts bekannt und in seinen Predigten mehrfach gegen Fechtschulen und Schauspiele Stellung bezogen. Unter seiner Leitung prote-
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Ebd., RV Nr. 3012 vom 12. Mai 1698, fol. 93 r (fehlt bei Hampe). Vgl. Teil A, Kap. 1.1. Vgl. Diebel: Theaterfeindlichkeit, S. 180f. StaatsAn, RV Nr. 1780 vom 6. August 1605, fol. 33 r .
574 stierten weite Teile der Geistlichkeit 1627/28 und nochmals in den Jahren 1643/44 massiv zuerst gegen die Errichtung eines eigenen städtischen Fechtund Komödienhauses, dann gegen die Abhaltung öffentlicher Lustbarkeiten schlechthin. Unter Rekurs auf die bereits genannten Argumente der Kirchenväter beschworen sie in zahlreichen Beschwerdeschriften die Obrigkeit, »wannen die Fechtschulen und weltliche Schauspiele wiedrumb uff die bahn kommen sollten, würden wahrlich zu allersamt öffentlichen Sünden vnd lästern thür vnd thor angelweit aufgethan«.760 Mit dem Tode Sauberts im Jahre 1646 und dem zwei Jahre später erfolgten Ende des Dreißigjährigen Krieges endeten jedoch keineswegs die theaterfeindlichen Strömungen in Nürnberg. So ist etwa in den Stadtchroniken ein Fall aus dem Jahre 1679 überliefert, als mit der Truppe des Magister Velten eines der bekanntesten Ensembles der Zeit in der Stadt weilte. Velten hatte mit seinen Darbietungen großen Erfolg und spielte »15 Wochen ohne aussezen«, wie es in der Quelle heißt. Zugleich hebt der Chronist jedoch hervor, daß die Aufführungen auf erhebliche Kritik gestoßen seien, da »die Herren Geistlichen sehr hart darwider geprediget, als einen schweren Büß, der sich zu diesen Zeit nicht schicket«.761 In diesem Zusammenhang ist sicherlich von Bedeutung, daß in den 1670er Jahren in Nürnberg zwei wichtige Apologien für die Aufführung von Schauspielen erschienen, die jeweils Bestandteil eines auf ihrem Gebiet maßgeblichen Werks sind: zum einen in Sigmund von Birkens Poetik Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst sowie zum anderen in Johann Conrad Dürrs moraltheologisches Handbuch Compendium Theologiae Moralis. Wie bereits dargelegt, stehen beide Apologien im unmittelbaren Kontext einer sich im 17. Jahrhundert verschärfenden Theaterfeindlichkeit und können als Reaktionen auf die Wirkung dieser Strömung im Nürnberger Raum angesehen werden.762 Vor allem seit Mitte der 1690er Jahre mehren sich wieder die kritischen Stimmen von Seiten Geistlicher gegen Theater und Schauspiel. Dabei scheint es zu heftigeren Auseinandersetzungen und Polemiken gekommen zu sein. Als im Juni 1695 eine Wandertruppe ihre Stücke im Fechthaus präsentierte, sah der Rat sich gezwungen, Teile der Geistlichkeit in ihre Schranken zu weisen und den Herren Kirchenpfleger bei den Geistlichen dafür sorgen zu lassen, »damit nicht mancher mit seinem unfruchtbaren und viel übel nach sich ziehenden Eyfer herfürbreche«. 763 Das Vorgehen gegen das Theater nahm durch diese Maßnahme jedoch nicht ab, da sich in den folgenden Jah760
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Eingabe der Geistlichen vom 28. April 1643, in: StaatsAN, Rep. 16a: B-Laden, S. I. L. 203, Nr. 1, fol. 58 r -61 v , hier fol. 58 v -59 r . Siehe hierzu auch Teil A, Kap. 1.2. u. 4.1. StadtAN, Rep. Fl: Nürnberger Chroniken, Nr. 51 (III), fol. 329v. Vgl. dazu ausführlich Teil A, Kap. 4.1. Vgl. StaatsAN, RV Nr. 2973 vom 1. Juni 1695, fol. 49r.
575 ren bis nach 1700 immer wieder vorgebrachte Beschwerden in den Ratsverlässen nachweisen lassen: So wies der Rat die »Operisten« im Frühjahr 1698 an, ihre Vorstellungen nicht eher beginnen zu lassen »als nach geendigten Nachmittags Gottes dienst u. der Litaney zu St. Laurenzen«,764 was darauf schließen läßt, daß es Beschwerden der Prediger gegeben hatte. Dies belegt auch ein anderer Vorfall: Nicht einmal ein Jahr später liefen Geistliche erneut Sturm gegen das Theaterspielen der Mitglieder einer Laientruppe auf dem Hauptmarkt, die »solches unter währenden Gottesdienst und Beichtvespern, auch spat in die nacht treiben, die herren Geistlichen aber sich darüber schon öfters, wie noch, beschweret«.765 In vielen Städten des Alten Reichs entzündeten sich gerade an diesen Fragen größere Konflikte, bei denen die Prediger die »Entweihung« der Sonn- und Feiertage sowie der Gottesdienste durch die zeitgleich veranstalteten Aufführungen beklagten. Diese Argumentationen dürften wohl vor allem als Ausdruck der Konkurrenzsituation zum Theater zu sehen sein - wobei verstärkend hinzukam, daß die Theater und Spielorte oftmals in räumlicher Nähe zu den Gotteshäusern lagen und somit konkret, d.h. vor allem akustisch in den geistlich-religiösen Bereich hinüberreichten.766 Eine Tatsache, die auch in Nürnberg gegeben war, da das Nachtkomödienhaus sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Lorenzkirche befand. Die Klagen der Geistlichen lassen sich noch weiter verfolgen: Als im Hochsommer 1706 die »Württembergischen Hofcomödianten« im Fechthaus agierten, berichten die Ratsprotokolle, daß »die herren Geistliche wieder die besuchung der Comoedien eyffern«, worauf der Rat die Aufführungen sogar einstellen ließ und anordnete, »soll man die herren Kriegsverordnete ersuchen, nunmehr damit Feyerabend machen zu lassen«.767 Im August 1714 heißt es im Zusammenhang mit Aufführungen einer Wandertruppe erneut, daß »die herren Predigere in ihren predigten immer wieder desselbe eyferten«.768 Und zwei Jahre späte mußte der Rat auf massive Proteste eingehen und sah sich gezwungen zu beschließen: »was der herren Predigere hoche. e. verlangen mit abstellung derer Comoedien, Seiltänzerey, Glückstöpfen und anderer Vanitäten anbetr., ihnen darinnen zu willfahren«.769 Vor diesem Hintergrund ist sicherlich äußerst bemerkenswert, daß in Nürnberg in der Frobergschen Druckerei 1696 Elias August Stryks Dissertation Disputatio juridica de eo quod justum est, circa Ludos scenicos operasqve 764 765 766
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Ebd., Nr. 3010 vom 23. März 1698, fol. 78v (fehlt bei Hampe). Ebd., Nr. 3021 vom 11. Januar 1699, fol. 34v. Vgl. hierzu Diebel: Theaterfeindlichkeit, S. 125-132, die betont hat, daß die Klagen der Geistlichkeit vor allem als Zeichen des »Konkurrenzneids«, »Prestigeverlusts« sowie des »Machtverlusts der Kirche« zu deuten seien. StaatsAN, RV Nr. 3122 vom 18. August 1706, fol. 118r. Ebd., Nr. 3229 vom 9. August 1714, fol. 105v. Ebd., Nr. 3257 vom 12. September 1716, fol. 92v.
576 modernus, dictas vulgo OPEREN770 erschien. Hierin sprach sich der Jurist für die Oper aus und entkräftete in einer ausführlichen Untersuchung die vorgebrachten Einwände.771 Sollte es tatsächlich nur ein Zufall sein, daß im gleichen Jahr, in dem mit der Aufführung der (ebenfalls bei Christian Sigmund Froberg gedruckten!) Eroberung Jericho die Oper wieder Einzug in Nürnberg hielt und sich kritische Stimmen gegen das Theater zu regen begannen, zugleich eine wichtige Schutzschrift für Theater und Oper in der Reichsstadt neu aufgelegt wurde? Daß dies wahrscheinlich als ein weiteres Indiz für eine sich seit etwa 1695 verstärkende Theaterfeindlichkeit gesehen werden kann, zeigt eine andere bedeutende Schrift aus dieser Zeit. Denn auch der Vorsitzende des Pegnesischen Blumenordens und Altdorfer Professor Magnus Daniel Omeis sah sich in seiner 1704 in Nürnberg erschienenen Poetik Gründliche Anleitung Zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht= Kunst dazu veranlaßt, auf die Frage einzugehen, »ob die Schau-spiele /[...]/ heut zu Tage unter den Christen in wol angeordneten Republiquen zu erdulten?«.772
Nürnberger Pietisten als Theatergegner? In den Ratsprotokollen ist im Zusammenhang von Beschwerden und Anfeindungen gegen das Theater zumeist nur ganz allgemein von den »Herren Geistlichen« oder »Herren Prediger« die Rede. Doch welche Geistlichen waren damit gemeint? Betraf die Gegnerschaft die gesamte Geistlichkeit Nürnbergs oder nur bestimmte Teile? Es läßt sich hierauf zwar keine eindeutige Antwort geben, doch es spricht manches dafür, daß die Theaterfeindlichkeit im Zusammenhang mit aufkommenden pietistischen Strömungen773 in der Reichsstadt steht und hinter den Eiferern gegen das Theater Geistliche aus diesen Kreisen zu sehen sind. So ist besonders auffällig, daß nur kurze Zeit, nachdem der Prediger Ambrosius Wirth, ein ausgesprochener Verfechter des
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Elias August Strykius: Disputatio juridica de eo quod justum est, circa Ludos scenicos operasqve modernas, dictas vulgo OPEREN. Quam in illustri Christian-Albertina praeside Dn. Elia Augusto Stryko [...] Ad. D. Januar. A. M. DC. XCIII. Publics disquisitioni submittit Georgius Bertuch [...]. Noribergae 1696. Vgl. dazu Schubart-Fikentscher: Stellung der Komödianten, S. 31, 46, 54 u. 76. Omeis: Gründliche Anleitung, S. 248. Vgl. dazu allgemein den Überblick bei Klaus Leder: Die religiöse und kirchliche Entwicklung im 18. Jahrhundert. In: Pfeiffer (Hg.): Nürnberg, S. 324-329, sowie die Ausführungen bei Christoph Beck: Zur Einwirkung des Halleschen Pietismus auf das Erziehungswesen in Franken. Neustadt a.d. A. 1932; Matthias Simon: Der Prediger Tobias Winkler in Nürnberg. In: MVGN 42 (1951), S. 198-235, und Dietrich Blaufuß: Reichsstadt und Pietismus - Philipp Jacob Spener und Gottlieb Spizel aus Augsburg. Neustadt a.d. A. 1977 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 53), S. 4 2 - 5 3 .
577 Halleschen Pietismus, 774 in Nürnberg zu wirken begonnen hatte, die Theaterfeindlichkeit in der Reichsstadt neuen Auftrieb erhält. Der aus Wolkenburg in Meißen stammende Theologe war 1694 nach Nürnberg gekommen, nachdem er aufgrund »seines Eifers über die Saabaths-Entheiligung, fleischliche Tänze u.a.m.« 775 von seiner Stelle in Eschenau strafversetzt worden war. In der Reichsstadt predigte er zunächst an der Kapelle St. Walburg auf der Veste und rückte 1697 zum Prediger am Heilig Geist Spital auf. 776 Wirth gilt als »höchst bedeutsamer Vertreter des Halleschen Pietismus«, 777 der »innige Beziehungen« 778 zu dessen Begründer August Hermann Francke pflegte. In seinem Haus hielt Wirth regelmäßig erbauliche Gebets- und Bibelstunden ab. Diese »Uebungen des Christenthums« wurden »gar häufig und andächtig besuchet« 779 und sorgten für einiges Aufsehen in der Stadt. 780 Man sang und las die Schriften von Gottfried Arnold und Johann Arndt. Zudem stellte Wirth im Jahr 1700 eine Satzung in 22 Punkten auf, 781 die von den Teilnehmern unterzeichnet werden mußte und in diesem Kontext höchst bedeutsam ist. Denn unter Punkt sechs der Etlichefn] christliche[n] Regeln und Pflichten heißt es: »Es soll ein jeder alle Versuchung und Gelegenheit zur Sünde, absonderlich die Wirtshäuser, Comoedien und dergleichen Örter, wo man kann zur Sünde verleitet werden, sorgfältig fliehen und meiden«.162 Wirth war zu dieser Zeit keineswegs der einzige Vertreter des Pietismus in Nürnberg: So wirkte seit 1697 als Prediger an der Egidienkirche Johann Conrad Feuerlein, der als Anhänger August Hermann Franckes galt. 783 Gleiches gilt für Georg Wilhelm Böhmer, der seit 1685 an St. Jakob predigte und den Ideen des Halleschen Pietismus freundlich gesinnt war. Sowohl Böhmer als auch Feuerlein wiesen in ihren Predigten wiederholt empfehlend auf die Erbauungsstunden bei Wirth hin. Darüber hinaus ist hier Tobias Winkler zu nennen, der seit 1683 das Predigeramt an der Frauenkirche bekleidete und ebenfalls ein ausgesprochener Anhänger des Pietismus war. In den 1670er Jahren hatte er enge Beziehungen zu Spener in Frankfurt unterhalten und verfertigte später unter anderem über die Zusammenkünfte bei Wirth ein 774
Zum Halleschen Pietismus siehe mit weiterer Literatur Verweyen: Hochburg des Pietismus, bes. S. 225-230. 775 NGL 4 (1758), S. 266. 776 Vgl. dazu Beck: Einwirkung, S. 2 3 - 2 9 . 777 Simon: Nürnbergisches Pfarrerbuch, S. 255. 778 Beck: Einwirkung, S. 26. 779 NGL 4 (1758), S. 266. 780 Zu diesen »Collegia pietatis« vgl. Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Zur Geschichte der Collegia Pietatis in Nürnberg. In: MVGN 62 (1975), S. 285-289. 781 Vgl. Simon: Tobias Winkler, S. 199f., sowie Karl Schornbaum: Zur Tätigkeit des Suttenpredigers Ambrosius] Wirth. In: MVGN 42 (1951), S. 3 6 9 - 3 7 2 (hierin auch ein Abdruck des vollständigen Wortlauts der Satzung). 782 Zitiert nach dem Abdruck der Satzung bei Schornbaum: Wirth, S. 370 (Hervorhebung M. P.). 783 y g ] s ; m o n : Nürnbergisches Pfarrerbuch, S. 62f.
578 äußerst wohlwollendes Gutachten für den in dieser Angelegenheit skeptischen Rat. 784 Als Sympathisant dieser Bewegung kann ferner Johann Gräf gelten, der seit 1668 als Diakon an St. Sebald wirkte und Verfechter der Sonntagsheiligung war.785 Hinzu kamen noch weitere pietistische Zirkel in der Stadt wie etwa um den Tlichmacher und Zuchthausverwalter Samuel Schöps, der »ebenfalls zu den eifrigen Anhängern Franckes in Nürnberg zählte«.786 Überblickt man den hier nur skizzierten Kreis der Nürnberger Pietisten um 1700, dann fällt vor allem auf, daß in der Reichsstadt am Ende des 17. Jahrhunderts nicht unbedeutende Predigerämter und damit zentrale Stellen des kirchlichen Lebens mit Vertretern des Pietismus insbesondere Hallescher Prägung besetzt waren. Dies ist gerade in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung. Denn im Gegensatz zu dem gemäßigteren Philipp Jakob Spener gehörte der Hallesche Pietismus unter August Hermann Francke zu den entschiedenen und radikalsten Gegnern des Theaters. Insbesondere die Oper lief als eine in höchstem Maße auf Prachtentfaltung und Repräsentation abzielende theatrale Kunstform den an Askese und weltverneinender Innerlichkeit orientierten Grundsätzen des Halleschen Pietismus diametral zuwider.787 Es ist von daher gut denkbar, wenn nicht sogar sehr wahrscheinlich, daß mit den sich ereifernden »Herren Geistlichen« in den Ratsverlässen vor allem die Prediger Winkler, Feuerlein, Böhmer und Wirth gemeint waren, wobei letzterer sich in seiner Satzung ausdrücklich gegen das Theater ausgesprochen hatte. Nicht zuletzt stimmt die auf den Kanzeln geäußerte Schauspielkritik mit den allgemeinen Plänen und Wirken der Pietisten in Nürnberg überein.788 Nun soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, der Rat habe sich ohne Zögern die Ideen der pietistisch gesinnten Prediger zu eigen gemacht und deshalb die Operntruppe Kussers nur mit einigen Gulden abgefunden und demgegenüber versucht, sie möglichst schnell aus der Stadt hinauszukomplimentieren. Dagegen spricht zum einen die Zurückhaltung des konservativ geprägten Rats gegenüber dem Pietisimus sowie zum anderen die grundsätzlich positive Einstellung zum Theater, das man gegen Anfeindungen in Schutz nahm. Allerdings scheint es, daß man seit Ende der 1690er Jahre die 784 785 786 787
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Zu Winkler siehe ausführlich Simon: Tobias Winkler, bes. S. 198-213. Vgl. ebd., S. 231 Anm. 30. Leder: Entwicklung, S. 324. Vgl. dazu Verweyen: Hochburg des Pietismus, S. 226f.; das Kapitel »Pietism and the Opera« bei Lindberg: German baroque opera, S. 87-108, sowie den Abschnitt »Officina Diaboli. Das Theater im Visier des halleschen Pietismus« bei Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 25), S. 24-49. Vgl. Blaufuß: Reichsstadt und Pietismus, S. 46, der zum Vorgehen der Nürnberger Pietisten bemerkt hat: »In Kirche, Öffentlichkeit und Universität sollte das Entscheidende >von unten< her getan werden«.
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von etlichen Predigern propagierten und stärker werdenden theaterfeindlichen Strömungen offenbar nicht völlig ignorieren konnte, wie einige der oben zitierten Ratsentscheidungen verdeutlichen, in denen man den Beschwerden nachgab und ausdrücklich auf Antrag der Geistlichen die Einstellung der Schauspiele anordnete. Faßt man all diese skizzierten Aspekte zusammen, wird man folgendes festhalten können: Nach den glanzvollen Aufführungen früherer Jahre hatte sich das Opernfieber um 1700 in der Stadt offenbar abgekühlt und die Stimmung sich in einigen Kreisen massiv gegen sie gewendet angesichts der verschiedenen Vorfälle, die nicht gerade zum Ruhm dieser Kunstform beigetragen haben dürften - so etwa der Konkurs und die unehrenhafte Flucht eines ihrer Protagonisten oder die Verfehlungen der opernbegeisterten Lehrer, die zum Stadtgespräch geworden waren. Nicht zuletzt werden die eifernden Predigten der pietistisch gesinnten Geistlichen ihr übriges dazu beigesteuert und möglicherweise manchen potentiellen Geldgeber aus den Reihen der Handelsleute abgeschreckt haben. Schließlich folgte kurze Zeit später der Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges 1701, dessen Wirren dazu beitrugen, daß in den darauffolgenden Jahren für längere Zeit die Nürnberger Theater wieder geschlossen wurden. Ob nun in erster Linie aufgrund finanziellen Bankrotts einheimischer Kräfte, verschiedener Eklats bei den Aufführungen oder tendenziöser Predigten von pietistisch gesinnten Predigern - festzustellen bleibt, mit der Flucht Negeleins sowie dem Abzug der Kusserschen Bande im Sommer 1698 fand die Nürnberger Barockoper ihr eigentliches Ende. Über 20 Jahre sollte es dauern, bis im Nachtkomödienhaus wieder Opern zu hören waren (siehe Teil B, Kap. 7.).
6. Buchhändler und Bortenmacher als Komödianten: Theaterunternehmungen Nürnberger Handwerker und Krämer 6.1. Ungeliebte Untertanen: die Obrigkeit und die leidenschaftlichen Laienspieler Die massiven Beschränkungen und Verbote des Nürnberger Rats gegen die Schauspielambitionen der Handwerker aus dem Umfeld der Meistersingerschule hatten zu Beginn des 17. Jahrhunderts dazu geführt, daß die einst so theaterbegeisterten Laien von den protegierten Englischen Komödianten verdrängt wurden und noch vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges völlig aus dem Theaterleben der Reichsstadt verschwanden.1 Diese Auseinandersetzungen sind jedoch keine singulare Erscheinung, sondern Teil und Ausdruck einer allgemeineren Entwicklung, in deren Verlauf sich ein nicht unerheblicher Wandel im kulturellen Leben der Stadt vollzog und an deren Ende schließlich die lange Tradition des Laienspiels Nürnberger Handwerker weitgehend zum Erliegen kommt, so daß sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts der Nürnberger Georg Andreas Will fast wehmütig fragte: Ob es nicht gut wäre, wenn wir, gleich unsern Vorfahren, unsere einheimische und bürgerliche Bühne hätten, die unter der Aufsicht verständiger Männer fortdauerte und besonders die langen und verdrüßlichen Winterabende aufheiterte? 2
Dieser von Will beklagte Wandel vollzog sich nicht abrupt. Während des gesamten 17. Jahrhunderts hindurch und sogar noch einige Jahrzehnte darüber hinaus bemühten sich neben Krämern und Wundärzten insbesondere Handwerksmeister der verschiedensten Gewerbe mit ihren Gesellen immer wieder um Spielgenehmigungen, darunter Scheibenzieher ebenso wie Bortenmacher, Barbiere, Saitenmacher oder Gold- und Messerschmiede.3 Dabei konnten sie sich zum Teil auf eine lange Tradition berufen: So waren die Handwerker aus den verschiedenen Gewerben die wichtigsten Träger des blühenden Nürnberger Fastnachtsspiels des Spätmittelalters.4 Auch in den 1 2 3 4
Siehe Teil A, Kap. 1.1. Will: Geschichte der Nürnbergischen Schaubühne, S. 212. Vgl. Hampe: Theaterwesen, S. 134ff. Vgl. Eckehard Catholy: Das deutsche Lustspiel. Vom Mittelalter bis zum Ende der Barockzeit. Darmstadt 1968, S. 20ff. u. 49ff.
