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German Pages 218 [228] Year 1973
Heinz Gockel Individualisiertes Sprechen
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Neue Folge Herausgegeben von
Stefan Sonderegger und Thomas Finkenstaedt 52 (176)
w DE
G Walter de G r u y t e r • Berlin • N e w Y o r k 1973
Individualisiertes Sprechen Lichtenbergs Bemerkungen im Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Sprachkritik
Heinz Gockel
w DE
G
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1973
ISBN 3 11 003991 5 Library of Congress Catalog Card Number 72—94023 © 1973 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung . J. G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer Karl J . Trübner • Veit & Comp., Berlin 30 • Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in f r e m d e Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter Pieper, Würzburg P r i n t e d in Germany
Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1971 von der Philosophischen Fakultät der Universität Münster als Dissertation angenommen. Sie wurde angeregt von Herrn Professor Dr. Günther Weydt, dessen Aufmerksamkeit auf Kurzformen des Sprechens sie entscheidende Impulse verdankt. Darüber hinaus hat die umfassende Kenntnis der Literatur des 18. Jahrhunderts von Herrn Professor Dr. Wolfgang Martens wichtige Hinweise geben können. Schließlich bin ich meinem verehrten Lehrer in der Philosophie, Herrn Professor Dr. Atanas Maceina, dessen immer anregende Denkhaltung zur Fragestellung dieser Arbeit beigetragen hat, zu Dank verpflichtet. Dem Land NordrheinWestfalen danke ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuß, ebenso den Herausgebern der Reihe „Quellen und Forschungen" für die Aufnahme der Arbeit. Die Untersuchung hat zum Ziel, die erkenntnistheoretischen und sprachkritischen Bedingungen für das aphoristische Sprechen Lichtenbergs aufzudekken und zu diskutieren. Dabei konnte als wertvolle Hilfe der Auktionskatalog der Lichtenbergschen Bibliothek, die in seinem Todesjahr 1799 zum Verkauf angeboten wurde, herangezogen werden. Hier sind viele jener Werke namhaft zu machen, die Lichtenbergs Denkhaltung bestimmt haben. Ausführliche Zitate kennzeichnen den Hintergrund, vor dem Lichtenbergs Denken sich abhebt. Wiederholungen im Laufe der Darstellung haben ihre Berechtigung, insofern der Leser mit einer Argumentationsweise konfrontiert wird, die die ständige Auseinandersetzung mit dem zuvor Gesagten einschließt. Heinz Gockel
Inhalt Einleitung
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Erster Teil: Individualisiertes Denken I. Erkenntniskritik . 1. Erkenntnismöglichkeiten: individua und genera . . . 2. Relativität der Erkenntnis II. Denkhaltung: „Das längst Geglaubte für unausgemacht halten" III. Denkform: Witz Zweiter Teil: Individualisiertes Sprechen I. Sprachkritik 1. Charakteristica universalis und Natursprachenlehre . 2. Von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache . . II. Sprechhaltung 1. Die Bemerkungen vor dem Hintergrund der Rhetorik . 2. Das angemessene Sprechen III. Individualisierte Aussage . 1. „proprie communia dicere" . 2. Metaphorik und Bildlichkeit 3. „Neue Blicke durch die alten Löcher"
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19 19 36 57 75
. . .
95 95 .116 128 . 128 147 157 157 175 193
Bibliographie . . 1. Quellen . . 2. Sekundärliteratur
.
205 .205 . 208
Register . . . 1. Namen . 2. Aphorismen
. .
.213 213 215
Einleitung Das Prinzip der Bemerkungen:
Individualisierung
der Aussage
Selten in der Geschichte der Literaturkritik hat eine Rezension eine derart richtungweisende Wirkung für die nachfolgende Beurteilung eines literarischen Werkes gehabt wie Friedrich Schleiermachers Rezension der ersten Ausgabe der „Vermischten Schriften" Georg Christoph Lichtenbergs 1 . Die ersten beiden Bände dieser von Ludwig Christian Lichtenberg und Friedrich Kries veranstalteten Ausgabe waren 1800/1801 erschienen und enthielten eine Auswahl der Bemerkungen und Fragmente aus Lichtenbergs „Sudelbüchern". Schleiermacher meint in der Vielfalt der Bemerkungen das Vielerlei des Einzelnen zu erkennen, das eine Beziehung zu einem einenden schöpferischen Impuls vermissen läßt. Die einzelne Bemerkung weise sich in ihrer Isolation als inkommensurabel gegenüber den anderen in der Ausgabe vereinten aus, da ihr eben jene Kohärenz fehle, die dem literarischen Werk Bestand und Wirkung verleiht. Bei dieser Sicht der Bemerkungen kann es nicht verwundern, daß Schleiermacher zu folgender zusammenfassenden Charakterisierung Lichtenbergs kommt: „Aus diesem allen ergiebt sich als der Hauptcharakter seiner Begrenzung eine gewisse Unfähigkeit sich zu allgemeinen und großen Ideen zu erheben, nämlich die nicht nur dem scheinbaren Inhalt, sondern auch ihrer wirklichen Kraft nach groß sind" 2 . Damit sind die Zeichen gesetzt, unter denen sich die späteren Beurteilungen der Bemerkungen Lichtenbergs finden, insofern hier schon eine im 19. Jahrhundert sich durchhaltende Ambivalenz im Urteil sichtbar wird, die einerseits die literarische Eigenständigkeit der Bemerkungen gerade in der negativen Charakterisierung hervorhebt, anderseits aber die Bemerkungen als Resultate einer „gewissen Unfähigkeit" versteht. Freilich erklärt sich die Beurteilung Schleiermachers aus seiner Stellung innerhalb der Romantik, sie deutet aber darüber hinaus darauf hin, daß Lichtenbergs Schriften, als sie um 1800 in einer gesammelten Ausgabe zu erscheinen begannen, in einen literarischen Raum trafen, in dem die Möglichkeit eines genuinen Zugangs für sein Sprechen schon nicht mehr gegeben war. Die Art und Weise dieses Sprechens traf nicht mehr die Signatur der inzwischen vorwaltenden literarischen Epoche. Hinzu kommt, daß sich unter der 1 Zuerst in: Erlanger Litteraturzeitung 1801, Bd. 2, No. 206, S. 1642-1648. Wieder abgedruckt in: Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. 4, vorher, v. L. Jonas, hrsg. v. W. Dilthey, Berlin 1863, S. 561-567. 2 Ebda., S. 563.
