Die »Aura« des Originals im Museum: Über den Zusammenhang von Authentizität und Besucherinteresse 9783839448205

Are originals in an exhibition more interesting than replicas? Roman Weindl explores this question in an experiment and

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German Pages 332 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
0. Vorwort
1. Einleitung
I. Theoretischer Hintergrund
2. Stand der Forschung
3. Der Begriff von der »Aura«
4. Der Begriff des Originals
5. Die Authentizität des Originalen
6. Die Entwicklung von Authentizität als historische Kategorie
7. Das historische Museum als Ort des Authentischen
II. Empirische Untersuchung
8. Theoretischer Rahmen der Untersuchung
9. Methodischer Rahmen der Untersuchung
10. Ergebnisse der Untersuchung
III. Fazit und Schluss
11. Diskussion und Ausblick
IV. Anhänge
A. Tabellen
B. Fragebögen
C. Objekttexte
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweise
Index
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Die »Aura« des Originals im Museum: Über den Zusammenhang von Authentizität und Besucherinteresse
 9783839448205

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Roman Weindl Die »Aura« des Originals im Museum

Edition Museum  | Band 38

Für Iris

Roman Weindl (Dr. phil.), geb. 1986, lebt bei Passau und leitet das Museum Quintana in Künzing. Er studierte Archäologie und Volkskunde an der OttoFried­rich-Universität Bamberg und promovierte an der Universität Passau.

Roman Weindl

Die »Aura« des Originals im Museum Über den Zusammenhang von Authentizität und Besucherinteresse

Zugl.: Diss., Univ. Passau

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Foundry / pixabay.com Satz: Roman Weindl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4820-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4820-5 https://doi.org/10.14361/9783839448205 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

0

Vorwort | 9

1 Einleitung | 11 1.1 Relevanz des Themas | 14 1.2 Der »Aura«-Begriff in der Museums- und Geschichtsdidaktik | 19 1.3 Problemstellung | 22 1.4 Fragestellung, Zielsetzung und Aufbau der Arbeit | 25

I

Theoretischer Hintergrund 2 Stand der Forschung | 29 2.1 Die Bewertung authentischer Objekte | 30 2.2 Die Wahrnehmung von Authentizität | 35 2.3 Die Entstehung authentischer Erfahrungen | 37 2.4 Zusammenfassung | 40 3 Der Begriff von der »Aura« | 41 3.1 Definition und Geschichte des »Aura«-Begriffs | 44 3.2 Benjamins Theorie vom Verfall der »Aura« | 47 3.3 Kritische Betrachtung und Relektüre des »Aura«-Begriffs | 60 4 Der Begriff des Originals | 73 4.1 Definition und Abgrenzung vom Begriff der Kopie | 73 4.2 Die Entwicklung des Originalbegriffs | 75

5 Die Authentizität des Originalen | 89 5.1 Die Geschichte des Authentizitätsbegriffs | 90 5.2 Formen von Authentizität | 93 6

Die Entwicklung von Authentizität als historische Kategorie | 103 6.1 Authentizität in der Altertumskunde | 104 6.2 Die Rolle von Authentizität in der Denkmalpflege | 109 6.3 Authentizität im Tourismus | 118 7

Das historische Museum als Ort des Authentischen | 123 7.1 Geschichtsmuseen in der Museumslandschaft | 124 7.2 Die Inszenierung der Originale in der Museumsausstellung | 128

II

Empirische Untersuchung 8 Theoretischer Rahmen der Untersuchung | 139 8.1 Interessentheorie | 140 8.2 Semiotische Theorie der Authentizität | 161 8.3 Die Theorie der sozialen Praxis nach Bourdieu | 172 8.4 Zusammenfassung und Hypothesen für die Untersuchung | 185 9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 187 9.1 Forschungsgegenstand | 188 9.2 Entwicklung des Fragebogens | 198 9.3 Beschreibung der Auswertungsverfahren | 209 9.4 Durchführung der Untersuchung | 213 10 Ergebnisse der Untersuchung | 217 10.1 Ergebnisse des Experiments | 217 10.2 Ergebnisse der Inhaltsanalyse | 232

III Fazit und Schluss 11 Diskussion und Ausblick | 243 11.1 Diskussion der Ergebnisse der Untersuchung | 243 11.2 Implikationen für die Praxis | 246 11.3 Grenzen der Untersuchung und Forschungsdesiderata | 249

IV Anhänge A Tabellen | 257 A.1 Item- und Skalenanalysen | 257 A.2 Kodierleitfaden | 262 B Fragebögen | 267 B.1 Ohne Frage mit Authentizität | 267 B.2 Mit Frage nach Authentizität | 278 C Objekttexte | 289 C.1 Beschriftung als Original | 289 C.2 Beschriftung als Nachbildung | 291 Literaturverzeichnis | 293 Abbildungsnachweise | 325 Index | 327

0 Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um meine bei der Universität Passau im Februar 2019 angenommene Dissertation, die ich zum Zwecke der Veröffentlichung leicht überarbeitet habe. Neu in die Publikation aufgenommen wurden dabei die Forschungsergebnisse einiger empirischer Studien, die nach dem Abschluss meiner ursprünglichen Literaturrecherche erschienen sind. Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle Prof. Dr. Andreas Michler, der meine Arbeit gerne betreut hat. Er hat mich nicht nur für die Frage nach der »Aura« der Museumsoriginale begeistert, sondern durch seinen fachkundigen Rat dazu beigetragen, dass ich im weiten Feld meines Forschungsthemas zu jedem Zeitpunkt meine Forschungsfrage im Blick hatte. Zu Dank bin ich auch Prof. Dr. Jutta Mägdefrau verpflichtet, die das Zweitgutachten übernommen hat und stets als Ansprechpartnerin für Fragen zum empirischen Teil meiner Arbeit zur Verfügung stand. Weiterer Dank gebührt Prof. Dr. Christof Wecker für seine konstruktive Kritik und Vorschläge bei der Konstruktion des Fragebogens und beim Versuchsaufbau. Für weitere wichtige Anregungen und Feedback zum Forschungsdesign möchte ich außerdem Prof. Dr. Detlef Urhahne sowie Prof. Dr. Horst-Alfred Heinrich danken. Wertvolle Hinweise zum kunsthistorischen Diskurs über Originalität lieferte darüber hinaus Prof. Dr. Alexander Glas. Für die großzügige Erlaubnis, das von mir entwickelte Experiment im OberhausMuseum Passau während der regulären Öffnungszeiten durchzuführen, bedanke ich mich herzlich bei der Museumsleiterin Dr. Stefanie Buchhold. Für die Teilnahme an der Untersuchung danke ich außerdem allen Besucherinnen und Besuchern des OberhausMuseums, die mir ihre wertvolle Zeit geopfert haben. Danken möchte ich ganz besonders auch meinen beiden früheren Vorgesetzten, Dr. Josephine Gabler und Dr. Jörg-Peter Niemeier, die mich auf meinem beruflichen Weg immer unterstützt und beraten haben. Mein Dank geht weiterhin an Bianca Buhr, die mit großer Sorgfalt und großem Sachverstand das Lektorat meiner Arbeit

10 | Die »Aura« des Originals im Museum

übernommen hat, an Sandra Ehler für ihre tatkräftige Hilfe bei der Fragebogenerhebung sowie an Hannes Birnkammerer, der mich motiviert hat, das Manuskript der vorliegenden Publikation mit LaTeX zu setzen. Zu guter Letzt bin ich meiner Familie, meinen Eltern, Großeltern und Geschwistern für ihre Unterstützung während der gesamten Promotionsphase zutiefst dankbar. Mein größter Dank gilt hierbei meiner Lebensgefährtin Iris, die an unzähligen Abenden und Wochenenden auf meine Anwesenheit verzichten musste.

1 Einleitung

Authentizität, Echtheit und Originalität sind Konzepte, die eng mit der Institution Museum verbunden sind. Nach der ICOM-Definition ist es die Aufgabe von Museen, das materielle (und seit neuestem auch das immaterielle) Erbe der Menschheit zu bewahren, zu erforschen und auszustellen.1 In der Regel geschieht dies durch das Sammeln von authentischen Dingen, also historischen Sachzeugen, die dem ökonomischen Kreislauf entzogen wurden und im Museum mit Bedeutung aufgeladen werden. Der Museologe Krzysztof Pomian bezeichnet sie als Semiophoren – Dinge ohne ökonomischen Nutzen, die im Museumskontext als Vermittler zwischen einer unsichtbaren Welt (der Vergangenheit) und einer sichtbaren Welt (der Gegenwart) fungieren.2 Museen wollen also vergangene Wirklichkeiten vorstellbar und erfahrbar machen, indem sie Relikte der Vergangenheit in Museumsausstellungen zeigen. Ein Museum ist somit immer auch ein »Ort der Begegnung mit Geschichte«.3 Anders als Pomians Ausführungen suggerieren, können sich Museen bei der Repräsentation von Geschichte jedoch nicht allein auf die historischen Sachzeugen, also die im Museum ausgestellten Originale, verlassen, weil diese erstens meist nur fragmentarisch überliefert und aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen sind und zweitens ihre Bedeutung nicht von allen Besucherinnen und Besuchern gleichermaßen leicht zu entschlüsseln ist. Die museale Geschichtsdarbietung ist somit immer auf ein Mindestmaß von (räumlicher) Inszenierung angewiesen, damit sich die Dinge in »Objektarrangements, [. . . ] zu begehbaren Bildern fügen.«4 Muse-

1 | Vgl. ICOM Schweiz/ICOM Deutschland/ICOM Österreich: Ethische Richtlinien für Museen von ICOM, S. 29. 2 | Vgl. Pomian, K.: Der Ursprung des Museums, S. 50. 3 | Michler, A.: Museum und Ausstellung, S. 599. 4 | Korff, G.: Speicher und/oder Generator, S. 171.

12 | Die »Aura« des Originals im Museum

umskommunikation verläuft auf diese Weise stets multimodal, da bei der Darbietung von Geschichte unterschiedliche Modi wie Beleuchtung, Text, Raumgestaltung und Layout zusammenwirken, um die Objekte im Rahmen einer Narration zu mobilisieren und dadurch bestimmte Interpretationen der Geschichte nahezulegen.5 Seit der kulturpolitischen Öffnung der Museen und ihrer damit einhergehenden Konstituierung als außerschulische Lernorte in den 1970er Jahren hat dieser kommunikative und multimediale Aspekt der Museumsarbeit stetig an Bedeutung gewonnen. Um eine erfolgreiche und eingängige Wissensdarbietung für ein möglichst breites Publikum zu garantieren, werden Museumsausstellungen heutzutage i.d.R. nicht mehr federführend von Kuratorinnen und Kuratoren, sondern zunehmend von spezialisierten Teams von Ausstellungsdesignerinnen und -designern gestaltet. In den Gestaltungsprozess fließen so nicht nur mehr Inhalte aus dem Fachdiskurs der betreffenden Wissenschaften, sondern verstärkt auch Erkenntnisse aus den Gebieten der Besuchsforschung, der Psychologie und der Soziologie mit ein. Gleichzeitig sollen der Einsatz neuester Multimedia-Technologien, museumsdidaktische Maßnahmen sowie Veranstaltungen zu unterschiedlichsten Themen, die mit dem Museumsauftrag oft nur noch am Rande zu tun haben, für möglichst hohe Besuchszahlen sorgen. Dieser Trend hin zu Besucher- und Erlebnisorientierung hat natürlich nicht nur Fürsprache, sondern gerade in den Disziplinen der Museologie und der Geschichtsdidaktik auch großen Widerspruch erfahren. Kritisiert wurden laut Olaf Hartung eine zunehmende Didaktisierung der Museen, ein verstärkter Fokus auf öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen sowie die thematische Beliebigkeit vieler Museumsevents und der Einsatz von Neuen Medien in Museumsausstellungen, deren virtueller Charakter nicht dem »eigentlichen Wesen des Museums, nämlich der Herbeiführung einer Begegnung mit dem ›Authentischen‹« entspreche.6 Vor dem gestiegenen Konkurrenz- und Rechtfertigungsdruck für Museen im Kultur- und Freizeitsektor ist daher mittlerweile sogar eine Rückbesinnung auf die Stärken des Museums, eine Art ›Rückkehr zu den Dingen‹, zu beobachten.7 Einer der wichtigsten Vertreter dieser Richtung ist der Museologe und Volkskundler Gottfried Korff, der schon Anfang der 1980er Jahre in einem vielbeachteten Aufsatz vor einem Ästhetisierungstrend

5 | Vgl. Kesselheim, W.: Wissensvermittlung in der Museumsausstellung als Herausforderung für die Linguistik, S. 250. 6 | Hartung, O.: Aktuelle Trends in der Museumsdidaktik und ihre Bedeutung für das historische Lernen, S. 157; vgl. dazu auch: Schmalenbach, W.: Kunst!, S. 242 sowie Banghard, K.: Event wenn’s brennt?, S. 213. 7 | Vgl. ebd., S. 159.

1 Einleitung | 13

in der Museologie warnte. Korff beklagte darin, dass die Exponate im Rahmen von Museumsausstellungen ihr »angestammtes Recht als primäres Medium« einbüßen würden. Das originale Objekt, so seine These, werde auf seinen »Sexappeal« reduziert und tauche in den Ausstellungen nur noch als »Beeindruckungsding« zur Visualisierung und Veranschaulichung von Wissen auf.8 Korff betonte demgegenüber den Stellenwert der Authentizität der im Museum ausgestellten historischen Relikte als »Ausgangspunkt für eine besondere Geschichtserfahrung, die nicht nur auf kognitivem, intellektuellem und diskursivem Wege gewonnen wird, sondern die vor allem auf dem Prinzip der sinnlichen Anmutung, des sinnlichen Reizes aufbaut«.9 Dieses Vermögen der Museumsdinge beruhe auf ihrer Authentizität: Als dinghafte Zeitzeugen vermitteln sie nach Korff zwischen der Zeit, aus der sie kommen, und der Gegenwart, in der sie ausgestellt sind. Dabei seien sie den Betrachtenden »nah und fern zugleich«.10 Damit hängt laut Korff eine »besondere Form der Anmutung, die erregend, faszinierend und motivierend wirken kann«, zusammen, die über den Dokumentationswert der Authentizität hinausgeht.11 Um diese ›Anmutungsqualität‹ von historischen Relikten weiter zu umschreiben, griff Korff auf das Konzept der Aura von Walter Benjamin (1892-1940) zurück, der in seinem bedeutenden Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) seine berühmte Definition von Aura als »sonderbares Gespinst von Zeit und Raum, Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«, lieferte.12 Benjamin geht davon aus, dass es durch die technischen Entwicklungen im Bereich der Kunst zum Verfall der ›auratischen‹ Wahrnehmung kommt, die einst die Rezeption von Kunstwerken kennzeichnete. Durch die technische Reproduzierbarkeit, so Benjamin, werde die Autorität des Originals in Form seiner Echtheit, »sein einmaliges Dasein an einem Ort«, untergraben und zerstört.13 Korff betonte diesen Aspekt der »Echtheit einer Sache« als Fundament der Aura und machte den Begriff so für die museologische und die geschichtswissenschaftliche Diskussion fruchtbar.

8 | Korff, G.: Objekt und Information im Widerstreit, S. 119. 9 | Ebd., S. 120. 10 | Korff, G.: Zur Eigenart der Museumsdinge, S. 141. 11 | Korff, G.: Bildwelt Ausstellung – Die Darstellung von Geschichte im Museum, S. 332. 12 | Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 479. 13 | Vgl. ebd., S. 477.

14 | Die »Aura« des Originals im Museum

1.1 RELEVANZ

DES

THEMAS

Korffs Forderungen nach einer Rückbesinnung auf die Dinge sind nicht neu. Der Diskurs über die Vernachlässigung der konkreten Dinge in der Erziehung hat in der Pädagogik eine lange Tradition, die bis in das 17. Jahrhundert zurückreicht. So spricht Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) von Büchern als »Geißel der Kindheit« und fordert für den Protagonisten seines Erziehungsromans Emile (1762) eine Bildung durch Anschauung an realen Gegenständen: »Mit meinem Willen soll er keinen anderen Lehrer als die Natur, keine andere Vorbilder als die Gegenstände selbst haben. Er soll das Original selbst vor Augen haben und nicht das Papier, auf welchem es dargestellt ist.«14 Es ist dieses Verständnis, was auch von Reformpädagogen sowie Vordenkern der Museumspädagogik wie Alfred Lichtwark (1852-1914), Adolf Reichwein (1898-1944) und Georg Kerschensteiner (1854-1932) ab Anfang des 20. Jahrhunderts in Bezug auf die Etablierung von Museen als ›Volksbildungsstätten‹ propagiert wurde, um die Vorteile des musealen Lernens gegenüber dem schulischen Lernen hervorzuheben.15 Laut Lichtwark, dem ersten Direktor der Hamburger Kunsthalle, würden die »Museen aller Art als Bildungsstätten eine wichtige Ergänzung zu dem historisch-philologischen Wesen der Schulen Universitäten bieten, weil sie zu den Dingen führen oder von den Dingen ausgehen«.16 Eine ähnliche Position vertritt Kerschensteiner im Hinblick auf die Berufsschulen: Die epistemologische Grundlage musealen Lernens, so Kerschensteiner, sei nichts anderes als eine spezifische »Lehrplan-Konstruktion«, die im Gegensatz zur schulischen nicht »mit dem Schatten der Dinge, nämlich den Worten, sondern mit den Dingen selbst arbeitet«.17 Die reformpädagogischen Bestrebungen wurden vielerorts unterbrochen durch die Finanzkrise der 1920er Jahre und die darauffolgende propagandistische Vereinnahmung der Museen im Nationalsozialismus. Spätestens seit 1934 wurden zahlreiche Museen und Museumsausstellungen neu- bzw. umgestaltet. Laut Nikolaus Bernau waren diese Maßnahmen »eng verbunden mit den NS-Anspruch einer von den Kuratoren inhaltlich gelenkten breiten ›Volksbildung‹ durch die Vermittlungsinstitution Museum«.18 Im Rahmen dieser umfangreichen Änderungen im Dienste des Nationalsozialismus kam es auch zu didaktischen Weiterentwicklungen im

14 | Rousseau, J.-J.: Emile oder über die Erziehung, S. 242 f. 15 | Vgl. Horn, K.: Museum – Bildung – Lernen, S. 751. 16 | Lichtwark, A.: Museen als Bildungsstätten, S. 12. 17 | Kerschensteiner, G.: Die Bildungsaufgabe des Deutschen Museums, S. 45. 18 | Bernau, N.: Nationalsozialismus und Modernität, S. 217.

1 Einleitung | 15

Museumsbereich, die allerdings ausschließlich der linientreuen Präsentation von Geschichte im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie dienten. Dafür gestaltete man eigens Sonderausstellungen mit z.T. aufwendigen Inszenierungen, grafischen Darstellungen, Repliken und Modellen, die zugleich erstmals von einer umfangreichen Öffentlichkeits- und Schulungsarbeit (z.B. für Gliederungen der NSDAP) begleitet wurden.19 Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die Frage nach der pädagogischen Aufbereitung musealer Sammlungen und Ausstellungen einerseits in vielen Häusern angesichts geringer finanzieller und personeller Mittel in den Hintergrund. Andererseits gab es von Seiten der Allierten, insbesondere der US-amerikanischen Militärregierung, Bestrebungen, die Museen in ihre Demokratisierungspolitik miteinzubeziehen. Die dort tätigen Museumsoffiziere, bei denen es sich zum großen Teil um amerikanische Museumsfachleute handelte, hoben die Bedeutung der Museen als informelle Bildungsträger und Orte des populären Wissenstransfers und der Meinungsbildung hervor.20 Mithilfe neuer Ausstellungsmethoden, neuer Formen der Objektpräsentation und einer Intensivierung der Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit sollten breite Bevölkerungsschichten erreicht werden. Dazu wurden deutsche Museumsexperten und -expertinnen von der amerikanischen Militärregierung zu Schulungen und auf Auslandsreisen eingeladen, wo sie neben der Erziehungs- und Pressearbeit an amerikanischen Museen auch Einblicke in das Museumsmanagement erhielten und neue Standards in der Präsentation und Handhabung von Kulturgütern kennenlernen konnten.21 Gleichzeitig gab es auch auf deutscher Seite Initiativen zur kulturpolitischen Nutzung der Museen, wie z.B. in Bayern, wo vom Kultusministerium zum Zwecke der Förderung der Heimatverbundenheit die Vernetzung von Museen mit schulischen und außerschulischen Bildungsinstitutionen gefördert wurde.22 Andreas Michler hat sich ausführlich mit diesem Verhältnis bayerischer und amerikanischer Museumspolitik nach 1945 beschäftigt. Er kommt zu dem Schluss, dass mit zunehmender bayerischer Eigenständigkeit erneut bildungsbürgerliche Traditionen in der Museumsarbeit betont wurden, wodurch man versuchte, an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen und sich gleichzeitig von den kulturpolitischen Ideen amerikanischer Prägung distanzierte. Aus diesem Grund konnten sich nach Ansicht Michlers die vorhandenen »Ansätze für eine stärkere Pädagogisierung

19 | Vgl. Halle, U., Ur- und Frühgeschichte, S. 145 ff. 20 | Vgl. Michler, A.: Museumspolitik in Bayern 1945-1955, S. 66 f. 21 | Vgl. dazu u.a. ebd., S. 328 f. 22 | Ebd., S. 320 f.

16 | Die »Aura« des Originals im Museum

und Popularisierung der Museen auch nach 1955 noch immer nicht endgültig durchsetzen.«23 Erst Mitte der 1960er Jahre begann man sich seitens der Museen wieder auf eine gezielte Vermittlungsarbeit zu konzentrieren. Das Hauptaugenmerk lag zunächst auf der Kooperation von Museum und Schule, wobei man an die oben skizzierten Überlegungen der Reformpädagogik anknüpfte, was sich beispielsweise im Forderungs- und Zielkatalog der Tagung Schule und Museum (1967) zeigte, der große Ähnlichkeit mit dem einer gleichnamigen Tagung von 1930 hatte.24 In Folge der bereits erwähnten bildungspolitischen Öffnung der Museen in den 1970er Jahren25 wurde der Fokus der Museumsdidaktik dann stärker auf eine kulturpädagogische Arbeit gelegt, die sich auf die Beschäftigung mit Zielgruppen konzentrierte und die Ausstellungsgegenstände den Bedürfnissen der jeweiligen Zielgruppe unterordnete: »Kulturpädagogik nimmt den Gegenstand des Museums in Gebrauch, zielgerichtet, wo notwendig: parteilich, in jedem Fall orientiert an den gesellschaftlichen Beziehungen der Zielgruppe.«26 Korff trat in diesem Zusammenhang ab den späten 1970er Jahren als Wortführer einer an den Objekten ausgerichteten Ausstellungsdidaktik auf und prägte in diesem Zusammenhang das erwähnte Benjamin’sche Verständnis der Originalität der Museumsgegenstände. Korff war dabei aber nicht der einzige, der den Aura-Begriff im Zusammenhang mit den Museumsdingen verwendete. So sprach beispielsweise auch der damalige Leiter der Kunsthalle der Stadt Bielefeld, Ulrich Weisner, auf dem Berliner Symposion Ausstellungen – Mittel der Politik (1980) davon, dass die Aura von Museumsobjekten Ganzheitswahrnehmung begünstige und ein Anzeichen für eine positive und kommunikative Beziehung zwischen authentischem Werk und den Betrachtenden sei.27 Neben dieser Fürsprache für die Aura des Originalen im Museum finden sich in den 1980er Jahren aber auch negativ konnotierte Verwendungen des Aura-Begriffs. In Die Lust am Schauen, oder, Müssen Museen langweilig sein (1986) sprechen die Autorinnen von »Aura-Impertinenz«, wenn »Museen als ›Musentempel‹« agieren und sich »mit dem Image des Hehren, ja geradezu des Heiligen aus[statten]« und einen

23 | Ebd., S. 361. 24 | Vgl. Hense, H.: Das Museum als gesellschaftlicher Lernort, S. 74 f. 25 | Siehe dazu u.a. Spickernagel, E./Walbe, B. (Hrsg.): Das Museum. Lernort contra Musentempel. 26 | Boberg, J.: Thesen zur Kulturpädagogik im Museum, S. 77 ff. 27 | Vgl. Weisner, U.: Aura des Kunstwerks und Dokumentationswert der Reproduktion.

1 Einleitung | 17

»Anspruch auf Ehrfurcht« einfordern.28 Vereinzelte Ansätze für eine differenzierte Betrachtung gab es ebenfalls, z.B. ein Jahrzehnt später bei Diethard Herles, der zwischen Aura als »Ehrfurcht und weihevolle[r] Hingabe«, die »mit kritischer Betrachtung [. . . ] nicht vereinbar« ist, und der Aura in Form eines »historischen Dokuments, in dem menschliche Fragen, Abhängigkeiten, Freiheiten, Empfinden und Vorstellungen einer Zeit, also Leben eingefangen sind«, unterscheidet.29 In den letzten Jahren hat die Annahme einer spezifischen Wirkung der Originalität von Museumsobjekten in Form einer Aura durch die Forderung nach außerschulischem Lernen neuen Schwung erhalten. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung und Virtualisierung des Alltags sollen Lernende wieder stärker mit der ›wirkliche‹ Welt zusammengebracht werden.30 Im englischsprachigen Raum wird hierbei von object-centered learning gesprochen und dessen Potential für die Lernenden als »grounding (literally) their experience of reality« hervorgehoben.31 Korff selbst hat allerdings vor einer solchen Vereinnahmung der Authentizität der Museumsobjekte gewarnt.32 Seiner Auffassung nach stehen die Museen nicht abseits der Massenkultur, sondern sind stattdessen »mit zahlreichen gesellschaftlichen Teilsystemen verflochten – mit Wissenschaft, Bildung, Unterhaltung, Wirtschaftspolitik, etc. Aus diesen Verflechtungen [. . . ] hat das Museum nicht selten produktive Energien bezogen.«33 In späteren Ausführungen zum Museumsboom der 1980er und 1990er Jahre kritisierte Korff darüber hinaus eine »Ethnologisierung« der Museumslandschaft, die seiner Ansicht nach zu einer »Dialektik der Entauratisierung« führt: »Gemeint ist die Auratisierung der Trivial-, der Alltagskultur nach den Bemühungen um die Entauratisierung der Hochkunst. [. . . ] Was Marcel Duchamp mit dem ›Flaschentrockner‹ wollte, die Entheiligung der Kunst, wird ins Gegenteil verkehrt: Das Heimatmuseum beschwört die Lokal-Aura, fetischisiert die regionale Dingkultur [. . . ]. War das Museum in diesem Jahrhundert vielfach der Ort des Experiments [. . . ], so ist es durch den Musealisierungsvorgang zum Ort der Alltagsbanalität geworden.«34

28 | Schuck-Wersig, P./Wersig, G.: Die Lust am Schauen, oder, Müssen Museen langweilig sein?, S. 25. 29 | Herles, D.: Das Museum und die Dinge, S. 80. 30 | Pleitner, B.: Historisches Lernen im Museum, S. 35. 31 | Evans, M.E./Mull, M.S./Poling, D.A.: The Authentic Object?, S. 74. 32 | Korff, G.: Bildwelt Ausstellung – Die Darstellung von Geschichte im Museum, S. 334. 33 | Korff, G.: Omnibusprinzip und Schaufensterqualität, S. 750. 34 | Korff, G.: Musealisierung total?, S. 135 f.

18 | Die »Aura« des Originals im Museum

Trotz der theoretischen Erläuterungen von Korff hat sich die Rede von der ›Aura des Originals‹ seitdem verselbstständigt und ist weit über die Grenzen des museologischen Diskurses hinaus zum geflügelten Wort geworden. Aura hat sich zu einem Schlagwort entwickelt, das immer dann aufzutauchen scheint, wenn es darum geht, die Vorteile von authentischen Objekten gegenüber anderen Ausstellungselementen und anderen Formen der Geschichtsvermittlung hervorzuheben. In einem Zeitungsinterview konstatieren Museumsdirektoren in Bezug auf Neue Medien: »Nur Originale besitzen im Museum eine Aura.«35 Ferner wird die Aura von Originalen, selbst wenn sie nicht im Fokus der Vermittlung steht, vorausgesetzt. So spricht beispielsweise die Leiterin der Museen des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Heike Gfrereis, im Bezug auf das Konzept der Dauerausstellung davon, dass die Originale dort »selbst Objekte der Vermittlung, Gegenstände der Anschauung und Erkenntnis über ihren auratischen Wert hinaus, und nicht nur Informationsvermittler, Übersetzungsmedien von etwas, das man auch ohne sie weiß«, sind.36 Auch im Feuilleton wird wie selbstverständlich angenommen, dass sich die »junge Generation« längst »für die Aura des Originals entschieden« habe.37 Der Begriff der Aura ist dabei nicht, wie man meinen könnte, auf die Kunstmuseen beschränkt, sondern wird auch im Bereich historischer Museen gebraucht. So erhält der sogenannte ›Löwenmensch‹ aus der Stadel-Höhle am Hohlenstein im Lonetal (ca. 43.00035.000 v.H.) laut Zeitungsbericht einen eigenen Raum in der Ausstellung des Museums Ulm, wo man sich nach Aussage der Direktorin »seiner Aura hingeben, das Objekt in Ruhe studieren und bewundern kann«.38 Auch für zwei frühmittelalterliche Bestattungen aus Zeuzleben haben im Museum für Franken Studierende der Universität Würzburg laut Zeitungsbericht »einen Raum voll Aura gestaltet«.39 Darüber hinaus kommt der Aura-Begriff auch als Ausstellungstitel zur Anwendung, wie die

35 | Krings, D.: Nur Originale haben im Museum eine Aura. »Die Welt« vom 16. Oktober 2005. 36 | Gfrereis, H./Steinheimer, F.: ... und der Notwendigkeit einer Schaffung narrativer Strukturen, S. 138. 37 | Lorch, C.: Schafft die Eintrittsgelder ab!, »Süddeutsche Zeitung« vom 4. November 2016. 38 | Aboul-Kheir, M.: Der Löwenmensch bekommt in Ulm seinen eigenen Raum. https://www.swp.de/suedwesten/staedte/ulm/der-loewenmensch-bekommt-im-museumulm-seinen-eigenen-raum-23561347.html (Stand: 25. Februar 2018). 39 | Wiedemann, M.: Museum für Franken: Neue Aura für alte Objekte. https: //www.mainpost.de/ueberregional/kulturwelt/kultur/Museum-fuer-Franken-Neue-Aurafuer-alte-Objekte;art3809,9648222 (Stand: 19. April 2019).

1 Einleitung | 19

Ausstellung Aura – Thüringens stille Kraft (2017) zu vorreformatorischen Holzskulpturen im Thüringer Museum in Eisenach beweist. Dass der Begriff aber noch längst nicht auf allen Ebenen des Museumswesens gleichermaßen anerkannt und verbreitet ist, zeigt dagegen eine nicht-repräsentative Befragung von Regionalmuseen durch den Geschichtsdidaktiker Olaf Hartung, die ergab, dass »kein einziger Leiter der vorgestellten Regionalmuseen den Begriff der Aura im Munde« führte.40 Gleichzeitig legten aber laut Hartung fast alle der befragten Museen explizit Wert auf das Ausstellen originaler Objekte. Hierin liegt das Dilemma und zugleich wahrscheinlich auch der Grund für die große Wirkung von Korffs Überlegungen. Abgesehen von Korff in Deutschland und Gottfried Fliedl in Österreich gibt es im deutschsprachigen Raum nahezu keine theoretische Diskussion über die Grundlagen des historischen Ausstellungswesens.41 Aura scheint daher stellenweise als Hilfsbegriff in Ermangelung theoretischer Überlegungen zur Wirkung von Museumsobjekten zu fungieren. Entsprechend findet sich der Begriff in vielen museumsbezogenen Veröffentlichungen der letzten drei Jahrzehnte. Im Folgenden soll ein Einblick in die gegenwärtige Verwendung des Begriffs der Aura in der museums- und geschichtsdidaktischen Praxis- und Einführungsliteratur der letzten zwei Jahrzehnte gegeben werden.

1.2 DER »AURA«-BEGRIFF IN DER MUSEUMS- UND GESCHICHTSDIDAKTIK Wie bereits erwähnt, wird der Begriff der Aura oftmals als Beleg für das Alleinstellungsmerkmal musealer Vermittlung gegenüber anderen Formen der Vermittlung angeführt und findet sich daher insbesondere in museumsbezogenen Handreichungen für Schulen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Veröffentlichung Schule museum (2011) des Deutschen Museumsbundes. Zum Verhältnis zwischen Schule und Museum wird dort konstatiert: »Im Zentrum jedes Museums steht immer das Werk, das originale Objekt [. . . ]. Dieses Objekt soll den Museumsbesucher faszinieren«. Ganz anders sei es um den Lernort Schule bestellt: Dort gebe es »keine Originalobjekte mit Wert und Aura«.42 Weiter heißt es, dass die »originale Präsenz des Gegen-

40 | Vgl. Hartung, O.: Aktuelle Trends in der Museumsdidaktik und ihre Bedeutung für das historische Lernen, S. 163 f. 41 | Vgl. Grütter, H.T.: Zur Theorie historischer Museen und Ausstellungen, S. 189. 42 | Dengel, S. u.a.: Schule museum – Eine Handreichung für die Zusammenarbeit, S. 14 f.

20 | Die »Aura« des Originals im Museum

standes« und die »Dominanz der authentischen, sinnlichen Erfahrung« ein maßgebender Unterschied zur »medialen Repräsentanz des jeweiligen Gegenstands« und einem »hohen Grad an Vermittlung« in der Schule sei.43 Durch das Lernen vor dem Original entstünden »sinnliche Anreize« und »bleibende Eindrücke«.44 Die Autorinnen und Autoren der Handreichung gehen sogar so weit, auf dieser Grundlage einen verpflichtenden Museumsbesuch zu fordern: »Jeder Jugendliche bis zur 9. Klasse muss in seiner Schulzeit ein Projekt in Kooperation mit einem Museum erlebt haben. Denn die Auseinandersetzung mit den originalen Objekten und authentischen Zeugnissen im Museum ermöglicht den Jugendlichen, die Vergangenheit zu reflektieren, die Gegenwart zu begreifen sowie Bezüge zur eigenen Lebenswelt herzustellen und der eigenen Identität nachzuspüren.«45

Auch die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann spricht in einer Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung von dem musealen Alleinstellungsmerkmal der Originale, »die historische Substanz verkörpern und als Erinnerungsträger eine besondere Aura entfalten«.46 Die Verwendung des Aura-Begriffes beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Kontext der schulischen Bildung. Auch in Bezug auf die Erwachsenenbildung wird in dem Praxishandbuch Lernort Museum — neu verortet (2004) davon ausgegangen, dass die Objekte in Museen »sinnlich erfahrbar sind und eine eigene Realität, Ästhetik und Aura besitzen«.47 Andere Handreichungen sprechen neutraler, aber in erkennbarer Anlehnung an Korffs Thesen in Bezug auf die Authentizität von Originalen von deren »Beeindruckungspotential« als »einzigartige[r] Schlüsselqualifikation« von Museen.48 Gerne bemüht wird das Konzept der Aura darüber hinaus in der Einführungsliteratur der Geschichtsdidaktik, die sich als Wissenschaft der Vermittlung und Aneignung von Geschichte auch mit den Museen als wichtigen Trägern der Geschichtskultur befasst. Wie verbreitet der Begriff in der Disziplin ist, zeigt beispielsweise die beiläufige Erwähnung der Aura durch Hans-Jürgen Pandel im Zusammenhang

43 | Ebd., S. 17. 44 | Ebd., S. 18. 45 | Ebd., S. 64. 46 | Assmann, A.: Konstruktion von Geschichte in Museen. 47 | Rein, E.N. von: Erwachsenenbildung im Museum, S. 45. 48 | Henkel, M.: Museen als Orte Kultureller Bildung, S. 664.

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mit der sogenannten Gattungskompetenz, die Pandel im von ihm vorgeschlagenen Kompetenzmodell für den Geschichtsunterricht thematisiert: »Schule negiert die vielen Darstellungsformen, in denen Schülerinnen und Schüler außerhalb der Schule Geschichte begegnen [...]. auch der gegenständliche Bereich ist hier einbezogen: Originale mit Aura, Replikate, authentische Originale mit Zeitschichten der Restaurierung, Modelle etc.«49

Während der Aura-Begriff im obigen Beispiel wie selbstverständlich und ohne jede weitere Erläuterung genannt wird, setzen sich andere Einführungswerke mehr oder weniger ausführlich mit der proklamierten ›Aura des Originals‹ auseinander. Bei Dietmar von Reeken ist die »besondere Aura der Objekte« das Alleinstellungsmerkmal gegenständlicher Quellen im Museum, die sich vorteilhaft auf das Lernen auswirken würde. Nach von Reeken stelle die Aura der Objekte »ohne Zweifel einen hohen Motivationsanreiz dar, sie weckt Interesse, vielleicht auch Betroffenheit, löst also Gefühle beim Betrachter aus«.50 Waltraud Schreiber sieht in dieser potenziellen Betroffenheit auch eine Gefahr: »Die Schüler bauen sich ein intensiveres Bewußtsein von Geschichte auf, wenn die Rekonstruktion – was sicher nur in Ausnahmefällen möglich ist – vor Ort erfolgt und nicht nur im Klassenzimmer. Allerdings darf man nicht übersehen, daß sie auch gefangen werden von dieser Aura«.51 Die Überzeugung, dass authentische Museumsobjekte aufgrund ihrer Authentizität faszinieren, teilen auch andere Geschichtsdidaktiker wie Thomas Heese. Er geht in seinem Einführungswerk zu gegenständlichen Quellen im Geschichtsunterricht davon aus, dass authentische Sachquellen Medien sind, die »konkret bis in unsere Gegenwart hinein« reichen – wie »eine Live-Schaltung«.52 Auch er spricht dabei von einer »außergewöhnlichen Anmutungsqualität« gegenständlicher Quellen, die eine »besondere emotionale Nähe zwischen dem historischen Überrest und dem Menschen« erzeuge.53 Heese sieht darin eine ›emotional-auratische‹ Faszination begründet, die er sogar als eine Form des Lernens begreift.54 In einer anderen Publikation führt er

49 | Pandel, H.-J.: Geschichtsunterricht nach PISA, S. 27. 50 | Vgl. Reeken, D. von: Gegenständliche Quellen und museale Darstellungen, S. 148. 51 | Schreiber, W.: Geschichte vor Ort, S. 221 52 | Vgl. Heese, T.: Vergangenheit begreifen, S. 21. 53 | Ebd., S. 24. 54 | Vgl. ebd.

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dazu aus, dass schon allein durch das Betrachten von Originalen ein Lernprozess initiiert werde: »Der durch die Aura des Originals angebahnte erste Schritt auf das Objekt zu, also die ästhetische Dimension, die geweckte Neugierde, wird durch die weitere Beschäftigung mit dem Exponat verlängert und in einen kognitiven Prozess überführt. Das befördert den ›langen Blick‹, den das Objekt aufgrund seiner Fremdartigkeit auslöst. Im Gegensatz zum ›schnellen Blick des Lesens‹, der zügig vom Text zum Verständnis führt, hält die ›Gegenständlichkeit‹ des Objekts, d.h. das dem betrachtenden Subjekt Entgegenstehende, dessen Faszination aufrecht und fordert seine andauernde Betrachtung. Dies ermöglicht eine schrittweise Entwicklung hin zur historischen Erkenntnis.«55

Aussagen wie diese sind beispielhaft für normative Setzungen im Bezug auf die Originalität von Museumsobjekten. Die Annahmen zum Zusammenhang von Authentizität und Lernerfolg mögen zwar zunächst plausibel erscheinen, ihre empirische Überprüfung steht aber in den meisten Fällen noch aus. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Begriff der Aura zum festen Bestandteil der museums- und geschichtsdidaktischen Literatur über das Lernen im Museum geworden ist. Zwar hat es parallel zu der Fürsprache auch kritische Einwände wie die von Hartung gegeben, der einwirft, dass das »Betrachten authentischer Originale allein [. . . ] weder historisches Lernen noch die Ausbildung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins« garantiere.56 Eine breite und tiefergehende kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Aura und den damit verbundenen Erwartungen an das (Lern-)Potenzial authentischer Museumsobjekte ist aber bisher sowohl in der Geschichts- als auch in der Museumsdidaktik ausgeblieben.

1.3 PROBLEMSTELLUNG Die oben geschilderten Annahmen zur Wahrnehmung und Wirkung von Originalen im Museum legen nahe, dass authentische historische Relikte einen direkten, emotionalen und ganzheitlichen Zugang zur Geschichte bieten würden. Von den authentischen Exponaten, so die populäre These, gehe eine Aura aus, die den Betrachtenden zumindest für einen kurzen Augenblick den Kontakt mit einer fernen Vergangenheit

55 | Heese, T.: Außerschulische Lernorte im Geschichtsunterricht, S. 15. 56 | Vgl. Hartung, O.: Aktuelle Trends in der Museumsdidaktik und ihre Bedeutung für das historische Lernen, S. 169.

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ermögliche. Zusätzlich würden die Originale aufgrund der Tatsache, dass sie aus einer anderen Zeit stammen, eine besondere Faszination auf die Museumsbesucher und -besucherinnen ausüben. Eine derartige essentialistische Auffassung der Wirkung von Museumsobjekten muss aus verschiedenen Gründen jedoch als äußerst problematisch angesehen werden. Zunächst ist festzustellen, dass man nicht von einer einheitlichen Verwendung des Aura-Begriffes sprechen kann. Aura erscheint oft eher als essayistisches Hilfskonstrukt denn als wissenschaftlich ausgearbeitetes, theoretisch und empirisch fundiertes Modell. Der Erziehungswissenschaftler Martin Fromm kritisiert diese Verwendung von Aura als »Slogan«, die zudem mit in der gegenwärtigen Pädagogik als überholt geltenden, mechanistischen Vorstellungen von Lernabläufen einhergehe.57 Unklar bleibt außerdem, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um die Entstehung von auratischen Erfahrungen zu ermöglichen, und ob wirklich alle Museumsbesucherinnen und -besucher in der Lage sind, die Aura eines Originals und damit den ›Hauch der Geschichte‹ zu verspüren. Die Tatsache, dass sich die Exponate in den meisten (historischen) Museen hinter Glasvitrinen oder Absperrungen befinden und zudem i.d.R. mit einem Berührungs- und Annäherungsverbot belegt sind, steht einer sinnlichen Begegnung, die über die rein visuelle Wahrnehmung hinausgeht, eher entgegen.58 Aus dieser Distanz heraus dürfte für den Großteil des Museumspublikums außerdem nicht ohne Weiteres ersichtlich sein, ob es sich bei einem ausgestellten Objekt um ein ›echtes‹ historisches Relikt oder ›nur‹ um eine Kopie handelt. Wenn aber die Authentizität eines Objekts für einen Großteil der Besucher und Besucherinnen gar nicht überprüfbar und erfahrbar ist, so stellt sich die Frage, ob die angenommene Anziehungskraft eines Exponats wirklich, wie Korff annimmt, allein auf dessen geschichtlicher Zeugenschaft beruhen kann. Dass es nicht nur allein historische Sachzeugen sind, die eine Faszination auf das an Geschichte interessierte Publikum ausüben, zeigt der große Erfolg von Wanderausstellungen wie Tutanchamun – Sein Grab und die Schätze (über 6 Mio. Besucherinnen und Besucher seit 2008) oder Die Terrakottaarmee & das Vermächtnis des Ewigen Kaisers (über 1 Mio. Besuche-rinnen und Besucher seit 2002), in denen überhaupt keine historischen Originale, sondern nur Nachbildungen zu sehen sind.59 Weiterhin setzen gerade archäologische Museen bei ihrer Vermittlungsar-

57 | Vgl. Fromm, M.: Bildung im Museum?, S. 366 f. 58 | Vgl. Michler, A.: Museum und Ausstellung, S. 612. 59 | Die Zahlen wurden den Internetauftritten der beiden Ausstellungen bzw. der Ausstellungsveranstalter entnommen. Zu den Besuchszahlen der Tutanchamun-Ausstellung siehe https://www.semmel.de/tutanchamun-sein-grab-und-die-schaetze.html (Stand: 4. Juni 2018);

24 | Die »Aura« des Originals im Museum

beit häufig auf Repliken, um das Interesse der Besucher zu wecken. Ein Beispiel dafür ist das Vergraben von Nachbildungen archäologischer Funde, um eine wissenschaftliche Ausgrabung zu simulieren. Repliken werden außerdem in vielen Museen präsentiert, wenn vorhandene Originale aus konservatorischen Gründen nicht gezeigt werden können oder temporär an ein anderes Museum verliehen wurden. In anderen Fällen sind die Originale irreparabel beschädigt, zerstört oder verloren gegangen, weshalb auf Repliken zurückgegriffen werden muss.60 Auf Basis dieser Beobachtungen lässt sich sagen, dass die Authentizität der Museumsgegenstände zwar für viele Museumsfachleute von großer Bedeutung sein mag – für einen nicht unbedeutenden Teil des Museumspublikums spielt Echtheit im Sinne historischer Provenienz und Einmaligkeit aber anscheinend eine eher untergeordnete Rolle. Stattdessen gelten Museen primär als Orte, an denen Geschichte vermittelt wird – die Frage nach der Authentizität ist dabei zweitrangig. Stattdessen werden auch solche Formen der musealen Vermittlung als Teil einer authentischen Geschichtspräsentation angesehen, die mit den dort gesammelten, bewahrten und ausgestellten Originalen nur am Rande zu tun haben, wie z.B. Workshops unterschiedlicher Art, Living-History-Darbietungen und andere öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen mit ›Eventcharakter‹.61 Dem liegt eine von der Expertenmeinung abweichende Auffassung von Authentizität zugrunde, bei der nicht das aus der Vergangenheit stammende authentische Objekt, sondern das authentische (Nach-) Erleben der Geschichte im Vordergrund steht. Hans-Jürgen Pandel hat diese Form der Authentizität auch als Erlebnisauthentizität bezeichnet. Kennzeichnend ist nicht, ob das darstellende Medium bzw. das Dargestellte tatsächlich ›echt‹ ist, sondern, ob die bei der Rezeption ausgelösten Erfahrungen und Emotionen von den Rezipienten als authentisch empfunden werden.62 Die Wirkung von authentischen Museumsobjekten kann also nicht ohne Weiteres generalisiert werden, da die Wahrnehmung von Authentizität sowohl von soziokulturellen Faktoren als auch von der Art und Weise der Präsentation abhängig ist.

zu den Besuchszahlen der Terrakottaarmee-Ausstellung siehe https://terrakottaarmee.de (Stand: 4. Juni 2018). 60 | Vgl. Yan, B.: Significance of Originals and Replicas in Archaeological Site Museums, S. 18. 61 | Vgl. Pleitner, B.: Living History an britischen Museen, S. 103. 62 | Vgl. Pandel, H.-J.: Authentizität, S. 30.

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1.4 FRAGESTELLUNG, ZIELSETZUNG AUFBAU DER ARBEIT

UND

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, zu untersuchen, ob die in der Literatur vielfach gerühmte Aura in historischen Museumsausstellungen wirklich, wie in der Museums- und Geschichtsdidaktik angenommen, an die (wahrgenommene) Authentizität der Exponate geknüpft ist. Sind es wirklich nur die Originale, die in der Museumsausstellung eine Faszination auf die Besucherinnen und Besucher ausüben, oder können auch Nachbildungen unter bestimmten Umständen in als genauso interessant wahrgenommen werden und damit auch über eine Art Aura verfügen? Mit meiner Arbeit möchte ich einen theoretisch und empirisch fundierten Beitrag zur Klärung dieser Frage liefern. Dazu werde ich die der These von der ›Aura des Originals‹ zugrundeliegenden Konzepte einer eingehenden Betrachtung unterziehen und den Einfluss der Authentizität von Museumsobjekten auf das Interesse von Museumsbesucherinnen und -besuchern im Rahmen eines Experiments mit Besucherinnen und Besuchern einer historischen Museumsausstellung untersuchen. Im Folgenden werde ich dafür zunächst einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Wahrnehmung und Rezeption von authentischen Objekten und Authentizität in und auch außerhalb des Museumskontextes geben (Kapitel 2). Im Anschluss daran sollen in den Kapiteln 3 bis 5 die für die Arbeit zentralen Aspekte der Aura, des Originals und der Authentizität begriffsgeschichtlich geklärt und voneinander differenziert werden. In den anschließenden beiden Kapiteln 6 und 7 wird die Entwicklung vom Authentizitätsbegriff zur historischen Kategorie sowie anschließend die Rolle der Originale im historischen Museum in den Blick genommen. Im theoretischen Teil der Arbeit (Kapitel 8) wird auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse ein theoretisches Rahmengerüst für die Untersuchung vorgelegt. Dafür beziehe ich mich auf die Person-Gegenstands-Konzeption des Interesses aus der pädagogischen Psychologie, um das In-Beziehung-Treten zwischen Museumsbesucherinnen und -besuchern und Museumsobjekten analytisch zu erfassen. Die Unterscheidung zwischen Originalen und Kopien wird mithilfe einer semiotischen Theorie der Authentizität aus der Konsumforschung in Anschluss an Charles Sanders Peirce neu konzipiert. Das letzte Fundament bildet die Theorie der Distinktion nach Pierre Bourdieu, durch die die besondere Wertschätzung, die Originale im Museum in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen erfahren, soziologisch erklärt wird. Im methodischen Teil der Arbeit (Kapitel 9) wird dann zunächst näher auf den Forschungsgegenstand eingegangen, bevor die Entwicklung des Fragebogens für die im Rahmen des ersten Teils der Untersuchung erfassten Variablen sowie die zur Auswertung des Fragebogens eingesetzten statistischen und qualitativen Verfahren

26 | Die »Aura« des Originals im Museum

erläutert werden. Im letzten Part des methodischen Teils wird das Forschungsdesign der Untersuchung dargestellt. Die Ergebnisse der statistischen und qualitativen Auswertung der Untersuchung werden im darauffolgenden Kapitel 10, jeweils getrennt voneinander, dargestellt. Den Abschluss der Arbeit bildet dann die Diskussion der Ergebnisse, aus denen Schlussfolgerungen für den praktischen Umgang mit Originalen und Kopien in der Museumsdidaktik gezogen werden (Kapitel 11).

I Theoretischer Hintergrund

2 Stand der Forschung

Vergegenwärtigt man sich den hohen Stellenwert, der historischen Objekten im Diskurs um historische Museen zugeschrieben wird, so überrascht es, dass es nahezu keine Untersuchungen gibt, die sich mit der Rolle der Authentizität von Museumsexponaten beschäftigen. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass sich die traditionelle Museologie lange Zeit ausschließlich auf museumspraktische oder rein philosophische Fragen um die Institution Museum konzentrierte.1 Erste systematische Annäherungen an die empirische Erforschung der Wahrnehmung und Verarbeitung von Museumsobjekten gab es erstmals in den 1970er Jahren. Zu dieser Zeit entwickelte sich als Folge der gestiegenen Besucherorientierung der Museen eine Besucherforschung, die sich aus soziologischer und psychologischer Perspektive v.a. für die sich in Museen und Ausstellungen abspielenden Interaktions- und Lernprozesse interessierte.2 In den ersten Studien ging es hauptsächlich darum, herauszufinden, wie die in Museumsausstellungen präsentierten Inhalte von den Besuchenden wahrgenommen und verarbeitet werden. Diese forschungspragmatische Herangehensweise wurde mit der zunehmenden Verbreitung konstruktivistischer Theorien in den Human- und Sozialwissenschaften durch einen ganzheitlicheren Zugang abgelöst, bei dem der Museumsbesuch und seine Wirkung im Vordergrund stehen.3 Der Großteil dieser Studien ist bisher in naturwissenschaft-

1 | Von der ›klassischen‹ Museologie, die sich entweder mit rein museumspraktischen Fragen oder philosophischen Diskursen um das ›Wesen‹ des Musealen beschäftigt, ist die gegen Ende der 1980er Jahre entstandene sogenannte Neue Museologie zu unterscheiden, deren vorrangiges Ziel in der kritischen Analyse und Reflexion musealer Praktiken besteht; siehe hierzu z.B. Vergo, P. (Hrsg.): The New Museology. 2 | Vgl. Noschka-Roos, A./Lewalter, D.: Lernen im Museum – theoretische Perspektiven und empirische Befunde, S. 202. 3 | Vgl. ebd., S. 206.

30 | Die »Aura« des Originals im Museum

lichen Museen und Science-Centern, seltener in anderen Museumsarten wie z.B. (kultur-)historischen Museen durchgeführt worden. Ferner können auch die motivationalen Effekte von Museumsbesuchen bereits als relativ gut untersucht gelten.4 Gleichzeitig beziehen sich die meisten der durchgeführten Studien aber vorwiegend auf kontextuelle Faktoren wie die Neuheit des Lernortes, die didaktische Aufbereitung der Informationen im Museum oder die soziale Einbettung des Museumsbesuchs. Nur wenige Untersuchungen im Museumskontext nehmen dagegen die (historischen) Objekte an sich in den Blick. Der folgende Forschungsstand beschränkt sich daher nicht nur auf die museologische Besucherforschung, sondern bezieht auch Ergebnisse aus der didaktischen Lehr-Lernforschung, der Psychologie, der Konsumforschung und der Tourismusforschung mit ein, die sich ebenfalls mit authentischen Objekten und authentischen Erfahrungen auseinandergesetzt haben.

2.1 DIE BEWERTUNG

AUTHENTISCHER

OBJEKTE

Dass konkrete Objekte im Museum eine wichtige Rolle für die Museumserfahrung spielen, zeigt eine groß angelegte Studie des Smithsonian. In Interviews mit den Besucherinnen und Besuchern wurde deutlich, dass das Betrachten von ›echten‹, d.h. konkreten Dingen im Museum neben dem Wissenserwerb der wichtigste Faktor für einen zufriedenstellenden Museumsbesuch ist.5 Darüber hinaus gibt es einige in Museumsausstellungen durchgeführte Untersuchungen aus dem Bereich der didaktischen Lehr-Lernforschung, die nahelegen, dass die Beschäftigung mit Ausstellungsobjekten von den Schülerinnen und Schülern als aufregend oder motivierend empfunden wird.6 Die Authentizität der Museumsobjekte wurde bei diesen Studien aber nicht als eigener Faktor erfasst und untersucht. Eine Ausnahme stellt die Untersuchung von Felicitas Klingler dar, die sich im Rahmen ihrer Dissertation u.a. mit der Relevanz authentischer Museumsgegenstände für die museumspädagogische Arbeit mit Schul-

4 | Vgl. dazu Lewalter, D./Geyer, C.: Evaluation von Schulklassenbesuchen im Museum, S. 779. 5 | Vgl. Pekarik, A.J./Doering, Z.D./Karns, D.A.: Exploring satisfying experiences in museums, S. 167. 6 | Vgl. Yilmaz, K./Filiz, N./Yilmaz, A.: Learning social studies via objects in museums, S. 990; Vgl. Krombass, A./Urhahne, D./Harms, U.: Flow-Erleben von Schülerinnen und Schülern beim Lernen mit Computern und Ausstellungsobjekten in einem Naturkundemuseum, S. 97 f.

2 Stand der Forschung | 31

klassen befasst hat. Klingler stellte bei einer Onlinebefragung von 55 Museumspädagoginnen und -pädagogen fest, »dass ein Großteil der Museumspädagogen und -pädagoginnen nicht die Begegnung mit den Originalobjekten als Ziel vor Augen hat, sondern vielmehr den Erwerb von Sachwissen, was auch mit Sekundärmaterialien geleistet werden kann.«7 Ihre auf teilnehmender Beobachtung basierende Analyse museumspädagogischer Angebote zeigte weiterhin, dass die Originale v.a. in den Praxisteilen der Programme keine Rolle mehr spielten, selbst wenn sie im vorhergehenden Teil thematisiert oder anderweitig eingesetzt worden waren.8 Auch außerhalb des Museumskontexts hat sich die didaktische Unterrichtsforschung mit der Rolle von authentischen Objekten beschäftigt. Monika Pape berichtet in ihrer Dissertation zum Geschichtsbewusstsein von Grundschulkindern, dass Kinder auf die Frage »Macht es dir denn Spaß, wenn du dir alte Dinge und Gegenstände ansiehst?« die erzeugte Spannung und das Wissen über das Alter als Gründe für die Faszination von prähistorischen Tieren im Unterricht nannten.9 Die Rolle von Originalen in der Kunstvermittlung hat Ulrike Hess näher beleuchtet. Durch den Vergleich von Werkbetrachtungen mit anschließender Bildgestaltung, die sie mit Schülerinnen und Schülern abwechselnd vor Originalen und Reproduktionen von Kunstwerken durchgeführt hat, kommt sie zu dem Schluss, dass Originale »die Erlebnisfähigkeit steigern, und zwar deutlicher als die Begegnung mit Reproduktionen«.10 Laut Hess liegt ein Vorteil von Originalen gegenüber Kopien darin, dass sie im Zeitalter der fortschreitenden Technologisierung die Erfahrung von Kindern und Jugendlichen ›erden‹: »Die Medien simulieren authentische Erfahrungen, was dazu führt, daß Kinder und Jugendliche die Wirklichkeit zu einem großen Teil aus zweiter Hand erleben. Das Resultat ist passives Konsumverhalten und Einengen des eigenen Erfahrungsspielraums. Originale evozieren geradezu die aktive Auseinandersetzung mit dem vor Ort erlebten Kunstwerk und eröffnen jungen Menschen, aber auch Erwachsenen, neue Wahrnehmungsweisen, die zum größten Teil von der technisch perfekten Reproduktion nicht geleistet werden können. Der Verlust an Materialität, Räumlichkeit und Körperlichkeit verhindert echte Kunsterfahrungen.«11

7 | Klingler, F.I.: Die Relevanz »authentischer Objekte« in der museumspädagogischen Geschichtsvermittlung, S. 84. 8 | Vgl. ebd., S. 82 f. 9 | Vgl. Pape, M.: Entwicklung von Geschichtsbewusstsein im Hinblick auf die unterrichtspraktische Gestaltung historischer Themen im Sachunterricht, S. 139 f. 10 | Hess, U.: Kunsterfahrung an Originalen, S. 368. 11 | Ebd., S. 367.

32 | Die »Aura« des Originals im Museum

In Bezug auf die vorliegende Arbeit müssen Hess’ Ergebnisse jedoch etwas relativiert werden, weil die Originalität im Bereich der bildenden Künste eine andere, wahrscheinlich wichtigere Rolle spielt als in dem der Geschichte und dort weiter gefasst ist als in den Geschichtswissenschaften (vgl. dazu Kapitel 4.2). Ein weiteres, methodisches Problem betrifft die Tatsache, dass Hess im Rahmen ihrer Untersuchung ausschließlich grafische Reproduktionen wie Schwarz-Weiß-Kopien einsetzte, die sich im Gegensatz zu ›originalgetreueren Formen‹ der Kopie wie Abgüssen, (Nach-)Drucken oder Faksimiles nur bedingt für den Vergleich mit den Originalen eignen. Deutlich mehr Ergebnisse zu den Effekten von Authentizität auf das Verstehen und Lernen stammen aus dem Bereich der Biologiedidaktik, wo der Einsatz von Originalen in Form von Tieren und Pflanzen ebenso wie in der Geschichts- und Museumsdidaktik vehement eingefordert wird. Matthias Wilde und Kathrin Bätz konnten hier am Beispiel von Zwergmäusen nachweisen, dass sich die Begegnung mit lebenden Tieren positiv auf den Wissenserwerb und die Motivation der Schülerinnen und Schüler auswirkte. Ähnliche Ergebnisse finden sich für den Einsatz lebender Eidechsen und konservierter Tiere im Labor.12 Eine wichtige Rolle für das Interesse spielen hierbei auch den Originalen verbundene hands-on-Tätigkeiten, wie Nina Holstermann am Beispiel des Sezierens von Schweineorganen, des Mikroskopierens von Blattquerschnitten und des Bestimmens heimischer Schmetterlinge zeigen konnte. Zugleich zeigte sich aber auch, dass der Effekt auf das Interesse der Schülerinnen und Schüler nicht von großer Dauer war.13 Weitere Auswirkungen auf kognitive Verarbeitungsleistungen zeigten z.B. Catherine Eberbach und Kevin Crowley, die durch einen Vergleich von lebenden Pflanzen mit Modellen und virtuellen Pflanzen belegen konnten, dass die lebendigen Pflanzen stärker mit alltäglichen Erfahrungen in Verbindung gebracht wurden, während die (virtuell) nachgebildeten Pflanzen eher zur Erklärung von Prozessen herangezogen wurden.14 Neben der Biologiedidaktik taucht der Begriff der Authentizität des Weiteren noch in der Fremdsprachendidaktik in Form der sogenannten authentischen Lehrund Lernmaterialien auf. Dabei handelt es sich um Aufgaben, die die Lernenden mit

12 | Vgl. Schrenk, M.: Die Bedeutung originaler Begegnung im Rahmen einer Sachunterrichtseinheit zum Thema Eidechsen.; vgl. Bonderup Dohn, N./Madsen, P.T./Malte, H.: The situational interest of undergraduate students in zoophysiology, S. 198. 13 | Vgl. Holstermann, N.: Interesse von Schülerinnen und Schülern an biologischen Themen, S. 95 f. 14 | Vgl. Eberbach, C./Crowley, K.: From living to virtual, S. 330.

2 Stand der Forschung | 33

Materialien konfrontieren, die aus der ›echten‹ Welt stammen oder sich auf die Lebenswelt der Lernenden beziehen und sie auf diese Weise motivieren sollen.15 Im Sprachunterricht können dies z.B. Texte oder andere Medien sein, die aus der Kultur des jeweiligen Landes stammen oder von Muttersprachlern eingesprochen bzw. verfasst wurden.16 Für die Annahme, dass ›authentische‹ Texte im Fremdsprachenunterricht interessanter sind als ›erfundene‹, gibt es aber nur wenige empirische Belege.17 Problematisch ist außerdem die vage Definition von authentischen Lernmaterialien – es bleibt unklar, was mit Authentizität im Rahmen ›authentischen‹ Lernens gemeint ist und ob sich Authentizität dabei auf den Inhalt der Materialien bzw. Aufgaben, auf die Aufgabenstellung oder aber auf den Lernkontext bezieht.18 Die wichtigsten Ergebnisse für die Fragestellung dieser Arbeit lieferten ein Experiment von Louise Bunce, die die Rolle der Authentizität von Tierpräparaten in naturhistorischen Museen untersucht hat sowie die Dissertation von Constanze Hampp, in der sie sich mit der Bewertung und Verarbeitung von authentischen Objekten in Technikmuseen beschäftigt. Bunce konnte in einem Experiment mit Besucherinnen und Besuchern nachweisen, dass ausgestopfte Hasen und Hasenskelette, die von den Besucherinnen und Besuchern berührt werden konnten und dabei für authentisch gehalten wurden, die Neugier und die Bereitschaft zur näheren Auseinandersetzung beförderten. Nahmen die Teilnehmenden die Exponate als authentisch wahr, wurden außerdem mehr »Warum«-Fragen gestellt sowie nach weiteren Erklärungen zu den Exponaten gefragt.19 Laut Bunce ist es dabei nicht die »object authenticity per say but visitors’ perception of authenticity that was associated with increased curiosity and engagement.«20 Vergleichbare Effekte konnte Hampp in drei experimentellen Studien feststellten, bei denen echte Objekte von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen länger betrachtet und besser erinnert wurden als Abbildungen dieser Objekte. Zugleich zeigte sich aber auch, dass Exponate, die als Originale gezeigt wurden, von den Probanden nicht höher bewertet wurden als solche, die als Kopien präsentiert wurden. Authentizität spielte somit für

15 | Blumenfeld, P.C./Kempler, T.M./Krajcik, J.S.: Motivation and Cognitive Engagement in Learning Environments, S. 479. 16 | Vgl. Gilmore, A.: Authentic materials and authenticity in foreign language learning, S. 98. 17 | Vgl. ebd., S. 107. 18 | Vgl. Shomoossi, N./Ketabi, S.: A Criticial Look at the Concept of Authenticity, S. 151 f. 19 | Vgl. Bunce, L.: Appreciation of Authenticity Promotes Curiosity, S. 235 f. 20 | Ebd., 236.