581 Jahrzehnten nach der Reformation erhielt das Theaterwesen der Reichsstadt neben dem humanistisch orientierten Schuldrama vor allem aus dem Kreis der Handwerker wichtige Impulse, allen voran durch das reiche dramatische Schaffen von Hans Sachs. Als fleißige Laienschauspieler erwiesen sich im 16. Jahrhundert ferner die Meister und Gesellen aus dem Kreis der Messerer, die seit Mitte der 1540er Jahre immer wieder mit Stücken in der Öffentlichkeit auftraten, darunter Aufführungen geistlicher Stücke mit Stoffen aus dem Alten Testament.5 Erinnert sei schließlich an die Tänze und Umzüge der unterschiedlichen Handwerksgewerbe, die zum Teil Vorstellungen kurzer Dialogszenen im Stile des Fastnachtsspiels beinhalteten und dadurch spielartigen Charakter annehmen konnten, wie es beispielsweise von den Nürnberger Schreinern überliefert ist.6 Von ihnen berichten die Chroniken, sie seien zur Fastnachtszeit 1600 bewaffnet und in Kleidern aus Hobelspänen mit einem Hauptmann und einem Fähnrich gleich einer militärischen Truppe durch die Stadt gezogen und hätten schließlich vor den Häusern vornehmer Bürger »ein Comoedjspiel gehalten, darinnen ein Bauer gehobelt wurde«.7 Diese Umzüge und Spiele waren insbesondere mit zwei Ereignissen aus dem Leben der Handwerker verbunden: mit der Aufnahme neuer Gesellen und dem Abschluß der Arbeit bei Licht im Februar, wobei die Anlässe selbst zum Gegenstand von schauspielähnlichen Aufführungen werden konnten. 8 Von den Bortenmachern und Messerschmieden sind beispielsweise sogenannte Depositionsspiele bekannt, bei denen in Nachahmung von studentischen Ritualen die Einführung der neuen Gesellen in einer Art feierlichpossenhafter Zeremonie spielerisch umgesetzt wurde. Gleiches gilt für das Ende der Lichtarbeit, das man mit einem geselligen Spiel feierte. 9 In der Kritik: Handwerkerkomödianten Während nun die Laienspiele und Komödienaufführungen der Handwerker im 15. und 16. Jahrhundert noch zum festen Bestandteil des Theaterlebens 5
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Vgl. Schultheiß: Vom Stadttheater zum Opernhaus, S. 25. Zu den Handwerkerspielen des 16. Jahrhunderts siehe das zusammengestellte Material aus den Ratsverlässen bei Viktor Michels: Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jahrhundert. In: Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte 3 (1890), S. 2 8 - 4 6 . Siehe hierzu August Hartmann: Regensburger Fastnachtspiele. In: Bayerns Mundarten 2 (1893/95), S. 1 - 5 9 , bes. S. 3 2 - 4 5 , sowie Bolte: Von Wanderkomödianten und Handwerkerspielen, bes. S. 480ff. Zitiert nach dem Abdruck der Chronikberichte bei Hartmann: Regensburger Fastnachtspiele, S. 38. Derartige Umzüge der Schreiner sind auch noch für die Jahre 1613 bis 1618 und 1656 belegt. Vgl. hierzu Bolte: Von Wanderkomödianten und Handwerkerspielen, S. 480ff. Die spielerische Darstellung vom »Ertränken« des Lichts in Wasser bei Ende der Lichtarbeit war in vielen Städten unter den Handwerkern verbreitet und hatte sich um 1600 zu einer Art förmlichen Gerichtsverhandlung entwickelt, bei der die Gesellen einzeln mit ihren Klagen wider das Licht vor einem Richter erschienen und dessen Verurteilung forderten. Vgl. dazu ebd., S. 483.
582 gehörten, stand der Rat seit etwa 1600 diesen Unternehmungen zunehmend kritischer gegenüber und versuchte mehr und mehr, diese soweit wie möglich zu unterbinden, wie es bereits das eingangs dieser Arbeit beschriebene Verhältnis zwischen Rat und den Theaterambitionen aus dem Umfeld der Meistersinger zu Beginn des 17. Jahrhunderts zeigte. Doch die Spannungen hielten auch nach 1620 an. Dies verdeutlicht etwa ein Fall aus der Mitte des Jahrhunderts, der die grundsätzlich argwöhnische Haltung der Obrigkeit gegenüber den Handwerkerspielen exemplarisch vorführt: Im Hochsommer 1641 führten in dem vor den Toren Nürnbergs gelegenen Ort Wöhrd anläßlich der dortigen Kirchweih die beiden Messerschmiede Johann Fenitzer und Michael Carl zusammen mit ihrer Gesellschaft einige Stücke auf. Die Vorstellungen hatten zwar die Billigung des zuständigen Richters für Wöhrd erhalten, waren jedoch ohne das Wissen des Nürnberger Rats erfolgt. Als die unerlaubten Aktivitäten ruchbar wurden, rügte der Rat nicht nur die Handwerker »mit einem guten verweis«, sondern kanzelte zugleich den Richter in scharfem Ton ab, da er gewußt habe, »daß dergleichen auch in hiesiger statt verbotten seie.« 10 Offenbar unbeeindruckt von der zuvor ausgesprochenen Zurechtweisung wandten sich die beiden Handwerksmeister nur kurze Zeit später mit der Bitte an den Rat, »daß sie noch eine geistliche comoedi zu Werdt halten mögen«. Ein Anliegen, das die Messerschmiede im wahrsten Sinne des Wortes beinahe teuer zu stehen gekommen wäre. Denn nun reagierte der Rat heftig und machte seine Position unmißverständlich klar: Das Gesuch wurde rundweg abgelehnt und den Antragstellern unter Androhung einer Strafe von 50 fl. verboten, »weder heimblich noch öffentlich einige comoedi zu agirn«, wobei man dem Bescheid hinzufügte, »daß sie als handwerksleut ihres handwerks warten und dergleichen Sachen mehr qualificirten uberlassen sollen«. 11 Die restriktive Haltung des Rats gegenüber den Handwerkerspielen änderte sich nach dem Dreißigjährigen Krieg nicht, sondern scheint sich im Lauf des Jahrhunderts eher noch verstärkt zu haben, wie etwa die vielfach fehlgeschlagenen Bemühungen des Bortenmachermeisters Georg Hengel d. Ä. zeigen, der zusammen mit seinem sprachbegabten und gelehrten Schwiegersohn Johann Jacob Schübler d. Ä. 1 2 im ausgehenden 17. Jahrhundert rege Schau10 11 12
StaatsAN, R V Nr. 2252 vom 19. Juni 1641, fol. 64 r . Ebd., RV Nr. 2254 vom 2. August 1641, fol. 37 v . Johann Jacob Schübler d . Ä . wurde 1651 in Straßburg als Sohn des Straßburger Ratsbeisitzers und Notars Christoph Schübler geboren. Nach ausgedehnten Reisen in mehrere Städte des Alten Reichs sowie einem 12jährigen Aufenthalt in Frankreich als Hofmeister begab er sich zurück nach Deutschland und studierte unter anderem in Leipzig, Halle und Jena. Anfang der 1680er Jahre kam er nach Nürnberg, wo er am 13. November 1683 Maria Elisabeth Hengel, die Tochter des erwähnten Georg Hengel d.Ä., heiratete. Nach Auskunft des Proklamationsbuchs von St. Sebald war der als »ehrsam und gelehrt« bezeichnete Schübler nicht nur »Französischer Sprachmeister«, sondern auch gelernter »Bortenmacher«, was dar-
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spielambitionen entwickelte: Erstmals versuchten sie im April 1687 mit ihrer aus Bortenmachergesellen bestehenden Truppe, »einige Comödien zu Wöhrd im Wirtshaus beim Mondschein« vorstellen zu dürfen, was jedoch auf wenig Gegenliebe beim Nürnberger Magistrat stieß. Dem Gespann und ihrer Gesellschaft wurde die ernste Mahnung übermittelt, »dieses Unternehmens sowohl in der statt als zu Wöhrd sich allerdings zuenthalten, hingegen bei seinen erlernten Handwerk zu bleiben und dadurch nebens andern seinen Mitgesellen Nahrung zu suchen«.13 Darüber hinaus befürchtete der Rat, daß Hengel nicht nur seinen Gesellen gegenüber ein schlechtes Vorbild abgebe, sondern auch so manch anderen zum Theater verleiten und auf Abwege bringen könne, wie etwa die Aufforderung an Hengel zeigt, er und sein Kompagnon Schübler sollten Bericht erstatten, »was für Burgers Kinder sie an sich gehenget und in ihre banda gezogen«.14 Auch in den folgenden Jahren scheiterte ihr Ansinnen immer wieder an der ablehnenden Einstellung des Rats, der ihnen mehrfach zu verstehen gab, daß man »keine Schrift von ihnen mehr annehmen«15 werde. Erst als der Bortenmachermeister und sein Schwiegersohn 1695/96 eine Spielerlaubnis der Ansbacher Herrschaft für den Marktflecken Fürth vorweisen konnten und damit ein gewisses Druckmittel besaßen, mußte der Rat ihnen widerwillig einige Aufführungen im Fechthaus zugestehen, wobei er jedoch festhielt, dies geschehe nur deshalb, »damit die burgerschaft hier behalten und von besuchung der Wirtshäuser auf dem Land abgehalten werde«.16 An der grundsätzlichen Skepsis des Rats gegenüber den Theateraktivitäten der Laienspieler änderte dies jedenfalls nichts, wie etwa die Hinweise verdeutlichen, daß der Rat der Bortenmachertruppe 1695 lediglich zwei Stücke »auf eine Prob«17 erlaubte, oder im darauffolgenden Jahr beschloß, erst einmal abzuwarten, »wie der J. J. Schübler [...] sich mit seiner banda aufführe«. 18 Besonders empfohlen scheint er sich dabei allerdings nicht zu haben, denn
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auf schließen läßt, daß Schübler bei Georg Hengel d. Ä. möglicherweise als Geselle arbeitete (vgl. LKAN, S 26: Proklamationsbuch St. Sebald vom 7. Oktober 1683, S. 599). Als Sprachmeister trat er mit mehreren Publikationen hervor, darunter mit dem 1705 erschienenen »Kern der Unterweisung in der Französischen Sprach«. Sein gleichnamiger Sohn war der berühmte Architekt und Baumeister, nach dem heute noch eine Straße in Nürnberg benannt ist. Johann Jacob Schübler d. Ä. starb in Nürnberg im Alter von 74 Jahren und wurde am 6. April 1724 auf dem Rochusfriedhof im Grab der Familie Hengel beerdigt (vgl. LKAN, S 45: Bestattungsbuch St. Sebald vom 6. April 1724, S. 131, sowie Leichenjournal Rochus: KV 102, Grabnummer 63). Das Sterbejahr 1723, das Will im Gelehrtenlexikon angibt, ist demnach zu korrigieren. Vgl. N G L 3 (1757), S. 191f„ u. 8 (1808), S. 141-143. StaatsAN, RV Nr. 2865 vom 29. April 1687, fol. 13r. Ebd., RV Nr. 2974 vom 3. Juli 1695, fol. 57r. Ebd., RV Nr. 2876 vom 9. März 1688, fol. 53r. Ebd., RV Nr. 2982 vom 7. Februar 1696, fol. 45r. Ebd., RV Nr. 2975 vom 18. Juli 1695, fol. 5r. Ebd., RV Nr. 2984 vom 13. April 1696, fol. 83r"v.
584 nach zehn Aufführungen entzog man der Truppe von Schübler und Hengel wieder die Spielerlaubnis, »da sie von ihren actionen mehr Schaden als Nutzen haben«. 19 Doch der Bortenmachermeister und sein Schwiegersohn ließen sich nur schwer von ihrer Leidenschaft abbringen. In der Folgezeit mußte der Rat ihnen mehrfach eindringlich nahelegen, das Theaterspielen gänzlich sein zu lassen und bei ihrem Handwerk zu bleiben. Um dem Nachdruck zu verleihen, erinnerte man zudem Schübler, der als gebürtiger Straßburger kein Nürnberger Bürgerrecht besaß und lediglich den Status eines Schutzverwandten des Rats genoß, öfters an seine unsichere Rechtsstellung in Nürnberg und drohte sogar damit: »des Schieblers als eines unruhigen Menschens sich los [zu] machen«. 20 »Sau-spiele« und »grobe Narrenpossen« Diese Episoden aus dem Nürnberger Theaterleben des 17. Jahrhunderts sind durchaus beispielhaft für eine Reihe ähnlich verlaufender Fälle. Zugleich verweisen sie auf die Motive, die hinter dem restriktiven Vorgehen des Rats stehen. Denn die Hinweise auf die mangelnde Spielqualität der Handwerker machen deutlich, daß der obrigkeitliche Argwohn gegenüber dem Laienspiel der Handwerker in erheblichem Maße aus der spezifischen Art ihrer Darbietungen resultierte - und dies in zweierlei Hinsicht: Zum einen verfügten sie weder über das künstlerische Potential noch über die entsprechende Ausstattung wie etliche der in der Reichsstadt gastierenden Wandertruppen. Doch gerade derartige Qualitäten waren im 17. Jahrhundert bei der Vergabe der Spielgenehmigungen immer wichtiger geworden. Wie gezeigt, spielten seit dem Auftreten von Berufskomödianten der Ruf und das Niveau der jeweiligen Truppe eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Entscheidungen des Rats. Man holte Erkundigungen ein, verglich das Repertoire sowie die Ausstattung mit Kostümen und Requisiten oder ließ zunächst nur ein Spiel auf Probe zu. Hieraus resultierte ein beachtlicher Konkurrenzdruck, dem die Laienspieler nicht gewachsen waren.21 Darüber hinaus (und dies scheint noch bedeutsamer gewesen zu sein) entsprachen die Darbietungen der Handwerker in keiner Weise den zeitgenössischen Vorstellungen von >wohl eingerichtetem und >lehrreichen< Schauspielen, die man in den Poetiken auf eine ethische Wirkung und religiös-moralische Ziele verpflichtete.22 In den derb-komischen Stücken der Handwerker lebten dagegen vielmehr Spieltraditionen fort, die noch weitge19 20 21 22
Ebd., RV Nr. 2986 vom 14. Mai 1696, fol. 4 r . Ebd., RV Nr. 3052 vom 11. Mai 1701, fol. 51 r . Siehe hierzu auch Teil A, Kap. 2. Vgl. Alexander: Barockdrama, S. 62ff., und Aikin: German Baroque Drama, S. 9 3 98.
585 hend vom Fastnachtsspiel sowie den spezifischen Formen der Lachkultur des Spätmittelalters und deren Betonung des Materiell-Leiblichen und des Grotesk-Komischen geprägt waren. Doch nicht nur die gelehrten Dichter und Poetiker des 17. Jahrhunderts sahen gerade darin abschreckende Relikte aus einer >barbarischen< Zeit und verurteilten diese vielfach als mißbräuchliche »Sau-spiele« 23 oder »Unflätereyen« und »grobe Narrenpossen«. 24 Auch der Nürnberger Rat war seit etwa 1600 nicht mehr gewillt, derartige Formen des Schauspiels zu dulden, die noch 100 Jahre zuvor zum festen Bestandteil der karnevalistischen Festkultur während der Fastnachtszeit gehörten: So hatte man bereits die Gesuche der verschiedenen Meistersingertruppen insbesondere deshalb abgelehnt, »weil allerlei leichtfertigkeit dabei getriben wirdt«. 25 Hinzu kam, daß es bei den Aufführungen der Handwerker offenbar oftmals allzu hoch und ausschweifend herging sowie gelegentlich dabei sogar die Einrichtung der Spiellokale zu Bruch ging, wie einigen Ratsverlässen zu entnehmen ist.26 In später Zeit reißen die Klagen über die (in den Augen der Obrigkeit) sittlich äußerst zweifelhaften Inhalte und Darbietungsformen der Laienspiele nicht ab. Immer wieder sah sich der Rat gezwungen, gegenüber den Handwerkern Verweise und Warnungen auszusprechen. Daß dabei gerade die Darbietungsweise der Handwerkerkomödien sowie deren mangelnde sittliche Qualität ausschlaggebend waren, verdeutlicht ein Erlaß aus dem Jahr 1646, als man das Spielgesuch des Meistersingers Heinrich Flemming und seiner Truppe mit der Begründung abwies, »weilen sie die leut nit sein, die bei der jugend grossen nutzen schaffen können«. 27 Damit gerieten die Laienspiele jedoch in einen Gegensatz zur obrigkeitlichen Zweckbestimmung des Theaters. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Nürnberger Magistrat im Rahmen einer Kulturpolitik ex negativo bestrebt war, das Theaterwesen in der Reichsstadt sowohl unter Kontrolle zu bringen als auch auf bestimmte Funktionen und Ausdrucksformen (etwa mittels der Zensur) festzulegen: Dem Theater wurde aufgrund seiner sozialpolitischen Funktionen zwar eine wichtige Rolle zugebilligt. Die Schauspiele sollten sich jedoch in einem bestimmten Rahmen bewegen, d.h. wenn mög23 24 25 26
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Birken: Dicht-Kunst, S. 335. Morhof: Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie, S. 348. StaatsAN, RV Nr. 1719 vom 29. Dezember 1600, fol. 48r. So ermahnte etwa der Rat 1603 die Meistersinger eindringlich, ihr Spiellokal in der Marthakirche »nit, wie ihr gebrauch ist, zu verwüsten« (ebd., RV Nr. 1747 vom 9. Februar 1603, fol. 69 v ). Ebd., RV Nr. 2321 vom 18. August 1646, fol. 93r. Diese Kritik spiegelt sich auf indirekte Weise in etlichen Gesuchen der Handwerker wider: So bemühten sich (wie gezeigt) etwa Ende der 1620er Jahre die Meistersinger darum, ihnen offenbar entgegengebrachte Vorwürfe dadurch zu entkräften, daß sie demgegenüber auf die besonderen Qualitäten und die lange Tradition ihres Spiels verwiesen - ohne Erfolg allerdings. Siehe hierzu Teil A, Kap. 1.1.
586 lieh lehrreich und moralisch wertvoll sein, in jedem Fall aber alle anstößigen, zotigen, derb-komischen sowie schamlosen Inhalte und Darbietungsweisen vermeiden (siehe dazu Teil A, Kap. 2.). Sozialdisziplinierung Gewiß, von der obrigkeitlichen Einflußnahme waren nicht allein die einheimischen Theaterkräfte, sondern auch die Gastspiele fahrender Wanderbühnen betroffen, bei denen man ebenfalls allzu drastische und derb-komische Darbietungen vor allem mittels Präventivzensur zu beschränken suchte und Übertretungen gegebenenfalls entsprechend ahndete. Im Gegensatz zu den Gastspielen der Wandertruppen kam jedoch bei den einheimischen Theaterunternehmungen der Handwerker und Krämer noch ein wichtiges und in diesem Zusammenhang entscheidendes Moment hinzu: Anders als die auswärtigen Gesellschaften waren sie Nürnberger Bürger. Ihnen gegenüber verstand sich der Rat als Obrigkeit, die gerade im 17. Jahrhundert versuchte, mehr und mehr alle Bereiche des Alltags und sozialen Lebens zu regulieren und über die öffentliche Moral und den Lebenswandel der Bürger zu wachen. Von daher konnte der Rat nicht erfreut sein, wenn Handwerksmeister versuchten, sich mehr schlecht als recht vor großem Publikum und gegen Entgelt auf Theaterbühnen zu profilieren, und darüber nicht nur ihre Geschäfte vernachlässigten, sondern möglicherweise auch noch ihre Gesellen zu Müßiggang verleiteten. Die ablehnende Haltung des Rats resultierte von daher zu einem Großteil aus dem Willen zur »Sozialdisziplinierung« (Gerhard Oestreich) der als Untertanen verstandenen Bürger. Dies belegen insbesondere die Aufführungsverbote, die oftmals zugleich mit disziplinierenden und maßregelnden Anweisungen zur richtigen Lebensführung an die theaterbegeisterten Handwerker verbunden wurden: So lehnte der Rat etwa Ende August 1609 das Spielgesuch von Hans Mühlgraf, Dietrich Carl und Hieronymus Lederer nicht nur rundweg ab, sondern rügte die drei Goldschmiedemeister zudem, »sie sollen sich auf etwas bessers und nuzlichers begeben und nit nur auf den Müssigang legen«. 28 Der Bortenmacher Georg Hengel d. Ä. mußte sich, wie oben gezeigt, mehrfach die Ermahnung gefallen lassen, er solle bei seinem erlernten Handwerk bleiben. Kaum wohlwollender stand man den Aktionen verschiedener Wundärzte gegenüber, die zu Beginn des Jahres 1699 glaubten, sich auf dem Marktplatz »des Comoedienagirens anmassen«29 zu können. Dabei dürften diese Disziplinierungstendenzen zum Teil auf die obrigkeitliche Fürsorgepflicht zurückzuführen sein, da man in den Theaterabenteuern der Handwerker offenbar die Gefahr einer Verschuldung sah, wie die (oben 28 29
StaatsAN, RV Nr. 1833 vom 31. August 1609, fol. 55r. Ebd., RV Nr. 3029 vom 11. Januar 1699, fol. 34v.