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Einleitung
Rubrik „Nachrichten und Bemerkungen des Verfassers von und über sich selbst" im 1. Band der Vermischten Schriften eine in das bis heute zum größten Teil noch verlorene Heft K gehörige Äußerung Lichtenbergs fand, die die Ansicht Schleiermachers nicht nur bestätigen konnte, sondern veranlaßt zu haben scheint: „Wenn ich doch Canäle in meinem Kopfe ziehen könnte, um den inländischen Handel zwischen meinem Gedanken-Vorrathe zu befördern! Aber da liegen sie zu hunderten, ohne einander zu nützen" 3 . Der hier im Bild des fehlenden Warenaustausches beschriebene Zustand in seinem Kopfe spiegelt sich ja nur zu deutlich in einem Nebeneinander von Bemerkungen, deren Beziehungen untereinander von den Herausgebern nur mit Mühe gefunden werden konnten, um so wenigstens eine äußere Ordnung für die ersten beiden Bände der Ausgabe erstellen zu können. Eben durch diesen Versuch aber, Ordnung in die Bemerkungen zu bringen und Gruppen von ihnen unter gemeinsamen Aspekten zusammenzustellen, leisteten die Herausgeber insofern dem Urteil Schleiermachers Vorschub, als sich durch die vorgestellte Ordnung ein Erwartungshorizont im Leser eröffnet, der durch das dann tatsächlich auftretende unzusammenhängende Nebeneinander der Bemerkungen umso mehr enttäuscht wird, als nun allerdings der Eindruck des Bruchstückhaften vorherrschen muß. So erkennt man in der Folgezeit die Wichtigkeit der einzelnen Bemerkungen zwar an, aber doch vor dem Hintergrund des Bedauerns, daß daraus „nichts Ganzes" geworden sei. Zugleich mit dem Bedauern stellen sich freilich Entschuldigungen für Lichtenberg ein, dessen hervorragende geistige Fähigkeiten nie in Abrede gestellt werden, Entschuldigungen, die zugleich nach den Gründen für die vermeintliche Unfertigkeit seines Werkes suchen. Von diesem Bemühen gibt die Einschätzung Lichtenbergs durch Georg Gottfried Gervinus am Beginn der Literaturgeschichtsschreibung beredtes Zeugnis. „Er entzog sich allem menschlichen Umgang, und sein Forster klagte, daß ihn die Einsamkeit verderbe. So entging ihm jeder Sporn zur Thätigkeit, und daher haben wir in seinen Schriften nichts als einen Haufen von Bruchstücken, von Gedankenspänen, von den trefflichsten prosaischen Epigrammen und Aussprüchen, aber eben nichts Ganzes. So mußte er denn zuletzt selbst seine Trägheit anklagen und sogar bereuen." 4 Hier zeigt sich noch einmal deutlich, in welche Richtungen die Ambivalenz des Urteils geht, insofern die negative Charakterisierung nicht den „Bruchstücken" und „Gedankenspänen" gilt als vielmehr dem Fehlen der offensichtlich für literarische Zeugnisse zu postulierenden Ganzheit, die selbst nicht näher bestimmt wird. Soviel allerdings ist festzuhalten, daß das 3 Vermischte Schriften, 1. Ausgabe, Bd. 1, S. 42. Im folgenden beziehe ich mich unter dem Sigel „Vermischte Schriften" (Band, Seite) auf die zweite, von den Söhnen Lichtenbergs veranstaltete Ausgabe von 1844. Zitate aus der ersten Ausgabe werden als solche kenntlich gemacht. * G . G . Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung, 5. Aufl., Bd. 5, hrsg. v. K. Bartsch, Leipzig 1874, S. 200.
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geforderte Ganze nicht in Bruchstücken und Gedankenspänen erscheinen kann. Es wird in diesem Sinne bei Lichtenberg das vollendete, abgerundete Werk vermißt, so daß schließlich das Bedauern über das Verkümmern so „glänzender Kräfte hinter dem Fenster" 5 überwiegt. Dies um so mehr, als Gervinus in Lichtenberg die bislang einzige große Hoffnung für einen satirischen Roman auf deutschem Boden erblickte. Er hätte auf diesem Gebiet die Engländer übertreffen können. So kann es nicht verwundern, daß Hermann Hettner, sich an zwei größeren, wenngleich auch nicht vollendeten Werken Lichtenbergs, dem „Orbis pictus" und den „Ausführlichen Erklärungen der Hogarthischen Kupferstiche", orientierend, darauf hinweist, was Lichtenberg aufgrund der in seinem Werk angelegten Ansätze hätte leisten können, wenn er nicht im Bruchstückhaften, Fragmentarischen stecken geblieben wäre. „Er selbst machte die verschiedensten Versuche und Ansätze; aber ohne schöpferische Kraft brachte er es nur zu kleinen beschreibenden Genrebildern. Die Schilderungen seines Orbispictus und vor allem die Erklärung Hogarth's beweisen, wo sein Ideal lag." 6 Das Postulat eines geformten, vollendeten Werkes ist, wenn auch nicht ausdrücklich gefordert, doch stillschweigend als Maßstab für die Beurteilung vorausgesetzt. Das Bruchstück, die Skizze werden allein in ihrem Funktionswert als Vorstufe für eine noch zu erstellende umfassendere Leistung gewertet. So auch Richard Moritz Meyer in einer sonst sehr feinsinnigen Studie: „Lichtenberg strebt nach einer Entwicklungsgeschichte der menschlichen Lebensäußerungen. Ich meine, das sei ein Plan von überraschender Kühnheit und Bedeutung, zumal Lichtenberg ihn im weitesten und freiesten Sinn zu erfüllen versucht hat. Nur freilich ging er nicht systematisch vor, sondern begnügte sich mit aphoristischen Sammlungen von Beobachtungen, die sich Niemand die Mühe gab zu verknüpfen" 7 . Bei aller Anerkennung der Größe des von Lichtenberg Geplanten bleibt doch der Makel, eben nicht geschafft zu haben, was in der Intention grundgelegt war, hier zudem begründet in der Lichtenberg abgehenden Fähigkeit eines systematischen Vorgehens, einem Mangel, den auch die Herausgeber seiner Schriften nicht zu tilgen vermochten. Es ist dann freilich kaum anders zu erwarten, daß Lichtenberg innerhalb der geistesgeschichtlichen Epoche der Literaturwissenschaft zwar nicht gänzlich aus der Literaturgeschichte verschwindet, aber doch nur ein kümmerliches Dasein innerhalb weniger Zeilen zu führen gewürdigt wird. Josef Nadler gar, indem er ihn mit Sturz und Merck zusammenstellt, spricht von seinem Werk als „Stück5 Ebda., S. 206. 6 H. Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, 3. Buch, 1. Abt., Braunschweig 21872, S. 417. i R. M. Meyer, Jonathan Swift und G. Ch. Lichtenberg. Zwei Satiriker des achtzehnten Jahrhunderts, Berlin 1886, S. 64.