34 | Die »Aura« des Originals im Museum

die Bewertung der Exponate eine untergeordnete Rolle.21 Für die Besucherinnen und Besucher war eher ausschlaggebend, wie gut sich ein Objekt zur Darstellung wissenschaftlicher oder technischer Fakten eignete.22 Auch bei einem der Experimente, in dem Originale in einem emotionaleren Kontext präsentiert wurden und von hoher historischer Bedeutung waren, erachtete nur die Hälfte der Befragten die Authentizität der Exponate als relevant. Der Drang, die Originale zu besitzen oder anzufassen, war dabei nicht höher als bei Nachbildungen, und auch der finanzielle Wert der Originale wurde nicht als höher eingeschätzt.23 Gleichzeitig war die Frage nach der Echtheit eines Exponats für die Besuchenden nicht vollkommen unbedeutend. Eye-tracking-Analysen aus dem ersten der drei Experimente legen nahe, dass Objekte, die als ehemaliges Eigentum berühmter Personen (wie z.B. das Holzbein des Piraten Francois Le Clercs aus dem 16. Jahrhundert oder das Korsett der Schauspielerin Vivien Leigh aus dem Film Vom Winde verweht aus dem Jahr 1939) länger betrachtet wurden, wenn sie als Originale ausgewiesen wurden, als wenn sie als Repliken benannt wurden.24 Unterstrichen wird dieser Befund durch Experimente aus dem Bereich der psychologischen Kognitionsforschung. Bruce Hood und Paul Bloom konnten hier beispielsweise nachweisen, dass Kinder Objekte, zu denen sie eine emotionale Beziehung hatten (z.B. ihr eigenes Spielzeug) oder Objekte, die einer berühmten Persönlichkeit zugeschrieben wurden, identischen Nachbildungen dieser Gegenstände vorzogen. Bei Objekten ohne persönlichen Bezug und bei denen der rein materielle Wert im Vordergrund stand, wie z.B. Münzen, spielte die Originalität dagegen keine Rolle.25 Weitere kognitionspsychologische Forschungen legen nahe, dass die Vorstellung davon, dass Gegenstände durch physischen Kontakt mit einer Person ›kontaminiert‹ und dadurch mit symbolischer Bedeutung aufgeladen sind, einen wichtigen Einfluss auf die Bewertung von Kunstwerken, Souvenirs oder persönlichen Gegenständen hat.26 So wurden Gegenstände von berühmten Persönlichkeiten in ihrem Wert hö-

21 | Vgl. Hampp, C.: ›Die Aura‹ des Originals – Wahrheit oder Mythos?, S. 22. 22 | Vgl. Hampp, C./Schwan, S.: Perception and evaluation of authentic objects, S. 19. 23 | Vgl. Hampp, C.: Authentizität in der Wahrnehmung und Bewertung von Museumsobjekten, S. 94. 24 | Vgl. Hampp, C./Bauer, D./Schwan, S.: The Role of Authentic Objects in Science Museums, S. 83 f. 25 | Vgl. Hood, B. M./Bloom, P.: Children prefer certain individuals over perfect duplicates, S. 461. 26 | In Anlehnung an den von James George Frazer geprägten Begriff der sympathetischen Magie bzw. Kontaktmagie (›Law of Contagion‹) bezeichnet die psychologische Forschung zum

2 Stand der Forschung | 35

her bewertet, wenn eine Berührung explizit thematisiert wurde.27 Auch Kunstwerke und Designs wurden umso höher bewertet, je länger der Künstler bzw. die Künstlerin sie während des Herstellungsprozesses berührt hatte.28 Dieser Glaube an eine Essenz von Personen und Dingen, die durch Kontakt übertragen werden kann, konnte bereits bei Kindern im Alter von vier Jahren nachgewiesen werden.29

2.2 DIE WAHRNEHMUNG

VON

AUTHENTIZITÄT

In der weiteren Auswertung der Interviews konnte Hampp insgesamt fünf Dimensionen von Authentizität unterscheiden. Für das Vorhaben dieser Arbeit sind dabei insbesondere zwei Dimensionen von Interesse: die Dimension Geschichte als Fähigkeit eines Objekts, eine Verbindung mit der Vergangenheit herzustellen, und die Dimension Aura, unter der Hampp solche Aussagen subsumierte, die sich im Gegensatz zur Dimension Geschichte durch eine irrationale Argumentationsweise auszeichneten, z.B. wenn die Interviewten davon berichteten, dass die Objekte eine gewisse »Aura« transportieren würden.30 Bei dem Experiment, bei dem die Authentizität der ausgestellten Objekte verändert wurde, zeigte sich, dass diejenigen Befragten, die glaubten, Nachbildungen zu sehen, den Objekten ähnliche Eigenschaften zuschrieben wie diejenigen Befragten, denen die Objekte als Originale präsentiert wurden.31 Hampp schränkt bei ihren Ergebnissen ein, dass diese nicht ohne weiteres auf andere Museumstypen übertragen werden können. So sei beispielsweise zu erwarten, dass die Authentizität von Museumsobjekten in archäologischen und volkskundlichen Museen wichtiger sein könnte als in technischen und naturwissenschaftlichen Museen.32 Folgt man dieser Feststellung, so können auch die von Bunce

Essentialismus dieses Phänomen auch als contagion; vgl. dazu Nemeroff, C./Rozin, P.: The Makings of the Magical Mind, S. 3 f. 27 | Vgl. Newman, G.E./Diesendruck, G./Bloom, P.: Celebrity contagion and the value of objects, S. 224 f. 28 | Vgl. Newman, G.E./Bloom, P.: Art and Authenticity, S. 3. 29 | Newman, G.E./Keil, F.C.: Where Is the Essence?, S. 1344 f. 30 | Vgl. Hampp, C./Schwan, S.: The Role of Authentic Objects in Museums of the History of Science and Technology, S. 171 ff. 31 | Vgl. Hampp, C.: Authentizität in der Wahrnehmung und Bewertung von Museumsobjekten, S. 97. 32 | Vgl. Hampp, C.: Die ›Aura‹ des Originals – Wahrheit oder Mythos?, S. 32.

36 | Die »Aura« des Originals im Museum

dokumentierten Effekte der Authentizität von Tierpräparaten auf die Neugierde und Motivation von Besucherinnen und Besucherinnen vorerst nur auf den Bereich der naturhistorischen Museen angewandt werden. Gestützt wird diese Annahme durch Befunde aus der Tourismusforschung, die nahelegen, dass die Wahrnehmung von Authentizität in Museen an soziodemografische Faktoren gebunden ist und sich von Museumstyp zu Museumstyp unterscheidet.33 Im Fall von Touristenattraktionen, in denen Hyperrealität und Simulationen eine große Rolle spielen, hat die Authentizität des Gezeigten außerdem nicht die oberste Priorität, auch wenn die Frage nach der Authentizität der Darstellung nicht völlig ohne Bedeutung ist.34 Weiterhin muss beachtet werden, dass die Fähigkeit zur Einschätzung und Bewertung von Authentizität nicht angeboren ist, sondern erlernt werden muss. Eine Studie von Margaret Evans, Melinda Mull und Deveraux Poling zeigt, dass sich das Verständnis für Authentizität und Originalität bei Kindern erst nach und nach entwickelt. So sind Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter größtenteils noch nicht in der Lage, zwischen natürlichen und artifiziellen Objekten und damit auch zwischen Original und Kopie zu unterscheiden. Bis zum Alter von 8 bis 10 Jahren gingen die meisten befragten Kinder davon aus, dass alle Objekte – egal, ob sie eigentlich menschlichen oder natürlichen Ursprungs waren – von Gott geschaffen sind und schon immer existiert haben.35 Die oben dargestellten empirischen Befunde legen nahe, dass die Wahrnehmung von authentischen Objekten nicht nur von deren Authentizität, sondern auch von anderen sozialen und individuellen Faktoren abhängt. Russel Belk geht beispielsweise im Fall von persönlichen Besitztümern davon aus, dass deren authentische oder nicht-authentische Herkunft für ihre Eigentümerinnen und Eigentümer nicht entscheidend ist. Ausschlaggebend ist nach Belk stattdessen deren persönliche Bedeutung, z.B. weil sie bei ihren Besitzerinnen oder Besitzern ein Gefühl der Nostalgie hervorrufen oder weil sie einen Bezug zu deren Vergangenheit haben.36 Auf diese Weise kann beispielsweise auch ein Poster der Mona Lisa als authentisch wahrgenommen werden, selbst, wenn es sich dabei nicht um das Original handelt.37 Au-

33 | Vgl. Brida, J.G./Disegna, M./Scuderi, R.: The Visitors’ Perception of Authenticity at the Museums, S. 16. 34 | Vgl. Krösbacher, C./Mazanec, J.A.: Perceived Authenticity and the Museum Experience, S. 238. 35 | Vgl. Evans, M.E./Mull, M.S./Poling, D.A.: The Authentic Object?, S. 70 ff. 36 | Vgl. Belk, R.W.: The Role of Possessions in Constructing and Maintaining a Sense of Past. 37 | Vgl. Hede, A.-M./Thyne, M.: A journey to the authentic, S. 688.

2 Stand der Forschung | 37

thentizität wird also nicht nur einfach konsumiert, sondern von den Konsumenten aktiv mitkonstruiert. Auch im Bereich der Darstellung von Geschichte können auf diese Weise nicht-authentische Darbietungen und Objekte als authentisch und legitim akzeptiert werden. Belk und Janeen Costa sprechen in diesem Fall von fabricated authenticity. Sie konnten am Beispiel von Reenactment-Events zeigen, dass Reenacter auch dann eine alternative Realität erzeugen konnten, wenn nicht alle Elemente ihrer Darbietungen ›authentisch‹ waren. Stattdessen wurden Kompromisse gemacht, wenn es darum ging, was als authentisch und was als nicht-authentisch anzusehen ist, wie z.B. moderne Duschen, die eigentlich nicht in die Zeit passen, dennoch vor Ort erforderlich waren, aber nicht aktiv in das Reenactment miteinbezogen wurden.38 Den Umgang mit dem Nicht-Authentischen haben Anne-Marie Hede und Maree Thyne auch im Rahmen von Museumsbesuchen untersucht. Die beiden identifizierten in Interviews drei Prinzipien, durch die in Museen das Nicht-Authentische in die historische Darstellung integriert wird: »the use of scene setters as gateways to the visitor experience; the encouragement of visitor freedom; and promoting the use of imagination through memory and nostalgia.«39 Im Hinblick auf die Akzeptanz des Nicht-Authentischen spielt laut Hede und Thyne v.a. das scene setting eine besondere Rolle. Es gibt den Besuchern und Besucherinnen im Rahmen der Marketingarbeit bereits vor dem Besuch, anschließend erneut bei ihrer Ankunft und schließlich auch während des Besuchs Hinweise, was sie im Museum zu erwarten haben und welche Rolle Originalität in der Institution spielt.40 Wenn Museen offen damit umgehen, was im Museums-Setting authentisch ist und was nicht, so kann sich dies förderlich auf die Entstehung zufriedenstellender und auch authentischer Erfahrungen auswirken, auf deren Erforschung ich im Folgenden näher eingehen möchte.

2.3 DIE ENTSTEHUNG

AUTHENTISCHER

ERFAHRUNGEN

Ebenfalls von Bedeutung für die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit sind Untersuchungen, die solche Erfahrungen im Museumskontext und verwandten Bereichen behandeln, die sich durch eine besondere Nähe zur Vergangenheit auszeichnen. Im Rahmen der bereits erwähnten Smithsonian-Studie berichteten die Befrag-

38 | Vgl. Belk, R.W./Costa, J.A.: The Mountain Man Myth, S. 232 f. 39 | Hede, A.-M./Thyne, M.: A journey to the authentic, S. 695. 40 | Vgl. ebd., S. 695 f.

38 | Die »Aura« des Originals im Museum

ten davon, ein Gefühl der Verbindung mit der Vergangenheit zu spüren (»Feeling a spiritual connection«).41 Ähnliche Ergebnisse in Bezug auf die Betrachtung von Kunstwerken finden sich in einer qualitativen Studie von Cheung On Tam, bei der die Befragten äußerten, dass sie vor Gemälden im Museum das Gefühl hatten, die Zeit zu vergessen und ihren Körper zu verlassen.42 Sie bezeichneten diese Personen – in Anlehnung an den von dem Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869-1937) geprägten Begriff des Numen – als numen-seekers. Kiersten Latham, die sich in ihrer Dissertation vertieft mit numinosen Erfahrungen im Museumskontext auseinandergesetzt hat, definiert diese Art der Erfahrung als »a transcendental experience that people can have in contact with a historic site or objects in an exhibit«.43 Nach Cameron und Gatewood zeichnen sich numinose Erfahrungen durch drei Aspekte aus: erstens durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, bei der man unter Umständen die Umwelt um sich herum vergisst; zweitens durch einen affektiven, emotionalen Zugang zur Geschichte, bei dem sich die Individuen in die Gefühle, Gedanken und Erfahrungen von historischen Persönlichkeiten hineinversetzen; und drittens durch ein Gefühl der Ehrfurcht bzw. der Begegnung mit dem Verehrungswürdigen, Heiligen.44 Dass auch Museumsbesucherinnen und -besucher in Verbindung mit Objekten ein derartig intensives Erleben haben können, hat Alexandra Donecker in ihrer Dissertation zum Rezeptionserleben in Museumsausstellungen gezeigt. Im Anschluss an die medienwissenschaftliche Theorie des Involvierten Erlebens von Peter Vorderer, die dieser ursprünglich für den Bereich des Fernsehens entwickelte, unterscheidet Donecker zwischen zwei Formen der Rezeption. Bei der distanzlos involvierten Rezeption versetzen sich die Rezipienten kognitiv und emotional in das Dargestellte hinein. Vorderer versteht darunter eine »Rezeptionshaltung [. . . ], bei der die Rezipienten kognitiv und emotional derart in das fiktive Geschehen [. . . ] involviert werden, dass sie sich der Rezeptionssituation selbst nicht mehr bewusst sind, sondern quasi im Wahrgenommenen mitleben«.45 Im Fall des Museums identifizieren sie sich mit den Exponaten, sie fühlen sich in die Vergangenheit versetzt oder es

41 | Vgl. Pekarik, A.J./Doering, Z.D./Karns, D.A.: Exploring satisfying experiences in museums, S. 158. 42 | Vgl. On Tam, C.: Understanding the Inarticulateness of Museum Visitors’ Experience of Paintings, S. 7 f. 43 | Latham, K.F.: The Poetry of the Museum, S. 248. 44 | Vgl. Cameron, C.M./Gatewood, J.B.: The numen experience in heritage tourism, S. 241. 45 | Vorderer, P.: Fernsehen als Handlung, S. 83.

2 Stand der Forschung | 39

gehen ihnen Bilder durch den Kopf. Bei der analysierenden Rezeption dagegen ist eine Haltung vorherrschend, die sich durch die Distanz zum Objekt auszeichnet. Das Interesse bezieht sich dabei eher auf oberflächliche Elemente der Ausstellung wie Strukturierung, Inszenierung, Material, Kosten, Konstruktion etc. und weniger auf die Objekte selbst.46 Im Rahmen einer qualitativen Untersuchung mit der Methode des ›Lauten Denkens‹ konnte Donecker weiter zwischen zwei Formen der involvierten Rezeption von Museumsobjekten unterscheiden, der Erinnerung und dem Hineinversetzen in Geschichte. Während bei der Erinnerung die persönlichen Erlebnisse der Betrachtenden erinnert und nacherlebt werden, denken sich die Rezipienten beim Hineinversetzen in die museal-historische Vergangenheit ein. Das Exponat wird dabei in der Vorstellung in einen Kontext eingebettet, der vor dem inneren Auge erscheint. Die Betrachtenden stellen sich dabei z.B. den Gebrauch eines Objektes in einer bestimmten Situation oder Konstellation vor, was wiederum durch bestimmte Assoziationen in der Präsentation hervorgerufen wird. Dem Exponat wird so in der Imagination eine Geschichte verliehen und es erhält dadurch eine Kontextualisierung.47 Das Rezeptionserleben verweist explizit auf eine emotionale Komponente des ›Berührtseins‹, also eine Bedeutungsaufladung des Objektes durch Imagination. Wie eine Besucherstudie von Christina Goulding zu authentischen Erfahrungen in Museumsausstellungen nahelegt, neigen nicht alle Besucherinnen und Besucher gleichermaßen zu solch vertieften Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Sie unterscheidet drei Besuchertypen: die existential visitors, die sich aus den jüngsten und ältesten Besuchenden aus überwiegend unteren Einkommensschichten mit einem geringen akademischen Interesse an der Vergangenheit zusammensetzen; daneben die Gruppe der aesthetic visitors aus Angehörigen der Mittelschicht mittleren Alters und Studierenden, welche die Vergangenheit aus ästhetischen Gründen, z.B. im Hinblick auf Kunst und Handwerk, idealisieren. Und als letztes die zahlenmäßig größte Gruppe der social visitors, die das Museum sowohl aus Bildungs- als auch aus Unterhaltungsgründen besuchen und bei denen eine Romantisierung der Vergangenheit nicht feststellbar war.48 Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Volker Kirchberg und Martin Tröndle in einer Untersuchung im Rahmen einer Ausstellung zu Moderner Kunst. Sie unterscheiden zwischen contemplative vi-

46 | Vgl. Donecker, A.: Selektions- und Rezeptionsprozesse im Kommunikationsraum Museum, S. 236. 47 | Vgl. ebd., S. 237. 48 | Vgl. Goulding, C.: The commodation of the past, postmodern pastiche, and the search for authentic experiences at contemporary heritage attractions, S. 843.

40 | Die »Aura« des Originals im Museum

sitors, die sich eher in die Kunstwerke hineinversetzen möchten und sich auf einzelne Werke fokussieren, enthusing visitors, die in der Ausstellung herumwandern und von berühmten oder wichtigen Kunstwerken emotional berührt werden, und social-experience visitors, die sich eher mit ihrer Begleitung unterhalten, als sich auf die Kunstwerke zu konzentrieren. Interessanterweise ließen sich bei Kirchberg und Tröndle im Gegensatz zu Goulding die verschiedenen Besuchertypen nicht an soziodemografischen Faktoren festmachen.49

2.4 ZUSAMMENFASSUNG Fasst man die im vorherigen Abschnitt dargestellten Studien zusammen, so lässt sich einerseits sagen, dass es bislang keine eindeutigen empirischen Belege für die Faszinationskraft von authentischen historischen Museumsobjekten gibt. Andererseits gibt es vor allem aus der Forschung im außermusealischen Kontext Hinweise darauf, dass als authentisch wahrgenommene Dinge und Lebewesen unter bestimmten Bedingungen positive Auswirkungen auf das Interesse haben können. Qualitative Untersuchungen, insbesondere aus der Tourismusforschung, legen zudem nahe, dass beim Kontakt mit Orten und Dingen aus der Vergangenheit Erfahrungen ausgelöst werden können, die durch Zustände wie Ehrfurcht, Involviertheit oder Konzentration geprägt sind. Die Zusammenschau der Ergebnisse zeigt also, dass Museumsbesucherinnen und -besucher in historischen Museumsausstellungen bei der Begegnung mit Gegenständen, die von ihnen als authentisch wahrgenommen oder akzeptiert werden, durchaus besondere Erfahrungen machen können, die man unter Umständen als auratisch bezeichnen kann. Inwiefern diese Erfahrungen aber an die tatsächliche historische Authentizität der Objekte geknüpft sind und ob sich diese Authentizität fördernd auf das Interesse der Besucherinnen und Besucher auswirkt, soll in dieser Arbeit im Rahmen einer empirischen Untersuchung geklärt werden. Um der aufgeworfenen Forschungsfrage nachgehen zu können, ist zunächst eine begriffliche Klärung und Differenzierung der zentralen Aspekte der Arbeit notwendig. Die Begriffe Aura, Original und Authentizität sollen hierbei klar definiert und voneinander getrennt werden.

49 | Vgl. Kirchberg, V./Tröndle, M.: The Museum Experience, S. 185 f.

3 Der Begriff von der »Aura«

Besonders intensiv beschäftigt mit der Frage nach der Wechselwirkung von Original und Kopie hat sich der deutsche Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin (1892-1940). In seinem vielfach zitierten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) brachte er die Echtheit eines Kunstwerks in Zusammenhang mit dem Begriff der Aura. Die Stärke von Benjamins Thesen zur Echtheit bzw. Authentizität liegt darin, dass er die Begriffe Originalität und Authentizität nicht isoliert, sondern in Bezug auf andere Phänomene, die er mit dem Begriff der Aura umschreibt, behandelt.1 Benjamins Aura-Begriff wurde seit der Veröffentlichung des Essays vielfach rezipiert und hat Eingang in die Diskurse der kulturwissenschaftlichen Disziplinen gefunden. Die weitaus größte Präsenz hat das Konzept der Aura dabei im Bereich der Philosophie sowie in den Medien- und Literaturwissenschaften. Den wichtigsten Einfluss für die Geschichts- und Museumsdidaktik stellt aber die Rezeption des Aura-Begriffs durch die Volkskunde dar, in der ähnliche Konzepte zur Objektontologie eine lange Tradition haben. Erwähnt sei an dieser Stelle beispielhaft dafür das von Karl-Sigismund Kramer in den Diskurs der Volkskunde eingeführte Konzept der Dingbedeutsamkeit, das seinerseits wiederum die älteren Begrifflichkeiten der Dingbeseelung (ebenfalls von Kramer vorgeschlagen) sowie die der Gestaltheiligkeit und Stoffheiligkeit (beide von dem österreichischen Museologen Leopold Schmidt in den 1950er Jahren ausgearbeitet) ersetzen sollte.2 Mit Dingbedeutsamkeit bezeichnet Kramer das Phänomen, »daß Gegenstände (›Dinge‹) über ihre materielle Beschaffenheit und Funktion hinaus symbolische Inhalte vermitteln oder sogar (in Erzäh-

1 | Vgl. Rickly-Boyd, J.M.: Authenticity & Aura, S. 284. 2 | Vgl. Kramer, K.-S.: Kleine Beiträge zur Dingbedeutsamkeit, S. 151.

42 | Die »Aura« des Originals im Museum

lungen) unpersönlich oder persönlich handelnd auftreten können«.3 Kramer verdeutlicht dies am Beispiel von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bildquellen, wo die dargestellten Gegenstände mehr oder weniger verschlüsselte Bedeutungen über die Menschen oder sozialen Gruppen beinhalten, von denen sie gebraucht werden bzw. mit denen sie in Beziehung gesetzt werden.4 Weitere, dem Aura-Begriff verwandte volkskundliche Konzepte stellen neben dem bereits erwähnten Numen laut Manfred Eggert das von Friedrich Pfister (1883-1967) aus der amerikanischen Ethnologie entlehnte Prinzip des Orenda, mit der er das Vertrauen auf ursprüngliche und besonders wirkungsvolle Kräfte, die an Objekte gebunden sind, bezeichnet oder das Mana-Konzept von Friedrich Rudolf Lehmann (1887-1969), das auf poly- und melanesische Vorstellungen zurückgeht, dar.5 Bemerkenswert ist, dass, mit Ausnahme der Aura, keines dieser Konzepte sich über die Grenzen der Disziplin der Volkskunde hinaus verbreiten konnte. Die Popularität im Diskurs der Museologie und Geschichtsdidaktik ist größtenteils auf den Volkskundler und Museologen Gottfried Korff zurückzuführen, dessen Thesen zum Aura-Begriff bereits in der Einleitung kurz angerissen wurden. Der besondere Stellenwert von Korffs Ausführungen zur Aura des historischen Originals in Museen ergibt sich daraus, dass er den kunstwissenschaftlichen Begriff der Aura von seiner rein ästhetischen Bedeutung löste und in Verbindung mit dem Begriff der Authentizität zu einer historischen Kategorie umfunktionierte: »Authentizität meint den historischen Zeugnischarakter und nicht den ästhetischen Wert. Sie in die Nähe von Benjamins Begriff Aura zu rücken, ist nicht falsch, vor allem auch deshalb nicht, weil Benjamins Aura-Begriff ja nie ausschließlich nur das Kunstwerk meinte.«6

Zwar wurde Aura schon vor Korff in Bezug auf einen möglichen geschichtlichen Wert diskutiert, so z.B. von dem klassischen Archäologen Nikolaus Himmelmann, der davon ausging, dass »auch ganz unkünstlerische Gegenstände, z.B. Inschriften oder Gebrauchsgegenstände, mit denen historische Erinnerungen verbunden sind, ein Richtschwert z.B., [. . . ] historische Originale [sind], deren Aura nicht reprodu-

3 | Kramer, K.-S.: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte I; zitiert nach: Kramer, K.-S.: Kleine Beiträge zur Dingbedeutsamkeit, S. 151. 4 | Vgl. ebd., S. 163 ff. 5 | Vgl. Eggert, M.K.H.: Das Aura-Konzept und Verwandtes in den Empirischen Kulturwissenschaften, S. 178 f. 6 | Korff, G.: Objekt und Information im Widerstreit, S. 121.

3 Der Begriff von der »Aura« | 43

ziert werden kann«.7 Es war aber erst Korff, der den Aura-Begriff im Rahmen seiner museologischen Ansätze populär machte. Korff spricht dabei selbst nicht direkt von der »›Aura des Originals‹, sondern von ›Zeugnischarakter‹ oder ›Authentizitätsvermögen‹ und zieht von da aus eine Parallele zum Benjamin’schen Aura-Begriff: »Das Originalobjekt rückt Vergangenheit nicht nur nah an uns heran, sondern es entfernt sie auch wieder – aufgrund der eigenartigen Fremdheit, die authentischen Dingen inkorporiert ist. Dem Gegenstand zugleich nah und fern zu sein; bei der Betrachtung des Dings in den Horizont einer zurückliegenden Zeit zurückzukehren und doch mit beiden Beinen in der eigenen zu bleiben – von diesem Spannungsverhältnis muss die museale Geschichtsdarbietung ausgehen und ihre Wirkung beziehen.«8

In Anlehnung an Benjamins spätere Ausführungen zum Aura-Begriff geht Korff weiterhin davon aus, dass in der Aura »das ›vergessene Menschliche‹« steckt, »an das vermittels der Dinge rückerinnert werden kann. [. . . ] Die Aura heftet sich nicht nur an das Schöne im Original, sondern an seine Echtheit und seine Authentizität.«9 Dieses Verständnis von Aura als historische Kategorie wurde in der Folge auch von anderen Geschichts- und Museumstheoretikern wie Heinrich Theodor Grütter aufgegriffen: »Aura meint bei ihm [Benjamin] keineswegs einen bedeutenden künstlerischen Wert, sondern vielmehr die Faszination des Authentischen, das Spannungsverhältnis zwischen einer sinnlichen Nähe und einer zeitlichen Ferne und Fremdheit. Die Nähe transportiert das Bild einer zeitlichen Ferne.«10

Im Folgenden soll der schillernde Begriff der Aura anhand von Benjamins eigenen Ausführungen näher betrachtet und anschließend seine Eignung als historische Kategorie aus geschichtsdidaktischer Perspektive diskutiert werden.

7 | Himmelmann, N.: Utopische Vergangenheit, S. 96. 8 | Korff, G.: Objekt und Information im Widerstreit, S. 120. 9 | Ebd., S. 121. 10 | Grütter, H.T.: Warum fasziniert die Vergangenheit?, S. 52 ff.

44 | Die »Aura« des Originals im Museum

3.1 DEFINITION

UND

GESCHICHTE

DES

»AURA«-BEGRIFFS

Die Wurzeln des modernen Begriffes Aura liegen in der Antike. Ursprünglich meinten das griechische αὔρα einen ›(Wind-)Hauch‹ oder eine ›Hülle‹ und das lateinische aura einen ›Schimmer‹. Mit ihnen verwandt ist der Begriff der aureole für einen ›Nimbus‹ oder eine ›Ausstrahlung‹, die Menschen, Körper und Gegenstände umgibt. Seit dem griechischen Mediziner Galen (129/131-205/215 n. Chr.) gilt die aura honoris in der Medizin außerdem als Vorbote des epileptischen Anfalls.11 Besonders populär war der Begriff der Aura ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert in okkultistischen, spiritistischen und parapsychologischen Kreisen. Der romantische Theosoph Franz von Baader (1765-1841) sah in der Aura den ›göttlichen Hauch‹ (divina aura). Rudolf Steiner (1861-1925), zunächst Anhänger der Theosophie und später Begründer der Anthroposophie, betrachtete sie als Lichthülle um den Menschen, die nur von Erleuchteten wahrgenommen werden kann.12 Benjamin, der den modernen Diskurs um die Aura geprägt hat wie kein anderer, stand den Bewegungen der Theosophie und Anthroposophie ablehnend gegenüber, weshalb er den Begriff lange gemieden hatte und ihn erst aufgriff, nachdem er sich nach der Begegnung mit der Kunst des Surrealismus in seinem Essay Einbahnstraße (1928) aus avantgardistischer Perspektive mit der kapitalistischen Moderne auseinandergesetzt hatte.13 Ein wichtiger Ideengeber für Benjamins Veröffentlichungen zum Aura-Begriff war die Gruppe der sogenannten ›Münchner Kosmiker‹ um die Schriftsteller Alfred Schuler (1865-1923), Ludwig Klages (1872-1956) und Karl Wolfskehl (1869-1948), die sich, inspiriert von Friedrich Nietzsche (1844-1900) und Johann Jakob Bachofen (1815-1887), mit neopaganistischen und antipatriarchalen Theorien der Moderne beschäftigten. Von den Kosmikern ist es zunächst Schuler, der den Begriff der Aura in Bezug auf die Antike verwendet. Laut Schuler gehe von den Überresten der Antike ein sinnlich wahrnehmbarer »Hauch« aus, der ihn, wie Klages in seinem Vorwort zu Schulers Werk schreibt, in »eine Art Rauschzustand« versetzte, dem »Visionen entblühten aus den versunkenen Lebenstagen jener Marmorstücke und Scherben«.14 Die Veränderungen der Geschichte werden dabei laut Schuler (in den Worten Klages’) in den »Wandlungen der Seele des Blutes« spürbar, in denen sich die mit Blut verbundenen Bräuche und Rituale der Vergangenheit und »vom gesamten Alter-

11 | Vgl. Tiedemann, R.: Aura. 12 | Vgl. Stoessel, M.: Aura, S. 174. 13 | Vgl. Hansen, M.B.: Benjamin’s Aura, S. 357. 14 | Vgl. Schuler, A.: Fragmente und Vorträge aus dem Nachlass, S. 8 f.

3 Der Begriff von der »Aura« | 45

tum Strahlungen, die als Nimbus oder Aura beschrieben werden«, als »Essenz« oder »Blutleuchte« widerspiegeln.15 Schuler sieht dieses Gespür für die Essenz der Vergangenheit im Verfall begriffen und meint, dass bereits die Menschen der Spätantike diesen Verfall gefühlt hätten: »Auch die Erdbeschaffenheit schien ihnen verwandelt, die Flüsse seichter, die Berge niedriger zu werden. Vom Meere aus sah man den Ätna nicht mehr aus so weiter Ferne wie bisher, und vom Parnaß und dem pierischen Olymp verlautete das gleiche. Eifrige Naturbeobachter glaubten sogar, der Kosmos selber sei im Untergang begriffen – Es ist die Aura, die schwindet . . . Das große, zwiegeschlechtliche, vibrierende Telesma.«16

Ein weiterer ›Kosmiker‹, der von einem Verfall der Aura sprach, war Wolfskehl, der erstmals in seinem Essay Lebensluft (1929) Aura als eine individuelle Atmosphäre definierte, »die jedes Lebewesen und jedes Ding als unsichtbare Hülle umgibt«.17 Zum selben Zeitpunkt, an dem Benjamin erstmals den Begriff der Aura explizit in seinen Schriften aufgriff, hatte Wolfskehl ein mögliches Verschwinden der Aura in der Moderne in der Frankfurter Zeitung thematisiert, die von Benjamin nachweislich gelesen und geschätzt wurde.18 Einen anderen Teil seiner Anregungen bezog Benjamin von Klages, der ebenfalls einen Verfall der Aura prophezeite, welcher nach Klages durch das Voranschreiten von Zivilisation, Technik und Wissenschaft bedingt sei. Aura wird bei Klages synonym zum Begriff des Nimbus gebraucht, der als ›Schauder‹ oder ›Schleier‹ das ›Urbild‹ umgab. ›Urbilder‹ sind laut Klages vorgeschichtliche Bilder, in denen die Seelen der Vergangenheit erscheinen.19 Benjamins Bewunderung für Klages ist angesichts seiner eigenen jüdischen Herkunft und der antisemitischen Tendenzen von Klages einerseits überraschend, zugleich aber beispielhaft für Benjamins Denkweise, die oft Extrempositionen miteinander vereinbarte.20 In ähnlicher Weise, wie Benjamin sich aus Klages’ reaktionären Schriften Elemente für seine eigene geplante materialistische Theorie zur Moderne herauspick-

15 | Ebd., S. 53 f. 16 | Ebd., S. 262. 17 | Hansen, M.B.: Benjamin’s Aura, S. 362. 18 | Vgl. Plath, J.: Liebhaber der Großstadt, S. 182. 19 | Vgl. Hansen, M.B.: Benjamin’s Aura, S. 364 f. 20 | Vgl. ebd., S. 362 f.

46 | Die »Aura« des Originals im Museum

te, bediente er sich auch im Bereich der jüdischen Mystik.21 Vermittelt durch seinen Freund, den jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem (1897-1982), begann sich Benjamin schon früh für den jüdischen Mystizismus zu interessieren. Hauptquelle der jüdischen Mystik ist die sogenannte Kabbala, ursprünglich ein Sammelbegriff für allgemeingültige, religiöse Wahrheiten, die über die Tradition überliefert sind. Im 13. Jahrhundert wurde der Begriff von einer Gruppe jüdischer Esoteriker vereinnahmt, die behaupteten, eine geheime Interpretation der Heiligen Schrift zu kennen. Die Kabbalisten sahen sich dabei als Bewahrer einer geheimen Wahrheit, die von Moses auf dem Berg Sinai empfangen und von Generation zu Generation mündlich oder durch Engel und Propheten an sie weitergegeben worden sei.22 Aus historischer Sicht präsentiert sich die Kabbala dagegen als relativ junges Phänomen, das erstmals Ende des 12. Jahrhunderts in Südeuropa auftaucht. Die Kabbalisten sind aus dieser Perspektive eher als Urheber von weltanschaulichen Schriften mit untereinander zum Teil sehr heterogenen Ansichten und ›Schulen‹ zu sehen.23 Mit dem ha-Awir ascher sebibaw findet sich in den Schriften der Kabbala ein der Aura ähnlicher Begriff, welcher den Äther, der den Menschen umgibt und in dem seine Taten bis zum Jüngsten Gericht aufgezeichnet werden, umschreibt.24 Für Benjamins Überlegungen ist daneben vor allem die kabbalistische Theorie des tselem (hebr. für ›Bild‹) von Bedeutung. Nach Scholem meint der Begriff die einzigartige individuelle Verkörperung jedes menschlichen Wesens. Er sieht im tselem die Idee eines Astralkörpers, die sich bis zum Neoplatonismus zurückverfolgen lässt und sich von dort aus in den jüdischen und nicht-jüdischen Mystizismus verbreitet hat.25 Der Begriff des tselem hat dabei zwei Aspekte: einerseits das tselem im eher negativen Sinn als schattenhafter ›Dämon‹, der das Schicksal einer Person bestimmt und andererseits das tselem als spirituelle Begegnung mit dem Selbst, z.B. in Form der Prophezeiung, bei der der Prophet mit sich selbst spricht. Dieses Motiv der Veränderung des Selbst im Rahmen einer Vision ist das Thema von Scholems Aufsatz Eine kabbalisti-

21 | Vgl. Turner, B.S.: Bodily Performance, S. 2; Der Begriff ›Mystizismus‹ ist im Kontext der hebräischen Religion als christliche Entlehnung zu verstehen, da es im Judentum keine begriffliche Unterscheidung zwischen ›Mystik‹ und ›Religion‹ gibt; vgl. Dan, J.: Kabbalah, S. 8 f. 22 | Vgl. ebd., S. 2 f. 23 | Vgl. ebd., S. 4 f. 24 | Vgl. Tiedemann, R.: Aura. 25 | Vgl. Hansen, M.B.: Benjamin’s Aura, S. 371.

3 Der Begriff von der »Aura« | 47

sche Erklärung der Prophetie als Selbstbegegnung von 1930. Im selben Jahr führt auch Benjamin das Konzept der Aura in sein literarisches Schaffen ein.26 Von den geschilderten Konzepten übernahm Benjamin weder die Begriffe aus den kabbalistischen Schriften noch die der ›Münchner Kosmiker‹ explizit, integrierte deren Ideen jedoch in seine eigene Konzeption von Aura. Laut Ulrich Beil ist es gerade diese Vielschichtigkeit, die den Benjamin’schen Aura-Begriff so attraktiv für die Rezeption durch Benjamins Nachwelt gemacht hat: »Vielmehr gewinnt der Begriff sein Schillern gerade dadurch, dass er eine Fülle von Konnotationen in sich aufnimmt, sich gleichzeitig aus den geläufigen Kontexten herauslöst und auf einen neuen Zusammenhang bezieht: die Entwicklung von Medien. Ihnen gegenüber scheint die Aura eine Art von ›Jenseits‹ zu vertreten, ein ›Anderes‹, umso mehr ersehnt, als sich der erfüllte Augenblick in der medialen Beschleunigung der Moderne zu zersetzen und verflüchtigen droht.«27

Es deutet sich an, dass es sich bei dem Benjamin’schen Begriff der Aura um ein komplexes, in seinen Ursprüngen auch widersprüchliches Konzept handelt. Diese Ambivalenz möchte ich im weiteren Verlauf anhand der von Benjamin aufgestellten These vom Verfall der Aura in der Moderne aufzeigen.

3.2 BENJAMINS THEORIE

VOM

VERFALL

DER

»AURA«

Entgegen aller späteren Vereinnahmungen hat Benjamin selbst nie eine stringente Theorie der Aura entwickelt. Aura ist bei Benjamin vielmehr als Arbeits- und Hilfsbegriff zu verstehen, mit dem er geschichtliche Entwicklungen aus der Perspektive des historischen Materialismus untersuchen wollte.28 Die Rezeption von Benjamins Arbeiten zum Aura-Begriff wird durch die teils widersprüchlichen Informationen in seinem Werk sowie durch seine schwierige Lebenslage im französischen Exil, das schließlich in seinem Suizid auf der Flucht vor den Nationalsozialisten endete, erschwert. Entwickelt hat Benjamin seinen Aura-Begriff im Wesentlichen in drei Aufsätzen: In der 1931 erstmals veröffentlichten Kleinen Geschichte der Photographie, in

26 | Vgl. ebd. 27 | Beil, U.J.: Fotografie, Aura, Übertragung, S. 52 f. 28 | Vgl. Stoessel, M.: Aura, S. 174.

48 | Die »Aura« des Originals im Museum

der sich Benjamin mit den Auswirkungen der Fotografie auf die Kunst auseinandersetzt. Danach in dem bereits erwähnten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) und schließlich ein letztes Mal im Rahmen seines 1939 publizierten Essays Über einige Motive bei Baudelaire. Die berühmteste und wichtigste dieser drei Abhandlungen stellt sicherlich Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit dar. Von letzterem Aufsatz sind uns heute, das erste Manuskript mitgezählt, insgesamt vier Fassungen (eine in französischer und drei in deutscher Sprache) überliefert, von denen nur eine einzige zu Lebzeiten Benjamins publiziert wurde. Das Manuskript wurde 1935 von Benjamin im Pariser Exil verfasst und erschien erstmals 1936 als französische Übersetzung in der von Max Horkheimer (1895-1973) zu dieser Zeit im französischen Exil herausgegebenen Zeitschrift für Sozialforschung.29 Eine dritte (=zweite deutschsprachige), überarbeitete Fassung des Aufsatzes in deutscher Sprache entstand – vermutlich nach der Abfassung eines zweiten, heute nur noch fragmentarisch erhaltenen Typoskripts – in den Folgejahren, wurde aber erst posthum veröffentlicht.30 Mit der Publikation des Kunstwerk-Aufsatzes verfolgte Benjamin das Ziel, mehr Beachtung bei den französischen Intellektuellen zu finden – ein Wunsch, der sich für ihn allerdings nicht erfüllen sollte. Eine ausführliche Rezeption seiner Thesen setzte erst einige Zeit nach seinem Tod in den 1960er Jahren und verstärkt mit dem Aufkommen der Medienwissenschaften in den 1980er Jahren ein. Die Filmwissenschaftlerin Miriam Bratu Hansen unterscheidet insgesamt drei Arten der Verwendung des Aura-Begriffes in Benjamins literarischem Werk: erstens Aura als eine ›Hülle‹, die eine Person oder einen Gegenstand umgibt und deren Individualität und Einzigartigkeit verkörpert; zweitens Aura als »ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit« und »einmalige Erscheinung einer Ferne«; drittens Aura als eine Form der Wahrnehmung, die ein Phänomen mit der Fähigkeit belehnt, ›zurückzublicken‹.31 Aura als Hülle oder Ornament Erstmals näher beschrieben wird der Begriff Aura, nach einigen sporadischen Verwendungen, von Walter Benjamin 1930 in einem Protokoll zu einem der Drogen-

29 | Siehe Benjamin, W.: L’oeuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée. 30 | In meinen Ausführungen beziehe ich mich, sofern nicht anders angegeben, ausschließlich auf die vierte (=dritte deutschsprachige) Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes. 31 | Hansen, M.B.: Benjamin’s Aura, S. 339 f.

3 Der Begriff von der »Aura« | 49

experimente, die er in den Jahren zwischen 1927 und 1934 unternahm. Dort spricht Benjamin noch von der »echten Aura«, die seiner Ansicht nach »an allen Dingen [...] nicht nur an bestimmten« als »Ornament, eine ornamentale Umzirkung in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futteral eingesenkt liegt« erscheint.32 Es ist dieses Verständnis von Aura als ›Ornament‹ oder ›Hülle‹, die eine Person oder ein wahrgenommenes Objekt umgibt und deren Individualität einfängt, welches die Einflüsse der jüdischen Mystik am deutlichsten erkennen lässt und welches auch wieder in Benjamins Aufsatz Geschichte der Photographie (1931) auftaucht. Aura ergibt sich hier im Gegensatz zum späteren Kunstwerkaufsatz noch nicht aus der Dichotomie zwischen einzigartigem Original und vielfach vorhandener Reproduktion, sondern aus einer physikalischen Beziehung zwischen Kunstwerk und Motiv. Eine Aura umgibt ein Kunstwerk aus diesem Verständnis heraus nur dann, wenn es bei seiner Anfertigung in einer direkten Beziehung zum Dargestellten stand, also ein Kontakt zwischen dem Kunstwerk und dem, was es abbildet, vorhanden war. Als Beispiel nennt Benjamin das Familiengemälde, das einen Eindruck von der Situation gibt, in der es gemalt wurde. Aufgabe des Familiengemäldes war es laut Benjamin, Erinnerungen und Emotionen zu speichern. Ganz anders dagegen sei laut Benjamin die im 19. Jahrhundert aufkommende Fotografie, wobei er zwischen frühen Fotografien, Fotografien des Jugendstils und der retuschierten Fotografie des ausgehenden 19. Jahrhunderts unterscheidet. Benjamin skizziert am Beispiel der technischen Entwicklung, wie die Fotografie schrittweise ihre Aura verlor. Die ersten Fotografien haben laut Benjamin noch viel mit der ›auratischen‹ Kunst gemeinsam, da es sich bei ihnen noch um Luxusartikel handelte, die in der Tradition und damit auch in direkter Konkurrenz zu den althergebrachten Kunsttechniken standen. Sie erforderten eine lange Belichtungszeit im Freien und wurden daher an abgeschiedenen Orten aufgenommen, wodurch sie sowohl in der Art und Weise der Herstellung als auch in ihrer Erscheinungsform in gewisser Weise avantgardistischen Gemälden der Pleinairmalerei ähnelten.33 In der Porträtminiatur, so Benjamin, begegnet den Betrachtenden dann zum letzten Mal eine »auratische Erscheinung«, die sich in der veralteten Form des ovalen Bildausschnitts zeige, den die Fotografen damals nutzten, um ihre Fotografien in die Nähe von Gemälden zu rücken. Die porträtierten Personen waren dem Fotografen zu dieser Zeit »noch nah und doch unnahbar fern, da sie meistens aus der bürgerlichen Oberschicht« kamen. Des Weiteren umgab die älteren Porträtfotografien aufgrund des ungewöhnlichen Bildausschnitts und der

32 | Benjamin, W.: Protokolle zu Drogenversuchen, S. 588. 33 | Benjamin, W.: Kleine Geschichte der Photographie, S. 373.

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»zusammenfassenden Lichtführung« ein besonderer, dunkler und geheimnisvoller Eindruck.34 Die auratische Erscheinung, so stellt Benjamin klar, sei jedoch nicht nur »das bloße Erzeugnis einer primitiven Kamera«:35 »Vielmehr entsprechen sich in jener Frühzeit Objekt und Technik genau so scharf, wie sie in der anschließenden Verfallsperiode auseinandertreten. Bald nämlich verfügte eine fortgeschrittene Optik über Instrumente, die das Dunkel ganz überwanden und die Erscheinung spiegelhaft aufzeichneten.«36

Das Ende der Aura ist also mit dem Zeitpunkt gekommen, als die technischen Möglichkeiten es den Fotografen erlauben, ihre Fotografien von der Dunkelheit zu befreien, die sie visuell mit den Gemälden verband. Die Aura, so Benjamin, sei von da an nur noch mehr mit Retusche und Gummidruck vorgetäuscht worden, was sich beispielsweise im schummrigen Ton und den künstlichen Reflexen von Jugendstilfotografien zeige. Die Fotografien würden durch diese technischen Eingriffe künstlicher und zugleich weniger auratisch werden.37 Diese Anzeichen für die Verdrängung der Aura sieht Benjamin aber durchaus positiv und kritisiert die Versuche, die nach seiner Aussage nach 1880 unternommen wurden, um Fotografien eine ›künstliche‹ Aura zu verleihen.38 Anders als Benjamins frühe Ausführungen zum Aura-Begriff zunächst suggerieren mögen, handelt es sich nach seinem Verständnis bei der Aura um keine inhärente Eigenschaft von Personen oder Gegenständen. Gemeint ist vielmehr eine besondere Form der Medialität von Kunst(-werken), die eine Verbindung in Form eines ›Blickkontakts‹ zwischen den dargestellten Personen und Gegenständen und den Rezipienten herstellt: »Es war eine Aura um sie [die Porträtfotografie von Kafka, die Benjamin als Beispiel anführt], ein Medium, das ihrem Blick, indem er es durchdringt, die Fülle und Sicherheit gibt.«39 Der Begriff des Mediums wird hierbei von Benjamin nicht im modernen, medienwissenschaftlichen Sinn, sondern im spiritistischen Sinn gebraucht, wie ihn vor Benjamin bereits Schuler in Bezug auf die ›Geister‹ der ›Vorgeschichte‹ verwendet hatte – als Form einer Möglichkeit, mit den

34 | Ebd., S. 377. 35 | Ebd., S. 376 36 | Ebd., S. 376 f. 37 | Ebd., S. 377 f. 38 | Vgl. Kramer, S.: Walter Benjamin zur Einführung, S. 94 39 | Ebd., S. 376 f.

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Toten Kontakt aufzunehmen. In dieser Konnotation von Aura zeigen sich dann auch am deutlichsten die esoterischen Wurzeln des Begriffes.40 Gegen ein essentialistisches Verständnis von Aura spricht auch der von Benjamin verwendete Begriff des Ornaments, der zeitgleich auch von dem Kulturkritiker Siegfried Kracauer (1889-1969) als Bestandteil seiner Theorie der Massenkultur verwendet wird.41 Bei Kracauer bezeichnet das Ornament die Bewegungen und Formationen der Masse an der Oberfläche der Gesellschaft, die das unbewusste Moment der Massenkultur beinhaltet: »Die Masse schaut sich im Ornament der Masse zu, ohne sich selbst darin ganz durchschauen zu können.«42 Kracauer interessiert sich dabei v.a. für die »unreflektierten und unbeachteten Phänomene, die keinen bewussten Gestaltungswillen« aufweisen, also alltägliche Situationen und Erscheinungen der Massengesellschaft.43 In diesen Ornamenten und Oberflächenmustern spiegeln sich in der Auffassung Kracauers die spezifischen Eigenheiten einer kulturellen Epoche (in diesem Fall die der Moderne).44 Beispielhaft erläutert er dies in seinem Essay Das Ornament der Masse von 1927, in dem er sich mit einer Nummernmädchen-Revue auseinandersetzt. Laut Jörg Später erinnern Kracauer die Beine der Darstellerinnen an »Hände in der Fabrik. Ihre Bewegungen waren aufeinander abgestimmt und durchgeplant wie die Arbeit am Fließband. Die Beine schwangen im Takt, schwungvoll und fehlerfrei, die Mädchen lächelten trotz großer Anstrengung«.45 Dieser in einer Erscheinung verborgene tiefere Sinn findet sich bei Benjamin auch in abgewandelter Form in seinen späteren Ausführungen zur Metaphysik im Rahmen seiner Mimesis-Theorie. Das vermittelnde, unbewusste Moment der Rezeption wird dort von Benjamin als »unsinnliche Ähnlichkeit« bezeichnet, die »besagt, daß wir in unserer Wahrnehmung dasjenige nicht mehr besitzen, was es einmal möglich machte von einer Ähnlichkeit zu sprechen«.46 Ähnlich wie beim auratischen Kunstwerk spiegeln sich in der gesprochenen und geschriebenen Sprache nach Benjamins Ansicht vergangene menschliche Erfahrungen »blitzartig« in Form einer »Erscheinung« wi-

40 | Vgl. Hansen, M.B.: Benjamin’s Aura, S. 342 41 | Siehe Kracauer, S.: Das Ornament der Masse. 42 | Koch, G.: Die monströse Figur, S. 65. 43 | Später, J.: Siegfried Kracauer, S. 193. 44 | Vgl. Schroer, M.: Unsichtbares sichtbar machen, S. 172; vgl. Brodersen, M.: Siegfried Kracauer, S. 53. 45 | Später, J.: Siegfried Kracauer, S. 193. 46 | Benjamin, W.: Lehre vom Ähnlichen, S. 207.

52 | Die »Aura« des Originals im Museum

der.47 Aura wird damit zu einem Phänomen der Kommunikation, das durch ein nicht zu definierendes mystisches Element sowie durch die ›profane Erleuchtung‹ in Form der »Erinnerung an ein Anderes, Fremd-Vertrautes« gekennzeichnet ist.48 Aura als einmalige Erscheinung einer Ferne In seinem berühmten und vielfach zitierten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) entwickelt Benjamin den Aura-Begriff weiter und macht ihn zum zentralen Bestandteil seiner geplanten marxistischen Theorie der Moderne. Gleichzeitig kündigt sich hier bereits die medientheoretische Karriere des Begriffs an. Die zentrale These, die Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz formuliert, ist, dass die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks die vormoderne Form der Kunstrezeption, die sich durch Einmaligkeit und Unnahbarkeit auszeichnete, verdrängt. In diesem Zusammenhang spricht Benjamin vom Verfall der Aura: »Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.«49 Aura definiert Benjamin unter Rückgriff auf eine fast wortgleiche Definition aus seinem Fotografie-Aufsatz folgendermaßen: »Diese letzere definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.«50

Die beiden Begriffe ›Nähe‹ und ›Ferne‹ hatte Benjamin bereits in seinem Essay Einbahnstraße (1928) miteinander in Zusammenhang gebracht. Dort schreibt er zur besonderen Wirkung »verlorener« und »gefundender Gegenstände«: »Was den allerersten Anblick eines Dorfs, einer Stadt in der Landschaft so unvergleichlich und so unwiederbringlich macht, ist daß in ihm die Ferne in der strengsten Bindung an die Nähe mitschwingt. Noch hat Gewohnheit ihr Werk nicht getan [. . . ]. Die blaue Ferne, die da keiner Nähe weicht und wiederum beim Näherkommen nicht zergeht, die nicht breitspurig

47 | Benjamin, W.: Über das mimetische Vermögen, S. 213. 48 | Stoessel, M.: Aura, S. 177. 49 | Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 477 50 | Ebd., S. 479.

3 Der Begriff von der »Aura« | 53 und langatmig beim Herantreten daliegt, sondern nur verschlossener und drohender einem sich aufbaut, ist die gemalte Ferne der Kulisse.«51

Das von Benjamin gewählte Beispiel macht deutlich, dass er Aura, im Gegensatz zu seiner Definition im Fotografie-Aufsatz, nicht mehr als Eigenschaft eines Kunstwerks, sondern als Form einer Kunst- und Naturerfahrung versteht, die durch Kontemplation geprägt ist. Bedingung dafür waren die bereits erwähnten Aspekte der Einmaligkeit und Unnahbarkeit des vormodernen Kunstwerks. Das vormoderne Kunstwerk war einmalig, weil seine Rezeption an »das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet« gekoppelt war.52 Dieses einzigartige Vorhandensein an einem Ort garantierte außerdem die Echtheit des Kunstwerks, die mithilfe wissenschaftlicher Verfahren überprüft werden konnte.53 Echtheit schließt dabei neben der materiellen Authentizität auch die von Korff beschriebene ›geschichtliche Zeugenschaft‹ des Originals mit ein, die der Philosoph Eberhard Ostermann auch als ›historische Identität‹ eines Kunstwerks bezeichnet hat.54 In den Veränderungen am Kunstwerk, z.B. in Form von Beschädigungen, Altersspuren oder Übermalungen, zeichnet sich seine Tradition bzw. die Geschichte seiner Überlieferung ab.55 Das Kunstwerk hat die Geschichte ›am eigenen Leib‹ erfahren und verfügt daher über eine »Autorität der Sache«, die durch die massenhafte Vervielfältigung des Kunstwerks ins Wanken gerät.56 Der Verlust der Autorität des Kunstwerks in der Moderne hängt laut Benjamin aber nicht nur von technischen, sondern auch von gesellschaftlichen Faktoren ab, die den zweiten Aspekt der Aura, nämlich die Unnahbarkeit betreffen. Diese hat laut Benjamin ihre Fundierung im archaischen Ritual, wo das Kultobjekt ebenfalls dem Zugriff der Betrachtenden entzogen war. Diese ehemalige kultische Funktion habe seit der Renaissance überdauert und bleibe auch noch in profanen Formen des Schönheitsdienstes als säkularisiertes Ritual erkennbar.57 Seit der Säkularisation hätten sich vermehrt Gelegenheiten zur Ausstellung der Produkte der Kunst ergeben. Die ehemaligen Kultobjekte, die möglichst im Verborgenen gehalten wur-

51 | Benjamin, W.: Einbahnstraße, S. 119 f. 52 | Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 475. 53 | Vgl. ebd., S. 475 f. 54 | Vgl. Ostermann, E.: Die Authentizität des Ästhetischen, S. 270 ff. 55 | Vgl. Kramer, S.: Walter Benjamin zur Einführung, S. 92 f. 56 | Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 477. 57 | Vgl. ebd., S. 480 f.

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den, seien so nach und nach zu Ausstellungsobjekten geworden. Als Beispiel nennt Benjamin die Porträtbüste, die leichter verschickt und ausgestellt werden kann als die Götterstatue, die ihren festen Platz im Inneren eines Tempels hat.58 Durch diese Verlagerung auf den Ausstellungswert, so Benjamin, wird nicht nur die einstige Ferne zwischen Kunstwerk und Betrachtenden überwunden – sie erlaubt es den Massen auch, sich der einst fernen Kunstwerke zu bemächtigen: »Die Kathedrale verläßt ihren Platz, um in dem Studio eines Kunstfreundes Aufnahme zu finden; das Chorwerk, das in seinem Saal oder unter freiem Himmel exekutiert wurde, läßt sich in einem Zimmer vernehmen.«59 Dieses Verlangen, des »Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild habhaft zu werden«60 , manifestiert sich genreübergreifend. So erwähnt Benjamin die Verfallsthese auch in einem Essay über den Erzähler Nikolai Leskow (1831-1895), das zur selben Zeit entstanden ist wie der Kunstwerk-Aufsatz. Analog zu den visuellen Künsten sieht Benjamin auch im Bereich des Schriftwesens einen Verfall der Tradition. Die moderne Presse liefere, so Benjamin, nur noch reine Information. Ähnlich wie beim ›Hier und Jetzt‹ des Originals wird auch die einstige Erzählung durch die überall verfügbare Information ersetzt. Es ist nicht mehr »die Kunde, die aus der Ferne kam – sei es die räumliche fremder Länder, sei es die zeitliche der Überlieferung«, sondern die schnell zur Verfügung stehende und überprüfbare Information, die nicht wunderhaft, sondern plausibel klingen soll.61 Benjamin sieht in diesen Veränderungen eine historische Zäsur in der Medienrezeption, bei der »›Ferne‹ durch ›Nähe‹, ›Unnahbarkeit‹ durch ›Entgegenkommen‹, ›Einmaligkeit‹ durch ›Masse‹, ›Dauer‹ durch ›Flüchtigkeit‹ und ›Tradition‹ durch ›Aktualität‹« ersetzt werden.62 Die Kunstwerke geraten im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit als Reproduktionen in Situationen, für die sie nicht geschaffen wurden und in denen sie die Rezipienten nicht mehr ohne weiteres verzaubern können. Diese banalisierte Alltagskunst dient nicht mehr primär der Versenkung, sondern der Ablenkung.63 So sammelt der »Privatmann« in der Moderne in seinem privaten Umfeld Kunst als Sinnbild für »Ferne und Vergangenheit«, um sich zu zerstreuen und

58 | Vgl. ebd., S. 483 f. 59 | Ebd., S. 476 f. 60 | Benjamin, W.: Kleine Geschichte der Photographie, S. 378 f. 61 | Benjamin, W.: Der Erzähler, S. 444. 62 | Vgl. Kloock, D./Spahr, A.: Medientheorien, S. 22. 63 | Vgl. Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 502.

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die Realität zu verdrängen.64 Zusätzlich fördern die Reproduktionstechniken nicht nur den flüchtigen, sondern auch den wissenschaftlichen Blick auf die Kunstwerke: Das Abbild eines Originals kann neue Perspektiven ermöglichen oder mithilfe von Vergrößerung oder Zeitlupe Bilder festhalten, die sonst nicht sichtbar wären.65 Die Rezipienten begegnen den Kunstwerken nun auf Augenhöhe. Hier zeigt sich eine Parallele zu den Thesen von Sigmund Freud (1856-1939), der beschreibt, wie der Mensch sich mit Wissenschaft und Techniken in seinem primitiven Zustand unerreichbare Wünsche erfüllt und sich so selbst in den Rang der Götter erhoben habe: »Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe – die motorischen wie die sensorischen – oder räumt die Schranken für ihre Leistung weg. [. . . ] Mit der Brille korrigiert er die Mängel der Linse in seinem Auge, mit dem Fernrohr schaut er in entfernte Weiten, mit dem Mikroskop überwindet er die Grenzen der Sichtbarkeit, die durch den Bau seiner Netzhaut abgesteckt werden. In der photographischen Kamera hat er ein Instrument geschaffen, das die flüchtigen Seheindrücke festhält, was ihm die Grammophonplatte für die ebenso vergänglichen Schalleindrücke leisten muß [. . . ]. Mit Hilfe des Telephons hört er aus Entfernungen, die selbst das Märchen als unerreichbar respektieren würde.«66

Die einst entfernte Kunst wird auf diese Weise nach objektiven Kriterien messbar, berechenbar und beurteilbar und zum Handwerk, das erlernt werden kann. Benjamin sieht diese Entwicklung verwirklicht in der Profession des Berufsfotografen, die zwar eine handwerkliche Vorbildung erfordert, um das hohe Niveau der fotografischen Leistungen halten zu können, aber gleichzeitig keine künstlerische Vorbildung voraussetzt.67 Als weiteres Beispiel nennt Benjamin den Film, wo die Filmdarstellerinnen und -darsteller eine vorher eingeübte Leistung aufnehmen, die anschließend über einen ›Apparat‹ dem Publikum präsentiert wird. Da die Schauspieler und Schauspielerinnen so ihre Darstellung nicht mehr auf das Publikum abstimmen können, muss sich dieses in den ›Apparat‹ einfühlen und die Darstellung distanziert nach bestimmten Gesichtspunkten analysieren.68

64 | Benjamin, W.: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, S. 52. 65 | Vgl. Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 476. 66 | Freud, S.: Das Unbehagen in der Kultur (1930), S. 204 f. 67 | Vgl. Benjamin, W.: Kleine Geschichte der Photographie, S. 374. 68 | Vgl. Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 492 f.

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Zu dem von ihm beschriebenen Verfall der Aura hat Benjamin eine ambivalente Haltung: Einerseits scheint er ihn zu bedauern, andererseits sieht er in ihm auch eine Chance zur Reevaluation der Aura für einen sozialpolitischen Zweck, um die traditionell-hierarchische Form der Rezeption von Kunst zu überwinden.69 Entscheidend dafür ist laut Benjamin die veränderte Haltung der Massen zur Kunst, die ihre Rezeption selbst organisieren und kontrollieren können und sich mithilfe von Technik und Expertise der Kunstwerke bemächtigen.70 Benjamin expliziert diese Begebenheit am Beispiel der Möglichkeiten zur Mitgestaltung der aufkommenden Massenmedien sowie den Gelegenheiten zur Partizipation, die sich für das Massenpublikum ergeben würden: So wie im Fernsehen jeder die Möglichkeit habe, »vom Passanten zum Filmstatisten aufzusteigen«71 , seien auch im Bereich der Tagespresse immer mehr Lesende zu Schreibenden geworden. Zurückgreifen könnten sie dabei laut Benjamin auf Erfahrungen vom Verfassen von Arbeitsberichten, Beschwerdebriefen oder ähnlichen mehr oder weniger alltäglichen und privaten Schriftstücken. Der bzw. die Lesende sei dadurch jederzeit bereit und befähigt, ein Autor bzw. eine Autorin zu werden. Gleichzeitig fungiere er bzw. sie aufgrund seines oder ihres Sachverstands und seines oder ihres Zugangs zur Autorenschaft als potentieller Kritiker oder Kritikerin: »Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren.«72 In der Folge bedeutet dies für Benjamin: »Je mehr [. . . ] die gesellschaftliche Bedeutung einer Kunst sich vermindert, desto mehr fallen [. . . ] die kritische und die genießende Haltung im Publikum auseinander.«73 Entscheidende Bedeutung hat diese Entwicklung laut Benjamin im Hinblick auf die »Ästhetisierung des politischen Lebens« in der medialen Selbstdarstellung des Faschismus.74 Nicht ganz klar ist dabei allerdings, ob Benjamin an eine emanzipierende Wirkung der technischen Reproduktion von Kunst glaubte oder, ob er, wie es sein Nachwort zur dritten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes nahelegt, eine Instrumentalisierung der Massenmedien durch den Faschismus befürchtete. Betrachtet man hingegen lediglich die ursprüngliche Konzeption des Aura-Begriffes aus der Urfassung des Kunstwerk-Aufsatzes, so scheint es, als ob sich Benjamin von den technischen Reproduktionstechnologien und von den neuen Seh- und Rezepti-

69 | Vgl. van Reijen, W.: Breathing the Aura – The Holy, the Sober Breath, S. 32 f. 70 | Vgl. Benjamin, W.: Kleine Geschichte der Photographie, S. 381 f. 71 | Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 493. 72 | Ebd. 73 | Ebd., S. 496 f. 74 | Ebd., S. 506.

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onsweisen, wie sie sich im zeitgenössischen Film manifestieren, revolutionäre Kraft erhofft.75 In dieser Lesart sieht Benjamin die mit der ›alten‹ auratischen Kunst verbundenen Konzepte wie Genialität, Wertschätzung und die Faszination des Mysteriösen als rückwärtsgewandte Stützen eines elitären Kultursystems, das die Massen von der Kunst ausschließt und dem Faschismus Vortrieb leistet.76 »Der Film drängt den Kultwert nicht nur dadurch zurück, daß er das Publikum in eine begutachtende Haltung bringt, sondern auch dadurch, daß die begutachtende Haltung im Kino Aufmerksamkeit nicht einschließt. Das Publikum ist ein Examinator, doch ein zerstreuter.«77

Mit dieser positiven Einschätzung der sich etablierenden Populärkultur der Massengesellschaft entfernte sich Benjamin von der marxistischen Theorie der Frankfurter Schule, wie sie von Herbert Marcuse (1898-1979) und Theodor W. Adorno (1903-1969) vertreten wurde, und wofür er von diesen auch teilweise heftig kritisiert wurde. Entsprechend schrieb Adorno 1936 in einem Brief an Walter Benjamin: »Es ist mir nun bedenklich [. . . ] daß sie jetzt den Begriff der magischen Aura auf das ›autonome Kunstwerk‹ umstandslos übertragen und dieses in blanker Weise der gegenrevolutionären Funktion zuweisen.«78 Der von Benjamin sehr geschätzte Bertolt Brecht äußerte sich in einem Arbeitsjournal sogar noch weitaus kritischer: »alles mystik, bei einer haltung gegen mystik. in solcher form wird die materialistische geschichtsauffassung adaptiert! es ist ziemlich grauenhaft.«79 In den späteren Fassungen geht Benjamin dann, scheinbar auch als Reaktion auf die Kritik von Adorno (und wohl auch Max Horkheimers), stärker auf das Verhältnis von Kunst und Politik ein. Dadurch eröffnete Benjamin, ohne es zu wissen, eine neue Perspektive auf die wissenschaftliche Betrachtung der Populärkultur und nahm vieles vorweg, was später in den Cultural Studies thematisiert wurde. Darüber hinaus formulierte er im Rahmen seiner These vom Verfall der Aura theoretische Überlegungen zur Medienrezeption, die auch heute noch ein Forschungsgebiet der Medientheorie und der Medienwissenschaften darstellen.80

75 | Vgl. Peim, N.: Walter Benjamin in the Age of Digital Reproduction, S. 372. 76 | Vgl. Ebd., S. 369. 77 | Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 506. 78 | Tiedemann, R./Schweppenhäuser, H.: Anmerkungen der Herausgeber, S. 1002. 79 | Ebd., S. 1025. 80 | Vgl. Peim, N.: Walter Benjamin in the Age of Digital Reproduction, S. 373 f.

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Aura als Form der Wahrnehmung Die Ambivalenz von Benjamins Aura-Begriff zeigt sich am deutlichsten, wenn man seine späten Ausführungen zur Aura in seinem Essay zum Konzept der mémoire involontaire des französischen Schriftstellers Charles Baudelaire (1821-1867) betrachtet. Der Aufsatz, in dem Benjamin u.a. auch auf Marcel Proust (1871-1922), Novalis (1772-1801), Henri Bergson (1859-1941) und Freud Bezug nimmt, ist äußerst komplex und kann daher im Rahmen dieser Ausführungen nicht in seiner Gänze betrachtet werden. Entscheidend für die dritte Konzeption von Aura ist, dass Benjamin im Baudelaire-Aufsatz Aura in Anlehnung an Bergson als ›Erfahrung‹ neukonzipiert.81 Unter Rückgriff auf Novalis’ Begriff der Wahrnehmbarkeit präzisiert er die Entstehungsbedingungen und Kennzeichen derartiger Erfahrungen folgendermaßen: »Die Wahrnehmbarkeit, von welcher er [Novalis] derart spricht, ist keine andere als die der Aura. Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.«82

Entzünden kann sich diese ›Belehnung‹ an Wörtern, Dingen oder Kunstwerken. Entscheidend ist laut Sven Kramer, »dass der Begriff der Belehnung die Spannung zwischen den objektiven und den subjektiven Momenten der Aura aufrecht hält. Die Aura erscheint nur dort, wo eine Konstellation von Faktoren zusammenwirkt; ihre begriffliche Konstruktion verlangt deshalb immer Verhältnisbestimmungen«.83 In Bezug auf seine im Kunstwerk-Aufsatz formulierte These vom Verfall der Aura konstatiert Benjamin, dass Reproduktionen in diesem Sinn keine Aura haben, weil der ›Apparat‹ das Bild des Menschen aufnimmt, »ohne ihm dessen Blick zurückzugeben«: »Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird (die ebensowohl [sic!], im Denken, an einen intentionalen Blick der Aufmerksamkeit sich heften kann wie an einen Blick im schlichten Wortsinn), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu.«84

81 | Vgl. Benjamin, W.: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 644. 82 | Ebd., S. 646 f. 83 | Kramer, S.: Walter Benjamin zur Einführung, S. 93. 84 | Benjamin, W.: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 646.