587 zitierte) Warnung an Georg Hengel d.Ä. zeigt, er habe von seinen Schauspielen mehr Schaden denn Nutzen - und dieser Hinweis auf das finanzielle Risiko der Theaterleidenschaft war keineswegs unbegründet (vgl. das folgende Kapitel). Doch nicht zuletzt das Beispiel Georg Hengeis d. Ä. macht deutlich, daß obrigkeitliche Sozialdisziplinierung und Kontrolle nicht ohne weiteres durchzusetzen waren und auf erhebliche Widerstände stießen. Denn der Bortenmacher und sein Schwiegersohn Schübler ließen sich durch die Ratsverbote keineswegs von ihren Schauspielaktivitäten abhalten und veranstalteten heimlich nicht genehmigte Aufführungen in Privathäusern.30 Der Magistrat sah sich deshalb mehrfach gezwungen, seinen ablehnenden Standpunkt zu unterstreichen und sowohl Hengel als auch Schübler daran zu erinnern, »daß sie besser thun würden, wann sie sich zur verkaufung ihrer Kleider und Comoedienvorrats resolvirten und Jre erlernete Nahrung und Beruff treiben möchten«.31 In diesem Zusammenhang ist sicherlich bemerkenswert, daß eines der im 17. Jahrhundert häufig gespielten Barockdramen gerade diese Auseinandersetzung zum Thema hat: Schon früh hat man daraufhin gewiesen, daß Andreas Gryphius' Drama Absurda Comica Oder Herr Peter Squentz32 mit seiner Darstellung der mißglückten Aufführung der antiken Pryamus-undThisbe-Sage durch die Figur des Peter Squentz und dessen HandwerkerLaientruppe vor höfischem Publikum auf eine Verhöhnung der Meistersinger und ihrer dilettierenden Theaterambitionen in der Tradition von Hans Sachs abhebt.33 Schon der bezeichnende Titel des Schimpfspiels ziele »auf die Verspottung der veralteten bürgerlichen Kunstübung«.34 Dabei ist innerhalb der Gryphius-Forschung betont worden, daß einer derartigen vor allem mittels parodistischer Verfahren der Über- und Untererfüllung erzeugten Kritik am Laienspiel der Handwerker als zentrales Thema der allgemeine Problemkomplex der Geltung und Überschreitung von anerkannten Nonnen zu Grunde liege und dem Stück wichtige politisch-gesellschaftliche Funktionen innewohnten.35 Hinter dem Verlachen des Handwerkerspiels im Stile der 30 31 32
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Vgl. ebd., RV Nr. 2965 vom 13. November 1694, fol. 79Y. Ebd., RV Nr. 2999 vom 7. Mai 1697, fol. T. Andreas Gryphius: Absurda Comica Oder Herr Peter Squentz. Schimpfspiel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Gerhard Dünnhaupt u. Karl-Heinz Habersetzer. Stuttgart 1983 (RUB 7982). Vgl. dazu Friedrich Meyer von Waldeck: Der Peter Squentz von Andreas Gryphius eine Verspottung des Hans Sachs. In: Vierteljahrschrift für Literaturgeschichte 1 (1888), S. 195-212, sowie erneut Gerhard Kaiser: Absurda Comica. Oder Herr Peter Squentz. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hg. v. ders. Stuttgart 1968, S. 207-225, bes. S. 214-216. Kaiser: Comica, S. 216. Vgl. Mannack: Gryphius, S. 89, sowie ausführlich ders.: Politisch-gesellschaftliche Strategie der Peter Squentz-Komödie. In: Theatrum Europaeum. Festschrift für
588 Meistersinger stehe die Intention, die dilettantische Theaterambitionen der Laientruppe primär als normverletztendes Verhalten zu brandmarken. Das Stück verweise von daher mit seiner Kritik auf die sozialpolitische Ordnungsvorstellung, »daß jeder die als naturgegeben anzusehenden Standesgrenzen uneingeschränkt respektiert und seine Aufgaben ganz in diesem hierarchisch geordneten Gesellschaftssystem erfüllt«. 36 Diese (hier nur angedeuteten) gesellschaftspolitischen Aspekte des Squentz-Stückes sind um so aufschlußreicher, als es sich bei der Absurda Comica um ein Drama handelt, dessen Stoff mit Nürnberg auf beziehungsreiche Weise verbunden ist und der in der Reichsstadt allem Anschein nach in einem von dem Altdorfer Professor Daniel Schwendter verfaßten Spiel zur Aufführung gelangte, in der ebenfalls eine Verspottung des handwerklichen Meistersangs im Mittelpunkt gestanden haben dürfte. 37 Elitenkultur und Lachfeindlichkeit Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Squentz-Stückes wird deutlich, daß die Auseinandersetzung zwischen der Nürnberger Obrigkeit und den leidenschaftlichen Laienspielern nicht isoliert von größeren Zusammenhängen gesehen werden kann und diesem Vorgang innerhalb der reichsstädtischen Theatergeschichte wichtige sozialpolitische und gesellschaftliche Bedeutung innewohnt. Man wird wohl in der Annahme nicht fehlgehen, daß sich in der restriktiven Vorgehensweise des Rats gegen die Theaterambitionen der Handwerker ein allgemein sich in der Frühen Neuzeit vollziehender sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Vorgang widerspiegelt, der zu einem weitreichenden Wandel auf politischer, gesellschaftlicher und geistiger Ebene führte und seit den Studien Norbert Elias' und Gerhard Oestreichs insbesondere mit den Begriffen »Prozeß der Zivilisation« und »Sozialdisziplinierung« beschrieben wird. 38 Diese Überlegungen bilden den Hintergrund bei den Deutungen verschiedener Historiker und Soziologen, die in den umfassenden obrigkeit-
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Elida Maria Szarota. Hg. v. Richard Brinkmann, Karl-Heinz Habersetzer, Paul Raabe u.a. München 1982, S. 311-323. Mannack: Strategie, S. 320. Siehe zu diesem Komplex auch das weiterführende Kapitel »Der Pedant in der Komödie: zur ästhetischen Vermittlung sozialer Normen in Andreas Gryphius' »Horribilicribrifax«« bei Kühlmann: Gelehrtenrepublik, S. 400422, der die Funktion des »Scherzspiels« als Kennzeichnung von »Normerfüllung und Normverstoß« sowie als »Vermittlung defekter Wirklichkeit« (ebd., S. 402 u. 404) hervorhebt. Vgl. Gerhard Dünnhaupt u. Karl-Heinz Habersetzer: Nachwort. In: Gryphius: Absurda Comica, S. 65-75. Vgl. dazu die Ausführungen in Teil A, Kap. 2., sowie den resümierenden Überblick bei Roeck: Lebenswelt, S. 101-107, und den Abschnitt »Der Prozeß der Zivilisation: Disziplin und Eigensinn« bei van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 2, S. 274284.
589 lichen Disziplinierungs- und Erziehungsmaßnahmen einen spannungsgeladenen Vorgang sahen, in dessen Verlauf die althergebrachte >Volkskultur< mit einer von den Obrigkeiten propagierten >Elitenkultur< in Konflikt geraten sei: Während etwa der französische Historiker Robert Muchembled diesen Prozeß als eine gewaltsame Auseinandersetzung interpretierte, die einen »kulturelle[n] Verdrängungsprozeß« darstelle und eine »Unterdrückung der Volkskultur«39 mit sich gebracht habe, deren Ziel »das reibungslose Funktionieren des neuen Herrschaftsapparats war«,40 gehen andere Forscher hierbei zurückhaltender von einer »Reform der Volkskultur« aus. In diesem Sinn äußerte sich etwa der Engländer Peter Burke, der für die Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts von »systematischen Versuche[n]« spricht, die von »Mitgliedern der gebildeten Klasse [...] unternommen wurden, um die Einstellungen und Wertsetzungen der restlichen Bevölkerung zu verändern«.41 Die Führungseliten hätten eine »Kultur der Frommen«42 verbreitet, deren Ethik »die der Wohlanständigkeit, des Fleißes, der Ernsthaftigkeit, Bescheidenheit, Ordnung, Klugheit, Vernunft, Selbstkontrolle, Nüchternheit und Sparsamkeit«43 gewesen sei. Wenngleich man nicht in allen Lebensbereichen von einer strengen Dichotomie ausgehen kann und es zudem erhebliche regionale Unterschiede im Alten Reich gegeben haben dürfte: 44 Im Fall der Nürnberger Theaterereignisse des 17. Jahrhunderts scheint sich die These von der konfliktträchtigen Auseinandersetzung zwischen einer eher populär geprägten Kulturtradition und den elitären, offiziellen Kulturformen zu bestätigen, wobei hier Tendenzen der Reform und Unterdrückung Hand in Hand gehen und kaum voneinander getrennt werden können. Denn neben den belegbaren, reformatorisch ausgerichteten Bestrebungen des Nürnberger Rats, eine von allem Obszönem und Zotigem gereinigte und den sittlich-ästhetischen Geschmacksvorstellungen der patrizischen Obrigkeit entsprechende Theaterform durchzusetzen (siehe Teil A, Kap. 2.), ist innerhalb der hier beschriebenen Auseinandersetzung nicht minder eine (zumindest versuchte) Ver- bzw. Zurückdrängung volkstümlicher Schauspieltradition nachzuweisen, die deutliche Züge eines offen ausgetragenen Konflikts trägt. Dies zeigt insbesondere das Vorgehen der Obrigkeit gegen die Theaterambitionen der Handwerker
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Muchembled: Kultur des Volkes, S. 181. Ebd., S. 183. Peter Burke: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. Hg. und mit einem Vorwort v. Rudolf Schenda. Stuttgart 1981, S. 221. Ebd., S. 236. Ebd., S. 227. Vgl. zu diesem Komplex auch van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 2, S. 144f. Siehe hierzu den differenzierenden Abschnitt »Widerstände der Volkskultur« bei Winfried Schulze: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1500-1618. Frankfurt a.M. 1987 (es 1268), S. 264 - 273.
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aus dem Umfeld der Meistersinger, bei dem sogar zum Teil massive Strafandrohungen ausgesprochen wurden. Festzuhalten bleibt jedoch, daß die Tendenz zur Unterdrückung keineswegs mit einer sofortigen und vollkommenen Verdrängung gleichzusetzen ist. Hierauf verweisen schon die vielfachen Mahnungen und Verbote des Rats in dieser Sache, die angesichts anhaltender Überschreitungen immer wieder erneuert werden mußten und auch im Bereich der Theaterkultur den langlebigen »Widerstand der Volkskultur gegenüber der versuchten umfassenden Konfessionalisierung und Disziplinierung«45 zum Ausdruck bringen. Auch darf nicht vergessen werden, daß die kontinuierlich betriebene und nach langen, fast das gesamte Jahrhundert andauernden Querelen schließlich weitgehend erfolgreiche Verdrängung des handwerklichen Laienspiels einen kulturellen Verlust darstellte. Eine Tatsache, die bereits den Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts bewußt war, wie die eingangs dieses Kapitels zitierten Worte Georg Andreas Wills verdeutlichen. Dabei mag bei dem Vorgehen des Nürnberger Magistrats ein Aspekt eine wichtige Rolle gespielt haben, auf den bereits der russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin in seiner Studie zu Rabelais und seine Welt aufmerksam gemacht hat. Denn nach Bachtin, der ebenfalls für die Zeit seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert einen Konflikt zwischen einer noch mittelalterlich geprägten >Volkskultur< und der >neuen Elitenkultur< konstatiert, geht diese Auseinandersetzung einher mit einem »Verfallsprozeß«46 des Lachens, in dessen Verlauf seit etwa 1600 die noch weit ins 16. Jahrhundert hinreichenden, spätmittelalterlichen Formen der Lachkultur mehr und mehr durch eine von den Obrigkeiten getragene, seriöse und lachfeindliche Kultur verdrängt worden seien.47 Ausschlaggebend hierfür seien insbesondere die spezifischen Wirkungsweisen des Lachens gewesen, das nach Michail Bachtin - wie bereits erwähnt - sich allen Versuchen der Kontrolle entziehe und auf eine Degradierung jeglicher Formen von Ernst und Autorität abziele. Denn nach Bachtin sind die bevorzugten Gegenstände des Lachens nicht nur die Bereiche des Materiell-Leiblichen, Obszön-Sexuellen und Grotesk-Komischen, sondern das Lachen bedeute auch eine »Form der Verteidigung nach außen« und schütze »vor äußerer Zensur, vor Repressionen und dem Scheiterhaufen«. Von daher habe es »nie zum Werkzeug der Unterdrückung und Bewußtseinsmanipulation werden, von offizieller Seite nie ganz vereinnahmt werden«48 können. 45 46 47 48
Ebd., S. 268. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 45. Vgl. ebd., S. 149f. Siehe dazu auch Teil A, Kap. 2. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 143. In ähnlicher Weise hat auch Joachim Ritter: Über das Lachen (1940). In: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a.M. 1974 (Bibliothek Suhrkamp, Bd. 379), S. 62 - 92, die jeder Autorität und disziplinierenden Ordnungsprinzipien entgegenstehenden Wirkungsweisen des Lachens be-
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Angesichts dessen verwundert es nicht, daß insbesondere das Lachen im Theater Gegenstand der obrigkeitlichen Beanstandung und Regulierung gewesen ist, wie jüngst Manfred Pfister vor dem Hintergrund des frühneuzeitlichen Theaters in England unterstrichen hat.49 Die Kritiker zogen gegen das unzüchtige, blasphemische und subversive Lachen auf den Bühnen zu Felde und versuchten, es »in gesonderten Nischen oder Institutionen zu marginalisieren und damit kontrollierbar zu machen« sowie »zu disziplinieren und damit neuen ethischen und ästhetischen Standards akzeptabel zu machen«.50 Davon betroffen war insbesondere die noch spätmittelalterlich geprägte Kultur des Laienspiels und deren possenhafte und derb-komische Stücke: »Es ging darum, das volkstümliche Erbe normenunbekümmerter Spieltraditionen zu exorzieren oder es zumindest soweit zu kupieren, daß es nicht mehr in flagrantem Gegensatz zu den neuen [...] Regeln einer klassizistischen Dramentheorie stand.«51 Derartige Aspekte dürften wohl ebenfalls eine Rolle gespielt haben, wenn der Nürnberger Rat seit etwa 1600 bestrebt war, die Handwerker von der Bühne zu verdrängen, um ihnen damit für ihre derb-komischen Stücke in der Tradition des Fastnachtsspiels kein größeres öffentliches Forum mehr zu geben. Und dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, daß die Laientruppen aus dem Umfeld der Meistersinger bei ihren Aufführungen offenbar die Theaterbühne als Medium nutzten, Nürnberger Patrizier lächerlich zu machen, wie es etwa von der Aufführung der Comedi von den Crocodilstechen belegt ist.52 Vom Handwerker zum Wanderbühnen-Prinzipal Äußerst bemerkenswert in dieser Auseinandersetzung zwischen der reichsstädtischen Obrigkeit und den verschiedenen Laienspielertruppen ist das mehrfach zu beobachtende Phänomen, daß einige Handwerker versuchten,
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schrieben: »Der Lachende ist auch der Thersites und das Lachen die Bewegung des Spottes, die sich an Großes und Hehres hängt, um es in die Lächerlichkeit herabzuziehen und kleinzumachen. [...] so wird man doch zumindest das eine festhalten und zugeben müssen, daß nämlich das Lächerliche nie das Geordnet-Vollendete oder das für das Dasein je Maß gebende Schöne und Gute, sondern immer von der Art dessen ist, was herausfällt, dem Gehofften und Erwarteten entgegenläuft, was aus der Reihe tanzt und das, was sein will oder soll, zum Schein macht als das dem Ernst und der allgemeinen Ordnung der Dinge und des Lebens schlechthin Entgegenstehende« (ebd., S. 63). Vgl. Pfister: Inszenierungen des Lachens, S. 227f., sowie ders.: Lachkultur und Theater, S. 215-222. Pfister: Lachkultur und Theater, S. 215. Dabei gingen diese Bestrebungen, wie Pfister gezeigt hat, keineswegs nur von Obrigkeiten oder Geistlichen, sondern auch von Theatermachern und Dramatikern aus. Ebd., S. 216. Vgl. Teil A, Kap. 1.1.
592 den ihnen als Laienspielern entgegengebrachten Vorurteilen und Restriktionen offenbar dadurch zu entgehen, daß sie - zumindest zeitweise - ihre herkömmliche Arbeit aufgaben und das Theaterspielen zu ihrem Beruf machten. Dabei bewiesen etliche von ihnen ein erstaunliches Maß an Mut: Sie gründeten als Prinzipale eigene Banden und zogen mit ihren Wandertruppen auf Tournee in andere Städte oder verbanden sich mit den Gesellschaften bekannter Komödianten. Dies ist um so erstaunlicher, als sie neben den finanziellen Risiken und existentiellen Unwägbarkeiten, die sich aus der wirtschaftlich prekären Lage des von obrigkeitlicher Gunst, Publikumszuspruch und politischen Situationen abhängigen Komödiantentums ergaben, die gesellschaftliche Diskriminierung des Schauspielerstandes in Kauf nahmen - eines Stands, der in Polizeiordnungen in einem Zuge mit Verbrechern genannt wurde und einer erheblichen sozialen Deklassierung ausgesetzt war. 53 Die Auslöser für diese ungewöhnliche Entscheidung mögen dabei jeweils verschieden und zum Teil insbesondere privater Natur gewesen sein. Auch mag manchen der Reiz des Exotischen und des Abenteuers der Bühnenwelt verleitet haben. Eine nicht unerhebliche Rolle dürfte dabei womöglich die Hoffnung gespielt haben, sich durch die Hinwendung zum professionellen Schauspielgewerbe und die damit verbundene weitgehende Aufgabe des bürgerlichen Berufs stärker vom Laienspiel distanzieren zu können und so die ihnen zuvor als Handwerker und Freizeitmimen entgegengebrachten Vorurteile besser entkräften zu können - eine Hoffnung, die sich für viele jedoch oftmals als trügerisch erwies und zumeist mit einem Schuldenberg endete. Eine derartige Laufbahn vom Handwerker zum Wanderbühnen-Prinzipal schlug etwa der schon mehrfach erwähnte Nürnberger Goldschmiedemeister Hans Mühlgraf ein, der sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts zunächst vergeblich bemüht hatte, mit seinen Gesellen Stücke aufführen zu dürfen. Trotz der verweigerten Spielgenehmigungen ließ Mühlgraf jedoch nicht von seinen Theaterplänen ab und versuchte zudem, sich weiter zu qualifizieren, indem er sich nebenbei als Tanzmeister verdingte. Schließlich gab er seinen ursprünglichen Beruf offenbar weitgehend auf und gründete mitten im Dreißigjährigen Krieg als einer der ersten deutschen Prinzipale ein aus heimischen Gesellen und Kunsthandwerkern zusammengesetztes, semi-professionelles Ensemble, mit dem er auf Tournee ging.54 Dabei ist in seinen 53
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Siehe hierzu Gerhard Brückner: Die rechtliche Stellung der Bühnenkünstler in geschichtlicher Entwicklung. Diss. Greifswald 1930, bes. S. 3 4 - 4 7 ; Meyer: Wanderbühne, S. 190-198, sowie die grundlegende Studie von Schubart-Fikentscher: Stellung der Komödianten, S. 5 - 4 1 u. passim. Siehe hierzu allgemein die Studie von Rudin: Hans Mühlgraf, S. 15f£ Nach Rudin seien Mühlgrafs Theaterambitionen vor allem dadurch bestärkt worden, daß dem Goldschmied aufgrund einer Affäre um einen »vorehelichen Sündenfall das Fortkommen im erlernten bürgerlichen Beruf« erheblich erschwert worden und ihm so der »Sprung aufs ohnehin geliebte Theater« (ebd., S. 17) leichter gefallen sei.
593 Spielgesuchen an die Obrigkeiten die Tendenz zu erkennen, sich bewußt vom Laienspiel abzugrenzen und nicht als dilettantischer Gelegenheitsmime angesehen zu werden: So rühmte er etwa gegenüber dem Nürnberger Rat die künstlerische Qualität seiner Truppe und hob die Besonderheit seines Repertoires hervor: »Lasse auch aus Italia der berühmtesten Comödienschreiber ihre Comödien hiehero bringen und in Teutsch übersetzen und transferieren, damit ich immer etwas Neues und Lustiges haben und agiren möge.« 55 Eine ähnliche Strategie verfolgte der oben erwähnte Georg Hengel d.Ä.: Als es für den Bortenmacher fast aussichtslos wurde, eine Spielerlaubnis mit seinen Gesellen zu erreichen, und zugleich sein Schwiegersohn Schübler gar um das Aufenthaltsrecht in der Stadt fürchten mußte, versuchte Hengel ebenfalls, sich und seine Truppe vom Makel des handwerklichen Laienspiels zu befreien und demgegenüber die Professionalität seines Vorhabens herauszustellen. Zusammen mit Schübler verwies er auf die Qualität seiner Darbietungen, hob die »wegen der auf Kleider und Personen gewandten Kosten« 56 hervor und reichte eine Liste ein, auf der sich »verschiedene Hohe Standes Personen« 57 für die künstlerischen Fähigkeiten seines Ensembles verbürgten. Schließlich glaubten Hengel und Schübler, den Rat dadurch von ihrem Können zu überzeugen, daß sie sich etwa im Sommer 1700 in ihrem Gesuch darauf beriefen, »daß ein berühmter Comoediant, Ferdinand Egidi Paulsen, samt seinem weib und etlichen wolexercirten Personen mit ihm in gesellschaft zu tretten gewillet wären, wann ihm das agiren wieder erlaubet würde«. 58 Das Vorhaben Hengeis, sich mit der berühmten Truppe von Paulsen zu verbinden, gelang jedoch nicht. Allerdings erreichte der Bortenmacher, sich mit seinen Leuten den Ende Juni 1700 in der Stadt angekommenen Komödianten unter der Direktion von Christian Müller, der einige Jahre zuvor kurzfristig zur Truppe von Hengel gehört hatte, anzuschließen und mit dieser in der Zeit vom 20. Juli bis 13. September gemeinsam 17 Aufführungen auf der Bühne im Fechthaus vorzustellen. 59 Ärger gab es allerdings auch diesmal: Der Rat nahm Anstoß an den offenbar allzu derben Darbietungen und drohte mit dem Entzug der Spielgenehmigung. Hierzu kam es jedoch nicht mehr. Denn Christian Müller mußte sein Gastspiel vorzeitig abbrechen und die Stadt verlassen, da er »schulden halber nicht länger stehen konnte«. 60
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Zitiert nach Baader: Geschichte des Theaters in der Reichsstadt Nürnberg, Nr. 142, S. 482, Sp. 2. StaatsAN, RV Nr. 2972 vom 14. Mai 1695, fol. 77r. Ebd., RV Nr. 2966 vom 28. November 1694, fol. 27v. Ebd., RV Nr. 3040 vom 12. Juni 1700, fol. 20r. Vgl. StaatsAN, Rep. 53: Ämterrechnungen der Reichsstadt Nürnberg, Abt. V, Bd. 44 (1700), fol. 10r. Ebd., fol. 10v.