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Einleitung
werk" in deutlich pejorativem Sinne8. Daß Lichtenberg nicht ganz aus dem Bewußtsein der Literaturwissenschaft innerhalb der geistesgeschichtlichen Richtung verschwand, ist sicherlich nicht zuletzt Ernst Bertram zu verdanken, der in einer Probevorlesung sogar nicht ohne Affinität für Lichtenbergs Schreibweise dessen satirische Fähigkeit erneut betont hat 9 . Bei aller Divergenz im einzelnen kommen die referierten Auffassungen doch darin überein, Lichtenbergs Bemerkungen von dem Anspruch des Geformten und Vollendeten her verstehen zu müssen und, sofern sie diesem Anspruch nicht genügen können, ihnen wenigstens in der geforderten Hinsicht literarische Valenz nicht zusprechen zu können. Angesichts dieser die Erfassung der Eigenart Lichtenbergscher Schreib- und Denkweise hindernden Beurteilungen wird der Grad der Empörung Kurt Tucholskys verständlich. Als im Jahre 1931 Ernst Vincent eine Sammlung der Aphorismen und Schriften Lichtenbergs in Kröners Taschenausgabe erscheinen ließ, diese als die von Tucholsky ein Jahr zuvor dringend geforderte Neuausgabe10 proklamierte, in der Einleitung aber ganz im Sinne des Verständnisses der Aphorismen als unfertiger Produkte eines zu Größerem bestimmten Geistes Lichtenberg in einem Bild die Fähigkeit zu einem „Baumeister" und damit das Vermögen abspricht, aus den herumliegenden Teilen und Brocken „ein Gebäude zu errichten, wo sich Stein an Stein schließt zu bedeutender Form, künstlerischer Gestalt von einheitlichem Gepräge"11, reagiert Tucholsky scharf: „So hol sie doch der Henker alle miteinander, diese Pauker! Nein, er war kein Baumeister! Und Goethe war kein Radfahrer! Und Schiller exzellierte nicht in breiten Romanen. Und Dante verstand nichts vom Theater. Warum — o Seminar! — sollte Lichtenberg ein Baumeister großer Werke gewesen sein? Mit manchem ,irgendwie' und manchem ,Wissen u m . . w i r d dargetan, daß es bei ihm sozusagen nicht gereicht habe. Uns langts"12. Allerdings muß angemerkt werden, daß schon im Jahre 1871 Eduard Grisebach in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Aphorismen Lichtenbergs unter deutlicher Anspielung auf Gervinus' Formulierungen darauf hingewiesen hatte, daß bisher die Literaturhistoriker den Hauptgesichtspunkt, von dem aus Lichtenbergs literarische Bedeutung zu würdigen sei, noch nicht beachtet hätten. In einer Art Resümee stimmt auch er zunächst den Literaturhistorikern in ihrer 8
J. Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 3, Regensburg 21924, S. 101. 9 E. Bertram, Georg Christoph Lichtenberg. Adalbert Stifter. Zwei Vorträge, Bonn 1919. 10 Tucholsky hatte seinen „Schrei nach Lichtenberg" mit dem Ausruf geendet: „In Deutschland erscheinen alljährlich dreißigtausend neue Bücher. Wo ist Lichtenberg - ? Wo ist Lichtenberg - ? Wo ist Lichtenberg -?" (K. Tucholsky, Gesammelte Werke, Bd. 3, Reinbeck 1961, S. 772). 11 G. Chr. Lichtenberg, Aphorismen und Schriften. Sein Werk ausgewählt und eingeleitet von E. Vincent, Leipzig 1931 ( = Kröners Taschenausgabe 93). 12 K. Tucholsky, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 1082.
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Beurteilung zu: „Sie haben völlig zutreffend ausgeführt: Lichtenberg habe zwar die Zeitgebrechen, die Schwächen seiner Zeitgenossen aufs scharfsinnigste herausgefühlt und aufs witzigste gegeiselt, allein über das bloße Negiren sei er nie hinausgekommen. Nicht ein großes, schöpferisches Werk sei ihm gelungen"13. Hingegen verwahrt er sich entschieden gegen den Versuch, aus der Erkenntnis des Fragmentarischen der Schriften Lichtenbergs und der daraus gezogenen Schlußfolgerung, daß er „nicht die Fähigkeit zu einer großen literarischen Leistung besessen" habe, den Anspruch einer Lichtenberg gemäßen Beurteilung ableiten zu wollen. Das hieße dessen Talent völlig verkennen. So schafft sich Grisebach selbst Raum, um auf jenen — wie er meint — bisher übersehenen Hauptgesichtspunkt hinweisen zu können. „Er (Lichtenberg, H. G.) wußte nur zu gut, worin seine Kunst bestand: nämlich kurz und treffend in Schlagworten, Witzen oder auch in breiterer Ausführung seine Gedanken über Welt und Leben zu fixieren, die Welt sich in seinem Kopfe spiegeln zu lassen und die Kenntniß des Menschen über sich selbst um ein Bedeutendes zu mehren."14 Wenn mit diesen Äußerungen auch nicht zum ersten Mal die Eigenart dieses Teils des Lichtenbergschen Schaffens angesprochen wird15, so ist doch Grisebach der erste, der in bewußter Abhebung zur Einschätzung innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung die Eigenständigkeit der Leistung des aphoristischen Sprechens für Lichtenberg betont. Freilich konnte auch seine Auswahl nicht mehr bieten als das, was schon in den Vermischten Schriften publiziert worden war. Erst Albert Leitzmann hat 100 Jahre nach Lichtenbergs Tod eine kritische, wenngleich nicht vollständige Ausgabe der Bemerkungen nach den Handschriften veranstaltet16. Aber auch Leitzmanns sich durch positivistische Sorgfalt auszeich13 Georg Christoph Lichtenberg^ Gedanken und Maximen. Lichtstrahlen aus seinen Werken. Mit einer biographischen Einleitung von E. Grisebach, Leipzig 1871, S. 30. H Ebda., S. 33. Vgl. auch: E. Grisebach, Die deutsche Literatur 1770-1870. Beiträge zu ihrer Geschichte mit Benutzung handschriftlicher Quellen, Wien 1876, von mir benutzt in der 4. Auflage, Berlin 1887. 15 Vgl. schon S. Baur, Georg Christoph Lichtenberg, in: Baur, Gallerie historischer Gemähide aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ein Handbuch für Liebhaber der Geschichte, 4. Teil, Hof 1806, S. 258-264. 