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Mit dem Begriff der Belehnung entfernte sich Benjamin von seinen früheren Ausführungen zur Aura. Die Kulturpublizistin Marlene Stoessel, die sich im Rahmen ihrer 1983 erschienenen Dissertation ausführlich mit dem Benjamin’schen Aura-Begriff befasst hat, analysiert diese Verschiebung folgendermaßen: »Weniger werden nun die Gegenstände betont, an denen die Aura erscheint, und die früher zu künstlichen und natürlichen geordnet waren. Entscheidend vielmehr ist jetzt, qua Blick, allein die Beziehung, das Verhältnis von Subjekt und Objekt, in dem sich die Aura herstellt oder verliert: die Wahrnehmung in der Aura als Erfahrung.«85

Angedeutet wurde dieser Paradigmenwechsel bereits in der Definition von Aura im Kunstwerk-Aufsatz, wo Benjamin im Gegensatz zu der nahezu identischen ersten Definition in Kleine Geschichte der Photographie zwischen einer natürlichen und einer künstlichen Aura unterschied. Implizit schon vorhanden war diese Konzeption außerdem auch im Fotografie-Aufsatz, wo Benjamin von einer ›magischen‹ Qualität der frühen Fotografien spricht, die so aussähen, als ob die Porträtierten den Betrachter anschauen würden. Mit dieser Unterscheidung bricht Benjamin wiederum mit herkömmlichen marxistischen Vorstellungen. In einem seiner letzten Briefe an Adorno schrieb er diesbezüglich: »Es muß also ein Menschliches an den Dingen sein, das nicht durch die Arbeit gestiftet wird.«86 In romantischer Tradition verortet er diese Macht des auratischen Blick-Erwiderns dabei in einer als unbestimmt gedachten Vorgeschichte. Weiter ausgeführt wird der Begriff des Erwiderns von Benjamin im Essay Zentralpark (1938/39), in dem sich Benjamin ebenfalls mit dem Schriftsteller Baudelaire auseinandersetzt. Baudelaire, so Benjamin, verzichte bei seiner Lyrik auf den ›Zauber‹ der Ferne und lösche so den ›Schein‹ aus. Indem die Dinge aus ihren geläufigen Zusammenhängen gerissen würden, würden ihre allegorischen Intentionen zerstört werden: »Die Scheinlosigkeit und der Verfall der Aura sind identische Phänomene. Baudelaire stellt das Kunstmittel der Allegorie in ihren Dienst.«87 Daraus ergebe sich die »Ableitung der Aura als Projektion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur: der Blick wird erwidert«.88 Der Hinweis auf die Eigenschaft des Objekts, ›zurückzublicken‹, passt zu den etymologischen Wurzeln von Aura als Hauch oder Atem – das blickende bzw. staunende Subjekt ›atmet‹

85 | Stoessel, M.: Aura, das vergessene Menschliche, S. 32. 86 | Benjamin, zitiert nach Stoessel, M.: Aura, das vergessene Menschliche, S. 26. 87 | Benjamin, W.: Zentralpark, S. 676. 88 | Ebd.

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nur ein und sieht nicht. Dieser Wahrnehmungsmodus des ›Atmens‹ erfordert einen ganzheitlichen Modus der Erfahrung, bei dem sich das Subjekt unter das Objekt unterwerfen muss: »The auratic quality that manifests itself in the object – ›the unique appearance of a distance, however near it may be‹ – cannot be produced at will; it appears to the subject, not for it.«89

3.3 KRITISCHE BETRACHTUNG DES »A URA «-B EGRIFFS

UND

RELEKTÜRE

Zwei Punkte erscheinen an den in den vorherigen Abschnitten geschilderten Ausführungen von Benjamin zur Aura problematisch: erstens die widersprüchliche Definition von Aura, wie sie in den drei z.T. sehr unterschiedlichen Konzeptionen zum Ausdruck kommt. Nimmt man Benjamins späte Definition von Aura als etwas, das ›den Blick erwidern‹ kann, so stellt die Aktivität des ›Blick-Erwiderns‹ einen unmissverständlichen Beleg für die objektive Existenz der Aura, unabhängig von der Wahrnehmung der Betrachtenden, dar. Zugleich sieht Benjamin insbesondere in seinen ersten Ausführungen zur Aura diese aber auch als Phänomen der Projektion, die sich dann nur in Abhängigkeit von der Wahrnehmung der Betrachtenden bestimmen lässt.90 Einerseits ist Aura dem tradierten Kunstwerk zugehörig, andererseits wird sie nur im Medium der Wahrnehmung hergestellt und verfällt mit diesem.91 Aufgrund dieser Ambiguität lässt sich der Aura-Begriff nicht eindeutig einer ontologischen oder phänomenologischen Auffassung der Rezeption von Kunstwerken zuweisen. Was Benjamin genau mit Aura meinte, muss also auch nach eingehender Analyse seiner Schriften offenbleiben. Der zweite Kritikpunkt betrifft die Annahme, dass mit der Verbreitung technischer Reproduktionsmöglichkeiten ein Verfall der Aura im Bereich der Kunst einhergehe. Zu diesem von Benjamin prognostizierten Verfall ist es letztendlich aber nicht gekommen. Stattdessen spielen das ›Hier und Jetzt‹ und die ›Tradition‹ eines Kunstwerks in der Kunst der Moderne weiterhin eine große Rolle. Film und Fotografie, von denen Benjamin dachte, dass sie zum Verfall der auratischen Wahrnehmung von Kunst beitragen würden, sind selbst Gegenstand ästhetischer Wertschätzung ge-

89 | Hansen, M.B.: Benjamin’s Aura, S. 351 f. 90 | Vgl. Stoessel, M.: Aura, S. 175 f. 91 | Vgl. Stoessel, M.: Aura, das vergessene Menschliche, S. 25.

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worden.92 Massenkultur und Reproduktionstechniken haben den Originalfetischismus im Bereich der Kunst dabei nicht verdrängt – vielmehr haben sich parallel neue Techniken entwickelt, die die von Benjamin beschriebene auratische Rezeption des Originalen stabilisiert haben. Beispielhaft zeigen lässt sich dies an den künstlerischen Strategien von Pop-Art-Künstlern wie Andy Warhol (1928-1987), die die Produkte der Massenkultur aus eben dieser entfernt und sie auf diese Weise in den Status von Kultobjekten erhoben haben.93 Die Reproduktion hat dem Original im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit also nicht die Einmaligkeit geraubt, sondern wurde, wie Nikolaus Himmelmann schreibt, »im Gegenteil ins Götzenhafte gesteigert«: »Die Tatsache, daß die Mona Lisa heute bis in feinste Farbnuancen hinein reproduziert werden kann, hält Millionen nicht davon ab, zu dem Original zu pilgern, das auf Distanz und hinter der glitzernden Glasscheibe weit weniger erkennen läßt als jeder mäßige Farbdruck.«94

Selbst im digitalen Zeitalter der Gegenwart, wo ein großer Teil der Produkte des künstlerischen Schaffens der Moderne und zum Teil auch der anderen Kunstepochen als digitale Reproduktion theoretisch zu jeder Zeit und an jedem Ort verfügbar ist, nimmt eine große Zahl von Menschen weiterhin lange Wege auf sich, um Kunst, Musik oder Architektur ›live‹ und im ›Original‹ zu erleben. Neukonzeptionen im Anschluss an Benjamin Im Bereich der Kunst- und Medienwissenschaften hat es aufgrund der oben beschriebenen Widersprüche zu Benjamins Verfalls-These bereits viele Versuche gegeben, seine ›Theorie‹ der Aura entsprechend anzupassen. Laut Boris Groys ging es Benjamin nicht so sehr um die Beschreibung eines realen, tatsächlichen historischen Verfalls der Aura im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, sondern vielmehr um die philosophische Betrachtung eines hypothetischen Idealzustands.95 Aura ist nach Groys keine ontologische Kategorie, sondern ein unsichtbarer, ›seelischer‹ Unterschied, der erst zu dem Zeitpunkt nötig wird, »wenn es den körperli-

92 | Vgl. Hazan, S.: The Virtual Aura. 93 | Vgl. Canevacci, M.: Digital Auratic Reproducibility, S. 261. 94 | Himmelmann, N.: Utopische Vergangenheit, S. 87. 95 | Vgl. Groys, B.: Topologie der Kunst, S. 34.

62 | Die »Aura« des Originals im Museum

chen, materiellen Unterschied nicht mehr gibt«.96 Das Hauptkriterium für Groys ist die Festschreibung eines Objekts an einen bestimmten Ort – der Unterschied zwischen Kopie und Original wird damit zu einem topologischen: »Das Original hat einen bestimmten Ort – und durch diesen besonderen Ort ist das Original als dieser einzigartige Gegenstand in die Geschichte eingeschrieben. Die Kopie ist dagegen virtuell, ortlos, ungeschichtlich: Sie erscheint von Anfang an als potentielle Multiplizität.«97

Der Status des Originals ist für Groys also nicht abhängig von der intrinsischen ›Echtheit‹ eines Gegenstands, sondern von dessen zeitlicher und räumlicher Verortung. Groys geht weiterhin davon aus, dass sich diese topologische Unterscheidung auch in einer unterschiedlichen Rezeptionsweise von Original und Kopie niederschlägt: »Wenn man sich zu einem Kunstwerk begibt, ist es ein Original. Wenn man das Kunstwerk zwingt, zu einem zu kommen – ist es eine Kopie.«98 So ist das Original im Museum vor allem deshalb bedeutungsvoll, weil man ins Museum gehen muss, um es zu sehen.99 Anne Krefting hat hier in Bezug auf das Museum von museal-konstruierter Aura gesprochen: »Erst einmal hinter Glas gesetzt, kann gleichzeitig nah und fern jedes Objekt bedeutungsvoll erscheinen.«100 Das Museum befördert in diesem Sinne die Entstehung ›auratischer Erfahrungen‹, indem es die Gegenstände dem Zugriff der Besucherinnen und Besucher entzieht und durch die Ausstellungsarchitektur, Berührungsverbote und Überwachung eine Distanz zwischen Museumspublikum und Exponaten schafft. Durch den Ausschluss von Außenwelt und Alltag durch Sichtblenden sowie durch die Schaffung einer ruhigen Atmosphäre werden die Bedingungen für eine kontemplative Rezeption hergestellt.101 Bereits im Vorfeld wird den Betrachtenden damit in der Ausstellung ein gewisser »Wahrnehmungscode« vorgegeben und der Erkenntnisprozess auf den Stellenwert der einzelnen Exponate gelenkt.102 Entscheidend für die Aura-Produktion ist nach Krefting auch der Einfluss des Individuums, den sie als betrachter-konstruierte Au-

96 | Ebd., S. 35. 97 | Ebd. 98 | Ebd., S. 37. 99 | Vgl. ebd., S. 39 f. 100 | Krefting, A.: Das wahrgenommene Objekt, S. 102 f. 101 | Vgl. Burmeister, S.: Der schöne Schein, S. 103 f. 102 | Korff, G.: Speicher und/oder Generator, S. 172; vgl. Mattl, S.: Ausstellungen als Lektüre, S. 45 f.

3 Der Begriff von der »Aura« | 63

ra bezeichnet. Diese Seite auratischer Erfahrungen beruht auf einer Anpassung der eigenen Wahrnehmung, die laut Krefting eine besondere Auffassung der Aura erfordert: »[. . . ] als einer Ausstattung der Wahrnehmungseigenschaft der Dinge unter einem ›verrückten‹ Blick, bzw. einem Blick, der sich verrücken und verzaubern lässt, ein Blick, der so tut als ob Dinge ihn verzaubern würden. [. . . ] Indem wir uns in einen Zustand versetzen, der uns erlaubt, von den Dingen zu reden, als wären sie uns zugestoßen, statten wir sie mit der Eigenschaft der Aura aus.«103

Die Folge dieser Aura-Produktion ist laut Krefting ein psychischer und physischer Erlebniszustand, der gekennzeichnet ist von einer »Spannung zwischen nah und fern«: »In der Aura scheint sich die Zeit aufzulösen, es herrscht Gegenwart, in die Phantasien des Betrachters hineinplatzen oder sich hineinentwickeln können. Eintauchen kann stattfinden als eine Form intensiver Begegnung, intensiven Dialogs.«104 Neben der Rolle der einzelnen Subjekte betont Krefting, dass die Erfahrung von Aura nicht nur auf individuellen, sondern auch auf kollektiven Wertmustern basiert.105 Henje Richter hat versucht, dieses kollektive Phänomen des bewussten Verleugnens der Künstlichkeit und ›Gemachtheit‹, das in Museen sowohl von Seiten der Kuratorinnen und Kuratoren als auch von Seiten der Besucherinnen und Besucher getragen wird, mithilfe einer Kombination aus Freud’scher Fetischtheorie, Johan Huizingas (1872-1954) Spieltheorie, der Magietheorie nach Marcel Mauss (18721950) sowie der Theorie der Übergangsobjekte nach Donald Winnicott (1896-1971) zu erklären. Genau wie die Fetischisten unterlägen die Museumsbesucher und besucherinnen einer »Illusion, einer Täuschung, einer Verleugnung. Er glaubt an etwas, das nicht sein kann.«106 Diese fetischistischen Elemente musealer Aura spiegeln sich laut Richter in der Inszenierung von Objekten in der Ausstellung wider. So gebe es ein Berührungsverbot, das den Umgang mit den Gegenständen regle und sie zugleich mit einem Tabu belege. Nach Freud wisse ›der‹ Fetischist, dass er spiele, unterliege aber dennoch dem Schein, in dem er sich freudig-affektvoll dem heiligen Ernst ergebe. Richter kommt zu dem Schluss, dass die Besuchenden im Museum

103 | Krefting, A.: Das wahrgenommene Objekt, S. 95. 104 | Ebd., S. 117. 105 | Vgl. ebd., S. 110. 106 | Vgl. Richter, H.: »Ich weiß zwar, dass es kein Original sein muss, aber dennoch . . . «, S. 52.

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sich auf ein ›Spiel‹ einlassen, bei dem sie so tun, als ob die Exponate eine besondere Wirkung auf sie hätten. Zwar wisse in der wissenschaftlich aufgeklärten Gesellschaft jeder, dass von den Originalen keine besondere Kraft ausgehen könne. Um die Illusion aufrecht zu erhalten, täten dennoch alle Museumsbesucherinnen und besucher so, als ob, und öffneten sich auf diese Weise für auratische Erfahrungen auf Basis der »geteilten Annahme des Glaubens.«107 Im Zentrum des Museumsbesuchs stünde aus dieser Perspektive weniger das originale Objekt an sich, als vielmehr eine Einstellung: »Der durch dieses Spiel gewonnene Lustgewinn und die durch die ›Eingeweihtheit‹ gegründete Kulturgemeinschaft wären folglich für die kulturelle Funktion des Museums grundlegender als Wissensvermittlung oder Erziehung.«108 Laut dem Soziologen Marshall Battani ist die auratische Erfahrung damit ebenso stark von sozialen Strukturen wie von kognitiven Strukturen abhängig und unterscheidet sich daher höchstwahrscheinlich zwischen den verschiedenen Kunst- und Museumsgattungen, innerhalb derer sie entstehen kann.109 Verwandte Konzepte der Medienrezeptionsforschung Die Neukonzeptionen des Benjamin’schen Begriffs der Aura zeigen, dass für die Entstehung auratischer Erfahrungen nicht so sehr entscheidend ist, ob ein Kunstwerk an sich reproduzierbar ist, sondern ob es in der Lage ist, für die Rezipienten eine einzigartige Erscheinung einer Ferne zu evozieren. Aus einer medientheoretischen Perspektive betrachtet, rückt der Benjamin’sche Begriff der Aura als ›einmalige Erscheinung einer Ferne‹ damit in die Nähe der modernen Medienrezeptionsforschung. Dort gibt es mehrere Konzepte, die das psychologische Phänomen beschreiben, bei dem sich eine Person vollständig auf ein Medium einlässt und alle anderen Dinge um sich herum vergisst. Eines der bekanntesten unter diesen Modellen dürfte das psychologische Konstrukt des Flow-Erlebens sein. Es handelt sich dabei um ein Konzept, das sich nicht nur auf Mediennutzung, sondern auch auf ganz unterschiedliche Aktivitäten wie z.B. Sport, Kunstbetrachtung oder Lernen beziehen kann. Erstmals thematisiert wurde diese Art der Erfahrung in den 1980er Jahren durch den Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi.110 Er beschreibt unterschiedliche Erfahrungen spiritueller und

107 | Vgl. ebd., S. 56. 108 | Vgl. ebd., S. 54. 109 | Vgl. Battani, M.: Aura, Self and Aesthetic Experience. 110 | Siehe Csikszentmihalyi, M.: Play and Intrinsic Rewards.

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quasi-religiöser Art, die beispielsweise bei Sportlerinnen und Sportlern oder Künstlerinnen und Künstlern auftraten. Obwohl sich diese mit sehr unterschiedlichen Dingen befassten, glichen sich ihre Erfahrungen in einer besonderen Form des Erlebens, die Csikszentmihalyi als Flow bezeichnete.111 Flow-Erleben ist gekennzeichnet durch einen Zustand hoher Konzentration, bei der sich die Aufmerksamkeit des Handelnden auf die ausgeübte Handlung bezieht und von der Umwelt abgezogen wird. Der Schwierigkeitsgrad der Aufgabe muss dabei so beschaffen sein, dass der bzw. die Handelnde die Aufgabe mit seinen bzw. ihren individuellen Fähigkeiten meistern kann. Eine als ›optimal‹ erlebte Erfahrung (optimal experience) ist nicht zu leicht und nicht zu schwer.112 Wenn die Bedingungen für eine derartige ›optimale‹ Erfahrung erfüllt sind, kann sich die Person leichter auf einen bestimmten Gegenstand konzentrieren und tendiert stärker als sonst dazu, ganz in der Beschäftigung mit einer Sache aufzugehen. Übertragen auf das Museum heißt das: »When the visitor is interested in an exhibit and engaged through sensory, intellectual, and emotional faculties, he or she should be ready to experience an intrinsically rewarding, optimal experience.«113 Bezieht sich das Eintauchen auf die Rezeption von literarischen Texten, so spricht die Literaturwissenschaft von Transportation. Hiermit ist vorwiegend das Eintauchen in Bücher gemeint, bei dem die Lesenden psychologisch in das Reich der Geschichte transportiert werden.114 Analog dazu existiert im Bereich der virtuellen Realität das Konzept der presence bzw. des Präsenzerlebens. Es beschreibt dort die Fähigkeit eines Augmented- oder Virtual-Reality-Systems, den Userinnen und Usern ein Gefühl des ›being-there‹ zu suggerieren.115 Die Aufmerksamkeit der Nutzenden ist, genauso wie beim Erleben von Transportation oder Flow, vollständig auf den medienvermittelten Raum gerichtet, während die reale Umgebung ausgeblendet wird. Die »Medienvermitteltheit der Erfahrung« gerät dadurch »(zumindest zeitweise) vollständig in Vergessenheit und der Mediennutzer fühlt sich im medienvermittelten Raum anwesend«.116 Diese Hervorrufung von Präsenz ähnelt in umgekehrter Weise der Gleichzeitigkeit von Ferne und Nähe auratischer Erfahrungen, wie sie von Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz konzipiert wurde. Aufgrund dieser Parallelen

111 | Vgl. Csikszentmihalyi, M.: Finding Flow, S. 29. 112 | Vgl. Bilandzic, H.: Immersion, S. 273. 113 | Vgl. Csikszentmihalyi, M./Hermanson, K.: Instrinsic motivation in museums, S. 74. 114 | Vgl. Bilandzic, H.: Immersion, S. 276. 115 | Vgl. Wirth, W./Hofer, M.: Präsenzerleben, S. 161. 116 | Vgl. Hofer, M.: Präsenzerleben und Transportation, S. 281.

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gibt es bereits erste Ansätze, Aura zur Untersuchung von Präsenz und Präsenzerleben nutzbar zu machen.117 Dabei gehen manche Präsenzforscher und -forscherinnen davon aus, dass auratische Erfahrungen davon abhängen könnten, wie stark ein bestimmtes Medium es den Nutzerinnen und Nutzern ermöglicht, die Künstlichkeit und Medialität der Erfahrung zu vergessen und sich auf den präsentierten Inhalt zu konzentrieren. Bei Augmented- und Virtual-Reality-Systemen beruht diese Kapazität üblicherweise auf einem hohen Grad der Immersion, also dem Ausblenden von Elementen, die nicht zur Simulation gehören.118 Das Phänomen der Immersion ist aber nicht nur auf den Bereich der digitalen Medien beschränkt, sondern tritt überall auf, wo Narrationen in visueller oder begehbarer Form dargeboten werden. Vorläufer solcher immersiver Räume finden sich bereits in der Antike, z.B. in den Wandfresken der Villa dei Misteri in Pompei, wo mit der Darstellung lebensgroßer Figuren und einer realistischen 360-Grad-Umgebung versucht wurde, den Besucherinnen und Besuchern ein Gefühl der Immersion zu vermitteln.119 Im Ausstellungswesen finden sich öffentlich zugängliche Panoramen erstmals ab dem 18. Jahrhundert, wobei hier insbesondere die Weltausstellungen einen wichtigen Einfluss darstellten. Dort sollte der Einsatz von faux terrain die Grenze zwischen echtem und dargestelltem Raum verwischen.120 Von diesen frühen illusionären Räumen der Kunst ist es nicht weit zu den Inszenierungen der historischen Vergangenheit, wie sie in Museumsausstellungen, aber auch in historischen Themenparks sehr häufig zum Einsatz kommen. Im Rahmen einer Geschichtstransformation werden dabei gezielt bestimmte historische Epochen oder Themen ausgewählt und mithilfe von geläufigen Stereotypen in multimediale Darbietungen übersetzt. Verstärkt wird der immersive Charakter der Darbietung dadurch, dass die historischen Themenwelten strikt von den anderen Bereichen des Parks und der Außenwelt abgegrenzt sind.121 Ein ähnliches Vorgehen lässt sich auch im Bereich der Living History wiederfinden, wo störende Elemente wie moderne Kleidung oder Alltagsgegenstände durch den Einsatz von möglichst originalgetreuen Repliken oder Historismen ersetzt bzw. an den Rand der Darstellung gedrängt oder ganz ausge-

117 | Siehe dazu MacIntyre, B./Bolter, J./Gandy, M.: Presence and the Aura of Meaningful Places. 118 | Vgl. Bolter, J. u.a.: New Media and the Permanent Crisis of Aura, S. 29. 119 | Vgl. Grau, O.: Virtual Art, S. 25. 120 | Vgl. ebd., S. 53 f. 121 | Vgl. Carlà, F./Freitag, F.: Strategien der Geschichtstransformationen in Themenparks, S. 136.

3 Der Begriff von der »Aura« | 67

blendet werden.122 Geschaffen werden auf diese Weise abgeschlossene Welten, in denen Geschichte vergegenwärtigt und reinszeniert wird. Michel Foucault hat dafür den Begriff der Heterotopie geprägt. Damit bezeichnet er Orte bzw. »tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind.«123 In einer Erweiterung des Foucault’schen Begriffs sind Heterotopien »Räume, die über ein in zentralen Aspekten ästhetisches Wahrnehmungsangebot wirklich und wirksam werden«.124 Sie grenzen sich durch Architektur von ihrer Umgebung ab und geben den Besuchenden das »Versprechen, mit Haut und Haar in die von ihnen generierte Wirklichkeit einzutauchen«.125 Einschätzung aus geschichtsdidaktischer Perspektive Aus Sicht der Geschichtsdidaktik erscheint das vermeintliche Eintauchen in eine imaginierte Vergangenheit zunächst problematisch, da das Ziel professioneller Geschichtsvermittlung nicht die Suggestion historischer Realität, sondern eine kritische Haltung und ein objektiver Blick auf die Vergangenheit sind. Der Konstruktionscharakter von Geschichte soll dabei hinterfragt und nicht verschleiert werden. Im aktuell in der Geschichtsdidaktik diskutierten Kompetenzmodell spiegelt sich dies in der von Pandel geforderten Differenzierungsfähigkeit zwischen fiktiven und realen Momenten im Geschichtsbewusstsein wider, die Pandel auch als Wirklichkeitsbewusstsein bezeichnet.126 Erforderlich dafür sind nach Pandel auch Kompetenzen im Umgang mit Darstellungen von Geschichte, die er dem Bereich der Gattungskompetenz zuordnet.127 Bezogen auf Ausstellungen heißt dies laut Michael Sauer: Den Fokus richten auf diejenigen »Ausstellungselemente, die die Ausstellung als Inszenierung erkennbar machen und hinterfragbar werden lassen«.128 Gleichzeitig spielt das »Sich-Einlassen auf Bilder, das eingehende Betrachten von Bildern« eine wichtige Rolle im Rahmen der Medien-Methoden-Kompetenz, bei der spezifische Wahrnehmungsweisen gefördert werden sollen, die für die Analyse materieller Kul-

122 | Vgl. Groschwitz, H.: Authentizität, Unterhaltung, Sicherheit, S. 152. 123 | Foucault, M.: Andere Räume, S. 39. 124 | Bieger, L.: Ästhetik der Immersion, S. 15. 125 | Ebd., S.20 126 | Vgl. Pandel, H.-J.: Geschichtsunterricht nach PISA, S. 11. 127 | Vgl. Pandel, H.-J.: Geschichtsdidaktik, S. 227. 128 | Sauer, M.: Historisches Lernen in Ausstellungen, S. 89.

68 | Die »Aura« des Originals im Museum

tur entscheidend sind, wie z.B. das genaue Hinschauen und die ›Schulung des Sehens‹.129 Des Weiteren ist auch das ›Sich-Einbeziehen‹ und ›Sich-Vorstellen‹ von grundlegender Bedeutung für die Vergegenwärtigung von Vergangenheit und damit das historische Lernen. Rolf Schörken hat diese Fähigkeit als historische Imagination bezeichnet. Der Akt der historischen Imagination gliedert sich nach Schörken in zwei Phasen: erstens, das Sich-Vorstellen, bei dem man sich Bilder von entfernten Tatbeständen macht und Vorstellungen abruft und zweitens das Sich-Einbeziehen und Übertragen, bei dem die Betroffenen sich in eine andere Zeit hineinversetzen und so tun ›als ob‹.130 Diese imaginativen Fähigkeiten bilden laut Schörken die Grundlage für die Öffnung und Figuration von Geschichte in der Lebenswelt.131 Sie sind außerdem Grundbedingung für das historische Lernen, da erst durch sie vergangene Lebenswelten vorstellbar und in Beziehung zu der Gegenwart gesetzt werden.132 Die vorhandenen und sinnlich zugänglichen Spuren der Vergangenheit bilden im Modus der empirischen Präsenz laut Michel Barricelli den Ausgangspunkt für Erfahrungen, die subjektiv, kulturell und sozial geprägt sind. Sie werden dabei reorganisiert und im Rahmen einer historischen Erzählung in einen neuen, eigenen Zusammenhang gebracht.133 Bei dieser Produktion ›innerer Bilder‹, die durch Emotionen, Körperreaktionen und insgesamt »leidenschaftliches Mitgehen« gekennzeichnet ist, handelt es sich laut Bodo von Borries »durchaus um ›Historie‹; [sie] erfüllt alle Charakteristika, z.B. Wahrnehmung von Andersheit in der Vergangenheit, Einsicht in Entwicklung und Wandel, Bezug auf das eigene Leben und vor allem eine ›narrative Struktur‹«.134 Aus geschichtsdidaktischer Perspektive ist bei dieser ›Historie im Kopf‹ (Borries) entscheidend, dass die kognitiven Konstruktionsleistungen dem Prinzip der »empirischen Triftigkeit« folgen.135 Dass das Hineinversetzen in die Vergangenheit außerdem nicht automatisch unkritisch sein muss, zeigen die Untersuchungen, die Berit Pleitner zu den Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern mit Living History in britischen Museen durchgeführt hat. Dort konnte sie feststellen, dass die Schülerinnen und Schüler sich stets des Konstruktionscharakters der

129 | Ebd., S. 91. 130 | Vgl. Schörken, R.: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik, S. 135 f. 131 | Vgl. ebd., S. 137. 132 | Vgl. ebd., S. 135. 133 | Vgl. Barricelli, M.: Schüler erzählen Geschichte, S. 27. 134 | Borries, B. v.: Erlebnis, Identifikation und Aneignung beim Geschichtslernen, S. 117. 135 | Barricelli, M.: Schüler erzählen Geschichte, S. 39.

3 Der Begriff von der »Aura« | 69

Inszenierung bewusst waren und nicht vollständig von den nachgestellten Situationen gefangen genommen waren.136 Auch das Konzept der Aura kollidiert nicht zwangsläufig mit den Forderungen einer modernen Geschichtsdidaktik. Bei der bisherigen Rezeption des Aura-Begriffes durch die Museums- und Geschichtsdidaktik wurde oft übersehen, dass Korff ebenso wie Benjamin die Aura der Originale stets auch im Hinblick auf mögliche Interventionsstrategien thematisiert haben. Benjamin übernimmt von Baudelaire dafür den Begriff des Chock als Bezeichnung für die ›schockartige‹ Erfahrung, die der Einbruch der Technik in den Alltag ausgelöst hat. In der Kunstrezeption macht dieser Chock das eigentlich unbewusste Moment der Medialität der Kunsterfahrung erfahrbar, z.B. beim Film: »Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.«137

Präzisiert wird der Begriff des Chock von Benjamin erst im Baudelaire-Aufsatz. Er resultiert demnach aus den in der Großstadt in Erscheinung tretenden Massen sowie aus der Entwicklung technischer Produktionsmittel. Das Chock-Erleben, dass die sich durch die Masse bewegenden Passanten in der Stadt bzw. die im Fließbandprinzip an den Maschinen arbeitenden Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen haben, spiegelt sich laut Benjamin in der Filmrezeption wider, weil dort die Aufeinanderfolge von Bildern die Rezipienten in ihren Assoziationen unterbricht. Die Rezeption von Filmen wird dadurch zur Übung von Geistesgegenwart, womit die Fähigkeit gemeint ist, den Schockwirkungen mithilfe der Zerstreuung zu begegnen, anstatt aufmerksam zu sein (wie es die auratische Form der Rezeption erforderte).138 Eine weitere Definition findet sich in Benjamins unvollendet gebliebenem und als Fragment posthum veröffentlichtem Passagen-Werk: »Es ist ein Chock, der den Versunkenen aus der Tiefe der Versenkung auffahren läßt.«139

136 | Vgl. Pleitner, B.: Living History an britischen Museen, S. 110. 137 | Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 503. 138 | Vgl. Yun, M.-A.: Walter Benjamin als Zeitgenosse Bertolt Brechts, S. 43 f. 139 | Benjamin, W.: Das Passagen-Werk, S. 409.

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Korff schlägt in Anlehnung an Benjamins Überlegungen die museale Präsentationsmethode des Chock in Form von ironischen Brechungen vor, um die historische Dingwelt im Museum nicht als Ansammlung säkularisierter Reliquien darzubieten: »Solch ein Wahrnehmungsschock, der Faszination mit Interesse verbindet, ist möglich durch die Montage, durch die Inszenierung, durch das Objektarrangement, durch eine Präsentationsmethode also, die die ›dinglichen Elemente‹ einander so zuordnet oder so konstruiert, dass aus ihrer ›Konstellation‹ die Idee der Wahrheit aufzublitzen vermag.«140

Ziel ist laut Korff eine ironische Museographie, die das ›große Ganze‹ im Auge behalten soll. Die Objekte sollen nicht als reine ›Beeindruckungsdinge‹ oder Instrumente erlebnissteigender Erfahrungen genutzt werden, die nur dazu verleiten, konsumiert zu werden. Ebenso wenig solle die Inszenierung eine nicht zu erreichende Ganzheit der Repräsentation der Vergangenheit vortäuschen oder diese in nostalgischer Weise verklären. Das Fragment, so Korff in Anlehnung an den französischen Schriftsteller André Malraux (1901-1976), sei »Lehrmeister der Fiktion«. In Bezug auf das kollektive Gedächtnis fordert Korff außerdem, die »Erinnerung an die großen Strukturen, Fragen und Linien«.141 In ähnlicher Weise hat sich Georg Veit für ›innengeleitete Fiktionen‹ in Form von phantasiegeleiteten, poetischen Aufbereitungen von historischen Stoffen ausgesprochen. Die Rezeption soll sich dabei nicht auf das durch die Alteritätserfahrung mit der Vergangenheit ausgelöste Staunen beschränken. Veit setzt stattdessen auf den anschließenden Vorgang der Irritation. Lernende sollen sich dabei selbst mit einbringen, Dargebotenes in Frage stellen und zu einer kritischen Form des historischen Lernens gelangen.142 Die von Veit geforderte Formen der Mitwirkung lassen sich ohne Weiteres auf den Bereich des Musealen, insbesondere auf das Ausstellungswesen, übertragen, wo verschiedene Formen und Möglichkeiten der Partizipation in den letzten Jahren verstärkt thematisiert und eingefordert worden sind.143 Problematisch bleibt das Aura-Konzept letztendlich v.a. wegen der Definitionsschwierigkeiten und der esoterischen Wurzeln des Begriffes, da sich trotz einer möglichen geschichtsdidaktischen Anbindung und der Nähe des Aura-Begriffs zu mo-

140 | Vgl. Korff, G.: Objekt und Information im Widerstreit, S. 121 f. 141 | Korff, G.: Musealisierung total?, S. 141. 142 | Vgl. Mayer, U.: Geschichte erzählen zwischen Imagination und historischer Authentizität, S. 546. 143 | Siehe dazu z.B. Simon, N.: The Participatory Museum; sowie McSweeney, K./Kavanagh, J. (Hrsg.): Museum Participation.

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dernen medientheoretischen Konstruktionen nicht ausschließen lässt, dass mit dem Benjamin’schen Aura-Begriff ein metaphysisches Verständnis von Originalität suggeriert und transportiert wird, dass laut Stefan Burmeister »weder empirisch noch theoretisch begründet« ist.144 Der Begriff der Aura trägt daher wenig dazu bei, die Vermittlungsarbeit im Museum theoretisch zu untermauern. Dafür braucht es ein modernes Konzept, das den didaktischen Anforderungen an ein kritisches historisches Lernen in Museen standhält.

144 | Burmeister, S.: Der schöne Schein, S. 106.

4 Der Begriff des Originals

Im vorherigen Teil wurde der Begriff der Aura, wie ihn Walter Benjamin im Zusammenhang mit der von ihm angenommenen Veränderungen der Kunstrezeption im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken geprägt hat, einer kritischen Betrachtung unterzogen. Im folgenden Teil soll näher auf den eng mit dem Aura-Begriff zusammenhängenden Begriff des Originals eingegangen werden, der in der museums- und geschichtsdidaktischen Literatur häufig benutzt, aber selten genau definiert wird. Der Originalbegriff entstammt ursprünglich dem Bereich der Kunst, wo er »in der Regel das von dem Künstler, dem das Werk zugeschrieben wird, mehr oder minder persönlich konzipierte und vor allem auch eigenhändig ausgeführte Kunstwerk« bezeichnet.1 Diese auf den ersten Blick eingängige Definition erweist sich in der künstlerischen Praxis, insbesondere vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunst der letzten drei Jahrzehnte, als schwierig. Dass sich der Begriff des Originals im Lauf der Geschichte stark verändert hat, soll im Folgenden gezeigt werden.

4.1 DEFINITION UND ABGRENZUNG VOM B EGRIFF DER KOPIE Der Begriff des ›Originals‹ leitet sich ab vom lat. origo, das den ›Ursprung‹ oder die ›Herkunft‹ bezeichnet. In der Kunst taucht der Originalbegriff erstmals vereinzelt ab dem 16. Jahrhundert auf und setzt sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts als gängiger Begriff durch. Seit dem 19. Jahrhundert wurden nicht mehr nur Werke der bildenden

1 | Rosen, P. von: Fälschung und Original, S. 120.

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Kunst, sondern auch solche der Literatur und teilweise auch der Wissenschaft als Originale bezeichnet.2 Vom Original lässt sich der Begriff der Kopie abgrenzen, der in einer strikten Definition die exakte Nachbildung des originalen Werkes meint. Der Kopien-Begriff ist seinerseits mit einer Vielzahl ähnlicher Begriffe verbunden. James Elkins unterscheidet hier von der Kopie den Begriff der ›Reproduktion‹, mit der er eine Form der Kopie bezeichnet, die sich leicht vom Original unterscheiden lässt. Von den sehr allgemeinen Begriffen der Kopie und Reproduktion lassen sich weiterhin spezifischere Konzepte wie das der ›Imitation‹ oder ›Variation‹ als Bezeichnungen für freiere Formen der Kopie, die sich mehr oder weniger als Hommagen an das Original verstehen, abgrenzen.3 In der Bibliothekswissenschaft kennt man die exakte Kopie als ›Faksimile‹, als die »bestmögliche Reproduktion einer zweidimensionalen Vorlage«, die in der Regel durch fotografische oder drucktechnische Verfahren realisiert wird. Charakteristisch sind die »vollständige Wiedergabe der ganzen Vorlage«, die Beibehaltung des Originalformats sowie die Reproduktion der äußeren Gestalt, z.B. in Form eines Bucheinbandes.4 In der bildenden Kunst spricht man außerdem auch von ›Repliken‹, ›Wiederholungen‹ und ›Paraphrasen‹. Im Gegensatz zu diesen teilweise sehr allgemeinen, teils auch sehr spezifischen Begriffen ist der Begriff der Kopie ein Überbegriff, der auf eine lange Geschichte zurückblicken kann. Etymologisch handelt es sich um eine Filiation von coops, die für Reichtum und Überfluss steht. In der Antike und im Mittelalter meinte copia dabei zunächst die Summe unterschiedlicher Ideen und rhetorischer Möglichkeiten, aus denen ein Redner schöpfen konnte. Mit der wachsenden Verbreitung von Druckwerken gegen Ende des Mittelalters und zu Beginn der Renaissance weitete sich die Wortbedeutung auf das Ergebnis der Reproduktionsmechanismen, also auf Abschriften und Drucke aus. Im modernen Gebrauch ist kennzeichnend, dass der Begriff der Kopie im Gegensatz zu den anderen Begriffen oft eine negative Konnotation hat, da er auch synonym für ›Nachmachen‹ oder ›Abkupfern‹ im Bereich der Massenkultur gebraucht wird.5 Diese negative Konnotation steht in starkem Gegensatz zum großen Stellenwert des Kopierens in unserer Gesellschaft, da im Alltag, in den Medien und in der Wissenschaft ständig kopiert wird.6 Als eindeutig negativ besetzter Begriff lässt sich von

2 | Vgl. Knaller, S.: Ein Wort aus der Fremde, S. 118. 3 | Vgl. Elkins, J.: From Original to Copy and Back Again, S. 116 ff. 4 | Hilka, T.: Zur Terminologie und Geschichte der Faksmilierung, S. 290 f. 5 | Vgl. Liebsch, D.: Replika, Faksimile und Kopie, S. 68 f. 6 | Vgl. Boon, M.: In Praise of Copying, S. 4.

4 Der Begriff des Originals | 75

der Kopie noch die ›Fälschung‹ unterscheiden, die in betrügerischer Absicht gefertigt wird. In den bildenden Künsten hebt sich die Kopie von der Fälschung dadurch ab, dass sie eine Neuschöpfung darstellt, die keine falschen Angaben über Herkunft, Alter oder Urhebende macht, obwohl sie bestimmte Eigenschaften des Vorbilds wie z.B. den Stil eines Kunstwerks imitiert.7

4.2 DIE ENTWICKLUNG

DES

ORIGINALBEGRIFFS

Die Unterscheidung zwischen Original und Kopie ist, wie bereits eingangs erwähnt wurde, nicht so einfach, wie man zunächst annehmen könnte. Das zeigt sich nicht nur an der allgemeinen Verfügbarkeit digitaler Reproduktionstechnik und dem damit einhergehenden Verschwimmen der Grenzen zwischen Original und Kopie. Auch historisch betrachtet waren die Begriffe Original und Kopie nicht immer klar voneinander getrennt. Selbst im 18. Jahrhundert ist der Begriff des Originals noch weiter gefasst als heute. So werden in Denis Diderots (1713-1784) und D’Alemberts (1717-1783) Encyclopédie ou Dictionnarie Rasonné des Sciences, des Arts et des Métiers (1751-1780) alle nach dem Abbild der Natur entstandenen Kunstwerke als Originale und im Gegensatz dazu alle jene Werke, die nicht die Natur, sondern ausschließlich andere Werke nachahmen, als Kopien verstanden.8 Diese Differenzierung hat ihre Wurzeln im Kunstbegriff der Antike, den ich im folgenden Abschnitt kurz erläutern werde. Vorbildung und Nachahmung in der Antike Für die Betrachtung der antiken Kunst muss zunächst festgestellt werden, dass der antike Kunstbegriff weiter gefasst war als der heutige. In der griechischen und römischen Antike bezeichneten τέχνη (téchne) und ars »das besondere Können, das den mechanischen wie den schönen Künsten zugrunde liegt«.9 Sowohl Handwerk als auch Kunst stellen aus dieser Perspektive immer eine Nachahmung (mimesis) eines Vorbilds dar: »Das gilt für den Handwerker, der sozusagen den idealen Schuh nachmacht, und es gilt noch mehr für den Maler, der den Schuh schön malt.«10 Für

7 | Rosen, P. von: Fälschung und Original, S. 120. 8 | Vgl. Bartsch, T./Becker, M./Schreiter, C.: Das Originale der Kopie, S. 13. 9 | Gadamer, H.-G.: Der Kunstbegriff im Wandel, S. 12. 10 | Ebd.

76 | Die »Aura« des Originals im Museum

Platon (428/27-348/47 v. Chr.) war die sich hier andeutende Hierarchie in der mimesis Basis der von ihm formulierten Kunstkritik. Kunstwerke sind für Platon lediglich drittrangige Abbilder, die hinter den Produkten eines Handwerkers stehen. Sein Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) sieht in der Freude an der mimesis den ästhetischen Unterschied zwischen Kunstwerk und Vorbild verkörpert. Dass man sich an der naturgetreuen Abbildung von Dingen, die normalerweise Unlust erzeugen (wie z.B. der Darstellung von Toten) erfreuen könne, hängt laut Aristoteles vom Wissen darüber ab, dass es sich bei der Darstellung um eine Nachahmung handelt. Kunst ist aus dieser Perspektive stets eine Kopie der Natur. Gleichzeitig lässt sich in der Kunst der griechischen Antike ein gewisses autonomes Selbstverständnis der Künstler ausmachen, dass sich laut Klaus Junker u.a. darin widerspiegelt, dass in der Kunst der archaischen Epoche (ca. 700-500 v. Chr.) größtenteils auf die Wiedergabe individueller Kennzeichen verzichtet wird und die Werke von einer generellen Distanz zur Abbildung menschlicher Züge gekennzeichnet sind. Diese archaischen Stilisierungen spielen selbst noch in der klassischen Epoche (ca. 500-300 v. Chr.) eine Rolle, obwohl die klassischen Kunstwerke von einem kontinuierlichen Zugewinn an Nachahmungstreue, v.a. in der Porträtplastik, geprägt sind. Zugleich wird die Nachahmung der menschlichen Figur in der bildenden Kunst der klassischen Epoche zum Thema künstlerischer und literarischer Reflexion. Zeitgenössische Bildhauer wie Polyklet (ca. 480-Ende 5. Jh.v. Chr.) oder Maler wie Zeuxis (5./4. Jh.v. Chr.) strebten dabei höhere Formen der Nachahmung an, indem sie mehrere Menschen zum Modell nahmen und aus deren Darstellungen eine Art Idealfigur abstrahierten.11 Die figuralen Werke der Frühklassik sind auch die ersten griechischen Kunstwerke, die von den Römern kopiert wurden. Parallel zur Ostexpansion des Römischen Reiches entstand in der Römischen Republik eine große Nachfrage nach Kunstwerken der hellenistischen Epoche (ca. 300-30 v. Chr.). Diese Nachfrage wurde durch das Anfertigen römischer Kopien griechischer Kunstwerke in großer Zahl befriedigt, wobei die römischen Kopien nicht weniger Wertschätzung erfuhren als die griechischen Originale. Die ausführenden Kopisten konnten gleichzeitig als schaffende Künstler tätig sein und umgekehrt.12 Entstanden sind in diesem Rahmen nicht nur exakte Kopien griechischer Vorbilder, sondern auch sogenannte Ideal-

11 | Vgl. Junker, K.: Primitive griechische Kunst und Nachahmung, S. 266 ff. 12 | Römische Kopien sind in der Klassischen Archäologie lange nur im Rahmen der Kopienkritik als bloße Imitation griechischer Originale behandelt worden. Das Ziel der Kopienkritik bestand dabei vorrangig in der Rekonstruktion verlorengegangener griechischer Plastik; vgl. Bartsch, T./Becker, M./Schreiter, C.: Das Originale der Kopie, S. 3 f.

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plastiken, die von verschiedenen klassischen Vorbildern inspiriert waren. Die römischen Künstler gingen außerdem kreativ mit den Stilen der Klassik um und nutzen sie selektiv für die Darstellung bestimmter Motive und Themen.13 Einen neuen Aufschwung erfuhr das Kopieren und Nachahmen hellenistischer Kunstwerke zu augusteischer Zeit (ca. 30 v. Chr.-14. n. Chr.), in der Kopien der hellenistischen Epoche die Rückbesinnung der neuen monarchischen Herrschaftsform auf ›alte‹ Praktiken und Werte versinnbildlichen sollten.14 Originale klassischer und hellenistischer Werke wurden zu diesem Zweck in den Tempeln und öffentlichen Anlagen ausgestellt. Im privaten Bereich fanden sich Bronze- und Marmor-Kopien und Umbildungen in verschiedenen Größen in Thermen, Plätzen, Gärten und Häusern.15 Wegen der massiven Nachfrage entstand in dieser Epoche auch eine große Zahl von Fälschungen, die mit den Signaturen berühmter Namen der hellenistischen Klassik versehen wurden, um den materiellen Wert der Kopien zu erhöhen.16 Die Unterscheidung zwischen antiken Originalen und Kopien wird heute dadurch erschwert, dass im 19. Jahrhundert durch die Verschleppung von antiken Plastiken durch Napoleon in den europäischen Antikensammlungen Leerstellen entstanden, die durch Gipsabgüsse aufgefüllt werden mussten. Diese Abgüsse wurden in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts oftmals höher geschätzt als die ›Originale‹ aus Marmor, da der Abguss im Geist des Klassizismus das Ideal der reinen, plastischen Form verkörperte. Der Gips, so die Vorstellung, war nicht durch Farbe, Glanz oder andere Oberflächenveränderungen wie Patina oder Oxidation entstellt. Ein Umdenken erfolgte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Herausbildung künstlerischer Strömungen wie des Impressionismus zu mehr Aufmerksamkeit der einstigen Farbigkeit der Skulpturen und Plastiken, für ihre Oberfläche und deren Wirkung gegenüber führte. Ab dieser Zeit schärfte sich die Unterscheidung zwischen antiken Artefakten und neuzeitlichen Kopien. Gipsabgüsse galten von da an als Ersatz für die nicht verfügbaren oder verlorengegangenen Originale.17

13 | Vgl. Gazda, E. K.: Beyond Coyping, S. 7 f. 14 | Vgl. ebd., S. 12. 15 | Vgl. Boschung, D.: Nobilia Opera, S. 14 f. 16 | Vgl. Ronzoni, L. A.: Kopien antiker Originale im Wandel der Zeit, S. 28 f. 17 | Vgl. Klamm, S.: Neue Originale, S. 61.

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Die ›Entdeckung‹ der Originalität in der Renaissance Der oben geschilderte antike Kunstbegriff, bei dem jegliche Form der Kunst zunächst als Nachahmung der Natur angesehen wurde, behielt bis ins späte Mittelalter seine Bedeutung. Im mittelalterlichen Verständnis wurden Bildhauerei, Malerei und Grafik zusammen mit dem Kunsthandwerk im Bereich der mechanischen Handwerke (artes) verortet. Die mittelalterlichen Handwerker fungierten dabei, ähnlich wie die Künstler der Antike, als Nachahmer einer göttlichen Ordnung, deren Werke nicht als geistige Eigenleistungen, sondern als Abbilder dieser gegebenen Ordnung angesehen wurden. Autonomes künstlerisches Handeln und Schaffen als gesellschaftliche Praxis, wie es heute für den Bereich der bildenden Künste kennzeichnend ist, existierte dabei in der Geisteswelt des Mittelalters ebenso wenig wie die Vorstellung von der Einzigartigkeit und Originalität eines Kunstwerks. Erst mit der Renaissance setzte ein Prozess der Trennung von Kunst und Handwerk ein, der aber nicht als radikaler Bruch, sondern schrittweise erfolgte und sich bis ins 18. Jahrhundert hinein hinzog.18 Maßgebend für die Entwicklung des neuzeitlichen Kunstverständnisses war laut Jens Rüffer – neben der Unabhängigkeit des frühneuzeitlichen Künstlers von den mittelalterlichen Zünften, den damit einhergehenden zunehmenden Freiheiten der Künstler in ihren künstlerischen Ausdrucksformen und der Entwicklung von systematischen Ansätzen für eine theoretische und kritische Reflexion von Kunst unter ästhetischen Kriterien – die humanistische Hinwendung zur Antike, die zur Geringschätzung der mittelalterlichen Kunst führte.19 Das von Italien ausgehende Interesse an der Antike spiegelte sich wider in einer großen Nachfrage an antiken Plastiken. Um diese Nachfrage zu befriedigen, wurden im 16. und 17. Jahrhundert nicht nur zahlreiche Antiken in Rom und anderen italienischen Städten ausgegraben, sondern auch Aufträge für die Anfertigung von Repliken antiker Originale vergeben. Dass die Kopien antiker Kunstwerke dabei z.T. höher bewertet wurden als die Originale zeitgenössischer Künstler, zeigen z.B. die Palastinventare von Philipp IV. (1605-1665) von Spanien, in denen Antikenkopien ein höherer Stellenwert eingeräumt wird als den Gemälden des Hofmalers Diego Vélazquez (1599-1660). Bei der künstlerischen Auseinandersetzung mit klassischer Kunst stand nicht vorrangig die Originalität des Kunstwerks zur Debatte – entscheidend war vielmehr die Selbstreflexion im Spiegel der Antike. Eine besonders große Rolle spielte dabei die Qualität

18 | Vgl. Rüffer, J.: Werkprozess – Wahrnehmung – Interpretation, S. 39 f. 19 | Vgl. ebd., S. 107 ff.

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des künstlerischen Stils, die im zeitgenössischen Verständnis nur über das Kopieren antiker Kunstwerke zu Übungszwecken erreicht werden konnte.20 Die antiken Kunstwerke wurden auf diese Weise zur Schule für Bildhauerei und Zeichenkunst sowie zu Pilgerstätten für angehende Künstler wie Leon Battista Alberti (1404-1472) oder später Peter Paul Rubens (1577-1640), die diese aufsuchten, um Studien über antike Kunst zu betreiben und davon ausgehend einen eigenen Stil zu entwickeln. In ganz Europa entstanden Kunstakademien, an denen junge Künstler an Abgüssen im Zeichnen und Modellieren unterrichtet wurden. Gleichzeitig entwickelten sich große Vervielfältigungsunternehmen in Rom, Neapel und Florenz, die Repliken der Originale in verkleinerter Form aus Marmor, Bronze, Blei, Gips und Porzellan in unterschiedlicher Qualität zum Verkauf anboten. Im Unterschied zu den Kopien des Mittelalters durften diese aber nicht mehr bloße Nachahmungen sein, sondern mussten invenzione (›Erfindungsgabe‹) beinhalten. Die Kunstwerke, egal ob Original oder Kopie, waren nun nicht mehr bloße Abbilder einer natürlichen oder göttlichen Ordnung, sondern Ausdruck der Erfindungsgabe eines Künstlers, der das Kunstwerk als schöpferisches Genie mit eigener Hand geschaffen hat.21 Durch diese Entwicklung wurde die idea (›Originalität‹) zu einem wesentlichen Bewertungskriterium von Kunst. Damit einher ging eine gesellschaftliche Aufwertung der Künstler, die nicht mehr nur als Handwerker angesehen werden wollten, sondern ihre eigene geistige Leistung betonten und »zu legitimierenden Autoritäten kraft ihrer Persönlichkeit und ihres Talents« wurden.22 Künstlerbiografien und Anekdoten sollten belegen, welche Genies die großen Meister waren. Der Begriff des Genies suggeriert dabei, dass die Kunst nicht mehr nur allein vom handwerklichen Können kommt, sondern Ausdruck von etwas Übermenschlichem, Gottähnlichem geworden ist. Der Künstler reproduziert als schöpferisches Genie nicht mehr eine göttliche Ordnung, sondern tritt selbst in Konkurrenz zum Schöpfergott.23 In dieser Funktion wird er vom Kunstpublikum verehrt – in seiner Abwesenheit wird an Stelle des Künstlers das Original verehrt. Das Interesse vom Publikum hat sich in der Renaissance also schrittweise vom Kunstwerk auf den Künstler verlagert.24 Für die gesellschaftlich etablierten Künstler war es daher zunehmend wichtig, einen erkennbaren Stil zu entwickeln und diesen

20 | Vgl. Knaller, S.: Original, Kopie, Fälschung, S. 53 f. 21 | Vgl. Gisbertz, O.: Reproduzierte Originale und originale Reproduktionen, S. 63. 22 | Knaller, S.: Original, Kopie, Fälschung, S. 54. 23 | Vgl. Andree, M.: Archäologie der Medienwirkung, S. 472 f. 24 | Vgl. ebd., S. 463.

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vor Nachahmung durch andere zu schützen. Dies suchten sie zu erreichen, indem sie begannen, ihre Arbeiten mit Signaturen zu versehen. Zugleich nutzten Künstler wie Albrecht Dürer (1471-1528), Raffael (1483-1520) oder später Rembrandt (1606-1669), verstärkt selbst Reproduktionstechniken und -technologien, um der steigenden säkularen Nachfrage nach ihren Kunstwerken nachzukommen.25 Mit diesem massenhaften Einsatz der Druckgrafik im Bereich der bildenden Kunst stellte sich dann erstmals das Problem der Unterscheidung zwischen Original und Reproduktion, wenn auch in einer anderen Dimension als heutzutage: Bei den Originalen der Alten Meister handelte es sich nämlich in aller Regel um Gemälde, die klar von den Reproduktionen in Form von Holz- und Kupferstichen zu unterscheiden waren. Des Weiteren hatte die zeitgenössische Druckgrafik nicht zum Ziel, eigenständige Kunstwerke hervorzubringen, sondern reine Reproduktionen. Noch bis ins späte 18. Jahrhundert hinein war der Zweck des Drucks die reine Vervielfältigung.26 Aufgrund der Differenzen in der Ausführung war die Grafik darüber hinaus auch nicht in der Lage, das Vorbild zu ersetzen: »Die Reproduktionsgraphik sucht die Nähe zum Original, macht aber zugleich in ihrer Abstraktion und Reduktion deutlich, daß sie es niemals ersetzen kann.«27 Das Original war hier also nicht in seiner Integrität angegriffen. Zugleich hatte die Kopie erstmals eine negative Konnotation erhalten. Sie galt nun teilweise als schlechtere Version des Originals für diejenigen, die sich das ›echte‹ Kunstwerk nicht leisten konnten. Diese neue Haltung gegenüber Originalen im 18. und 19. Jahrhundert ging einher mit der Entwicklung neuer Kriterien für das Sammeln und Präsentieren in höfischen Sammlungen. Die Gemälde wurden jetzt nach Schulen und Epochen geordnet gezeigt, anstatt flächendeckend an der Wand wie bei der sogenannten ›barocken Hängung‹. Statt Sammeln nach Geschmack bestimmten die Leerstellen der Sammlung den gezielten Ankauf, wobei bei der Ermangelung passender Originale oder aus finanziellen Gründen nach wie vor auf Kopien zurückgegriffen wurde.28 Auch in den Akademien spielte das Kopieren Alter Meister weiterhin eine wichtige Rolle in der Ausbildung angehender Künstler und war fester Bestandteil des akademischen Curriculums.29 Der erste Jahrgang zeichnete nach originalen oder kopierten Kunstwerken und der zweite

25 | Vgl. Beier-de Haan, R.: You can always get what you want, S. 3. 26 | Vgl. Hess, U.: Kunsterfahrung an Originalen, S. 50. 27 | Höper, C.: Raffael und die Folgen, S. 75. 28 | Vgl. Voermann, I.: Die Kopie als Element fürstlicher Gemäldesammlungen des 19. Jahrhunderts, S. 85 f. 29 | Vgl. Liebsch, D.: Replika, Faksimile und Kopie, S. 71.

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Jahrgang kopierte Gemälde, um den Gebrauch der Farbe zu lernen.30 Franz von Lenbach (1836-1904) sah in diesem »Studium der Alten« ein »Mittel zur Aneignung des Schönen«, das sich aber nicht auf das bloße Nachahmen beschränkt: »Das eigentliche Kopieren, so die Kopie ein geistiger und technischer Spiegel des Originals sein soll, ist enorm schwierig. Man muß sich da ganz in einen andern versetzen, durch Studium herauszubringen, mit welchen Mitteln er sein Werk von Grund aus aufbaut; und dann heißt es, so gut es eben gehen will, mit vollkommener Verleugnung des eigenen Selbst denselben Weg gehen, den der Meister gegangen ist.«31

Das Kopieren Alter Meister war auch Ausgangspunkt für von Lenbachs Karriere. Er fertigte für seinen Mäzen, den Grafen Adolf Friedrich von Schack (1815-1894) eine reine Kopiensammlung an. Diesen Kopien stellte von Schack Werke junger Künstler wie Arnold Böcklin (1827-1901), Hans von Marées (1837-1887) oder von von Lenbach selbst gegenüber.32 Die Sammlung folgte damit dem Prinzip der Paragone: Das Hauptanliegen ist nicht das Ersetzen von Originalen durch Kopien, sondern die Gegenüberstellung alter und moderner Kunst sowie die ›Adelung‹ der modernen Künstler durch die Platzierung ihrer aktuellen Positionen neben den von ihnen angefertigten Kopien Alter Meister. Laut von Schack konnte der moderne Künstler dabei »schon mit dem Ruhme zufrieden sein, wenn seine Bilder durch die Werke jener Heroen nicht ganz erdrückt werden«.33 Die jungen Künstler (und teilweise auch Künstlerinnen) konnten also sowohl mit ihren originären Werken als auch mit ihren Kopien Alter Meister in den Sammlungen vertreten sein. Im Vordergrund stand nicht die Authentizität der Kopien, sondern die Findung und Auffassung eines Bildsujets, eingebettet in eine durchdachte Komposition. »Mustergültige Nachahmungen eines Bildes galten demnach als authentisch.«34 Die serielle Anfertigung von Kopien wurde dadurch unterbunden, dass kein Maler ein Gemälde mehr als einmal kopieren durfte. Die Verwendung kleiner Formate diente darüber hinaus der Anpassung an die bürgerliche Käuferschicht, verhinderte detailgetreue Fälschungen und verkürzte

30 | Vgl. Markschies, A.: Die Kopie, S. 40 f. 31 | Zitiert nach Dlugaiczyk, M.: Nachahmung als Mittel zur Aneigung des Schönen, S. 31 ff. 32 | Vgl. ebd. 33 | Ebd., S. 33 f. 34 | Ebd.

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die Aufenthaltsdauer in der Galerie.35 Auf diese Weise wurden die Kopien selbst zu einzigartigen Kunstwerken. Das sich ab dem 18. Jahrhundert herausbildende Verständnis für Originalität zeigt sich am deutlichsten bei dem berühmten Postulat des englischen Dichters Edward Young (1683-1765) in Original Composition (1759). Bei Young ist der Originalitätsbegriff zwar noch ein Nachahmungsbegriff: »Imitations are of two kinds; one of nature, one of authors: the first we call ›originals‹, and confine the term ›imitation‹ to the second.«36 Gleichzeitig unterscheidet Young aber zwischen einem originalen und einzigartigen sowie einem kopierenden Kunstwerk. Garant für die Einmaligkeit und Originalität ist bei Young die individuelle Persönlichkeit des Künstlers, der das Ideal der Subjektivität pflegen muss, dabei aber noch der Natur verpflichtet ist. Die Besonderheit des selbstschöpfenden Künstlers ergibt sich aus seinem unmittelbaren Zugang zur Natur.37 Der moderne Künstlerbegriff entwickelt sich im 19. Jahrhundert parallel zur Bedeutungsverschiebung vom Werk auf den Künstler selbst. Der auf Originalität und Genialität des Künstlers gerichtete Fokus erlaubte es, das noch bei Young angedeutete paradoxe Verhältnis zwischen Original und Kopie, die beide als Nachahmung angesehen wurden, zu legitimieren: »Kunst wird dann einmalig im Sinne von unnachahmlich, nicht kopierbar, sie ist, mit Eco gesprochen, ihr eigenes Original.«38 Beispielhaft lässt sich dies an den Druckverfahren in der bildenden Kunst zeigen. Im Jahr 1875 beantwortete der Kupferstich-Experte Joseph Eduard Wessely die Frage, wann eine Druckgrafik als Original zu gelten habe, folgendermaßen: »Ein Kunstblatt wird dann Original genannt, wenn es denjenigen Künstler zum Urheber hat, dem es zugeschrieben ist [. . . ]. Eine Copie wird das Kunstblatt hingegen dann sein, wenn es nach einem anderen Kunstblatte hergestellt wurde [. . . ].«39 Die Zuschreibung zu einem Künstler bzw. einer Künstlerin erfordert dabei nicht unbedingt die Anwesenheit des- bzw. derselben beim Druckvorgang, da es auch Formen der grafischen Reproduktion gibt, wo die Druckvorlage übersendet wird oder eine Neuauflage der Druckvorlage im Offsetdruck erfolgt.40 Daneben gibt es Künstler wie beispielsweise Max Ernst (1891-1976) oder John Heartfield (1891-1968), die ihre Arbeiten mit

35 | Vgl. ebd., S. 35. 36 | Zitiert nach Knaller, S.: Ein Wort aus der Fremde, S. 117. 37 | Vgl. Knaller, S.: Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs, S. 27. 38 | Knaller, S.: Ein Wort aus der Fremde, S. 119. 39 | Zitiert nach Korschatzky, W.: Die Kunst der Graphik, S. 25. 40 | Vgl. ebd., S. 25 f.

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Druckverfahren aus bereits reproduzierten Kunstwerken zusammengesetzt haben. Im Bereich der Druckgrafik hat sich daher der Konsens durchgesetzt, dass Originale nur solche Holzschnitte, Radierungen oder Lithographien sind, die vom originalen Druckstock bzw. Stein abgezogen wurden. Sobald der eigentliche Druckstock reproduziert wurde, spricht man von einer Kopie. Dies bedeutet aber trotzdem, dass jedes mit dem originalen Druckstock gefertigte Blatt als Original anzusehen ist, und zwar unabhängig davon, wie viele Abzüge es letztendlich gibt. Originalität ist hier also nicht gleichzusetzen mit Einzigartigkeit, sondern bedeutet im Bereich der Druckgrafik vielmehr eine Qualität, die sich an den Druckblättern anhand von bestimmten Merkmalen (wie z.B. der Prägnanz der Linien oder der Struktur des Papiers) ablesen lässt. Es ist die Eigenschaft des Originaldrucks, die ursprüngliche Intention des Künstlers bzw. der Künstlerin zum Ausdruck zu bringen, die das Original von der Reproduktion unterscheidet, da bei letzterer Details wie Feinheiten der Linienführung, Hell-Dunkel-Kontraste sowie die Haptik des Originalpapiers nicht oder nur ungenügend zum Ausdruck kommen.41 Ein vergleichbares Problem stellt sich auch im Bereich der Plastik, wo die Unterscheidung zwischen Abgüssen und ›Mutterplastik‹ aufgrund der Tatsache, dass sich diese in Form und Material entsprechen, schwierig ist. Ähnlich wie bei der Grafik gilt auch hier: Originale sind alle jene Nachbildungen, die entweder vom Künstler bzw. der Künstlerin angefertigt wurden oder deren Anfertigung von ihnen autorisiert wurde. Original, Kopie und Originalkopie in der Modernen Kunst Die moderne Verschiebung des Originalbegriffs auf den Künstler bzw. die Künstlerin ermöglicht die Wiederholung des Originalen in Form der künstlerischen Reproduktion. Auf diese Weise können auch Nachbildungen, Wiederholungen und Kopien Anteil am originalen Kunstwerk haben. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Kunst der Moderne erstmals im Readymade der Dadaisten. Zu den bekanntesten Beispielen dieser Kunstform gehören sicherlich die Readymades von Marcel Duchamp (18871968), für die er bewusst Objekte wählte, die bereits tausendfach vorhanden waren. Zu Duchamps berühmtesten Readymades zählen seine Werke Bottle Rack (1915) und Fountain (1917). Der aufgehängte Flaschenöffner und das umgedreht aufgestellte Pissoir verweigern sich durch die Art ihrer Präsentation ihrer ursprünglichen Funktion. Sie sind damit Industrieprodukte, die durch einen künstlerischen Eingriff unbrauchbar gemacht wurden und sich in einem Schwebezustand zwischen Mas-

41 | Vgl. Hess, U.: Kunsterfahrung an Originalen, S. 50 f.

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sengebrauchsartikel und Kunstwerk befinden.42 Im Fall der Fountain trat Duchamp nicht öffentlich als Urheber auf, sondern signierte die Skulptur mit dem Pseudonym »R. Mutt«. Der Name ›Mutt‹ verweist dabei einerseits auf den Hersteller des Urinals, J.L. Mott, andererseits handelt es sich bei der Signatur um eine Anspielung auf einen dickleibigen Charakter aus einem zeitgenössischen Comicstrip (›Mutt‹ aus Jeff and Mutt). Ferner erinnert der abgekürzte Vorname an einen französischen Slangausdruck für ›Geldsäcke‹ (richard). Diese popkulturellen Anspielungen tragen zum ironischen Charakter des Readymade bei.43 Duchamp versuchte mit seinen Werken die Trennung zwischen Kunst und Nicht-Kunst zu durchbrechen. Wenn ein beliebiges Urinal im Museum als Kunst gelten kann, ist jedes andere Massenprodukt, das bestimmten ästhetischen Kriterien entspricht, auch ein potentielles Kunstwerk. Entsprechend ist auch die Fountain kein einzigartiges Original, sondern vielmehr eine Idee, die ihrerseits wiederholbar und replizierbar ist. Das Verfahren des Readymade wurde in den 1960er Jahren von den Künstlern und Künstlerinnen der amerikanischen Pop Art wiederaufgegriffen und modifiziert. Während Duchamp Produkte der Massenkultur in den Status von Kunstwerken erhob, um den Kunstbegriff in Frage zu stellen, setzten Pop Art-Künstler wie Jasper Johns (geb. 1930) traditionell künstlerische Techniken und Materialien ein und transferierten diese in den Bereich der Massenkultur.44 Eine ähnliche Wirkung entfalten die seriellen Skulpturen und Gemälde von Warhol. Johns und Warhol zeigen mit ihren Kunstwerken, dass der moderne Kunstbegriff sich nicht notwendigerweise auf bestimmte Formen der Produktion beschränkt. Statt des Werkcharakters an sich garantiert allein die Künstlerpersönlichkeit für den Kunstcharakter des Werks. Zusätzlich eröffneten Johns und Warhol neue Perspektiven für eine künstlerische Neuwahrnehmung der einst anonymen Produkte der Massenkultur im Rahmen des Museums.45 Insbesondere die Vertreterinnen und Vertreter der Konzeptkunst haben diese Positionen wieder aufgegriffen und fortgeführt. In seinem programmatischen Aufsatz Sentences on Conceptual Art (1969) proklamierte Sol LeWitt (1928-2007), der als Begründer der Konzeptkunst gilt: »Ideen allein können Kunstwerke sein«, womit er die traditionellen Kategorien der bildenden Kunst für obsolet erklärte und

42 | Vgl. Fehr, M.: Müllhalde oder Museum, S. 194 f. 43 | Vgl. Camfield, W.A.: Marcel Duchamp, Fountain, S. 23; vgl. Perloff, M.: Of Objects and Readymades, S. 140. 44 | Vgl. Buskirk, M.: The contingent object of contemporary art, S. 67. 45 | Vgl. Fehr, M.: Müllhalde oder Museum, S. 192 f.