594 Als Kompagnon von Müller wird Hengel von den finanziellen Forderungen sehr wahrscheinlich ebenfalls betroffen gewesen sein. Gewöhnlich hafteten die Prinzipale gegenüber der jeweiligen Stadt und potentiellen Gläubigern mit ihrem gesamten Hab und Gut. 61 Dabei hatten sich Hengeis Aktivitäten als Theaterimpresario insgesamt alles andere als lukrativ erwiesen: Nach den Belegen des Kriegsamts konnte er in rund 15 Jahren gerade mal 30 Aufführungen in Nürnberg öffentlich vorstellen. Eine äußerst magere Ausbeute, wenn man bedenkt, daß beispielsweise 1695 Ferdinand Egidius Paulsen mit seiner Gesellschaft allein während seines vier Monate dauernden Gastspiels 33 Vorstellungen im Fechthaus durchführte. 62 Die fehlgeschlagene Zusammenarbeit mit der »Comödianten Bande« von Christian Müller bedeutete jedenfalls das Ende der Theaterkarriere von Hengel. Zwar versuchte der Bortenmacher nochmals eine Spielgenehmigung zu erhalten. Er scheiterte jedoch an der ablehnenden Haltung des Rats. Im Frühjahr 1706 schließlich starb Georg Hengel d. Ä., ohne daß er nochmals in Nürnberg öffentlich als Komödiant auf der Bühne im Fechthaus aufgetreten war.63 Der Name Hengel sollte noch einige Jahre weiterleben in der Nürnberger Theatergeschichte und dem Rat manch Kopfzerbrechen bereiten. Denn gemeinsam mit Hengeis Sohn, Georg Hengel d. J., gelang es dem sprachbegabten Schübler seit etwa 1710 bis zu seinem Tod im April 1724, mit einem zusammengestellten Ensemble mehrere Male im Fechthaus aufzutreten. Dabei setzte Schübler die schon von Georg Hengel d. Ä. eingeschlagene Strategie fort und verband sich mit auswärtigen Gesellschaften, darunter mit der Truppe von Catharina Elisabeth Velten. Nach wie vor hatte er jedoch mit Vorurteilen und Restriktionen seitens der Obrigkeit sowie ständig drohenden Schulden zu kämpfen. 64 Welche Anziehungskraft das >Abenteuer Theater und Wanderbühne< auf Nürnberger Bürger trotz aller obrigkeitlichen Restriktionen und gesellschaftlichen Risiken ausübte, soll nun zum Abschluß des paradigmatischen Aufrisses der theatralen Kunst im Nürnberg des Barockzeitalters mit dem Werdegang eines Mannes etwas ausführlicher gezeigt werden, dessen Beispiel nicht nur ein Beleg für die vielen Facetten des Nürnberger Theaterlebens ist, sondern mit dem auch eine der schillerndsten, heute jedoch völlig vergessenen
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Vgl. Meyer: Wanderbühne, S. 195. Vgl. StaatsAN, Rep. 53: Ämterrechnungen der Reichsstadt Nürnberg, Abt. V, Bd. 40 (1695), toi. 3r. Vgl. LKAN, S 43: Bestattungsbuch St. Sebald vom 2. April 1706, fol. 250v. Zu Schüblers Aktivität als Prinzipal siehe Hampe: Theaterwesen, S. 138-141 u. 312ff., sowie Rudin: Der Prinzipal Benecke, S. 205f. u. 213f. Zusammen mit Georg Hengel d. Ä. und dessen gleichnamigem Sohn kann der theaterbegeisterte Schübler als signifikantes Beispiel für die »Verflechtung zwischen bodenständig-bürgerlichem Laienspiel und ambulantem Berufstheater« (ebd., S. 213 Anm. 183) in dieser Zeit gelten.
595 Figuren des Nürnberger Kulturlebens im ausgehenden 17. Jahrhundert verbunden ist: der gelehrte Buchhändler und Verleger Georg Scheurer.
6.2. Antiquar, Verleger, Prinzipal: der Modellfall Georg Scheurer Im Leben von Georg Scheurer deutete lange Zeit nichts auf eine spätere Laufbahn als schillernder Theaterimpresario und umstrittener Prinzipal einer »Nürnbergischen Comoedianten-Bande« hin. Der 1642 geborene Nürnberger stammte aus der Familie eines Rechen- und Schreibmeisters und wurde als Sohn von David Scheurer und dessen Frau Agnes am 26. Oktober 1642 in der Pfarrei St. Sebald getauft.65 Die gesellschaftliche Stellung der Schreibund Rechenmeister in Nürnberg galt als geachtet und bedeutete im allgemeinen eine wirtschaftlich gesicherte Existenz. Seit etwa 1600 waren die Schulhalter nicht nur verstärkt obrigkeitlichen Reglementierungen unterworfen, sondern hatten auch als soziale Gruppe ein ausgeprägtes Standesbewußtsein entwickelt und drangen auf Anerkennung ihrer Kunstfertigkeit und Gelehrtheit. Einige brachten es zum Teil zu respektablem Ansehen und schafften den Aufstieg in den Stand eines »Genannten des größeren Rats«.66 Aufgrund der Lehrertätigkeit seines Vaters dürfte Georg Scheurer schon früh eine grundlegende Schulausbildung erhalten haben, denn gemeinhin war es üblich, daß die Rechen- und Schreibmeister ihre eigenen Söhne unterrichteten.67 Wahrscheinlich durchlief er zudem das Egidiengymnasium, da seine Teilnahme an einer dortigen Schulaufführung bezeugt ist.68 Noch im Alter von 14 Jahren immatrikulierte sich Scheurer am 29. Juni 1657 an der Universität in Altdorf, wo er möglicherweise Jura studierte.69 Im August 1668 wechselte er (wie viele andere Nürnberger Söhne zu dieser Zeit) an die Universität nach Straßburg und schrieb sich in der medizinischen Fakultät ein.70 Nach nur wenigen Monaten (und offenbar ohne regulären Abschluß) verließ er allerdings die Straßburger Universität und kehrte Ende Dezember 1668 wieder in seine Heimatstadt zurück, wo er sich nun dauerhaft niederließ. Wie aus einer Notiz in Sigmund von Birkens Tagebuch hervorgeht, trat Scheurer zu Beginn des Jahres 1669 in den Dienst der Patrizierfamilie Löffel-
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Vgl. LKAN, S 8: Taufbuch St. Sebald vom 26. Oktober 1642, S. 531. Vgl. Heisinger: Schreib- und Rechenmeister, bes. S. 5 9 - 6 8 u. 80ff., sowie Endres: Rechenmeister, S. 151f£ Vgl. Heisinger: Schreib- und Rechenmeister, S. 8. Siehe unten Anm. 99. Vgl. Steinmeyer: Altdorfer Matrikel, Bd. 2, Nr. 9738, u. S. 494 Anm. 14. Vgl. Gustav C. Knod: Die alten Matrikeln der Universität Straßburg 1621-1793. 3 Bde. Straßburg 1897-1902 (Urkunden und Akten der Stadt Straßburg), Bd. 1, S. 641.
596 holz; möglicherweise hatte der Student dort eine erste Stelle als Hofmeister erhalten. 71 Ein »Randphänomen«?: Scheurer als gelehrter Buchhändler und Verleger In jedem Fall muß sich Georg Scheurer zur gleichen Zeit darum bemüht haben, sich (zumindest nebenher) ein Geschäft als Buchhändler und Verleger aufzubauen. Denn noch im Januar 1669 nimmt er hierfür erste Bestellungen an, darunter den bemerkenswerten Auftrag, einige der von Sigmund von Birken erstellten Dichterkrönungsurkunden in geringer Stückzahl zu verlegen: So berichtet Birken in seinem Tagebuch, daß Scheurer Anfang Januar »Stockfleths Diplom gebracht« 72 habe, worauf er ihm »vor Dori Wappen u Poetenbr[ief] samt Perment 2 F[lorin]« 73 auslegte. Und bereits Ende Februar notiert der Dichter erneut: »Scheuren das Dipl[oma] Poet[icum] zu ingroß[ieren] gegeben«. 74 Hierbei handelte es sich um die Dichterkrönungsurkunde Johann Ludwig Fabers, die Scheurer dann wenige Tage später bei Birken gegen ein Entgelt von zwei Gulden wieder ablieferte. 75 Diese Tagebuchnotizen sind nicht nur ein interessanter Hinweis dafür, daß die von Birken ausgestellten Dichterkrönungsurkunden neben der handschriftlichen Ausfertigung tatsächlich in geringer Stückzahl gedruckt worden sein müssen. Die Einträge im Tagebuch werfen zudem ein bezeichnendes Licht auf den Geschäftssinn des angehenden Buchhändlers, der sich kurz nach seiner Ankunft in Nürnberg und schon bei der Begründung seines kleinen Verlagsunternehmens mit Birken nicht nur den damals prominentesten Literaten in der Stadt, sondern auch »die literarische Schlüsselfigur der Jahre von 1650 bis 1680«76 in Deutschland als Kunden sicherte - wobei bemerkenswert ist, daß Birken den jungen Scheurer mit dem Verlag und Vertrieb der Dichterkrönungsurkunden beauftragte. Denn immerhin handelt es sich hierbei um wichtige rechtliche Dokumente, die als Ausdruck und Beleg für eine vollzogene juristische Handlung fungierten und mit denen sowohl weit-
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Georg Scheurer spricht das erste Mal am 28. Dezember 1668 bei Birken vor. Einen Monat später berichtet Birken von der Anstellung Scheurers bei der Familie Löffelholz: »H[err] Scheurer eingesprochen] mit bericht, das er werde in H[errn] Löffeih[olz'] Dienst treten«. Vgl. Birken: Tagebuch, Einträge vom 28. Dezember 1668 und 30. Januar 1669, Bd. I, S. 415 und 428. Welcher Art diese Stelle war und wie lange er sie bekleidete, läßt sich nicht mehr bestimmen. Birken: Tagebücher, Bd. 1, Eintrag vom 4. Januar 1669, S. 420. Es handelt sich hierbei um die Dichterkrönungsurkunde für Heinrich Arnold Stockfleth. Ebd., Eintrag vom 6. Januar 1669, S. 421. Ebd., Eintrag vom 21. Februar 1669, S. 446 (bei Kröll fälschlicherweise »Poet[icus]). Vgl. ebd., Eintrag vom 26. Februar 1669, S. 446. In der entsprechenden Anmerkung (Nr. 128) geht Joachim Kröll hierbei (wohl versehentlich) von der Dichterkrönung Simon Bornmeisters aus. Wiedemann: Sigmund von Birken, S. 325.
597 reichende rechtliche als auch gesellschaftliche Implikationen verknüpft sein konnten.77 Scheurer scheint jedenfalls seine Aufgabe zur Zufriedenheit Birkens erfüllt zu haben. Denn die Geschäftsbeziehung zwischen dem Dichter und dem Buchhändler war sowohl von Dauer als auch mannigfacher Art: Scheurer vervielfältigte nicht nur die Dichterkrönungsurkunden, sondern gab zudem einige der Birkenschen Werke heraus und kaufte für seinen Buchvertrieb etliche Schriften des Dichters an, der sich wiederum bei Scheurer gelegentlich verschiedene Bücher für den Eigenbedarf besorgte. Hinzu kommt, daß Birken über weitreichende Kontakte verfügte, die möglicherweise seinem Verleger zugute kamen.78 Dabei dürfte Scheurers Verbindung zu Birken über die rein geschäftliche Ebene hinausgegangen sein, wie etwa Tagebucheinträge nahelegen, die unter anderem von Scheurers Krankenbesuchen im Hause Birken berichten.79 Mitte der 1670er Jahre scheint Georg Scheurer seinen anfangs wahrscheinlich nur nebenbei betriebenen Buchhandel und Verlag ausgebaut und zu seinem Haupterwerb gemacht zu haben.80 Denn bei seiner Hochzeit mit Susanna Magdalena Engelhard im August 1676 und in den Jahren danach bei den Taufen seiner Kinder gibt er stets dieses Gewerbe als Beruf an, wobei sich in den Taufbüchern hierfür abwechselnd die verschiedenen Bezeichnungen »Bücherkrämer«, »Kunst- und Buchhändler« oder »Antiquar« finden. 81 Seit dem Jahr seiner Hochzeit wird Scheurer zudem im offiziellen Ämterbuch der Stadt Jahr für Jahr als »Kunstführer« registriert.82 Neben dem Buch- und Verlagshandel war er demnach im graphischen Gewerbe tätig und dürfte vor allem Kupferstiche der verschiedensten Art vertrieben haben 77 78
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Vgl. dazu Verweyen: Dichterkrönung, S. 7-29. So hat möglicherweise Birken für Scheurer den Kontakt zu einigen Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens hergestellt und ihm Aufträge vermittelt. Denn Scheurer gab in seinem Verlag unter anderem Simon Bornmeisters »Vertheidigte Cometen=Betrachtung« (Nürnberg 1681) sowie den »Vermischten Gedichte=Kranz« (Nürnberg 1682) von Christoph Fürer von Haimendorf heraus. Vgl. Birken: Tagebuch, Bd. 2, Einträge vom 17. und 18. Dezember 1676, S. 360f. Als Verleger und Buchhändler wird Georg Scheurer mit knappen (und nicht ganz fehlerfreien) biographischen Angaben vermerkt bei Lore Sporhan-Krempel u. Theodor Wohnhaas: Zum Nürnberger Buchhandel und graphischen Gewerbe im 17. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 13 (1973), Sp. 1068, sowie Josef Benzing: Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. Eine Neubearbeitung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 18 (1977), Sp. 1256. Zur Trauung von Scheurer siehe LKAN, L 42: Trauungsbuch St. Lorenz vom 21. August 1676, S. 249. Die Taufen seiner insgesamt neun Kinder sind verzeichnet: LKAN, L 25: Taufbuch St. Lorenz vom 26. April 1679, S. 361, sowie ebd., S 10: Taufbuch St. Sebald vom 9. Mai 1677, S. 65; vom 7. Mai 1680, S. 242; vom 5. September 1681, S. 311; vom 23. August 1682, S. 367; vom 21. Januar 1684, S. 451; vom 26. März 1686, S. 547; vom 8. November 1687, S. 609; vom 14. September 1690, S. 709. Vgl. StaatsAN, Rep. 62: Ämterbüchlein, Nr. 146 (1676), fol. 56v bis Nr. 224 (1705), fol. 56v.
598 darunter gestochene Porträts der kaiserlichen Familie, die er etwa im Januar 1677 Sigmund von Birken zum Kauf anbot.83 Als »Kunstführer« war Scheurer Teil des im 17. Jahrhundert »berühmte[n] Nürnberger Kunsthandel[s] mit seinen oft auf das trefflichste illuminierten Kupferwerken, namentlich auf dem Gebiet der Naturgeschichte und Geographie«.84 Wie aus der Angabe eines von ihm herausgegebenen Buchs hervorgeht, besaß er spätestens zu dieser Zeit für seinen Handel und Vertrieb ein eigenes Geschäftslokal, das sich »unter dem Rahthaus [!]«85 in der früheren Rathausgasse (heute Rathausplatz) befand und damit gleichsam im Zentrum des Nürnbergischen Buchhandels lag. Denn das »Rathausgäßlein« trug zu dieser Zeit auch den Namen »Buchgäßlein«, da dort und in der näheren Umgebung mehrere bedeutende Buchhandlungen und Verlage angesiedelt waren.86 Die Konkurrenz dürfte hier nicht gering gewesen sein. Zu dieser Zeit bildete Nürnberg den »Vorort des eigentlichen süddeutschen, und zwar besonders des protestantischen süddeutschen Buchhandels«.87 In jüngeren Darstellungen zur Geschichte des deutschen Buchhandels heißt es sogar, daß Nürnberg im 17. Jahrhundert den berühmten Messeplatz Frankfurt »übertrumpft« 88 habe. Denn die fränkische Reichsstadt war der »wichtigste süddeutsche Kommissionsplatz, wo auch zwischen den Messen süd- wie norddeutsche Firmen Bücherlager unterhielten«.89 Doch Georg Scheurer scheint sich in diesem Umfeld eines verstärkten Wettbewerbs mit seinem Buchhandel etabliert zu haben und erwies sich als emsiger Geschäftsmann, wie die Zahlen in den Meß=Jahrbüchern des Deutschen Buchhandels nahelegen: Demnach konnte er in der Zeit von 1679 bis 1686 insgesamt 43 Werke in seinem Verlag herausbringen, darunter bis zu neun Stück in einem Jahr und damit zeitweise mehr als die großen Verlagshäuser in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.90
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Vgl. Birken: Tagebücher, Bd. 2, Eintrag vom 28. Januar 1677, S. 380. Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Westfälischen Frieden bis zum Beginn der klassischen Litteraturperiode [!] (1648-1740). Leipzig 1908 (Geschichte des Deutschen Buchhandels, Bd. 2), S. 366. Der entronnene und wieder gewonnene Schlüssel am Rhein / Oder: Die weitberühmte Vestung Philippsburg / [...]. Nürnberg / Gedruckt bei Andreas Knorzen. Zu finden Bey Georg Scheurer / unter dem Rahthaus. 1676. Im »Buchgäßlein« direkt lagen noch der Felßeckerische und der Wagemannsche Buchladen, nicht weit davon befanden sich unter anderem die Buchhandlungen Endter und Raspe. Vgl. hierzu die Lemmata >BuchgäßleinBuchhandlungen< sowie >Rathhausgäßlein< bei Nopitsch: Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg, S. 20f. u. 134. Goldfriedrich: Geschichte, S. 364. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München 1991, S. 87. Ebd. Vgl. die Auflistung bei Gustav Schwetschke (Hg.): Codex nvndinarivs Germaniae literatae bisecvlaris. Meß=Jahrbücher des Deutschen Buchhandels von dem Erscheinen des ersten Meß=Kataloges im Jahre 1564 bis zu der Gründung des ersten
599 Das Spektrum von Scheurers Verlagsprogramm war breit gefächert und bunt gemischt: Es umfaßte neben der zeitgenössischen Kriegsliteratur auch Kalender, Chroniken, Urkunden und Gelegenheitsschriften sowie literarische, historische, theologische, topographische, medizinische sowie mathematisch-naturwissenschaftliche Werke in unterschiedlichen Sprachen.91 Noch auf sein angefangenes Medizinstudium in Straßburg ist möglicherweise seine besondere Vorliebe für medizinische und anatomische Bücher zurückzuführen, ein Bereich, aus dem er mehrere Schriften herausgab. Bisweilen beteiligte sich Scheurer selbst als Beiträger mit Gedichten oder verfaßte Vorreden, so etwa bei der von ihm neu herausgegebenen, zweiten Auflage des Augendienst92 von Georg Bartisch, die er den »Gesamten Chirurgie und Barbierern« Nürnbergs widmete. Dabei vergaß der Verleger nicht zu erwähnen, daß er das mit umfangreichem Register und etlichen medizinisch-anatomischen Kupferstichen ausgestattete Buch »auf eigene und manchmahl [!] namhafte Kosten zum öffentlichen Druck befördert« 93 habe. Und der von ihm 1685 herausgegebenen dritten Auflage von Johann Claubergs Lehrbuch LOGICA VETUS ET NOVA94 stellte Scheurer eine lateinische Widmungsrede an alle Altdorfer Gelehrten und Studenten voran, die er mit dem nicht gerade unbescheidenen Titel »Cultorem indefessum Georgium Scheurerum«95 unterzeichnete. Mit seiner umfänglichen Lateinbildung und medizinischen Kenntnissen war der studierte und literarisch gebildete Buchhändler Georg Scheurer zu dieser Zeit in der Reichsstadt offenbar eine Ausnahmeerscheinung, da nach Renate Jürgensen der Gelehrte im Nürnberger Buchgewerbe des 17. Jahrhunderts ein ausgesprochenes »Randphänomen« 96 blieb.
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Buchhändler=Vereins im Jahre 1765. Mit einer Einleitung von ders. Halle 1850, S. 149-163. Dies läßt sich ermitteln anhand des in der Stadtbibliothek Nürnberg (Abteilung Handschriften und Alte Drucke) vorhandenen Katalogs der von Nürnberger Verlegern herausgegebenen Werke sowie über die Recherche in den via Internet zugänglichen elektronischen Bibliothekskatalogen und Bibliographien, darunter insbesondere der KVK-Katalog sowie das V D - 1 7 (Internet-Adressen im Literaturverzeichnis). Georg Bartisch: Augen=Dienst: Oder kurtz und deutlicher verfasster Bericht von allen und jeden in= und äusserlichen Mängeln / Schäden / Gebrechen und Zufällen der Augen [...]. Nunmehr zum andernmal an den Tag gelegt. Sulzbach / Jn Verlegung Georg Scheurers Kunst=Händler in Nürnberg 1686 (H583). Ebd., fol. a 2. Johann Clauberg: LOGICA VETUS ET NOVA, Modum inveniendae ac tradendae veritatis, in Genesi simul & Analysi, facili methodo exhibens. Editio tertia, annexo Rerum ac Verborum Indice. Sumptibus Georgi Scheureri Norimb. Sulzbaci 1685 (21658). Ebd., fol. [):(3], Renate Jürgensen: Gelehrte im Nürnberger Buchgewerbe des 17. Jahrhunderts. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 24 (1997) Η. 1, S. 43-74, hier S. 70.