16 Georg Christoph Lichtenbergs Aphorismen. iNfach den Handschriften hrsg. v. A. Leitzmann, 5 Hefte, Berlin 1902-1908 (= Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts 123, 131, 136, 140, 141). Ich zitiere nach dieser Ausgabe. Die Aphorismen-Bücher sind, zum Teil von Lichtenberg selbst, mit den Buchstaben A bis L bezeichnet, die einzelnen Bemerkungen fortlaufend numeriert. Die Bücher sind in folgenden Zeitabschnitten entstanden: A 1765 - 1770, B Juni 1768 - August 1771, C September 1772 - August 1773, D August 1773 - Juni 1775, E Juli 1775 - April 1776, F April 1776 - Januar 1779, J Januar 1789 - April 1793, K Mai 1793 - September 1796, L Oktober 1796 - Februar 1799. Hinzu kommt ein Heft aus den Jahren 1765 -1772 mit einer Sammlung von Zitaten (KA) und ein Heft mit Reiseanmerkungen von 1775 (RA). Die Bücher G und H aus der Zeit von Februar 1779 - Dezember 1788 und ein Teil von K müssen bis heute noch als verloren gelten. Eine Reihe der Bemerkungen aus diesen Büchern findet sich in den
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nendes Bemühen konnte nicht verhindern, daß bis in neueste Publikationen hinein, soweit sie sich mit dem Aphoristischen in Lichtenbergs Schreibweise auseinandersetzen, dies unter einem negativen Vorbehalt geschieht, zumal Leitzmann selbst im Vorwort zum ersten Heft seiner Ausgabe ganz parallel der Meinung Grisebachs Lichtenbergs Neigung zum witzigen und tiefsinnigen Aperçu seiner Indisposition für eine systematische Darstellung gegenüberstellt. Wenn hier auch die Absicht im Vordergrund steht, die Bemerkungen als eigenständige literarische Phänomene zu charakterisieren, so geschieht dies doch in negativer Abgrenzung gegenüber einer Denk- und Schreibweise, die sich insofern als qualifiziert erweist, als sie vereinzelte Beobachtungen im systematischen Zusammenhang zu verknüpfen vermag. Noch Franz Heinrich Mautner spricht in dem seiner umfangreichen Lichtenberg-Monographie vorangestellten Essay „Bildnis seines Geistes" von dem „Zwang zur Assoziation", einem Zwang, in dem freilich Lichtenbergs Stärke zu finden sei. Aber auch hier wird noch Lichtenbergs „unaufhörliche geistige Bewegung", „die glückliche Schlagkraft und Fähigkeit seiner Sprache" aus einem Zwang erklärt, der wiederum in negativer Abgrenzung bestimmt wird: „Für seine großen Projekte fehlte ihm die Fähigkeit des Komponierens und die Kraft des Willens" 17 . Aus einer Vorentscheidung hinsichtlich des Fragmentarischen als eines Unfertigen findet sich häufig genug ein entschuldigendes Unbehagen gegenüber nicht ausgeführtem Entworfenen und nur skizzenhaft Formuliertem 18 . Vermischten Schriften. Wolfgang Promies hat im 2. Band seiner Ausgabe der Schriften und Briefe Lichtenbergs (München 1967 ff.) diese Bemerkungen zusammengestellt und den einzelnen Büchern zugeordnet. Darüber hinaus bringt er die von Leitzmann nicht abgedruckten Bemerkungen aus den fünf Heften von A, den ungekürzten Abdruck des Exzerptenheftes KA, die „Annotationes et collectanea philosophica et physica" aus D, den vollständigen Abdruck der „Vermischten Anmerkungen für Physik und Mathematik" aus J und die wissenschaftlichen Bemerkungen aus L. Eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Schriften Lichtenbergs fehlt bis heute. Ihre Notwendigkeit wird einsichtig, wenn man, wie bei der Bemerkung L 591, feststellen kann, daß die Herausgeber der Vermischten Schriften sinnentstellende Interpolationen vorgenommen haben. L 591 lautet bei Leitzmann: „Unter allen Uebersetzungen meiner Wercke, die man übernehmen wolte, verbitte ich mir ausdrücklich die ins Hebräische", in den Vermischten Schriften: „Unter allen Übersetzungen meiner Werke, die man unternehmen wollte, erbitte ich mir ausdrücklich die hebräische" (1. Ausgabe 2, 19 f., 2. Ausgabe 1, 34, Hervorhebungen von mir). 17 F. H. Mautner, Lichtenberg. Geschichte seines Geistes, Berlin 1968, S. 43. Ähnlich äußert sich schon vorher W. Grenzmann in der Einleitung zu seiner Ausgabe (G. Chr. Lichtenberg, Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1949, Bd. 1, S. 50 f.): „Aber letztlich sah er alle Dinge nur in der Zerstreuung. Gewiß, er wollte kein Systematiker sein, aber er konnte es auch nicht . . . Sein ganzes literarisches Werk erhielt auf diese Weise das Zeichen des Unfertigen, Unvollendeten und Unvollendbaren." 18 Vgl. etwa W. A. Berendsohn, Stil und Form der Aphorismen Lichtenbergs. Ein Baustein zur Geschichte des deutschen Aphorismus, Kiel 1912, S. 18 ff.; H. U. Asemissen, Notizen über den Aphorismus, in: Trivium 7 (1949), S. 144—161; P. Ripp-
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Demgegenüber dürfte auf eine Anregung Paul Requadts hinzuweisen sein, die, schon im Jahre 1948 ausgesprochen, auch heute noch nichts von ihrer Aktualität verloren hat: „Ob das Aphoristische... sein Eigenrecht behauptet, kann nur ein selbständiges Prinzip verbürgen, welches es hervortreibt. Es genügt jedoch nicht, Lichtenberg von dem Verdacht zu reinigen, als habe ihm die Kraft zur Gestaltung gültigerer Sprachgebilde gefehlt"19. Der Anregung Requadts folgend will die vorliegende Studie nichts mehr, freilich auch nichts weniger sein als der Versuch, Lichtenbergs Bemerkungen auf jenes „selbständige Prinzip" hin zu befragen, von dem her allererst eine positive Begründung seines aphoristischen Sprechens ermöglicht wird. Dabei erfolgt die Eingrenzung der Untersuchung auf die Bemerkungen nicht zuletzt aufgrund der Erkenntnis, daß durch die Arbeiten von Grenzmann20, Requadt und Mautner