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stattdessen allein die Qualität der Ideen zum Maßstab machte.46 Die Konzeptkunst griff dabei auch die Idee der Originalitätskritik durch ironische Brechungen, wie sie bereits bei Duchamp zu finden gewesen war, wieder auf. In der Konzeptkunst ergibt sich die Bedeutung eines Kunstwerks also vorwiegend aus dessen Selbstreferentialität. Gut zeigen lässt sich dies z.B. an der Werkreihe Titled (Art as an Idea) von Joseph Kosuth (geb. 1945) aus dem Jahr 1968, bei der er Lexikontexte auf schwarze Leinwände kopierte und damit den Sinngehalt der Bilder anstatt ihrem ästhetischen Charakter in den Vordergrund stellte.47 Die neueste Entwicklung im Bereich der Originalitätskritik stellt die Strömung der Appropriation Art dar. Im engeren Sinn ist damit eine Form der ›Aneignungskunst‹ gemeint, »die sich fremde Bildlichkeit aneignet, indem sie bereits existierende Kunstwerke kopiert – also in Format, Motiv und Stil so exakt wie möglich wiederholt – und dies nicht, um Plagiate herzustellen, sondern eigenständige, originale Kunstwerke«.48 Exemplarisch für die Appropriation Art seien hier die Arbeiten von Sherrie Levine (geb. 1947) genannt, die ab 1980 exakte Wiederholungen von Werken anderer Künstlerinnen und Künstler, zunächst meist in Form von Fotografien, später auch in aquarellierter oder gezeichneter Form anfertigte. Betitelt sind die meisten von Levines Wiederholungen mit »After« und dem Namen des ursprünglichen Künstlers oder Künstlerin. Die Größe der Werke entspricht nicht der der Originalwerke, sondern der der Abbildungen, nach denen die Kopien gefertigt wurden, um zu zeigen, dass Kopien seit jeher zum Kunstbetrieb gehören.49 Mit ihren künstlerischen Eingriffen konnten die Konzept- und Appropriation-Künstler und -Künstlerinnen zeigen, dass die Anerkennung von Originalen nicht allein auf historischen, empirischen oder phänomenologischen Kriterien der Echtheit beruht. Die Trennline zwischen Original und Kopie wurde damit schrittweise aufgehoben.50 So wie einst Duchamps Fountain dominieren heute seriell und industriell produzierte Werke, einschließlich Fotos, Videos und Filme, die Museen Moderner Kunst, wo sie als Kunstwerke ausgestellt sind. Sie nehmen dort einen Platz ein, der ursprünglich den sogenannten Originalen vorbehalten war.51 Auf diese Weise machen sie den Status der Originalität als Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses sichtbar und führen

46 | Schneede, U.M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert, S. 227. 47 | Vgl. Römer, S.: Conceptual Art und Originalität, S. 208 f. 48 | Zuschlag, C.: »Die Kopie ist das Original«, S. 127. 49 | Vgl. ebd., S. 130 f. 50 | Vgl. Knaller. S.:Original, Kopie, Fälschung, S. 51. 51 | Vgl. Groys, B.: Topologie der Kunst, S. 39 f.

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die Unterscheidung zwischen Original und Kopie ad absurdum. 1 Im Zuge dieser Erweiterung des Repertoires künstlerischer Strategien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte auch eine Revision des Fälschungsbegriffs in der bildenden Kunst. Bereits 1933 verstand der Kunsthistoriker Hans Tietze (1880-1954) Fälschungen als künstlerische Arbeiten. Mitte des 20. Jahrhunderts wurden dann, zunächst mit didaktischer Intention, Ausstellungen zu Fälschungen konzipiert, die die Enttabuisierung von Fälschungen im Museumskontext vorbereiteten. In den 1960er und 1970er Jahren setzte ein kunsttheoretischer Diskurs ein, der traditionelle Vorstellungen zum Fälschungsbegriff in Frage stellte. Wegweisend waren hier der von Nelson Goodman vorgeschlagene Begriff der ›Perfekten Fälschung‹ sowie die Überlegungen Klaus Döhmers, der in seinem Aufsatz Zur Soziologie der Kunstfälschung (1978) konstatierte: »Kunstfälschung bedient sich legitimer künstlerischer Methoden unter Veränderung ihrer Zielsetzung. Sie ist damit keine objektiv-materiale, sondern eine subjektiv-intentionale Kategorie.«52 Die künstlerische Neubewertung des Fälschungsbegriffs ist seitdem v.a. in der englischen Sprache erfolgt, weil hier vergleichsweise mehr Möglichkeiten zur Differenzierung gegeben sind. Der Begriff des Fake, wie er sich im Kunstbereich etabliert hat, beinhaltet im Gegensatz zum Begriff der Fälschung nicht nur das kopierte Kunstwerk selbst, sondern verweist auch auf den gesamten institutionellen Vorgang: »Im Gegensatz zur traditionellen Kunstfälschung handelt es sich beim Fake um eine künstlerische Strategie, die sich von vornherein selbst als Fälschung bezeichnet.«53 Gemeinsam ist all den oben beschriebenen »Praktiken des Sekundären«, dass sie »gezielt auf den Status des Vorgefundenen, des Nicht-Authentischen oder des Abgeleiteten ihres Gegenstands bzw. Materials setzen – oder aber derartige Zuschreibungen bewusst problematisieren«. Dies geschieht unter Rückgriff »auf einzelne Operationen wie Wiederholung, Zitat, Paraphrase, Serialisierung, auf medienspezifische Verfahren wie Collage, Remake oder Sampling, auf medienübergreifende Genres und Konzepte wie Parodie oder Pastiche und auch technische Verfahren und Apparate, die den Zugriff auf kulturelle Archive steuern«.54 In diesem Zusammenhang wurde der Begriff der Originalkopie vorgeschlagen, der betonen soll, »dass die Differenz von Original und Kopie auf verschiedenen Ebenen anzutreffen ist und als variable medienabhängige Größe immer wieder neu situiert werden kann und

52 | Döhmer, K.: Zur Soziologie der Kunstfälschung, S. 77. 53 | Römer, S.: Fake, S. 83. 54 | Fehrmann, G./Linz, E./Schumacher, E./Weingart, B.: Originalkopie, S. 7 f.

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muss«.55 Im Zeitalter der Digitalisierung wird dabei sichtbar, was die Unterscheidung zwischen Original und Kopie schon immer problematisch gemacht hat, nämlich »dass die Grenzziehung und Relationierung zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung das Ergebnis eines Transkriptionsprozesses ist, dass der Status von Original und Kopie nie einfach gegeben ist, sondern immer auf Zuschreibungen und Konventionen zurückzuführen ist.«56 Zusammenfassend lässt sich in der Kunst des 20. Jahrhunderts seit den 1970er Jahren ein Paradigmenwechsel weg von der Norm des Originals und der Ästhetik des Authentischen hin zum postmodernen Fake feststellen. Parallel zu dieser Entwicklung ist die moderne Konzeption von Kunst mit ihren vier Säulen – schöpferisches Individuum, individueller Ausdruck, authentisches Kunstwerk und Expertentum – zunehmend in Frage gestellt worden. Fakes sind – genauso wie Kopien – nicht mehr bloße Derivate, sondern haben eine eigenständige Funktion, die die Dialektik von Original und Fälschung erweitern, verschieben und differenzieren.57 Dabei ist es in der Postmoderne nicht nur die kunsttheoretische Konzeption von Originalität, die ins Wanken gerät – auch der rechtliche Urheberbegriff wird im Zeitalter fortschreitender Digitalisierung immer schwerer zu fassen, wie Wolfgang Ernst ausführt: »So stellt sich die Frage, was denn im Licht neuer Medien noch vom ursprünglichen Werkbegriff bleibt. Was ist etwa, im digital Sound, die kleinste schutzfähige Einheit? Ab welchem Grad fraktaler Kompression ist die vorliegende Formel noch ein Original? [. . . ] Ist ein link im Internet ein Zitat, ein Verweis, eine Aneigung fremden geistigen Eigentums? [. . . ] Der Kunstbegriff des Originals und das Recht stehen im digitalen Raum nicht länger im Bund. [. . . ] die Technik ist fortan mit am Werk.«58

Der historische Überblick zeigt, dass der Begriff des Originals, wie er nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch im Kontext historischer Museen gebraucht wird, höchst instabil ist. Susanne Knaller hat dazu festgestellt: »Original und Kopie sind in den verschiedenen Kunstepochen jeweils unterschiedlich fusioniert. Die Trennung zwischen Original und Kopie [. . . ] ist keineswegs immer klar zu ziehen, auch die Begriffsverwendung unterliegt einer Polysemie.«59 Entscheidend für die Anerkennung der Legitimität eines Kunstwerks sind gesellschaftliche Kriterien. Das origina-

55 | Ebd., S. 8. 56 | Ebd. 57 | Vgl. Römer, S.: Fake, S. 84. 58 | Ernst, W.: Der Originalbegriff im Zeitalter virtueller Welten, S. 54. 59 | Knaller, S.: Ein Wort aus der Fremde, S. 115.

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le Kunstwerk muss von außen, also durch die Künstlerin oder den Künstler, durch Kunstexperten und -expertinnen oder durch die Wissenschaft und den Kunstmarkt als authentisch bestätigt werden.60 In ähnlicher Weise gilt dies auch für die im Museum gesammelten (historischen) Originale, die ihren besonderen Status ebenfalls erst durch wissenschaftliche Expertisen sowie durch die Aufnahme in eine Sammlung erhalten. Die Echtheit eines Originals – in Benjamins Worten ›Inbegriff seiner Einzigartigkeit und Tradition‹ – sind damit Ergebnis einer Zuschreibung und institutionellen Verortung. Diese Zuschreibungsprozesse, die Authentizität und Echtheit hervorbringen und damit die Grundlage für die Bedeutung der Originale im Museumsbereich bilden, sind Gegenstand des nächsten Kapitels der Arbeit.

60 | Vgl. ebd., S. 120.

5 Die Authentizität des Originalen

Aus dem heutigen Bereich der Geschichtskultur ist der Begriff der Authentizität nicht mehr wegzudenken.1 Laut Pandel beruht die Forderung nach Authentizität in der Auseinandersetzung mit Geschichte auf unserem Geschichtsbewusstsein: »Es stellt ständig Authentizitätsansprüche; es will wissen ob etwas tatsächlich der Fall gewesen ist oder nicht.«2 Pandel folgend ist Authentizität nach diesem Verständnis eine »Eigenschaft, die Aussagen, schriftlichen und bildlichen Quellen, Dingen sowie Orten zukommt, um ihre Echtheit, Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit zu kennzeichnen«.3 Sie garantiert die für Historikerinnen und Historiker so wichtige Echtheit einer Quelle und liefert die Basis für die Repräsentation von Geschichte. Laut anderen Ansätzen ist Authentizität dagegen »insgesamt ein gedankliches Konstrukt, eine Zuschreibung beziehungsweise Wahrnehmung, die systemisch auf Geschichtsbildern beruht und diese wiederum beeinflusst«.4 Die Geschichtswissenschaften prägen aus dieser Perspektive selbst den Diskurs über das Authentische und das, was als authentisch angesehen werden soll, und zwar, indem Behauptungen und Vorstellun-

1 | Der Begriff der Geschichtskultur wurde Mitte der 1990er Jahre von Jörn Rüsen in der Geschichtsdidaktik etabliert. Rüsen versteht darunter die »praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft«; Rüsen, J.: Was ist Geschichtskultur?, S. 5.; Geschichtskultur umfasst dabei den »Gesamtbereich der Aktivitäten des Geschichtsbewusstseins« und schließt neben wissenschaftlichen Formen der Aneignung und Aufbereitung von Geschichte auch populäre Darstellungen von Geschichte mit ein; vgl. Rüsen, J.: Geschichtskultur, S. 38. 2 | Pandel, H.-J.: Authentizität, S. 30. 3 | Ebd. 4 | Groschwitz, H.: Authentizität, Unterhaltung, Sicherheit, S. 154.

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gen über Authentizität aufgestellt, tradiert, vermittelt und hinterfragt werden, z.B. durch die Konservierung oder Sichtbarmachung von archäologischen Spuren.5 Im Bereich populärer Darstellungen von Geschichte fungiert Authentizität als medialer Anreiz, der eine gewisse Nähe zur dargestellten Historie suggeriert. Besonders gilt das für Dokumentarfilme, wo Zeitzeugen, authentische Orte als Drehorte, authentische Objekte als Requisiten und soziokulturelle Formen der Authentizität die historische Verbürgtheit des Gezeigten garantieren sollen.6 Bei jeglichen Formen geschichtskultureller Darstellung stellt sich also immer die Frage nach der Authentizität. Authentizität ist demzufolge ein Charakteristikum des Umgangs mit Geschichte in unserer Gesellschaft und spielt sowohl bei der Erforschung als auch bei der Darstellung der Historie eine besondere Rolle, nämlich einerseits im Zusammenhang mit der Frage nach der Echtheit, also der Quellenkritik, und andererseits als Glaubwürdigkeitsgarant in der Repräsentation von Vergangenheit.7 In der Gegenwartskultur taucht Authentizität vorwiegend als Schlagwort auf, insbesondere im Zusammenhang mit Selbsthilferatgebern, im Bereich des Marketings und in der Werbung. Am häufigsten wird der Begriff als Adjektiv und dabei synonym für ›echt‹ bzw. als Gegensatz zu ›gefälscht‹ und ›nachgemacht‹ gebraucht und verstanden. Daneben steht ›authentisch‹ auch für ›zuverlässig‹ und ›glaubwürdig‹. Im weitesten Sinne kann es auch ›ungekünstelt‹, ›unverbildet‹ oder im leicht negativen Sinne auch ›unreflektiert‹ bedeuten. Authentisch ist im letzteren Sinne das, was noch von niemandem ›verbogen‹ wurde.8 Von ähnlichen Konzepten wie Originalität oder Ursprünglichkeit unterscheidet sich der Begriff der Authentizität vor allem durch den reflexiveren und wissenschaftlicheren Charakter.9

5.1 DIE GESCHICHTE

DES

AUTHENTIZITÄTSBEGRIFFS

Etymologisch lässt sich der Begriff der Authentizität auf das griechische αὐϑέντης (authént¯es) zurückverfolgen. Gemeint war damit ein ›Herr‹, ein ›Gewalthaber‹, ›je-

5 | Vgl. Sabrow, M./Saupe, A.: Historische Authentizität, S. 7. 6 | Vgl. Wirtz, R.: Das Authentische und das Historische, S. 192 f.; vgl. Geilert, S./Voorgang, J.: »Es war einmal. . . « historische Authentizität, S. 217. 7 | Vgl. Pirker, E. U./Rüdiger, M.: Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen: Annäherungen, S. 14. 8 | Vgl. Schlanstein, B.: Echt wahr!, S. 206 f. 9 | Vgl. Sabrow, M./Saupe, A.: Historische Authentizität, S. 11.

5 Die Authentizität des Originalen | 91

mand der etwas mit eigener Hand vollbringt‹ oder ein ›Urheber‹. Im Lateinischen bezeichnet authenticum das Original einer Handschrift. Authentizität bezieht sich hierbei sowohl auf die philologische Kritik von Handschriften als auch auf die Interpretation der Heiligen Schrift und die Auslegung des Rechts durch die Institution der katholischen Kirche (authentia auctoritatis).10 Diese ursprüngliche Wortbedeutung von Authentizität verweist auf den semantischen Zusammenhang zwischen der Autorität eines Urhebers und dem Akt des Autorisierens. Noch im 17. und 18. Jahrhundert wurde Authentizität in diesem Sinne als Glaubwürdigkeit von Dokumenten verstanden. Die authentica interpretatio meinte eine anerkannte Deutung juristischer und religiöser Texte, z.B. durch einen Landesherrn. Diese Bedeutung hat sich bis heute erhalten, wenn vom Gesetzgeber im Wortlaut veröffentlichte Gesetzestexte als ›authentisch‹ bezeichnet werden.11 Zum Schlagwort ist Authentizität erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden. Noch im 18. und 19. Jahrhundert war der Begriff nicht sehr weit verbreitet und damit »kein Hauptwort der Moderne«.12 Eine Basis für die spätere Popularität des Begriffs lieferten zunächst Denker und Philosophen der Aufklärung und der Romantik wie Edmund Burke (1729-1797), Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) und Friedrich Schiller (1759-1805). Im Rahmen dieser Ansätze wurden laut Susanne Knaller: »[. . . ] Subjektivitäts- und Kunstmodelle entworfen, die dem seit dem 17. Jahrhundert entwickelten epistemologischen Konzept vom selbstbegründeten Subjekt gerecht werden sollen. Dieses vernunftbegabte Subjekt soll sich gegen Normen und Moralvorstellungen der höfischen und klassizistischen Kultur durchsetzen und seine bürgerliche Identität und Legitimität aus einem sozialen Handlungsparadigma beziehen.«13

Konsequenz aus diesem Ansatz war die Forderung nach einer auf den Regeln der Vernunft basierenden Autonomie des Subjekts sowie das Recht auf ein individuelles Selbstverständnis, das nicht auf gesellschaftlich vordefinierten Rollen, sondern auf den eigenen Gefühlen basiert.14 Dieses Ideal der Aufrichtigkeit wird ab Mitte des 18. Jahrhunderts von einem vielstimmigen Authentizitätsdiskurs abgelöst, der durch Pietismus, Aufklärung und Frühromantik geprägt ist. Maßgebend ist nun die Vor-

10 | Vgl. Röttgers, K./Fabian, R.: Authentisch. 11 | Vgl. Saupe, A.: Authentizität, S. 180 ff.; vgl. Saupe, A.: Authentizität, Version 2.0. 12 | Knaller, S./Müller, H.: Authentizität und kein Ende, S. 7. 13 | Knaller, S.: Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs, S. 26. 14 | Vgl. ebd.

92 | Die »Aura« des Originals im Museum

stellung, dass jeder Mensch eine ihm eigene Persönlichkeit hat, die sein Handeln bestimmt. Aufgegriffen werden diese Ideen später erneut um 1900 durch die Lebensreformbewegung.15 Weiterentwickelt wurde der philosophische Diskurs über Authentizität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich von Vertretern des Existenzialismus wie Martin Heidegger (1889-1976) und Jean-Paul Sartre (19051980). Für Heidegger sind Menschen dann authentisch, wenn sie für sich entscheiden, was es bedeutet, ein Mensch zu sein und ihre Existenz dementsprechend ausrichten. Nicht-authentisch bleiben alle jene, die sich dieser Entscheidung nicht stellen. Bei Sartre umfasst Authentizität die Übernahme von Verantwortung für die eigene Existenz. Verantwortungsvoll handeln heißt nach Sartre, Begebenheiten nicht als gegeben hinzunehmen, sondern sich darum zu bemühen, das, was man vorfindet, in Übereinstimmung mit den eigenen Wertvorstellungen zu verändern. Den Vorstellungen von Heidegger und Sartre ist gemein, dass Authentizität den Akt der Aneignung und die Akzeptanz der eigenen Existenz als endliches Wesen umfasst, das durch sein authentisches Handeln die Welt in einer bestimmten Art und Weise formen kann.16 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden normative Theorien der Authentizität, die die Widersprüche zwischen authentischer Selbstverwirklichung und moralischer Selbstbestimmung thematisieren. Entwickelt wurden derartige Ansätze beispielsweise von Jürgen Habermas, Charles Taylor und Alessandro Ferrara.17 Bei Habermas ist die Fähigkeit zur authentischen Selbstbestimmung zusammen mit der Fähigkeit zur moralischen Willensbildung Voraussetzung für das Gelingen moralischer Diskurse. Problematisch an Habermas’ Ansatz ist der darin liegende Zirkelschluss: Die Teilnehmenden können sich nur in den Diskursen der Authentizität ihrer Beiträge versichern, während die Authentizität der Beiträge zugleich Grundlage für ihre Teilnahme am Diskurs ist.18 »Die aus der Alltagspraxis erwachsenen Rezeptionshaltungen setzen voraus, was erst in ihnen gewonnen werden sollte: Authentizität.«19 Die Vorstellung einer Ethik der Authentizität, die im Rahmen der Forderung nach Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit sowie nach der Kongruenz von politischer Ideologie und politischem Handeln nicht nur im linksalternativen Milieu der 1960er Jahre großen Anklang gefunden hatte, geriet aufgrund dieser Wider-

15 | Vgl. Saupe, A.: Authentizität, S. 181. 16 | Vgl. Baugh, B.: Authenticity Revisited, S. 478 f. 17 | Vgl. Knaller, S./Müller, H.: Authentizität und kein Ende, S. 11. 18 | Vgl. Parthe, E.-M.: Authentisch leben?, S. 226 ff. 19 | Noetzel, T.: Authentizität als politisches Problem, S. 103.

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sprüchlichkeiten bereits in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend in Kritik. Eine wichtige Rolle spielte hierbei auch der Diskurs um den Tod des Autors, in dem französische (Post-)Strukturalisten wie Roland Barthes und Michel Foucault für einen performativen Autorenbegriff eintraten, der auf der Vorstellung basiert, dass Texte in den unterschiedlichen Situationen, in denen sie sich manifestieren, keinen einheitlichen, vom Autor bzw. der Autorin festgelegten Sinn haben können und deren Interpretation entsprechend keinen Akt der Hermeneutik, sondern einen Akt der Performanz darstelle.20 Seit diesem performative turn wird Authentizität nicht mehr als immanenter Bestandteil eines Subjekts oder Objekts, das von diesem nicht beeinflusst werden kann, verstanden. Im performativen Verständnis kann Authentizität stattdessen »nur mehr als Resultat spezieller Darbietungsformen des individuellen und künstlerischen Selbstverständnisses aufgefasst werden«.21 Wenn der Sinn eines Werks aber nicht werkimmanent ist, so wird die Frage nach Authentizität insofern redundant, als dass die Unterscheidung zwischen echt und unecht, zwischen real und unwirklich nur auf der subjektiven Wahrnehmung des rezipierenden Subjekts beruht. In der medialen Massengesellschaft entsteht laut Jean Baudrillard eine Hyperrealität, eine Welt ohne Ursprung, in der das ›Echte‹ nicht länger Gegensatz der Simulation ist.22 Authentizität offenbart sich in der Gegenwart also als vielschichtiges Konstrukt, dessen unterschiedliche Formen im Folgenden im Anschluss an Susanne Knaller und Achim Saupe erläutert werden sollen.

5.2 FORMEN

VON

AUTHENTIZITÄT

Laut Knaller wird Authentizität entweder auf Objekte in Form von Darstellungen oder Ausführungen oder aber auf Subjekte bezogen, weshalb sie zwischen Objektund Subjektauthentizität unterscheidet. »Objektauthentizität resultiert zumeist aus der Rückführbarkeit auf einen Urheber/eine Urheberin oder auf Zugehörigkeit. Sie ist nachweis- und garantierbar durch Institutionen oder Autoritäten, welche die Echtheit von Urheberschaft bzw. Zugehörigkeit autorisieren.«23 Der Begriff der Subjektauthentizität umfasst dagegen die »Vorstellung eines empirischen, gesellschaftlichen, psychologischen Subjekts, das Wahrhaftigkeit auszeichnet«. Ein Individu-

20 | Vgl. Funk, W./Krämer, L.: Fiktionen von Wirklichkeit, S. 10. 21 | Ebd. 22 | Vgl. Lane, R. J.: Jean Baudrillard, S. 86. 23 | Knaller, S.: Ein Wort aus der Fremde, S. 8 f.

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um gilt dann als authentisch, wenn »mediale Selbstdarstellung und Kommunikation [...] idealerweise den biografischen, psychologischen und physischen Besonderheiten« entsprechen, wobei diese Zuschreibungen im Gegensatz zur Objektauthentizität i.d.R. nicht auf allgemeingültigen oder einfach zu überprüfenden Grundlagen beruhen.24 Den Bereich der Objektauthentizität unterteilt Knaller in zwei weitere Kategorien: Zunächst nennt sie hier die Referenzauthentizität, die das Ergebnis von »(Fremd)verweisen und -bezügen auf autorisierende Instanzen wie Autor/in, Künstler/in, Institution und Wirklichkeit« ist.25 Davon grenzt sie die Kunstauthentizität ab, die »über den empirischen Authentizitätsbegriff hinaus« geht und »erst mit der institutionalisierten Autonomiesetzung des Kunstwerks konzipierbar« wird.26 Diese Sonderform der Objektauthentizität »basiert auf Wertzuschreibungen durch institutionelle Urteile und ist zugleich auf Selbstverweisen (Selbstreferentialität) gegründet«.27 In Anlehnung an Knallers Terminologie unterscheidet Saupe materiale und personale Formen der Authentizität. Von materialer Authentizität spricht man, wenn Authentizität als Ergebnis einer Zuschreibung verstanden wird. Personale Authentizität bezeichnet dagegen die authentische Verkörperung des Selbst.28 Ebenso wie Knaller versteht Saupe Authentizität nicht als intrinsische Qualität eines Gegenstands oder einer Person, sondern als Ergebnis einer Zuschreibung. Für die vorliegende Arbeit ist von den beschriebenen Formen v.a. die der Objektauthentizität von Bedeutung. Unter den Begriff der Objektauthentizität fallen im historischen Bereich alle jene Ausprägungen der Authentizität, die sich auf die materiellen Qualitäten eines Objekts beziehen. Authentizität ist dabei das Ergebnis einer Überprüfung der Echtheit des jeweiligen Gegenstands. Basiert die Einschätzung der Authentizität eines Gegenstands vornehmlich auf »wissenschaftlichen Überprüfungsverfahren und eingeübten Praktiken etwa der gerichtlichen, technischen oder medizinischen Identitätsfeststellung«, lässt sich in Anlehnung an Achim Saupe von Authentifizierung sprechen. Gemeint sind damit nicht nur naturwissenschaftliche Methoden der Echtheitsbestimmung oder Datierung wie z.B. die C-14-Analyse oder Dendrochronologie, sondern auch die auf den Theorien und Methoden der Geschichts- und Nachbarwissenschaften beruhenden Verfahren, mit denen ein historisches Relikt einem bestimmten Zeitabschnitt bzw. einem bestimmten Ereignis,

24 | Ebd., S. 22. 25 | Ebd., S. 21. 26 | Ebd., S. 9. 27 | Ebd., S. 22. 28 | Vgl. Saupe, A.: Authentizität, Version 2.0.

5 Die Authentizität des Originalen | 95

einer Person, einer Kultur oder einem Ort zugeordnet werden kann.29 Im Vordergrund steht dabei immer die Genuinität eines Objektes, das einen Echtheitstest in Bezug auf seine Herkunft und seine Herstellung sowie die Intentionen der Macher bestehen muss: »An authentic historical object or building is thus one that is true to its origins in terms of its date, material, form, authorship, workmanship and, in many cases, its primary context and use.«30 Saupe unterscheidet davon den Modus der Authentisierung, wenn Überprüfungen der Echtheit auf »eingeübten Rhetoriken und gesellschaftlich verankerten Mustern und Ritualen der Echtheitszuschreibung« gründen.31 Beispiele für solche Praktiken der Authentisierung möchte ich im folgenden Abschnitt geben. Authentisierung am Beispiel der Religion Der Akt des Authentisierens ist eng verbunden mit dem mittelalterlichen Verständnis von Reliquien. Saupe unterscheidet drei Klassen von Reliquien. Reliquien erster Klasse sind demnach Knochen, Präparate und Blutreliquien wie der »Leichnam von Heiligen oder Teile davon«.32 Zu den Reliquien zweiter Klasse rechnet er die Berührungsreliquien, also »Gegenstände, die Heilige berührt haben sollen«, wozu auch Werkzeuge gehören, »mit denen Heilige während ihres Martyriums gefoltert wurden«.33 Die Reliquien dritter Klasse, die Devotionalien, sind »Gegenstände, die Reliquien erster Klasse berührt haben sollen«.34 Im traditionellen Reliquienkult waren dies kleine Papier- oder Stoffquadrate, die für kurze Zeit auf die Reliquie gelegt wurden. Um die Echtheit der Reliquien zu bekräftigen, erhielten die Reliquien darüber hinaus sogenannte Authentiken. Dabei handelte es sich in der Regel um kleine Pergament- oder Papierstückchen, auf denen der Name des oder der entsprechenden Heiligen verzeichnet wurde. Weiterhin versuchte man, durch die Verzierung der Reliquien und des Reliquienbehälters sowie die Visualisierung der Heiligenvita ein »Kraftfeld der Echtheit« um den Reliquar zu erzeugen. Die Reliquare sollten auf diese Weise allein durch »ihr Erscheinungsbild jeden Zweifel an der Echtheit

29 | Vgl. Saupe, A.: Authentizität, S. 181. 30 | Jones, S.: Negotiating Authentic Objects and Authentic Selves, S. 184. 31 | Sabrow, M./Saupe, A.: Historische Authentizität, S. 10. 32 | Saupe, A.: Berührungsreliquien, S. 50. 33 | Ebd., S. 51. 34 | Ebd., S. 53.

96 | Die »Aura« des Originals im Museum

ihres Inhalts im Keim ersticken«.35 Die im Vergleich meist unscheinbaren Reliquien wurden auf diese Weise in den Status anziehender Objekte erhoben. Eine ähnliche Funktion erfüllt im orthodoxen Christentum das Bildwerk, bei dem die Knochen der Heiligen auf Tafeln mit deren Namen befestigt oder mit ikonischen Darstellungen ummantelt werden.36 Im Ikonenkult verweisen die Bilder auf die ontologische Beziehung zwischen Abbild und Original. Entscheidend ist dabei die richtige Darstellung des Heiligen, damit aus dem Bild ein selbsterklärendes, authentisches Porträt des Heiligen wird, das Wunder vollbringen kann.37 Neben den eigentlichen Reliquien, die man durch die Zugabe von Texten und Bildern zu authentisieren suchte, gibt es noch Bilder und Texte, die sich selbst wie Reliquien verhalten, z.B. Kultbilder, das Tuchbild Christi oder die Heilige Schrift. Martin Andree hat diese Kultelemente als Archeiropoietai bezeichnet, als Zeichen, welche vorgeben, nicht von Menschenhand geschaffen zu sein. Sie sind damit im etymologischen Sinne auto-entes, also selbstvollendet und authentisch.38 Die Archeiropoietai markieren nach Andree ein Extrem auf der Skala der Authentizität. Als unmittelbarer Ausdruck des Göttlichen repräsentierten sie nicht nur die Vorstellung totaler Autorisierung und totaler Authentizität, sondern auch die Vorstellung absoluter Wahrhaftigkeit. Autorisiert und mystifiziert werden die Archeiropoietai, indem sie z.B. berühmten Autoren zugeschrieben oder Legenden um ihre Auffindung konstruiert werden und der Wortlaut ihrer Wiedergabe durch Kanonformeln festgelegt wird.39 Zweck dieser Methoden der Textauthentisierung ist es, »die Herkunft des Texts aus einem Akt menschlicher Fabrikation zu verleugnen«.40 Authentifizierung in den Geschichtswissenschaften und in der Archäologie Das historisch autorisierte Schrifttum der Vormoderne zeichnete sich dadurch aus, dass es sich aus als zuverlässig erachteten Quellen wie der Heiligen Schrift ableitete, die sich selbst als ›Aus-Fluss‹ eines ›wahren Traditionsstroms‹ definiert. Diese Metapher der Quelle als Fluss des wahren Wissens, der angezapft werden kann, findet

35 | Laube, S.: Authentizität – in Szene gesetzt und in Frage gestellt, S. 64 ff. 36 | Vgl. Andree, M.: Archäologie der Medienwirkung, S. 443 f. 37 | Vgl. Belting, H.: Bild und Kult, S. 60 f. 38 | Vgl. Andree, M.: Archäologie der Medienwirkung, S. 446. 39 | Vgl. ebd., S. 448 f. 40 | Ebd., S. 450 f.

5 Die Authentizität des Originalen | 97

sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch in der Geschichtswissenschaft wieder.41 Dort stehen im Gegensatz zu den Naturwissenschaften nicht Wiederholbarkeit und allgemeine Gesetzmäßigkeiten im Vordergrund. Stattdessen geht es in der Geschichtswissenschaft um »das Verstehen und Erfassen eines Ereignisses, einer Persönlichkeit in ihrer Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit«.42 Vor diesem Hintergrund ist jegliches Denken immer historisch und historisches Verstehen ist wiederum verbunden mit einem hermeneutischen Prozess des Einfühlens und Nachvollziehens der Handlungsintentionen anderer Menschen. Die Authentizität fungiert dabei als Glaubwürdigkeitsgarant, der die Verallgemeinerung der abgeleiteten Erkenntnisse zulässt. Zugleich ergibt sich daraus ein grundlegendes Problem: Um die Authentizität einer Sache beglaubigen zu können, muss das Medium der Authentizitätsüberprüfung selbst glaubwürdig, also authentisiert sein. Die historischen Wissenschaften versuchen diesem Problem mit der Methode der Quellenkritik als Mittel der Authentifizierung zu begegnen.43 Zurückgeführt werden kann dieser Ansatz auf Johann Gustav Droysen (1808-1884), der die »Kritik der Aechtheit [sic!]«, also die Abklärung der Frage, ob es sich bei dem historischen Material wirklich um das handelt, wofür es gehalten wird, zur Grundbedingung seiner historischen Methode und der darauf aufbauenden Analyseschritte der »Kritik des Früheren« und »Kritik des Richtigen« machte. Hauptaufgabe der historischen Methode ist es nach Ernst Bernheim (1850-1942), »die Tatsächlichkeit der überlieferten Begebenheiten festzustellen, d.h. gewiß zu machen, daß dieselben wirklich geschehen sind«. 44 Auf welche Gegenstände sich die Quellenkritik richtet, ist dabei in den Geschichtswissenschaften z.T. sehr unterschiedlich definiert worden. Laut Paul Kirn sind Quellen »alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann«. Er unterscheidet dabei schriftliche Quellen wie Akten, Urkunden, Biografien oder Historiografien, gegenständliche Quellen wie Hausrat oder Bilder, aber auch Bauwerke und ›Tatsachen‹ wie Institutionen, gesellschaftliche Vereinigungen oder Bräuche.45 Eine allgemeinere Definition hat Bernheim im Anschluss an Droysen vorgelegt. Bernheim unterscheidet zwischen Überrestenund Traditionen:

41 | Vgl. ebd., S. 468. 42 | Boshof, E./Düwell, K./Kloft, H.: Grundlagen des Studiums der Geschichte, S. 7. 43 | Vgl. Tschirner, U.: Museum, Photographie und Reproduktion, S. 266. 44 | Bernheim, E.: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, S. 185. 45 | Kirn, P./Leuschner, J.: Einführung in die Geschichtswissenschaft, S. 29.

98 | Die »Aura« des Originals im Museum »[. . . ] alles, was unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben und vorhanden ist, nennen wir Überreste; alles was mittelbar von den Begebenheiten überliefert ist, hindurchgegangen und wiedergegeben durch menschliche Auffassung, nennen wir Tradition.«46

Die Überreste unterteilt Bernheim in Überbleibsel als »Überreste im engeren Sinne [. . . ], welche ohne jede Absicht auf Erinnerung und Nachwelt nur übriggebliebene Teile der Begebenheiten und menschlichen Betätigungen sind« und in Denkmäler, »welchen die Absicht innewohnt, Begebenheiten für die Erinnerung näher oder ferner speziell dafür Interessierter aufzubewahren«.47 Zu den Überbleibseln zählt Bernheim u.a. menschliche Überreste, Abfallmaterial sowie technische Geräte und andere Gebrauchsgegenstände, aber auch Sprache, Sitten, Gebräuche und Institutionen. Zu den Denkmälern rechnet er Urkunden, tatsächliche Denkmäler und Monumente oder Grabinschriften sowie Ereignisse wie Gedenktage. Neben den Überresten steht laut Bernheim der Bereich der Geschichtswissenschaft!Tradition: »Die Tradition verfolgt durchweg, wenn auch in verschiedenem Grade, direkt die Absicht, die Erinnerung der Begebenheiten zu erhalten, will geradezu historisches Material sein.«48 Die Tradition gliedert Bernheim weiter in bildliche, mündliche und schriftliche Tradition.49 Bernheims Unterteilung hat in der Geschichtswissenschaft weit bis ins 20. Jahrhundert hinein große Bedeutung gehabt. Problematisch an seiner Klassifikation ist jedoch, dass er die Gruppe der Denkmäler – seiner eigenen Definition widersprechend – im Bereich der Überreste und nicht im Bereich der Tradition verortet. Der Prähistoriker Manfred Eggert hat daher eine modifizierte Einteilung vorgeschlagen, bei der er die beiden Kategorien in schriftliche Überreste und Traditionen und nichtschriftliche Überreste und Traditionen aufteilt.50 Die nichtschriftlichen Überreste bezeichnet Eggert auch als urgeschichtliche bzw. paläohistorische Quellen, da sie das Hauptquellenmaterial der Ur- und Frühgeschichte darstellen. Die Archäologie hat dabei gegenüber der Geschichtswissenschaft scheinbar den Vorteil, dass die ihr im Bernheim’schen Verständnis unmittelbar zur Verfügung stehenden Überreste unverfälscht entgegentreten und nur von den Archäologinnen und Archäologen zum

46 | Bernheim, E.: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, S. 255 f. 47 | Ebd., S. 256. 48 | Ebd., S. 257. 49 | Vgl. ebd. 50 | Vgl. Eggert, M.K.H.: Prähistorische Archäologie, S. 45 ff.

5 Die Authentizität des Originalen | 99

›Sprechen gebracht‹ werden müssen. Diese Perspektive vernachlässigt aber, dass sich der Quellencharakter und damit die wissenschaftliche Bedeutung der Überreste nicht aus diesen selbst ergeben, sondern aus einem wissenschaftlichen Bezugsrahmen, in dem sie verortet werden. Selbst archäologische Funde sind nicht unmittelbar und natürlich authentisch, weil der Kontext, in dem sie ausgegraben werden, nicht der originale Kontext ist: »There is no ›archaeological record‹ as such. What is found becomes authentic and valuable because it is set by choice in a new and separate environment with its own order and its own temporality – the time coordinates of the discipline archaeology which gives the object its date.«51

Eine wichtige Rolle bei der Verortung im wissenschaftlichen Kontext und den darauf aufbauenden Prozessen der Authentifizierung spielt in den historischen Disziplinen die Provenienzforschung. Die Provenienz, d.h. die Zugehörigkeit eines Objekts zu einem bestimmten Ort oder einer Person zu einer bestimmten Zeit, wird meist anhand von Eigentumsnachweisen belegt.52 Die lückenlose Zurückverfolgung auf den Ursprung stellt dabei jedoch die Ausnahme dar. Weiterhin berührt die Frage nach der Provenienz auch den Bereich der Authentisierung, da im Zuge der Provenienzforschung ein Objekt auch nach sozialen und kulturellen Kriterien beurteilt wird. So wird beispielsweise geprüft, ob es sich bei einem Kunstwerk um Raubkunst handelt oder inwieweit sich ein Objekt als Zeitzeuge für eine historische Darstellung eignet.53 In der Archäologie ist es meist die Provenienz über den Fundort, die als relativ sicherer Beleg für die Authentizität eines Funds gewertet wird. Diese Interpretation beruht aber nicht auf dem Wissen über den Fundkontext, sondern auch auf mehr oder weniger expliziten Vorstellungen darüber, wie das Objekt an den Fundort gelangt ist.54 In der Archäologie haben auch die an einem Ausgrabungsprojekt beteiligten Personen, das angewandte Werkzeug und der allgemeine sozio-kulturelle Kontext der Forschung einen großen Einfluss auf die spätere Interpretation.55 Eine große Rolle

51 | Shanks, M.: Experiencing the past, S. 83. 52 | Vgl. Ebert, A./Saalmann, T.: Provenienzforschung und Authentizität, S. 61. 53 | Vgl. ebd., S. 65. 54 | Vgl. Joyce, R.: When is Authentic?, S. 46. 55 | Vgl. Edgeworth, M.: Multiple Origins, Development and Potential of Ethnographies of Archaeology, S. 3.

100 | Die »Aura« des Originals im Museum

kommt ferner der Illustration von Funden und Befunden zu, die eine Art Vermittlerrolle zwischen den in der Ausgrabung genutzten ›Mechanismen der Zerstörung‹ und den daran anschließenden ›Mechanismen der Bewahrung‹ einnehmen.56 Auch im öffentlichen Diskurs werden die während des Forschungsprozesses angefertigten Bilder zur Veranschaulichung von Fakten genutzt und haben hier eine authentisierende Funktion. Die große Rolle, die dem Zeichnen und Beschreiben von Funden und Befunden in der archäologischen Ausbildung zukommt, steht dabei in einem großen Missverhältnis zu der mangelnden kritischen Reflexion der Dokumentations- und Vermittlungspraktiken in der archäologischen Forschung.57 Ähnlich wie die im vorherigen Abschnitt beschriebenen Reliquien und Archeiropoietai, erscheinen die archäologischen Funde so als unmittelbar authentisch. Auch die sprachliche Aufbereitung kann hier große Auswirkungen haben, beispielsweise wenn die Handlungen menschlicher Akteure durch die Verwendung von Passivkonstruktionen oder das Herausstellen von historischen Objekten als Akteuren entweder ausgeschlossen oder in den Hintergrund gerückt werden.58 In vielen wissenschaftlichen Texten wird nicht explizit auf Personen eingegangen, die an Interpretationen der Überreste beteiligt waren bzw. deren Handlungen zu den aus den Quellen abgeleiteten Erkenntnissen geführt haben. Indem die Quellen in wissenschaftlichen Texten als Akteure dargestellt werden, werden die an der Hervorbringung der Fakten beteiligten Menschen in den Hintergrund gedrängt und die Quellen erscheinen als Zeitzeugen, die für die Wahrheit der präsentierten Fakten stehen. Die oben beschriebenen Formen der Authentisierung gibt es auch in Museumsausstellungen. Dort ist für die Besucherinnen und Besucher oft nicht ersichtlich, mit welchen Methoden die dort als authentisch präsentierten Objekte authentifiziert wurden. Da die eigentlichen Authentifizierungsprozesse unsichtbar sind, wird die Darstellung der Vergangenheit zu einer Wahrheit, die nicht hinterfragt werden kann. Anthony Shelton hat dies als ›Mystifizierung‹ beschrieben: »By mystifying the source of knowledge, by displacing it from the site of its social production and identifying it as natural or even divine, knowledge is held to be discovered and not

56 | Vgl. Bateman, J.: Pictures, Ideas and Things, S. 68 f. 57 | Vgl. James, S.: Drawing inferences, S. 24; vgl. Moser, S./Smiles, S.: Introduction: The Image in Question, S. 6. 58 | Der Sprach- und Medienwissenschaftler Theo van Leeuwen hat diese Formen der Rekontextualisierung in Texten als supression und backgrounding bezeichnet; vgl. van Leeuwen, T.: Discourse and Practice, S. 29.

5 Die Authentizität des Originalen | 101

to be produced.«59 Ähnlich wie beim Kunst- und Antiquitätenmarkt beruht auch die Authentifizierung historischer Originale zu einem großen Teil auf der Glaubwürdigkeit der Aussagen von Expertinnen und Experten, die für einen Großteil des Publikums nicht ohne die Authentisierung dieser Aussagen nachvollziehbar wäre. Entscheidend sind dabei weniger die an die materiellen Eigenschaften der Überreste gebundenen Techniken der Authentifizierung, wie z.B. naturwissenschaftliche Verfahren, sondern oftmals Zuschreibungen, die auf ›weicheren‹ Kriterien wie relativen Chronologien oder Typologien beruhen.60 Die Grundlagen der Objektauthentizität sind also verhandelbar und ergeben sich nicht intrinsisch aus den materiellen Qualitäten der historischen Originale. Die historische Konzeption von Authentizität ist damit ebenfalls eine gesellschaftlichen Prozessen unterworfene Kategorie, die im nächsten Abschnitt in ihrer Entwicklung dargestellt werden soll.

59 | Shelton, A.: In the lair of the monkey, S. 81. 60 | Vgl. Holtorf, C./Schadla-Hall, T.: Age as Artefact, S. 232 ff.

6 Die Entwicklung von Authentizität als historische Kategorie

Trotz der großen Bedeutung, die das Konzept der Authentizität für die moderne wissenschaftliche Erforschung der Vergangenheit hat, ist das Verständnis von Authentizität als historische Kategorie erst seit dem 18. und 19. Jahrhundert in den geschichtswissenschaftlichen Disziplinen verbreitet.1 Noch im 16. Jahrhundert unterschied man beim Sammeln der Überreste der Vergangenheit nicht zwischen Artefakten natürlichen und menschlichen Ursprungs. So wurden in den Kunst- und Wunderkammern dieser Zeit Kuriositäten natürlichen und menschlichen Ursprungs gleichberechtigt nebeneinander gezeigt (vgl. dazu auch Kapitel 7.1).2 Einen entscheidenden Beitrag zur Etablierung von Authentizität als historische Kategorie leistete Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), der mit seiner Arbeit zugleich die Grundlagen für die moderne Altertumsforschung legte. Durch sein Lob der Originalität und Eigenständigkeit der griechischen Kunst der Antike hat Winckelmann entscheidend zum Verständnis einer qualitativen Differenzierung zwischen Original und Nachahmung beigetragen. Im Folgenden soll näher auf Winckelmanns Werk und die darin entworfene Konzeption von Originalität und Authentizität eingegangen werden, bevor im Anschluss daran die weitere Entwicklung des Authentizitätsbegriffs in der Altertumswissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert am Beispiel der Denkmalpflege und des Kulturtourismus aufgezeigt wird.

1 | Vgl. Pirker, E.U./Rüdiger, M.: Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen: Annäherungen, S. 15 f. 2 | Vgl. Trigger, B.G.: A History of Archaeological Thought, S. 85.

104 | Die »Aura« des Originals im Museum

6.1 AUTHENTIZITÄT

IN DER

ALTERTUMSKUNDE

Ausführlich geäußert hat sich Winckelmann zum Originalbegriff erstmals in seiner Studie Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755): »Der einzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.«3 Im Gegensatz zu Young ist Originalität bei Winckelmann dabei kein Gegensatz der Nachahmung. Aus seiner Sicht muss die antike Kunst nachgeahmt werden, weil sie Ausdruck des Schönen in der Natur ist. Da die Natur, so Winckelmann, wegen zivilisatorischer und gesellschaftlicher Entwicklungen als Vorbild in der Gegenwart nicht mehr zur Verfügung stehe, sei die Schönheit nur noch in Form griechischer Kunstwerke erreichbar. Winckelmann schreibt damit gegen den zu seiner Zeit vorherrschenden Geschmack der Barock- und Rokoko-Kunst an und fordert eine neue Kunstsprache, deren Originalität in ihrer Eigenschaft als ›zweite Natur‹ gewährleistet sei und die eine neue Renaissance der griechischen Antike einleiten soll.4 »Der unmittelbare Adressat von Winckelmanns Nachahmungs-Studie ist der moderne Künstler, der nur durch die Nachahmung der Alten deren Größe erreichen kann.«5 Ermöglicht werden solle dies durch die Einfuhr von dem guten Geschmack entsprechenden Kunstwerken. Prägend waren für Winckelmann hier u.a. Erfahrungen aus seiner Zeit als Bibliothekar in Dresden, wo Kurfürst August der Starke (1670-1733) durch die Gründung der Dresdner Galerie und der Antikensammlung umfangreiche Kunstschätze angehäuft hatte. Diese neuen Sammlungen waren Ausdruck einer neuen Tradition der Kunstbetrachtung, bei der im Gegensatz zu den traditionellen fürstlichen Schatzkammern nicht mehr ausschließlich die Machtdemonstration im Vordergrund stand. Kunstsammlungen, wie Winckelmann sie forderte, sollten nicht den individuellen Geschmack eines Fürsten widerspiegeln, sondern objektiven Kriterien folgen. Da das Geschmacksurteil gleichzeitig in einem normativen Anspruch gegründet sein sollte, widersprach dies aber nicht dem Prinzip einer empathischen Betrachtung von Kunst.6 Eine derartige, für seine Zeit innovative, Beschreibung antiker Kunstwerke, die sich nicht auf das Buchwissen von Antiquaren, sondern auf die Unmittelbarkeit der eigenen Begegnung und des Augenblicks verlässt, lieferte Winckelmann

3 | Zitiert nach Radnóti, S.: Originalität/Authentizität bei Winckelmann, S. 209. 4 | Vgl. ebd., S. 211. 5 | Ebd., S. 213. 6 | Vgl. ebd., S. 215 f.

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in seiner Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste (1759).7 Dort beschreibt er die berühmtesten im Cortile del Belvedere im Vatikan ausgestellten Statuen, die er als Ausdruck vollendeter Bildhauerei ansah, darunter den Apollo von Belvedere (120-140 n. Chr.) sowie den sogenannten Torso vom Belvedere aus dem 1. Jh. v. Chr. Wahrscheinlich begann Winckelmann bereits kurz nach seinem Eintreffen in Rom im Jahr 1755, spätestens aber im Winter 1755/56, mit den Arbeiten an den Statuen im Belvedere. Während es sich bei den Vorarbeiten noch hauptsächlich um Exzerpte aus der Sekundärliteratur handelt, ergänzte Winckelmann diese im Frühjahr 1756 mit Einzelbeschreibungen der Statuen, bei denen er versuchte, den Erhaltungszustand der Statuen festzuhalten und ausgehend von der Kunstbetrachtung zu einer ikonographischen Deutung der Skulpturen gelangte. Diese archäologischen Beschreibungen wurden von Winckelmann jedoch erst einige Jahre später veröffentlicht, da er den historischen Ursprung der Statuen nicht überzeugend hatte klären können.8 Von den veröffentlichten Beschreibungen stechen vor allem die des Apollo und des Torsos hervor. Insbesondere bei der Beschreibung des Torsos vom Belvedere (Abbildung 1), einer Statue aus Marmor, von der sich nur der Rumpf und die Oberschenkel erhalten haben, versucht Winckelmann, den Lesenden die Wirkung der schönen Formen vor Augen zu führen und stellt darauf aufbauend eine Beziehung zur Mythologie der Antike her: »Ich kann das wenige, was von der Schulter noch zu sehen ist, nicht betrachten, ohne mich zu erinnern, daß auf ihrer ausgebreiteten Stärke, wie auf zwei Gebirgen, die ganze Last der himmlischen Kreise geruht hat. Mit was für einer Großheit wächst die Brust an, und wie prächtig ist die anhebende Rundung ihres Gewölbes! Eine solche Brust muß diejenige gewesen sein, auf welcher der Riese Antäus und der dreileibige Geryon erdrückt wurden. Keine Brust eines drei- und viermal gekrönten olympischen Siegers, keine Brust eines spartanischen Kriegers, von Helden geboren, muß sich so prächtig und erhoben gezeigt haben.«910

Diese enthusiastische Beschreibung des Torsos durch Winckelmann wurde von Zeitgenossen wie Johann Gottfried Herder (1744-1803) oder Christoph Martin Wieland (1733-1813) teilweise heftig kritisiert und als ›Schwärmerei‹ bezeichnet, womit im

7 | Vgl. Adam, W.: Kanon und Generation, S. 436. 8 | Vgl. Kunze, M.: Winckelmanns Beschreibungen der Statuen im Belvedere-Hof im Lichte des Florentiner Nachlaßheftes, S. 433 f. 9 | Winckelmann, J.J.: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. 10 | Winckelmann, J.J.: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom.

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Abbildung 1: Torso von Belvedere in den Vatikanischen Museen

Verständnis des 18. Jahrhunderts auch Tollheit oder leere Einbildung gemeint sein konnten.11 Gleichzeitig stand Winckelmann mit seiner Verehrung des Torsos in seiner fragmentarischen Form in einer Tradition, die sich bis in die Renaissance zurückverfolgen lässt. Künstler wie Michelangelo (1475-1564) oder Rubens suchten den Torso auf, um dort ihre Studien im Angesicht der Antike durchzuführen. Angeblich weigerte sich Michelangelo sogar, dem Wunsch des Papstes nach einer Vervollständigung des Torsos nachzukommen, weil er in der Unvollkommenheit des Torsos das Schönheitsideal der Antike realisiert sah. Moderne Künstler wie Auguste Rodin (1814-1917) knüpften später an diese Ästhetik des Unvollständigen als Ausdruck von Perfektion und Vollkommenheit an, indem sie Figuren schufen, die von vornherein als Torsi angelegt waren. Winckelmanns Auffassung der Antike unterschied sich bei allen Parallelen aber auch von der der Renaissance. Er war nicht an einer kontinuierlichen Tradition von der Antike bis in die Gegenwart interessiert, sondern brach mit dieser, indem er das Altertum in seiner Geschichte der Kunst des Altertums (1764) nicht nach Künstlern, sondern nach Stilen gliederte und die Kunstwerke damit historisierte.12 Winckelmann lieferte daher nicht nur akribische Beschreibungen

11 | Vgl. Kunze, M.: Winckelmanns Beschreibungen der Statuen im Belvedere-Hof im Lichte des Florentiner Nachlaßheftes, S. 431. 12 | Vgl. Radnóti, S.: Originalität/Authentizität bei Winckelmann, S. 219 ff.

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einzelner antiker Kunstwerke, sondern erstellte auf Basis dieser Beschreibungen eine erste Periodisierung griechischer und römischer Skulpturen und Plastiken, deren Ursprung er anhand stilistischer Merkmale ermittelte. Zusätzlich diskutierte er mögliche Einflüsse auf die Entwicklung der klassischen Bildhauerkunst wie z.B. soziale oder ökologische Faktoren. Ähnlich wie Giambattista Vico (1668-1744) sah Winckelmann in der von ihm postulierten stilistischen Abfolge einen Zyklus von kultureller Entwicklung und Verfall. Die römischen Kunstwerke betrachtete er dabei als reine Nachahmungen der griechischen Vorbilder. Paradoxerweise stützte sich Winckelmann bei seiner Einteilung, ohne es zu wissen, vorwiegend auf griechisch-römische und kaiserzeitliche Kopien der von ihm bevorzugten klassischen Werke.13 Was Winckelmann mit seinem auf die ästhetischen Kriterien der Kunstbetrachtung gerichteten Fokus bewirkte, war eine Dekontextualisierung der von ihm behandelten Werke, die auf diese Weise zu Denkmälern für die jeweilige Epoche wurden, aus der sie stammten. Auch die Frage nach der Originalität des Kunstwerks verschob sich durch diese Dekontextualisierung vom Urheber auf das eigentliche Werk, dessen Originalität nicht mehr Ausdruck der Genialität eines schöpferischen Autors, sondern Zeuge einer historischen Epoche wurde: »Sie ist Erinnerung an die Vergangenheit, sie ist Zeuge, deswegen werden hier das Ursprüngliche, die Kunst als Geschichte, der Geist eines geschichtlichen Volkes betont. In der musealen Betrachtungsweise und in den Museen werden die Kunstwerke zu individuell verkörperten, visuellen Repräsentanten geistiger Inhalte.«14

Dieses neue Verständnis für die Historizität von antiken Kunstwerken spiegelte sich u.a. in den aufsehenerregenden Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeii wider, als im Auftrag des Königs von Neapel erstmals systematisch nach den Überresten der Vergangenheit gesucht wurde. Obwohl das Ziel dieser ersten Ausgrabungen zunächst nur im schnellen Zu-Tage-Fördern antiker Statuen und Kunstwerke bestand, begannen sich im Lauf der Zeit die beteiligten Ausgrabungsleiter wie Karl Weber (1712-1765) oder Francesco La Vega (1737-1804) intensiver mit den antiken Gebäuden an den Ausgrabungsorten zu befassen. Zeitgleich zu den Grabungen in Italien war das Interesse an baulichen Resten der Antike in Frankreich bereits seit dem späten 17. Jahrhundert gestiegen, da im Rahmen der Straßen- und Befestigungsbauten unter Ludwig XIV. (1638-1715) zahlreiche römische Ruinen entdeckt worden

13 | Vgl. ebd., S. 226. 14 | Ebd., S. 225.

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waren. Erstmals wurden dabei genaue Pläne dieser Bauten erstellt und teilweise auch die Fundorte herausragender Einzelfunde auf den Karten verzeichnet. Obwohl bei diesen Ausgrabungen nur in den seltensten Fällen eine stratigraphische Dokumentation erfolgte, stellen sie dennoch einen wichtigen Schritt hin zur modernen Archäologie dar. Im Gegensatz zu älteren Studien antiker Bauwerke standen nun nicht mehr die ästhetische Rekonstruktion und Interpretation, sondern die sorgfältige und systematische Dokumentation sowie in zunehmendem Maße auch die Konservierung der Architektur im Vordergrund.15 Auch Winckelmann nutzte die aufkommende Archäologie und wertete Ausgrabungen wie die in der Campagna aus. Sein Hauptinteresse galt dabei allerdings nicht der Rekonstruktion historischer Lebenswelten, sondern eher einer Ableitung der gesamten antiken Kultur aus den originalen Kunstwerken der Antike. Dementsprechend orientierte sich Winckelmann bei seiner Klassifikation nicht an wissenschaftlichen Kriterien.16 Wichtig war daher für ihn nicht so sehr der historische Kontext der Kunstwerke, sondern vielmehr das Originalitätserlebnis bei der Ausgrabung oder bei der Betrachtung der authentischen historischen Kunstwerke. Laut Sandor Radnóti wurden die Kunstwerke als Materialisierung geistiger Originalität Teil des kulturellen Gedächtnisses. Diejenigen Kunstwerke, die verschollen oder noch in der Erde vergraben waren, mussten »ins kulturelle Gedächtnis zurückgebracht, rekonstruiert, publiziert und ausgestellt werden«.17 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Winckelmanns Überlegungen der Ausgangspunkt für eine Hierarchie der Authentizität waren, bei der die Überreste vergangener Kulturen als Ausweis für deren kulturelle und künstlerische Eigenständigkeit dienten. Diese Auffassung von Authentizität ging einher mit der ästhetischen und moralischen Aufwertung historischer Kulturen wie die der Griechen gegenüber anderen, die als nachahmend und nicht-authentisch empfunden wurden. Authentizität wurde auf diese Weise nicht nur zu einer historischen, sondern auch zu einer moralischen Kategorie und im 19. Jahrhundert zum Kern der Suche nach dem Ursprung der neu entstehenden europäischen Nationalstaaten.18 Diese Sehnsucht findet ihren Niederschlag im Begriff des Altertums, der synonym zur Antike, Relikten und anderen Überbleibseln der Vergangenheit gebraucht wurde. Die

15 | Vgl. Trigger, B.G.: A History of Archaeological Thought, S. 59 f. 16 | Vgl. ebd., S. 57 f.; vgl. Radnóti, S.: Originalität/Authentizität bei Winckelmann, S. 226 f. 17 | Ebd., S. 229. 18 | Vgl. Rehling, A./Paulmann, J.: Historische Authentizität jenseits von ›Original‹ und ›Fälschung‹, S. 95 f.

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Altertümer – neben den sachlichen Überresten auch die Sprachaltertümer, wie sie beispielsweise von Grimm beschrieben wurden – fungierten dabei als Zeugnisse und Denkmäler des Geistes der Vergangenheit. Ihre Wertschätzung war nicht primär von wissenschaftlichem Interesse geprägt, sondern kann stattdessen als Teil eines Kompensationsprozesses im Rahmen der rasch voranschreitenden Industrialisierung und Modernisierung der Gesellschaft gesehen werden. Ihren Niederschlag findet diese Haltung auch in der Literatur, z.B. bei Adalbert Stifter (1805-1868), der 1841 das Erinnerungspotential der Dinge als Stabilitätsgarant gegen den »raschen Fluss der Zeit« hervorhob.19 Die Denkmäler der Vergangenheit wurden damit zum Gegenpol der Gegenwart und Zukunft und verbanden sich im Zuge der Moderne mit den Bereichen der Pflege von Tradition, Heimat und Geschichtsbewusstsein.20 Erst im Zuge der Modernisierungsprozesse, welche die Integrität des geistigen und materiellen Erbes zu ›gefährden‹ schienen, konstituierte sich nach Wolfgang Seidenspinner auch die »ausgesprochene Materialhaftigkeit der Denkmale« sowie die damit verbundene Dominanz der Originalsubstanz, wie sie besonders im Diskurs der Denkmalpflege des 20. Jahrhunderts ihren Niederschlag gefunden hat, wobei spätestens nach dem sogenannten ›Heidelberger Schlossstreit‹ die Maxime ›Konservieren statt Restaurieren‹ galt.21 Dass der Authentizitätsbegriff dabei stetigen Wandlungen unterworfen war und ist, soll ein historischer Abriss über die Geschichte des Begriffs in der Denkmalpflege zeigen.

6.2 DIE ROLLE VON AUTHENTIZITÄT IN DER D ENKMALPFLEGE Pioniere der modernen Denkmalpflege wie Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) und Eugène Emmanuel Viollet-de-Duc (1814-1879) waren die ersten, die auf die Notwendigkeit der Erhaltung antiker und historischer Baudenkmäler aufmerksam machten. Moderne Reparaturen sollten nur durchgeführt werden, wenn unbedingt notwendig, durften den Gesamteindruck nicht stören und mussten sich darüber hinaus von den authentischen Überresten unterscheiden.22 Im Zentrum der Denkmalpflege standen im 18. Jahrhundert dabei vorwiegend die Überreste der antiken Vergangen-

19 | Vgl. Seidenspinner, W.: Authentizität, S. 8. 20 | Vgl. ebd., S. 3. 21 | Vgl. ebd., S. 8 f. 22 | Vgl. Holtorf, C./Schadla-Hall, T.: Age as Artefact, S. 232.

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heit. Das Ziel lag im Gegensatz zur modernen Denkmalpflege nicht in der befundorientierten Dokumentation, sondern in der Konstruktion historischer Authentizität sowie in der zeichnerischen Rekonstruktion von antiken Ruinen als Landmarks der Vergangenheit.23 Erste systematische Ansätze für die Erhaltung und Bewahrung des kulturellen Erbes wurden erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bzw. im frühen 20. Jahrhundert entwickelt. Zu dieser Zeit entstanden mehrere Handreichungen zur Erhaltung historischer Bauten, in denen Authentizität und Echtheit als wichtige Merkmale identifiziert wurden.24 Hier sind besonders die Arbeiten von Alois Riegl (1857-1905) hervorzuheben, der in Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung (1903) eine Bedarfsanalyse für die Errichtung einer staatlichen Denkmalpflege anfertigte. Riegl prägte darin den Begriff des Alterswerts, worunter er nicht nur äußerliche Alterungsspuren, sondern auch die sinnhafte Geschichtlichkeit fasst: »Am frischen Menschenwerk stören uns die Erscheinungen des Vergehens [. . . ] ebenso wie am alten Menschenwerk Erscheinungen frischen Werdens [. . . ]. Jedes Menschenwerk wird hierbei aufgefaßt gleich einem natürlichen Organismus, in dessen Entwicklung niemand eingreifen darf; der Organismus soll sich frei ausleben und der Mensch darf ihn höchstens vor vorzeitigem Absterben bewahren.«25

Riegl unterscheidet dabei zwischen zwei Wertkategorien: Den Vergangenheits- und den Gegenwartswerten. Den Alterswert zählt er neben dem historischen Wert und dem gewollten Erinnerungswert zur Kategorie der Vergangenheitswerte. Zur zweiten Kategorie der Gegenwartswerte gehören laut Riegl der Gebrauchs- und der Kunstwert.26 Riegls Ansatz wurde von dem Italiener Cesare Brandi (1906-1988) weiter ausgearbeitet, der postulierte, dass sich jede denkmalpflegerische Intervention an zwei Grundsätze halten solle: Erstens solle jede Rekonstruktion als solche erkennbar sein, das Gesamtbild aber nicht stören; zweitens solle jede Rekonstruktion so ausgeführt werden, dass sie zukünftige Restaurierungsarbeiten nicht behindere.27 In ähnlicher Weise wie Riegl verwies auch John Ruskins (1819-1900), der ›Vater‹ der modernen Denkmalpflege, in The Seven Lamps of Architecture (1948) auf den histo-

23 | Vgl. Gisbertz, O.: Reproduzierte Originale und originale Reproduktionen, S. 64. 24 | Vgl. Odegaard, N./Cassman, V.: Authenticitation and Conservation in Archaeological Science, S. 703. 25 | Riegl, A.: Der moderne Denkmalkultus, S. 24. 26 | Vgl. Baro, H.: Spuren der Zeit, S. 125 f. 27 | Vgl. Odegaard, N./Cassman, V.: Authenticitation and Conservation in Archaeological Science, S. 705.

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rischen Wert von Altersspuren wie Staub und Schmutz. Ruskins bezeichnete sie als stains of time – als sichtbare Spuren des Alters und des Alterns – und erklärte sie zum integralen Bestandteil der Baugeschichte von historischen Gebäuden. Eine Restaurierung von Baudenkmälern lehnte Ruskin vollständig ab, weil sie die Altersspuren, die Zeuge der historischen Authentizität des Gebäudes seien, unwiederbringlich zerstöre: »It means the total destruction out of which no remnants can be gathered [. . . ]. What copying can there be of surfaces that have been worn half an inch down? [. . . ] There was yet in the old some life, some mysterious suggestion of what it had been, and of what it had lost: some sweetness in the gentle lines which rain and sun had wrought.«28

Auch solchen Rekonstruktionen und Ergänzungen, die historische Stile ohne Neuschöpfungen imitierten, standen sowohl Brandi als auch Ruskin ablehnend gegenüber. Hier offenbarte sich ein Verständnis von Konservierung, wie es z.B. von dem Restaurierungswissenschaftler Renato Bonelli (1911-2004) vertreten wurde. In diesem Verständnis bedingen sich Konservierung als kritischer Prozess, der die Integrität der Originalsubstanz respektiert, und Restaurierung als kreativer und schöpferischer Prozess gegenseitig. Zeitgleich gab es aber auch weiterhin Positionen, welche die Restaurierung von historischen Denkmälern für unzulässig hielten.29 Trotz der großen Bedeutung, die der historischen Integrität des Baumaterials beigemessen wurde, muss angemerkt werden, dass keiner der Begründer der Denkmalpflege selbst den Begriff der Echtheit oder Authentizität verwendete. Die Idee der vollständigen Bewahrung der Überreste der Vergangenheit floss aber in die Athens Charter for the Restoration of Historic Monuments (1931) mit ein, in der die grundlegenden Richtlinien für die wissenschaftliche Identifikation und Erhaltung von Überresten festgelegt wurden.30 Der Begriff Authentizität selbst tauchte im Rahmen offizieller Verlautbarungen erstmals in der sogenannten Charta von Venedig (1964) auf. Die Charta war das erste internationale Übereinkommen, in dem ethische und praktische Richtlinien für die Erhaltung und Restauration von Denkmälern festgelegt wurden. Authentizität wird hierbei in der Präambel als Eigenschaft von Denkmälern aufgeführt, aber nicht weiter erläutert:31

28 | Zitiert nach Jokilehto, J.: The Complexity of Authenticity, S. 130. 29 | Vgl. ebd., S. 130 f. 30 | Vgl. ebd., S. 705. 31 | Vgl. Cleere, H.: Authenticity in Archaeological Conservation and Preservation, S. 720.