600 Der Weg zum Theater Es läßt sich nur darüber spekulieren, wie der umtriebige und gelehrte Buchhändler Mitte der 1680er Jahre dazu kam, neben Geschäft und Verlag eine eigene Theatertruppe zusammenzustellen und als Prinzipal mit dieser sogar auf Tournee in andere Städte zu gehen - eine in jedem Fall bemerkenswerte Entscheidung, die neben der potentiellen gesellschaftlichen Diskriminierung insbesondere mit erheblichen finanziellen Risiken verbunden war. Immerhin hatte Georg Scheurer zu diesem Zeitpunkt bereits weit die 40 Jahre überschritten, was für damalige Verhältnisse bereits als alt und gebrechlich galt,97 und war Vater von sechs Kindern, denen bis 1690 noch drei weitere folgen sollten. Zudem waren im allgemeinen Prinzipale als wirtschaftliche Unternehmer gegenüber ihren Truppen durch festgelegte Arbeitsverträge zu Unterhaltsleistungen verpflichtet98 - eine Verantwortung, der Georg Scheurer wie viele andere seiner Kollegen nicht immer freiwillig und regelmäßig nachkommen sollte (siehe unten). Anregungen zum Theater mag der Buchhändler auf verschiedene Weise erhalten haben: Bereits als 16jähriger spielte er die Rolle eines Edelmannes in dem 1659 aufgeführten Stück Der Lehr= und Weisheit=begierige Jüngling von Christoph Paul Spieß 99 Später dürfte er nicht nur in Nürnberg, sondern auch auf seinen Reisen zu den großen Buchmessen Gastspiele der Wanderbühnen gesehen haben. Der Buchhandel war zu dieser Zeit geprägt von der »Epoche des Meß- und des Tauschhandels«,100 der jeden Händler und Verleger zwang, regelmäßig und oft mehrere Monate lang die Märkte in der weiteren Umgebung und die großen Messen in Leipzig und Frankfurt zu besuchen - und letztere waren stets beliebter Anziehungspunkt für die fahrenden Komödiantenbanden. Möglicherweise wurde Scheurer auch durch die erfolgreichen Opernproduktionen aus dem Kreis der Handelsleute und des Pegnesischen Blumenordens von 1683/84 angeregt, die in Nürnberg für Aufsehen gesorgt hatten. Nicht zuletzt besaß er in Sigmund von Birken über lange Jahre hinweg einen bedeutenden Dramatiker als engen Kunden, dessen Schauspiel Margenis 1679 sogar in Scheurers Verlag erschienen war. Was immer ihn letztendlich zu der Entscheidung bewogen haben mag, sie muß länger geplant gewesen sein. Denn Georg Scheurer und seine von ihm zusammengestellte Truppe traten im Spätsommer 1685 auf der Nürnberger Bühne im Fechthaus mit einer Produktion hervor, die ohne eine größere Vor-
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Vgl. van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 1, S. 207 -210. Vgl. Brückner: Die rechtliche Stellung der Bühnenkünstler, S. 44f., sowie SchubartFikentscher: Stellung der Komödianten, S. 57f. 99 Vgl. Spieß: Der Lehr= und Weisheit=begierige Jüngling, fol. [):(6r], Daß Scheurer bei dieser Aufführung mitwirkte, läßt darauf schließen, daß er Schüler des Egidiengymnasiums gewesen war. loo wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 75. 98
601 bereitungszeit wohl kaum zu realisieren gewesen wäre. Allerdings hatte der gelehrte Theatermann zunächst erhebliche Widerstände und Mißtrauen seitens des Rats zu überwinden, der dem Vorhaben des Buchkrämers und Verlegers reserviert gegenüberstand: Als Scheurer Ende Juli 1685 sich um eine Spielgenehmigung bemühte, wollte der Rat zunächst geklärt wissen, »wer eigentlich deßen Actores und gesellschaft seyen«. Darüber hinaus wurde Scheurer aufgefordert, »die hiebey erfordernde grose Unkosten [zu] remonstrieren«. Schließlich stellte man ihm lediglich in Aussicht, vorerst »zwey oder drey Stück auf eine Prob zu praesentieren«.101 Georg Scheurer erging es also nicht anders als vielen Handwerkern zuvor, wobei bemerkenswert ist, daß der Rat einen Finanzierungsplan für das Vorhaben verlangte. Es zeigt sich hier neben dem obrigkeitlichen Willen zur Regulierung und Kontrolle eine Fürsorgepflicht des Rats gegenüber seinen Bürgern, die man offenbar vor drohenden Schulden zu bewahren suchte - an warnenden Beispielen verschuldeter Handwerker-Prinzipale, die sich mit ihren Theaterträumen finanziell übernommen hatten, mangelte es jedenfalls nicht.102 Ehrgeiziges Premierenprojekt Die Frage nach der Finanzierung war von daher nicht unberechtigt, zumal Scheurer dem Rat ein ehrgeiziges Projekt vorgelegt hatte: die Aufführung einer Tragico-Comoedia, betitelt das beneidete / doch unverhinderte Ehren= Glück Des frommen und lieben Jacobs=Sohns JOSEPHS.103 Es handelt sich hierbei um ein gesprochenes, jedoch mit etlichen »Sing=Arien« und musikalischen Einlagen versetztes Stück, das Scheurer schließlich Anfang September 1685 mit seiner Truppe im Fechthaus über die Bühne brachte. Die 101 102
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StaatsAN, RV Nr. 2841 vom 29. Juli 1685, fol. 71v (fehlt bei Hampe). Schon Hans Mühlgraf scheint sich aufgrund seiner Theaterunternehmungen verschuldet zu haben. Denn als der gelernte Goldschmied um die Wende 1630/31 bei einem Gastspiel in Regensburg starb, hinterließ er etliche Schulden, für deren Abzahlung man unter anderem seinen Fundus beschlagnahmte. Vgl. Rudin: Hans Mühlgraf, S. 27. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel erwähnt, hatten auch der Bortenmacher Georg Hengel d. Ä. und sein Schwiegersohn Johann Jacob Schübler d.Ä. mit Schulden aus ihren Theaterprojekten zu kämpfen. Tragico-Comoedia oder das Beneidete / doch unverhinderte Ehren=Glück des frommen und lieben Jacobs=Sohns JOSEPHS. Mit hohen Vergunst eines HochWohl-Edlen / Gestrengen / Fürsichtig= und Hochweisen Raths. Jn einer zwey-tägigen sonders Nutz= und Lehrreichen / ganz neuen Actions=Probe / und zwar / in Vorstellung des Ersten Tages Die Verfolgung und Verkauffung Josephs / von seinen Brüdern. Aus der Grube bey Dothan / nacher Thebe in Egypten. Als ein Trauer= Schau=Spiel. Jn schönen Präsentationen / wohl-gefaßten Reden / unterschiedlichen Veränderungen / wie auch ergetzlicher Music / und Sing=Arien / gewiesen und aufgeführet von: Georg Scheurern / Inspectore der Agenten und Joachim Müllner / Inventore & Autore Materiae wie auch Johann Fischer / Hochfürstl. Brandenb. Onolzbachischen Hof-Musico, als Componisten der Musicalischen Sing=Arien. Nürnberg 1685. Im Folgenden als »Joseph« zitiert.
602 Vorstellung des mit beachtlichem Aufwand an Personal und Ausstattung inszenierten Schauspiels mußte wegen seiner Länge auf zwei aufeinanderfolgende Tage verteilt werden. Dabei wurde laut dem Ankündigungstitel am ersten Tag die Verfolgung und Verkauffung Josephs / von seinen Brüdern Aus der Grube bey Dothan / nacher Thebe in Egypten104 präsentiert. Hiervon hat sich ein »Proschet oder kurtzer Entwurff der Materi«105 erhalten, den Scheurer selbst vertrieb und sowohl vor als auch nach der Aufführung an die Zuschauer verkaufte. Das schmale Bändchen gibt einen summarischen Abriß vom Inhalt der insgesamt 44 Auftritte sowie die Texte der acht gesungenen und von Musik begleiteten Partien. Aus dem Titel der Perioche geht zudem hervor, daß die Aufführung eine Gemeinschaftsproduktion darstellte: Georg Scheurer fungierte als Inspectore der Agenten, während (der bereits erwähnte) Joachim Müllner mit Inventore & Autore Materiae bezeichnet wird. Die Kompositionen der ergetzlichefn] Music / und Sing=Arien106 stammten schließlich vom Musiker und Komponisten Johann Fischer, der von Mai 1683 bis Mai 1686 in der Ansbacher Hofkapelle als »Violist« angestellt war.107 Es läßt sich nur mutmaßen, wie es zu diesem erstaunlichen Gemeinschaftsprojekt kam, in jedem Fall legt die Zusammenarbeit mit Müllner und Fischer nahe, daß Scheurer seine ehrgeizigen Theaterpläne bereits länger vorbereitet und hierfür Kontakte geknüpft haben dürfte. 108 Der betriebene Aufwand für das zweitägige Theaterspektakel zeigt sich zugleich im umfangreichen Rollenverzeichnis, das insgesamt 68 Personen auflistet. Zur Verstärkung seiner Truppe dürfte Scheurer etliche junge Leute und Schüler angeworben haben, wie es etwa vom Nürnberger Georg Hengel d. Ä. bekannt ist. Hinzu kamen noch Musiker für die Gesangs- und Instrumentalpartien. Nicht mindere Anstrengungen betrieb man bei der Gestaltung des Bühnenbilds. So preist die Perioche als »Haupt=Veränderungen oder Präsentationes beyder Täge« unter anderem an: »Ein Lustbares Sahl= Zimmer«, »Eine anmuthige Waldung und Garten=Werk« sowie einen »Triumph=Wagen / von zweyen regbaren und naturelen Löwen bezogen«. Und die im Stück vorgestellte »Erscheinung der Träume Josephs« wurde mit Hilfe eines »anmuthigen Schatten=Werk / mit natürlichen Farben vorgestellet«.109 104 105 106 107
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Ebd., fol. Titel. Ebd., S. 24. Ebd., fol. Titel. Vgl. Ernst Fritz Schmid: Fischer, Johann III. In: M G G 4 (1955), Sp. 261-264. Fischer dürfte mit der Materie >Theatermusik< bereits vertraut gewesen sein, da zu seinen Aufgaben als Hofmusiker unter anderem gehörte, »auch bey denen comoedien, balletten, und was darzu gehörig« mitzuwirken (zitiert nach ebd., Sp. 262). Joachim Müllner könnte Scheurer durch seinen Beruf als Buchhändler und Verleger gekannt haben, da Müllner als Korrektor in der Felßeckerischen Buchdruckerei angestellt war. Joseph, S. 6.
603 Obwohl von dem Schauspiel nur eine schmale Perioche mit einer gerafften Zusammenfassung lediglich der Handlung des ersten Tages erhalten ist, läßt sich dennoch zumindest in Umrissen zeigen, daß der studierte Theologe Müllner als Textautor in seiner Behandlung der Josephs-Geschichte aus dem Alten Testament insbesondere auf ein bestimmtes Deutungsmuster des traditionsreichen und »vielschichtigen Stofffs]«110 abhebt: die Bedeutung der Josephsfigur und ihrer Geschichte als Exempel für den Fall und Aufstieg des Tugendhaften nach dem Prinzip der belohnten Bewährung des Frommen und Beständigen, die als Beweis der göttlichen Vorsehung gilt. Schon der Titel stellt durch den Zusatz das beneidete / doch unverhinderte Ehren=Glück die geistlich-erbauliche Interpretation des Stoffs in den Vordergrund, wobei die Bezeichnung Tragico-Comoedia im Untertitel durchaus signifikant ist. Denn er verweist möglicherweise nicht zufällig auf die Traditionslinie der biblischreligiösen Mischspiele, die seit dem 16. Jahrhundert unter dem Schlagwort Terentius Christianus und mit Bezeichnungen wie »Trauer-Freudenspiel« oder »traurige Comedi« eine spezifisch christliche Variante des Schauspiels entwarfen und einen wichtigen Strang innerhalb der Geschichte der gemischten Dramengattung bilden.111 Unterstrichen wird diese schon im Titel nahegelegte Sicht auf das Stück durch das allegorische Vorspiel, das der eigentlichen Spielhandlung vorausgeht und dieser eine eindeutig geistlich-erbauliche Perspektive gibt: Ein »Himlischer Engel=Both« kommt herab und unterrichtet die ebenfalls erschienenen Allegorien der Glückseligkeit, der Gottesfurcht und des Wohlstands von dem »Göttlichen Befehl«, »den Joseph in fleissigsten Obacht zu nehmen / und alles gute widerfahren zu lassen«,112 worauf sie gemeinsam eine »Aria« anstimmen, die den zuvor mitgeteilten Beschluß Gottes nochmals kommentierend aufgreift und durch ihre hervorgehobene Stellung als gesungene Partie gleichsam auf höherer Ebene bekräftigt: Gesegnete Tritte / gesegnete Pfade! Die also den Frommen der Höchste bereit / Sie leben / und schweben in Göttlicher Gnade / GOtt liebet / und giebet Glück / Segen und Freud / Er hütet und wachet / und schützet vor Schade / Gesegnete Tritte / gesegnete Pfade!113 110
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Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, S. 391. Die Josephs-Geschichte aus dem Alten Testament war im 17. Jahrhundert ein vielfach dramatisierter Stoff, der zum Standardrepertoire etlicher Wandertruppen gehörte, darunter auch von Gesellschaften, die mehrfach in Nürnberg gastierten: So ist etwa von Johannes Velten die Aufführung einer »Comoedie von dem Erzvater Joseph« in Dresden aus dem Jahre 1678 belegt. Eine »Historie von Joseph« brachtel666 in Lüneburg Michael Daniel Treu auf die Bühne, der nur kurze Zeit später mit seinem Ensemble in Nürnberg spielte. Vgl. Heine: Johannes Velten, S. 18, sowie Bolte: Wanderkomödianten, S. 467. Zur Tradition des »Terentius Christianus« siehe die Ausführungen in Teil A, Kap. 4.1. Joseph, S. 7. Ebd., S. 8. Zur Deutungsfunktion von Gesangspartien bzw. Arien in Schauspielen
604 Zwar versuchen daraufhin die Personifikationen des Neids und der Zwietracht, die als »die zwey höllischejn] Laster=Furien« eingeführt werden, das »gesegnete Wohl=Ergehen Jacobs« durch ihr »rasen und wüten« zu stören sowie »ihme alles herzenleid zuzufügen«. Sie scheitern jedoch und »werden [...] von einem Engel verlachet / un[d] in ihrem Vorhaben erschrecket«.114 Damit ist durch das Vorspiel die allegorische Deutung der sich anschließenden Handlung vorgegeben: Der fromme und in seinem Glauben standhafte Joseph, der unschuldig zum Opfer der Intrigen seiner eifersüchtigen Geschwister wird und schließlich als Sklave nach Ägypten verkauft wird, kann sich trotz der Schicksalsschläge des Schutzes und Wohlwollens Gottes sicher sein. Dem Fall wird der Aufstieg gemäß der göttlichen Providentia folgen. Diese Deutung nach dem Prinzip der bewährten Beständigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch den ersten Teil des Stücks und sie scheint auch den am folgenden Tag aufgeführten zweiten Teil bestimmt zu haben.115 Zumindest in der Spielhandlung des ersten Tags wird diese Deutung des Vorspiels mehrfach explizit im weiteren Verlauf des Josephs durch reflektierende und kommentierende Partien aufgegriffen: So etwa in einer eingelegten »Schutz=Aria« bzw. »Englische[n] Hut=Aria«, in der ein Chor aus Engeln dem schlafenden Joseph trotz dessen zwischenzeitlichen Unglücks des Schutzes und der Gnade Gottes versichert.116 Ein weiteres Beispiel hierfür liefert der Schlußchor des ersten Tages, der das gesamte Geschehen erklärend zusammenfaßt und in einem moralisch-erbaulichen Sinn kommentiert, indem er die Bedeutung der Josephsfigur und ihrer Geschichte als Exempel für bewährte Tilgend und Wirken der göttlichen Vorsehung hervorhebt sowie
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und Opern siehe Schöne: Emblematik und Drama, bes. S. 181ff., sowie Fischer Lichte: Theater des Barock, S. 84f. Joseph, S. 8. Hierauf verweist unter anderem die Tatsache, daß im zweiten Teil des »Josephs« von Scheurer und Müllner das Verführungsthema eine wichtige Rolle spielt: Dem Stoff zufolge erregt der in Ägypten als Sklave im Hause des Potiphar dienende Joseph aufgrund seiner Schönheit die Aufmerksamkeit von Potiphars Gemahlin. Als er deren Werbungen jedoch widersteht, wird er von ihr verleumdet und daraufhin ins Gefängnis geworfen. Eine Episode, die insbesondere in den Josephs-Dramen des 16. Jahrhunderts oftmals als Tugendprobe moralisch gedeutet wurde und in diesem Sinne etwa noch in der 1640 erschienenen Behandlung Joost van den Vondels auftaucht. Vgl. Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, S. 391. Daß die Verführungsepisode im »Joseph« ebenfalls im Sinne einer Higendprobe moralisch ausgelegt worden sein dürfte, deuten etwa die Angaben im Personenverzeichnis an, die Selicha als »geile Gemahlin« ausweisen und ihr mit der Figur der Chyrolome ein »altes boshaftiges Kuppelweib« zur Seite stellen, »welche[s] sich von Selicha / als eine Unterhändlerin / den Joseph zur sündlichen Liebe zu bereden / gebrauchen lässet« (Joseph, S. 3 u. 5). Vgl. Joseph, S. 14: Schlaff immerhin Joseph / du Gottes-geliebter! Du Brüder-beneidete und Unschuld=betriebter / Laß gifftige Schlangen sich wider dich machen / Wir deine Beschützer / wir hüten und wachen. [...]
605 in einen ad spectatores gerichteten, neostoizistischen Appell zu pietas und constantia mündet: Drüm thue recht / sey fromm und schlecht / Als deines Gottes treuer Knecht / So wird dirs auch wie Joseph gehen; Wann dich die Welt schon haßt und neidt Sey nur gedultig / bet und leid / Es muß doch / was GOtt will / geschehen. 117
Obgleich von der am folgenden Tag aufgeführten Vorstellung des zweiten Teils des Josephs weder Textbuch noch Perioche erhalten sind, gibt es doch Hinweise dafür, daß der dabei angekündigte Aufstieg Josephs vom eingekerkerten Sklaven zum triumphierenden Herrscher als Präfiguration der Auferstehung Christi im Sinne einer bibeltypologischen Deutung des Alten Testaments dargestellt wurde und damit zugleich als >Beweis< der im Schlußchor des ersten Tages prophezeiten Kraft der göttlichen Providentia fungiert haben dürfte. Hierauf verweist nicht nur die grundsätzliche typologische Bedeutung der Josephs-Gestalt als Figura Christi,118 sondern auch ein bemerkenswertes Detail aus der erhaltenen Perioche des ersten Teils. Denn dort ist bei der Angabe der »Haupt=Veränderungen oder Präsentationes beyder Tage« auch die Schlußszenerie des zweiten Tags angegeben, von der es heißt: »Ein Triumph=Wagen / von zweyen regbaren und naturelen Löwen bezogen / worauf Joseph / als Vatter des Landes geführet / und ausgeruffen wird«.119 Hierbei ist gerade die Verwendung der Löwen als Zugtiere des Triumphwagens signifikant. Der Löwe gehört zu den alten mythischen Symbolen und besitzt als solches eine vielschichtige Bedeutung. Allerdings galt er insbesondere innerhalb der christlichen Ikonographie und Symbolik als Sinnbild für Christus im allgemeinen und für die Auferstehung Christi im besonderen.120 Für eine solche Deutung lassen sich schon in der Bibel Belege finden, so etwa in der Offenbarung des Johannes, in der Christus als »siegreicher Löwe aus dem Stamm Juda« tituliert wird (Joh. 5,5). Vor allem im Anschluß an diese Stelle aus der Apokalypse entwickelte sich innerhalb der Theologie und christlichen Kunst die Vorstellung vom Löwen als »Symbol des auferstandenen Christus« und »Sinnbild des Erlösers«.121 In diesem 117 118 119 120
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Ebd., S. 24. Vgl. Ohly: Synagoge und Ecclesia, S. 358. Joseph, S. 6. Siehe hierzu Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst. Bd. 3: Die Auferstehung und Erhöhung Christi. Gütersloh 1971, S. 131-134, sowie Karl Künstle: Ikonographie der christlichen Kunst. Bd. 1: Prinzipienlehre, Hilfsmotive, Offenbarungsglauben. Freiburg i.Br. 1928, S. 128. Schiller: Ikonographie, S. 132f. In diesem Sinne auch Künstle: Ikonographie, S. 126, der für die Verwendung des Löwen innerhalb der christlichen Ikonographie gerade die Bedeutung der Bibelstelle aus Johannes' Offenbarung 5,5 hervorhebt: »In der Theologie ist fortan Christus, der siegreiche Löwe aus dem Stamme Juda, ein geläufiges Bild. Freilich, die altchristliche Kunst hat dieses Symbol nie dargestellt
606 Sinne dürfte der Einsatz der Löwen in der Schlußszene des Stück zu verstehen sein. Denn als Zugtiere des Triumphwagens spielen die Löwen auf anschauliche Weise auf die generelle typologische Bedeutung Josephs an und heben diese nochmals hervor. Hanswurst in Haupt- und Staatsaktionen Georg Scheurer war mit der Inszenierung dieses zweitägigen Spektakels gewiß eine beachtliche organisatorische Leistung und Premiere als Prinzipal gelungen. Und das geistlich-erbauliche Spiel war keineswegs das einzige Stück, das der frischgebackene Impresario mit seiner Truppe vorstellte. Dies belegt ein weiteres, bislang weder näher bekanntes noch bibliographisch erfaßtes Schauspiel von Scheurer, das er noch während seiner ersten Theatersaison am 30. September 1685 im Fechthaus aufführte: eine Comoedia, betitelt Der getreue / falsche / und scheinbare Freund und die beständige Ehren= Liebe,122 von der sich in der Erlanger Universitätsbibliothek ein geraffter »Proschet oder kurtzer Entwurff der Materi« erhalten hat. Es handelt sich hierbei um eine für die Wanderbühne im 17. Jahrhundert typische sogenannte Haupt- und Staatsaktion,123 die in fünf Akten und nicht weniger als 65 Auftritten die Geschichte eines von Intrigen gefährdeten, schließlich jedoch glücklichen Liebeshandels am Hofe des Herzogs von Ferrara präsentiert und dabei die im Barock beliebten Themen von Schein und Sein sowie belohnter Beständigkeit abhandelt.124
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[...]. Aber die Vorstellung, daß der Löwe ein Sinnbild Christi sei, hielt sich doch stets, wie sich daraus ergibt, daß man auch im Mittelalter nicht vergessen hatte, daß der >Markus-Löwe< eigentlich, [...] ein Symbol Christi ist. [...] So wird der Löwe zum Sinnbild der Auferstehung«. Dieses Deutungsschema fand auch Eingang in die frühneuzeitlichen Emblembücher, wie beispielsweise ein Emblem von Nicolas Reusner zeigt, das unter der Inscriptio »FORTITUDO, ET LAUS, ET SALUS MEA DOMINUS. PSAL. 118« den Christusknaben mit Kreuz und Dornenkranz reitend auf einem Löwen darstellt und dies in der Subscriptio unter anderem deutet als: »Sit leo virtutis, frons laudis, cruxque salutis / Sit nota: quis Iudae dux Leo Christus ouat« (zitiert nach Henkel/Schöne (Hg.): Handbuch, Sp. 390). [Georg Scheurer]: Comoedia oder Lust=Spiel betitult: Der getreue / falsche / und scheinbare Freund und Die beständige Ehren=Liebe. Mit hohen Vergunst Eines Hoch-Wohl-Edlen / Gestrengen / Fürsichtig= und Hoch= weisen Raths. Jn einer anmutigen / Rein=Teuschen / sehr lustbar und voller Kurzweil angefüllten / auch mit höflichen Discursen / und andern beliebigen Begebenheiten mehr / bezierten Actions=Probe Vorgestellet und aufgeführet Samt einem Tanz nach der Action [...]. Anno 1685, den 30. September. [Nürnberg 1685]. Im folgenden als »Lust=Spiel« zitiert. Vgl. Willi Flemming: Haupt- und Staatsaktion. In: 2 RL 1 (1955), S. 619-621. Geschichten um Liebeshändel und Intrigen am Hofe des Herzogs von Ferrara gehörten schon zum Repertoire der Englischen Komödianten. So führte etwa 1604 die Theersche Truppe in Nördlingen ein Stück »Von Annabella eines hertzogen tochter von Ferrara« auf, und 1626 präsentierte die Gesellschaft von Johann Green in Dresden zweimal die »Comoedia vom Hertzog von Ferrara«. Vgl. Kindermann: Theatergeschichte, Bd. 3, S. 364.