bereits umfassende Gesamtdarstellungen Lichtenbergs vorliegen. Der Versuch will zugleich mehr und weniger geben als bisherige Arbeiten über Lichtenbergs Aphoristik. Weniger, weil hier nicht von einer gattungsmäßigen Fixierung des Aphorismus ausgegangen wird, zumal der Verfasser sich des Zirkelschlusses bewußt ist, der der Erstellung eines Gattungsbegriffes notwendig vorausliegt, insofern das als Gattung zu Bezeichnende immer nur aus dem einzelnen Phänomen erkannt werden kann, dieses einzelne aber je schon unter dem Aspekt der Gattung in den Blick kommt, soll es zur kategorialen Bestimmung der Gattung etwas beitragen können. Zugleich aber auch mehr, weil hier versucht wird, im Hinhören auf die Bemerkungen selbst die Voraussetzungen und Absichten des Lichtenbergschen Sprechens deutlich werden zu lassen. Dabei wird sich eine doppelte Problemstellung zeigen, die in der Art der Bemerkungen selbst begründet ist. Einmal wird nötig sein, jenes Prinzip aufzuzeigen und zu fundieren, das Lichtenbergs Sprechen bestimmt. Zum anderen gilt es, die diesem Prinzip verpflichtete literarische Struktur der Bemerkungen zu demonstrieren. Die Berechtigung für eine solche doppelte Zielsetzung gibt Lichtenberg dadurch selbst, daß er in der Form der Bemerkungen zugleich Aussagen über seine Denk- und Schreibweise macht. Wenn wir uns auf den Weg nach jenem das aphoristische Sprechen Lichtenbergs durchwaltenden Prinzip machen, so stoßen wir auf die eigenartige Rede von der „Individualisierung des Ausdrucks". Freilich ist schon des öfteren bemerkt worden, daß Lichtenberg sich gern im Hinblick auf seine literarische Tätigkeit dieser oder ähnlicher Formeln bedient21, aber es bleibt doch bei Hinmann, Werk und Fragment. Georg Christoph Lichtenberg als Schriftsteller, Bern 1952. Ähnlich argumentiert für Jean Paul G. W. Fieguth, Jean Paul als Aphoristiker, Meisenheim am Glan 1969 ( = Deutsche Studien 9), S. 81, für Nietzsche J. Klein, Wesen und Bau des deutschen Aphorismus, dargestellt am Aphorismus Nietzsches, in: GRM 22 (1934), S. 358-369. 19 P. Requadt, Lichtenberg, S. 107. 20 W. Grenzmann, Georg Christoph Lichtenberg, Salzburg und Leipzig o. J. (1939). 21 P. Requadt, Lichtenberg, S. 71; W. Grenzmann, Einleitung, S. 69; K. Lazarowicz, Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire, Tübingen
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weisen, die nur allzu leicht die Bedeutungsvariation einer solchen Aussage übersehen, um so mehr, als das mit „individuell" Gekennzeichnete für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem durch Herder eine gültige Bestimmung erfahren zu haben scheint. In einem Brief vom 20. März 1795 bedankt sich Lichtenberg bei Friedrich Nicolai für die Übersendung seines Romans „Geschichte eines dicken Mannes, worin drey Heurathen und drey Körbe nebst viel Liebe" 2 2 . Dem Dank und der Anerkennung fügt er folgende Überlegung an: „Wer ist wohl in der Welt, der nicht in seinem 50ten Jahre, wenn er auf sein vergangenes Leben zurück blickt, finden solte, daß er ein gantz anderer Mann werden würde, wenn er sein Leben noch einmal leben könte. Und was für eine Lecktion würde das nicht werden, wenn Männer von Geist am Ende ihres thätigen Lebens alle diese Corrigenda sammelten und sie so viel wie möglich detaillirt und individualisirt mit aller Macht des Styls der Welt übergäben. Ich verstehe hierunter keine Confessions; der Roman brauchte auch nicht das Leben des Verfassers zu seyn, nur verwebt müste es darin seyn, Dichtung könte immer die Maschinerie ausmachen. Freylich schreiben müßte man gelernt haben und die Kunst verstehen, wenn ich so reden darf, sich selbst auszusprechen so individuel als möglich, proprie communia dicere" 23 . Individuell meint zunächst jenes von der persönlichen Erfahrung des Autors geleitete und in ihr begründete Schreiben, das darauf zielt, „sich selbst auszusprechen". Diese Äußerung aus dem Jahre 1795 unterscheidet sich in der Charakterisierung des Individuellen kaum von einer sehr frühen aus dem Jahre 1770 2 4 , mit der Lichtenberg jene Menschen der Aufmerksamkeit allzeit würdig bezeichnet, die „in ihren Worten und Ausdrücken etwas eigenes haben" und sich insoweit wohltuend von anderen unterscheiden, die sich nur in durch langen Gebrauch Mode gewordenen Redensarten mitteilen können. Das Individuelle bezieht sich damit auf den neuen, bisher nicht gekannten Ausdruck, oder doch wenigstens auf eine Sprechhaltung, die der gängig gewordenen Ausdrucksweise skeptisch gegenübersteht. Nun werden in der Bemerkung A 1 2 9 schon die Bedingungen solchen Sprechens, nämlich „Selbstgefühl und Unabhängigkeit der Seele" 1963 ( = Hermaea NF 15), S.203f.; H. Arntzen, Beobachtung, Metaphorik, Bildlichkeit bei Lichtenberg, in: DVjs 42 (1968), S. 359-372. 2 2 Nicolai hatte Lichtenberg den in Berlin und Stettin 1794 erschienenen Roman schon im Juni des Jahres zugeschickt. 23 Georg Christoph Lichtenberg, Briefe, hrsg. v. A. Leitzmann u. C. Schüddekopf, 3 Bde., Leipzig 1901-1904 (Nachdruck Hildesheim 1966), Bd. 3, S. 149. Zu dem lateinischen Zitat vgl. S. 157 ff. dieser Arbeit. Ähnlich äußert sich Lichtenberg gegenüber Forster im Hinblick auf dessen „Ansichten vom Niederrhein" und seine Übersetzung der „Sakontala" (Mainz und Leipzig 1791) in einem Brief vom 1. Juli 1791: „Die Gabe, jeder Bemerckung durch ein eintziges Wort Individualität zu geben, wodurch man sogleich erinnert wird, daß Sie die Bemerckung nicht blos sprechen, sondern machen, habe ich nicht leicht bey einem Schriftsteller in einem solchen Grade angetroffen." (Briefe 3, 27). A 129.