112 | Die »Aura« des Originals im Museum »Als lebendige Zeugnisse jahrhundertealter Traditionen der Völker vermitteln die Denkmäler in der Gegenwart eine geistige Botschaft der Vergangenheit. Die Menschheit, die sich der universellen Geltung menschlicher Werte mehr und mehr bewusst wird, sieht in den Denkmälern ein gemeinsames Erbe und fühlt sich kommenden Generationen gegenüber für ihre Bewahrung gemeinsam verantwortlich. Sie hat die Verpflichtung, ihnen die Denkmäler im ganzen Reichtum ihrer Authentizität weiterzugeben.«32

Mit der Umsetzung der in der Charta aufgeführten Richtlinien befasste sich in der Folge der Internationale Rat für Denkmalpflege (ICOMOS), der bereits im darauffolgenden Jahr gegründet wurde. ICOMOS wurde mit der Unterzeichnung des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz des Welterbes (1972) schließlich zum offiziellen Organ des UNESCO-Welterbe-Komitees mit der Aufgabe, sich um die Bewahrung des kulturellen Erbes der Menschheit zu kümmern. Standards für die praktische Umsetzung dieser Aufgabe wurden in den Operational Guidelines for the Implementation of the World Heritage Convention (1977) festgelegt. Hier findet sich Authentizität als eines von mehreren Kriterien als Voraussetzung für die Aufnahme in die Liste der Welterbestätten.33 In der Fassung vom 20. Oktober 1977 heißt es im Paragraph 9 dazu: »In addition, the property should meet the test of authenticity in design, materials, workmanship and setting; authenticity does not limit consideration to original form and structure but includes all subsequent modifications over the course of time, which in themselves possess artistic or historical value.«34

Andrea Rehling und Johannes Paulmann weisen darauf hin, dass in der ursprünglichen Fassung der Guidelines das Konzept von Authentizität nicht so eng definiert war, wie später von Kritikerinnen und Kritikern des Begriffs angeführt.35 Entscheidend für die Aufnahme des Aachener Doms, der 1978 als erste deutsche Stätte eingetragen wurde, war beispielsweise vorwiegend die religiöse und historisch-politische Bedeutung und weniger die Echtheit des Doms. Eine ähnliche Vermischung von reli-

32 | Auszug aus der deutschen Übersetzung der Charta von Venedig vom 14. April 1989. 33 | Vgl. Rehling, A./Paulmann, J.: Historische Authentizität jenseits von ›Original‹ und ›Fälschung‹, S. 100 ff. 34 | UNESCO: Operational Guidelines for the Implementation of the World Heritage Convention, S. 3. 35 | Vgl. Rehling, A./Paulmann, J.: Historische Authentizität jenseits von ›Original‹ und ›Fälschung‹, S. 103.

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giösen, ästhetischen und politischen Kriterien findet sich beim Aufnahmeantrag der historischen Altstadt von Jerusalem (1980/81). Bei beiden Orten handelt es sich um Gedächtnisorte, deren angenommene Authentizität von ihrem symbolischen Wert übertroffen wird.36 Auch bei der Aufnahme des National Museum of AusschwitzBirkenau (Panstowe Muzeum Owiecim-Brezinka) in die Welterbeliste im Jahr 1979 waren explizit nicht kunsthistorische oder materialbezogene Kriterien ausschlaggebend. Im Vordergrund stand nicht die historische Authentizität des ehemaligen Konzentrationslagers, da der ursprüngliche Zustand der Anlage nicht mehr vorhanden war, sondern der Zeugnischarakter des historischen Ortes für den Holocaust.37 Eingeschränkt wurde dieser erweiterte Begriff der Authentizität, wie er sich in den Entscheidungen der Welterbe-Kommission abzeichnete, in der Fassung der Operational Guidelines vom Oktober 1980, in der die historische Integrität der Bausubstanz zum zentralen Aufnahmekriterium erklärt wurde: Ein Denkmal muss demnach immer den »test of authenticity« bestehen. Bezüglich den in der ersten Fassung erwähnten Veränderungen am Baubestand wird eingeschränkt: »reconstruction is only acceptable if it is carried out on the basis of complete and detailed documentation on the original and to no extent on conjecture«.38 In der Praxis zeigte sich aber in der Folge, dass die an die Genuinität und Originalität des Materials geknüpfte Definition zu eng gefasst war.39 Die in den Operational Guidelines aufgestellten Kriterien für Authentizität wurden daher 15 Jahre nach der ersten Fassung im Rahmen einer Konferenz in Nara teilweise revidiert. Den Anstoß für dieses Zusammentreffen gab der Beitritt Japans zur Welterbe-Konvention im Jahr 1992. Dabei stellte sich heraus, dass sich die konservatorische Herangehensweise im asiatischen Raum gänzlich von der der westlichen Welt unterschied und dass es darüber hinaus große Unterschiede zwischen dem Verständnis von Authentizität und Echtheit in den einzelnen Regionen und Kulturen gab. Das Ziel der Nara-Konferenz bestand darin, sich auf allgemeine Prinzipien und Richtlinien für die Bewahrung des kulturellen Erbes zu einigen und einen erweiterter Begriff der Authentizität festzulegen. Der vormals statische Begriff der Authentizität wurde dabei auch in Bezug auf dynamische Kategorien des

36 | Vgl. ebd., S. 106 ff. 37 | Vgl. ebd., S. 112 f. 38 | UNESCO: Operational Guidelines for the Implementation of the World Heritage Convention, S. 5. 39 | Vgl. Holtorf, C./Schadla-Hall, T.: Age as Artefact, S. 234 ff.

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Welterbes wie historische Gärten sowie Kultur- und Stadtlandschaften diskutiert.40 Das Ergebnis der getroffenen Vereinbarung stellt das Nara Document on Authenticity (1994) dar, welches dreizehn relativ knapp formulierte Paragraphen umfasst.41 In diesen wird die kulturelle Diversität von Denkmälern anerkannt und ein erweiterter Begriff der Authentizität vorgelegt, der sowohl materielle Formen der Authentizität wie beim Parthenon in Athen als auch kulturelle Formen der Kontinuität wie beim Schrein von Ise in Japan vereint.42 Unter Paragraph 9 heißt es dazu: »Conservation of cultural heritage in all forms and historical periods is rooted in values attributed to the heritage. Our ability to understand these values depends, in part, on the degree to which information sources about these values may be understood as credible or truthful. Knowledge and understanding of these sources of information in relation to original subsequent characteristics of the cultural heritage, and their meaning, is a requisite basis for assessing all aspect of authenticity.«43

Der zentrale Stellenwert von Authentizität bleibt dabei insofern erhalten, als dass die Belege, die für die Bedeutung des Denkmals angeführt werden, glaubhaft sein und einer kritischen Auseinandersetzung standhalten müssen: »Authenticity [. . . ] appears as the essential qualifying factor concerning values.« Zugleich wird in Paragraph 11 darauf hingewiesen, dass sich die Kriterien dafür, was als glaubwürdige Quelle erachtet wird, von Kultur zu Kultur und auch innerhalb derselben Kultur unterscheiden können: »It is thus not possible to base judgements of value and authenticity within fixed criteria.«44 Die im Nara-Dokument verabschiedete erweiterte Konzeption des Authentizitätsbegriffs wurde im Anschluss in die Operational Guidelines aufgenommen. Das dort formulierte Verständnis von Authentizität umfasst laut Jukka Jokilehto drei Aspekte: erstens Authentizität als kreativer Prozess, der neben Materialien auch Form, Ästhetik und die Umgebung mit einschließt; zweitens die historisch-materielle Authentizität, welche v.a. das Material und die Substanz des kulturellen Erbes, aber auch die damit verbundenen Traditionen und Techniken meint; drittens die soziokulturelle Authentizität, die sich v. a. auf die immateriellen Aspekte des Erbes wie

40 | Vgl. Falser, M.: Von der Charta von Venedig 1964 zum Nara Document on Authenticity 1994, S. 73. 41 | Vgl. ebd., S. 67 f. 42 | Vgl. Jokilehto, J.: The Complexity of Authenticity, S. 129 f. 43 | ICOMOS: The Nara Document on Authenticity, S. 118. 44 | Ebd.

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z.B. den Gebrauch oder die Funktion, insbesondere im Hinblick auf die Kontinuität von Traditionen, bezieht.45 In der aktuellen deutschsprachigen Fassung der Richtlinien für die Durchführung des Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt (2015) lassen sich diese Kriterien im Paragraph 83 wiederfinden: »Die praktische Anwendung von Merkmalen wie Geist und Gefühl [im Original spirit und feeling] bei der Prüfung der Bedingungen der Echtheit ist nicht einfach; gleichwohl sind sie zum Beispiel in Gemeinschaften, die Tradition und kulturelle Kontinuität wahren, wichtige Indikatoren für den Charakter und die Bedeutung eines Ortes.«46

Erwähnt werden muss an dieser Stelle, dass sich der Großteil der beschriebenen Debatte über Authentizität auf Baudenkmäler konzentriert hat – archäologische Denkmäler wurden dabei lange Zeit nicht oder nur wenig berücksichtigt.47 Ein erstes Übereinkommen zum Schutz des archäologischen Erbes war zwar bereits 1969 in Valetta erzielt worden. Wirksame Grundlagen für den Schutz beweglicher und unbeweglicher Bodendenkmäler sind aber erst mit der revidierten Fassung des Europäischen Übereinkommens zum Schutz des archäologischen Erbes (1992) geschaffen worden.48 Eine weitere Herausforderung für die Bewahrung des kulturellen Erbes ergab sich, als das authentische Erbe über historische Denkmäler hinaus um den Begriff des Naturerbes erweitert wurde und damit auch die Rekonstruktion von organischen Materialien und lebenden kulturellen Formen miteinbezogen werden musste. Einen ersten Versuch stellt die sogenannte Burra Charta (1979) dar, die 1999 in neuer Fassung als Burra: The Australian Charter for Places of Cultural Significance veröffentlicht wurde. In Artikel 1 wird darin erklärt: »Cultural significance is embodied in the place itself, its fabric, setting, use, associations, meanings, records, related places and related objects. Places may have a range of values for different individuals or groups.«49 Das soziokulturelle Verständnis von Authentizität wurde weiterhin gestärkt in der Deklaration von San Antonio von 1996 sowie in den Zimbabwe Mee-

45 | Vgl. Jokilehto, J.: The Complexity of Authenticity, S. 132 f. 46 | UNESCO: Richtlinien für die Durchführung des Übereinkommens zum Schutz des Kulturund Naturerbes der Welt, S. 27. 47 | Vgl. Cleere, H.: Authenticity in Archaeological Conservation and Preservation, S. 724. 48 | Die in der Konvention festgelegten Richtlinien betreffen dabei nicht nur die Erhaltung, sondern beziehen sich auch auf die Ausgrabungs- und Prospektionsmethoden, die, soweit möglich, zerstörungsfrei ablaufen sollen; vgl. dazu Council of Europe: Europäisches Übereinkommen zum Schutz des archäologischen Erbes, S. 3. 49 | ICOMOS: The Burra Charter, S. 63 f.

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ting Recommendations von 1999, die einer allgemeingültigen Definition von Echtheit widersprachen.50 Zu einer weiteren großen Debatte, in der der Begriff der Authentizität eine wichtige Rolle spielte, kam es 2004 erneut in Nara, wo es nun darum ging, einen einheitlichen Ansatz für die Bewahrung des immateriellen (intangible) und des materiellen (tangible) kulturellen Erbes der Menschheit zu erarbeiten. Im Lauf der Konferenz entfaltete sich eine kontroverse Debatte zwischen denjenigen, die sich primär für die Bewahrung von historischen Denkmälern aussprachen, und denen, die mehr Wert auf das immaterielle Kulturerbe legten. Die Yamata Declaration on Integrated Approaches for Safeguarding Tangible and Intangible Cultural Heritage kann als Kompromiss zwischen den zwei Ansätzen betrachtet werden. Darin wird festgestellt, dass lebendige Traditionen nicht in derselben Weise bewertet werden können wie Denkmäler, weshalb der Begriff der Authentizität für die Bewahrung des immateriellen kulturellen Erbes nicht relevant sei. Gleichzeitig betont die Deklaration, dass sich immaterielles und materielles Erbe gegenseitig bedingen.51 Dieser geschichtliche Überblick über den Authentizitätsbegriff in der Denkmalpflege zeigt, dass die Kriterien für die Objektauthentizität also verhandelbar sind und sich nicht unmittelbar aus den materiellen Qualitäten der Überreste der Vergangenheit ableiten lassen. Das sich daraus ergebende theoretische Problem der Denkmalpflege und der Restaurierungswissenschaft ist, dass jeder Eingriff zur Wiederherstellung oder Sicherung die im Sinne der Objektauthentizität als intrinsisch konzipierte Authentizität von historischen (und archäologischen) Denkmälern beeinträchtigt und gefährdet. Zugleich stehen auch die natürlichen Veränderungsprozesse einer derartigen Auffassung von historischen Denkmälern entgegen.52 So müssen moderne Restaurierungsmethoden auf verschiedene Praktiken der Authentisierung zurückgreifen, um den Ergänzungen und Rekonstruktionen einen gewissen Grad von Authentizität zu verleihen. Siân Jones und Thomas Yarrow haben dies exemplarisch im Rahmen einer ethnografischen Studie zu den Arbeiten von Steinmetzen an der Kathedrale von Glasgow gezeigt. Dort wurde durch den Einsatz traditioneller Techniken der Steinbearbeitung und den Verzicht auf moderne technische Hilfsmittel versucht, der Tätigkeit mittelalterlicher Steinmetze möglichst nahezukommen.53 Trotz dieses auf den ersten Blick authentischen Zugangs entspricht der Einsatz his-

50 | Vgl. Odegaard, N./Cassman, V.: Authenticitation and Conservation in Archaeological Science, S. 705. 51 | Vgl. Jokilehto, J.: The Complexity of Authenticity, S. 126. 52 | Vgl. Jones, S./Yarrow, T.: Crafting authenticity, S. 23. 53 | Vgl. ebd., S. 17 f.

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torischer Techniken in der Gegenwart nicht der historischen Realität mittelalterlicher Steinmetze. Diese nutzten für die Errichtung der Kathedrale nämlich keine ›veralteten‹, sondern die bestmöglichen Werkzeuge und Techniken, die ihnen zu dieser Zeit zur Verfügung standen. Den modernen Steinmetzen geht es also weniger um eine vollständige Wiederholung der historischen Arbeitsprozesse, sondern vielmehr um den Rückgriff auf ›überdauernde‹ Traditionen der Steinmetze, die ihre Eingriffe in die Bausubstanz authentisieren und zu einem natürlichen Teil der Geschichte des Bauwerks werden lassen sollen. Daraus ergibt sich zugleich ein unauflösbarer Widerspruch, da dieselben Praktiken, die das Denkmal in seiner historischen Integrität bewahren sollen, zugleich dessen materielle Authentizität angreifen und es aus der Geschichte herausreißen.54 Die Annahme, dass man die Integrität historischer Denkmäler durch den Akt des Restaurierens und Konservierens bewahren könne, entpuppt sich als Wunschvorstellung. Da die Authentizität des Materials endlich und vergänglich ist, führt der Auftrag der Bewahrung unweigerlich dazu, dass Bauteile erneuert bzw. hinzugefügt werden müssen. Die Authentizität wird aber nicht nur durch das Rekonstruieren und Ergänzen gefährdet, sondern auch durch das Nichts-Tun, da auch der Verfall einen falschen Eindruck von der ursprünglichen Gestalt eines historischen Bauwerks liefern kann. Michael Schmaedecke hat dieses denkmalpflegerische Dilemma am Beispiel der Konservierung mittelalterlicher Burgruinen auf den Punkt gebracht: »Hätte man nichts gemacht, wäre es auch ›falsch‹, da ja zum Verständnis des Baues essentielle Bauteile fehlten.«55 In Folge dieser Widersprüche ist der Begriff des Denkmals und das damit verbundene Konzept der authentischen Originalsubstanz als ›Objektfetischismus‹ in die Kritik geraten. Anstelle einer rein auf die Materialität gerichteten Perspektive geraten bei der Frage nach Authentizität zunehmend soziale und kollektive Identitäten in den Blick. Laut Beat Schweizer scheinen dabei »Diskurse im Hintergrund zu stehen, nach denen [. . . ] Authentizität und Identität realen oder vorgestellten Prozessen der Entfremdung in Moderne und Postmoderne gegenübergestellt werden«.56 Die Debatten der Denkmalpflege spiegeln also größere Trends des Authentizitätsdiskurses der vergangenen drei Jahrzehnte wider, die weit über das hinausgehen, was im Nara-Dokument angerissen wurde. Authentizität wird dabei nicht als intrinsisches Merkmal von Objekten, Gebäuden, Orten oder Traditionen angesehen, sondern stattdessen als Qualität, die sozial und kulturell konstru-

54 | Vgl. ebd., S. 21. 55 | Schmaedecke, M.: Wie viel ›falsch‹ ist noch ›echt‹?, S. 58. 56 | Schweizer, B.: Zur Authentizität archäologischer Stätten, S. 125.

118 | Die »Aura« des Originals im Museum

iert wird und zudem von der individuellen Wahrnehmung abhängig ist. Auch die authentischen Überreste und Traditionen der Vergangenheit stehen daher nicht für sich, sondern werden Bestandteil sozialer und kultureller Praktiken und damit Ziel der Begehrlichkeiten von Politik, Kunstmarkt und Kulturtourismus. Martin Sabrow spricht in diesem Zusammenhang von der »Authentizitätssehnsucht unserer Zeit«, die seiner Meinung nach »nicht nur hinreichend mächtig [ist], um das Relikt in eine Reliquie zu verwandeln, sondern auch stark genug, den überlieferten Leitgedanken der Denkmalpflege [. . . ] so weit auszuhebeln, dass das Imitat sich dem Original anverwandeln kann.«57

Im folgenden Abschnitt der Arbeit soll am Beispiel der Rolle von Authentizität im Tourismus gezeigt werden, inwiefern Authentizität in der Gegenwart als ein auf gesellschaftlichen Bedingungen und individuellen Erfahrungen basierendes Konstrukt verstanden werden kann.

6.3 AUTHENTIZITÄT

IM

TOURISMUS

Eine größere Rolle denn je spielt die Performanz von Authentizität in der postmodernen Gesellschaft der Gegenwart, wo die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt immer stärker verschwimmen. Authentizität wird »gleichsam mythisch aufgeladen als Gegenentwurf einer hyperrealen, hyperkapitalistischen Welt virtueller Freundschaften (facebook), virtueller Aktivitäten (Nintendo Wii), gar komplett virtueller Lebenswirklichkeiten (Second Life)«.58 Vor der Existenz virtueller Welten war es vor allem das Fernsehen, das zum Aufstieg des Authentischen beigetragen hat, weil es einen unvermittelten Blick auf die Realität und die Illusion der Augenzeugenschaft suggerierte. Auch gegenwärtig wird durch Fernsehformate wie Pseudo-Dokus und Scripted Reality versucht, Authentizitätseffekte herzustellen, um Glaubwürdigkeit zu erreichen.59 Glaubwürdigkeit ist auch das Ziel des Marketings und der Werbung, wo ein Produkt oder ein Unternehmen mit Markenauthentizität ausgestattet werden soll. Darüber hinaus ist in Zeiten, in denen Influencer die sozialen Netzwerke dominieren, sogar das Individuum zu einer Marke geworden, das mithilfe der Inszenie-

57 | Sabrow, M.: Die Aura des Authentischen in historischer Perspektive, S. 31. 58 | Funk, W./Krämer, L.: Fikitionen von Wirklichkeit, S. 12. 59 | Vgl. Saupe, A.: Authentizität, Version 2.0.

6 Die Entwicklung von Authentizität als historische Kategorie | 119

rung von Authentizität vermarktet wird. Jörn Lamla geht davon aus, »dass Authentizität selbst zu einem bevorzugten Konsumgut wird, welches erst durch die Sprache des Marktes artifiziell erzeugt wird«, und die »Konstruktion von Authentizität [. . . ] selbst zum lukrativen Markt geworden ist«.60 In diesem Zusammenhang wird auch vom Prozess der commoditization gesprochen. Um dem Verlust traditioneller Werte und der Sehnsucht nach der eigenen Identität und den eigenen Ursprüngen zu begegnen, werden commodities produziert: »buy your identity and belonging, pay for the authentic experience of belonging, of nostalgic reminder of past belonging (that never was).«61 Eine große Rolle spielen diese Rituale und Praktiken der Inszenierung, Wahrnehmung und Konsumption von Authentizität im modernen Tourismus. Die Bedeutung von Authentizität im Bereich touristischer Aktivitäten fußt auf der Annahme, dass Tourismus normalerweise die Begegnung mit dem ›Anderen‹, also dem räumlich oder zeitlich Fremden, einschließt: »The deeper the experience sought by the tourist, the more strongly will he tend to embrace his ›Other‹, and to turn it into his ›elective center‹. But, since the salience of that Otherturned-Center thereby increases for the tourist, his concern with its authenticity will grow proportionately.«62

In den Fokus der internationalen Tourismusforschung gelangte der Begriff der Authentizität erstmals mit dem Aufkommen des Massentourismus in den 1960er und 1970er Jahren. Am einflussreichsten waren hier die Überlegungen von Dean MacCannell, der die These aufstellte, dass die Suche nach Authentizität die Hauptmotivation für den Tourismus darstellt. Laut MacCannell wird durch das Verlangen der Touristen nach Authentizität die ursprüngliche Kultur der bereisten Regionen radikal verändert, indem einst authentische Produkte zu bedeutungslosen Konsumgütern für die Touristen transformiert werden. An ihre Stelle tritt eine ›inszenierte Authentizität‹ (staged authenticity), die den Touristen fake-Produkte und fake events als authentisch präsentiert, um die eigentliche Kultur zu schützen.63 Eine ähnliche These hatte bereits zuvor Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay Vergebliche Brandung der Ferne (1959) aufgestellt. Darin skizziert Enzensberger eine marxistisch geprägte Theorie des modernen Tourismus. Der Tourismus, so Enzensberger, habe

60 | Lamla, J.: Authentizität im kulturellen Kapitalismus, S. 323 f. 61 | Shanks, M.: Experiencing the past, S. 101. 62 | Cohen, E.: Authenticity and commoditization in tourism, S. 376. 63 | Vgl. ebd., S. 373.

120 | Die »Aura« des Originals im Museum

seine Wurzeln in der Nachromantik des 18. Jahrhunderts.64 Das moderne Reisen sei daher geprägt von dem Wunsch nach der Flucht aus dem industrialisierten Alltag: »Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft schloß, desto angestrengter versuchte der Bürger, ihr als Tourist zu entkommen.«65 Diese Flucht ist aber laut Enzensberger von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil der moderne Massentourismus selbst kapitalistisch und industriell organisiert ist.66 Auch das, was die Reisenden in den bereisten Ländern vorfinden, ist durch die »industrielle Herstellung von Reisen« inszeniert und auf die Bedürfnisse der Touristen zugeschnitten.67 Die Reiseerinnerungen, die in Form von Fotos und Souvenirs von den Touristen mit nach Hause gebracht werden, stellen keine Verbindung zu den bereisten Ländern her, sondern bestätigen die Versprechungen der Tourismusindustrie und der Werbung, die die Touristen zur Reise verlockt haben.68 Problematisch an Enzensbergers Tourismustheorie ist neben der Tatsache, dass er die subjektiven Erfahrungen, die Touristen auf ihren Reisen machen können, ignoriert, vor allem der Fluchtbegriff, den er mit anderen Autorinnen und Autoren teilt. Hier fehlt es an einer Abgrenzung von ›Flucht‹ im Tourismus zu Fluchtbewegungen im eigentlichen Sinne, bei denen neben kriegerischen Konflikten oft wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend sind. Enzensbergers Theorie konzentriert sich damit vor allem auf die bildungsbürgerlichen Aspekte des modernen Reisens und vernachlässigt andere soziale und kulturelle Funktionen, wie z.B. das Verlangen nach Erholung von der Fabrikarbeit in der Arbeiterschicht.69 Auch MacCannells Theorie von der Inszenierung von Authentizität im Tourismus muss kritisch gesehen werden, da sie ebenfalls davon ausgeht, dass alle Touristen nach derselben Erfahrung suchen.70 Ein weiteres Problem ist die Annahme, dass die Erfahrungen, die die Touristen im Urlaub machen, künstlich und inszeniert seien. Diese Sichtweise beruht auf einem essentialistischen Verständnis von Authentizität, wie es auch in der Denkmalpflege vertreten wurde und wird. Ning Wang spricht in diesem Zusammenhang von objective authenticity: Ein Objekt, ein Ereignis oder eine Person ist authentisch oder nicht. Das bedeutet, selbst wenn die Touristen denken, sie hätten auf ihren Reisen etwas Authentisches gesehen, kann es in dieser Kon-

64 | Vgl. Enzensberger, H.M.: Vergebliche Brandung der Ferne, S. 707. 65 | Ebd., S. 709. 66 | Vgl. ebd., S. 709 f. 67 | Vgl. ebd., S. 714 f. 68 | Vgl. ebd., S. 715 ff. 69 | Vgl. Pagenstecher, C.: Immer noch brandet die Ferne. 70 | Vgl. Cohen, E.: Authenticity and commoditization in tourism, S. 374.

6 Die Entwicklung von Authentizität als historische Kategorie | 121

zeption von Authentizität von einem als objektiv gedachten Standpunkt aus nichtauthentisch sein.71 Neuere Theorien im Bereich des Tourismus gehen dagegen davon aus, dass Authentizität von den Konsumenten konstruiert und auf ihre Erfahrungen und die erfahrene Umwelt projiziert werden kann. Die objektzentrierte Konzeption von Authentizität, wie sie in den 1950er Jahren in der Tourismustheorie etabliert wurde, wird dadurch zunehmend in Frage gestellt. Wang hat hierzu zwei weitere Typen von Authentizität, die sich auf touristische Erfahrungen beziehen, vorgeschlagen. Erstens spricht Wang von der constructive authenticity, die er als »result of social construction« bezeichnet. »Things appear authentic not because they are inherently authentic but because they are constructed as such in terms of points of view, beliefs, perspectives, or powers.«72 Authentizität ist damit immer relativ, verhandelbar, ideologisch beeinflusst und wird innerhalb eines Kontexts festgelegt. Zweitens geht Wang davon aus, dass touristische Erfahrungen sowohl »object-related« als auch »activity-related« sein können, d.h. es gibt Erfahrungen, die vollkommen unabhängig von der intrinsischen Authentizität der erfahrenen Dinge sind. Diese Erfahrungen basieren laut Wang auf einer existenziellen Authentizität (›existential authenticity‹).73 Entscheidend für die Entstehung solcher Erfahrungen sind persönliche und intersubjektive Gefühle, die durch die Grenzerfahrungen (›liminal experiences‹) im Rahmen touristischer Aktivitäten hervorgerufen werden können: »In such a liminal experience, people feel they themselves are much more authentic and more freely self-expressed than in everyday life, not because they find the toured objects are authentic but simply because they are engaging in non-ordinary activities, free from the constraints of the daily.«74

Die Erfahrung existenzieller Authentizität speist sich also nicht primär aus der Authentizität der gesehenen Objekte und bereisten Orte, sondern aus den inter- und intrapersonalen Beziehungen die ein Individuum in der entsprechenden Situation realisieren kann. Während Wang den Freizeitcharakter der Erfahrung sowie das Erleben des Außergewöhnlichen als Kernelemente existenzieller Authentizität ansieht, definiert der Soziologe Peter Berger diese Form von Authentizität als Seinszustand,

71 | Vgl. Wang, N.: Rethinking Authenticity in Tourism Experience, S. 351. 72 | Vgl. ebd., S. 352 73 | Ebd. 74 | Vgl. ebd., S. 351 f.

122 | Die »Aura« des Originals im Museum

bei dem man sich, im Gegensatz zur Rolle im öffentlichen Leben, wo die Gefahr der Identitätslosigkeit das Dasein bedroht, treu bleiben kann.75 Diese poststrukturalistische Konzeption von Authentizität, wie sie v.a. durch Wang, Carol Steiner und Yvette Reisinger vertreten wird, ist in der Tourismusforschung auch kritisiert worden. Angeführt sei hier beispielsweise Raymond Lau, der einen social realist approach vorschlug, der zwar den Konstruktcharakter von Authentizität anerkennt, zugleich aber das Konzept der Objektauthentizität nicht vollkommen in Frage stellt: »[. . . ] object authenticity is a property of a tourist object, and knowledge about the object would help tourists ascertain its degree of authenticity. It is this knowledge that is subject to construction and discourse.«76 Was bei Laus Ansatz mitberücksichtigt wird ist ein Faktor, den andere Modelle der Tourismusforschung oft vernachlässigen, nämlich die Tatsache, dass die touristischen Orte und Objekte ›tatsächlich‹ im physischen Raum vorhanden sind. Die auf sie bezogenen Erfahrungen von Authentizität beruhen damit immer auch auf einer spezifischen Materialität, durch die sie sich von den existenziellen Erfahrungen unterscheiden. Auch die Tatsache, dass die ontologische Zuschreibung von Authentizität nicht nur in der Tourismusforschung, sondern auch in den ›klassischen‹ Materialwissenschaften wie der Archäologie, Volkskunde und Denkmalpflege zunehmend in Frage gestellt worden ist, hat an der real vorhandenen Wirkmächtigkeit des Authentizitätsdiskurses nicht viel geändert: So nehmen nach wie vor viele Touristen weite Reisen auf sich, um den ›originalen‹ Ort eines historischen Ereignisses zu besuchen oder um ›echte‹ Kunstwerke wie die Mona Lisa im Louvre zu bewundern.77 Authentizität umfasst in der postmodernen Gesellschaft also auch eine Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Echtheit in Form des gegenständlich Erfahrbaren, eine Sehnsucht, die sich in den Authentizitätsindustrien im Tourismus, aber eben auch in den Museen widerspiegelt.78 Welche Rolle die Authentizität in historischen Museen spielt, soll im folgenden Teil nach näher erläutert werden.

75 | Vgl. Steiner, C.J./Reisinger, Y.: Understanding Existential Authenticity, S. 301. 76 | Lau, Raymond W.K.: Revisiting authenticity, S. 480. 77 | Vgl. Belhassen, Y./Caton, K.: Authenticity Matters, S. 855. 78 | Vgl. Saupe, A.: Authentizität, Version 2.0.

7 Das historische Museum als Ort des Authentischen

Wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit erwähnt wurde, ist das Sammeln und Ausstellen originaler Dinge eine der Hauptaufgaben der Institution Museum. Welche Rolle die Originale im Museum spielen, hängt stark vom Selbstverständnis der jeweiligen Institution ab. So kommt der Authentizität der Museumsobjekte in historischen Museen eine ganz andere Bedeutung zu als beispielsweise in naturwissenschaftlichtechnischen Museen oder in Kunstmuseen. Diese unterschiedlichen musealen Auffassungen von Authentizität machen eine eingehendere Betrachtung des Museumsbegriffs erforderlich. Laut den Ethischen Richtlinien für Museen von ICOM handelt es sich bei einem Museum um »eine gemeinnützige, auf Dauer angelegte, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung im Dienste der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, die zum Zwecke des Studiums, der Bildung und des Erlebens materielle und immaterielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, bewahrt, erforscht, bekannt macht und ausstellt«.1 Die Richtlinien von ICOM, die als ICOM Code of Professional Ethics in ihrer ersten Fassung im Jahr 1986 in Buenos Aires veröffentlicht wurden, lieferten erstmals eine weltweit anerkannte Definition der Institution Museum.2 Zugleich ist der Museumsbegriff in vielen Ländern, darunter auch Deutschland und Österreich, nicht gesetzlich geschützt. Als zentrale Aufgaben eines Museums hat der Deutsche

1 | ICOM Schweiz/ICOM Deutschland/ICOM Österreich: Ethische Richtlinien für Museen von ICOM, S. 29. 2 | Noch 1978 hatte es im deutschsprachigen Raum keine einheitliche Definition des Begriffs Museum gegeben, weshalb in der Zeitschrift Museumskunde eine Definition mit der Bitte um kritische Rückmeldungen veröffentlicht wurde; vgl. Deutscher Museumsbund. (Hrsg.): Museumskunde, Band 43, Heft 3.

124 | Die »Aura« des Originals im Museum

Museumsbund das Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen und Vermitteln beschrieben: »Museen nehmen diese Aufgaben treuhänderisch für die Gesellschaft wahr. Sie dokumentieren die Natur sowie die kulturellen und materiellen Zeugnisse der Menschen im Sinne eines Archivs für die folgenden Generationen. Die Museumsarbeit fördert die Fähigkeit, die Sammlungen zu interpretieren und zum Lernen sowie zur Unterhaltung zu nutzen.«3

Wie diese ›klassischen‹ Museumsaufgaben in der Praxis umgesetzt werden, ist abhängig von den finanziellen und personellen Möglichkeiten der einzelnen Museen und unterscheidet sich, wie bereits erwähnt, von Museumsart zu Museumsart. Diese Museumstypen haben sich allerdings erst im Lauf der Zeit entwickelt. Zwar ist die gemeinsame Wurzel der heutigen Museen die Sammelleidenschaft des Menschen, die bis in die Antike (und darüber hinaus) zurückreicht. Was gesammelt und ausgestellt wurde, und mit welcher Zielsetzung, hat sich im Lauf der Zeit jedoch stark verändert.4 Auch heute noch umschreibt der Begriff Museum in Deutschland eine sehr heterogene Landschaft, die seit den 1960er Jahren entstanden ist. Da sich die vorliegende Arbeit in der Hauptsache auf den Bereich der historischen Museen bezieht, muss geklärt werden, was unter einem historischen Museum zu verstehen ist.

7.1 GESCHICHTSMUSEEN

IN DER

MUSEUMSLANDSCHAFT

Für die Einteilung der Museen sind verschiedene Klassifikationssysteme vorgeschlagen worden. Die bedeutendste dieser Unterteilungen ist sicherlich die des Berliner Instituts für Museumsforschung, das in Anlehnung an die Klassifikation der UNESCO für den deutschen Raum insgesamt neun Museumsarten unterscheidet: erstens Museen mit orts- und regionalgeschichtlichem, volkskundlichem oder heimatkundlichem Sammlungsschwerpunkt, zweitens Kunstmuseen, drittens Schlossund Burgmuseen, viertens naturkundliche Museen, fünftens naturwissenschaftliche und technische Museen, sechstens historische und archäologische Museen, sieb-

3 | Deutscher Museumsbund (Hrsg.): Standards für Museen, S. 6. 4 | Zur Geschichte des Sammelns siehe Pomian, K.: Der Ursprung des Museums; Pomian, K.: Sammlungen; sowie Minges, K.: Das Sammlungswesen der frühen Neuzeit; zur Geschichte des modernen Museums siehe u.a. Möbius, H./Graf, B.: Zur Geschichte der Museen im 19. Jahrhundert 1789-1918; oder Sheehan, J.: Geschichte der deutschen Kunstmuseen.

7 Das historische Museum als Ort des Authentischen | 125

tens Sammelmuseen mit komplexen Beständen, achtens kulturgeschichtliche Spezialsammlungen und neuntens Museumskomplexe. Die mit Abstand meisten der 6.712 deutschen Museen (Stand: 2016) sind dabei den volks- und heimatkundlichen Museen (43%) zuzurechnen. Nimmt man die Verteilung der Besuche nach Museumsart als Maßstab, so zeigt sich aber, dass die historischen und archäologischen Museen (19%) neben den naturwissenschaftlichen und technischen Museen (17%) und den Kunstmuseen (16%) die am häufigsten besuchten Museen in Deutschland darstellen.5 Zu den historischen und archäologischen Museen zählt das Institut für Museumskunde historische Museen, die nicht traditionelle Ortsgeschichte behandeln, Gedenkstätten und personenbezogene sowie archäologische Sammlungen und Militaria. Nicht zu den historischen Museen gehören nach diesem Verständnis die stadtund regionalgeschichtlichen Museen sowie die mit ihnen verwandten Heimatmuseen, die im Kern auf die Heimatschutzbewegung des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal lässt sich festhalten, dass bei den Heimatkundemuseen nicht die Geschichte als solche, sondern eher der Begriff der ›Heimat‹ als zentrales Thema und Ziel fungiert. Aufgrund dieser Fokussierung sind die Heimatmuseen im 20. Jahrhundert wegen des als überholt angesehenen Heimatbegriffs zunehmend in Kritik geraten.6 Weniger deutlich unterscheiden sich die kulturhistorischen Museen vom Typus der historischen Museen. Der Hamburger Museumsdirektor und Volkskundeprofessor Otto Lauffer (1874-1949) verstand unter historischen Museen »reine Altertumssammlungen«, während er zu den kulturhistorischen Museen »Kunst- und Handwerksammlungen« rechnete.7 Markus Walz dagegen verwendet eine Systematik von Museen, die eher nach Gegenstandsbereichen und Themen gegliedert ist: Er unterscheidet bei den Museumstypen, die für diese Arbeit relevant sind, Antikenmuseen, Museen für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie, Geschichtsmuseen im engeren Sinn und Orts-, Stadt- und Regionalmuseen.8 Insbesondere der Terminus ›Geschichtsmuseen im engeren Sinn‹ verdient dabei eine nähere Betrachtung. Gemeint sind hiermit vornehmlich die großen Museen in der Trägerschaft des Bundes wie das Deutsche Historische Museum in Berlin oder das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, aber auch landesgeschichtliche Museen wie das Haus der Geschichte Baden-Württembergs oder

5 | Vgl. Institut für Museumsforschung: Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2016, S. 25 f. 6 | Vgl. Henkel, M./Scheele, F./Walz, M.: Lokalität als Thema, S. 108 f. 7 | Lauffer zitiert nach ebd., S. 107. 8 | Vgl. Walz, M.: Grundprobleme der Museumstypologie, S. 80.

126 | Die »Aura« des Originals im Museum

das Haus der Bayerischen Geschichte, bei deren Konzeption die Geschichtswissenschaft eine aktive Rolle spielte.9 Ein ähnlich enges Verhältnis zur Wissenschaft, aber eine vollkommen andere Aufgabe hatten die Geschichtsmuseen in der DDR. Dort definierte die Arbeitsgruppe des Museums für Deutsche Geschichte, Berlin, und des Staatlichen Historischen Museums, Moskau, die Aufgaben der Geschichtsmuseen wie folgt: »Sie lösen Fragen der stärkeren Ausprägung ihrer Spezifik und ihrer Profilierung innerhalb des Museumsnetzes und im Rahmen der historischen Wissenschaften; sie arbeiten in staatlichen und internationalen Gremien zusammen. Dabei stützen sie sich auf geschlossene, wissenschaftlich und künstlerisch-gestalterisch anspruchsvolle Geschichtsdarstellungen, in denen die Vergangenheit des eigenen Volkes und Aspekte der Weltgeschichte in demokratischer, friedliebender und völkerverbindlicher Sicht behandelt werden. Immer häufiger beteiligen sie sich am internationalen Ausstellungsaustausch und tragen durch die breite Popularisierung der Geschichte zum besseren Kennenlernen der Völker untereinander, ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart bei.«10

Als Vorläufer dieser Geschichtsmuseen lassen sich die bereits im erwähnten Nationalmuseen des 19. Jahrhunderts und die großen Dynastie-Ausstellungen der 1970er Jahre identifizieren. Eine Gemeinsamkeit dieses Typus von Museen und Ausstellungen ist, dass die »deutsche Geschichte im größeren, europäischen Kontext« betrachtet wird.11 Diese Auffassung widerspricht wiederum der Definition von Geschichtsmuseen, wie sie z.B. von der Fachgruppe ›Geschichtsmuseen‹ des Deutschen Museumsbundes vertreten wird. Diese bezieht sich augenscheinlich v.a. auf stadt- und heimatgeschichtlichen Museen als das »anschauliche Gedächtnis der Lebenswelt und zugleich als einzigartige Werkstätten des Geschichtsbewusstseins der Städte, Gemeinden und Kreise, in denen sie arbeiten und wirken«.12 Von der Fachgruppe ›Geschichtsmuseen‹ grenzen sich im Deutschen Museumsbund die Fachgruppen »Archäologische Museen« und »Kulturhistorische Museen und Kunstmuseen« ab, wobei letztere dem eigenen Selbstverständnis zufolge vorwiegend kunsthistorisch ausgerichtet sind. Die Bayerische Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern fasst dagegen die »Heimat-, Stadt- und Regionalmuseen, die Burg- und Schlossmuseen, die völkerkundlichen Museen und Sammlungen« sowie die »kultur-

9 | Vgl. Henker, M.: Geschichtsmuseen im engeren Sinn, S. 103 f. 10 | Herbst, W./Levykin, K.G. (Hrsg.): Museologie, S. 55 f. 11 | Henker, M.: Geschichtsmuseen im engeren Sinn, S. 106. 12 | https://www.museumsbund.de/profil-geschichtsmuseen (Stand: 24. Mai 2018).

7 Das historische Museum als Ort des Authentischen | 127

geschichtlichen Spezialmuseen und die personenbezogenen Museen und Sammlungen« unter dem sehr breit angelegten Label der Kunst- und Kulturgeschichtlichen Museen zusammen.13 Im Rahmen dieser Arbeit soll der Typus des historischen (und archäologischen) Museums nicht nur vom Inhaltsbezug, sondern auch von der Zielsetzung her definiert werden. Entscheidend ist nach Heinrich Theodor Grütter erstens, dass das historische Museum als »Sacharchiv der materiellen Kultur« fungiert, und zweitens, dass es »die Überreste einer Öffentlichkeit zugänglich« macht und »damit eine bestimmte Form der Erkenntnis« ermöglichen will.14 Die Exponate dienen wie in der Geschichtswissenschaft nicht einfach nur der Abbildung der Vergangenheit, sondern werden zur Formulierung zeitspezifischer Interessen im Rahmen einer historischen Darstellung eingesetzt, was dem geschichtswissenschaftlichen Prinzip des Erkenntnisprozesses des historischen Denkens entspricht.15 Historisches Denken definiert Jörn Rüsen als »rational vollzogene Form der Erinnerung«, die »über die Grenzen der eigenen Lebenszeit der sich Erinnernden hinausgeht« und zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart vermittelt.16 Diese Form des Denkens zeichnet sich laut Martin Nitsche und Martin Buchsteiner dadurch aus, dass zeitliche Unterschiede zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit erfasst werden und Geschichte über die Befragung von Quellen und darauf aufbauende Narrative rekonstruiert oder aber auch kritisch hinterfragt wird.17 Die Darstellung im Museum möchte ich analog als eine Form historischer Erzählung verstehen. Historisches Erzählen ist nach Rüsen eine »Sinnbildung über Zeiterfahrung«, bei der »Zeit als Erfahrung der Veränderung des Menschen und seiner Welt und Zeit als Erwartung und Hoffnung solcher Veränderung so aufeinander« bezogen werden, »daß sich der Mensch gleichsam im Fluß der Zeit einrichten kann, daß er in ihm nicht untergehen muß (durch zeitliche Veränderung sich verliert), sondern sich behaupten und gewinnen kann«.18 Laut Rüsen sind derartige Sinnbildungsoperationen des Erzählens dann spezifisch historisch, wenn sie drei Charakteristiken aufweisen: Erstens muss die Erzählung an das Medium der Erinnerung gebunden sein, d.h. die Erzählung »deutet Zeiter-

13 | https://www.museen-in-bayern.de/die-landesstelle/beratung/kunst-und-kultur-geschich tliche-museen.html (Stand: 24. Mai 2018). 14 | Grütter, H.T.: Zur Theorie historischer Museen und Ausstellungen, S. 190. 15 | Vgl. ebd. 16 | Rüsen, J.: Über die Ordnung der Geschichte, S. 85. 17 | Vgl. Nitsche, M./Buchsteiner, M.: Einleitung – Historisches Erzählen und Lernen, S. 3. 18 | Rüsen, J.: Historisches Erzählen, S. 58.

128 | Die »Aura« des Originals im Museum

fahrung der Vergangenheit so, daß gegenwärtig erfahrene zeitliche Veränderungen verstanden und Zukunft in Form einer Handlungsperspektive erwartet werden«; zweitens muss die Geschichte den Inhalt der Erzählung bilden, d.h. die Sinnbildung über Zeiterfahrung erfolgt im Rahmen einer übergreifenden Vorstellung des Verlaufs der Geschichte; drittens müssen die »historischen Zeitvorstellungen [. . . ] die Funktion einer Vergewisserung menschlicher Identität im Wandel der Zeit erfüllen können«.19 Für die Definition eines Museums als historisches Museum ist also nicht entscheidend, ob ein Museum Ausstellungen zur Stadtgeschichte oder zur Vor- und Frühgeschichte zeigt, sondern, ob die im Museum erzeugte Narration spezifisch historisch ist. Die Rolle, die die originalen Objekte bei der Darstellung und Deutung der Vergangenheit in historischen Museen spielen, soll nun diskutiert werden.

7.2 DIE INSZENIERUNG DER ORIGINALE IN DER M USEUMSAUSSTELLUNG Der im vorherigen Abschnitt definierte Begriff des Erzählens kann sich in Museumsausstellungen nicht nur auf die Ausstellung an sich, sondern auch auf die in der Ausstellung präsentierten Objekte beziehen. In der Museumsarbeit wird dabei gerne die Metapher des ›Objekte sprechen lassen‹ gebraucht. Man müsse, so die Vorstellung, lediglich die Dinge zu Wort kommen lassen, um den Besucherinnen und Besuchern eine Vorstellung von der Vergangenheit zu vermitteln. Diese Herangehensweise ist in der Museologie heftig kritisiert worden: »The problem with things is that they are dumb. They are not eloquent as some thinkers in art museums claim. They are dummy. And if by some ventriloquism they seem to speak, they lie.«20 Das Problem liegt dabei nicht nur in der ›Stummheit‹ der Objekte, sondern auch in der faktischen Abwesenheit der Vergangenheit. So repräsentiert der im Museum ausgestellte Gegenstand laut Wolfgang Ernst nicht in erster Linie die Geschichte, sondern sich selbst: »Auf Vergangenheit kann nicht abbildend hingewiesen werden, weil das Vorbild, der Referent, der Gegenwart entzogen ist. Es können vielmehr ihrerseits nur Abbilder, durch Texte als historisch implementierte Bildzeugnisse als Vorbilder angeführt werden: Zeugnisse aber sind im Museum pures Zeigen. Das museale Exponat im Geschichtsmuseum stellt also vorgeblich

19 | Ebd., S. 58 f. 20 | Crew, S.R./Sims, J.E.: Locating Authenticity, S. 159.

7 Das historische Museum als Ort des Authentischen | 129 Zeichen von etwas Vergangenem aus, tatsächlich aber setzt es sie aufzeigend selbst erst in diesen Status.«21

Im Museum werden die Überreste dann in ein ästhetisches System integriert, um bestimmte Botschaften über die Historie zu vermitteln. In der historischen Museumsausstellung spiegeln sich daher nicht (prä-)historische Identitäten, sondern gegenwärtige Ideologien und Perspektiven auf die Vergangenheit wider. Entsprechend schlussfolgern die Archäologen Michael Shanks und Christopher Tilley: »It is the present which is preserved, not the past.«22 Der Museumsgegenstand ist also eingebunden in eine museale Inszenierung, die gesellschaftliche Erwartungen widerspiegelt und die sich daher im Lauf der Zeit stark verändert hat. Der Begriff der Inszenierung bezieht sich dabei in einer allgemeinen Definition auf »jegliche intentionale Platzierung, Zusammenstellung mit anderen Objekten, jede[n] Einsatz von Licht, Farben, Sockeln usw«.23 Als eine frühe Variante der Inszenierung in Museumsausstellungen beschreibt Brigitte Kaiser die malerische Präsentationsweise: »Gemeint ist damit eine Aufstellung von Objekten fern jeder chronologischen, typologischen, material- oder funktionsbezogenen Systematik, die darauf zielt, möglichst alles zu zeigen und einen malerischen Gesamteindruck hervorzurufen.«24 Diese Form der Inszenierung, bei der die Ausstellungsarchitektur stellenweise auf die Gegenstände abgestimmt wurde, kam bereits im 19. Jahrhundert zur Anwendung. Ziel der bühnenbildähnlichen Präsentationen war die Vermittlung eines Lebensgefühls der darzustellenden Epoche. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich erstmals im Rahmen der neuen Hygieneund Sozialmuseen eine neue Ausstellungstechnik, bei der die Objekte als konkretes Anschauungsmaterial für vorformulierte Botschaften an das Publikum dienten. Diese volkspädagogische Nutzung von Museumsobjekten wurde, wie schon in Kapitel 1.1 veranschaulicht wurde, anschließend im Nationalsozialismus propagandistisch vereinnahmt. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre hinein lag der Fokus dann auf sachlichen und wissenschaftlichen Ausstellungen, die sich auf die reine Präsentation der Objekte konzentrierten. Ab den 1970er Jahren führten umfassende Veränderungen im Ausstellungswesen zur Entwicklung neuer musealer Darstellungsformen, die erstmals explizit als ›Inszenierungen‹ bezeichnet

21 | Ernst, W.: Geschichte, Theorie, Museum, S. 13 f. 22 | Shanks, M./Tilley, C.: Re-Constructing Archaeology, S. 68. 23 | Kaiser, B.: Inszenierung und Erlebnis in kulturhistorischen Ausstellungen, S. 35. 24 | Ebd., S. 31 ff.

130 | Die »Aura« des Originals im Museum

wurden. Große Bekanntheit erlangte der Begriff aber erst im Zuge der Ausstellung Preußen – Versuch einer Bilanz (Berlin 1981).25 Bei der Ausstellung, die im teilweise noch von Kriegsschäden gezeichneten Martin-Gropius-Bau gezeigt wurde, setzten die Verantwortlichen – neben Gottfried Korff u.a. der Architekt Jürg Steiner und der Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann – erstmals im großen Stil auf theatralisch inszenierte Räume und Lichtinszenierungen.26 Ähnliche Formen der Inszenierung mit einem Zusammenspiel von Architektur, Szenografie und Objekten kam auch bei späteren von Korff und Steiner (mit-)gestalteten Ausstellungen, wie z.B. der 1994 im Gasometer Oberhaus gezeigten Ausstellung Feuer und Flamme – 200 Jahre Ruhrgebiet (Abbildung 2) oder in der Ausstellung Sonne, Mond und Sterne – Kultur und Natur der Energie (Essen 1999) zum Einsatz. Einen weiteren wichtigen Impuls lieAbbildung 2: Spiegelkabinett in der Ausstellung Feuer und Flamme im Gasometer Oberhausen, 1994

ferte nach Mario Schulze die große neue Dauerausstellung des Historischen Museums in Frankfurt am Main (1972). Dadurch wurden die bis dahin vorherrschenden ›Schatzhaus-Präsentationen‹ zunächst von textlastigeren und weniger auf Objekte

25 | Vgl. ebd., S. 31 ff. 26 | Vgl. dazu: http://www.steiner.archi/?p=1919 (Stand: 1. Juni 2018).

7 Das historische Museum als Ort des Authentischen | 131

setzenden Ausstellungen abgelöst: »Statt die gesammelten Objekte einfach in Serien oder als Einzelstücke zu präsentieren, sollten soziologisch informierte Texte und Grafiken den ›Gebrauchswert‹ der ›schweigenden‹ Objekte herausschälen.«27 Diese textlastigen Präsentationen wurden ihrerseits laut Schulze bereits im Laufe der 1970er und 1980er Jahre wiederum schrittweise von bühnenbildnerischen Ensembles und den oben erwähnten szenografischen Gestaltungsansätzen verdrängt oder ergänzt. Die Objekte spielten im Rahmen dieser Inszenierungen wieder eine größere Rolle. Die Bedeutung der Objekte verstärkte sich in den 1990er Jahren im Zuge des material turn in den Kultur- und Geisteswissenschaften weiter, was dazu führte, dass man bei der Gestaltung von Ausstellungen wieder mehr Aufmerksamkeit auf die Präsentation von (originalen) Objekten richtete.28 Die beschriebenen modernen Formen von Inszenierungen, wie sie sich insbesondere seit den 1980er Jahren im Ausstellungswesen entwickelt und verbreitet haben, hat Brigitte Kaiser als rekonstruktive Raumbilder bezeichnet. Darunter versteht sie »all die Inszenierungen, die zum Ziel haben, eine bestimmte historische Begebenheit zu rekonstruieren oder an historische Situationen zu erinnern« (wie z.B. Freilichtmuseen oder historische Häuser und Räume).29 Im Gegensatz zu historischen Themenparks, wo derartige rekonstruktive Raumbilder ebenfalls häufig vorkommen, steht in Museumsausstellungen die wissenschaftliche Korrektheit im Mittelpunkt. Bei den rekonstruktiven Raumbildern kann es sich um vollständige Rekonstruktionen auf Basis wissenschaftlicher Forschung, um authentische Ensembles von einst tatsächlich zusammengehörigen Gegenständen oder um nicht-authentische Zusammenstellungen von Gegenständen einer bestimmten Epoche handeln.30 Die gesteigerte Form des rekonstruktiven Ansatzes bei den Raumbildern stellen die illusionistischen Umwelten dar, die von Besucherinnen und Besuchern mit allen Sinnen wahrgenommen werden können und ihnen ein Gefühl des Dabei-Seins in der Geschichte vermitteln sollen.31 Insbesondere detailgetreue und bühnenhafte Nachbildungen haben dabei nicht nur eine visualisierende Funktion, sie suggerieren außerdem, »dass man die Vergangenheit lückenlos und authentisch rekonstruieren könne, wodurch der fiktionale Gehalt einer jeden historischen Darstellung negiert

27 | Schulze, M.: Wie die Dinge sprechen lernten, S. 337. 28 | Vgl. ebd., S. 337 f. 29 | Kaiser, B.: Inszenierung und Erlebnis in kulturhistorischen Ausstellungen, S. 40. 30 | Vgl. ebd., S. 41 f.; zum Begriff des Ensembles siehe außerdem Kunz-Ott, H.: Möglichkeiten der Vermittlung, S. 22 ff. 31 | Vgl. Kaiser, B.: Inszenierung und Erlebnis in kulturhistorischen Ausstellungen, S. 43.

132 | Die »Aura« des Originals im Museum

wird«.32 Jaap Lengkeek unterscheidet hierbei zwei Präsentationsformen von Gegenständen in Museumsausstellungen, die die Künstlichkeit der Darstellung entweder betonen oder verschleiern: Historisch ist die Präsentation, wenn die Entwicklungsgeschichte des Objekts sowie die damit einhergehenden Veränderungen und Einflüsse wie Patina, Beschädigungen, aber auch Rekonstruktionen gezeigt werden. Ahistorisch ist die Präsentation, wenn sichtbare Spuren der Vergangenheit entfernt und das Exponat in seinen (künstlich festgelegten) Ursprungszustand versetzt wurde.33 Bei der historischen Präsentationsweise wird die Medialität des Gezeigten also verdeutlicht, während sie bei der a-historischen Darstellungsform ausgeblendet und für die Betrachtenden unsichtbar gemacht wird. In der a-historischen Präsentationsform präsentieren sich die Ausstellungsgegenstände als Originalquellen, die über ihre Zeit berichten. Derartige a-historische Formen haben aufgrund dieser Suggestion bereits früh Kritik hervorgerufen, wie sie z.B. durch Hans-Joachim Schalles und Friedrich Gross 1979 in Bezug auf die neu konzipierte Dauerausstellung des Römisch-Germanischen-Zentralmuseums im Köln (RGZM) geäußert wurde. Schalles und Gross warfen dem RGZM vor, dass es versuchen würde, den Besucherinnen und Besuchern eine »durch Interpretation nicht entstellte, wertfreie Geschichte« zu zeigen. Dabei würde das RGZM das der vermeintlich neutralen Präsentation zugrundeliegende Geschichtsbild verschweigen und Geschichte als naturgegeben präsentieren.34 Solche impliziten Geschichtsbilder wurden noch in den 1990er Jahren von Martin Schmidt und Sabine Wolfram identifiziert, die beklagten, dass das Thema der Archäologie in Museen weiterhin die Beschreibung des technischen Fortschritts sei, wobei eine »Kontinuität zwischen Gestern und Heute« proklamiert und »die Vergangenheit enthistorisiert« und zum »Spiegel unserer eigenen [...] Konsumgesellschaft« gemacht werden.35 In dieser Hinsicht können Stephanie Moser zufolge auch naturalistische Dioramen und Rekonstruktionen problematisch sein, da sie zwar einerseits das Potenzial haben, vergangene Lebenswelten zum Leben zu erwecken, andererseits aber die Gefahr in sich bergen, historisch gewachsene gesellschaftliche Verhältnisse zu naturalisieren.36

32 | Vgl. Godau, S.: Inszenierung oder Rekonstruktion?, S. 203. 33 | Vgl. Lengkeek, J.: The Authenticity Discourse of Heritage. 34 | Vgl. Schalles, H.-J./Gross, F.: Untersuchungen zur Objektpräsentation im RömischGermanischen Museum Köln, S. 141 ff. 35 | Schmidt, M./Wolfram, S.: Westdeutsche Museen – objektiv und belanglos, S. 38 ff. 36 | Vgl. Moser, S.: The Dilemma of Didactic Displays, S. 95.

7 Das historische Museum als Ort des Authentischen | 133

Die kritische Auseinandersetzung mit Inszenierungen hat zu einer verstärken Aufmerksamkeit für deren Wirkung und einem verstärkten Fokus auf die Wechselwirkung zwischen Inszenierung und den Besuchern und Besucherinnen geführt. Aktiv mitgedacht werden deren Deutungsmuster in den abstrahierenden Raumbildern, die Kaiser als zweite Form der rekonstruktiven Raumbilder deutet. Dabei handelt es sich um »jene Formen der Inszenierung, die über eine historisch bestimmbare Situation hinausweisen. Die Gestaltung tritt in den Vordergrund, der Designer oder Künstler bringt sich mit seinem künstlerischen Ausdruck ein.«37 Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Frage, wie die Objekte mit den Besuchern und Besucherinnen in Bezug gesetzt werden können. Anders als bei den Ensembles werden die Objekte dabei mitunter auch in unerwartete Kontexte gestellt, wo sie zum Nachdenken anregen können. Ziel ist laut Kaiser »in erster Linie die Auseinandersetzung mit Ideen und weniger die Ausstellung von Objekten.«38 Dabei wird »bewusst der Versuch unternommen, keine eindimensionalen Erklärungen zu geben, sondern Kontexte zu schaffen, die es dem Besucher ermöglichen, Inhalte im Zusammenhang kennenzulernen und somit auch Wechselwirkungen kritisch hinterfragen zu können.«39 Dieser Einsatz von Inszenierungen in Museumsausstellungen kommt deshalb auch dem pädagogischen Verständnis von Inszenierungen, wie es beispielsweise von der Arbeitsgruppe für Empirische Bildungsforschung erarbeitet wurde, am nächsten: »Als Inszenierung verstehen wir solche Präsentationsformen, die mit anschaulichen Mitteln deuten. Dabei soll ausdrücklich mehr und anderes geschaffen werden, als eindimensionale Erklärungszusammenhänge von Objekt und Text. Inszenierungen sollen vielmehr durch das absichtsvolle Arrangement von Original und Medien und anderen Ausstellungsmitteln Kontexte schaffen, die auf Vermittlung vernetzter Bezüge und Wechselwirkungen hin angelegt sind.«40

Inszenierungen erhalten ihre Authentizität dabei nicht nur über den Einsatz von Originalen, sondern auch auf andere Weise. Sabine Schindler hat dies am Beispiel von drei amerikanischen historic sites gezeigt, die sich alle bei ihren Darstellungen auf eine ›authentische‹ Darstellung der Vergangenheit beriefen, diese aber in unterschiedlicher Weise realisierten. In Mount Vernon, dem ehemaligen Landsitz des amerikanischen Präsidenten George Washington (1732-1799), standen originale Ex-

37 | Kaiser, B.: Inszenierung und Erlebnis in kulturhistorischen Ausstellungen, S. 46. 38 | Ebd. 39 | Ebd., S. 36. 40 | Paatsch, H.-U.: Konzept Inszenierung, S. 8.

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ponate als Garant für Echtheit und Objektivität im Mittelpunkt der Darstellungen. Je mehr originale Artefakte gezeigt wurden, desto plausibler und authentischer sollte das Gezeigte wirken.41 In dem Living-History-Museum Colonial Williamsburg spielte Authentizität dagegen nur eine untergeordnete Rolle und diente lediglich dazu, die im Museum dargebotenen Living-History-Darbietungen glaubwürdiger zu gestalten. Im Freilichtmuseum Plimoth Plantation wiederum stand die Erschaffung eines ›authentisch‹ wirkenden historischen environments im Vordergrund. Der Authentizitätsanspruch leitete sich dabei nicht aus der intrinsischen Authentizität der baulichen und gegenständlichen Umgebung, sondern aus der Plausibilität der im Gelände des Museums choreographierten Szenen und der historisch korrekten Ausführungen der dargebotenen Aktivitäten ab.42 Den gezielten Einsatz von Authentizität in historischen Darstellungen hat Marco Kircher für den Museumsbereich an zwei unterschiedlichen Beispielen, nämlich der Ausstellung Babylon – Mythos und Wahrheit (Berlin 2008) und der bereits mehrmals erwähnten Wanderausstellung Tutanchamun – Sein Grab und die Schätze diskutiert. In beiden Fällen soll der Wahrheitsgehalt des Gezeigten verdeutlicht werden, was aber wie bei den erwähnten amerikanischen historic sites auf unterschiedliche Weisen erreicht wird. In der Babylon-Ausstellung wird die Autorität des Gezeigten durch das Ausstellen fast ausschließlich originaler Funde unterstrichen. Zugleich ist die Schirmherrschaft des Außenministers Beleg für die Seriosität der Präsentation.43 In der Tutanchamun-Ausstellung sind dagegen keinerlei Originale zu sehen – die Authentizität der Darstellung wird hier mit anderen Stilmitteln erzeugt. So wird zu Beginn der Ausstellung ein Film mit ›Original‹-Sequenzen der Entdeckung der Grabstätte aus den 1920er Jahren gezeigt, der das Gefühl eines Dabeiseins suggeriert, was zusätzlich durch die dunkle Atmosphäre des Vorführraums sowie durch eine spärliche Spotbeleuchtung unterstrichen wird. Gleichzeitig werden viele Objekte im rekonstruierten Originalzustand gezeigt, bei denen großer Wert auf Detailgenauigkeit gelegt wurde und die daher von den Ausstellungsmachern und -macherinnen als »Originaldubletten« bezeichnet werden.44 In der Tutanchamun-Ausstellung wird also eine Nähe zum historischen Geschehen suggeriert, die den Authentizitätseffekt steigern soll. Angesprochen wird dabei nicht primär das intellektuelle, sondern das

41 | Vgl. Schindler, S.: Authentizität und Inszenierung, S. 239 f. 42 | Vgl. ebd., S. 241 f. 43 | Vgl. Kircher, M.: Babylon & Tutanchamun, S. 33 f. 44 | Vgl. ebd., S. 36 ff.

7 Das historische Museum als Ort des Authentischen | 135

sinnliche Empfinden.45 Im Katalog zur Ausstellung heißt es zum Selbstverständnis: Die Repliken-Ausstellung tritt »nicht in Konkurrenz zu den Ausstellungen, die Originale zeigen, sondern ergänzt sie. Sie bekennt sich zur Rekonstruktion, allerdings auf allerhöchstem Niveau.«46 Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Repliken von ägyptischen Kunsthandwerkern geschaffen wurden und in den Nachbildungen »der Respekt vor der Kultur ihrer Vorfahren zu spüren ist« und diese somit »die Geschichte in die Gegenwart transportieren.«47 Ein ausführlicher Bericht über die Anfertigung der Repliken und die Recherchen zum Ausstellungsprojekt, bei dem zwei Ägyptologen als wissenschaftliche Berater fungierten, soll zusätzlich die Vertrauenswürdigkeit und Autorität der Ausstellung stärken. Die Babylon- und die Tutanchamun-Ausstellung stehen für zwei Methoden der Inszenierung von Authentizität. Eva Pirker und Mark Rüdiger haben diese beiden Formen der Zuschreibung als authentisches Zeugnis und als authentisches Erleben bezeichnet. Während beim authentischen Zeugnis Quellen, Zeitzeugen, Unikate und historische Orte als Argument für die Authentizität fungieren, wird beim authentischen Erleben mit Mitteln aus der Gegenwart wie Kopien, Repliken oder Reenactment die Annäherung an eine für plausibel oder typisch gehaltene Vergangenheit gesucht. Der entscheidende Unterschied hinsichtlich der Rolle der Museumsgegenstände ist laut Pirker und Rüdiger, dass sich die Besucherinnen und Besucher im ersten Fall dem Objekt unterordnen und von diesem vereinnahmt werden, während der Gegenstand im zweiten Fall vereinnahmt und genutzt wird.48

45 | Vgl. ebd., S. 42. 46 | Heinen, P.: Schau ohne Schranken, S. 121. 47 | Ebd. 48 | Vgl. Pirker, E.U./Rüdiger, M.: Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen: Annäherungen, S. 17 f.