607 Daß neben den im Titel versprochenen höflichen Discursen jedoch zugleich einiges an Derb-Komischem geboten wurde, verdeutlichen die vielfachen Hinweise in der Perioche auf eingemengte »Possen=Handel«125 und »possierliche Schertz[e]«126 sowie die damit stets verbundene Figur des Dieners Poncinello, ein Nachfahre des Pulcinella, der süditalienischen Variante des Hanswursts bzw. Pickelherings und typischen Repräsentanten der Lustigen Person, die in den Haupt- und Staatsaktionen nicht fehlen durfte. 127 Als solche fungiert Poncinello in Scheurers Stück, der als Prinzipal (entsprechend den damaligen Gepflogenheiten) die Figur des Spaßmachers auf der Bühne wohl selbst verkörpert haben dürfte: Poncinello wird bei seinem ersten Auftritt nicht nur als »der lustige Kump«128 eingeführt, sondern gibt sich auch sonst als charakteristischer Vertreter seines Rollenfachs zu erkennen. So ist er etwa entscheidend an der Intrige um das Liebespaar beteiligt, wobei diese - wie den knappen Hinweisen der Perioche zu entnehmen ist - insbesondere mit dem gängigen Motiv vertauschter, verheimlichter und gefälschter Briefe vorangetrieben wird.129 Wie viele andere Vertreter seines Rollenfachs erweist sich Scheurers Poncinello nicht nur als habgierig und »durch das Geld bethöret«, 130 sondern auch als trinkfreudiger Zeitgenosse: So erscheint er einmal »besoffen« auf der Bühne und »machet grosse Streiche von sich selbst / und lustige Possen / mit einem alten Boten«.131 Schließlich unterbricht Poncinello die Handlung immer wieder durch eingeschobene, als »Schelmen=Stück[e]«132 bezeichnete Intermezzi, in denen sich der Diener -
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Lust=Spiel, S. 5. Ebd., S. 11. Der Pulcinella stammt aus Neapel und taucht insbesondere seit Anfang des 17. Jahrhunderts in ganz Europa auf. Er ist »der Intrigant, der freche, geldgierige, versoffene Schürzenjäger, der Teile seiner Wesenszüge dem Punch oder Jack Pudding, dem Policinello und dem Hanswurst verlieh« (Baur-Heinhold: Theater des Barock, S. 68). Zu diesem Komplex siehe auch den Abschnitt »Maske und Improvisation. Die Geburt der europäischen Schauspielkunst« bei Alewyn: Das große Welttheater, S. 91-114; Heine: Schauspiel der deutschen Wanderbühne, bes. S. 28-34; Herbert Hohenemser: Pulcinella, Harlekin, Hanswurst. Ein Versuch über den zeitbeständigen Typus des Narren auf der Bühne. Emsdetten 1940, bes. S. 17f£, sowie die materialreiche Studie von Helmut G. Asper: Hanswurst. Studien zum Lustigmacher auf der Berufsschauspielerbühne in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Emsdetten 1980. Lust=Spiel, S. 6. Die Verwicklung in die Intrige war eine der hervorstechenden Eigenschaften der Lustigen Person, die oftmals Funktionen von Spionen, Intriganten und Boten oder das Übermitteln von Briefen übernahm. Vgl. Heine: Schauspiel der deutschen Wanderbühne, S. 31f., und Asper: Hanswurst, S. 210-225. Lust=Spiel, S. 7. Ebd., S. 7f. Zur Geldgier und »Freß- und Sauflust« als typische Eigenschaften des Pulcinella bzw. allgemein der komischen Figur siehe Baur-Heinhold: Theater des Barock, S. 68; Hohenemser: Pulcinella, S. 19, sowie Asper: Hanswurst, S. 141f£ Lust=Spiel, S. 3.
608 wiederum ganz im Stile der »grobianischen Komik«133 eines Hanswursts »eyfferig vornimmet«, »einen Hauffen lose Stücklein anzustellen«.134 Hierunter wird man sich den zeitgenössischen Erwartungen an das Rollenfach entsprechend gewiß einige deftige, burleske Einlagen mit drastischer Darstellungsweise vorzustellen haben. Die Lustige Person auf den Bühnen der Wandertheater ist, wie Richard Alewyn prägnant formulierte, »der unbeschränkte Herrscher im Reiche der Fäkalien und Sexualien«.135 Zu den »losen Stücklein« der Harlekins, Hanswurste und Pulcinellas gehörten insbesondere das Zurschaustellen des gesamten körperlichen Bereichs in Form des Fressens, Saufens, aller Formen des Sich-Entleerens sowie des Entblößens und Andeutens geschlechtlicher Handlungen. Hinzu kamen neben Prahlereien, Schelten und Fluchen das Vorführen von Entstellungen, leiblicher Gebrechen sowie frecher, grober Streiche bis hin zu Schlägereien.136 Bezeichnend für den derb-komischen Einschlag von Scheurers Stück ist auch der Schluß der Haupt- und Staatsaktion, wo nicht nur das Paar zusammenfindet, sondern zudem der Diener Poncinello als einer der Intriganten »in Verhafft genommen / und mit ihme / eine lächerliche Execution angestellet«137 wird, wobei dies nach Auskunft der Perioche ein Scharfrichter auf der Bühne mit Hilfe eines Fuchsschwanzes vornimmt. Daraufhin erscheint der hingerichtete Spaßvogel nochmals in Gestalt eines jagenden Gespensts, das seine Mitspieler »viel erschreckt« sowie »selzame Schosen« von sich gibt, bevor es beim harmonischen Ende »durch einen lustigen Possen wieder lebendig«138 gemacht wird und das Stück (nach Auskunft des Titels) schließlich mit einem Tanz nach der Action endet. Konkurrenzdruck und Komödiantenhändel Höfische Atmosphäre, Liebesaffären, Intrigen, possenhafte Einschübe, verbunden mit der Figur des intriganten Dieners Poncinello als Zotenreißer und typische Ausprägung der Lustigen Person, dazu drastische Szenen mit blutigen Hinrichtungen und Geistererscheinung, ein obligatorischer Sieg des Guten mit wieder vereintem Paar sowie anschließendem Schlußballett - mit der Aufführung seiner Haupt- und Staatsaktion Der getreue / falsche / und scheinbare Freund scheint Georg Scheurer gleich während seiner ersten Sai133 134 135
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Asper: Hanswurst, S. 230. Lust=Spiel, S. 7. Alewyn: Das große Welttheater, S. 102. Nach Eckehard Catholy: Das deutsche Lustspiel, S. 119, ist der Hanswurst oder Pickelhering »der gefräßige und gerissene Vertreter und Verteidiger der animalisch-vegetativen Sphäre«. Siehe hierzu Hohenemser: Pulcinella, S. 18, sowie Asper: Hanswurst, passim. Lust=Spiel, S. 15t Ebd. Geistererscheinungen gehörten zum festen Bestandteil der Haupt- und Staatsaktionen. Vgl. Heine: Schauspiel der deutschen Wanderbühne, S. 22. Zum Umgang der Lustigen Person mit Geistern und Toten siehe Asper: Hanswurst, S. 192-210.
609 son als Komödiant und Prinzipal ganz auf der Höhe der Zeit gewesen zu sein. Der gelehrte Buchhändler hatte sich in seinem neuen Metier offensichtlich schnell zurechtgefunden und wußte, was er bieten mußte, um bei der harten Konkurrenz mithalten zu können und das Publikum anzulocken. Dennoch bedeuteten Scheurers erste Aufführungen nicht den Auftakt zu einer erfolgreichen Karriere als neuer Impresario in der Nürnberger Theaterlandschaft. Denn er scheint (zumindest nach Maßgabe der Nürnberger Obrigkeit) seine Stücke auf vergleichsweise schlechtem künstlerischen und sittlichen Niveau präsentiert und dabei allzu sehr über die Stränge geschlagen zu haben, wie die mehrfach geäußerte Kritik an seiner Aufführungspraxis deutlich macht (siehe unten). Zudem konnte Scheurer mit seiner Truppe lediglich acht Vorstellungen während der ersten Theatersaison im Fechthaus über die Bühne bringen, wobei er sich zudem mit nur 412 fl. und 50 kr. Einnahmen begnügen mußte.139 Keine besonders stolze Summe, wenn man allein die sicherlich nicht geringen Kosten für Ausstattung, Kostüme, Musiker und die 68 mitwirkenden Akteure in Rechnung stellt, die schon bei der Aufführung des Josephs anfielen. Wie unzufrieden der Prinzipal mit dem eingespielten Ergebnis gewesen sein muß, wird im Vergleich mit dem Gewinn deutlich, den der zeitgleich mit seiner Truppe agierende Kontrahent von Scheurer für sich verbuchen konnte. Denn wesentlich besser als dem debütierenden Buchkrämer und Antiquar war es dessen direktem und wesentlich erfahrenerem Konkurrenten Jakob Kuhlmann ergangen, der seit Mitte April 1685 mit seiner »bände hochteutscher comoedianten«140 in der Stadt weilte und die Theatersaison bis in den Herbst hinein bestimmte. Nicht weniger als 32 Aufführungen bestritten Kuhlmann und sein Ensemble im Fechthaus bei einer Gesamteinnahme von 1430 fl. und 30 kr.141 Ein Erfolg, den Georg Scheurer offenbar nur schwer verkraften konnte: Denn wie die Ratsverlässe berichten, verwikkelte sich der Neuling im hart umkämpften Theatergeschäft in einen handgreiflichen Streit mit dem Sohn Jakob Kuhlmanns, in dem Scheurer diesen derart »hart geschlagen« hatte, daß »es sich [...] gefährlich mit selbigen 139
140
141
Vgl. StaatsAN, Rep. 53: Ämterrechnungen der Reichsstadt Nürnberg, Abt. V, Bd. 38 (1685), fol. 5V, sowie Rep. 54a II: Nürnberger Stadtrechnungsbelege, Nr. 1150: Gemeine Einnahmen 1681-1692, Nr. 12: Designation, was Georg Scheurer hiesiger Antiquarj gehaltene Schauspiel, nach und nach ertragen, Ao. 1685. Ebd., RV Nr. 2837 vom 14. April 1685, fol. 191r. Jakob Kuhlmann stammte aus Bautzen und ist von 1665 bis 1699 als Prinzipal bezeugt. Dabei führte er unter anderem die Titel und Privilegien »Sächsische Comödianten« und »Hochf. Brandenburg-Bareitscher bestellter Hof-Comoediant«. Vgl. Pies: Prinzipale, S. 209. Vgl. StaatsAN, Rep. 53: Ämterrechnungen der Reichsstadt Nürnberg, Abt. V, Bd. 38 (1685), fol. 5V, sowie Rep. 54 a II: Nürnberger Stadtrechnungsbelege, Nr. 1150: Gemeine Einnahmen 1681-1692, Nr. 13: Designation, was Jakob Kullmann Hochdeutschen Comoedianten Schauspiele im Fechthaus gehalten, nach und nach ertragen, Ao. 1685.
610 wollte anlaßen«, weshalb »beyde Parteyen zur Rechtfertigung an das Löbl. Fünfergericht verwiesen«142 wurden - die juristische Instanz in Nürnberg für geringere Vergehen, darunter insbesondere Verstöße gegen die Polizeiordnungen sowie alle Arten von Verbal- und Realinjurien.143 Keine vier Wochen später wurden erneut Klagen über Nürnbergs neuen Theaterimpresario laut: Der »Exercitien-Meister und Comoediant« Heinrich Moes beschwerte sich beim Rat, daß Scheurer »ihn in große Unkosten vergeblich gesetzet«.144 Da Moes zu diesem Zeitpunkt in der Stadt gerade versuchte, sein »optisches Schattenwerck« zu präsentieren, ist es gut denkbar, daß der »Exercitien-Meister« damit schon bei der Aufführung des Josephs, bei dem die Traumszene von Joseph »in anmuthigen Schatten=Werk / mit natürlichen Farben vorgestellet« worden war, mitgewirkt hatte, von Scheurer jedoch für seine Leistung nicht ausbezahlt wurde - eine Anschuldigung, der sich der Prinzipal in den nächsten Jahren noch öfters ausgesetzt sah. Obrigkeitliche Kritik Wie immer die Streitfälle mit Jakob Kuhlmanns Sohn und Heinrich Moes ausgingen, sie machen beide deutlich, daß Scheurers Einstand im Nürnberger Theaterleben alles andere als reibungslos erfolgte. Angesichts der ruchbar gewordenen, handgreiflichen Zwischenfälle dürfte der Buchhändler bei der Stadtobrigkeit hinsichtlich seiner Befähigung zum Prinzipal einen äußerst zwiespältigen Eindruck hinterlassen haben - zumal der Rat bereits Anstoß an der Qualität seiner bisher gezeigten Vorstellungen genommen hatte. Denn als Scheurer sich in der darauffolgenden Saison erneut um eine Spielerlaubnis für seine Truppe bemühte, sah er sich - wie schon im Jahr zuvor - mit Widerständen auf Seiten des Nürnberger Rats konfrontiert: Im Frühjahr 1686 reichte er mehrere Gesuche ein, wurde jedoch vom Rat zunächst hingehalten und erhielt schließlich die Spielgenehmigung nur unter der Auflage, er solle sich bei seinen Aufführungen »von allen ärgerlichen materien und obscoenis [...] gänzlich enthalten« und insbesondere keine Ursache dafür geben, »solche Verlaubnis wiederumb aufzuheben«.145 Diese eindringlichen Ermahnungen lassen darauf schließen, daß die im vorangegangenen Herbst von Scheurers Gesellschaft aufgeführten Schauspiele den qualitativen Ansprüchen und moralischen Maßstäben der Obrigkeit nicht genügt hatten und es auch bei Scheurers Aufführung des Josephs möglicherweise allzu weltlich zugegangen war. Dabei hat es den Anschein, als habe Scheurer selbst mit Kritik als Reaktion auf seine Darbietungen gerechnet, da er in seinem Ge142
Ebd., RV Nr. 2843 vom 14. September 1685, fol. 18 v -19 r (fehlt bei Hampe). 143 Ygj Reigke: Geschichte der Reichsstadt Nürnberg, S. 638. 144 StaatsAN, RV Nr. 2843 vom 5. Oktober 1685, fol. 100v (fehlt bei Hampe). 145 Ebd., RV Nr. 2853 vom 14. April 1686, fol. 67v.
611 such an den Rat ausdrücklich hervorgehoben hatte, diesmal seine Stücke »durch hierzu tüchtige junge leute vorstellen«146 zu lassen. Insbesondere dürften sich die vom Rat gegenüber Scheurer beanstandeten »ärgerlichen materien und obscoena« auf die Vorstellung possenhafter Spiele im Stile von Der getreue / falsche / und scheinbare Freund bezogen haben, allen voran wohl auf die komische Figur des Poncinello. Gerade im Rollenfach der Lustigen Person lebten im Theater des 17. Jahrhunderts noch am stärksten die Tradition des Narren und Formen mittelalterlicher Lachkultur fort. Der Hanswurst verkörperte auf der Bühne mit seinen dargebotenen Obszönitäten und derb-komischen Posseneinlagen am deutlichsten - wie es Michail Bachtin trefflich formuliert hat - »das Drama des körperlichen Lebens«147 und die uneingeschränkte Betonung aller Bereiche des MateriellLeiblichen. Zudem richtete sich das Lachen und der Spott der komischen Figur mit dem deutlichen Bezug zur Tradition des Närrischen insbesondere gegen alles Hohe, Große und jede Form von Ernst, Verboten und Einschränkungen. 148 Wie Narr und Clown gehören die Hanswurste, Pickelhäringe und Pulcinellas der Wanderbühnen zu den Repräsentanten »jener Sphäre, in der es keine Unterschiede zwischen Herrschenden und Untertanen gibt«.149 Gerade dies mußte jedoch den Maßgaben der Obrigkeit zuwiderlaufen, die das Theater auf bestimmte Formen zu beschränken und im Sinne einer Sozialdisziplinierung zu funktionalisieren versuchte (siehe Teil A, Kap. 2, sowie Teil B, Kap. 6.1.). Zunächst beließ es der Rat jedoch noch bei den Ermahnungen und genehmigte Scheurer sein Spielgesuch, worauf er mit seiner Gesellschaft von Ende April bis in den Juli 1686 hinein zeitweise sogar zweimal wöchentlich im Fechthaus auftreten konnte.150 Der Ärger um die Truppe des Buchkrämers blieb gleichwohl auch in dieser Spielzeit nicht aus. Diesmal gab es größere Streitigkeiten innerhalb des Ensembles zwischen dem Prinzipal und einigen seiner Schauspieler, die kein allzu positives Licht auf den Zustand von Scheurers Schauspielgesellschaft werfen: Mitte Juli kam es aus ungeklärten Gründen zu einem Eklat, als die Akteure Johann Friedrich Schneidewein und Johann Andreas Gruber mehrere Male die Vorstellungen boykottierten und so den Prinzipal »an praesentierung seiner comoedie vorsetzlich verhin146 147 148
149 150
Ebd. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 138. Vgl. ebd., bes. S. 137-140, sowie die grundsätzlichen Ausführungen bei Ritter: Über das Lachen, S. 62ff., der hervorgehoben hat, »der Ernst wird im Närrischen begrenzt und aufgehoben« (ebd., S. 88), und abschließend feststellte: »Es ist die gleiche Überzeugung, die bei Lessing, bei Moser, bei Jean Paul den Hanswurst und Pickelhäring zurückruft, weil mit ihnen der eigentliche Ernst verloren und preisgegeben ist« (ebd., S. 90). Catholy: Das deutsche Lustspiel, S. 119. Vgl. StaatsAN, RV Nr. 2850 vom 21. April 1686, fol. 124v.
612 dert[en]«. 151 Nach einer mündlichen Anhörung sprach der Rat Scheurer das Recht zu und ordnete an, die abtrünnigen Schauspieler »auf einen versperrten türm [zu] schaffen und zwei tag allda büßen [zu] lassen«. 152
Auf Wandertournee Die vergleichsweise erfolgreiche Spielsaison mit zum Teil zwei Aufführungen wöchentlich im Fechthaus sowie der gewonnene Rechtsstreit haben Scheurer möglicherweise dazu bewegt, sein Glück als Prinzipal außerhalb der Stadtgrenzen Nürnbergs zu versuchen und mit seiner Gesellschaft auf Tournee zu gehen. Ende August 1686 begab sich Scheurer mit seiner Truppe zur Herbstmesse nach Frankfurt, einem der bedeutenden Anziehungspunkte für Gaukler, Artisten und Wanderbühnen im 17. Jahrhundert. 153 Ein sicherlich riskantes Unterfangen für den im Theatergeschäft neuen Prinzipal, der nebenher noch einen Betrieb führen mußte und seine Familie zu ernähren hatte. Allerdings ließ sich durch eine Tournee das Renommee seiner Truppe vergrößern und der Anspruch auf Professionalität untermauern sowie zugleich auf den Messen noch manch lukratives Buchgeschäft tätigen. Dabei hatte Scheurer offenbar aus den Erfahrungen in Nürnberg gelernt, wie sein Gesuch um Spielerlaubnis an den Rat der Stadt Frankfurt zeigt, in dem er nicht nur selbstbewußt als »der neu aufgerichteten Nürnbergischen Bande Comödianten-Principall und Director« auftrat, sondern insbesondere auch bemüht war, die schauspielerische Qualität seiner Truppe und das anspruchsvolle Niveau seines Repertoires herauszustellen. Bemerkenswert ist, daß er auf die seit etwa 1680 verstärkt im Alten Reich aufkommende Theaterfeindlichkeit direkt Bezug nahm: Wiewohl es durch den vielfältigen Missbrauch dahin gekommen zu sein scheint, dass der gute gebrauch Comoedien undt Schauspieler von etlichen in zweifell gezogen undt dahero öfters viele gute Intentiones behindert worden; so ist jedennoch hoffentlich niemandt, der nicht wird gestehen müssen, dass die Comoedien, wo sie in ihren vorgeschriebenen Schranken und Terminis bleiben, viel gute undt erbauliche Moralia und Lehrsätze nach sich führen, dadurch die jugendt erbaut und sonsten allerhandt Gutes in vita Civili befördert wird. In solcher absieht ist ein Hochedler Hochlöbl. Rath der Heyl. Reichs-Stadt Nürnberg veranlaßet worden, mir hoch geneigt zu verstatten, nachdeme ich durch unverdroßenen Fleiß undt Mühe mich umb eine qualificirte Compagnie Comoedianten beworben undt zusahmen gebracht, bey geraumer Zeit hero viele verschiedene Actiones daselbsten mit größtem applausu zu repräsentieren und vorzustellen, aller maßen dan nach ungesparter Sorgfalt auch in diesem Stückh mein Propos dargestalt glücklich reüssiret, dass
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Ebd., RV Nr. 2854 vom 17. Juli 1686, fol. 104r-v. Ebd. vom 23. Juli 1686, fol. 145v. Siehe allgemein hierzu Elisabeth Mentzel: Geschichte der Schauspielkunst in Frankfurt am Main. Von ihren ersten Anfängen bis zur Eröffnung des städtischen Komödienhauses. Ein Beitrag zur deutschen Kultur- und Theatergeschichte. Frankfurt a. M. 1882.