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genannt, Bedingungen, die noch früher so umschrieben worden waren: „Es giebt etwas in uns, das beynah so schwer abzulegen ist als der alte Adam, das uns immer zum künstlichen und dem dem künstlichen so nahe verwandten schlechten treibt, und was ist das? Antwort wir werden nicht angehalten individua im dencken zu werden. Wir lesen zu früh, gesezt es seyen auch die alten Schrifftsteller, wie soll man ein Kind verhindern, daß es nicht blos lernt, wie Herder sagt, dencken was die Alten dachten, sondern so dencken wie sie dachten. Liberty and property, darauf müssen wir halten. Der Mensch schreibt absolute immer gut wenn er sich schreibt.. ," 25 . Der Bezug auf Herder ist nicht zufällig, insofern er ja in seinen Fragmenten „Uber die neuere deutsche Literatur" 1 7 6 6 — 67 2 6 die Forderung des „Nacheiferns" der Alten gegenüber einem bloßen „Nachahmen" mit der Eigenständigkeit einer jeden Kulturepoche begründet und damit in gewisser Weise schon seinen späteren Fixierungen des Individuellen vorgreift. In dieser frühen Bemerkung und — wie es scheint — auch noch in der zitierten Briefstelle aus dem Jahre 1795 hält sich Lichtenberg ganz im Sinne Herders an die innere Organisation der persönlichen Anlage eines jeden Schreibenden. Deutlicher ausgeführt sind Herders Gedanken in seiner Abhandlung „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele" 1778 27 . Das Individuelle gründet danach in der Inkommensurabilität der Gefühlswelt der einzelnen Menschen. Die Empfindungen sind nicht partikular ableitbar, deshalb auch nicht isoliert zu begreifen. In einem komplexen Verhältnis bilden sie die Einheit des inneren Bewußtseins. „Der innere Mensch mit alle seinen dunklen Kräften, Reizen und Trieben ist nur Einer."2* Das Individuelle ist nicht das Vereinzelte, es ist vielmehr das Komplexe einer vielschichtigen inneren Welt von Gefühlen und Leidenschaften, geeint in der Einmaligkeit des Individuums. Aus dieser Einheit kommen alle Handlungen des Menschen, ihr auch sind die Werke des Verstandes verpflichtet. Das Dichterische — interpretiert als Erlebnis — wird individuell, indem es, jenem Einheitsgrund erwachsend, ihn in seiner Komplexität und Intensität lebendig werden läßt. Demnach ist ein Werk dann individuell zu nennen, wenn es als „Abdruck einer lebendigen Menschenseele" erscheint. Es setzt eine entsprechende Haltung im Leser voraus, die Herder mit dem Ausdruck „Divination in die Seele des Urhebers" beschreibt29. Mit dieser hier nur kurz anzudeutenden Lehre vom Individuellen macht Herder einmal mehr seine Stellung gegenüber Aufklärung und Rationalismus deutlich. Lichtenberg, schon wenn er in der Bemerkung B 91 die Forderung „sich selbst schreiben" auf die Notwendigkeit, „individua im dencken" zu wer25 B91. Vgl. F 852. Herders Sämmtliche Werke, hrsg. v. B. Suphan, Bd. 1, Berlin 1877, S. 131 ff. 27 Vgl. dazu A. Nivelle, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin i960, S. 151 ff. 28 Herders Sämmtliche Werke, Bd. 8, Berlin 1892, S. 178. 2» Ebda., S. 208.
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den, zurückführt, bleibt zugleich hinter Herder zurück und weist über ihn hinaus Er bleibt insofern hinter ihm zurück, als er individuelles Schreiben in einem rationalistischen Ansatz begründet und damit der Poetik der Aufklärung das Wort redet. Er weist aber um so entschiedener über Herder hinaus, insofern er gerade mit Hilfe des rationalistischen Ansatzes von der individualisierten Rede im Hinblick auf den Leser eine Leistung erwartet, die gerade jene „Divination in die Seele des Urhebers" aufheben und im Leser selbst einen Prozeß in Gang bringen soll, der dazu führt, „individuum im dencken zu werden". Individueller Ausdruck ist für Lichtenberg nicht notwendige Konsequenz der Einheit der Gefühlswelt, sondern Resultat der Verstandestätigkeit, wenn diese in steter Wachsamkeit für die eigenen Gedanken und Empfindungen gehalten wird. Eine solche Wachsamkeit entdeckt erst im Bemerken auch der kleinsten Regungen menschlichen Verhaltens die unvergleichliche Eigenart der jeweils eigenen Individualität und hebt diese so ins Bewußtsein. Individualität als Seinsverfassung der geistigen Organisation des Menschen wird gebunden an ihre Erkenntnis. Versäumt der Mensch die Bewußtmachung der Individualität, so geht er ihrer selbst verlustig. Nur das Erkannte ist auch das Tatsächliche30. Der Akzent liegt auf der Bewußtwerdung des je schon im Menschen Angelegten. Sich seiner selbst bewußt werden ist nur möglich durch eine geistige Anstrengung, die sich im Bemerken auch scheinbar nebensächlicher Verhaltensweisen äußert. Versucht man, dieses Bemerken zu benennen, so wird solches Benennen beinahe notwendig individuell, insofern es schon deshalb nicht auf vorgegebene Äußerungen zurückgreifen kann, als diese ja von anderen, also nicht aufgrund eigener Denkleistung gemacht worden sind. Das Niederschreiben des in dieser Aufmerksamkeit auf sich selbst Bemerkten hat den Effekt, auf das je eigene Denken zurückzuweisen. Denn auch die Sprache wird individuell werden. Sie wird nicht bekannte Ausdrücke und Bilder benutzen, sondern überraschend und neu wirken. Allerdings ersteht hier eine Schwierigkeit für die Möglichkeit individuellen Sprechens. Ist doch die Sprache ein dem eigenen Denkprozeß zunächst fremdes Medium, ihm vorgegeben und durch allgemeinen Gebrauch schon entindividualisiert. Aus dieser Konfrontation von individuellem Bemerken und verallgemeinerndem Medium für die Benennung des Bemerkten ergibt sich eine Spannung, die sich — einmal unter der Forderung individuellen Sprechens angetreten — nur lösen läßt, indem versucht wird, das Verallgemeinernde der Sprache dadurch aufzuheben, daß in ihr jene Qualitäten entdeckt werden, die eine denkanregende Wirkung haben und damit auf den Denkprozeß selbst zielen. „Durch eine stricte Aufmerksamkeit auf seine eigenen Gedanken und Empfindungen, und durch die stärkstindividualisirende Ausdrückung derselben, durch sorgfältig gewählte Worte, die man gleich niederschreibt, kann man in kurzer Zeit einen Vorrath von Bemerkungen erhalten, dessen Nutzen sehr man30 Die sich hier andeutende idealistische Denkauffassung Lichtenbergs wird später eingehend zu untersuchen sein.