II Empirische Untersuchung

8 Theoretischer Rahmen der Untersuchung

Die Analyse des Benjamin’schen Aura-Begriffes sowie der Begriffe des Originals und der Authentizität im vorhergehenden Teil haben Zweifel an der Geltung der Alltagstheorie von der Aura des Originals aufkommen lassen. So hat die eingehende Betrachtung des Aura-Begriffes gezeigt, dass sich das Konzept der Aura nur bedingt für eine museums- und geschichtsdidaktische Fundierung der Wirkungsweise von Originalen im Museumskontext eignet. Dies hat v.a. zwei Gründe: Erstens lässt sich durch eine Analyse von Benjamins Werk nicht eindeutig klären, was er selbst unter Aura verstanden hat. Gerade wegen seiner unterschiedlichen Wurzeln und der teils widersprüchlichen Definitionen bleibt der Begriff der Aura höchst ambivalent. Zweitens umschreibt der Aura-Begriff, anders als in der Museumsliteratur angenommen, kein rein motivationales, sondern vielmehr ein medientheoretisches Konzept, das eine große Nähe zu (medien-)psychologischen Konstrukten wie Flow-, Präsenzoder Transportationserleben aufweist. Problematisch an derartigen Konzepten ist in Bezug auf die Authentizität von Museumsobjekten, dass sie vornehmlich auf die rein subjektive und emotionale Komponente von objektbezogenen Erfahrungen fokussiert sind und dabei die sozialen und kognitiven Aspekte, die beim Museumsbesuch eine große Rolle spielen, vernachlässigen. Anstatt auf Aura oder ein verwandtes Konzept aus der Medienrezeptionsforschung möchte ich mich im Folgenden auf das Interessenkonstrukt aus der pädagogischen Psychologie beziehen, um das In-Beziehung-Treten mit Gegenständen, das durch einen Zustand positiven emotionalen Erlebens, aber auch durch kognitive Faktoren gekennzeichnet ist, theoretisch zu erfassen. Im Rahmen der PersonGegenstands-Konzeption, wie sie von der sogenannten Münchner Interessentheorie vertreten wird, verstehe ich die Authentizität von Museumsgegenständen (Objektauthentizität) als einen Umweltfaktor (Interessantheit), der sich auf die Entstehung von situationalem Interesse auswirkt. Da aus Sicht der Interessentheorie die Umwelt über Repräsentationen erfahren wird, bietet sich eine semiotische Konzeption

140 | Die »Aura« des Originals im Museum

der Objektauthentizität in Anlehnung an den Zeichenbegriff von Charles Sanders Peirce (1839-1914) an. Ausschlaggebend ist dabei nicht die ›eigentliche‹, intrinsische Authentizität der Gegenstände, sondern, in welcher Form ihre Authentizität für die Betrachtenden (re-)präsentiert wird. Originale sind nach diesem Verständnis indexikalisch-authentisch, weil sie z.B. einem bestimmten Ort (Provenienz) oder einer bestimmten Zeit (Datierung) zugeordnet werden können. Kopien der Originale sind ikonisch-authentisch, weil sie ihren originalen Vorbildern äußerlich ähnlich sind. Dass sowohl Originale als auch Kopien authentisch sein können, bedeutet aber nicht automatisch, dass es keinen Unterschied macht, ob es sich bei einem Objekt um ein Original oder eine Kopie handelt. Daher wird im Anschluss daran unter Bezug auf Pierre Bourdieus Theorie der sozialen Praxis erläutert, inwiefern die Wertschätzung von Originalen in Museen (und damit in gewisser Weise auch die Wahrnehmung von Aura bzw. das auratische Erleben in Museen) als kulturelles Kapital einer privilegierten gesellschaftlichen Gruppe angesehen werden kann, die sich auf diese Weise von den anderen Schichten abgrenzen will.

8.1 INTERESSENTHEORIE Im Folgenden soll unter Bezug auf die Person-Gegenstands-Konzeption des Interesses aus Sicht der sogenannten Münchner Interessentheorie die Beziehung zwischen Museumsbesucherinnen und -besuchern und den authentischen Ausstellungsobjekten theoretisch erfasst werden. Dafür wird zunächst der Interessenbegriff und anschließend die pädagogische Erforschung von Interesse näher dargestellt. Im Anschluss daran werden die Merkmale eines interessenthematischen Bezugs zwischen Person und Gegenstand erläutert und die Erfassung derartiger Beziehungen anhand der Konstrukte des situationalen und individuellen Interesses erläutert. Der Interessenbegriff Im alltäglichen Gebrauch bezieht sich der Begriff Interesse meist auf positive Gefühle und wird oftmals synonym mit den Begriffen ›Attraktivität‹, ›Präferenz‹ oder ›Vorliebe‹ benutzt. Eine große Bedeutung hat der Interessenbegriff traditionell im Bereich der pädagogisch-psychologischen Lerntheorien, daneben aber auch in Alltagstheorien zu Erziehung und Lernen, insbesondere dann, wenn über die motiva-

8 Theoretischer Rahmen der Untersuchung | 141

tionalen Bedingungen von Erziehung und Lernen nachgedacht wird.1 In der Interessenforschung entsteht Interesse aus der Interaktion eines Individuums mit der Umwelt und beschreibt eine spezifische Beziehung zwischen einer Person und einem bestimmten Gegenstand ihrer (physischen) Umwelt.2 Das Interessenkonstrukt hat dabei viele Ähnlichkeiten zu anderen positiven emotionalen Erfahrungen wie Spaß oder Freude, zeichnet sich im Gegensatz zu diesen aber durch einen bestimmten Grad von persönlicher Relevanz und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit interessenbezogenen Tätigkeiten aus. Beim Interessenbegriff sind demnach kognitive und affektive Komponenten miteinander verbunden.3 Zurückführen lässt sich der Begriff ›Interesse‹ auf das lat. interesse (›an etwas teilnehmen‹, ›dabei sein‹; aber auch: ›dazwischen sein‹, ›dazwischen liegen‹ oder ›sich unterscheiden‹). Laut Duden umfasst Interesse daneben die ›geistige Anteilnahme‹ und ›Aufmerksamkeit‹ sowie die ›Neigung‹ oder ›Vorliebe‹ und im weiteren Sinne auch den ›Nutzen‹ oder ›Vorteil‹.4 Hier zeigt sich die Verwandtschaft des Interessebegriffs mit den im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Konzepten der Involviertheit und des narrativen Erlebens und damit natürlich auch mit Benjamins Aura-Konzept. Seine Wurzeln hat der Interessenbegriff in der hellenistischen Philosophie, wo er als συµφέρον (griech. symféron, dt. ›Nutzen‹ oder ›Vorteil‹; auch ›Interesse‹) eine wichtige Rolle in der Gesellschaftstheorie Epikurs (um 341-271/270 v. Chr.) spielte. In dieser antiken Interessentheorie bildet das Sympheron die Basis für einen Gesellschaftsvertrag, der von der Gleichberechtigung aller Individuen in dieser Gesellschaft ausgeht. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, so Epikur, richten sich dabei nach utilaristischen Erwägungen und dem Prinzip der Freiwilligkeit.5 Diese antike Nützlichkeitstheorie blieb bis in die Neuzeit fest mit dem Interessenbegriff verbunden, und es ist diese Bedeutung von Interesse im Sinne einer gesellschaftlichen Verpflichtung, die im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zur Verwendung von ›Interesse‹ im rechtlichen Sinn führt, der sich überwiegend auf Zinsschulden oder Schadensersatzpflichten bezieht. Diese (vermögens-)rechtliche Bedeutung von Interesse findet sich noch im 18. Jahrhundert im Deutschen Wörterbuch von Ja-

1 | Hidi, S./Renninger, K.A./Krapp, A.: Interest, a Motivational Variable That Combines Affective and Cognitive Functioning, S. 91. 2 | Krapp, A.: Interest, motivation and learning, S. 24 3 | Ebd. 4 | Artikel »Interesse« auf Duden online, https://www.duden.de/node/641062/revisions/1683 140/view (Stand: 20. April 2018). 5 | Vgl. Terz, P.: Interessentheorie, S. 229 ff.

142 | Die »Aura« des Originals im Museum

cob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859). Sie definieren Interesse als »antheil, der dem vermögen jemandes aus der handlung eines andern entsteht«, aber auch «nutzen, vortheil überhaupt« (im Interesse handeln), »der zins eines ausgeliehenen kapitals«.6 Die von Johann Georg Krünitz (1728-1796) begründete Oeconomische Realencyclopädie (1773-1858) nennt neben den rechtlichen Aspekten auch eine Bedeutung im Bereich der »schönen Künste«, wo es »dasjenige, worauf sich alle Theile eines Ganzen beziehen und zu dessen Hervorbringung sie alle wirken oder wirken sollen«, meint. Neben dem Substantiv wird im Krünitz auch das Verb ›Interessiren‹ aufgeführt, das sich vom fr. intéresser ableitet, als »Das Herz rühren; das Herz zu einer leidenschaftlichen Theilnehmung bewegen; einem etwas zu einer Angelegenheit des Herzens machen. Zuweilen bedeutet es auch nur: die Aufmerksamkeit reitzen«.7 Dieser emotionale Aspekt des Interesses ist spätestens im Zusammenhang mit der Französischen Revolution belegt und findet sich z.B. bei Johann Gottlieb Fichte (1762-1814). Für Fichte muss Interesse immer »nothwendig von einem Gefühle der Lust begleitet seyn, und ein wirklich behauptetes Interesse empirisch ein Gefühl der Lust hervorbringen, daher auch die empirische Selbstachtung sich als Selbstzufriedenheit äussert«.8 Im Zusammenhang mit der Aufklärung wird der Interessenbegriff auch zu einer soziologischen Kategorie, mit der versucht wurde, das Handeln eines Individuums in der Gesellschaft zu erklären. Immanuel Kant (1724-1804) unterscheidet zwischen der Neigung als »Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen« und dem Interesse als »Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens [. . . ] von Prinzipien der Vernunft. Dieses findet also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der Vernunft gemäss ist.«9 Aus Kants Sicht sind damit alle Handlungen des Menschen interessegeleitet. Wahrhaft vernünftig zu handeln ist in diesem Sinne nur dann möglich, wenn man dem eigenen Interesse folgen kann, ohne unvernünftige Motive zu haben.10

6 | Grimm, J./Grimm, W.: Das Deutsche Wörterbuch, Sp. 2147. 7 | Krünitz, J.G.: Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Staats- StadtHaus- und Landwirthschaft, S. 448. 8 | Fichte, J.G.: Versuch einer Kritik aller Offenbarung, S. 16 ff. 9 | Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 35. 10 | Vgl. Hutter, A.: Das Interesse der Vernunft, S. 33 f.

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Überblick über die pädagogische Erforschung von Interesse Wie im vorhergehenden Abschnitt deutlich wurde, existierten bereits seit der Antike philosophische, politologische, juristische und soziologische Perspektiven auf den Interessenbegriff. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der pädagogisch-psychologischen Interessenforschung, deren Anfänge im 19. Jahrhundert zu suchen sind. Eine wichtige Rolle spielte Johann Friedrich Herbart (1776-1841), der in seinem Werk Allgemeine Pädagogik von 1806 einen ersten Anreiz für eine begriffliche Präzisierung von Interesse setzte: »Das Interesse, welches mit der Begehrung, dem Wollen, und dem Geschmacksurtheil gemeinschaftlich, der Gleichgültigkeit entgegen steht, unterscheidet sich dadurch von jenen dreyen, daß es nicht über seinen Gegenstand disponirt, sondern an ihm hängt. [. . . ] Der Gegenstand [. . . ] des Interesse[s] kann nie derselbe seyn mit dem, was eigentlich begehrt wird. Denn die Begierde, in dem sie zugreifen möchte, strebt nach etwas Künftigem, das sie nicht schon besitzt: hingegen das Interesse entwickelt sich im Zuschauen, und haftet noch an dem angeschauten Gegenwärtigen. Nur dadurch erhebt sich das Interesse über der bloßen Wahrnehmung.«11

Die systematische pädagogische Erforschung von Interesse beginnt allerdings erst um die Jahrhundertwende, als sich Pädagogen wie John Dewey (1859-1952) oder Georg Kerschensteiner (1854-1932) mit den Zusammenhängen von Interesse, Lernen und Leistung beschäftigen.12 Insbesondere Dewey gilt im angloamerikanischen Raum als einer der wichtigsten Vorreiter der modernen Interessenforschung. Er thematisiert das Interesse dabei auf der Ebene gesellschaftlicher Strukturen und unterscheidet zwischen legitimen Interessen, die Entwicklungsprozesse fördern, und illegitimen Interessen, die sich entwicklungshemmend auswirken können wie z.B. kurzzeitige Aufregung.13 Des Weiteren identifiziert Dewey drei Charakteristiken des Interesses: Erstens ist das Interesse ein aktiver und antreibender Zustand; zweitens basiert das Interesse auf realen Gegenständen; und drittens hat das Interesse eine hohe persönliche Relevanz.14 Ähnliche Positionen wie Dewey vertrat auch bereits vor ihm der Psychologe und Philosoph William James (1842-1910). James sieht das Interesse als eine der treibenden Kräfte des menschlichen Geistes. Er unterscheidet 11 | Herbart, J.F.: Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet, S. 132 f. 12 | Vgl. Krapp, A.: Interesse, Lernen, Leistung, S. 747. 13 | Vgl. Faulstich, P./Grotlüschen, A.: Erfahrung und Interesse beim Lernen, S. 65. 14 | Vgl. Schiefele, U.: Interest, Learning, and Motivation, S. 299 f.

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zwischen selektivem Interesse (selective interest) als bewusstes und mit einem gewissen Aufwand verbundenes Interesse und gegenwärtigem Interesse (momentary interest) als impulsives oder natürliches Interesse.15 . Problematisch an diesen frühen Interessentheorien ist v.a. der weitgefasste Interessenbegriff, der ohne genaue Differenzierung alle motivationalen Faktoren umfasst.16 Der frühen Interessenforschung gelang es daher nicht vollständig, den Alltagsbegriff des Interesses in einen wissenschaftlichen Kontext zu überführen.17 Um die Jahrhundertmitte wurde das Interessenkonstrukt schließlich durch einen Paradigmenwechsel hin zum Kognitivismus und durch neue psychologische Konstrukte wie Aufmerksamkeit, Neugierde, Einstellung, (Leistungs-)Motivation oder das Konzept des Flow-Erlebens verdrängt.18 Vereinzelte Ansätze, die sich mit dem Interesse als emotionalen Zustand auseinandersetzen, gab es in der ab den 1970er Jahren aufkommenden Emotionspsychologie.19 Eine größere Bedeutung erlangte die Interessenforschung aber erst wieder in den 1980er und 1990er Jahren, als sich abzuzeichnen begann, dass die oben erwähnten psychologischen Konzepte nicht ausreichten, um alle Aspekte der Lernmotivation zufriedenstellen zu beschreiben.20 Insbesondere in der europäischen Forschung erfährt der Interessenbegriff seit Mitte der 1980er Jahre eine Renaissance, was v.a. an den Arbeiten von Hans Schiefele und Manfred Prenzel liegt, die mit ihren Schriften den Grundstock für die sogenannte Münchner Interessentheorie legten.21 Mit ihrem Ansatz wandten sich Schiefele und Prenzel gegen die populären psychologischen Motivationstheorien, die ihrer Ansicht nach sich einseitig auf die kognitiven Aspekte von Motivation beziehen und dabei den Inhaltsund Gegenstandsbezug des Interesses vernachlässigen würden. Empirisch fundiert

15 | Vgl. ebd., S. 301. 16 | Vgl. Todt, E.: Das Interesse, S. 10. 17 | Vgl. Krapp, A./Hidi, S./Renninger, K.A.: Interest, Learning and Development, S. 9. 18 | Motivationale Variablen wie Aufmerksamkeit werden auch häufig in der museologischen Besucherforschung erfasst. Eine großangelegte Studie wurde z.B. von Beverly Serrell durchgeführt; siehe dazu Serrell, B.: Paying Attention. 19 | Angeführt sei hier z.B. Silvia, der Interesse als Teil der Persönlichkeit sowie der individuellen Differenzen, Hobbies und Ziele einer Person definiert und zwischen ›Interesse‹ und ›Interessen‹ unterscheidet; vgl. Silvia, P.J.: Exploring the Psychology of Interest, S. 4 f. 20 | Vgl. Krapp, A.: Interest, motivation and learning, S. 23; vgl. Hidi, S./Renninger, K.A./Krapp, A.: Interest, a Motivational Variable That Combines Affective and Cognitive Functioning, S. 90. 21 | Schiefele, H.: Lernmotivation und Motivlernen; Schiefele, H./Prenzel, M.: Interesse.

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und weiter ausgearbeitet wurde die Münchner Interessentheorie in den 1990er Jahren v.a. durch die Arbeiten von Andreas Krapp und Ulrich Schiefele. Allgemeine Bestimmungsmerkmale von Interesse Bevor näher auf die von Schiefele und Prenzel begründete Person-GegenstandsKonzeption des Interesses eingegangen wird, soll zunächst geklärt werden, wann man aus wissenschaftlicher Perspektive von Interesse sprechen kann. Grundsätzlich lassen sich fünf allgemeine Bestimmungsmerkmale von Interesse unterscheiden, die in der interdisziplinären Interessenforschung als anerkannt gelten. Erstens ist Interesse neurobiologisch nachweisbar und hat daher eine physiologische und neurologische Ursache. Zweitens kann es sich bei Interesse um einen unbewussten Zustand handeln. Drittens beinhaltet das Interesse immer kognitive und affektive Komponenten. Viertens ist das Interesse inhalts- und gegenstandsspezifisch und fünftens ist Interesse das Ergebnis einer Interaktion zwischen Person und Umwelt.22 Für die vorliegende Arbeit sind vorwiegend die letzten drei Punkte bedeutsam, weshalb im Folgenden nur auf diese genauer eingegangen wird. Wie oben erwähnt, können beim Interesse kognitive und affektive Komponenten unterschieden werden. Kognitive Prozesse umfassen nach Niels Birbaumer und Robert Schmidt im kognitionspsychologischen Verständnis »alle bewußten und nicht bewußten Vorgänge«, »die bei der Verarbeitung von organismusexterner oder -interner Information ablaufen, z.B. Entschlüsselung (Enkodierung), Vergleich mit gespeicherter Information, Verteilung der Information und sprachlich-begriffliche Äußerung«.23 Nach Zimbardo und Gerrig ist Kognition ein Begriff »für alle Formen des Wissens«, der sowohl Inhalte als auch Prozesse umfasst: »Die Inhalte der Kognition beziehen sich darauf, was man weiß – Begriffe, Fakten, Aussagen, Regeln und Gedächtnisinhalte [. . . ]. Kognitive Prozesse beziehen sich darauf, wie man diese geistigen Inhalte manipuliert – so dass man die Welt um sich herum interpretieren kann und kreative Lösungen findet, um die Dilemmata des Lebens zu bewältigen.«24

22 | Vgl. Renninger, K.A./Hidi, S.: Revisiting the Conceptualization, Measurement, and Generation of Interest, S. 1 f. 23 | Birbaumer, N./Schmidt, R.F.: Biologische Psychologie, S. 750. 24 | Gerrig, R. J./Zimbardo, P.G.: Psychologie, S. 276.

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Im Zusammenhang mit dem Interesse gibt es Hinweise darauf, dass hochinteressierte Personen ein ausgeprägteres kognitives Verarbeitungsniveau aufweisen, was bedeuten könnte, dass sich ein hohes Interesse förderlich auf den Wissenserwerb auswirkt.25 Von den kognitiven Komponenten lassen sich aus Sicht der Psychologie die affektiven Komponenten abgrenzen.26 Birbaumer und Schmidt unterscheiden hier zwischen primären Emotionen bzw. Gefühlen, die als angeborene Reaktionsmuster wie Glück, Freude, Trauer oder Wut selten länger als ein paar Sekunden dauern und sich nur auf physiologischem Wege messen lassen, und zwischen Stimmungen, die i.d.R. länger anhalten, ohne externe Reize zustande kommen und das Auftreten bestimmter Emotionen wahrscheinlicher machen.27 Kennzeichnend für das Interessenkonstrukt ist die Verknüpfung von affektiven und kognitiven Komponenten im Rahmen einer Erfahrung, die generell als positiv erlebt ist und bei der sich die Aufmerksamkeit auf den Inhalt der Erfahrung richtet.28 Nach Csikszentmihalyi und Rochberg-Halton gibt es dabei zwei Formen emotionaler Begleitprozesse: Den hedonistischen Genuss (»pleasure«), bei dem der Gegenstand des Interesses ohne Rücksicht auf seine Folgen und ohne Bezug auf die individuellen Ziele einer Person konsumiert wird, und die Freude (»enjoyment«), bei der das Gefühl aus der Bewertung des eigenen Handelns vor dem Hintergrund persönlicher Wertvorstellungen resultiert.29 Die Inhalts- und Gegenstandsspezifizität des Interesses bedeutet, dass Interessen »stets auf bestimmte Gegenstände« oder »auf einen bestimmten Sachverhalt, ein Thema oder einen Inhalt« gerichtet sind.30 Dabei kann es sich sowohl um konkrete Gegenstände als auch um Themen oder Themengebiete handeln, z.B. in Form des Interesses an Schulfächern, aber auch um das Interesse an spezifischen Arten von Gegenständen oder einem einzelnen Objekt. Mit der Inhalts- und Gegenstandsspezifi-

25 | Vgl. Schiefele, U.: Der Einfluß von Interesse auf Umfang, Inhalt und Struktur studienbezogenen Wissens, S. 367. 26 | Die Trennung von Kognition und Emotion ist in den letzten Jahren durch die neurowissenschaftliche Forschung angezweifelt worden; vgl. z.B. Damasio, A.R.: Descartes’ error, S. 245 ff.; Die Unterscheidung zwischen kognitiven und affektiven Komponenten soll im Rahmen dieser Arbeit wegen ihrer Bedeutung für das Interessenkonstrukt dennoch als analytische Kategorisierung beibehalten werden. 27 | Vgl. Gerrig, R.J./Zimbardo, P.G.: Psychologie, S. 712. 28 | Vgl. Sansone, C./Smith, J.L.: Interest and self-regulation, S. 345 29 | Vgl. Krapp, A.: Interesse, Lernen, Leistung, S. 764. 30 | Krapp, A.: Intrinsische Lernmotivation und Interesse, S. 397; Krapp, A.: Interesse, Lernen, Leistung, S. 765.

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zität hängt unmittelbar zusammen, dass Interesse stets das Resultat einer Interaktion mit der Umwelt ist. Diese Auffassung ergibt sich aus dem radikalen Konstruktivismus, wie er u.a. von Ernst von Glaserfeld vertreten wurde. Glaserfeld geht davon aus, dass menschliches Wissen nicht objektiv ist, sondern sich aus den Erfahrungen speist, die ein denkendes Individuum auf Grundlage seiner physischen Sinneswahrnehmung interpretiert. Aus radikal-konstruktivistischer Sicht ist objektive Erkenntnis nicht möglich: Die »Erkenntnis liefert kein Bild der realen Welt, sie liefert nur eine subjektive Konstruktion, die zur Welt ›passt‹«.31 In Anlehnung an Piaget postuliert Glaserfeld, dass Wissenserwerb nicht passiv ist, sondern Wissen aktiv konstruiert wird und Kognition nicht auf Erkennung ausgerichtet ist, sondern auf die adaptive Organisation der Erfahrungen im Hinblick auf die Passung und Eignung der eigenen Wahrnehmung der Welt.32 Aus Sicht der Münchner Interessentheorie ist Interesse damit nur analysierbar, wenn Person und Umwelt als bipolare Einheit verstanden werden. Ob Interesse entsteht, hängt also nicht nur mit den persönlichen Präferenzen und anderen Faktoren auf der Personenseite zusammen, sondern wird auch in entscheidender Weise von dem Inhalt, auf den sich das potenzielle Interesse richtet, und von der Umwelt, in der die potenzielle Interessenhandlung stattfindet, geprägt. Die »Münchner Interessentheorie« Im Folgenden soll der Interessenbegriff aus der Sicht der Münchner Interessentheorie dargestellt werden. Dabei handelt es sich um eine pädagogisch ausgerichtete PersonGegenstands-Konzeption des Interesses. Zunächst soll dabei geklärt werden, wann man aus Sicht der Person-Gegenstands-Konzeption von Interesse spricht und welche Merkmale eine Interessenbeziehung kennzeichnen. Danach werden in einem zweiten Abschnitt methodische Zugänge zu situationalem und individuellem Interesse unter der theoretischen Perspektive der Person-Gegenstands-Konzeption dargestellt. Erstmals formuliert wurde die Person-Gegenstands-Konzeption des Interesses in der Rahmenkonzeption für eine pädagogische Interessentheorie, die Anfang der 1980er Jahre im Umfeld der bereits erwähnten Münchner Interessenforscher um Hans Schiefele und von seinen Mitarbeitern Krapp und Prenzel entwickelt wurde.33 In ihrer Rahmenkonzeption definieren sie Interesse als »Relation zwischen Person

31 | Glaserfeld, E. von: Der Radikale Konstruktivismus, S. 55 32 | Vgl. ebd., S. 96 f. 33 | Vgl. Krapp, A.: Das Interessenkonstrukt, S. 299.

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und Gegenstand. Der Gegenstand wird als Umweltausschnitt definiert, den die Person von anderen Umweltbereichen unterscheidet und als eingegrenzte und strukturierte Einheit abbildet.« Zu den Gegenständen rechnen sie dabei neben Inhalten und Themen auch konkrete Objekte, die als »Referenzobjekte« für den subjektiven Gegenstand dienen.34 Interesse ist also »die Beziehung einer Person zu und die Auseinandersetzung mit erfahrbaren Ausschnitten ihrer Umwelt«.35 Das Interessenkonstrukt der Münchner Interessentheorie greift damit drei Aspekte des Interesses, die im vorherigen Abschnitt erläutert wurden, wieder auf. Erstens ist das Interesse inhalts- oder gegenstandsspezifisch. Zweitens bilden Person und Inhalt des Interesses eine bipolare Einheit, da das Interesse immer in einer bestimmten Beziehung zwischen Person und Inhalt existiert. Drittens hat das Interesse sowohl kognitive als auch affektive Komponenten, deren jeweiliger Anteil davon abhängt, inwieweit bereits eine Interessenentwicklung stattgefunden hat.36 Das Alleinstellungsmerkmal des Modells ist, dass Interesse nicht als Einstellung oder stabiles Persönlichkeitsmerkmal konzipiert wird, sondern als Phänomen, das sich aus der Interaktion zwischen einer Person und deren gegenständlicher Umwelt ergibt.37 Im Folgenden soll definiert werden, wann Handlungen und Beziehungen aus Sicht der Münchner Interessentheorie als interessenbezogen bezeichnet werden können. Merkmale einer Interessenbeziehung Krapp geht davon aus, dass interessenthematische Bezüge durch »eine besondere Beziehung einer Person zu einem Erfahrungs- oder Wissensbereich« gekennzeichnet sind. Sie sind »für das Individuum von herausgehobener Bedeutung [. . . ] und mit (positiven) emotionalen und wert-bezogenen Valenzen verbunden«.38 Die Bedeutung der emotionalen Merkmalskomponenten bzw. der gefühlsbezogenen Valenzen des Interesses ergibt sich daraus, dass die Entstehung von Interesse meist an positive Gefühle und Erlebnisqualitäten geknüpft ist. Die erlebten Emotionen beziehen sich dabei auf den Gegenstand des Interesses. Die Münchner Interessentheorie knüpft hier an Überlegungen von Dewey an, der konstatierte, dass »Gefühle in ihrem Ausdruck

34 | Vgl. Prenzel, M./Krapp, A./Schiefe, H.: Grundzüge einer pädagogischen Interessentheorie, S. 166. 35 | Krapp, A.: Intrinsische Lernmotivation und Interesse, S. 396. 36 | Vgl. Hidi, S./Renninger, K.A./Krapp, A.: Interest, a Motivational Variable That Combines Affective and Cognitive Functioning, S. 94 f. 37 | Vgl. Krapp, A.: Entwicklung und Förderung von Interessen im Unterricht, S. 186. 38 | Krapp, A.: Die Psychologie der Lernmotivation, S. 202.

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an Vorgänge und Objekte gebunden« und »nicht für sich allein« existieren. Laut Dewey braucht »selbst ein ›objektfreies‹ Gefühl [. . . ] etwas, das über es hinausgeht, an das es sich binden kann«.39 In der Interessenhandlung zeigen sich diese Gefühle z.B. in Form von Freude, aber auch im Erleben von Flow oder in einem Zustand optimaler Aktivierung. Krapp und Claudia Lewalter haben darauf aufbauend postuliert, dass der »Sachverhalt des positiven emotionalen Erlebens im Verlauf einer Interessenhandlung u.a. durch die Optimierung der Möglichkeiten zur Aktivierung und Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse nach Kompetenzerfahrung, Selbstbestimmung und sozialer Eingebundenheit erklärt werden kann«.40 Die wertbezogene Merkmalskomponente »besagt, daß der Interessengegenstand für die Person eine herausgehobene subjektive Bedeutung besitzt«.41 Wertbezogene Valenzen sind dabei nicht gleichzusetzen mit Einstellungen, sondern sind stattdessen eher als Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit einem Gegenstand zu verstehen. Interesse an der Beschäftigung mit einem Gegenstand muss also nicht zwangsläufig mit einer positiven Einstellung zum Gegenstand des Interesses einhergehen.42 Bezogen auf das Erleben einer Person, spiegelt sich die wertbezogene Komponente des Interesses häufig in der Selbstintentionalität des Handelns wider: Nach Krapp besagt der Begriff der Selbstintentionalität, »daß die Interessenhandlung für sich einen eigenständigen Wert darstellt. Die der Handlung zugrundeliegende Intention dient keinem anderen, außerhalb der Person-Gegenstands-Beziehung liegendem Zweck.«43 Krapp spricht in diesem Zusammenhang am Beispiel von Lernprozessen deshalb auch vom intrinsischen Charakter des Interesses: »Das Individuum erlebt das Lerngeschehen als vom Selbst bestimmt. Der Ort der Handlungsverursachung und -kontrolle liegt im Kernbereich der eigenen Person, und man erlebt deshalb keinen Widerspruch zwischen ›Wollen‹ und ›Sollen‹.«44 Der Gegenstand des Interesses wird dabei vorübergehend oder langfristig in das Selbstkonzept einer Person integriert, und die mit dem Interessengegenstand verbundenen Intentionen sind mit den eigenen Einstellungen und Werten kompatibel.45 Die Bedeutung der Selbstintentionalität für das menschliche Handeln ergibt sich laut der Selbstbestimmungstheorie

39 | Dewey, J.: Kunst als Erfahrung, S. 54 f. 40 | Krapp, A.: Intrinsische Lernmotivation und Interesse, S. 398. 41 | Ebd., S. 399. 42 | Vgl. ebd. 43 | Krapp, A.: Das Interessenkonstrukt, S. 310. 44 | Krapp, A.: Die Psychologie der Lernmotivation, S. 202. 45 | Krapp, A.: Intrinsische Lernmotivation und Interesse, S. 400.

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von Edward Deci und Richard Ryan aus der Tendenz des Menschen, sich seiner sozialen Umwelt anzupassen: »Durch die Integration dieser sozial vermittelten Verhaltensweisen in das individuelle Selbst schafft die Person zugleich die Möglichkeit, das eigene Handeln als selbstbestimmt zu erfahren. Im Bemühen, sich mit anderen Personen verbunden zu fühlen und gleichzeitig die eigenen Handlungen autonom zu bestimmen, übernimmt und integriert die Person also Ziele und Verhaltensnormen in das eigene Selbstkonzept.«46

Der Erfolg dieser Prozesse der Internalisation und Integration hängt davon ab, ob das künftige Verhalten der Person als stärker selbstbestimmt oder kontrolliert erlebt wird. Auf diese Weise können auch extrinsisch motivierte Verhaltensweisen in selbstbestimmte Handlungen überführt werden.47 Krapp geht, bezogen auf die Bearbeitung von Aufgaben im Unterricht, weiter davon aus, dass die intrinsische Motivation stets aus einer mehr oder weniger sichtbaren Verbindung zwischen der Lernaufgabe und dem individuellen Interessengegenstand resultiert: Wenn sich der Lernende mit diesen Gegenständen identifiziert, ist das Kriterium der Selbstintentionalität erfüllt.48 Da diese Prozesse der Identifikation schrittweise erfolgen, können die damit verbundenen Interessen unterschiedlich ›tief‹ im Selbst verankert sein.49 Krapp postuliert daher »eine Struktur der menschlichen Persönlichkeit, die neben dem Kernbereich des individuellen Selbst weitere Bereiche enthält, die in größerer oder geringerer Distanz zu diesem Zentralbereich stehen«.50 Empirische Zugänge zu Interesse Interessenthematische Person-Gegenstands-Bezüge, wie sie aus Sicht der Münchner Interessentheorie konzipiert wurden, sind in empirischen Untersuchungen in unterschiedlicher Form untersucht worden. Interesse wurde dabei entweder als unabhängige Variable aufgefasst, um Auswirkungen des Interesses auf Lernergebnisse oder andere kognitive Verarbeitungsprozesse zu erfassen, oder als abhängige Variable, wie in der vorliegenden Arbeit, wenn beispielsweise die Effekte von Faktoren der Lernumgebung oder Persönlichkeitsvariablen wie Vorwissen oder Bildungs-

46 | Deci, E.L./Ryan, R.M.: Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik, S. 227. 47 | Ebd. 48 | Krapp, A.: Interest, motivation and learning, S. 27. 49 | Vgl. Krapp, A.: Die Psychologie der Lernmotivation, S. 202. 50 | Krapp, A.: Das Interessenkonstrukt, S. 301.

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stand auf das Interesse untersucht wurden.51 Eingesetzt wurden dabei häufig Instrumente wie Fragebögen, in denen das Interesse über Selbstauskünfte erfasst wurde. Laut Krapp sind auf diesem Weg wertbezogene Komponenten leichter zu erfassen als emotionale, weil Wertentscheidungen meist auf bewussten und rationalen Erwägungen beruhen.52 Neben der Art und Weise, wie Interesse erfasst wird, ist auch von Bedeutung, zu welchen Zeitpunkten das Interesse empirisch erfasst werden kann. Krapp, Suzanne Hidi und K. Ann Renninger haben dazu ein Rahmenmodell zur Interessengenese entwickelt, um die Entstehung von Interesse theoretisch zu klären (vgl. Abbildung 3). Abbildung 3: Rahmenmodell der Interessengenese nach Krapp

Im Modell kann das Interesse im Rahmen der Interessengenese unter zwei Gesichtspunkten analysiert werden: einerseits unter dem Aspekt der »Gegenstandsauseinandersetzung«, also die situationsspezifische Beziehung zwischen einer Person und einem Gegenstand oder Gegenstandsbereich zu einem konkreten Zeitpunkt; andererseits kann auch das »über längere Zeiträume anhaltende Interesse, das sich in wiederholten Gegenstandsauseinandersetzungen äußert, aber zeitweise nur latent vorhanden ist«, in den Blick genommen werden.53 Für die zeitspezifische und situationsspezifische Beziehung, die sich in Form eines aktuellen psychologischen Zustands (state interest) widerspiegelt, hat sich in der pädagogisch-psychologischen Interessenforschung die Bezeichnung situationales Interesse durchgesetzt, während die zeit- und situationsübergreifende Beziehung, die sich in einer dauerhaften motivationalen Disposition (trait interest) äußert, in der Literatur meist als individuelles oder persönliches Interesse bezeichnet wird. Das situationale und das individuelle

51 | Vgl. Krapp, A.: Interesse, Lernen, Leistung, S. 751. 52 | Vgl. Krapp, A.: Intrinsische Lernmotivation und Interesse, S. 399. 53 | Prenzel, M./Krapp, A./Schiefe, H.: Grundzüge einer pädagogischen Interessentheorie, S. 166.

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Interesse hängen insofern zusammen, als dass individuelle Interessen wiederum die Entstehung von situationalem Interesse beeinflussen können. Werden in einer konkreten Interessenhandlung bereits vorhandene gegenstandsbezogene Dispositionen aktualisiert, spricht man von aktualisiertem Interesse. Das situationale Interesse kann aber auch durch den Einfluss von Umwelt-, Situations- oder Gegenstandsfaktoren hervorgerufen werden, den man als Interessantheit bezeichnet.54 Für die Entstehung von situationalem Interesse sind also nicht unbedingt bereits vorhandene Interessenbeziehungen zu einem Gegenstand bzw. einem Gegenstandsbereich erforderlich – stattdessen kann auch die Interessantheit des Gegenstands bzw. Inhalts(-bereichs) ausschlaggebend sein. Im Folgenden sollen die beiden Zugänge zum Interesse näher beschrieben werden. Situationales Interesse Unter situationalem Interesse wird in der pädagogischen Interessenforschung ein temporärer psychologischer Zustand verstanden, der durch erhöhte Aufmerksamkeit und Konzentration sowie durch Gefühle wie Spaß, Involviertheit oder Neugierde gekennzeichnet sein kann. Vom individuellen Interesse unterscheidet sich das situationale Interesse dadurch, dass der Gegenstand des Interesses den Ausgangspunkt einer Interessenhandlung bildet und die interessierte Zuwendung zu einem Gegenstand nicht von dem Vorhandensein persönlicher Präferenzen abhängig ist.55 Trotz dieser Gegenstandsspezifizität kann das situationale Interesse, wie bereits im vorherigen Abschnitt erläutert, auch der Ausgangspunkt für die Aktualisierung bereits vorhandener Interessen sein. Umgekehrt kann sich die Interessantheit der Umgebung bzw. des Gegenstands in Verbindung mit den individuellen Interessen einer Person förderlich auf die Interessengenese auswirken.56 Von anderen temporären Zuständen wie Neugier oder Aufmerksamkeit unterscheidet sich das situationale Interesse, weil es sich auf sehr spezifische Inhalte beziehen kann und meist länger andauert als kurzfristige Zustände der Erregung. Auf dieser Grundlage ist es möglich, dass sich das situationale Interesse zu einem persönlichen Interesse entwickelt.57 Als motivationaler Zustand und Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen inneren Personen- und externen Umweltfaktoren kann das situationale Interesse von verschiedenen Seiten her beschrieben werden. Maximilian Knogler, Judith Harackie-

54 | Vgl. Müller, F.H.: Interesse und Lernen, S. 52. 55 | Vgl. Krapp, A.: Interesse, Lernen, Leistung, S. 749. 56 | Vgl. Müller, F.H.: Interesse und Lernen, S. 52. 57 | Krapp, A.: Interest, motivation and learning, S. 25.

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wicz, Andreas Gegenfurtner und Claudia Lewalter unterscheiden hierbei drei Perspektiven in der aktuellen Interessenforschung: eine entwicklungsspezifische, eine kontextspezifische und eine situationsspezifische Auffassung des situationalen Interesses, die jeweils kurz skizziert werden sollen.58 Aus der kontextspezifischen Perspektive handelt es sich bei dem situationalen Interesse um ein Interesse »that people acquire by participating in a particular educational context«.59 Diese Forschungsrichtung interessiert sich für Umgebungsund Gegenstandsfaktoren, die das situationale Interesse stimulieren und beruht auf den Überlegungen von Mathew Mitchell. Laut Mitchell hat das situationale Interesse einen vielschichtigen (multifaceted) Charakter. Im Anschluss an Hidi und William Baird differenziert er zwischen »triggering conditions« (catch-Komponenten des situationalen Interesses) und »conditions which ensure the continuation of interest« (hold-Komponenten des situationalen Interesses).60 Die catch-Komponenten dienen dabei lediglich als trigger, die das Interesse einer Person auf bestimmte Teile der Umgebung lenken, während die hold-Komponenten sich stärker auf den übergeordneten Zustand des situationalen Interesses beziehen und diesen über längere Zeit aufrechterhalten. Nach Mitchell hängen die hold-Komponenten eher mit einem ›genuinen‹ Interesse zusammen, weil hier die Selbstintentionalität der Interessenhandlung im Vordergrund steht. In Anlehnung an Dewey unterscheidet Mitchell zwei wichtige Charakteristiken der hold-Komponente, nämlich die subjektive Bedeutsamkeit und die Involviertheit, die sich gegenseitig verstärken: »First, if one is identified with the content of activity, it will be experienced as personally meaningful and thus empowering. Second, if one is absorbed in the process of an activity, it will be experienced as moving one toward achieving a personal end – and thus empowering.«61

Die catch-Komponenten resultieren dagegen laut Mitchell eher aus externen Stimuli, wie dem Kontext einer Interessenhandlung oder den gegenstandspezifischen Merkmalen. Was bei Mitchells Konzeption des situationalen Interesses mitangedeutet wird, ist eine Perspektive, die verschiedene Entwicklungszustände des situationalen Interesses unterscheidet.

58 | Siehe Knogler, M./Harackiewicz, J.M./Gegenfurtner, A./Lewalter, D.: How situational is situational interest? 59 | Ebd., S. 41. 60 | Mitchell, M.: Situational Interest, S. 425. 61 | Ebd., S. 426.

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Andere Autorinnen und Autoren haben sich seitdem explizit aus einer entwicklungsspezifischen Perspektive mit dem situationalen Interesse beschäftigt und versucht, dieses Konstrukt in ein Stufenmodell zu integrieren. Besonders bedeutsam ist hier das Phasen-Modell des Interesses nach Hidi und Renninger.62 Sie verstehen darin situationales Interesse als eine sich verändernde Person-Gegenstands-Beziehung, die sich allgemein in die zwei psychologischen Zustände des triggered-situational interest und des maintained-situational interest untergliedern lässt. Die erste Phase ist nur durch kurzfristige Veränderungen in der kognitiven und affektiven Verarbeitung gekennzeichnet. Die darauffolgende Phase des maintained-situational interest bezieht sich dagegen auf einen psychologischen Zustand, »that involves focused attention and persistence over extended period, and / or reoccurs and persists«.63 Während beim triggered interest eher externe Stimulationsfaktoren ausschlaggebend sind, welche die Aufmerksamkeit einer Person erregen und binden können, erhält die Person-Gegenstands-Beziehung in der maintained-Phase eine neue Qualität, die sich üblicherweise auf wertspezifische Personenfaktoren bezieht.64 Im Gegensatz zur zweiten Phase findet beim triggered interest keine längerfristige Auseinandersetzung mit dem Gegenstand statt. Ein längerfristiges (maintained) Interesse kommt erst dann zustande, wenn sich die Interessenbeziehung nicht nur auf den Kontext der Gegenstandsinteraktion beschränkt, sondern eine persönliche Relevanz für die weitere Beschäftigung mit den Inhalten gegeben ist. Lisa Linnenbrink-Garcia, Erika Patall und Emily Messersmith haben diese angenommenen längerfristigen Beziehungen im Rahmen des situationalen Interesses noch weiter in maintainedsituational interest-feeling und maintained-situational interest-value gegliedert. Die feeling-Komponente bezieht sich hierbei auf die Erfahrung eines »positive affect toward the domain via instructional support«. Die value-Komponente meint dagegen »to cognitvely finding meaning and personal usefulness in the domain via instructional support«.65 In der Zusammenschau wird deutlich, dass das Konstrukt des maintained-situational interest große Ähnlichkeiten zum individuellen Interesse aufweist. Laut den Vetreterinnen und Vertretern des oben beschriebenen Ansatzes liegt der Hauptun-

62 | Siehe dazu Hidi, S./Renninger, K.: The Four-Phase Model of Interest Development. 63 | Renninger, K.A./Su, S.: Interest and its development. 64 | Knogler, M./Harackiewicz, J.M./Gegenfurtner, A./Lewalter, D.: How situational is situational interest?, S. 40. 65 | Linnenbrink-Garcia, L./Patall, E.A./Messersmith, E.E.: Antecedents and Consequences of Situational Interest, S. 594.

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terschied zum individuellen Interesse darin, dass sich das positive Erleben und die subjektive Bedeutsamkeit beim maintained-situational interest eher aus dem unterstützenden Einfluss kontextueller Faktoren ergeben als aus stabilen Prädispositionen.66 Maintainted-situational interest stellt aus dieser Perspektive die Verbindung zwischen einem kurzfristig bestehenden Interesse (triggered-situational interest) und dem relativ stabilen individuellen Interesse her. Linnenbrink-Garcia und Mitautoren erklären diese Modellvorstellung am Beispiel des schulischen Unterrichts: »Once students hone in on the course material (triggered-SI), those who view it as enjoyable and meaningful (maintained-SI) are likely to value the material beyond the context of that particular course and may seek out new opportunities to have contact with the domain and expand their knowledge. It is through this transformation of maintained-SI that individual interest is thought to develop.«67

Auch wenn diese oben geschilderte entwicklungsspezifische Perspektive auf das situationale Interesse einen wichtigen Beitrag zum analytischen Verständnis der Interessengenese beiträgt, ist sie aus meiner Sicht aus zwei Gründen problematisch. Erstens verwischt eine Auffassung von situationalem Interesse als längerfristige Beziehung, wie sie im Konstrukt der maintained-Phase angedeutet wird, die Unterteilung des Interessenkonstrukts in situationales und individuelles Interesse. Zweitens wird im Modell davon ausgegangen, dass die Entwicklung eines längerfristigen Interesses, die sich in der maintained-Phase andeutet, erst in einer vorhergehenden Phase durch Umwelt- und Kontextfaktoren ›getriggert‹ werden muss. Dies widerspricht der Auffassung des Rahmenmodells, nachdem die Entstehung von situationalem Interesse in einer Wechselwirkung zwischen externen Stimuli und internen Faktoren stattfindet, deren Einfluss sich je nach Umgebung und Person unterschiedlich gestaltet. Wegen dieser theoretischen Diskrepanzen und der Tatsache, dass für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit Entwicklungsaspekte nicht entscheidend sind, möchte ich im Rahmen meiner Untersuchung nicht zwischen catch- und holdKomponenten bzw. zwischen triggered- und maintained-Phasen des Interesses differenzieren. Stattdessen beziehe ich mich auf eine situationsspezifische Auffassung von situationalem Interesse, die den Fokus weder auf die Unterscheidung zwischen Umgebungs- und Personenmerkmalen noch auf die Veränderungen in der Person-

66 | Ebd. 67 | Linnenbrink-Garcia, L. u.a.: Measuring Situational Interest in Academic Domains, S. 3.

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Gegenstands-Beziehung legt. Im Mittelpunkt stehen stattdessen die affektiven Valenzen (auch feeling-related, also das emotionale Erleben der Interessenhandlung) und kognitiven Valenzen (auch value-related, also die subjektive Bedeutsamkeit des Gegenstands) der Interessenbeziehung, die immer an eine spezifische Handlung in einer bestimmten Situation gebunden sind und während dieser bzw. im Anschluss an diese Handlungssituation gemessen werden können.68 Situationales Interesse ist dabei der gegenwärtige Zustand, der sich auf eine einzelne, situationsspezifische Person-Gegenstands-Beziehung bezieht, die sich unter bestimmten Umständen noch weiterentwickeln könnte.69 Entscheidend für die Unterscheidung zwischen situationalem und individuellem Interesse ist aus dieser Perspektive nicht die Quelle oder die Stärke der Interessenbeziehung, sondern die Frage, ob das Interesse noch an die Situation gebunden ist oder ob es sich bereits im Rahmen einer Person-Gegenstands-Beziehung stabilisiert hat und daher über verschiedene Situationen hinweg in hohem Maße konsistent ist. In der Interessenforschung wurde diese Form des situationalen Interesses häufig synonym als aufgabenbezogenes oder textbasiertes Interesse bezeichnet und empirisch untersucht.70 Individuelles Interesse Krapp versteht unter individuellem Interesse eine motivationale Disposition, die sich z.B. in Form einer persönlichen Vorliebe für ein bestimmtes Fachgebiet äußern kann. Gemeint ist also im Gegensatz zum situationalen Interesse eine eher langfristige Beziehung zu einem Gegenstand, einer Aktivität oder Wissensbereichen. Aus persönlichkeitspsychologischer Perspektive sind Handlungen, die im Zusammenhang mit dieser Interessenbeziehung durchgeführt werden, dementsprechend als Aktualisierungen einer Eigenschaft der Person bzw. einer Einstellung zu einem bestimmten Bereich aufzufassen. Eine andere Vorstellung ergibt sich aus einer handlungstheoretischen Perspektive, die individuelle Interessen als Wertvorstellungen und Handlungsbereitschaften einer Person definiert, die deren Handeln in denjenigen Situationen beeinflussen, in denen sie frei handeln kann.71 Nach Schiefele ist das individuelle Interesse wie das situationale Interesse von emotionalen und wertspezifischen

68 | Vgl. Krapp, A.: An Educational-Psychological Theory of Interest and its Relation to SDT, S. 388 f. 69 | Knogler, M./Harackiewicz, J.M./Gegenfurtner, A./Lewalter, D.: How situational is situational interest?, S. 40. 70 | Vgl. Schiefele, U.: Situational and Individual Interest, S. 199. 71 | Vgl. Krapp, A.: Interesse, Lernen, Leistung, S. 747 f.

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Valenzen geprägt, die sich z.B. darin äußern können, dass bestimmte Inhalte mit positiven Gefühlen assoziiert werden oder für ein Individuum persönlich bedeutsam sind. Schiefele unterscheidet weiterhin zwischen latentem und aktualisiertem individuellen Interesse. Von aktualisiertem Interesse spricht er dabei, wenn bereits bestehende individuelle bzw. latente Interessen im Rahmen einer Situation durch externe und interne Stimuli aktiviert werden.72 In der pädagogisch-psychologischen Interessenforschung wurde das individuelle Interesse mit verschiedenen Ansätzen erfasst. Besonders weit verbreitet ist dabei ein Modell des individuellen Interesses, das ursprünglich von der sogenannten Kieler Gruppe um Peter Häußler und Lore Hoffmann in den 1980er Jahren im Rahmen der IPN-Interessenstudie Physik entworfen wurde. Sie definierten Interesse als »überdauernde Vorliebe eines Individuums für einen bestimmten Inhaltsbereich«.73 Als analytische Kategorien unterschieden sie dabei zwischen dem Interesse am Unterrichtsfach, und dem Interesse, das sich auf außerschulische Kontexte bezieht: »Zu letzterem gehört das Interesse, sich generell mit physikalischen oder technischen Sachzusammenhängen zu beschäftigen – im Folgenden kurz Sachinteresse genannt – das Interesse an einer durch den Physikunterricht induzierten außerschulischen Beschäftigung mit Physik sowie die Freizeit- und Berufsinteressen.«74

Auf die beiden Konstrukte des Sach- und Fachinteresses, die bereits in vielen empirischen Studien zur Erfassung des individuellen Interesses eingesetzt wurden, soll im Weiteren näher eingegangen werden. Das Sachinteresse definieren Häußler und Hoffmann als »eine überdauernde Vorliebe eines Individuums für einen bestimmten Inhaltsbereich«, das jedoch gleichzeitig von »situativen Bedingungen abhängt, wie z.B. vom Kontext [. . . ] oder von in einer bestimmten Situation angebotenen Handlungsmöglichkeiten«.75 Das Sachinteresse – von Schiefele auch als thematisches Interesse bezeichnet – hängt also eng mit dem Zustand der Interessiertheit zusammen. Wichtig ist für Schiefele, dass der Zustand des »aktuellen Interessiertseins« nicht nur von erhöhter kognitiver Aktivierung und positiven Gefühlen geprägt ist, sondern auch eine intrinsische Komponente hat, die sich z.B. in einer erhöhten intrinsi-

72 | Vgl. Schiefele, U.: Topic Interest and Levels of Text Comprehension, S. 154 ff.; vgl. Schiefele, U.: Interest, Learning, and Motivation, S. 302 f. 73 | Häußler, P./Hoffmann, L./Langeheine, R./Rost, J./Sievers, K.: Qualitative Unterschiede im Interesse an Physik und Konsequenzen für den Physikunterricht, S. 58. 74 | Hoffmann, L./Häußler, P./Lehrke, M.: Die IPN-Interessenstudie Physik, S. 19. 75 | Ebd., S. 10.

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schen Motivation zur Auseinandersetzung mit dem Gegenstand äußern kann. Findet keine Aktivierung des individuellen Interesses statt, so handelt es sich laut Schiefele nicht um Interesse, sondern um Zustände, die durch rein äußerliche Reize verursacht wurden wie Neugier oder Überraschung.76 Aufbauend auf diesem angenommenen Zusammenhang zwischen Interessantheit, individueller Prädispositionen und intrinsischer Motivation unterscheiden Häußler und Hoffmann drei Dimensionen des Sachinteresses: erstens das »Interesse an einem Kontext, in dem Physik bedeutsam ist«; zweitens das »Interesse an einem physikalischen Gebiet, mit dem man sich in diesem Kontext auseinandersetzt«; und drittens das »Interesse an einer Tätigkeit, in die man sich im Zusammenhang mit diesem Inhalt einlassen kann«.77 Vom Sachinteresse lässt sich laut Häußler und Hoffmann das Fachinteresse abgrenzen, das sie als »Interesse von Schülerinnen und Schülern am Physikunterricht« definieren. Im Gegensatz zum Sachinteresse als »Interesse am dahinterliegenden Fachgebiet« bezieht sich das Fachinteresse auf das »von den Schülerinnen und Schülern berichtete Interesse an dem Unterrichtsfach«.78 In der englischsprachigen Literatur finden sich entsprechend die Begriffe domain interest (Sachinteresse), wenn sich das Interesse auf den Inhalt des Fachs bzw. der Wissensdomäne bezieht, oder subject interest (Fachinteresse), wenn sich das Interesse auf Aspekte der pädagogischen Vermittlung bezieht. Erwähnt werden muss dabei, dass es für ein tatsächliches Vorhandensein der Unterteilung in Sachinteresse für ein Fachgebiet und Fachinteresse als das durch den Unterricht hervorgerufene Interesse keine empirischen Belege gibt.79 Zugleich konnten Häußler und Hoffmann zeigen, dass Sach- und Fachinteresse nicht notwendigerweise statistisch miteinander zusammen hängen. In der Auswertung der IPN-Interessenstudie wurde deutlich, dass der Beitrag des Sachinteresses zur Erklärung der Varianz des Fachinteresses sehr gering war, was bedeutet, das ein Desinteresse am Unterricht nicht automatisch die Folge eines fehlenden Interesses am dahinterliegenden Themengebiet sein muss.80 Weitere empirische Belege für das Vorhandensein eines fachspezifischen Interesses lieferte eine Untersuchung von Han-

76 | Schiefele, U.: Thematisches Interesse, Variablen des Leseprozesses und Textverstehen, S. 305 f. 77 | Häußler, P./Hoffmann, L.: Physikunterricht – an den Interessen von Mädchen und Jungen orientiert, S. 109 f. 78 | Ferdinand, H.D.: Entwicklung von Fachinteresse, S. 45 f. 79 | Vgl. Böhm, M.: The Influence of Situational Interest on the Appropriate Use of Cognitive Learning Strategies, S. 37 f. 80 | Vgl. Häußler, P./Hoffmann, L.: Chancengleichheit für Mädchen im Physikunterricht, S. 55.

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na Ferdinand. Sie konnte zeigen, dass sich das individuelle Fachinteresse von dem in einer Situation erlebten Interesse trennen lässt. Ihre Ergebnisse bestätigen außerdem die Annahme, dass sich beim individuellen Interesse emotionale und wertbezogene Komponenten unterscheiden lassen.81 Dass diese beiden Komponenten miteinander zusammenhängen, konnten Krapp, Schiefele, Peter Klaus und Adolf Winteler in einer Studie zum Studieninteresse glaubhaft machen. Sie gehen davon aus, dass das gemeinsame Auftreten von positiven Gefühlen und einer hohen persönlichen Bedeutsamkeit ein Beleg für die Bedeutung intrinsischer Valenzen für das individuelle Interesse ist. Empirisch belegt ist auch der Zusammenhang mit dem situationalen Interesse, beispielsweise im Rahmen des ALGe-Projekts der Universität Passau, das sich mit dem Einsatz und der Wirkung von Lernaufgaben im Fach Geschichte beschäftigt. Hier konnte festgestellt werden, dass das Fachinteresse der Schülerinnen und Schüler einen Einfluss auf die Wahrnehmung der ihnen gestellten Aufgaben als interessanter und bedeutsamer hatte.82 Wie man sich die Entstehung von individuellen Interessen vorstellen kann, lässt sich anhand des Stufenmodells von Eberhard Todt nachvollziehen. Demnach entwickeln sich aus sehr universellen Interessen im Verlauf der Kindheit parallel zur Entwicklung des eigenen Selbstbildes und der kognitiven Entwicklung differenzierte Interessen. In der Kindheit sind es v.a. universelle Interessen, die aus der Aufmerksamkeit für Gegenstände der Umgebung entstehen. Die Interessen sind dabei überindividuell recht ähnlich verteilt, und eher keine ausgeprägten individuellen Interessen. Zugleich sind diese Interessen wenig stabil.83 Eine wichtige Rolle für die Ausdifferenzierung der Interessen spielt die schulische Bildung. Hier lernen Kinder ihre Fähigkeiten über die schulische Rückmeldung und die Vergleiche mit anderen Schülerinnen und Schülern einzuschätzen und passen ihre Interessen in zunehmendem Maße an diese Fähigkeiten an. Weitere wichtige Faktoren für die Ausbildung individueller Interessen stellen im weiteren Verlauf die Berufswahl, die Entwicklung einer eigenen Identität und eines kohärenten Selbstkonzepts im Jugendalter dar. Interessen, die nicht mit dem eigenen Selbstbild und den eigenen Lebensentwürfen übereinstimmen, werden zunehmend ausgeschlossen. Die individuellen Interessen sind ab diesem Alter insgesamt konstant und differenziert.84 Zugleich bedeutet die

81 | Vgl. Ferdinand, H. D.: Entwicklung von Fachinteresse, S. 172. 82 | Vgl. Jonas, K. u.a.: Effekte des Fachinteresses an Geschichte auf die Wahrnehmung von Geschichtsaufgaben, S. 199. 83 | Vgl. Daniels, Z.: Entwicklung schulischer Interessen im Jugendalter, S. 95 f. 84 | Vgl. ebd., S. 97 f.

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Fokussierung auf bestimmte individuelle Interessen, dass Interessen, die sich auf andere Gegenstandsbereiche beziehen, zurückgehen, was im Bezug auf die Gesamtbevölkerung zur Folge hat, dass die Fachinteressen – egal auf welches Fach sie sich beziehen – ab der Adoleszenz rückläufig sind.85 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Interessengegenstände aus Sicht der Person-Gegenstands-Konzeption des Interesses nicht vorgegeben sind, sondern subjektive Konstrukte darstellen, die Krapp auch als »Sinn- und Bedeutungseinheiten« bezeichnet hat, die für eine Person vorübergehend oder für einen längeren Zeitraum bedeutsam sind: »Man kann davon ausgehen, daß eine Person ihre soziale, dingliche und ideelle Umwelt (und natürlich auch die eigene Person) strukturiert wahrnimmt und kognitiv repräsentiert. Diese kognitiven Repräsentationen bestehen aus sinnvollen Teileinheiten, die jeweils für sich Bedeutung besitzen. [. . . ] Jede dieser Sinn- und Bedeutungseinheiten kann vorübergehend oder dauerhaft zum ›Gegenstand‹ eines Interesses werden. Im Prinzip kann alles, womit sich ein Individuum manipulativ oder geistig auseinandersetzt, ein Interessengegenstand sein.«86

Die Bedeutungskonstruktion von Gegenständen aus Sinn- und Bedeutungseinheiten ist nicht nur abhängig von individuellen Personenfaktoren, sondern vollzieht sich auch auf soziokultureller Ebene: »Ein Individuum konstruiert Sinneinheiten niemals vollständig für sich alleine, sondern stets im Kontext seiner vielfältigen Bezüge, die ihrerseits von gesellschaftlich normierten Erfahrungs- und Deutungsmustern abhängen.«87 Bezieht man diese Vorstellung von Person-Gegenstands-Beziehungen auf die historischen Originale im Museum, so lässt sich die Authentizität der Museumsobjekte ebenfalls als Sinneinheit in diesen sozialen und kulturellen Prozessen der Bedeutungskonstruktion verstehen, die beeinflussen kann, ob zum eigentlichen Gegenstand eine Interessenbeziehung aufgebaut wird oder nicht. Im Folgenden soll anhand einer semiotischen Theorie der Authentizität beschrieben werden, wie die Authentizität von Objekten durch kognitive Sinneinheiten – in der Sprache der Semiotik ›Zeichen‹ – repräsentiert werden kann. Die im Rahmen dieser Arbeit vorgeschlagene semiotische Konzeption greift auf ein Modell aus der Konsumforschung zurück, das sich an die Zeichentheorie von Peirce anlehnt.

85 | Vgl. Krapp, A.: Structural and dynamic aspects of interest development, S. 393. 86 | Krapp, A.: Intrinsische Lernmotivation und Interesse, S. 397. 87 | Krapp, A.: Individuelle Interessen als Bedingung lebenslangen Lernens, S. 57.

8 Theoretischer Rahmen der Untersuchung | 161

8.2 SEMIOTISCHE THEORIE

DER

AUTHENTIZITÄT

Der Begriff Semiotik leitet sich ab von griech. σηµήϊον (semeíon) für ›Zeichen‹ und bedeutet wörtlich ›Lehre vom Zeichen‹. Bei der Semiotik handelt es sich um keine homogene Disziplin, sondern eine Sammelbezeichnung für verschiedene Forschungsrichtungen, deren Gemeinsamkeit in der Untersuchung von Texten, Zeichensystemen und Kommunikationsprozessen in ihrem Zusammenwirken besteht. Semiotische Diskurse waren schon früh in anderen Wissenschaften präsent, spielten dort aber bis ins 19. Jahrhundert lediglich eine untergeordnete Rolle. Die systematische wissenschaftliche Untersuchung von Zeichen konnte sich erst im 20. Jahrhundert im Rahmen der Sprachwissenschaft etablieren.88 Als Begründer der Semiotik gelten der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913) und der US-amerikanische Mathematiker und Pragmatist Charles Sanders Peirce (18391914). Beide haben unabhängig voneinander zwei z.T. sehr unterschiedliche semiotische Zeichentheorien entwickelt. Insbesondere Saussures Zeichentheorie hatte großen Einfluss auf die Sprachwissenschaft, insbesondere auf den französischen Strukturalismus und Post-Strukturalismus, der sich ab den 1950er und 1960er Jahren in Paris entwickelte.89 Über den Strukturalismus hat die Semiotik auch in den Bereich der angloamerikanischen museum studies und der material culture studies Einzug gehalten. Viele der museologischen Ansätze beziehen sich aber nicht direkt auf semiotische Theorien, sondern gebrauchen den Begriff Semiotik eher lose, um im Rahmen eigener Modelle zu beschreiben, wie Museen als Zeichenkomplexe analysiert werden können.90 In den deutschsprachigen Museumswissenschaften wurden semiotische Theorien bislang nur wenig aufgegriffen. Eine populäre Ausnahme stellt die hiesige Rezeption des bereits eingangs erwähnten Konzepts der Semiophoren des polnisch-französischen Philosophen und Museologen Pomian dar.91 Pomians Überlegungen zum Stellenwert von Museumsobjekten als Gegenstände, die im Museum das Unsichtbare repräsentieren und mit Bedeutung aufgeladen werden, sind insofern einzigartig, als dass sie von Pomian aus der Funktion des Musealen und der Geschichte des Sammelns abgeleitet werden und nicht explizit aus den Sprachwissenschaften übernommen wurden. Eine auf der Zeichentheorie Umberto Ecos basierende Methode zur semiotischen Ausstellungsanalyse hat daneben Jana Schol-

88 | Vgl. Bogen, S.: Semiotik, S. 408 f. 89 | Vgl. Bouissac, P.: Saussures legacy in semiotics, S. 243. 90 | Vgl. Mason, R.: Cultural Theory and Museum Studies, S. 19. 91 | Siehe dazu Pomian, K.: Der Ursprung des Sammelns.

162 | Die »Aura« des Originals im Museum

ze vorgeschlagen.92 Auf Peirce bezieht sich dagegen der Archäologe Nils MüllerScheeßel für die von ihm vorgeschlagene zeichentheoretische Kategorisierung von Ausstellungspräsentationen in archäologischen Museen.93 Allen diesen Ansätzen ist gemein, dass sie davon ausgehen, dass die Objekte in Museumsausstellungen zu Zeichen werden, die von den Kuratoren und Kuratorinnen im Zusammenwirken mit anderen Objekten und Elementen der Ausstellung zur Formulierung von Inhalten und Absichten eingesetzt werden, und die anschließend von den Besucherinnen und Besuchern auf Basis ihres Vorwissens interpretiert werden müssen.94 Die Mitteilungen, die dabei formuliert werden, basieren sowohl auf den Objekten selbst als auch auf den Arrangements sowie dem allgemeinen Präsentationskontext.95 Die Museologin Susan Pearce hat am Beispiel einer Offiziersjacke erklärt, wie Museumsobjekte als Zeichen fungieren können, die aufgrund ihres Materials, ihrer Form und ihrer Gestaltung historische Bedeutungen beinhalten, zugleich aber auch die historische Narration physisch repräsentieren: »Objects (and other messages) operate as a sign when they stand for the whole of which they are an intrinsic part, as the jacket does for the actual events of Waterloo; and in this case the relationship between the different parts of the whole is said to be metonymic. They operate as a symbol when they are brought into an arbitrary association with elements to which they bear no intrinsic relationship, and in this case the association is said to be metaphoric.«96

Der Zeichenprozess in Museumsausstellungen ist also vielschichtig und komplex. Außerdem sind dabei immer mindestens zwei Seiten beteiligt – die Besucherinnen und Besucher auf der einen Seite sowie die Ausstellungsmacherinnen und -macher auf der anderen. Die Objekte können aufgrund dieser Bipolarität auch stets andere Botschaften über sich oder über das von ihnen Repräsentierte (z.B. die Vergangenheit) mitteilen, als von den Gestalterinnen und Gestaltern der Ausstellung intendiert.97 Die materiellen Objekte spielen in diesem Prozess der Zeichendeutung laut Roland Barthes insofern eine wichtige Rolle, als dass sie wegen ihres physi-

92 | Siehe dazu Scholze, J.: Medium Ausstellung. 93 | Siehe dazu Müller-Scheeßel, N.: Von der Zeichenhaftigkeit archäologischer Ausstellungen und Museen. 94 | Vgl. Scholze, J.: Medium Ausstellung, S. 12. 95 | Vgl. ebd., S. 30 ff. 96 | Pearce, S.M.: Objects as meaning; or narrating the past, S. 23. 97 | Vgl. Müller-Scheeßel, N.: Von der Zeichenhaftigkeit archäologischer Ausstellungen und Museen, S. 109.

8 Theoretischer Rahmen der Untersuchung | 163

schen Vorhandenseins im Gegensatz zu anderen Zeichen (wie z.B. Sprache oder Text) als wahrhaftige Symbole angesehen werden: »Such objects constitute excellent elements of signification: on the one hand they are discontinuous and complete in themselves, a physical qualification for a sign, while on the other they refer to clear, familiar signifieds.«98 Dieser von Barthes thematisierte Zusammenhang zwischen Wahrhaftigkeit und physisch-faktischen Zeichenqualitäten spielt für die semiotische Konzeption von Objektauthentizität eine besonders wichtige Rolle. Deutlicher als bei Saussure ist diese Beziehung von Peirce thematisiert worden, dessen Zeichentheorie im Folgenden näher dargestellt werden soll. Zeichentheorie nach Peirce Der Philosoph und Mathematiker Peirce, der auch als einer der wichtigsten Vertreter des Pragmatismus gilt, entwickelte seine semiotische Zeichentheorie bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1868 veröffentlichte er die wegweisenden Aufsätze Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man und Some Consequences of Four Incapacities. Darin sprach sich Peirce für eine Auffassung von Kognition als Ergebnis einer Beobachtung von Erfahrungen aus. Denken ist aus dieser Perspektive Produkt einer semiotischen Beziehung, bei der die beobachteten Tatsachen mit dem Inhalt mentaler Zustände verbunden werden. Entgegen der von Descartes geprägten Auffassung von Denken als privaten Akt ging Peirce davon aus, dass die Bedeutungen der Gedanken erst in einem intersubjektiv angelegten Zeichenaustausch zustande kommen.99 Erkenntnis resultiert also nicht unmittelbar aus der Beschäftigung mit einem Gegenstand, sondern vollzieht sich in einem Zeichenprozess, bei dem die Gedanken einer Person deren nachfolgende Gedanken (und somit auch die Erkenntnis) als Zeichen bestimmen können.100 Im weitesten Sinn versteht Peirce diese Zeichenbeziehung als »dreifache Verbindung zwischen dem Zeichen, der bezeichneten Sache und der im Geist produzierten Kognition.«101 Neben dem eigentlichen Zeichen (Repräsentanem) unterscheidet Peirce noch zwei weitere Zeichen bzw. Elemente des Zeichnens, nämlich die bezeichnete Sache (Objekt) sowie den kognitiven Sinngehalt des Zeichens bzw. das mentale Bild, das entsteht (Interpretant).