613 mich mit solchen Leuten versehen, welche sowohl gantze Actus singend undt rare Balletten a la francoise als auch mittels gute addresse undt gahr kostbahre kleider dergestalt ihre Sache wohl und riimlich verrichtet, dass sie denen sowohl hohes als niedriges Standts Spectatoribus alle verlangte Satisfaction gethan.154
Doch die Konkurrenz für den Nürnberger Prinzipal und Buchhändler war zu groß. Sein Gesuch wurde abgelehnt, den Zuschlag erhielt dagegen die damals berühmte Gesellschaft des Johannes Velten, der sich ebenfalls um eine Spielerlaubnis beworben hatte.155 Zudem sollte Scheurer das Eigenlob seiner Truppe und die Berufung auf die ihm vermeintlich gewährte Protektion des Nürnberger Rats noch teuer zu stehen kommen (siehe unten). Zunächst hielt der Prinzipal trotz des Rückschlags seines gescheiterten Tourneeversuchs, der sicherlich erhebliche finanzielle Einbußen mit sich brachte, jedoch an seinen Theaterplänen fest und bewarb sich nach der Rückkehr nach Nürnberg auch im darauffolgenden Frühjahr 1687 wieder mit seiner Gesellschaft. Die politische Situation im Reich hatte sich angesichts der drohenden Auseinandersetzung mit den Türken jedoch wieder zugespitzt, so daß der Rat diesmal »wegen gefährlich anscheinenden conjuncturen«156 keinerlei öffentliche Schauspielaufführungen zuließ. Scheurer versuchte daraufhin sein Glück erneut mit einer Gastspielreise und bemühte sich wie schon im Jahr zuvor um eine Spielerlaubnis in Frankfurt für die Zeit während der Herbstmesse. Doch trotz adeligen Beistands seitens des Landgrafen von Hessen-Kassel, der eigens seinen Kammermeister zu den Bürgermeistern geschickt hatte, gelang es Scheurer nicht, mit seiner Truppe in Frankfurt Fuß zu fassen, da die von ihm mehrfach eingereichten Supplikationen stets mit dem Hinweis auf die gefährlichen Zeitläufte abgelehnt wurden.157 Sein Weg führte daraufhin erneut zurück in seine Heimatstadt, wo ihm im Oktober noch einige Aufführungen im Fechthaus bewilligt wurden 158 - darunter möglicherweise einige »Singstücke« zu Ehren des Herrn Rieter von Kornburg, wie noch Georg Andreas Will zu berichten wußte, ohne allerdings hierfür einen Beleg zu liefern.159 Schlußvorhang mit Schimpf und Schulden Die widrigen Zeitverhältnisse und zum Teil schlechten Erfahrungen hielten Scheurer nicht davon ab, im darauffolgenden Jahr wiederum sein Glück als Prinzipal zu versuchen. Im Sommer 1688, nunmehr seiner dritten Saison, baute er abermals seine Bühne im Fechthaus auf. Allerdings ließ der Ärger 154
Zitiert nach dem vollständigen Abdruck des Gesuchs bei ebd., S. 118. Vgl. ebd. 156 StaatsAN, RV Nr. 2862 vom 26. Februar 1687, fol. 109v. 157 vgl. Mentzel: Geschichte der Schauspielkunst in Frankfurt am Main, S. 123. 158 Vgl. StaatsAN, RV Nr. 2871 vom 13. Oktober 1687, fol. 10r. is? vgl. Will: Geschichte der Nürnbergischen Schaubühne, S. 213. 155
614
auch diesmal nicht lange auf sich warten. Denn beim Nürnberger Rat lagen schon bald Beschwerden gegen Scheurer »von seinen aus Augsburg beschriebenen comoedianten« vor, »daß sie keine Zahlung von ihm erlangen können«.160 Bei diesen Komödianten aus Augsburg dürfte es sich vor allem um einen alten Bekannten und ehemaliges Mitglied von Scheurers Ensemble handeln: Johann Friedrich Schneidewein, der es im Sommer 1688 auf eigene Faust mit einer Truppe versuchte und im Juli und August in der Fuggerstadt gastierte.161 Offenbar war Scheurer ihm noch einiges an Lohn aus früheren Spielzeiten schuldig geblieben, den Schneidewein, laut seiner Gesuche an den Augsburger Rat selbst in argen Finanznöten, nun vehement einforderte. Bemerkenswert ist nun, daß der Nürnberger Magistrat nicht nur beschloß, der Anzeige nachzugehen und ihr gegebenenfalls zum Recht zu verhelfen, sondern den (wiederholten) Ärger um Scheurer nun auch zum Anlaß nahm, hart mit dem theaterbegeisterten Buchkrämer ins Gericht zu gehen und dessen Karriere als Prinzipal in Nürnberg zu beenden. Denn in den Augen der Obrigkeit hatte Scheurer sich mit seinen gezeigten Darbietungen »bishero sehr schlecht aufgeführet«, weshalb man das Kriegsamt beauftragte, »den davon zu gewarten habenden schimpf und schaden ihme wol [zu] remonstriren«.162 Scheurer versuchte zwar noch, das ihm drohende Debakel abzuwenden, erreichte jedoch nur, daß der Rat ihm »auf sein wiederholtes inständiges ansuchen« erlaubte, »daß er ein für alle mahl noch eine comoediam vorstellen möge«. Zudem warnte man den Buchhändler erneut »vor besorgenden schimpff und schaden« und ermahnte ihn eindringlich, er solle »nach solcher das comoedien agiren gänzlich abstellen«.163 Trotz eines erneuten Bittgesuchs Scheurers, in dem er auf seine durch den Entzug der Spielgenehmigung entstandene prekäre finanzielle Situation hingewiesen zu haben scheint, blieb der Rat bei seiner ablehnenden Entscheidung und ließ für die Zukunft an seiner Position keinen Zweifel: Das »abermalige ansuchen« wurde brüsk zurückgewiesen und zugleich unmißverständlich klargestellt, man werde »keine Schrift mehr von ihm annehmen«. Auch wurde dem unliebsamen Prinzipal vorgeworfen, er habe sehr zum Ärger des Rats »seine schlecht genug bestandene comoedianten eine Nürnbergische compagnie zu nennen sich eigenthätig angemaßet«.164 Ein bemerkenswerter Hinweis für die Kontrolle des Rats, der offenbar sehr genaue Erkundigungen über das Verhalten seiner theatertreibenden Bürger einholte. Denn sonst wäre es wahrscheinlich unentdeckt geblieben, daß Scheu160 161
162 163 164
StaatsAN, RV Nr. 2881 vom 2. August 1688, fol. 126r. Vgl. Stadtarchiv Augsburg, Meistersinger=Acten von 1552-1699, Fase. I., Nr. 105, fol. 294 r -298 v , sowie Nr. 106, fol. 296 r -300 v , Eingaben vom 15., 17., 24. und 27. Juli 1688. StaatsAN, RV Nr. 2881 vom 2. August 1688, fol. 126r. Ebd. vom 4. August 1688, fol. 135r. Ebd. vom 8. August 1688, fol. 160v.
615 rer sich auswärts unerlaubt mit einem nicht erteilten Privileg geschmückt hatte. Der Rat konnte jedenfalls seinen Willen durchsetzen. Seit den Vorfällen im August 1688 taucht Georg Scheurer (soweit ersichtlich) weder in Nürnberg noch anderswo mehr als Prinzipal oder Komödiant auf. Nach lediglich drei Spielzeiten war für den Buchhändler der Schlußvorhang gefallen und seine Karriere als Theaterunternehmer und Schauspieler beendet - und zwar (dies gilt es festzuhalten) nicht freiwillig, sondern auf obrigkeitliches Geheiß. Von Anfang an hatte der Rat die Schauspielaktivitäten des Verlegers mit offenem Mißtrauen und Zweifeln an dessen Qualifikation verfolgt. Die Gründe für die zunächst reservierte, schließlich völlig ablehnende Haltung waren dabei die gleichen wie schon bei den vielfachen Bemühungen der Handwerker um Spielgenehmigungen: Der Rat sprach dem Buchhändler nicht nur die künstlerische Eignung ab, sondern kritisierte auch die in seinen Augen anstößigen und sittlich bedenklichen Inhalte der Stücke sowie deren offenbar allzu drastische Darstellung, wie die oben wiedergegebenen Ratsentscheidungen deutlich machen. Dabei empfand man es als besonders schwerwiegendes Vergehen, daß Scheurer sich angemaßt hatte, mit seiner Truppe in anderen Städten offiziell als »Nürnbergische compagnie« aufzutreten. Die unerlaubte Verwendung dieses Privilegs stellte in jedem Falle eine Mißachtung des obrigkeitlichen Hoheitsanspruchs dar, den der Rat im Theaterwesen für sich allein reklamierte. 165 Darüber hinaus ist durchaus denkbar, daß man befürchtete, Scheurers »schlecht genug bestandene comoedianten« könnten durch den offiziellen Titel möglicherweise auswärts als repräsentativ für Nürnberger Theaterkunst angesehen werden und so ein schlechtes Bild auf die Reichsstadt werfen. Die ablehnende Haltung des Rats ist jedoch nicht ausschließlich von negativen Motiven bestimmt. Denn das Mißtrauen, das man Scheurers Schauspielaktivitäten entgegenbrachte, war zumindest zum Teil durch obrigkeitliche Fürsorgepflicht dem Nürnberger Bürger Georg Scheurer gegenüber begründet. Hierauf verweist etwa die Aufforderung des Rats an Scheurer, vor Erteilung einer Spielgenehmigung zunächst einen Finanzierungsplan vorzulegen. Offenbar glaubte der Magistrat, daß den ehrgeizigen Theaterplänen des Buchhändlers eine nicht unbeträchtliche Gefahr der Verschuldung innewohnte. Die Bedenken des Rats waren jedenfalls nicht ganz unberechtigt. Denn für Georg Scheurer dürfte seine Episode als Theaterimpresario mit erheblichen finanziellen Belastungen verbunden gewesen sein. Schon bei seinem Debütprojekt spielten Kostenfragen eine nicht unbeträchtliche Rolle, wobei einiges dafür spricht, daß der Buchhändler sich mit dem ehrgeizigen Projekt übernommen hatte - wie die oben zitierten Klagen des »ExercitienMeisters« Heinrich Moes andeuten. 165
Siehe Teil A, Kap. 2.
616 Da auch in den folgenden Jahren die Beschwerden aus den Reihen seiner Schauspieler und anderer angeworbener Künstler über ausstehende Bezahlung nicht abrissen, scheint es, daß Scheurer des Geldproblems offenbar nie ganz Herr wurde. Die mäßigen Erfolge in Nürnberg, die zwei gescheiterten Tourneen nach Frankfurt sowie das abrupte, sicherlich nicht geplante und einkalkulierte Ende seiner Laufbahn als Prinzipal werden ein übriges zur Finanzmisere beigetragen haben. Der handgreifliche Streitfall mit dem Sohn von Jakob Kuhlmann, Scheurers direktem und wesentlich erfolgreicher agierendem Konkurrenten, legt nahe, daß der wirtschaftliche Druck auf den Theaterunternehmer nicht gering gewesen sein dürfte. Georg Scheurer wäre jedenfalls weder der erste und noch der letzte Prinzipal, der in Nürnberg samt seinem Theater einen Schuldenberg abzubauen gehabt hätte.166 Die Klagen von in Nürnberg gastierenden Komödianten über zu hohe Abgaben, ungerechte Vergabepolitik bei Spielerlaubnissen und drückende Ausgaben sind Legion. Als ein besonders prägnantes Beispiel sei hier eine Passage aus den Lebenserinnerungen der Komödiantin Karoline Schulze-Kummerfeld angeführt, die als kleines Mädchen mit ihren Eltern in der Truppe des Prinzipals Schulz spielte und mit dieser Anfang der 1750er Jahre in Nürnberg weilte: Wir kamen also in Nürnberg an, und nach Ostern wurde zuerst gespielt. Der Schauplatz war in dem Fechthaus, wo vor vielen 100 Jahren die TVirniere gehalten wurden. Die Komödie ging gegen drei Uhr des Nachmittags an und wurde unter dem freien Himmel am Tage agiert. In Nürnberg ist und konnte nie ein Direktor reich werden; ja so sind die meisten, wenn sie nicht bankerott waren, es doch dort geworden. Denn von jeder Einnahme nahm der Rat den dritten Teil. So ging's also auch unserm Direktor: mehr Schulden, als er je bezahlen konnte.167
Altersruhe als Verleger und Notar Für Georg Scheurer bedeutete der erzwungene Abbruch seiner Schauspielaktivitäten jedoch keinen völligen finanziellen Ruin und gesellschaftlichen Abstieg. Im Gegenteil, der Buchhändler scheint sich in dieser für ihn sicherlich schwierigen Situation als umsichtiger Geschäftsmann erwiesen zu haben: So konnte er seinen Buchhandel und Verlag weiter betreiben und veröffentlichte bis ins hohe Alter Werke der verschiedensten Sparten, darunter Georg Christoph Ganshorns BIBLIA, oder Jnnhalt gantzer Heiligen Schrift von 1705 - ein ebenso kurioses wie wertvolles Miniaturbuch von lediglich 3,5 χ 2,5 cm Größe, das heute im Panzerschrank der Stadtbibliothek Nürnberg aufbewahrt wird.168 166 167
168
Vgl. oben Anm. 102. Inge Buck (Hg.): Ein fahrendes Frauenzimmer. Die Lebenserinnerungen der Komödiantin Karoline Schulze-Kummerfeld 1745-1815. Vollständige Ausgabe. München 1988 (dtv klassik 2332), S. 49. Vgl. SBN, Amb. 3621. 8° Rar.
617 Neben seiner Verlegertätigkeit gelang Georg Scheurer darüber hinaus sogar eine weitere berufliche Verbesserung, mit der ein Aufstieg innerhalb der Stadtgesellschaft verbunden gewesen sein dürfte. Denn 1692 wurde er in die erhaltenen Listen der vereidigten öffentlich bestellten Notare eingetragen, 169 und im selben Jahr taucht er zugleich im offiziellen Ämterbuch der Reichsstadt auf, in dem er bis zu seinem Tod in der Abteilung »Approbirte Notary« geführt wird. 170 Es läßt sich nur darüber spekulieren, wie Scheurer zu diesem Beruf gelangte. Kenntnisse hierfür mag er sich während seines Studiums erworben haben. Auch war es in Nürnberg durchaus üblich, daß gerade Schreib- und Rechenmeister sowie Mitglieder aus ihren Familien ein Amt als Notar anstrebten und als juristische Berater im Dienst der Stadt tätig waren. 171 Ähnliches läßt sich innerhalb der Familie Scheurer beobachten, denn mehrere Mitglieder aus Georg Scheurers näherer Verwandtschaft waren in juristischen Berufen tätig. 172 In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, daß es damals in Deutschland keine einheitlichen Voraussetzungen für die Qualifikation zum Notar gab. Zwar wurden für die Eignung neben einem guten Leumund und tadelfreiem Lebenswandel auch Rechtskenntnisse als erwünscht angesehen, ein juristisches Studium stellte jedoch keine Notwendigkeit dar. 173 Allerdings konnten Komödianten als Personen minderen Rechts gelten, denen man an manchen Orten vor Gericht eine geringere Glaubwürdigkeit zusprach und unter anderem die Befähigung zu gerichtlichem Eid und Zeugnis abstritt. 174 Gerade dies ist im Hinblick auf die Frage nach der Qualifikation zum Notar von Bedeutung, da Ehrlosen und Zeugnisunfähigen aus naheliegenden Gründen im allgemeinen der Zugang zu einer Notariatsstelle verwehrt war. 175 169
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Vgl. SBN, Nor. H. 401: Chronologisches Verzeichnis Nbgerischer Notare 1 6 4 5 1803, fol. [l v ], sowie SBN, Nor. H. 574: Verzeichniß der vom Jahr 1645 an - als damalen die Notarien alhier zu Nürnberg um die österliche Zeit zum erstenmal auch wie andere Officianten Pflicht thun musten so vorher nicht geschehen [...] bis zum Jahr 1806 [...], fol. [2 r ], Vgl. StaatsAN, Rep. 62: Ämterbüchlein, Nr. 211 (1692), fol. 68 v bis Nr. 224 (1705), fol. 68v. Vgl. Jaeger: Tätigkeit der Schreib- und Rechenmeister, S. 147ff., sowie Heisinger: Schreib- und Rechenmeister, S. 69f. So bekleidete sein jüngerer Bruder Christoph Scheurer die Stelle eines Registrators am Landpflegeamt, das eine wichtige Gerichtsbehörde im Nürnberger Rechtsleben darstellte. Dessen Sohn und Georg Scheurers Neffe, Johann Christoph Scheurer, war ebenfalls Jurist und Stadtadvokat in Nürnberg. Vgl. N G L 3 (1757), S. 513, u. 8 (1808), S. 68f. Siehe allgemein hierzu Jürgen Arndt: Das Notarernennungsrecht der kaiserlichen Hofpfalzgrafen. In: Hofpfalzgrafen=Register. Bd. 3. Bearbeitet v. ders. Hg. v. Herold - Verein für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften. Neustadt a . d . A . 1988, S. V I I - X X . Vgl. Brückner: Die rechtliche Stellung der Bühnenkünstler, S. 38 u. 45f., sowie Schubart-Fikentscher: Stellung der Komödianten, S. 65f.
618 Georg Scheurer scheint jedoch trotz seiner turbulenten Theaterabenteuer nicht von weiteren gesellschaftlichen Diskriminierungen und beruflichen Beschränkungen betroffen gewesen zu sein. Als er Anfang September 1705 mit fast 63 Jahren in Nürnberg starb, weiß das Beerdigungsbuch von St. Sebald nichts mehr von den einstigen Theatereskapaden und Bühnenabenteuern des gelehrten Prinzipals, sondern verzeichnet den bemerkenswerten Eintrag: »Der Erbare und Rechts-Gelehrte Georg Scheurer, Not. Publ. Caesare, am Bonersberg«.176 Der erstaunliche Werdegang des neunfachen Familienvaters vom Buchkrämer, Antiquar und Verleger Sigmund von Birkens bis hin zum Rechtsgelehrten und durch kaiserliches Privileg bestellten Notar mit zwischenzeitlicher Karriere als umstrittener Theaterimpresario und Prinzipal einer Wanderbühne läßt Georg Scheurer sicherlich als eine der schillerndsten Figuren im Kulturleben der Reichsstadt zwischen 1670 und 1700 erscheinen und macht darüber hinaus zum Abschluß des paradigmatischen Aufrisses der theatralen Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts nochmals deutlich, durch welche vielfältigen Kräfte und Gestalten die Nürnberger Theaterlandschaft in dieser Zeit geprägt war.
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Vgl. Arndt: Notarernennungsrecht, S. XII. LKAN, S 43: Bestattungsbuch St. Sebald vom 6. September 1705, S. 226. Wenn Komödianten ihr Gewerbe als Schausteller ablegten und in bürgerliche Berufe zurückkehrten, gab es durchaus für sie die Möglichkeit, ihren Stand wieder zu heben. Vgl. Schubart-Fikentscher: Stellung der Komödianten, S. 80ff.
7. Ausklang und Ausblick - Theater in Nürnberg nach 1700 bis ca. 1730 Das Ende der Opernunternehmungen Nürnberger Bürger, Musiker und Dichter sowie die im finanziellen Debakel gescheiterten Gastspiele der Operntruppe Johann Sigismund Kussers am Ausgang der 1690er Jahre stellen einen tieferen Einschnitt in der Nürnberger Theatergeschichte dar. Mehr als 20 Jahre sollten vergehen, bis im Nachtkomödienhaus wieder Opern zu sehen waren. Deutliches Zeichen für das darniederliegende Musiktheater war der heruntergekommene Zustand des lange Zeit verwaisten Opernhauses, das 1719 vor der Inbetriebnahme einer Totalrenovierung unterzogen werden mußte (siehe unten). Gewiß, mit Beginn des neuen Jahrhunderts bricht die Theaterkultur in Nürnberg nicht abrupt ab. Auch nach 1700 wurde auf den Bühnen der Reichsstadt gespielt. Allerdings geschah dies in bescheidenerem Umfang und vor allem kaum mehr von einheimischen Kräften. Schauspiel und Theater in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden in Nürnberg zumeist nur noch von auswärtigen Wandertruppen bestritten, denen sich anfangs noch vereinzelt Nürnberger Handwerker anschlossen, wie das Beispiel Johann Jacob Schüblers d. Ä. zeigt.1 Dabei waren die Bedingungen für die fahrenden Theaterbanden nicht gerade günstig: Hohe Abgabeforderungen des Rats, anhaltende Anfeindungen von Seiten der Geistlichkeit (siehe unten) und politische Ursachen erwiesen sich als wenig förderlich für das Theaterwesen. So mußten während der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges von 1701 bis 1714 immer wieder für längere Zeit die öffentlichen Theater geschlossen werden. »Niedergang des Schultheaters« und andauernde Theaterfeindlichkeit Besonders auffällig ist das Versiegen des eigenständigen Theaterlebens im Nürnberg des 18. Jahrhunderts. Obschon eine genaue Untersuchung zu den Verhältnissen in dieser Zeit fehlt, lassen sich einige Aspekte hervorheben. So mag dies unter anderem mit einer sich langsam wandelnden Einstellung der Obrigkeit zusammenhängen, die das Theater offenbar nicht mehr in dem Maße förderte und als Herrschaftsinstrument einsetzte, wie es noch im
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Vgl. hierzu Rudin: Der Prinzipal Benecke, S. 205 u. 213f.
620 17. Jahrhundert der Fall war.2 Dies könnte die Ursache für einen weiteren Faktor sein, der zum Erliegen der Nürnberger Theaterkultur in erheblichem Maße beigetragen haben dürfte: das Ende des barocken Schultheaters. Während diese Institution das gesamte 17. Jahrhundert hindurch zu einem der zentralen Träger einer theatralen Kunst in der Reichsstadt zählte, wurden (soweit ersichtlich) von den Nürnberger Schulen nach 1700 so gut wie keine Schauspiele im öffentlichen Rahmen mehr aufgeführt. 3 Dieser Befund korrespondiert mit der allgemeinen Entwicklung im Alten Reich.4 In vielen Städten ließ man um 1700 die Darbietungen von Schauspielen an Gymnasien und Lateinschulen einstellen, so daß man von einem regelrechten »Niedergang des Schultheaters« in dieser Zeit gesprochen hat: »Immer häufiger schränken Konsistorien, Ephorate und Magistrate den Theaterbetrieb der Schulen ein«5. Ausschlaggebend waren dabei neben den Bestrebungen der realistischen Schulpädagogik zumeist die zunehmende Kritik am Theater aus pietistischen Kreisen, die sich auch gegen das Schultheater richtete, das sich durch die Annäherung an Inszenierungsformen der Oper längst von seinen Ursprüngen als rhetorisch-deklamatorisches Bildungsinstrument des humanistischen Unterrichts entfernt hatte und dadurch in immer größeren Rechtfertigungszwang gekommen war.6 Kritik am Schultheater dürfte in Nürnberg ein entscheidender Faktor für das Ende dieser Institution gewesen sein. Wie gezeigt, war es bei den Opern 1697 zu einem Eklat gekommen, da sich einige Lehrer über Gebühr bei den Aufführungen der Kusserschen Operistenbande engagiert und darüber ihre Pflichten vergessen hatten. Der Rat sah in der Theaterleidenschaft der Lehrer offenbar einen Grund dafür, daß »das sonst wolbestellt gewesene Gymnasium auch in merkliches abnehmen gerathen seye«. Den Pädagogen wurde deshalb jede weitere Aktivität auf diesem Gebiet verboten und eingeschärft, daß sie ihre Schüler »zur Gottesfurcht u. Christlichen Tugenden, deren sie sich selbst auch zu befleißigen haben, anweisen und der mit ihrem amt nicht stimmenden händel sich enthalten sollen«7. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß aufgrund beklagter Mißstände an den Schulen fast zeitgleich 1698 eine neue Schulordnung erlassen wurde, die auf Beschluß des Rats von dem pietistisch gesinnten Theologen Tobias Winkler ausgearbeitet worden war und keine Schulaufführungen
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Krämer: Musiktheater, S. 78, spricht dem Nürnberger Magistrat im 18. Jahrhundert sogar eine »Behinderungspolitik durch Abgabenforderungen und restriktive Auflagen« zu. Vgl. auch Hampe: Theaterwesen, S. 168. Vgl. dazu Möller: Gymnasium zu Königsberg [...] Stück V: Die Schulcomödien im Allgemeinen, S. 6, sowie Barner: Barockrhetorik, S. 317f. Barner: Barockrhetorik, S. 318. Vgl. ebd. StaatsAN, RV Nr. 2999 vom 20. Mai 1697, fol. 56v.