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nichfaltig ist. Wir lernen uns selbst kennen, geben unserm Gedankensystem Festigkeit und Zusammenhang; unsere Reden in Gesellschaften erhalten eine gewisse Eigenheit wie die Gesichter, welches bei dem Kenner sehr empfiehlt, und dessen Mangel eine böse Wirkung thut. Man bekommt einen Schatz, der bei künftigen Ausarbeitungen genützt werden kann, formt zugleich seinen Stil, und stärkt den inneren Sinn und die Aufmerksamkeit auf Alles. Nicht alle Reichen sind es durch Glück geworden, sondern viele durch Sparsamkeit. So kann Aufmerksamkeit, Ökonomie der Gedanken und Übung den Mangel an Genie ersetzen." 31 Aus solchen Überlegungen erst ergibt sich ein Verständnis für die Anlage von „Sudelbüchern", in die eben alles jenes eingetragen wird, was als Bemerktes dem ständigen Denkprozeß erfließt. Damit haben diese Hefte ohne Zweifel einen Nutzen für den, der sie anlegt, in Hinsicht auf die Forderung, „individua im dencken" zu werden. Hieraus erklärt sich zum großen Teil auch ihr privater Charakter. Es wird zudem die Funktion des Schreibens unter dem Aspekt gesehen, „daß schreiben immer etwas erweckt was man vorher nicht deutlich erkannte, ob es gleich in uns lag" 32 . Lichtenberg erkennt im Schreiben den nämlichen Vorzug für die Erkenntnis, den Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" im Sprechen gegeben sieht. Mit ihm können wir in Parodie eines bekannten Sprichworts im Hinblick auf Lichtenberg sagen: „L'idée vient en écrivant". Die schriftliche Notiz eines Gedankens führt zu gesteigertem Bewußtsein, zur Freilegung von bisher nicht Gewußtem. Im Schreiben spreche ich zunächst mit mir selbst. Ich schaffe mich selbst mir zu einem Gegenüber, mit dem ich in ein Gespräch eintreten kann. So kann der vorläufig fixierte Gedanke einen neuen hervorrufen. Die Reihung dieser Gedanken erfolgt aus dem ständigen Mit-sich-selbst-sprechen 31 Vermischte Schriften 2, 129 f. Vgl. Vermischte Schriften 2, 127. 134; A 74. 121. F 449. 1209. J 1254, 1255. 32
J 14. Vgl. auch J 1243: „Ja über alles seine Meinung mit so vielen Zusätzen von neuem als möglich, ohne dieses wird aus allem nichts, nur hüte dich vor dem Drucken lassen. Nicht bloß stilles nachdenken sondern auch aufschreiben erleichtert den Ausdrude sehr, sondern verschafft auch die Gabe selbst dem Auswendiggelemten eine Farbe des eignen Denkens zu geben." Aus dieser Äußerung dürfte zumindest ein Grund dafür erkennbar sein, daß Lichtenberg seine Bemerkungen nicht gesondert publiziert hat. Die Drucklegung würde den Gedanken in der Weise festlegen, daß er nicht mehr korrigierbar, zurücknehmbar wäre. Sie würde damit jenen Prozeß der ständigen Aufmerksamkeit auf sich selbst abbrechen, den Lichtenberg mit den Bemerkungen fördern will. Durch die endgültige Fixierung entfremdet der Druck Autor und Bemerkung. Vgl. dazu H. Arntzen, Beobachtung, Metaphorik, Bildlichkeit bei Lichtenberg, aaO., S. 366. Freilich muß angemerkt werden, daß Lichtenberg mit J 1243 frühere Bemerkungen korrigiert, in denen er sich gegen die Forderung des Horaz (de arte poetica 3 8 5 ff.) wendet, etwas Geschriebenes neun Jahre lang unveröffentlicht liegen zu lassen, weil ein entfahrenes Wort nicht mehr zurückgenommen werden könne ( E 248. F 91.92.294. Vgl. aber schon die Korrektur F 859).
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und fördert so den individuellen Erkenntnisprozeß, um den es Lichtenberg geht33. Insoweit freilich scheint das Aphoristische lediglich in den Bereich des privaten, nicht auf Wirkung ausgerichteten Sprechens zu gehören, eine Art permanenter innerer Monolog, der sich nur des Schreibens als eines Hilfsmittels noch versichert. Nun ist dies aber nur die eine Seite dessen, was Lichtenberg von einer Individualisierung der Aussage verlangt. Das anderseits Gemeinte können wir verdeutlichen durch einen Blick auf die zuerst im 6. und 11. Stück 1776 und im 1. und 5. Stüde 1778 des „Deutschen Museums" erschienenen „Briefe aus England" 34 . Christian Gottlob Heyne bezeichnet sie in den „Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen", genau jenen Aspekt der Verbindung von individueller Denk- und Sprachform an Lichtenberg erkennend, als „ein vortrefflich Stück von einem der feinsten Bemerker, und mit einer Sprache geschrieben, welche nur Leute in ihrer Gewalt haben, die für sich denken"35. In diesen Briefen gibt Lichtenberg eine Beschreibung der Darstellungskunst Garricks. Er bewundert dessen Gabe, „Alles zu individualisiren"36. Wie sieht diese Fähigkeit einer individualisierten Schauspielkunst aus? Lichtenberg schildert Garrick als Darsteller Druggers in Ben Jonsons „Alchemist". „Wenn die Astrologen den nunmehr großen Namen Abel Drugger aus den Sternen heraus buchstabiren, so sagt der betrogene arme Tropf mit inniger Freude: das ist mein Name. Garrick macht daraus eine heimliche Freude, denn sich so gerade heraus zu freuen, wäre wider den Respect. Garrick dreht sich also von ihnen ab, und freut sich ein Paar Augenblicke so in sich selbst hinein, daß er wirklich die rothen Ringe um die Augen kriegt, die allemal eine große, wenigstens zum Theil gewaltsam unterdrückte Freude begleiten, und so sagt er: das ist mein Name, zu sich selbst. Dieses weise Heimlichthun that eine unbeschreibliche Wirkung, denn man sah nicht bloß den einfältigen, hintergangenen passiven Pinsel, sondern einen noch weit lächerlichern, der mit einer Art von innerm Triumph sich noch wohl gar für einen durchtriebenen Gast hält." 37 Auch beim Ausdruck des Schauspielers kommt es darauf an, daß die Darstellung charakteristisch ist, aber dennoch nicht die vorgestellte Person auf einen Typ festlegt. Gerade durch die Gebärdensprache soll 33 Es ist auf eine bezeichnende Parallele mit Paul Valéry hinzuweisen, der in seinem »Discours prononcé à la Maison d'éducation de la Légion d'honneur de Saint-Denis" vom 11.7.1932 das Mit-sich-selbst-sprechen als eine der Grundlagen der Selbsterkenntnis bezeichnet: „Je vous dis que chacun, vis-à-vis de soi, se réduit à peu près à ce qu'il se dit, et ce qu'il se dit à ce qu'il sait se dire. Apprenez donc à vous parler à vous-même avec les égards, la précision, la sincérité et la grâce dont est digne une jeune personne si précieuse. Du même coup, vous aurez appris à écrire." (Oeuvres de Paul Valéry, ed. par J. Hytier, Tome 1, Paris 1957, S. 1425 f.). 34 Vgl. Vermischte Schriften 3, 197-268. 35 19. Stück, 13. Februar 1776. 36 Vermischte Schriften 3, 231. 37 Vermischte Schriften 3, 204.