98 | Barthes, R.: The Photographic Message, S. 23. 99 | Vgl. Tullio, V.: Charles Sanders Peirce, S. 3. 100 | Vgl. Linde, G.: Semiotik, S. 131. 101 | Zitiert nach Nöth, W.: Handbuch der Semiotik, S. 62.

164 | Die »Aura« des Originals im Museum »A sign, or representanem, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity. It adresses somebody, that is, creates in the mind of that person an equivalent sign, or perhaps a more developed sign. That sign which it creates I call the interpretant of the first sign. The sign stands for something, its object. It stands for that object, not in all respects, but in reference to a sort of idea, which I have sometimes called the ground of the representanem.«102

Die Bedeutung eines Zeichens ergibt sich erst im Zusammenspiel aller drei Elemente. Entscheidend ist, was repräsentiert wird (Objekt), wie es repräsentiert wird (Repräsentanem) und wie es interpretiert wird (Interpretant).103 Das Repräsentanem fungiert dabei als eine Art ›Vehikel‹, das dem Geist etwas von außen vermittelt, während das Objekt in Form eines materiellen Dings oder eines Inhalts das Zeichen repräsentiert.104 »The Sign can only represent the Object and tell about it. It cannot furnish acquaintance with or recognition of that Object; for that is what is meant in this volume by the Object of a sign; namely that with which it presupposes an acquaintance in order to convey some further information concerning it.«105

Das semiotische Objekt ist dabei nicht identisch mit dem ›echten‹ Objekt oder Inhalt, das bzw. den es repräsentiert. Da die ›echte‹ Welt nach Peirce zu komplex ist, um sie vollständig zu erfassen, stellt die Repräsentation durch das Objekt stets nur eine Annäherung an die Wirklichkeit dar. Weil es nicht möglich ist, das ›echte‹ Objekt kognitiv zu erfassen, ist es für die interpretierende Person auch nicht real.106 Analog zur Unterscheidung zwischen dem real existierenden Objekt und dem semiotischen Objekt bezeichnet auch der Interpretant nicht die interpretierende Person, sondern die Bedeutung, die im Geiste der interpretierenden Person entsteht.107 Der Interpretant vermittelt also zwischen Repräsentanem und Objekt. Die drei Komponenten des semiotischen Dreiecks werden im Akt der Semiose miteinander in Beziehung gebracht. Ein vollwertiges Zeichen benötigt also neben dem Repräsentanem auch Objekt und Interpretant. Jede der drei Komponenten muss dabei mit den jeweils

102 | Peirce, C. S.: Logic as Semiotic, S. 99. 103 | Vgl. Chandler, D.: Semiotics, S. 29. 104 | Vgl. Nöth, W.: Handbuch der Semiotik, S. 62. 105 | Peirce, C.S.: Logic as Semiotic, S. 100. 106 | Vgl. Merrell, F.: Charles Sanders Peirce’s concept of the sign, S. 28. 107 | Vgl. Chandler, D.: Semiotics, S. 29

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anderen beiden auftreten, sonst kann nach Peirce keine Semiose stattfinden.108 Im Peirce’schen Zeichenmodell spiegeln sich weiterhin die universalen Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit wider, die Peirce’ Denken insgesamt kennzeichnen: »My view is that there are three modes of being. I hold that we can directly observe them in elements of whatever is at any time before the mind in any way. They are the being of positive qualitative possibility, the being of actual fact, and the being of law that will govern facts in the future.«109

Unter Erstheit (firstness) versteht Peirce einen Modus des Seins, der noch nicht durch etwas anderes beeinflusst wird, gekennzeichnet durch die bloße Möglichkeit, Unmittelbarkeit und unreflektierte Gefühle. In der Kategorie der Zweitheit (secondness) ist der Erfahrungsmodus bereits durch eine Beziehung zu etwas Zweitem geprägt, wurde allerdings, im Gegensatz zur Drittheit (thirdness) noch nicht mit einem Dritten wie z.B. Gesetzmäßigkeiten in Verbindung gebracht. Beispiele für Zweitheit sind reale Handlungen und Reaktionen auf die Wirklichkeit, während Phänomene wie Kommunikation, Erinnerung und auch die Semiose, die von bestimmten Konventionen beeinflusst werden, nach Peirce dem Bereich der Drittheit zuzurechnen sind.110 Entsprechend dieser drei Modi der Erfahrung lässt sich das Zeichen (Repräsentanem) in Bezug auf sich selbst und auf die anderen beiden Zeichen in jeweils drei Kategorien aufteilen (vgl. Abbildung 4). Am bedeutsamsten für die Semiose, aber auch für die semiotische Konzeption von Objektauthentizität aus Peirce’scher Perspektive, ist die Kategorie der Objekt-Beziehung, die die Verankerung des Zeichens in der realen Welt umfasst. Dieser ›Anker‹ kann laut Peirce auf drei Arten wahrgenommen werden. Ikonisch ist die Beziehung, wenn das Zeichen dem Objekt, auf das es verweist, ähnlich ist: »An Icon is a sign which refers to the Object it denotes merely by virtues of characters of its own, and which it possesses, just the same, wether any such Object actually exists or not.«111 Indexikalisch heißt dagegen, dass das Zeichen in einem angenommenen oder tatsächlichen zeitlichen, räumlichen oder ursächlichen Zusammenhang mit dem Objekt steht: »An Index is a sign which refers to the Object that it denotes by virtue of being really affected by that Object. [. . . ] In so far as the Index is affected by the Object, it necessarily has some

108 | Vgl. Merrell, F.: Charles Sanders Peirce’s concept of the sign, S. 29. 109 | Peirce, C. S.: The Principles of Phenomenology, S. 75. 110 | Vgl. Nöth, W.: Handbuch der Semiotik, S. 61. 111 | Peirce, C. S.: Logic as Semiotic, S. 102.

166 | Die »Aura« des Originals im Museum

Quality in common with the Object, and it is in respect to these that it refers to the Object.«112 Sind Zeichen und Objekt hingegen über Konventionen miteinander verknüpft, so handelt es sich um eine symbolische Beziehung: »A Symbol is a sign which refers to the Object that it denotes by virtue of law, usually an association of general ideas, which operates to cause the Symbol to be interpreted as referring to that Object.« Im Gegensatz zu den anderen beiden Kategorien ist bei einer symbolischen Zeichen-Objekt-Beziehung keine Ähnlichkeit oder eine ›natürliche‹ Verbindung zwischen Zeichen und Objekt erforderlich.113 Abbildung 4: Triadisches Zeichenmodell nach Peirce

Basierend auf dieser Kategorisierung lassen sich die Zeichentypen Ikon, Index und Symbol unterscheiden, je nachdem, ob für die Repräsentation des Zeichens der Modus der Erstheit, Zweitheit oder Drittheit ausschlaggebend ist. Zeichnet sich ein Repräsentanem vornehmlich dadurch aus, dass es etwas anderem ähnlich ist, so spricht Peirce von einem Ikon. Als Beispiele für solche Ikons nennt Peirce Bilder von Dingen oder auch Ideen. Der Index unterscheidet sich laut Peirce vom Ikon aufgrund von drei Charakteristiken: »[. . . ] first, they have no significant resemblance to their objects; second, that they refer to individuals, single units, single collections of units, or single continua; third, that they direct the attention to their objects by blind com-

112 | Ebd. 113 | Vgl. Merrell, F.: Charles Sanders Peirce’s concept of the sign, S. 31.

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pulsion.«114 Das Symbol ist dagegen ein Zeichen, dessen Interpretation von vorgegebenen Regeln bestimmt bzw. beeinflusst wird: »All words, sentences, books, and other conventional signs are Symbols.«115 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich bei Ikon, Index und Symbol um basale Zeichen handelt, die bei der wahrnehmenden Person bestimmte Vorstellungen hervorrufen, die diese wiederum mit ihren eigenen Erfahrungen in Verbindung bringen. Wahrnehmung ist auf diese Weise immer subjektiv und zugleich abhängig von der Art und Weise, wie etwas in der realen Welt repräsentiert wird. Im Folgenden wird dargestellt, wie die (Re-)Präsentation von Objektauthentizität und die Wahrnehmung von authentischen Objekten aus semiotischer Perspektive konzipiert werden kann. Indexikalische und ikonische Authentizität Das von Peirce entwickelte Konzept der Ikonizität – der Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem – hat ihren Vorläufer im antiken Verständnis von Kunst als Mimesis (siehe dazu Kapitel 4.2). Peirce selbst hat diese ästhetischen Aspekte von Zeichenbeziehungen nur am Rande thematisiert. Er geht davon aus, dass für Kunstwerke alle drei Zeichentypen – Ikon, Semiotik!ästhetisches Zeichen und Symbol – von Bedeutung sind.116 Intensiver als Peirce haben sich Charles Morris und Nelson Goodman mit dem Bereich der Ästhetik aus semiotischer Perspektive auseinandergesetzt. Für Morris ist ein Zeichen, das ein Kunstwerk repräsentiert (ästhetisches Zeichen) ikonisch, weil es auf Eigenschaften verweist, die es selbst hat: »[. . . ] it denotes any object which has the properties [. . . ] which itself has. Hence when an interpreter apprehends an iconic sign vehicle he apprehends directly what is designated.«117 Von anderen ikonischen Zeichen, die nicht ästhetisch sind, unterscheiden sich die ästhethischen Zeichen nach Morris durch ihren Wert (»value«): »Value is a property of an object or situation relative to an interest – namely, the property of satisfying or consummating an act which requires an object with such a property for its completion. [. . . ] the value is neither to be located in the objects apart from interests nor in interests [. . . ] apart from objects which permit the satisfaction of interests. Values are conum-

114 | Peirce, C. S.: Logic as Semiotic, S. 108. 115 | Ebd., S. 112. 116 | Vgl. Nöth, W.: Handbuch der Semiotik, S. 427. 117 | Morris, C.W.: Esthetics and the Theory of Signs, S. 136.

168 | Die »Aura« des Originals im Museum matory properties of objects or situations which answer to the consummation of interested acts.«118

Dieser Wert ist keine intrinsische Eigenschaft ästhetischer Zeichen, sondern ergibt sich erst in der interessierten Zuwendung einer wahrnehmenden Person. »Das ästhetische Zeichen existiert somit nur im Prozeß der ästhetischen Semiose, und danach hat die Kunst neben ihrer semantischen Bestimmung als ikonisches Zeichen auch eine pragmatische Dimension.«119 Für Goodman ist Kunst sowohl ikonisch als auch indexikalisch. Ästhetische Zeichen sind für ihn durch eine syntatkische und semantische Dichte gekennzeichnet, d.h., sie lassen sich nicht klar voneinander unterscheiden. Weiterhin stellt er fest, dass viele Merkmale der Zeichen für ihre Interpretation relevant seien, dass sie mehrfache und komplexe Referenzen enthalten würden und dass es sich bei ihnen um exemplifizierende Zeichen handele. Durch die Exemplifikation wird laut Goodman auf bestimmte Eigenschaften des ästhetischen Zeichens verwiesen. Gleichzeitig sind nicht alle Eigenschaften eines Zeichens Teil der Exemplifikation. Goodman erklärt dies am Beispiel eines Stoffmusters: »Consider a tailor’s booklet of small watches of cloth. These function as samples, as symbols exemplifying certain properties. But a swatch does not exemplify all its properties; it is a sample of color, weave, texture, and pattern, but not of size, shape, or absolute weight or value. Nor does it even exemplify all the properties such as having been finished on a Tuesday – that it shares with the given bolt or run of material. Exemplification is possession plus reference.«120

Laut Nöth ist ein exemplifizierendes Zeichen aus der Perspektive von Goodman somit Ikon und Index zugleich. Kunstwerke (und Nachahmungen) sind damit einerseits ikonisch, weil sie sich selbst über gemeinsame Merkmale darstellen, und andererseits indexikalisch, weil sie auf etwas anderes hinweisen können.121 Diese ikonischen und indexikalischen Komponenten von Originalen und Nachbildungen spielen auch für die semiotische Konzeption der Authentizität von Objekten eine große Rolle. Wie bereits in Kapitel 5.2 gezeigt wurde, beruht die Wahrnehmung von Objektauthentizität ebenfalls auf einem Akt der Repräsentation. Entscheidend dafür, ob etwas als authentisch anerkannt wird (oder nicht), sind, wie bei der indexikalischen

118 | Ebd., S. 134. 119 | Nöth, W.: Handbuch der Semiotik, S. 428. 120 | Goodman, N.: Languages of Art, S. 53. 121 | Vgl. Nöth, W.: Handbuch der Semiotik, S. 429.

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Beziehung, (angenommene) zeitliche oder räumliche Zusammenhänge. Ein historisches Original ist deshalb authentisch, weil es aus der Vergangenheit stammt und auf diese verweist. Zugleich können aber, wie gezeigt wurde, auch eigentlich nichtauthentische Objekte wie Repliken als authentisch wahrgenommen werden, sofern sie sich an originalen Vorbildern orientieren, d.h., solange sie dem ›Authentischen‹ ähnlich sind und zu diesem in einem ikonischen Verhältnis stehen. Die Zuschreibung beruht in diesem Fall nicht auf einer Authentifizierung, sondern auf der Praxis der Authentisierung, durch die das Objekt ebenfalls als Repräsentation der Vergangenheit erscheint. Cornelius Holtorf hat für diese »quality or condition of being (of the) past« den Begriff der pastness vorgeschlagen.122 Laut Holtorf ist die pastness eines Objekts, einer Darstellung oder eines Ortes dabei kein Resultat seiner materiellen Authentizität, sondern ergibt sich aus einer bestimmten Form der Wahrnehmung.123 Auf diese Weise können auch Repliken oder sogar Installationen in Freizeitparks pastness ausstrahlen: »Authenticity turns out to be variable, negotiable, and relative to a specific social and cultural context; it is in the eye of the beholder. For something to evoke the past [. . . ] it does not have to be of great age and can in fact be rather new.«124

Für die vorliegende Untersuchung möchte ich auf Basis der oben beschriebenen Erkenntnisse eine semiotische Konzeption von Objektauthentizität im Anschluss an Peirce vorschlagen, die sich auf die Unterscheidung zwischen indexikalischer und ikonischer Authentizität nach dem Modell von Kent Grayson aus dem Gebiet der Konsumforschung bezieht. In der Konsumkultur spielt die Authentizität der dargebotenen Waren eine große Rolle. Ähnlich wie Ausstellungsobjekte in historischen Museumsausstellungen werden die Produkte als authentisch inszeniert, um ihren Wert für die potenziellen Konsumenten zu steigern: »An authentic market offering is something that is sold in the marketplace, and whose market value is based wholly or partly on the belief that the offering has a particular kind of real, truthful, or genuine connection with something that is important or special to the consumer.«125

122 | Holtorf, C.: On Pastness, S. 431. 123 | Vgl. Holtorf, C.: Authenticity and Pastness in Cultural Heritage Management, S. 712. 124 | Ebd. 125 | Grayson, K./Corciolani, M.: Authenticity.

170 | Die »Aura« des Originals im Museum

Laut Grayson ergibt sich die Authentizität der Konsumprodukte aus verschiedenen Kriterien, deren Bewertung von persönlichen und sozialen Faktoren abhängt. Folgerichtig gibt es nicht nur eine Form von Authentizität, sondern verschiedene Typen des Authentischen, von denen Grayson zwei als besonders bedeutsam erachtet. Einerseits werden Darstellungen und Objekte als authentisch angesehen, wenn sie mit dem von ihnen Repräsentierten faktisch und physisch in Verbindung stehen. Ein Faustkeil in einer Ausstellung zur Steinzeit gilt beispielsweise deshalb als authentisch, weil er nachweislich aus dem Paläolithikum stammt. Die Fundamente eines freigelegten archäologischen Denkmals sind authentisch, weil sie an dem Ort, an dem das einstige Gebäude stand, ausgegraben wurden. Neben dem räumlichen und zeitlichen Bezug kann auch die Beziehung zu einer Person ausschlaggebend für die Authentizität sein. So ist der Schreibtisch von Wilhelm Grimm im Germanischen Nationalmuseum authentisch, weil Grimm ›tatsächlich‹ an dem ausgestellten Tisch gearbeitet hat. In beiden Fällen ist nicht so sehr die ›authentische‹ Erscheinung als vielmehr die Annahme eines ursächlichen, zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs entscheidend. Grayson spricht hierbei von indexikalischer Authentizität: »To view something as an index, the perceiver must believe that it actually has the factual and spatio-temperal link that is claimed«.126 Andererseits können Dinge auch dann als authentisch gelten, wenn sie eine ähnliche sinnliche Erfahrung ermöglichen wie das eigentliche Original. Diese Form von Authentizität bezeichnet Grayson als ikonische Authentizität. Sie umfasst alle Dinge und Darstellungen, »whose physical manifestation resembles something that is indexically authentic«.127 Eine 1:1-Nachbildung eines historischen Originals ist ikonisch authentisch, weil sie ›originalgetreu‹ ist, d.h., weil sie versucht, dem ›eigentlichen‹ Original in ihrer Erscheinung und Materialität so nahe wie möglich zu kommen. Im Gegensatz zu den Originalen, die indexikalischer Natur sind, haben derartige Nachbildungen aber keine faktische Beweiskraft. Grayson hat diesen Unterschied am Beispiel von persönlichen Besitztümern erläutert: »While a reproduction of a special possession may look exactly like the original object, it cannot claim an indexical (real, factual, and spatial) association with the context and/or people that are represented by the object.«128 Hede und Thyne unterscheiden weiterhin drei Fakto-

126 | Grayson, K./Martinec, R.: Consumer Perceptions of Iconicity and Indexicality and Their Influence on Assessments of Authentic Market Offerings, S. 297 f. 127 | Ebd., S. 298 f. 128 | Grayson, K./Shulman, D.: Indexicality and the Verification Function of Irreplaceable Possessions, S. 19.

8 Theoretischer Rahmen der Untersuchung | 171

ren, die für den Zusammenhang von indexikalischer und ikonischer Authentizität von Bedeutung sind. Erstens muss das Original oder die Nachbildung als solches bzw. als solche ausgewiesen sein. Zweitens stellen sie fest, dass die zwei Dimensionen einander nicht automatisch ausschließen. Beispielsweise kann ein kostümierter Stadtoder Museumsführer gleichzeitig eine historische Person und sich selbst darstellen. Drittens ist nach Hede und Thyne Authentizität auch das Resultat einer kontextspezifischen Zuschreibung.129 Die Entscheidung, ob etwas indexikalisch oder ikonisch authentisch ist, beruht also nicht nur auf dem Akt der (Re-)Präsentation, sondern auch auf dem Kontext, in dem die Präsentation gezeigt wird, sowie auf dem Vorwissen der beteiligten Personen. Daraus ergibt sich ein theoretisches Problem: Wenn die Wahrnehmung von Authentizität durch Konventionen bestimmt wird, handelt es sich sowohl bei den ikonischen als auch indexikalischen Formen von Authentizität eigentlich um symbolische Zeichen.130 Eine Lösung für dieses Dilemma bieten die Überlegungen von Joseph Ransdell. Er geht davon aus, dass zwar der Erwerb soziokultureller Konventionen notwendig ist, um Zeichen als ikonisch wahrzunehmen. Gleichzeitig stehe aber bei der Interpretation des Zeichens nicht der Akt des Erlernens von Konventionen im Vordergrund, sondern die Frage, ob die interpretierende Person das Gefühl hat, in der Gestalt des Ikons das von ihm repräsentierte Objekt wahrzunehmen, oder ob das Objekt als separat vom Zeichen wahrgenommen wird: »What is pertinent is not what is involved in learning how to interpret signs, but rather what the role of the sign is in the revelation of the object. Is it capable of standing in place of its object – of being ›as good as‹ its object – for some purpose, because it is sufficiently like it in the relevant respect? If so, then it is, to this extent, capable of being iconic of it.«131

In der Konsequenz bedeutet dies, dass sich Nachbildungen von Originalen genauso gut für die Repräsentation der Vergangenheit wie die historischen Originale eignen, solange sie in der Lage sind, als ikonische Zeichen, also gewissermaßen als Stellvertreter der Originale zu fungieren. Zugleich vollzieht sich die Deutung der Zeichen im Museum nicht im ›luftleeren‹ Raum, sondern wird von verschiedenen Einflüssen bestimmt. John Falk und Lynn Dierking haben versucht, diese Faktoren im Rahmen ihres contextual model of learning zu erfassen. Laut Falk und Dierking dient der Museumsbesuch der Befriedigung spezifischer persönlicher oder soziokultureller Be-

129 | Vgl. Hede, A.-M./Thyne, M.: A journey to the authentic, S. 689. 130 | Vgl. Grayson, K.: The Icons of Consumer Research, S. 35. 131 | Ransdell, J.: On Peirce’s Conception of the Iconic Sign.

172 | Die »Aura« des Originals im Museum

dürfnisse.132 Die Beweggründe für den Besuch können mit den Vorerfahrungen und Erwartungen sowie mit dem Interesse und dem Vorwissen der Besucherinnen und Besucher zu tun haben. Falk und Dierking sprechen hierbei vom persönlichen Kontext. Daneben können auch wertspezifische Faktoren ausschlaggebend sein: »People who visit museums do so because of their sense of the institution and what they presume its value is, both to them and to others – elements associated with the sociocultural context.«133 Diese soziokulturellen Aspekte der Wahrnehmung von Authentizität möchte ich im letzten Unterkapitel des Theorieteils näher erläutern. Dabei werde ich mich auf den kultursoziologischen Ansatz von Bourdieu beziehen, der über das von Falk und Dierking vorgeschlagene funktionalistische Modell hinausgeht. Für Bourdieu sind soziale Strukturen und Funktionalitäten nur dann für das individuelle Handeln relevant, wenn sie mit der Lebenswelt der Handelnden zu tun haben. Sofern die Strukturen für die Akteure einen Sinn haben, führt dies dazu, dass sie diese im Rahmen ihrer Handlungen reproduzieren.134 Dieser Akt der Reproduktion sozialer Strukturen soll im Folgenden unter Bezug auf Bourdieus Theorie der sozialen Praxis theoretisch begründet werden.

8.3 DIE THEORIE

DER SOZIALEN

PRAXIS

NACH

BOURDIEU

Der französische Soziologe Bourdieu hat im Lauf seiner wissenschaftlichen Karriere ein sehr umfangreiches und zugleich äußerst vielfältiges Werk vorgelegt, das sich von seinen frühen ethnologischen Studien im Algerien der 1950er Jahre über seine berühmten soziologischen Analysen zur Kunst- und Kulturrezeption ab den 1960er Jahren bis hin zu seinen späten philosophischen Abhandlungen erstreckt. Von besonderer Bedeutung für die Fragestellung dieser Arbeit sind Bourdieus kultursoziologische und klassentheoretische Theorien der 1970er Jahre, die in sein zentrales Werk zur Sozialstruktur La Distinction (1979) münden, das in deutscher Sprache als Die Feinen Unterschiede (1982) veröffentlicht wurde.135 Bourdieu zeigt darin die (versteckten) Bedingungen auf, die seiner Ansicht nach jegliche soziale Praxis und damit auch die Wertschätzung von Kunst und Kultur bestimmen.136 Den Grund-

132 | Vgl. Falk, J.H./Dierking, L.D.: The Museum Experience Revisited, S. 33. 133 | Ebd., S. 32. 134 | Vgl. Ebrecht, J./Hillebrandt, F.: Konturen einer soziologischen Theorie der Praxis, S. 9. 135 | Vgl. Schwingel, M.: Pierre Bourdieu zur Einführung, S. 14 f. 136 | Vgl. Jurt, J.: Pierre Bourdieus Konzept der Distinktion, S. 16 f.

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stock für dieses von Marx und Max Weber beeinflusste Verständnis von Kultur und Gesellschaft hatte Bourdieu bereits in einem früheren Werk, nämlich in dem 1972 erschienenen Esquisse d’une théorie de la pratique, gelegt, das im Deutschen als Entwurf einer Theorie der Praxis (1976) erschienen ist. Zentral für Bourdieus kultursoziologischen Ansatz ist seine Auffassung von sozialem Handeln als Praxis, durch die die Menschen die Gesellschaft in ihren verschiedenen Dimensionen reproduzieren. Menschliches Handeln ist dabei immer im Kontext ökonomischer, sozialer und kultureller Produktions- und Reproduktionsprozesse zu sehen. Das bedeutet auch, dass das Handeln von Individuen nicht nur von ihrem eigenen, persönlichen oder situativen Interesse, sondern von gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen bestimmt ist.137 Wie individuelles Handeln über gesellschaftliche Strukturen vermittelt und realisiert wird, erklärt Bourdieu über die Begriffe Habitus und Feld. Als theoretische Begründung für das Handeln nutzt er darüber hinaus den Begriff des Kapitals, über das ein Individuum oder eine Gruppe verfügt. Im Folgenden möchte ich schildern, inwiefern sich die Wertschätzung von Originalen aus Sicht von Bourdieus Theorie sozialer Praxis als Aneigung von Kapital auffassen lässt. Dazu möchte ich zunächst die Begriffe Habitus, Feld und Kapital aus Bourdieu’scher Sicht erläutern, bevor diese im Anschluss daran mit der Rezeption von Originalen in Museen in Bezug gesetzt werden. Habitus, Feld und Kapital Der Begriff des Habitus ist in sehr unterschiedlichen Kontexten verschiedentlich definiert worden. In seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnet das lateinische habitus ›die äußere Erscheinung‹, eine ›Haltung‹ oder die ›Gestalt‹ eines Menschen. Bei Bourdieu bezieht sich der Habitus auf die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die bestimmen, wie eine Person ihre Umwelt wahrnimmt, wie sie diese kognitiv repräsentiert, welche Maßstäbe sie ihrem Handeln und ihrem Geschmack zugrunde legt und welche Praktiken sie hervorbringt. Geprägt ist der Habitus v.a. durch die spezifische gesellschaftliche Position bzw. die Angehörigkeit zu einer sozialen Gruppe innerhalb der Sozialstruktur.138 Da der Habitus durch die Verinnerlichung gesellschaftlicher Strukturen wie z.B. der Zugehörigkeit zu Gruppen oder Klassen entsteht, ist der Habitus nach Bourdieu »nicht nur strukturierende,

137 | Vgl. Münch, R.: Soziologische Theorie, S. 420 f. 138 | Vgl. Lenger, A./Schneickert, C./Schumacher, F.: Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus, S. 13 f.; vgl. Schwingel, M.: Pierre Bourdieu zur Einführung, S. 62.

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die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur«.139 Als »Erzeugungsmodus der Praxisformen« umfasst der Habitus einer Person alle dauerhaften Dispositionen wie individuelle Anlagen, Haltungen, Gewohnheiten und Lebensweisen. Darüber hinaus beinhaltet der Habitus Erfahrungen aus der Vergangenheit und Handlungstendenzen für die Zukunft, die über habituelle Dispositionen im Körper der Akteure verankert werden, wo sie deren Kontrolle weitestgehend entzogen sind. Bourdieu spricht deshalb auch davon, dass der Habitus »automatische Strategien« erzeuge.140 Soziales Handeln ist damit nie vollständig autonom oder ›frei‹, sondern abhängig von den strukturierenden Anlagen und Erfahrungen der handelnden Person. Aus theoretischer Perspektive ist aber zugleich entscheidend, dass nicht das Individuum an sich, sondern dessen Habitus gesellschaftlich bedingt ist.141 Das bedeutet, dass eine Person in ihrem Handeln nicht vollkommen determiniert ist, sondern der Habitus nur einen Rahmen für das soziale Handeln setzt. Laut Markus Schwingel werden durch die Verinnerlichung von Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster im Habitus »lediglich die Grenzen möglicher und unmöglicher Praktiken festgelegt, nicht aber die Praktiken an sich«.142 Richard Münch definiert den Habitus daher als »eine erworbene, relativ kohärente Reihe potenzieller Weltsichten und Aktivitäten, die in Handlungssituationen verwirklicht werden«. Als »Verkörperung der dauerhaften Sozialstruktur und -organisation« sind der individuelle sowie der kollektiv geteilte Habitus von Angehörigen einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht »dauerhafter als ihre situativen Wünsche und Interessen«.143 Wie man sich die Realisierung des Habitus im gesellschaftlichen Alltag vorstellen kann, erklärt Bourdieu anhand seiner Feldtheorie. Übernommen hat Bourdieu den Begriff des Feldes aus dem Bereich der Elektromagnetik, wobei er dessen Bedeutung als ›Wirkungsbereich von Kräften‹ für die soziologische Definition beibehält.144 Joseph Jurt hat diese physikalische Konnotation von Feldern im Bourdieu’schen Sinn folgendermaßen zusammengefasst:

139 | Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede, S. 57. 140 | Zitiert nach Saalmann, G.: »Entwurf einer Theorie der Praxis«, S. 274. 141 | Vgl. Schwingel, M.: Pierre Bourdieu zur Einführung, S. 60 f. 142 | Ebd., S. 69. 143 | Münch, R.: Soziologische Theorie, S. 422. 144 | Vgl. Rehbein, B./Saalmann, G.: Feld, S. 100.

8 Theoretischer Rahmen der Untersuchung | 175 »Es handelt sich um Kraft- und Machtfelder. Die Struktur wird bestimmt durch die beiden Pole des Feldes, den Pol der Herrschenden und den der Beherrschten. Es sind die Herrschenden, die die Legitmität innerhalb des Feldes bestimmen; diese Legitimität ist aber umstritten und kann immer wieder in Frage gestellt werden. Die jeweilige Position bestimmt dann aber auch die beiden möglichen Handlungsstrategien: die Strategie der Erhaltung [. . . ], die eher von den Dominanten vertreten wird, und die Strategie der Dominierten, die an einer Veränderung oder an einem Umsturz interessiert sind.«145

Laut Markus Rieger-Ladich gebraucht Bourdieu den Begriff des Felds, um »jene hochdifferenzierten, thematisch gebundenen sozialen Räume zu bezeichnen, die ihre spezifische Struktur einem Netz objektiver Relationen verdanken, durch die unterschiedliche Positionen miteinander verknüpft sind«.146 Bourdieu unterscheidet dabei insgesamt drei Typen von Feldern im sozialen Raum, in denen Gesellschaft produziert und reproduziert wird. Das wirtschaftliche Feld umfasst die ökonomischen Bereiche von Erwerbsarbeit und Produktion sowie die Verteilung und den Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Geld. Das soziale Feld wird gebildet von gesellschaftlichen Gruppen, Schichten und Klassen. Das kulturelle Feld schließlich umfasst den Bereich der Bildung, der Kunst und der Massenkultur sowie die Konsumkultur.147 Ihren Ursprung haben diese Felder in dem von unterschiedlichen Personen geteilten Interesse an bestimmten Gegenstandsbereichen sowie den damit einhergehenden Verteilungskämpfen um das Erlangen einer bestimmten Position im jeweiligen Feld, z.B. durch künstlerische oder wissenschaftliche Anerkennung oder politische Macht. Die ›Anziehungskraft‹, die diese Güter auf die sozialen Akteure ausüben, sind laut Bourdieu die Voraussetzung für die Existenz und das Funktionieren der Felder: »Damit ein Feld funktioniert, muss es Interessenobjekte geben und Leute, die zum Mitspielen bereit sind und über den Habitus verfügen, mit dem die Kenntnis und Anerkennung der immanenten Gesetze des Spiels, der auf dem Spiel stehenden Interessenobjekte usw. impliziert sind.«148 Der Begriff des Felds ist bei Bourdieu eng verknüpft mit dem Konzept des Kapitals. Mit diesem von Marx entlehnten Begriff beschreibt Bourdieu gewissermaßen den ›Einsatz‹, der in den unterschiedlichen Feldern ›auf dem Spiel steht‹ und um den sich die beteiligten Akteure streiten.149 Das von den Akteuren akkumulierte Kapital

145 | Jurt, J.: Die Theorie des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu, S. 8 ff. 146 | Rieger-Ladich, M.: Pierre Bourdieus Theorie des wissenschaftlichen Feldes, S. 157 ff. 147 | Vgl. Münch, R.: Soziologische Theorie, S. 430 f. 148 | Bourdieu, P.: Über einige Eigenschaften von Feldern, S. 124. 149 | Vgl. Schwingel, M.: Pierre Bourdieu zur Einführung, S. 86.

176 | Die »Aura« des Originals im Museum

gibt ihren Stand, d.h. ihre Machtposition im Feld wieder. Zugleich ist das in einem bestimmten Feld angehäufte Kapital meist auch an das Feld gebunden, in dem es erworben wurde, und hat nur dort einen bestimmten Wert.150 Folglich ist die gesellschaftliche Position einer Person multidimensional zu sehen und wird so nicht allein durch ihr ökonomisches Kapital, sondern auch durch andere Konzepte, wie z.B. Ehre, Ansehen oder den Stand der Bildung bestimmt.151 Bourdieu unterscheidet daher neben dem in Geld messbarem ökonomischen Kapital noch drei weitere Kapitalarten: das kulturelle Kapital, welches die familiär bedingte intellektuelle sowie die auf schulischem Wege erworbene Qualifikation umfasst; das soziale Kapital als das Geflecht sozialer Beziehungen und Verpflichtungen einer Person oder einer Gruppe; und schließlich das symbolische Kapital in Form des Ansehens, das mit dem Besitz einer Sorte von Kapital – inklusive des symbolischen Kapitals selbst – einhergeht.152 Von diesen vier Typen des Kapitals nimmt das kulturelle Kapital in Bourdieus Werk einen besonderen Stellenwert ein. Laut Bourdieu hängt die Bedeutung des kulturellen Kapitals nicht nur von dem Verfügen über kulturelle Güter ab, sondern auch von der Art und Weise, wie das kulturelle Kapital von den Akteuren im kulturellen Feld als Mittel der Distinktion genutzt wird. Er geht dabei davon aus, dass das kulturelle Kapital in drei Weisen auftreten kann: erstens im inkorporierten Zustand in Form einer dauerhaften Disposition einer Person; zweitens im objektivierten Zustand in Gestalt kultureller Güter, in denen sich (Alltags-)Theorien der Auseinandersetzung mit den kulturellen Gütern widerspiegeln; drittens im institutionalisierten Zustand, z.B. als akademische Titel, die den Besitz von kulturellem Kapital bestätigen.153 Für mein Forschungsinteresse ist insbesondere das objektivierte kulturelle Kapital, das auch die im Museum ausgestellten Überreste der Vergangenheit umfasst, von besonderer Bedeutung. Im Gegensatz zu den anderen beiden Formen ist das objektivierte kulturelle Kapital materiell übertragbar, weil alle kulturellen Güter theoretisch gekauft oder verkauft werden können. Ihre Wertschätzung beschränkt sich, wie auch im Falle historischer Originale, nicht auf ihren tatsächlichen materiellen Wert, sondern schließt darüber hinaus ihre symbolische Bedeutung mit ein. Um diese spezifische Bedeutung entschlüsseln zu können, benötigt eine Person wiederum i.d.R. inkorporiertes kulturelles Kapital.154 Die Kulturgüter bzw. deren Aneignung

150 | Vgl. Jurt, J.: Die Theorie des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu, S. 12 ff. 151 | Vgl. Jurt, J.: Bourdieus Kapital-Theorie, S. 22 f. 152 | Vgl. ebd., S. 24. 153 | Vgl. ebd., S. 25. 154 | Vgl. ebd., S. 26 f.

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fungieren auf diese Weise als Mittel der Abgrenzung eines kulturinteressierten Publikums gegenüber kulturfernen Schichten: »Weil die Aneignung der Kulturgüter Anlagen und Kompetenzen voraussetzt, die ungleich verteilt sind (obwohl scheinbar angeboren), bilden diese Werke den Gegenstand einer exklusiven (materiellen oder symbolischen) Aneignung, und weil ihnen die Funktion von (objektiviertem oder inkorporiertem) kulturellem Kapital zukommt, sichern sie einen Gewinn an Distinktion – im Verhältnis zum Seltenheitsgrad der zu ihrer Aneignung notwendigen Instrumente – und einen Gewinn an Legitimität, den Gewinn überhaupt, der darin besteht, sich so, wie man ist, im Recht, im Rahmen der Norm zu fühlen.«155

Entsprechende Normen für die Betrachtung und Aneignung von objektiviertem kulturellem Kapital gibt es auch im Bereich der Museen, auf die im Folgenden eingegangen wird. Museumsbesuch und Normorientierung Mit dem Bereich der Museen als Ort der Aneignung von kulturellem Kapital hat sich Bourdieu im Rahmen seines Werks in verschiedenen Aufsätzen und Studien beschäftigt. In Die Regeln der Kunst (1992) stellt er am Beispiel der Kunstmuseen fest, dass, obwohl es sich bei Museen um öffentliche Einrichtungen handelt, diese nur von einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe besucht werden. Im Anschluss an seine Überlegungen zur sozialen Distinktion, geht Bourdieu davon aus, dass lediglich ein kleiner Teil der Öffentlichkeit über das nötige kulturelle Kapital verfügt, um die im Museum ausgestellten Werke zu deuten.156 Diese ungleiche Verteilung des kulturellen Kaptials hatte Bourdieu bereits in seinem Frühwerk im Rahmen seiner Untersuchung von Museumsbesuchen in L’amour de l’art (1966), in deutscher Sprache erschienen als Die Liebe zur Kunst (2006), thematisiert. Die Rezeption von Kunst beruht laut Bourdieu auf bestimmten Arten der Deutung, die erlernt werden müssen. Angehörige von Schichten, die mit kulturellem Kapital ausgestattet sind, erhalten die dafür erforderlichen Kenntnisse und Kompetenzen im Gegensatz zu Menschen aus solchen Schichten, die traditionell über wenig kulturelles Kapital verfügen, schon früh. Da der Sinn für Kunst an den Besitz von Kapital gebunden ist, wird er auf diese Weise zum Mittel sozialer Distinktion: »Die Ideologie der ›angeborenen‹ intellektuellen Begabung oder des ›angeborenen‹ Kunstsinns stützt die

155 | Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede, S. 359. 156 | Fyfe, G.: Reproductions, cultural capital and museums, S. 47.

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bestehende soziale Ordnung, d.h. ihre Ungleichheit, die dann als etwas ›Natürliches‹ erscheint. Der ›Geschmack‹, der als angeboren dargestellt wird, erweist sich als Herrschaftsinstrument.«157 Der Geschmack einer gesellschaftlichen Gruppe ist damit aus der Sicht Bourdieus »definiert durch seine negative Beziehung zu anderen Geschmacksausprägungen, d.h. zu anderen Weisen der Lebensart«, und somit eine Form der Abgrenzung, mit der »man sich selbst klassifiziert und womit man klassifiziert wird«.158 Die mit dem Geschmack verbundenen kulturellen Bedeutungen und Handlungen unterscheiden sich in einer Gesellschaft im Hinblick auf ihren Wert und erfordern verschiedene Zugänge mit jeweils spezifischer Intensität.159 Im Gegensatz zum Theater oder der Oper kann das Museum beispielsweise jederzeit und theoretisch von jeder Person besucht werden. Die Distinktion erfolgt also nicht über den Besuch allein, sondern über eine ästhetische Einstellung, mit der man den ausgestellten Werken begegnet. Diese Rezeptionshaltung muss von den Besucherinnen und Besuchern eingeübt und durchgehalten werden.160 »Die obligate Begeisterung über die strenge Nüchternheit des Museums und die von ihm geförderte ›innere Sammlung‹ lässt häufig durchblicken, dass der Besuch in Wahrheit als ein stets etwas mühsames Unternehmen empfunden wird, das der Besucher sich bis zum Ende auferlegt, und für dessen methodisch konsequente Durchführung ihn das Gefühl der Pflichterfüllung nicht weniger entschädigt als der unmittelbare Genuss der Kontemplation.«161

In der legitimierten Form der Aneignung spiegelt sich der Habitus der das kulturelle Feld beherrschenden Klasse wider. Auf diese Weise institutionalisiert das Museum die Unterscheidung zwischen auf Geschmacksurteilen basierter Ästhetik und populärer Ästhetik.162 Die populäre Ästhetik entspricht nach Bourdieu einer gewöhnlichen Alltagseinstellung gegenüber Kunst, bei der sich das Publikum in den medialen und künstlerischen Darstellungen wiederfinden und »einbezogen werden« will.163 Entsprechend können diejenigen Besucherinnen und Besucher, die nicht über ausreichend kulturelles Kapital verfügen, die ›fremde Sprache‹ der im Museum gezeig-

157 | Jurt, J.: Pierre Bourdieus Konzept der Distinktion, S. 22. 158 | Bourdieu, P.: Fraktionen der herrschenden Klasse und Aneigungsweisen von Kunst, S. 275. 159 | Vgl. Bourdieu, P.: Die gesellschaftliche Definition der Photographie, S. 152. 160 | Bourdieu, P.: Fraktionen der herrschenden Klasse und Aneignungsweisen von Kunst, S. 249 f. 161 | Ebd. 162 | Vgl. Fyfe, G./Ross, M.: Decoding the visitor’s gaze, S. 133. 163 | Vgl. Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede, S. 64.

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ten Hochkultur nicht verstehen. Sie sind stattdessen auf extrinsische Kategorien und Werte angewiesen, mit denen sie ihre Wahrnehmungen und Einschätzungen organisieren können. Laut Bourdieu kann das ›ungebildete‹ Museumspublikum nur die Qualität und den Aufwand, der in die Werke geflossen ist, sowie das Alter der ausgestellten Objekte wertschätzen, nicht aber deren ›genuin‹ ästhetischen Wert.164 Gleichzeitig versuche die »privilegierte Klasse« dem Widerspruch zu entkommen, »dass sie trennen zwischen dem, was für die anderen, und dem, was für sie selbst wünschenswert ist«.165 Zur gesellschaftlichen Legitimation des Museums machen sie dieses zwar für die breite Masse zugänglich, parallel dazu fungieren sie im Rahmen der kulturpolitischen Öffnung weiterhin als Experten für die ›richtige‹ Aneignungsweise des Musealen.166 Bei dieser »Qualität der Aneignung« handelt es sich nach Bourdieu um die »Fähigkeit [. . . ], sich einen qualitativ hochwertigen Gegenstand anzueignen«.167 Ob etwas als alltägliches Produkt oder als kulturelles Gut wie z.B. ein Kunstwerk wahrgenommen wird, ist damit nicht nur von den Umständen der Produktion, sondern insbesondere auch von der Rezeption abhängig, die »sich grundlegend richtet zum einen nach den Normen, die das Verhältnis zum Kunstwerk in einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation bestimmen, zum anderen nach der Fähigkeit des Betrachters, sich diesen Normen konform zu verhalten«.168 In Die Feinen Unterschiede geht Bourdieu davon aus, »daß jedes legitime Kunstwerk faktisch die Formen seiner eigenen Wahrnehmung durchsetzt«. Dies hat zur Folge, »daß alle sozialen Akteure – willentlich oder unwillentlich, ob im Besitz der Mittel, sich ihnen konform zu verhalten oder nicht – objektiv an diesen Normen gemessen werden«.169 Kathrin Hohmaier hat diese strukturierende Funktion des Museums im Rahmen einer Studie aus ›Bourdieu’scher Perspektive‹ mit Jugendlichen nachweisen können. Die Jugendlichen fühlten sich als ›Außenseiter‹ im Museum einem Zwang unterworfen. Daraus resultierte eine Normalitätserwartung in Bezug auf ihr Auftreten im Museum: Sie versuchten ihr Verhalten an die Norm des Muse-

164 | Vgl. Bourdieu, P./Darbel, A.: The Love of Art, S. 47 f. 165 | Bourdieu, P.: Fraktionen der herrschenden Klasse und Aneignungsweisen von Kunst, S. 273. 166 | Vgl. ebd. 167 | Bourdieu, P.: Fraktionen der herrschenden Klasse und Aneigungsweisen von Kunst, S. 263 f. 168 | Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede, S. 59. 169 | Ebd., S. 57.

180 | Die »Aura« des Originals im Museum

umsbesuches anzupassen, um nicht aufzufallen.170 Diese Fähigkeit zur Anpassung an die ästhetische Norm der ›gelehrten Schichten‹ bezeichnet Bourdieu als »zweifache Normorientierung«. Die Angehörigen von Schichten ohne inkorporiertes kulturelles Kapital sind sich bewusst, dass es unabhängig von ihrer eigenen »Ästhetik des Naiven« noch »gelehrte Ästhetiken« sowie eine »legitime Kultur« gibt. »Da sie weder die Existenz einer gelehrten Ästhetik leugnen können, die ihre eigene Ästhetik verwirft, noch auf ihre gesellschaftlich bedingten Neigungen verzichten und diese noch weniger proklamieren und rechtfertigen können, führen sie [. . . ] ein doppeltes Beurteilungsregister ein.«171 Den Produkten ›legitimer Kultur‹ treten die ›weniger gebildeten‹ Akteure also mit einer anderen, ihnen eigentlich ›fremden‹ Rezeptionshaltung gegenüber als denjenigen Kulturgütern, mit denen sie vertraut sind und die sie, ohne sich ›verstellen‹ zu müssen, wertschätzen können: »Auf Bedeutungen, die nicht in der Sphäre der legitimen Kultur verankert sind, antworten die Konsumenten mit einer reinen und unbefangenen Genußhaltung, während sie sich angesichts der sanktionierten Kultur an objektiven Normen gemessen fühlen, aufgefordert, in ehrerbietiger Weise, mit zeremoniellen und ritualisierten Verhaltensmustern zu reagieren.«172

Bestimmt wird dieser Prozess der »ritualisierten und andachtsvollen Aneignung« nach Bourdieu durch die Existenz »eines kompakten Systems von Regeln«, die von derselben Institution hervorgebracht werden, welche auch die Kulturgüter verbreitet, die durch den Prozess der Aneignung zu objektiviertem kulturellem Kapital werden.173 Die Akteure werden also in ihrem Handeln durch die Strukturen des kulturellen Feldes eingeschränkt. Gleichzeitig realisieren und reproduzieren sie diese Strukturen durch das Einüben und Ausüben von ritualisierten Handlungsweisen. Mit dieser Produktivität von gesellschaftlichen Machtstrukturen hat sich insbesondere Michel Foucault befasst. Wie Bourdieu widmet sich auch Foucault der Analyse von Machtbeziehungen und der Konstitution des Subjekts im Rahmen dieser Relationen. Im Gegensatz zu Bourdieu verfolgt er dabei aber eher einen top-down-Ansatz, d.h., er interessiert sich weniger für das konkrete Handeln der Akteure, sondern vielmehr für die Macht-Wissen-Strukturen, welche die Individuen in ihrem Han-

170 | Vgl. Hohmaier, K.: Kunstrezeption in einem Vermittlungsprogramm unter Bourdieuscher Perspektive, S. 92. 171 | Bourdieu, P.: Die gesellschaftliche Definition der Photographie, S. 138 f. 172 | Ebd., S. 152 f. 173 | Ebd., S. 155.

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deln formen.174 Für Foucault ist Macht »nicht so sehr etwas, was jemand besitzt, sondern vielmehr etwas, was sich entfaltet; nicht so sehr das erworbene oder bewahrte ›Privileg‹ der herrschenden Klasse, sondern vielmehr die Gesamtwirkung ihrer strategischen Positionen«. Diese Wirkung wird »durch die Position der Beherrschten offenbart und gelegentlich erneuert«. Dabei »richtet sich diese Macht nicht einfach als Verpflichtung oder Verbot an diejenigen, welche ›sie nicht haben‹ [. . . ], die Macht verläuft über sie und durch sie hindurch«.175 Die Verbindung zwischen den beiden Theorien liegt laut Laura Kajetzke in der Verwandtschaft zwischen Bourdieus Habitus-Konzept und Foucaults Begriff der Disziplin. Mit diesem Begriff beschreibt Foucault, wie gesellschaftliche Strukturen von Subjekten ›einverleibt‹ und dadurch reproduziert werden.176 Foucault betont dabei stärker als Bourdieu den Zwangscharakter des Akts der Aneignung. Er geht davon aus, dass Institutionen mithilfe der Disziplin »unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper« produzieren.177 Als wichtigste Technologie der Disziplin nennt Foucault die Sichtbarkeit, die die Kontrolle der zu unterwerfenden Subjekte sicherstellt: »Der perfekte Disziplinapparat wäre derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen.«178 Foucault spricht in diesem Zusammenhang vom Panopticon, der »Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes [. . . ], der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt«.179 Indem ein Individuum einer permanenten Sichtbarkeit ausgesetzt ist und weiß (oder glaubt), dass es überwacht wird, wird es zum »Prinzip seiner eigenen Unterwerfung«, da es das Mächterverhältnis internalisiert und sich dadurch selbst überwacht.180 Als Resultat disziplinieren sich die Subjekte durch den Glauben an die Funktion des Machtapparats selbst, ohne dass ein ständiger Eingriff einer übergeordneten Institution erforderlich ist. Laut Tony Bennett arbeitet auch in den Museen, wie sie erstmals in der Aufklärung entworfen wurden, ein institutioneller Apparat, dessen Wirkungsweise auf der Museumsarchitektur, insbesondere auf der Weitläufigkeit und großen Einsehbarkeit der Museumsräumlichkeiten, beruht. Die Tatsache, dass sich alle Besucherinnen und Besucher gegenseitig beobachten kön-

174 | Vgl. Kajetzke, L.: Wissen im Diskurs, S. 78. 175 | Foucault, M.: Überwachen und Strafen, S. 38. 176 | Vgl. Kajetzke, L.: Wissen im Diskurs, S. 76 f. 177 | Foucault, M.: Überwachen und Strafen, S. 177. 178 | Ebd., S. 224. 179 | Ebd., S. 258. 180 | Ebd., S. 260.

182 | Die »Aura« des Originals im Museum

nen und i.d.R. zusätzlich vom Museumspersonal überwacht werden, führe dazu, dass die Besuchenden ihr Verhalten selbst regulieren und sich so verhalten, wie es von ihnen erwartet wird.181 Auf diese Weise wird nicht nur der Habitus der herrschenden Klasse des kulturellen Feldes reproduziert. Das Museum produziert gleichzeitig auch verschiedene Subjektpositionen, indem es eine Trennung einführt zwischen ›wissenden‹ Subjekten, den Expertinnen und Experten, die mit Prozessen des Sammelns, der Erforschung und des Ausstellens vertraut sind, und zwischen den ›passiven‹ Konsumenten in Gestalt der Laien, die nichts von diesen Praktiken wissen und die meist nicht zur gleichen sozialen Gruppe gehören.182 Das Wissen über das, was im Museum von Bedeutung ist, und darüber, wie man sich dort zu verhalten hat, wird somit zum Mittel sozialer Distinktion. Die Wertschätzung von Originalen als Erwerb von Kapital Die bisherigen Ausführungen haben sich auf den Bereich der Kunstmuseen bzw. der Ästhetik beschränkt. Der Kunstkonsum stellt laut Bourdieu jedoch nur eine von mehreren gesellschaftlichen Distinktionspraktiken dar. Als weitere Beispiele nennt er die Hinwendung zur Natur oder die Wertschätzung des »Althergebrachten« und »Langwierigen« als Gegensatz zur schnelllebigen Zeit, die seiner Ansicht nach in den »dauerhaften Dingen« verwurzelt ist.183 »Ein Topf Gurken ›nach Art des Hauses‹ oder ›nach Großmutters Rezept‹, garniert mit dergleichen verbalem Beiwerk, tut ganz dieselbe Wirkung wie das ›kleine Gemälde eines französischen Meisters aus dem 18. Jahrhundert‹, das man bei einem Antiquitätenhändler zu entdecken verstanden, oder das ›reizende Möbelstück‹, das man bei einem Trödler aufgetrieben hat: Es demonstriert Zeitvergeudung und eine Sachkenntnis, wie sie nur durch lang dauernden Umgang mit kultivierten alten Menschen und Dingen zu erwerben ist, durch die Zugehörigkeit also zu einer Gruppe Alteingesessener, welche allein den Besitz all der Eigenschaften und Fähigkeiten gewährleistet, die mit höchstem Distinktionswert ausgestattet sind, weil sie sich nur über große Zeiträume hinweg ansammeln lassen.«184

181 | Vgl. Bennett, T.: The Birth of the Museum, S. 69. 182 | Vgl. Hooper-Greenhill, E.: Museums and the Shaping of Knowledge, S. 190. 183 | Bourdieu, P.: Fraktionen der herrschenden Klasse und Aneignungsweisen von Kunst, S. 264. 184 | Ebd., S. 265.

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Da der »Distinktionswert« nicht an den ästhetischen Geschmack geknüpft ist, ist laut Bella Dicks auch im Bereich der Geschichtsmuseen die Akkumulation von Kapital möglich. Das Urteil, was dabei als legitim gilt, und was nicht, bezieht sich im Unterschied zu den Kunstmuseen nicht auf den Geschmack, sondern auf den ›sozialen Wert‹ der ausgestellten Objekte, deren Präsentation und Aneignung dann der Legitimation einer sozialen Identität dient: »As such, they adress the dispositions generated by the habitus, and forms of capital, just as much as do art museums.«185 Die Museen fungieren dabei als Agenten im sozialen Raum, die die von ihnen ausgestellten Güter legitimieren und erstrebenswert machen, indem sie diese dem ökonomischen Kreislauf entziehen, sie klassifizieren, benennen und ausstellen.186 Wie sich die Besucherinnen und Besucher gegenüber den im Museum ausgestellten Dingen verhalten, ist also nicht nur abhängig vom situationsspezifischen Kontext der jeweiligen Interaktion, sondern von den Regeln des Feldes, an dem die Akteure ihre Haltung ausrichten.187 Die Positionen, die die Produzenten und das Publikum dabei einnehmen, speisen sich aus übergeordneten Diskursen. Einen solchen Diskurs, der den Umgang mit den historischen Überresten der Vergangenheit beeinflusst, hat die Archäologin Laurajane Smith am Beispiel des sogenannten authorized heritage discourse analysiert: »The authorized heritage discourse (AHD) focuses attention on aesthetically pleasing material objects, sites, places and/or landscapes that current generations ›must‹ care for, protect and revere so that they may be passed to nebulous future generations for their ›education‹, and to forge a sense of common identity based on the past.«188 Indem sie sich auf derartige Diskurse beziehen, schaffen Individuen und Gruppen künstliche Unterscheidungen. Die von ihnen wertgeschätzen Originale dienen dabei als symbolische Zeichen, mit denen sie sich im Feld positionieren und von anderen Akteuren abgrenzen.189 Solche Symbole spielen im sozialen Raum eine wichtige Rolle, da die Akteure ihre eigene Position nicht direkt ausdrücken können: »Instead, they are offset into the cultural realm. People can obtain social advantages through unconsciously making the ›right‹ kind of symbolic expression. For example, by using symbols that are valued by some and not others, one establishes friendships and allegiances that match one’s

185 | Dicks, B.: The Habitus of Heritage, S. 53. 186 | Vgl. Bourdieu, P.: The Social Space and the Genesis of Groups, S. 735. 187 | Vgl. Dicks, B.: The Habitus of Heritage, S. 54 188 | Smith, L.: Uses of Heritage, S. 29. 189 | Vgl. Robbins, D.: Bourdieu and Culture, S. 31.

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own habitus.«190 Übertragen auf das Museum bedeutet dies, dass man im Museum Anerkennung (bzw. symbolisches Kapital) dadurch erhalten kann, wenn man sich an den Habitus der das Museum beherrschenden Gruppe anpasst. Dies setzt voraus, dass sich alle beteiligten Akteure an die Spielregeln halten, die dem Verhalten im Museum und damit auch der Funktion und Bedeutung des Museums als Agent im sozialen Raum zugrunde liegen (siehe dazu auch Kapitel 3.3). Alle Museumbesucherinnen und -besucher müssen akzeptieren, dass es sich bei den in Museen gesammelten und ausgestellten historischen Überresten um Kapital handelt, dessen (symbolische) Aneignung lohnens- und erstrebenswert ist: »Der Wert der Kultur als allerhöchstem Fetisch erwächst aus der mit Eintritt in das Spiel gegebenen ursprünglichen Investition und aus dem kollektiven Glauben an den Wert des Spiels, der dem Spiel zugrundeliegt und den die Konkurrenz auch ständig wieder neu schafft. Hinter dem Gegensatz zwischen ›Echtem‹ und ›Imitiertem‹, zwischen ›wahrer‹ Kultur und ›Massenkultur‹, der das Spiel selber zugleich mit dem Glauben an den absoluten Wert dessen, was auf dem Spiel steht, begründet, versteckt sich eine zur Produktion und Reproduktion der illusio – der grundsätzlichen Anerkennung des Kulturspiels und seiner Objekte – nicht weniger unerläßliche Komplizenschaft.«191

Die Wertschätzung der Originale hat damit zwei Seiten: Einerseits ›lädt‹ das Museum die ausgestellten Objekte mit Bedeutung auf und befördert so eine ehrfürchtige Annäherungsweise. Andererseits erfordert die Anerkennung des symbolischen Status der Originale die (zumindest teilweise) Anpassung an den unter den Museumsbesuchern und -besucherinnen geteilten Habitus. Dicks spricht in diesem Zusammenhang von einer ›psychologischen Dimension‹ des Position-Beziehens im sozialen Raum: »A museum exhibition may ›act like a language‹ that ›prohibits or encourages different psychological processes‹ generated in accordance with the predispositions of visitors’ habitus. This perspective emphasizes both the symbolic power of the exhibited ›world‹ as well as visitors’ active self-investments in it.«192 Im Unterschied zum Kunstmuseum erfordert die Aneignung der Objekte im historischen Museum nicht unbedingt inkorporiertes kulturelles Kapital, da viele der dort ausgestellten Sachzeugen, insbesondere die historischen Alltagsgegenstände, auch von Angehörigen weniger privilegierter Schichten gedeutet werden können. Auf diese Weise können alle Museumsbesucherinnen und -besucher, unabhängig von ihrem

190 | Dicks, B.: The Habitus of Heritage, S. 55. 191 | Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede, S. 389. 192 | Dicks, B.: The Habitus of Heritage, S. 55.

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Bildungsstand oder ihrer Museumsaffinität, durch die Wertschätzung von Originalen symbolisches Kapital erlangen, das sie in anderen Feldern einsetzen können.193

8.4 ZUSAMMENFASSUNG UND HYPOTHESEN FÜR DIE U NTERSUCHUNG Im theoretischen Teil der Arbeit wurde dargelegt, wie sich die Authentizität von Museumsobjekten sowie ihre Auswirkung auf das Interesse von Besucherinnen und Besuchern theoretisch und empirisch erfassen lassen. Um zu klären, ob originale Objekte ›anziehender‹ auf Museumsbesucher und -besucherinnen wirken als Kopien, habe ich mich auf die Person-Gegenstands-Konzeption des Interesses bezogen. Aus der Perspektive der Münchner Interessentheorie handelt es sich bei dem Interesse einer Person um das Ergebnis einer kurz- oder längerfristigen interessenthematischen Beziehung zu einem Gegenstand, die geprägt ist von emotionalem Erleben und subjektiver Bedeutsamkeit und die sowohl von personenspezifischen Faktoren wie Vorwissen oder bereits bestehenden Interessen, aber auch von Umgebungs- oder Gegenstandsfaktoren bedingt wird. Da es sich beim Museumsbesuch um einen kurzfristigen Objektbezug handelt, können im Rahmen einer einmaligen Studie nur die Auswirkungen auf das situationale Interesse an der Beschäftigung mit Originalen und Nachbildungen untersucht werden. Im Hinblick auf die Eingangs problematisierte Theorie von der ›Aura des Originals‹ stellt sich dabei die Frage, ob die Authentizität der Objekte ein für die Interessengenese relevantes Merkmal ist. Dazu wurde auf eine semiotische Konzeption von Authentizität im Anschluss an die Zeichentheorie von Peirce zurückgegriffen. Die Authentizität von Museumsobjekten ist aus semiotischer Sicht keine intrinsische Eigenschaft von historischen Überresten, sondern ergibt sich daraus, wie das Zeichen, das das Objekt im Akt der Semiose repräsentiert, in der realen Welt verankert ist. Die museale Konzeption von Authentizität entspricht dabei der indexikalischen Verortung des Zeichens über einen faktischen Raum-Zeit-Zusammenhang. Zugleich kann ein Objekt aber auch ikonischauthentisch sein, wenn es dem ›eigentlichen‹ Original ähnlich ist. Die Interpretation dieser Zeichen vollzieht sich nicht im ›luftleeren‹ Raum, sondern wird auch vom soziokulturellen Kontext der Rezeption sowie von übergeordneten Konventionen beeinflusst. Unter Bezug auf Bourdieus kultursoziologischen Ansatz wurde gezeigt, dass die Wertschätzung von Originalen als Mittel sozialer Distinktion fungiert, mit

193 | Ebd., S. 60.

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dem die über kulturelles Kapital verfügenden Schichten ihren Geschmack beweisen und sich von den weniger privilegierten Gruppen abgrenzen. Gleichzeitig wissen alle Besucher und Besucherinnen, unabhängig von ihrer Herkunft, dass die Originale im Museum einen besonderen symbolischen Status haben, selbst wenn für sie selbst deren Originalität nicht ›wichtig‹ ist. Die Orientierung am Habitus der das Museum dominierenden Gruppe erlaubt es ihnen, sich gewinnbringend im sozialen Raum zu positionieren. Fasst man die geschilderten theoretischen Annahmen zusammen, so lassen sich für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Authentizität von Museumsobjekten und dem situationalen Interesse von Museumsbesucherinnen und besuchern folgende Hypothesen formulieren:



Hypothese 1: Ob Museumsobjekte als Originale oder als Nachbildungen präsentiert werden, hat keinen Einfluss auf das situationale Interesse der Besucherinnen und Besucher.



Hypothese 2: Wenn explizit auf die Authentizität von Museumsobjekten hingewiesen wird, hat dies einen Einfluss auf das situationale Interesse der Besucherinnen und Besucher.

Die beiden formulierten Hypothesen sollen im Rahmen eines Experiments empirisch überprüft werden. Durch einen experimentellen Versuchsaufbau wird versucht, auszuschließen, dass sich Störvariablen auf den Zusammenhang auswirken. Um auch unbekannte Faktoren, die die Bewertung von Objekten und damit auch den Zusammenhang zwischen Objektauthentizität und Besucherinteresse beeinflussen, zu erfassen, bietet sich neben dem Experiment zusätzlich ein exploratives Vorgehen an, bei dem Begründungen für das Interesse an Museumsobjekten erhoben und qualitativ untersucht werden können. Durchgeführt wurde die Studie im Rahmen einer zweiwöchigen Fragebogenerhebung im Oberhausmuseum Passau.

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung

Die Hypothesen der Untersuchung besagen, dass – solange nicht auf die Authentizität der Museumsobjekte hingewiesen wird – die Beschäftigung mit als Originalen ausgewiesenen Museumsobjekten nicht zu einem höheren situationalen Interesse führt als die Beschäftigung mit Objekten, die als 1:1-Nachbildungen präsentiert werden. Diese Annahme wurde im ersten, experimentellen Teil der Untersuchung getestet. Im Rahmen eines zweiwöchigen Experiments wurden Besucherinnen und Besucher einer Mittelalter-Ausstellung mit sechs originalen Objekten aus der Ausstellung konfrontiert, deren Authentizität im Experiment manipuliert wurde. Dazu wurden im täglichen Wechsel jeweils drei der Originale als 1:1-Nachbildungen ausgewiesen (z.B. war Objekt 1 am ersten Tag des Experiments als Original zu sehen und am darauffolgenden Tag als 1:1-Nachbildung, während Objekt 2 am ersten Tag als 1:1-Nachbildung ausgewiesen war und am Tag darauf als Original). Auf diese Weise sahen alle Befragten jeweils drei Originale und drei vermeintliche 1:1Nachbildungen, die sie mithilfe eines Fragebogens hinsichtlich ihres persönlichen Interesses bewerten sollten. Pro Versuchsperson gab es dabei drei Messzeitpunkte für das situationale Interesse an Originalen und drei Messzeitpunkte für das situationale Interesse an 1:1-Nachbildungen. Weiterhin wurden die Versuchspersonen, die sich bereit erklärten, an der Befragung teilzunehmen, in zwei Gruppen eingeteilt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der ersten Woche wurden nicht explizit auf die Authentizität der zu bewertenden Objekte hingewiesen (Versuchsgruppe ohne Frage nach Authentizität). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der zweiten Woche wurden dagegen bei jedem Objekt auf ihrem Fragebogen nach der Authentizität der zu bewertenden Objekte gefragt (Versuchsgruppe mit Frage nach Authentizität). Dem Experiment lag also ein Mischversuchsplan mit dem Zwischengruppenfaktor Versuchsgruppenzugehörigkeit (ohne Frage nach Authentizität vs. mit Frage nach Authentizität) und dem Messwiederholungsfaktor Authentizität (Original vs. 1:1Nachbildung) zugrunde.

188 | Die »Aura« des Originals im Museum

Der Zusammenhang zwischen den erhobenen Variablen und der experimentellen Manipulation wurde nach der Erhebung mit statistischen Verfahren überprüft. Um den Einfluss von Umwelt-, Personen- und Objektfaktoren auf den Zusammenhang zwischen Objektauthentizität und situationalem Interesse zu erfassen, wurden die Versuchspersonen außerdem gefragt, welches der sechs zu bewertenden Objekte ihnen am besten gefallen habe und warum. Die Antworten wurden dann mithilfe quantitativer Methoden und qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet. Bevor auf die angewandten Methoden und die konkrete Durchführung des Experiments und der Inhaltsanalyse eingegangen wird, sollen zunächst das Museum, in dem die Untersuchung durchgeführt wurde, näher beschrieben, die Relevanz des Ausstellungsthemas erläutert und die Auswahl der Objekte für das Experiment begründet werden. Danach wird die Entwicklung des Fragebogens, inklusive der darin erhobenen Variablen sowie der Überprüfung der Skalen dargestellt.