621 mehr vorsah.8 Bemerkenswert ist noch eine weitere Tatsache: In dem Jahr, in dem es zum Opernskandal kam und man den Lehrern die Mitwirkung am Theater verbot, wurde mit Johann Conrad Feuerlein ein Mann als Prediger an St. Egidien sowie als Direktor des Gymnasiums berufen, der ein ausgesprochener Anhänger August Hermann Franckes und dessen Ideen war.9 Sollte diese zeitliche Parallele tatsächlich nur ein Zufall sein? In jedem Fall ist es gut denkbar, daß Feuerlein als Pietist und Freund Franckes bei seinem Amtsantritt 1697 dafür eintrat, den Schultheaterbetrieb einzustellen. Neben der erneuerten Schulordnung und personellen Veränderungen an wichtigen Stellen war es für die Entwicklung des Schultheaters zudem sicherlich wenig förderlich, daß die bereits in den 1690er Jahren einsetzende Kritik am Theater von Teilen der Geistlichkeit im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts keineswegs abebbte.10 Dabei griffen die Theologen auch zu publizistischen Mitteln, so etwa Christian Hirsch11. Der pietistisch gesinnte Diakon an der Sebalduskirche war Schüler und Freund Ambrosius Wirths und wie dieser ein entschiedener Theatergegner. Als 1722 mit dem Titel Curieuse und wohl= erörterte Frage: Ob Comödien unter denen Christen geduldet12 eine Apologie für Schauspiele erschienen war, sah er sich genötigt, eine Gewissenhaffte Und in GOttes Heil. Wort gegründete Untersuchung13 gegen jede Form von Theater zu verfassen. Hierin widerlegte er in einer Art Zeilenkommentar alle Argumente der zuvor erschienenen Apologie und Schloß seine Grundsatzkritik mit der Feststellung, »daß solche bißher beschriebene Comödien, unter denen wahren Christen, keinesweges gedultet, noch, ohne Verletzung ihres Gewissens, von jemand besuchet werden können«14. Mit der Aufgabe der Schulspiele gewinnt jedoch eine andere Institution an Gewicht: der rhetorische Schulactus. Wie bereits dargelegt, hatten öffentlich vorgetragene Redeübungen in Nürnberg eine lange Tradition und waren fester Bestandteil im reichsstädtischen Bildungssystem.15 Aufgrund des Weg8 9
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Vgl. Leder: Entwicklung, S. 326. Vgl. Simon: Nürnbergisches Pfarrerbuch, S. 62f. Francke und seine Anhänger waren entschiedene Gegner und Kritiker des Theaters und der Oper. Siehe hierzu Teil B, Kap. 5.4.3. Vgl. dazu Teil B, Kap. 5.4.3. Zu Christian Hirsch siehe N G L 2 (1756), S. 130-132; Simon: Tobias Winkler, S. 235 Anm. 199, sowie ders.: Nürnbergisches Pfarrerbuch, S. 97. Anonym: Curieuse und wohl=erörterte Frage: Ob Comödien unter denen Christen geduldet / und ohne Verletzung ihres Gewissens von denenselben besuchet werden können? Namfoh [Hofman]. Hamburg 1722. [Christian Hirsch]: Gewissenhafte Und in GOttes Heil. Wort gegründete Untersuchung Der so genandten curieusen und wohl=erörterten Frage: Ob Comödien unter denen Christen gedultet, [...]? Per Namfoh. Hamburg, Anno 1722. Wohlmeynend, nothdringlich und bedächtlich vorgenommen Von einem der vor GOttes Ehre Und das Heil der Seelen billig eifert. Augspurg 1724. Ebd., S. 38. Vgl. dazu Teil B, Kap. 2.2., Beispiel 1.
622 falls der dramatischen Schulaufführungen nach 1700 kam den Redeübungen die alleinige Aufgabe als rhetorische Übungsform und Bildungsmittel zu. Fast bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit läßt sich diese Einrichtung das gesamte 18. Jahrhundert hindurch belegen. Dabei ist bemerkenswert, daß in dieser Zeit nicht allein das auditorium publicum mit Redeactus-Veranstaltungen hervortritt. Auch das Egidiengymnasium und alle Nürnberger Lateinschulen ließen von ihren Schülern öffentliche Redeübungen abhalten. Ein Förderer dieser Institution war unter anderem der Nürnberger Gelehrte Georg Christoph Münz, der von 1731 bis 1737 Rektor am Gymnasium war und sich in den Augen der Zeitgenossen »besonders auch durch angestellte Redner Uebungen sehr verdient gemacht hat«16. Opernpleiten Neben dem Wegfall des Schultheaters kommt noch ein weiteres Moment hinzu, das zum Niedergang des einheimischen Theaterlebens entscheidend beigetragen haben dürfte: der Rückzug der Handelsleute aus dem Bereich der Oper. Wie gezeigt, fungierten ihre Mitglieder als tragende Kräfte des barocken Musiktheaters in der Stadt, die sich allerdings offenbar aufgrund der Skandale, Pleiten und massiven Kritik, die mit der Oper in der Stadt um 1700 verbunden war, von ihr abwendeten. Damit war dem Nürnberger Theater jedoch eine seiner wichtigsten Stützen abhanden gekommen.17 Eine Generation sollte es dauern, bis 1719 erstmals wieder Opern im Nachkomödienhaus gespielt wurden: Auf Vermittlung des Stadtkapellmeisters Maximilian Zeidler genehmigte der Rat im Winter 1718/19 das Gesuch des Coburger Opernmeisters Caspar Casimir Schweizelsberger, mit seiner Truppe in der Stadt zu gastieren, und stellte ihm das Nachtkomödienhaus zur Verfügung.18 Allerdings war das Theater aufgrund der langen Spielpause in einem derart desolaten Zustand, daß es zunächst einer Generalrenovierung bedurfte, für die man nun Geldgeber suchte. Offenbar war die Erinnerung an die einst von den Handelsleuten veranstalteten und finanzierten Opernaufführungen noch wach, da der Magistrat beim Handelsplatz und den Großkaufleuten nachfragen ließ, ob sich dort wieder Geldgeber und »Liebhaber« fänden - ohne Erfolg allerdings. Schließlich beschloß man, die Kosten aus der Stadtkasse zu bezahlen. Eine Entscheidung, die mancher Ratsherr schon bald bereut haben dürfte. Denn die seit März 1719 im Nachtkomödienhaus vorgestellten Operndarbietungen der Truppe von Schweizelsberger erwiesen sich offenbar als künst16 17
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NGL 2 (1756), S. 696. Hinzu kommt schließlich noch, daß sich nach 1700 auch aus dem Kreis der Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens offenbar keine Dichter mehr fanden, deren Neigung insbesondere dem Theater gegolten hätte. Siehe zu dieser Episode ausführlich Hampe: Theaterwesen, S. 178-182.
623 lerische Pleite, und in der Stadt machten schon bald kritische Stimmen die Runde ob des schlechten Niveaus der gezeigten Stücke.19 Zudem riefen einige der Opern die Zensurbehörde auf den Plan, die an zahlreichen Obszönitäten Anstoß nahm und eine Überarbeitung der Texte verlangte.20 Schließlich kam es während der Aufführungen durch fremde Personen, die das Bühnenpersonal bei der Arbeit behinderten, zu Turbulenzen hinter Bühne, so daß vom Kriegsamt Wachpersonal bereitgestellt werden mußte.21 Im Juni zog Schweizelsberger schließlich wieder ab, ohne daß er die Oper in der Reichsstadt wieder hätte heimisch machen können. Sein Gastspiel blieb nur Episode und bildete für längere Zeit den letzten Höhepunkt barocken Musiktheaters in Nürnberg. Am Schluß dieses Ausblicks sei auf bislang weitgehend unbeachtete Theaterereignisse in dem Landstädtchen Altdorf verwiesen. Dort wurden Anfang der 1730er Jahre an der Universität mehrere Opern von einigen Studenten aufgeführt. Den Auftakt hierzu machte 1730 eine Vorstellung von Benjamin Neukirchs Singspiel Weinender Petrus.22 Ihr folgten bis 1732 noch zwei weitere, im offiziellen Rahmen dargebotene Opern, die möglicherweise im Zusammenhang mit Feiern an der Hochschule zu sehen sind.23
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Darunter befanden sich eine »Opera von Lucretia der keuschen Römerin« sowie die Stücke »Die in ihrem Christentum standhafft gebliebene Märtyrin Margaretha«, »Galathea« und »Der verstellte Dorindo«. Von letzterem hat sich in der Staatsbibliothek Berlin (Sign.: Y q 8541. 8° R.) ein Druck erhalten: [Casimir Schweizelsberger]: Der verstellte DORINDO Jn einem PASTORELLO aufgeführet. Nürnberg [1719], Vgl. Hampe: Theaterwesen, S. 179f. Vgl. den entsprechenden Ratsverlaß bei ebd., S. 322. Benjamin Neukirch: Weinender Petrus in einem Theatralischen Sing-Spiel in Altdorf aufgeführt Den 27. Novembr. 1730. o.O. 1730. Der Vf. beabsichtigt, diese unerforschte Episode in einem gesonderten Beitrag näher vorzustellen.
Zusammenfassung Vorliegende Arbeit stellt die bislang unbekannte theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts erstmals in ihrer ganzen Breite dar, nicht zuletzt um dadurch die ebenso langlebige wie weit verbreitete Meinung über das nicht vorhandene bzw. niedergehende Theaterwesen der Reichsstadt in dieser Zeit zu widerlegen. Zugleich wird damit die nach wie vor herrschende Auffassung, die Fest- und Theaterkultur im Barockzeitalter sei fast ausschließlich auf den höfisch-fürstlichen Bereich beschränkt gewesen, korrigiert und demgegenüber der Blick auf die lebendige reichsstädtische Festkultur dieser Zeit gerichtet. Im Rahmen eines paradigmatischen Aufrisses zeigt die Arbeit die Vielfalt der theatralischen Präsentationsformen des Nürnberger Barocktheaters und deren unterschiedliche Ausprägungen. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts öffneten sich auf den Bühnen der Reichsstadt die Vorhänge für die unterschiedlichsten Spektakel: vom strengen Ballett und ernsten Trauerspiel über belehrende Schuldramen in lateinischer und deutscher Sprache, bluttriefende Haupt- und Staatsaktionen und zotige Hanswurstiaden bis hin zu Schäferdramen, Festspielen und pompösen Opernaufführungen. Neben den vielen gastierenden Wandertruppen versuchten sich das gesamte 17. Jahrhundert hindurch zahlreiche einheimische Kräfte als Schauspieler, Regisseure und Veranstalter, darunter Handwerker und Handelsleute ebenso wie Dichter, Musiker, Gelehrte, Schulmeister und Söhne aus den Familien der Patrizier. Gespielt wurde auf den Bühnen der zwei großen Theater, in den Räumen säkularisierter Klöster und Kirchen, auf Podien und improvisierten Holzgerüsten in Gärten und Sälen von Privathäusern sowie nicht zuletzt auf freien Flächen und Plätzen vor den Toren der Stadt und im Zentrum auf dem Hauptmarkt. Dabei macht die Arbeit deutlich, daß die theatrale Kunst sowohl quantitativ als auch qualitativ einen wichtigen Bestandteil innerhalb der Urbanen Festkultur Nürnbergs bildete und einen wesentlichen Faktor im öffentlichen Leben der Reichsstadt in dieser Zeit darstellte. Dies gilt nicht nur für die Gastspiele auswärtiger Wandertruppen, das blühende Schultheater oder die zahlreichen Opern- und Ballettaufführungen zu festlichen Anlässen, sondern auch für das (oftmals vernachlässigte) Phänomen der theatralen Klein- und Kleinstformen, die zwar im Kreis geladener Gesellschaften aufgeführt wurden, aber dennoch bedeutende Funktionen öffentlicher Kommunikation erfüllten.
625 Beispiele aus all diesen Bereichen belegen, in welch hohem Maße Theater und Schauspiel als zweckgebundene Gebrauchskunst mit oftmals offiziellem Charakter und sozial-politischer Bedeutung instrumentalisiert wurden. In vielen Fällen erscheinen sowohl die Theateraufführungen auf den Bühnen des Fecht- und Nachtkomödienhauses als auch die theatralen Darbietungen im begrenzteren Rahmen geladener Gesellschaften gleichsam als >Gelegenheitsdichtungen im Großformat^ die zahlreiche kommunikative Funktionen sowohl innerhalb der reichsstädtischen Gemeinde als auch zur gezielten Steuerung der Fremdwahrnehmung von außen erfüllten. Theater als Massenmedium, Repräsentationskunst und bevorzugter Raum zur Realisation reichsstädtischer Öffentlichkeits- und Geselligkeitsformen - durch die zum Großteil hier erstmals beschriebenen historischen Aufführungsbeispiele wurden diese zentralen Funktionen theatraler Kunst hervorgehoben. Diese kaum zu überschätzende Bedeutung des Theaters als öffentliches Forum kommt auch darin zum Ausdruck, daß die theatrale Kunst von unterschiedlichen sozialen Gruppen der Stadt intensiv genutzt, gepflegt und gefördert, aber zugleich immer wieder heftig bekämpft wurde, wie etwa von Teilen der Nürnberger Geistlichkeit. Anders jedoch der Nürnberger Rat, der als Obrigkeit dem Bereich des Theaters großes Interesse widmete: So wurde das Theaterwesen nicht nur einer umfassenden Kontrolle und einer auf Sozialdisziplinierung abzielenden Reglementierung unterzogen, sondern erfuhr auch mannigfache Förderung, die zum Teil beträchtliche materielle Unterstützung einschloß und sich bereits in den im 17. Jahrhundert erfolgten Bauten zweier Theaterhäuser mit mehreren tausend Plätzen widerspiegelt. Ferner nutzten die Stadtherren und die patrizische Führungselite vielfach das kommunikative Potential der auf visuelle und akustische Präsentation ausgerichteten theatralen Kunst zu Zwecken der eigenen Repräsentation und festlichen Selbstdarstellung, der oft politische Bedeutung zukam, wie beispielsweise bei Veranstaltungen zu Ehren des Kaiserhauses. Darüber hinaus erkannte der Rat die in den zeitgenössischen Staatsklugheitslehren hervorgehobene Bedeutung des Theaters als wichtigen sozial-gesellschaftlichen Faktor, der sich gezielt zur Herrschaftssicherung und -anerkennung gegenüber den eigenen Bürgern einsetzen ließ. Neben dem Rat und den Patriziern ist als Förderer und Interessent der Theaterkultur vor allem die aufstrebende Schicht der Nürnberger Großkaufleute aus dem zweiten Stand zu nennen, die ihren Anspruch auf Exklusivität und besondere Ehrbarkeit innerhalb der städtischen Gemeinde mittels eines ausgeprägten kulturellen Mäzenatentums zu dokumentieren versuchte. Hierzu zählte insbesondere das in dieser Arbeit erstmals beschriebene organisatorische und finanzielle Engagement bei der Oper, die ohne die Initiative seitens der Handelsleute wohl kaum Einzug in Nürnberg gehalten hätte. Bei dieser Unterstützung handelte es sich nicht um ein auf ökonomischen Gewinn abzielendes Unternehmertum, sondern in erster Linie um ein Mäzena-
626 tentum im Dienste der eigenen Standesehre. Im Rahmen dieser Darstellung des barocken Musiktheaters in Nürnberg wurde zugleich eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Handelsleuten und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens nachgewiesen, die dem gängigen Bild vom >privaten< und >nicht öffentlichem Charakter der Sprachgesellschaft in nicht unerheblichem Maße widerspricht. Neben der bislang vernachlässigten Nürnberger Barockoper wurde nun auch erstmalig das barocke Schultheater der Reichsstadt systematisch und mit mehreren historischen Aufführungsbeispielen beschrieben. Als Instrument pädagogisch-rhetorischer Unterweisung und gleichsam verlängerte Form des regulären Unterrichts war das Schultheater fest in das Bildungswesen der Gemeinde integriert und erfüllte wichtige erzieherische Aufgaben. Zugleich diente es neben der Schule selbst vornehmlich der reichsstädtischen Oberschicht zur repräsentativen Selbstdarstellung, wie die vielen von Patriziersöhnen und in Anwesenheit des Rats vorgestellten Aufführungen belegen. An mehreren Beispielen ließ sich demonstrieren, daß die Schultheaterdarbietungen oftmals anlaßgebundene Ereignisse mit offiziellem Charakter darstellten. Wie bei der Oper waren am Schultheater weite Teile der geistigen und künstlerischen Elite der Reichsstadt beteiligt: Neben den Lehrern, die in der Regel als Autoren und/oder Leiter der Schauspiele fungierten, wirkten mit den Organisten der Kirchen, den Stadtkapellmeistern und den ihrer Leitung unterstellten Stadtpfeifern auch Musiker und wichtige Institutionen des musikalischen Lebens der Reichsstadt bei den Aufführungen mit. Nicht zuletzt sind im Zusammenhang mit dem Schultheater unbeachtete Autoren erstmals näher vorgestellt und für bekanntere Dichter anhand von zum Teil bislang unerschlossenem Quellenmaterial neue Perspektiven entwickelt worden, die nicht unerhebliche Konsequenzen für die Beurteilung ihres Schaffens zur Folge haben, wie etwa im Fall von Johann Klaj. Neben dem von der Obrigkeit und den führenden Schichten der Reichsstadt geförderten, gleichsam offiziellen Theaterwesen gab es im Nürnberg des 17. Jahrhunderts aber auch eine nicht unbedeutende Kultur des Laienspiels aus den Kreisen der Handwerker. Anhand vorliegender Darstellung und Analysen wurde deutlich, wie im Laufe des Jahrhunderts das Laienspiel durch obrigkeitliche Einflußnahme und disziplinierende Maßnahmen mehr und mehr zurückgedrängt wurde - eine Entwicklung, die phasenweise unverkennbare Züge einer offenen Auseinandersetzung trug. Die lebendige Theaterkultur der Reichsstadt im Barockzeitalter spiegelt sich zudem in den Schauspielübertragungen wider, die im Nürnberg des 17. Jahrhunderts entstanden, darunter etwa die erste und bislang einzige gedruckte deutschsprachige Übersetzung der berühmten Kaiseroper II pomo d'oro. Schließlich kommt sie in den bedeutenden theoretischen Reflexionen über das Schauspiel zum Ausdruck, wie sie Georg Philipp Harsdörffer, Sig-
627 mund von Birken und Johann Conrad Dürr entwickelten. Diese in der modernen Forschungsliteratur bislang kaum näher behandelten Konzepte zielten allesamt auf die Rechtfertigung des Schauspiels als christliche Kunstform ab und lassen eine spezifische Schauspieltheorie der >Nürnberger< erkennen. Auch wenn man nicht ohne weiteres vom Einzelfall aufs Allgemeine schließen kann und sicherlich nicht jede Reichsstadt in dieser Zeit über eine derart vielfältige Theaterkultur verfügte, dürfte mit dem hier vorgestellten Paradigma Nürnberg doch eine ebenso quantitativ ausreichende als auch qualitativ bedeutsame Materialbasis vorgelegt sein, die das gängige Bild von der fast ausschließlich höfisch geprägten Fest- und Schauspielkultur im Barockzeitalter erheblich in Frage stellt. Dies sollte als Anstoß und Beitrag zu einer Neubewertung der Reichsstädte als Zentren und Vermittler von Literatur, Musik und Theater im 17. Jahrhundert verstanden werden. Eine Neubewertung, die durch andere lokale Fallstudien zu ergänzen und differenzieren wäre, um ihren Abschluß in einer dringend erforderlichen Gesamtdarstellung reichsstädtischer Festkultur in der Frühen Neuzeit finden zu können.
Abbildungen Abb. 1: Halsprvnner Hof zv Nvrnberg Anno 1623 (Museen der Stadt Nürnberg, Graphische Sammlungen). Abb. 2: Die Ochsen u[nd] Bärenhaz, 1759 (Privatbesitz). Abb. 3: Theateraufführung einer Wanderbühne im Fechthaus um 1730, aus: Angenehme Bilder-Lust der lieben Jugend zur Ergötzung also eingerichtet (SBN, Phil. 982.4° Rar.). Abb. 4: Das Fechthaus in Nürnberg, mit den Wunderbaren Sail= Tanzer. Ao. 1652 (Museen der Stadt Nürnberg, Graphische Sammlungen). Abb. 5: Theaterzettel der Truppe Carl Andreas Paulsens, 1652 (SBN, Will VIII. 507a.2°). Abb. 6: Theaterzettel der »Teutschen Comödianten« unter Michael Daniel Treu, 1668 (SBN, Nor. 1394.2°). Abb. 7: Das alte Materialhaus, später Nachtkomödienhaus östlich von St. Lorenz (vgl. Pfeil) sowie der Komplex des Heilsbronner Hofes mit der St. Nikolauskapelle unterhalb des Chores von St. Lorenz. Ausschnitt aus dem gesüdeten Prospekt der Reichsstadt Nürnberg des Hieronymus Braun 1608 (StaatsAN, Karten und Pläne, Nr. 42). Abb. 8: Detailansicht des Materialhauses, später Nachtkomödienhaus, Abb. 9: Plan des alten, 1800 eingelegten Nachtkomödienhauses neu erbauten Stadttheaters (II) (SBN, Nor. H. 992). Abb. 10: Grundriß des Nachtkomödienhauses,
aus Abb. 7.
(I) und des 1800/01
Detailansicht aus Abb. 9.
Abb. 11: Abriß deß Kaysserlichen Fewerwercks Schlosses: vnd Barraquen / worinen daß Fried vnd: Freudenmahl gehalten wordefn], vor Nürnberg auffSt. Joh: Schüßplatz Ao. 1650 (Privatbesitz). Abb. 12: Das Kinder-Ballet von 1668, Kupferstich zum Textbuch (SBN,Will IV. 82.4°). Abb. 13: »Die Zwölf Figuren des Roß Ballets«, aus: Eucharius Gottlieb Rinck: Leopolds des Grossen / Rom. Käysers/ wunderwürdiges Leben und Thaten. Leipzig 1708 (ÜBE, Hist. 469'). Abb. 14: Detailansicht der allegorischen Figur »Europa« auf der »Maschinae« und zweier Reiter des Kinder-Ballets aus Abb. 12. Abb. 15: Gedenktafel der »Gesellschaft der vordersten Kaufleute« von 1771 (SBN, Will VII. 920.M). Abb. 16: Titelkupfer des Librettos Christoph Adam Negelein: Abraham / der Groß= glaubige. Nürnberg 1682 (UB Leipzig, B. S. T. 49.12°). Abb. 17: Titelkupfer des Librettos Christoph Adam Negelein: Arminius Der Teutschen Erz-Held. Nürnberg 1697 (UB Leipzig, Libri. Sep. 4702).
Abb. 1: Halsprvnner Hof zv Nvrnberg Anno 1623.
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