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der Phantasie des Zuschauers Raum gegeben werden. Die Gesten, die individuell und nicht im Sinne eines Typs charakterisieren, lassen mehr sehen als das, was sie vordergründig zu erkennen geben. Sie haben den Effekt, im Zuschauer ein Bündel von Vorstellungen anzuregen, das er auf die dargestellte Person übertragen kann. Es zeigt sich in Garricks Schauspielkunst seine Fähigkeit, in die genau mitgeteilte Gestik, also in die Präzision des Ausdrucks, Andeutungen zu legen, die im Zuschauer eine geistige Erregung erzeugen, in der er seine Phantasie anstrengt, um die vorgegebene Rolle mit eigenen Vorstellungen zu versehen. Das Andeutende in der Präzision des Ausdrucks kommt nur durch Darstellung des Individuellen zustande, d. h. des Individuellen als einer vielbezüglichen Wirklichkeit. Indem Garrick eine der Regungen Druggers vorstellt, gibt er dem Zuschauer zugleich die Anregung, die Vielfalt der möglichen individuellen Regungen wenigstens ahnungsweise zu erkennen und auf die dargestellte Person zu übertragen. Garrick, wie auch Shakespeare und Hogarth „geben zu sehen", sagt Lichtenberg. „Um bei ihnen Alles zu sehen, muß man zu der gewöhnlichen Erleuchtung noch sein eigenes Lichtchen mitbringen." 38 Damit ist die „stärkstindividualisirende Ausdrückung" aus der Sphäre des inneren Monologes hinausgeführt in eine Wirkungsabsicht auf den Zuschauer, bzw. den Leser. In seinem „Orbis pictus" 39 schlägt Lichtenberg eine Sammlung vor, die allerlei Bemerkungen über den Menschen enthalten sollte, wodurch junge Schriftsteller in den Stand versetzt würden, „Alles mehr zu individualisiren". Der Vorteil einer solchen Sammlung wäre etwa die Förderung der ständigen Aufmerksamkeit dessen, der sich ihrer bedient, auf sich selbst und andere, die Bildung eines Apperzeptionsvermögens der äußeren Eindrücke und damit die zunehmende Erkenntnis der Wirklichkeit. Die individualisierte Bemerkung ist so anzulegen, daß sie den, der sie liest, befähigt, selbst zu denken. Er würde lernen, „das, was täglich durch Augen und Ohren in ihn strömt, mehr zu appercipiren"40. Es braucht nicht betont zu werden, daß auch Lichtenbergs „Sudelbücher" als eine solche Sammlung verstanden werden können. Damit stellt Lichtenberg seine Bemerkungen wenigstens von der Intention her in die Tradition jener „Zweckliteratur", die ihre Berechtigung aus der Wirkungsabsicht der gnomischen Apperzeption herleitet41. Freilich kommt es darauf an, den tiefgreifenden Unterschied gegenüber aller traditionsgebundener spruchhafter Rede herauszustellen, der sich gerade in der Forderung nach Individualisierung des Ausdrucks ausspricht. Der Horizont des Verstehens ist für Lichtenberg nicht eine die Wirklichkeit umfassende Ordnungsvorstellung, sondern die subjektive An38 Vermischte Schriften 3, 207. « Zuerst in: Göttingisdies Magazin, 1. Jg., 3. Stück (1780), S. 467 ff. 4° Vermischte Schriften 4, 194. 41 Wenn hier der Gesichtspunkt der Wirkungsabsicht betont wird, so soll damit auch ein Hinweis gegeben werden, daß aphoristisches Sprechen in die Betrachtung einer erst in Ansätzen in Angriff genommenen Wirkungsästhetik gehört.
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schauungsform, freilich — hier grenzt sich Lichtenberg sehr deutlich von aus einem Mißverständnis möglicherweise resultierender idealistischer Schwärmerei ab — in Hinsicht auf die F 801 ausgesprochene Erkenntnis, daß das Prärogativ des Menschen der Verstand ist. Damit wird dem individuellen Denkprozeß und der Erweckung dieses Denkens ein entscheidender Wirkungsraum zugemessen. Er tritt an die Stelle jener Ordnungsprinzipien, aufgrund deren sich ein allgemeinen Normen verpflichtetes Sprechen bewegt. Schriftsteller, die im Hinblick auf den Leser arbeiten, sind von Lichtenberg gefordert42, die Behutsamkeit und Vorsicht wecken wollen43, die in der sprachlichen Nuancierung bewußtseinserhellend wirken, die — wie er es in satirischer Umkehrung in E 160 beschreibt — „Capitel mit drey Worten aussprechen, . . . unaffecktirte Perioden drechseln, die sich in Magister Disputationen auflösen ließen, und den Danck für jahrlange Mühe nicht einmal mit einem Partickelgen auch nur fliehend suchen, sondern die Zeile hinschreiben, gleichgültig, ob die Perle die sie enthält morgen oder in tausend Jahren oder gar nicht gefunden wird"44. Bekommt damit das aphoristische Schreiben den Anschein eines „planlosen Umherstreifens", wodurch aber das „Wild aufgejagt wird, das die planvolle Philosophie in ihrer wohlgeordneten Haushaltung gebrauchen kan"45, so ist dieses Merkmal, wodurch das Vorläufige, Fragmentarische, Bruchstückhafte als Konstituante für das Schreiben festgelegt wird, gerade nicht in negativer Hinsicht zu bewerten. Lichtenbergs Bemerkungen sind nicht als Bruchstücke für ein noch ausstehendes Ganzes zu verstehen, sondern als Resultate eines auf individuelle Erkenntnisprozesse abzielenden Sprechens. Das sie auszeichnende Vorläufige, Fragmentarische erschließt allererst die Möglichkeit, das „Selbstdenken" anzuregen. Von hierher ist jedenfalls für Lichtenberg zu fragen, ob der Aphorismus als ein „selbständiges Gebilde, das einen Gedanken in einer Ausdrucksform gelehrter Kunstprosa faßt"46, angesehen werden kann. Auch die Zuordnung des Aphorismus bei Richard Moritz Meyer zu „rein monologischer Prosa" muß problematisch erscheinen. Diese Einteilung gründet in einem Verständnis des Aphorismus als Weiterentwicklung von Sentenz und Sprichwort47. Weiterhin kann « « « «
Vgl. L 614. Vgl. F 794. 805. Vgl. D 311. E 188. F 105. RA 19. J 1278. 46 W. A. Berendsohn, Stil und Form der Aphorismen Lichtenbergs, S. 17. Ähnlich K. Besser, Die Problematik der aphoristischen Form bei Lichtenberg, Fr. Schlegel, Novalis und Nietzsche. Ein Beitrag zur Psychologie des geistigen Schaffens, Berlin 1935 (= Neue deutsche Forschungen, Abt. Philosophie, 11), S. 10 f.