9.1 FORSCHUNGSGEGENSTAND Das Oberhausmuseum Passau, in dem das Experiment durchgeführt wurde, ist ein historisches Museum mit stadtgeschichtlichem Schwerpunkt, das jährlich von rund 45.000 Menschen besucht wird.1 Es ist damit repräsentativ für die große Zahl historischer und archäologischer Museen in Deutschland, die, wie bereits in Kapitel 7.2 erwähnt wurde, die beliebteste Museumsart in der deutschen Museumslandschaft darstellen. Das Oberhausmuseum befindet sich in der ehemaligen ›Veste Oberhaus‹ auf der linken Seite der Donau mit Blick auf die Altstadt von Passau. Die ›Veste‹, deren Ursprung auf den Bau einer Burg durch den ersten Passauer Fürstbischof Ulrich II. im Jahr 1219 zurückgeht, diente den Passauer Fürstbischöfen im Mittelalter als Rückzugsort und als Residenz. Nach dem Mittelalter baute man die Burg zu einer neuzeitlichen Festungsanlage aus, bevor sie nach der Säkularisation bis zum Ende des Ersten Weltkriegs als Militärstrafanstalt genutzt wurde. Das heutige Museum hat seine Wurzeln in einem Heimatmuseum im ehemaligen Observationsturm der ›Veste‹, in dem die Waldvereinsektion Passau ab 1886 ein Sammelsurium von Waffen, Rüstungen, ausgestopften Tieren und anderen Kuriositäten zur Schau stellte.2 Im Jahr 1905 erweiterte man die Ausstellung durch die Errichtung eines Stadtmuseums, in das die Sammlungen des Niederbayerischen Kunstvereins und des Natur-

1 | Mündliche Auskunft der Museumsleiterin Dr. Stefanie Buchhold vom 15.06.2018. 2 | Vgl. Moritz, H. K.: Oberhaus Museum Passau, S. 3 f.

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 189

historischen Vereins, die ursprünglich im Rathaus der Stadt ausgestellt waren, integriert wurden. Dieses Museum bestand in dieser Form fast unverändert bis 1932.3 Überregionale Beachtung erhielt das Oberhausmuseum durch den Ankauf der ehemaligen Festung durch die Stadt Passau und die Neueröffnung mit dem durch die bischöfliche Diözesansammlung erweiterten Bestand als Ostmarkmuseum in den restaurierten Räumen des sogenannten Fürstenbaus der Festung im Jahr 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Festung als Seuchen- und Infektionskrankenhaus genutzt, bevor 1952 das neueingerichtete Oberhausmuseum wiedereröffnet wurde. Zeitweisen waren auch Teile der Staatsgalerie aus dem Bayerischen Staatsbesitz im Oberhausmuseum untergebracht und ausgestellt, wodurch das Museum erneut an Bedeutung gewann.4 Seit 1991 werden im Oberhausmuseum wechselnde Ausstellungen zur Stadtgeschichte und zu kulturhistorischen Themen präsentiert. Daneben sind mehrere Dauerausstellungen aus den Beständen der Sammlung eingerichtet worden. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren im Oberhausmuseum sechs Dauerausstellungen und eine Sonderausstellung zu sehen, die sich auf unterschiedliche Aspekte der Passauer Geschichte beziehen sowie drei weitere Sammlungen (Böhmerwaldmuseum, Feuerwehrmuseum und Sammlung Hans Wimmer) mit überörtlichem Bezug. Die vorliegende Studie konzentriert sich auf einen Teil der Ausstellung Faszination Mittelalter – Irdisches Leben und Himmlisches Streben, die den größten Ausstellungskomplex des Museums bildet. Bei der Ausstellung Faszination Mittelalter handelt es sich neben der Ausstellung zur Stadtgeschichte (Mythos Passau) um die am meisten besuchte Ausstellung des Museums. Ziel der Ausstellung ist es laut dem Begleitkatalog, »ausgehend vom konkreten Beispiel ›Veste Oberhaus‹, die Entwicklung des Burgenbaus und die sich verändernden Lebensumstände auf einer Burg vom Mittelalter bis zur Neuzeit zu untersuchen und exemplarisch darzustellen«.5 Die Ausstellung beschränkt sich dabei nicht nur auf den Kontext der ehemaligen Burganlage – vielmehr werden die meisten Exponate in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang eingeordnet. So stehen archäologische Funde aus dem Innenhof der Burg stellvertretend für das Alltagsleben im Mittelalter, Werkzeuge von Steinmetzen und Schmieden werden als Zeugnis mittelalterlichen Handwerks präsentiert; spätmittelalterliches Kochgeschirr und Tierknochen stehen stellvertretend für den Bereich Ernährung; frühe Feuerwaffen, Harnische, Schwerter und Kanonen illustrieren das mittelalterliche Kriegswesen.

3 | Vgl. ebd., S. 4 f. 4 | Vgl. ebd., S. 6 ff. 5 | Brunner, M.: Vom Leben auf der Burg, S. 16.

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Relevanz des Ausstellungsthemas für die Untersuchung Entscheidend für die Auswahl einer Ausstellung zum Mittelalter ist die geschichtskulturelle Relevanz dieser Epoche. Die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Geschichte ist derzeit so beliebt wie seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr.6 Das zeitgenössische Interesse am Mittelalter lässt sich bis zu den bereits erwähnten erfolgreichen großen Museumsausstellungen zum Mittelalter zurückverfolgen, die in den 1970er Jahren mit der Stauffer-Ausstellung einsetzten. Seitdem sind zahlreiche literarische Werke, Filme, TV-Serien und Videospiele – häufig mit fantastischen Anleihen – entstanden, die als Ausdruck des populären Interesses am Mittelalter angesehen werden können. In Anbetracht dieses häufig in der Fachliteratur registrierten ›Mittelalter-Booms‹ muss jedoch festgestellt werden, dass sich das Interesse der Öffentlichkeit meist nicht auf die kritisch-reflektierte Beschäftigung mit der Epoche des Mittelalters erstreckt, wie sie beispielsweise von der Disziplin der Mediävistik angestrebt wird. Unterschieden werden muss hier stattdessen laut Thomas Buck zwischen dem Bild eines »lebendigen Mittelalters«, wie es in populärwissenschaftlichen Zeitschriften, Fernsehdokumentationen sowie auf Mittelaltermärkten, Ritterturnieren und in anderen Reenactment-Veranstaltungen kolportiert wird, und einem aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften nur eingeschränkt zugänglichen, fremden und schwer zu deutenden Mittelalter, das der Gegenwart nur durch Überreste und Quellen überliefert ist: »Es ist nicht das faktische, das historische, das authentische, sondern das imaginierte, das inszenierte, das performative Mittelalter, das die Massen interessiert und fesselt. Es ist nicht das vergangene und weithin fremde Mittelalter der schwer zu lesenden und noch schwerer zu deutenden und zu verstehenden Überreste und Quellen, für deren Kenntnis wir komplizierte und anspruchsvolle Hilfswissenschaften wie Paläographie, Diplomatik, Chronologie, Numismatik oder Heraldik studieren müssen, sondern das bunte, das laute, das interaktive, das ›lebendige‹ Mittelalter, wie es etwa auf Mittelaltermärkten, in historischen Romanen, im Kino, im Fernsehen, in PC-Spielen und in den einschlägigen Szenezeitschriften allenthalben evoziert, inszeniert und kolportiert wird.«7

In Deutschland sind laut Claudia Märtl zwei Hauptströmungen eines populären Mittelalterbildes erkennbar, die sich bisweilen gegenseitig überlappen und ergänzen: Auf der einen Seite das Bild des »finsteren Mittelalters«, das bezogen auf Litera-

6 | Vgl. Buck, T. M.: Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, S. 21. 7 | Ebd., S. 22.

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 191

tur, Kunst und Musik auf den Frühhumanismus zurückgeht und in der Aufklärung auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wurde. Es rückt Aspekte wie Gewalt, Unterdrückung und Armut in den Vordergrund. Auf der anderen Seite das Bild des »romantischen Mittelalters«, einer »Zeit eines einheitlichen Weltbildes ohne religiöse Spaltung und moderne Zerrissenheit, [. . . ] eine vorindustrielle Zeit der Harmonie des Menschen mit der Natur«.8 Die Epoche des Mittelalters fungiert hier laut Märtl als Theme, das »durch seine semiotische Assoziativkraft das Geschichtsbewusstsein des Rezipienten« aktiviert und – verstärkt durch die mediale Vermittlung in unterschiedlichen Genres – zum Entstehen eines individuellen Mittelalterbildes führt, das bei allen Rezipienten verschieden ist.9 Neben diesen individuellen Vorstellungen vom Mittelalter existiert aber auch ein öffentliches Bild des Mittelalters, für dessen Vermittlung Museumsausstellungen eine zentrale Rolle spielen. Laut Casimir Bumiller und Hein Krieg wird diese Bedeutung bedingt durch das im Vergleich zum hohen Interesse am Mittelalter geringe Faktenwissen der Öffentlichkeit. Die von Fachleuten kuratierte Mittelalterausstellung befriedigt aus dieser Sicht den Orientierungsbedarf, den die Menschen im Hinblick auf die Beschäftigung mit dieser Epoche haben.10 Dass der Erfolg von Mittelalterausstellungen auch gegenwärtig noch ungebrochen ist, spiegelt sich in den durchwegs hohen Besuchszahlen von Ausstellungen zum Thema Mittelalter in Museen wider. Bezeichnenderweise sind es dabei nicht nur die Sonderausstellungen, sondern auch – wie bei der vorliegenden Untersuchung – die Dauerausstellungen zum Mittelalter, die im Gegensatz zu anderen Dauerausstellungen von vielen Besucherinnen und Besuchern frequentiert werden.11 Auswahl der Objekte in der Ausstellung Bei der Auswahl der Objekte für die Untersuchung wurden nur bewegliche Sachquellen berücksichtigt, die Gegenstand bzw. Teil der Ausstellung waren. Multimediaelemente, Dioramen und andere Raumelemente wurden dagegen nicht in die Untersuchung miteinbezogen. Die Auswahl der Objekte orientierte sich erstens am Aufbau der Ausstellung und zweitens an thematischen Kriterien. Das bedeutet, dass

8 | Märtl, C.: Einheit und Vielfalt, S. 7. 9 | Vgl. Hassemer, S.M.: Das Mittelalter der Populärkultur, S. 274 f. 10 | Vgl. Bumiller, C./Krieg, H.: Das Mittelalter in historischen Ausstellungen und Museen, S. 201. 11 | Vgl. ebd., S. 213.

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in jedem Raum ein Objekt ausgewählt wurde, das in Zusammenhang mit dem Thema des jeweiligen Ausstellungsraums oder Ausstellungsbereichs steht. Bei der Auswahl der Gegenstände wurde versucht, verschiedene Materialien und Herstellungstechniken zu berücksichtigen. Außerdem wurden primär Objekte gewählt, die in der Ausstellung nur einmal vorhanden waren. Nicht miteinbezogen wurden ergänzte oder stark fragmentierte Objekte, bei denen klar ersichtlich war, dass es sich um keine Nachbildungen handeln konnte. Ferner wurde darauf geachtet, keine Gegenstände auszuwählen, die aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts oder aus späterer Zeit stammen, um einen zeitlichen Bezug zum Mittelalter-Thema der Ausstellung zu gewährleisten. Objekt 1: Holztrippe Bei dem ersten Objekt handelt es sich um eine sogenannte Holztrippe, eine mittelalterliche Form eines Holzschuhs, den man sich unter die Lederschuhe schnallte, um sich vor den oft feuchten und dreckigen Böden zu schützen. Die Trippe, die für die Untersuchung ausgewählt wurde, datiert in das ausgehende Mittelalter und besteht aus einer 23cm langen hölzernen Stelze, auf der ein breiter Lederstreifen mit Eisennägeln befestigt ist. Gefunden wurde das Objekte bei archäologischen Untersuchungen im Bereich der Burgkapelle.12 Abbildung 5: Mittelalterliche Holztrippe

In der Ausstellung wird der Fund im dritten Raum zum Thema Die Bewohner der Burg Oberhaus gezeigt, in dem zahlreiche andere Alltagsgegenstände wie Kinder-

12 | Vgl. Brunner, M. (Hrsg.), Faszination Mittelalter, S. 76.

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 193

spielzeug, Arbeitsgeräte von Frauen sowie Werkzeuge, Rohmaterialien und Abfall von Handwerkern zu sehen sind, bei denen es sich ebenfalls größtenteils um archäologische Funde handelt. Präsentiert wird die Trippe zusammen mit anderen Lederfunden in einer Turmvitrine mit dem Titel Lederfunde – Dokumente mittelalterlichen Alltagslebens. Neben dieser Vitrine befindet sich außerdem eine Hands-on-Station, bei der die Nachbildungen von zwei Paar Holztrippen ausprobiert werden können. Objekt 2: Leuchtermännchen Als zweites Objekt wurde ein gotischer Leuchter in Form eines Leuchtermännchens gewählt. Genutzt wurden derartige Figurenleuchter in bürgerlichen und adligen Haushalten des Mittelalters. Bei dem Exemplar aus dem Oberhausmuseum handelt es sich um eine Leihgabe des Diözesanmuseums Passau. Der über 21cm hohe Leuchter im Oberhausmuseum ist aus Messing gegossen und besteht aus einer dreibeinigen Sockeplatte, auf der eine Männerfigur steht. Auf den nach oben abgewinkelten Armen der Figur befinden sich Tropfschalen und Tüllen, die als Kerzenhalterungen fungieren. Hergestellt wurde der Leuchter möglicherweise in den Niederlanden.13 Abbildung 6: Gotisches Leuchtermännchen

In der Ausstellung des Oberhausmuseums wird er im vierten Raum zum Thema Die Burg: Kälte, Schmutz und Dunkelheit in einer Wandvitrine mit weniger wertvollen

13 | Vgl. ebd., S. 83.

194 | Die »Aura« des Originals im Museum

mittelalterlichen Leuchtmitteln wie Kienspanhaltern, Tragschälchen und Ölschalen präsentiert. Der Leuchter steht in der Präsentation stellvertretend für Den Kampf gegen die Dunkelheit. Objekt 3: Nuppenbecher Das dritte Objekt ist ein sogenannter Nuppenbecher. Solche Trinkgläser mit Nuppenverzierung werden auch als Krautstrünke bezeichnet. Anders als in den Ausstellungstexten und im Ausstellungskatalog angegeben, dienten die Nuppen nicht dazu, fettigen Händen besseren Halt zu geben, sondern waren reines Dekor. Bei dem 10cm hohen Becher mit einem Durchmesser von knapp 8cm handelt es sich um eine Leihgabe der Diözese Passau. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er im Gegensatz zu den anderen Glasfunden aus der Burg Oberhaus vollständig intakt ist.14 Abbildung 7: Nuppenbecher

Der Becher wird in der Ausstellung im vierten Raum zum Thema Esskultur und Tafelsitten gezeigt. Dieser Ausstellungsbereich befindet sich in der ehemaligen Kemenate der Burg, also dem einzigen Trakt, der über Kamine oder andere Feueranlagen beheizt wurde. Neben vorwiegend aus Tierknochen bestehenden Speiseresten ist

14 | Vgl. ebd., S. 94.

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 195

hier auch spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Gebrauchskeramik ausgestellt, um das Tafeln auf der Burg darzustellen. Objekt 4: Wandteppich Als viertes Objekt wurde für das Experiment ein außergewöhnlich gut erhaltenes Exemplar eines Wandteppichs aus der Mitte des 15. Jahrhunderts ausgewählt. Der Teppich stammte ursprünglich aus städtischem Besitz und zierte daher wohl nicht die Räume der Veste Oberhaus, sondern höchstwahrscheinlich die des Passauer Rathauses. Auf dem Wandteppich ist eine Jagdszene mit drei Paaren mit jeweils einem Mann und einer Frau in spätmittelalterlicher Kleidung zu sehen. Dargestellt ist, wie die Männer den Frauen auf der Jagd erlegte Vögel übergeben. Die genaue Herkunft des Teppichs ist ungeklärt. Parallelen zu derartigen Teppichen finden sich im burgundischen Raum.15 Abbildung 8: Wandttepich (Ausschnitt)

Der Wandteppich aus dem Oberhausmuseum ist dort im fünften Ausstellungsraum der Mittelalter-Ausstellung, den ehemaligen Privaträumen des Fürstbischofs, zu sehen. Dort sind neben anderem Hausrat wie Resten von Ziegelöfen oder Nachttöpfen, weitere große Einrichtungsgegenstände wie mittelalterliches und frühneuzeitliches

15 | Vgl. ebd., S. 106.

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Mobiliar ausgestellt, die gemeinsam das Thema Wohnen auf der Burg veranschaulichen sollen. Objekt 5: Feldharnisch Bei dem fünften Objekt handelt es sich um den Oberteil eines Feldharnischs, wie er zum ausgehenden Mittelalter bzw. zu Beginn der Frühen Neuzeit von Rittern und anderen berittenen Kriegern im Kampf getragen wurde. Der aus Eisen gefertigte Harnisch hat einen geschlossenen Visierhelm sowie einen Brustharnisch mit Rückenteil, die beide über Lederriemen an Schulter und Taille zusammengehalten werden. Am Halskragen ist das Armzeug über Federbolzen aufgehängt. Über eine Beschaumarke am Rückenteil lässt sich der Harnisch einem Nürnberger Plattner zuordnen.16 Abbildung 9: Oberteil eines Feldharnischs

Der Feldharnisch befindet sich in der Ausstellung im sechsten Raum in einer großen Vitrine mit drei weiteren Harnischen aus dem 16. Jahrhundert. In dem Raum, in dem Das gängige Waffenarsenal des Mittelalters thematisiert wird, werden neben diesen Rüstungen und anderen Defensivwaffen auch spätmittelalterliche und frühneuzeit-

16 | Vgl. ebd., S. 125.

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 197

liche Hieb- und Stichwaffen sowie Distanzwaffen ausgestellt. Einen direkten Bezug zu den hier ausgestellten Rüstungen hat außerdem eine Hands-on-Station im Übergang zum letzten Ausstellungsraum, wo ein Kettenpanzer, Schaller sowie zwei Plattenhandschuhe anprobiert werden können. Objekt 6: Mörser Als letztes Objekt wurde stellvertretend für den Themenbereich Schießpulver und Schusswaffen ein Mörser aus der Zeit um 1400 ausgesucht. Das fast 1,5m lange Geschütz, das in Passau hergestellt wurde, besteht aus einem gusseisernem Rohr mit einer Länge von knapp 80cm und einem Durchmesser von 60cm. Fixiert ist das Rohr mit Stahlbändern auf einem hölzernen Gestell, das in die jüngere Zeit datiert. Die neben dem Mörser präsentierten Geschützkugeln aus Granit, Sandstein und Marmor stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Geladen wurde der Mörser mit solchen Kugeln, indem diese eingekeilt und abgedichtet wurden.17 Abbildung 10: Spätmittelalterlicher Mörser

Der Mörser steht in der Ausstellung sinnbildlich zusammen mit anderen spätmittelalterlichen Feuerwaffen wie Hakenbüchsen für die technischen Innovationen im

17 | Vgl. ebd., S. 137.

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Kriegswesen zum Ende des europäischen Mittelalters. Gezeigt werden im letzten Ausstellungsraum auch neuzeitliche Feuerwaffen wie eine Kanone aus dem 18. Jahrhundert und Gewehre aus dem 17. Jahrhundert.

9.2 ENTWICKLUNG

DES

FRAGEBOGENS

Zur Erfassung des situationalen Interesses und weiterer, für das Experiment als bedeutsam erachteter, personenspezifischer Variablen, wurde ein Fragebogen entwickelt. Dieser Fragebogen wurde in einer Voruntersuchung im Römermuseum Passau erprobt und anschließend in angepasster Form in der Hauptuntersuchung eingesetzt. Wegen der großen Zahl englischsprachiger Touristen, die das Oberhausmuseum in den Sommermonaten besuchen, wurde der Fragebogen außerdem zusätzlich ins Englische übersetzt. Aufbau des Fragebogens Der Fragebogen setzte zwei speziell für die Zwecke der Studie angepasste Skalen mit mehreren geschlossenen Fragen zum situationalen und individuellen Interesse ein. Von dem Fragebogen wurden zwei Versionen angefertigt (beide Fragebögen finden sich jeweils im Anhang B). Die Versuchspersonen der ersten Woche (im Folgenden: Versuchsgruppe ohne Frage nach Authentizität) erhielten einen Fragebogen, mit dem sie die Objekte hinsichtlich ihres persönlichen Interesses einschätzen sollten, ohne dass sie auf dem Fragebogen explizit auf die Authentizität der zu bewertenden Objekte hingewiesen wurden. Die Versuchspersonen der zweiten Woche (im Folgenden: Versuchsgruppe mit Frage nach Authentizität) erhielten eine Variante des Fragebogens, bei dem vor der Bewertung jedes Objekts explizit auf die Authentizität des zu bewertenden Objekts hingewiesen wurde. Dazu wurde den Versuchspersonen bei jedem Objekt vor der Erhebung des situationalen Interesses folgende Frage gestellt: »Bei dem ausgestellten Objekt handelt es sich um... Ein Original / Eine 1:1-Nachbildung.« Die Frage nach der Authentizität auf dem Fragebogen der Versuchsgruppe mit Frage nach Authentizität diente neben der Messung des Zwischensubjektfaktors (ohne Frage nach Authentizität vs. mit Frage nach Authentizität) zugleich als Manipulation-Check. Auf diese Weise konnte überprüft werden, ob das Treatment (d.h., die experimentelle Manipulation der Objektauthentizität) von den Befragten (wie beabsichtigt) wahrgenommen wurde, und zugleich ausgeschlossen werden, dass die Manipulation durch fachkundige Versuchspersonen ›entlarvt‹ wird (z.B. wenn eine Versuchsperson erkennt, dass es sich bei einem oder mehreren

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 199

der als Kopien ausgewiesenen Objekte eigentlich um Originale handelt). Befragte, die die Frage nach Authentizität falsch beantworteten – d.h., der von ihnen angekreuzte Authentizitätsstatus stimmte nicht mit der Angabe auf der Texttafel überein – wurden in der Datenbereinigung von der Analyse ausgeschlossen. Der letzte Teil des Fragebogens enthielt neben geschlossenen Fragen zur Messung von personenspezifischen Variablen auch eine offene Frage, mit der die das Interesse beinflussenden unbekannten Umwelt-, Personen- und Objektfaktoren erfasst werden sollten. Abhängige Variable Als abhängige Variable wurde in der Studie das situationale Interesse der Versuchspersonen bei der Beschäftigung mit jedem der sechs Objekte gemessen. Pro Versuchsperson gab es insgesamt also sechs Messzeitpunkte, die sich auf drei als Originale und drei als 1:1-Nachbildungen ausgewiesene Objekte verteilten. Aus diesen Messzeitpunkten wurde jeweils ein Mittelwert für das situationale Interesse an Originalen und ein Mittelwert für das situationale Interesse an 1:1-Nachbildungen errechnet. Die Messung erfolgte in der Voruntersuchung mittels elf Items, die für die Hauptuntersuchung auf acht Items gekürzt wurden. Die emotionale Komponente des situationalen Interesses wurde mit fünf (ursprünglich sechs) Items gemessen, die aus der Skala zum task enjoyment stammen, die von John Tauer, Judith Harackiewicz und Jennifer Epstein entwickelt und durch Norman Geißler im Rahmen seiner Skala zum Aufgabeninteresse übersetzt und modifiziert wurde.18 Laut Tauer und Harackiewicz liegt der Fokus dieser Skala vorwiegend auf der Beschäftigung mit dem Interessengegenstand und nicht auf dem Kontext.19 Im Folgenden wird diese Subskala als Skala zum emotionalen Erleben bezeichnet. Die wertbezogene Komponente des situationalen Interesses wurde mit drei (ursprünglich fünf) Items gemessen, die der Bedürfnisskala Bedeutsamkeit von Hanna Ferdinand entnommen wurden.20 Im Folgenden wird diese Subskala als Skala zur subjektiven Bedeutsamkeit bezeichnet. Die in die Skala aufgenommenen Items werden, zusammen mit den ursprünglichen Items aus den Skalen, denen sie entnommen wurden, in Tabelle 1 gezeigt.

18 | Siehe dazu Tauer, J.M./Harackiewicz, J.M.: Winning Isn’t Everything, S. 217; Epstein, J.A./Harackiewicz, J.M.: Winning is Not Enough, S. 132; Geißler, N.: Konzeption und Evaluation eines Unterrichtsprogramms zur Prävention und Verminderung von Antisemitismus, S. 165 f. 19 | Vgl. Tauer, J.M./Harackiewicz, J.M.: Winning Isn’t Everything, S. 217. 20 | Siehe dazu Ferdinand, H.D.: Entwicklung von Fachinteresse, S. 212.

200 | Die »Aura« des Originals im Museum

Tabelle 1: Entwicklung der Skala zum situationalen Interesse Nr.

Item in der vorliegenden Studie

Ursprüngliches Item

SI1

Ich fand das Objekt interessant. (EE)

SI2

Das, was ich durch die Beschäftigung mit dem Objekt erfahren habe, finde ich wichtig. (SB) Es hat mir Spaß gemacht, mich mit dem Objekt zu beschäftigen. (EE) Das, was ich bei der Beschäftigung mit dem Objekt erfahren habe, ist nur für Fachleute interessant. (SB) (r) Mit einem Objekt wie diesem würde ich mich jederzeit wieder beschäftigen. (EE) Die Beschäftigung mit dem Objekt habe ich als reine Zeitverschwendung empfunden. (EE) (r)

Interesting (Epstein und Tauer); Ich fand die Aufgabe interessant. (Geißler) Das, was ich heute gelernt habe, finde ich wichtig. (Ferdinand)

SI3

SI4*

SI5

SI6*

SI7

SI8*

SI9

SI10

Ich glaube, dass das, was ich bei der Beschäftigung mit dem Objekt erfahren habe, für mein späteres Leben wichtig sein wird. (SB) Ich habe die Beschäftigung mit dem Objekt als herausfordernd empfunden. (EE) Ich fand die Beschäftigung mit dem Objekt langweilig. (r) Die Beschäftigung mit dem Objekt fand ich spannend. (EE)

Fun (Epstein und Tauer), Es hat Spaß gemacht, an diesen Aufgaben zu arbeiten. (Geißler) Die meisten Schüler in meiner Klasse werden das, was wir im Moment lernen, nie wieder brauchen. (Ferdinand) Enjoyable (Epstein und Tauer)

Not a waste of time (r) (Epstein und Tauer); Ich habe die Aufgaben als Zeitverschwendung empfunden. (r) (Geißler) Ich glaube, dass das, was wir im Moment lernen, in meinem späteren Leben wichtig sein wird. (Ferdinand) Ich habe die Bearbeitung der Fragen als herausfordernd empfunden. (Geißler) Not boring (r) (Epstein und Tauer); Ich fand die Aufgabenbearbeitung langweilig. (r) (Geißler) Das Bearbeiten der Aufgabe fand ich spannend. (Geißler)

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 201

Tabelle 1: Entwicklung der Skala zum situationalen Interesse (Fortsetzung) Nr.

Item in der vorliegenden Studie

Ursprüngliches Item

SI11

Ich denke, dass das, was ich bei der Beschäftigung mit dem Objekt erfahren habe, für mich nützlich sein kann. (SB)

Ich denke, dass das, was wir heute gelernt haben, für mich und meine Mitschüler nützlich sein kann. (Ferdinand)

Anmerkungen. *Item wurde nicht in den Fragebogen der Hauptuntersuchung aufgenommen; EE = Subskala zum emotionalen Erleben; SB = Subskala zur subjektiven Bedeutsamkeit; r = reversiert kodiertes Item

Das Skalenniveau der Skala zum situationalen Interesse ist theoretisch ordinal, wurde in der vorliegenden Untersuchung aber als metrisch behandelt. Skalen, die über eine ausreichende interne Konsistenz auf Skalen- oder Subskalenniveau verfügen, können unter bestimmten Umständen wie metrische Skalen mit parametrischen Verfahren analysiert werden. Erforderlich ist dafür ein sogenanntes Likert-Antwort-Format, das den Grad der Zustimmung zu jedem Item widerspiegelt. Die Items müssen außerdem so formuliert sein, dass Personen mit unterschiedlichen Ansichten unterschiedlich auf die Frage antworten.21 Reversierte Items (z.B. das Item »Ich fand die Beschäftigung mit dem Objekt langweilig«, bei dem ein Wert von ›5‹ in der Auswertung als ›1‹ gewertet wird, ein Wert von ›4‹ als ›2‹ usw.) spielen dabei eine wichtige Rolle, weil man davon ausgehen kann, dass jemand, der bei positiven Statements zustimmt, bei negativen Statements nicht zustimmt.22 Für die Skala zum situationalen Interesse wurde für jedes der Items folgende Frage gestellt: »Inwieweit treffen die folgenden Aussagen auf Sie persönlich zu?« Die Befragten mussten ihre Zustimmung für jedes Item anhand dem folgenden Likert-Antwort-Format bewerten:

∙ ∙ ∙ ∙ ∙

»Trifft gar nicht zu« (1) »Trifft wenig zu« (2) »Trifft teilweise zu« (3) »Trifft überwiegend zu« (4) »Trifft völlig zu« (5)

21 | Vgl. Likert, R.: A Technique for the Measurement of Attitudes, S. 44. 22 | Vgl. Carifio, J./Perla, R.J.: Ten Common Misunderstandings, Misconceptions, Persistent Myths and Urban Legends about Likert Scales and Likert Response Formats and their Antidotes, S. 113

202 | Die »Aura« des Originals im Museum

Zur Erfassung des situationalen Interesses wurden die Anworten von ›1‹ bis ›5‹ (bei reversiert kodierten Items entsprechend von ›5‹ bis ›1‹) kodiert und danach für jeden Messzeitpunkt aus den Werten aller Items ein Mittelwert gebildet. Für das situationale Interesse an Originalen und an 1:1-Nachbildungen wurden dann aus den entsprechenden Mittelwerten zu den sechs Messzeitpunkten zwei Mittelwerte berechnet. Kontrollvariablen Neben der abhängigen Variable wurde als Kontrollvariable das individuelle Geschichtsinteresse erhoben. Außerdem wurde in der Versuchsgruppe mit Frage nach Authentizität der Einfluss der Frage nach Authentizität als weitere Kontrollvariable erhoben, um zu erfassen, ob sich das wiederholte Beantworten derselben Frage bei jedem Messzeitpunkt auf das situationale Interesse auswirkt. Individuelles Interesse Als relativ stabiles dispositionales Merkmal über den Besuch hinweg sowie als Kontrollvariable wurde im Fragebogen neben dem situationalen Interesse auch das individuelle Interesse erhoben. Gemessen wurde das individuelle Interesse mit einer Skala, die auf dem Individual Interest Questionnaire (IIQ) basiert.23 Dieses Instrument beinhaltet drei Kernkomponenten des individuellen Interesses: Selbstintentionalität, positive Gefühle und erhöhte Wertschätzung für einen Interessengegenstand. Der IIQ wurde ursprünglich für das Fach Biochemie formuliert, ist aber so angelegt, dass er leicht auf andere Fachgebiete übertragen werden kann. Für die vorliegende Untersuchung wurde der IIQ von mir ins Deutsche übersetzt und auf den Fachbereich Geschichte bezogen. Nicht aus dem IIQ übernommen wurde dabei das Item »Later in my life I want to pursue a career in biochemistry or a biochemistry-related discipline«, da sich die vorliegende Befragung vorwiegend an erwachsene Museumsbesucherinnen und -besucher richtet. Zur Erfassung des Berufsinteresses wurde stattdessen ein einzelnes Item am Ende des Fragebogens eingesetzt (siehe Variable Beruflicher Bezug zu Geschichte). Das individuelle Interesse wurde erst im Anschluss an den Ausstellungsbesuch gemessen. Dadurch sollte verhindert werden, dass sich die Angaben zu den personenbezogenen Variablen auf die Bewertung der Objekte in den Ausstellungen auswirken. Wie bei der Skala zum situationalen Interesse wurde auch hier der Mittelwert gebildet, wobei die Werte im

23 | Siehe dazu Rotgans, J.I.: Validation Study of a General Subject-matter Interest Measure, S. 73 f.

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 203

Tabelle 2: Entwicklung der Skala zum individuellen Geschichtsinteresse Nr.

Item in der vorliegenden Studie

Ursprüngliches Item (IIQ)

GI1

Ich bin sehr an Geschichte interessiert. In meiner Freizeit lese ich viel zu geschichtlichen Themen. Ich freue mich immer darauf, wenn ich etwas über Geschichte erfahren kann, weil mir die Beschäftigung mit Geschichte viel Spaß macht. Ich habe mich schon für Geschichte interessiert, als ich noch klein war. Ich schaue viele Fernsehsendungen (z.B. Dokumentationen) zu geschichtlichen Themen. Wenn ich etwas über Geschichte lese oder eine Fernsehsendung zum Thema Geschichte sehe, bin ich sehr konzentriert und vergesse alles um mich herum.

I am very interested in biochemistry. Outside of school I read alot about biochemistry. I always look forward to my biochemistry lessons, because I enjoy them a lot.

GI2 GI3

GI4

GI5*

GI6

I am interested in biochemistry since I was young. I watch a lot of biochemistryrelated TV programs (e.g., Discovery Channel). When I am reading something about biochemistry, or watch something about biochemistry on TV, I am fully focused and forget everything around me.

Anmerkungen. *Item wurde nicht in den Fragebogen der Hauptuntersuchung aufgenommen.

Folgenden als individuelles Geschichtsinteresse bezeichnet werden. Zum Einsatz kam dasselbe Likert-Antwort-Format wie beim situationalen Interesse, dessen Skalenniveau ebenfalls als metrisch behandelt wurde. Einfluss der Frage nach Authentizität In der Versuchsgruppe Mit Frage nach Authentizität wurde zusätzlich zu den vorgestellten Variablen mithilfe einer Kontrollvariable erfasst, ob das Beantworten der Frage nach Authentizität bei der Beschäftigung mit den Objekten von den Versuchspersonen als störend empfunden wurde. Dazu wurde den Befragten im Anschluss an den Ausstellungsrundgang im zweiten Teil des Fragebogens folgende Frage gestellt: »Inwieweit trifft die folgende Aussage auf Sie persönlich zu? Die Frage ob es sich bei einem Gegenstand um ein Original oder eine 1:1-Nachbildung handelt, hat

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mich genervt.« Für die Messung wurde in Anlehnung an die Skala zum situationalen Interesse ein fünfstufiges Likert-Antwort-Format gewählt, das aufsteigend von 1 (»Gar nicht«) bis 5 (»Sehr«) kodiert wurde. Die Kontrollvariable Einfluss der Frage nach Authentizität wurde wegen dem Likert-Antwort-Format wie die Skalen zum situationalen und individuellen Interesse im Rahmen der statistischen Auswertung als metrisch behandelt. Mediatorvariable Die Variable Anzahl erinnerter Objekte wurde als potenzieller Indikator für eine kognitive Aktivität im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Objektauthentizität aufgenommen. Zu Beginn des zweiten Teils des Fragebogens wurde den Befragten eine Liste präsentiert, auf denen die einzelnen zu bewertenden Objekte noch einmal mit einer kleinen Abbildung gezeigt wurden. Die Befragten wurden dann mit der folgenden Frage dazu aufgefordert, die Objekte hinsichtlich ihrer Authentizität einzuordnen: »Geben Sie an, ob es sich um ein Original oder eine 1:1-Nachbildung handelt.« Die Befragten konnten anschließend bei jedem Objekt entweder »Original« oder »1:1-Nachbildung« ankreuzen. Darüber soll erfasst werden, wie aufmerksam die im Experiment ausgewiesene Objektauthentizität der zu bewertenden Objekte von den Befragten wahrgenommen, erinnert und verarbeitet wurde. Die einzelnen Items wurden in der Analyse, abhängig davon, ob das betreffende Objekt an diesem Tag als Original oder 1:1-Nachbildung präsentiert wurde, als ›richtig‹ oder ›falsch‹ gewertet und entsprechend mit ›0‹ (falsch erinnert) oder ›1‹ (richtig erinnert) kodiert. Pro Versuchsperson konnten so bei der Variable Anzahl erinnerter Objekte zwischen null und sechs ›Treffer‹ erzielt werden, die dann als metrische Variable behandelt wurden. Auf diese Weise kann im Rahmen einer Mediatoranalyse überprüft werden, ob ein etwaiger Zusammenhang zwischen Authentizität und situationalem Interesse über die Wahrnehmung und das Erinnern an die Objektauthentizität (repräsentiert durch die Variable Anzahl erinnerter Objekte) mediiert wird. Drittvariablen Neben der bereits beschriebenen abhängigen Variable und den Kontrollvariablen wurden in der Untersuchung auch mehrere Drittvariablen erfasst. Unter diese Kategorie fallen alle personenspezifischen Variablen, die als Prädiktoren des situationalen Interesses an Ausstellungsgegenständen in Frage kamen. Wie das individuelle Geschichtsinteresse und die Anzahl richtig erinnerter Objekte wurden sie im zweiten Teil des Fragebogens und damit erst im Anschluss an den eigentlichen Ausstel-

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 205

lungsbesuch und die bei den Objekten erhobene Selbsteinschätzung hinsichtlich des situationalen Interesses gemessen. Bildungsstand Die im Fragebogen erfassten höchsten Bildungs- und Berufsabschlüsse wurden anhand der Internationalen Standardklassifikation des Bildungswesens (ISCED) nach ISCED 2011 kodiert.24 Anschließend wurden die ISCED-Stufen in Anlehnung an die Klassifikation des Statistischen Bundesamtes und des German Microdata Labs in drei Ausbildungsstufen (niedrig, mittel und hoch) unterteilt.25 Die ISCED-Stufen 1 und 2 wurden als Bildungsstand (niedrig), die ISCED-Stufen 3 und 4 als Bildungsstand (mittel) und die ISCED-Stufen 5 bis 8 als Bildungsstand (hoch) kodiert. Gewertet wurde der jeweils höchste Bildungsabschluss zum Zeitpunkt der Untersuchung. Schülerinnen und Schüler wurden über eine Filterfrage gesondert erfasst und entsprechend ihrer Angaben über die derzeit von ihnen besuchte Schulform der Stufe niedrig oder mittel zugeordnet. Beruflicher Bezug zu Geschichte Da angenommen wurde, dass sich ein beruflicher Bezug zu Geschichte auf das situationale Interesse an Originalen und an Nachbildungen auswirken könnte, wurde der berufliche Bezug zum Fachbereich Geschichte im Fragebogen in Form einer ›Ja‹/›Nein‹-Frage ebenfalls erhoben. Bei einem vorhandenen Bezug wurde außerdem der Beruf mit einer offenen Frage erfasst. Museumsspezifische Motivation Als weitere Drittvariable wurde erfasst, wie häufig die Befragten Museen besuchen und wie oft sie bereits im Oberhausmuseum zu Besuch waren. Die Variable gliedert sich dabei in Anlehnung an eine von Nadine Herrmann im Rahmen ihrer Dissertation eingesetzte Trennung in zwei Einzelitems: das Item Museumsaffinität mit der Frage »Wie oft haben Sie im letzten Jahr ein Museum besucht? Bitte schreiben Sie eine Zahl auf« und das Item Erstbesuche mit der Frage »Waren Sie schon einmal im

24 | Siehe dazu UNESCO Institute for Statistics: International Standard Classification of Education; die Zuordnung der deutschen Bildungsgänge erfolgte auf Basis des ISCED 1997. 25 | Vgl. Schroedter, J.H./Lechert, Y./Lüttinger, P.: Die Umsetzung der Bildungsskala ISCED1997 für die Volkszählung 1970, die Mikrozensus-Zusatzerhebung 1971 und die Mikrozensen 1976-2004, S. 19 ff.; vgl. Statistisches Bundesamt. (Hrsg.): Demographische Standards, S. 78.

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Oberhausmuseum Passau? Bitte schreiben Sie eine Zahl auf«.26 Museumsaffinität war ursprünglich als metrische Variable konzipiert, wurde wegen der großen Ausreißer in der Hauptuntersuchung aber schließlich kategorial definiert. In Anlehnung an die Studie von Andreas Hoffmann und Mitautoren wurde dazu, abhängig von der angegebenen Besuchszahl, zwischen drei Gruppen unterschieden. ›Sporadische Besuche‹ (kein oder nur ein Museumsbesuch im letzten Jahr), ›regelmäßige Besuche‹ (zwei bis vier Museumsbesuche im letzten Jahr) und ›intensive Besuche‹ (fünf und mehr Museumsbesuche im letzten Jahr).27 Da sich bei der Variable Erstbesuche eine ähnliche Problematik hinsichtlich der Ausreißer feststellen ließ, wurde auch diese Variable kategorial aufgefasst und in zwei Gruppen aufgeteilt: ›Neubesucher/innen‹ und ›Stammbesucher/-innen‹. Sonstige Personen-, Umwelt- und Objektfaktoren Der Fragebogen enthielt neben den geschlossenen Fragen auch eine offene Frage, um die subjektive Komponente des situationalen Interesses der Befragten besser zu erfassen. Nach dem Ausstellungsbesuch und der Erhebung der potenziellen Mediatorvariable Anzahl erinnerter Objekte wurden die Versuchspersonen nach ihrer subjektiven Einschätzung gefragt: »Welches von den Objekten, die sie hinsichtlich ihres persönlichen Interesses eingeschätzt haben, hat Ihnen am besten gefallen? Begründen Sie auch, warum.« Die Frage erfasst zwei Komponenten, die für die explorative Fragestellung der Studie von Interesse sind: Erstens kann über den Vergleich der Anzahl der genannten Objekte ermittelt werden, ob die Objektauthentizität für die Bewertung der Objekte eine bedeutsame Rolle spielt. Zweitens sollen die Begründungen Aufschluss darüber geben, welche weiteren Faktoren die Bewertung von Museumsobjekten beeinflussen (wie z.B. die Beschaffenheit des Objekts, persönliche Präferenzen oder vorhandenes Vorwissen). Überprüfung des Fragebogens Um die Reliabilität und die Homogenität der Items und Skalen für die Messung des situationalen und individuellen Interesses zu überprüfen, wurde eine Voruntersuchung im Römermuseum Kastell Boiotro Passau durchgeführt. Das Ziel eines solchen Pretests besteht nach Horst Becker darin, die Akzeptanz der Untersuchung bei den Be-

26 | Vgl. Herrmann, N.: Wissenschaftsvermittlung im Museum, S. 96 f. 27 | Vgl. Hoffmann, A. u.a.: Mit interdisziplinären Veranstaltungsprogrammen neue und junge Besucher für Museen und Ausstellungshäuser gewinnen, S. 121.

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 207

fragten, die Erhebungssituation, die Erreichbarkeit der Zielgruppe und das eingesetzte Instrument zu überprüfen.28 Im Rahmen der Voruntersuchung im Römermuseum wurde u.a. festgestellt, dass die offene Frage am Ende des Fragebogens von den Befragten nicht auf die Objekte, sondern auf die gesamte Ausstellung bezogen wurde. Für die Hauptuntersuchung wurde daher der Titel »Das Museumsobjekt und ich« gewählt, um den Bezug zu den Ausstellungsobjekten deutlicher zu gestalten. Weiterhin wurden die im Fragebogen zur Erhebung des Interesses eingesetzten Likert-Skalen auf ihre Reliabilität und ihre interne Konsistenz geprüft und für die Hauptuntersuchung modifiziert. Die Erfassung und Auswertung der Daten erfolgte mit der Software SPSS Statistics 24. Skalenanalyse in der Voruntersuchung An der Voruntersuchung im Juli 2017, in der das Erhebungsinstrument über den Zeitraum von drei Tagen getestet wurde, nahmen 31 Besucherinnen und Besucher des Römermuseums teil. Die Versuchspersonen wurden am Eingang des Museums angesprochen und erhielten einen Fragebogen, den sie im Museum eigenständig ausfüllen konnten. Das durchschnittliche Alter der Befragten lag bei 46 Jahren (SD=14,45; n=23), wobei die jüngste befragte Person 19 Jahre und die älteste befragte Person 69 Jahre alt war. Von den Befragten, die Angaben zu ihrem Geschlecht machten, waren 61% weiblich (n=23). Die Ergebnisse der Vorstudie werden nur insoweit vorgestellt, als sie Erkenntnisse über die relevanten Skalen liefern, die in der Hauptuntersuchung verwendet worden sind. Ausgewählt wurden drei archäologische Funde aus dem Römermuseum: das Unterteil eines römischen Grabsteins im Untergeschoss des Museums (Objekt A), eine mittelkaiserzeitliche Bronzestatuette des römischen Gottes Jupiter (Objekt B) und ein spätantiker zweireihiger Kamm aus Bein (Objekt C). Die zu bewertenden Objekte erhielten wie in der Hauptuntersuchung für die Dauer der Befragung eine neue Objektbeschriftung auf einer Texttafel. Im Gegensatz zur Hauptuntersuchung wurde in der Voruntersuchung auf den Objektbeschriftungen nicht die Authentizität der Museumsobjekte experimentell manipuliert, d.h., alle drei Objekte wurden als Originale ausgewiesen. Im Vordergrund stand stattdessen die Überprüfung der internen Konsistenz der Skalen zum situationalen Interesse und zum individuellen Geschichtsinteresse. Dazu wurden für jedes Objekt Cronbachs 𝛼 für die Skala zum situationalen Interesse (inklusive der Subskalen zur subjektiven Bedeutsamkeit und zum emotionalen Erleben) und für alle Befragten Cronbachs 𝛼 für die Skala zum in-

28 | Vgl. Becker, H.: Der klassische Pretest und seine Techniken, S. 28 f.

208 | Die »Aura« des Originals im Museum

dividuellen Geschichtsinteresse berechnet.29 Nach den gängigen Konventionen sollte eine Skala mindestens einen 𝛼-Wert von über 0,80 aufweisen. Werte zwischen 0,80 und 0,90 gelten dabei als akzeptabel, Werte von über 0,90 als hoch.30 Die Ergebnisse der Skalen- und Itemanalysen der Voruntersuchung finden sich im Anhang A.1. Bei der Item- und Skalenanalyse stellte sich heraus, dass drei Items der Skala zum situationalen Interesse über ungenügende Trennschärfewerte verfügten.31 Sie wurden deshalb aus der Skala entfernt, wodurch die 𝛼-Reliabilität der Skala für jeden Messzeitpunkt erhöht werden konnte. Bei der Skala zum individuellen Geschichtsinteresse zeigte sich, dass das Item »Ich schaue mir regelmäßig Dokumentationen zu geschichtlichen Themen im TV an« nur eine geringe Trennschärfe hatte. Auch hier führte das Entfernen des Items zu einer Erhöhung der 𝛼-Reliabilität. Skalenanalyse in der Hauptuntersuchung In der Hauptuntersuchung wurden die auf Basis der Ergebnisse der Voruntersuchung modifizierten Skalen zum situationalen Interesse und zum individuellen Geschichtsinteresse eingesetzt und danach ebenfalls auf ihre interne Konsistenz überprüft. Dafür wurden die Interskalen-Korrelationen und die Trennschärfe der einzelnen Items jeweils für jeden Messzeitpunkt berechnet. Die Subskalen der Skala zum situationalen Interesse korrelieren für die einzelnen Messzeitpunkte auf dem Niveau von ris =0,56 bis ris =0,68. Die Trennschärfewerte liegen zwischen rit =0,53 und rit =0,80. Im Anhang A.1 sind alle Werte für die einzelnen Messzeitpunkte aufgelistet. Die 𝛼-Reliabilität liegt für die Skala zum situationalen Interesse bei den einzelnen Messzeitpunkten zwischen 𝛼=0,87 und 𝛼=0,90. Die 𝛼-Werte sind für jeden Messzeitpunkt ebenfalls in Anhang A.1 aufgeführt. Für die Skala zum individuellen Geschichtsinteresse wurden ebenfalls die Trennschärfewerte für die einzelnen Items ermittelt, die zwischen rit =0,68 und rit =0,80 liegen. Hinsichtlich der Skalenreliabilität wurde für die Skala zum individuellen Geschichtsinteresse eine Reliabilität von 𝛼=0,90 ermittelt.

29 | Cronbachs 𝛼 stellt ein Gütemaß für die interne Konsistenz von Skalen dar. Mit Cronbachs 𝛼 kann überprüft werden, ob die Items einer Skala sich auf das gleiche Merkmal beziehen; vgl. dazu Schecker, H.: Überprüfung der Konsistenz von Itemgruppen mit Cronbachs alpha. 30 | Bortz, J./Döring, N.: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, S. 199 31 | Es handelte sich dabei um die Items »Das, was ich bei der Beschäftigung mit dem Objekt erfahren habe, ist nur für Fachleute interessant«, »Die Beschäftigung mit dem Objekt war reine Zeitverschwendung« und »Die Beschäftigung mit dem Objekt habe ich als herausfordernd empfunden«.

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 209

Die genauen Ergebnisse der Skalenanalyse für die Skala zum individuellen Interesse sind wiederum in Anhang A.1 aufgeführt.

9.3 BESCHREIBUNG

DER

AUSWERTUNGSVERFAHREN

Im folgenden Abschnitt werde ich kurz die quantitativen und qualitativen Methoden beschreiben, die für die Analyse der im Rahmen der Hauptuntersuchung erhobenen Daten zur Anwendung kamen. Quantitative Analyse Wie bereits in der Voruntersuchung wurden auch in der Hauptuntersuchung die erhobenen Daten im Anschluss an die Erhebung mit der Statistik-Software SPSS Statistics 24 erfasst und statistisch ausgewertet. Bei allen metrisch skalierten Variablen wurde mit dem Shapiro-Wilk-Test und mittels Histogrammen die Normalverteilung geprüft. Danach wurden die Ausprägungen der erhobenen Variablen zwischen den Versuchsgruppen mit t-Tests auf etwaige Unterschiede überprüft. Für die Analyse des Zusammenhangs von metrisch skalierten Variablen innerhalb einer Versuchsgruppe kam die Pearson-Korrelation zum Einsatz. Für den Vergleich von metrisch skalierten Variablen zwischen mehreren Gruppen wurde eine Varianzanalyse berechnet. Auch die Überprüfung des hypothetischen Zusammenhangs zwischen der unabhängigen und der abhängigen Variable wurde varianzanalytisch mit einer Varianzanalyse mit 2x2-Ansatz ausgewertet. Für die Überprüfung von Mediation und Konfundierung wurden Regressionsanalysen durchgeführt. Abschließend wurden außerdem Kovarianzanalysen eingesetzt, um den Einfluss der erhobenen Kontrollvariablen auf den Zusammenhang zwischen abhängiger und unabhängiger Variable explorativ zu erfassen. Bei allen ordinal skalierten Variablen wurden nicht-parametrische Testverfahren eingesetzt. Neben diesen parametrischen Verfahren kamen bei der Variable Bildungsstand (ordinal-skaliert) nicht-parametrische Testverfahren zur Anwendung. Als Alternative zur Pearson-Korrelation wurde hier eine Spearman-Rang-Korrelation und statt der Varianzanalyse der Kruskal-Wallis-Test berechnet. Für den Vergleich von kategorial skalierten Variablen wurden 𝜒 2 -Tests durchgeführt. Ferner wurden für alle statistisch signifikanten Testergebnisse die passenden Effektmaße berechnet, um neben dem statistischen den ›tatsächlichen‹ Effekt der Variablen besser einschätzen zu können.

210 | Die »Aura« des Originals im Museum

Qualitative Analyse Neben den beschriebenen statistischen Methoden wurden für die Auswertung der offenen Frage des Fragebogens auch qualitative Methoden eingesetzt. Die Antworten der Befragten wurden dabei mithilfe der Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring analysiert und kodiert. Ein qualitatives Vorgehen bot sich bei der offenen Frage an, weil damit ein komplexeres Verständnis der Bewertungsvorgänge ermöglicht wird und zudem Aspekte aufgedeckt werden, die im quantitativen Forschungsdesign nicht berücksichtigt werden können. Im Unterschied zum statistischen Verfahren folgt die Datenauswertung hier einem induktiven Design, bei dem die Daten bottom-up organisiert und schrittweise zu abstrakteren Informationen komprimiert werden, wobei einzelne Kategorien herausgearbeitet werden. Der Fokus liegt hier auf den individuellen Deutungsmustern, die die Befragten in den Antworten äußern.32 Inhaltsanalyse nach Mayring Laut Mayring besteht das Ziel der Inhaltsanalyse in der »Analyse von Material, das aus irgendeiner Art von Kommunikation stammt«.33 Als weitere Merkmale der Inhaltsanalyse nennt Mayring, dass sie mit in Form von Texten oder Bildern fixierter Kommunikation arbeitet, dass sie sich durch ein systematisches Vorgehen auszeichnet, nach expliziten Regeln abläuft und dabei theoriegeleitet vorgeht und dass sie »ihr Material nicht ausschließlich für sich analysieren will (wie z.B. die Textanalyse), sondern als Teil des Kommunikationsprozesses. Sie ist eine schlussfolgernde Methode.«34 Im Mittelpunkt der Inhaltsanalyse steht nach Mayring das »Erarbeiten eines Kategoriensystems«, das die »genaue Umsetzung der Fragestellung« garantiert. Es dient dazu, sowohl die Nachvollziehbarkeit als auch die Intersubjektivität der Analyse sicherzustellen. Außerdem soll sich das Kategoriensystem anhand von Gütekriterien wie dem 𝜅-Wert (siehe dazu weiter unten) messen lassen.35 Mayring hat verschiedene Verfahren der Inhaltsanalyse beschrieben, die den oben genannten Kriterien folgen. Für die vorliegende Studie möchte ich mich auf das qualitative Verfahren der zusammenfassenden Inhaltsanalyse beziehen, deren Ablaufschritte Mayring wie folgt beschrieben hat:

32 | Vgl. Creswell, J.W.: Qualitative inquiry and research design, S. 38 ff. 33 | Mayring, P.: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, S. 11. 34 | Ebd., S. 12 f. 35 | Mayring, P.: Qualitative Inhaltsanalyse, S. 192.

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Im ersten Schritt der zusammenfassenden Inhaltsanalyse wird das erhobene Material genau beschrieben und die Analyseeinheiten für die Kodierung werden festgelegt, z.B. ob Sätze oder Abschnitte oder andere Formen kodiert werden sollen. Die Kodiereinheiten werden im darauffolgenden Schritt der Paraphrasierungin einer einheitlichen Form in »knappe, nur auf den Inhalt beschränkte, beschreibende Form umgeschrieben« wobei »nicht inhaltstragende (ausschmückende) Textbestandteile fallen gelassen« werden.36 Die paraphrasierten Aussagen werden im weiteren Schritt der Generalisierung im Hinblick auf ein vorher festgelegtes Abstraktionsniveau generalisiert. In zwei weiteren Schritten werden die generalisierten Aussagen durch Bündelung und Weglassen von doppelten Aussagen zu übergeordneten Kategorien reduziert. Am Ende der zweiten Reduktion stehen vorläufige Kodekategorien, die am Gesamtmaterial überprüft werden. Dafür werden für jede der Kategorien Ankerbeispiele und Kodierregeln definiert. Hierbei wird geprüft, ob die aus dem Material abgeleiteten Kategorien geeignet sind, um die gesamte Menge des Materials zu erfassen. Falls eine Aussage nicht unter einer Kategorie kodiert werden kann, wird in diesem Schritt gegebenenfalls eine neue Kategorie hinzugefügt. Nach Abschluss der Probekodierung werden die Kategorien überarbeitet und in einer letzten endgültigen Kodierphase angewandt, um das Gesamtmaterial unter den Kategorien zu ordnen.37 Kategorienentwicklung in der Untersuchung Das konkrete Verfahren zur Ableitung der induktiven Kategorien orientiert sich an einem Vorschlag von Judith Becker, Maria Jung und Bettina Hannover zur praktischen Umsetzung der Inhaltsanalyse.38 Abbildung 11 zeigt die Schritte der zusammenfassenden Inhaltsanalyse, wie sie in der vorliegenden Untersuchung angewandt wurden. Zunächst wurden dafür die erhobenen Antworten transkribiert und in das Programm MAXQDA 10 importiert. Danach wurde die Hälfte der Antworten über die Memo-Funktion von MAXQDA paraphrasiert und anschließend in eine ExcelTabelle exportiert. Im Fall des vorliegenden Datenmaterials erübrigte sich der Schritt der Paraphrasierung bei vielen Fällen, da die meisten Aussagen von den Befragten bereits in einer paraphrasierten Form abgegeben wurden. Die paraphrasierten Aussagen wurden im Anschluss daran in der Tabelle generalisiert. Als Abstraktionsni-

36 | Mayring, P.: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, S. 69. 37 | Vgl. ebd., S. 69 f.; vgl. Mayring, P.: Qualitative Inhaltsanalyse. (Forum Qualitative Sozialforschung). 38 | Siehe dazu Becker, J./Jung, M. B./Hannover, B.: »Liest du das Gleiche wie ich?«.

212 | Die »Aura« des Originals im Museum

veau wurden Begründungen für das Gefallen des Objekts festgelegt. Die generalisierten Aussagen wurden in der Tabelle dann in einem ersten Reduktionsschritt zu Kategorien zusammengefasst. Diese z.T. noch sehr spezifischen Kategorien wurden in einem zweiten Schritt der Reduktion nochmals generalisiert und daraus ein Kategoriensystem entwickelt. Im letzten Teil der Analyse wurde das aus der Reduktion der Aussagen gewonnene Kategoriensystem am gesamten Material rücküberprüft. Im Fall der vorliegenden Untersuchung wurde jede Aussage, die eine Begründung enthielt, als eigene Einheit kodiert. Auf diese Weise wurden die 197 Antworten auf 226 zu kodierende Aussagen aufgeteilt, die dann den Kodekategorien zugeordnet wurden. Neue Kategorien wurden immer dann definiert, wenn sich eine Aussage nicht unter einer der bereits vorhandenen Kategorien kodieren ließ. Abbildung 11: Ablaufmodell der Inhaltsanalyse nach Mayring

Nach der Kodierphase wurden alle Kategorien erneut zusammengefasst. Für den zweiten Kodierdurchlauf wurde ein Kodierleitfaden erstellt (siehe Anhang A.2), mit dem die Aussagen den endgültigen Kategorien zugewiesen werden konnten. Der Kodierleitfaden diente auch der statistischen Überprüfung des Kategoriensystems. Dazu wurden 15% des Materials (35 zufällig ausgewählte Aussagen) von einer für die Beurteilung der Kategorien hinzugezogenen Person (Rater) unabhängig mithilfe des Leitfadens kodiert. Die Interrater-Reliabilität wurde dann anhand des Cohens𝜅-Koeffizienten bestimmt, der mit folgender Formel berechnet wird: 𝜅 ≡ (𝜌0 − 𝜌𝑒 ) ÷ (1 − 𝜌𝑒 ) Der Wert 𝜌 0 bezeichnet dabei den Anteil tatsächlich beobachteter Übereinstimmungen, während 𝜌 𝑒 den Anteil zufälliger Übereinstimmungen beschreibt. Ein Wert von mindestens 𝜅=0,60 bedeutet, dass man sehr wahrscheinlich von einer guten Überein-

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 213

stimmung ausgehen kann.39 Für das vorliegende Kategoriensystem kann auf Basis der Übereinstimmung mit einem Rater ein Wert von 𝜅=0,70 berichtet werden.

9.4 DURCHFÜHRUNG

DER

UNTERSUCHUNG

Die Untersuchung wurde während der Öffnungszeiten des Museums mit einer Fragebogenerhebung durchgeführt. Über einen Zeitraum von zwei Wochen (jeweils von Montag bis Sonntag) wurden im September 2017 im Oberhausmuseum Passau alle Besucherinnen und Besucher der Ausstellung Faszination Mittelalter angesprochen an deren Eingang angesprochen. Diejenigen Besucher und Besucherinnen, die sich bereit erklärten, an der Befragung teilzunehmen, erhielten einen Fragebogen, mit dem sie die Objekte im Rahmen eines eigenständigen Ausstellungsbesuchs bewerten konnten. Die Versuchspersonen wurden dabei nicht auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit (Zusammenhang zwischen Objektauthentizität und situationalem Interesse) hingewiesen, sondern erhielten stattdessen vorab die Information, dass es im Fragebogen um ihre persönliche Einschätzung von sechs Ausstellungsgegenständen geht. Weitere Instruktionen für die Bewertung der Objekte befanden sich auf dem Fragebogen (siehe Anhang B). Der ausgefüllte Fragebogen konnte am Ende der Ausstellung abgegeben werden. Dabei wurden die Versuchspersonen darüber aufgeklärt, dass es sich bei allen Objekten, die sie hinsichtlich ihres persönlichen Interesses eingeschätzt hatten, um Originale handelte. Vorbereitung der Objekte Grundlage der experimentellen Manipulation bildete die Objektbeschriftung der für die Studie ausgewählten Ausstellungsobjekte. Die Texte wurden als geeignetes Mittel für die Operationalisierung angesehen, weil sie in Museumsausstellungen eine zentrale Rolle spielen. Laut dem Sprachwissenschaftler Wolfgang Kesselheim markieren die Texte, welche Elemente zur Ausstellung gehören und welche nicht. Darüber hinaus beschreiben sie die relevanten Aspekte eines Exponats.40 Für die Stu-

39 | Vgl. Bortz, J./Döring, N.: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, S. 276 f. 40 | Vgl. Kesselheim, W.: Wechselspiele von ›Text‹ und ›Kontext‹ in multimodaler Kommunikation, S. 341.

214 | Die »Aura« des Originals im Museum

die erhielten alle Objekte, die von den Befragten hinsichtlich ihres Interesses eingeschätzt werden sollten, für die Dauer der Befragung eine eigene Objektbeschriftung in Form einer Texttafel sowie eine eigene Markierung in Form eines roten Ritterhelms. Die reguläre Beschriftung der betreffenden Objekte wurde, sofern vorhanden, verdeckt. Die präparierten Texttafeln waren ebenfalls mit dem Ritterhelmsymbol versehen und zudem rot gestaltet, so dass sie sich deutlich von den herkömmlichen Texten der Ausstellung unterschieden. Wie der Fragebogen wurden auch alle Texttafeln zweisprachig in Deutsch und Englisch präsentiert. Eine Übersicht der deutschsprachigen Texte findet sich in Anhang C. Die Texte dienten nicht nur zur Markierung der zu bewertenden Objekte, sondern sollten diese auch in den historischen Kontext einordnen und alle Versuchspersonen auf den gleichen Wissensstand bringen. Die Objekttexte orientierten sich am Katalog der Dauerausstellung, wurden für die Studie aber umformuliert und ergänzt. Dabei wurde auf eine allgemeinverständliche Formulierung geachtet und bei jedem Objekt ein Bezug zu dem jeweiligen Ausstellungsbereich hergestellt. Manipulation der Objektauthentizität Entsprechend des theoretischen Rahmenmodells wurden die Objekte in der Ausstellung in Bezug auf ihre Authentizität manipuliert. Als Stimulus diente dabei der erste Teil der Objektbeschriftung auf den Texttafeln. Wie bei der Studie in der Ausstellung »Neue Technologien« von Constanze Hampp im Deutschen Museum (siehe dazu Kapitel 2.3) wurden nicht die Objekte selbst, sondern lediglich die Beschriftungen auf den Texttafeln ausgetauscht.41 Ebenfalls aus Hampps Studie übernommen wurden die Bezeichnungen der Objekte als ›Original‹ und als ›1:1-Nachbildung‹, da sie den in dieser Studie formulierten theoretischen Annahmen auf Basis einer semiotischen Theorie der Authentizität entsprechen. Der Austausch der Texte erfolgte täglich, d.h. ein Objekt war an einem Tag als ›Original‹ und am darauffolgenden Tag als ›1:1-Nachbildung‹ zu sehen. Da das Experiment über zwei Wochen durchgeführt wurde, war jedes Objekt außerdem an jedem Wochentag einmal als ›Original‹ und einmal als ›1:1-Nachbildung‹ zu sehen. Neben der Ausweisung als ›Original‹ wurden die indexikalisch-authentischen Objekte – d.h. die als Originale ausgegebenen Exponate – in der Objektbeschriftung

41 | Vgl. Hampp, C.: Authentizität in der Wahrnehmung und Bewertung von Museumsobjekten, S. 92.

9 Methodischer Rahmen der Untersuchung | 215

in einem faktischen Raum-Zeit-Zusammenhang verortet. Als Stimuli dienten hier der Verweis auf die historische Datierung (›aus der Zeit um‹ bzw. ›zwischen‹) und auf die Provenienz. Die ikonisch-authentischen Objekte – d.h. die als Kopien ausgegebenen Exponate – wurden als ›1:1-Nachbildungen‹ gekennzeichnet. Dadurch sollte ausgedrückt werden, dass sie sich von den als ›Originalen‹ ausgewiesenen Objekten nur durch ihr Alter, nicht aber hinsichtlich des Materials und der Herstellungstechnik unterscheiden. In Tabelle 3 finden sich alle Teile der Objektbeschriftung, die als Hinweis auf die Objektauthentizität dienten. Tabelle 3: Operationalisierung der Variable Objektauthentizität Nr.

Original (indexikalisch)

1:1-Nachbildung (ikonisch)

1

Originale Holztrippe aus der Zeit zwischen 1400 bis 1500, gefunden bei Ausgrabungen in der Veste Oberhaus

1:1-Nachbildung einer Holztrippe aus der Zeit zwischen 1400 bis 1500, die bei Ausgrabungen in der Veste Oberhaus gefunden wurde

2

Originales Leuchtermännchen aus der Zeit zwischen 1400 bis 1500, Leihgabe der Diözese Passau

1:1-Nachbildung eines Leuchtermännchens aus der Zeit zwischen 1400 bis 1500, das sich derzeit im Besitz der Diözese Passau befindet

3

Originaler Nuppenbecher aus der Zeit zwischen 1400 bis 1500, von der Diözese Passau an das Oberhausmuseum ausgeliehen

1:1-Nachbildung eines Nuppenbechers aus der Zeit zwischen 1400 bis 1500, der sich derzeit im Besitz der Diözese Passau befindet

4

Originaler Wandteppich aus der Zeit um 1450, befand sich ursprünglich im Besitz der Stadt Passau

1:1-Nachbildung eines Wandteppichs aus der Zeit um 1450, der sich ursprünglich im Besitz der Stadt Passau befand

5

Originaler aus der Zeit zwischen 1400 bis 1500, hergestellt in Nürnberg

1:1-Nachbildung eines Feldharnischs aus der Zeit zwischen 1400 bis 1500, der in Nürnberg hergestellt wurde

6

Originaler Mörser aus der Zeit um 1500, hergestellt in Passau

1:1-Nachbildung eines Mörsers aus der Zeit um 1500, der in Passau hergestellt wurde

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Beschreibung der Stichprobe Von insgesamt 1180 Besucherinnen und Besuchern, die die Ausstellung Faszination Mittelalter im Erhebungszeitraum besuchten, erklärten sich 585 Besucher und Besucherinnen bereit, an der Befragung teilzunehmen. Dies entspricht einer Teilnahmequote von 53%. Da die Fragebögen von den Versuchspersonen selbstständig ausgefüllt und am Ende der Ausstellung in eine Box eingeworfen wurden, gab es erwartungsgemäß eine große Anzahl von leer abgegebenen oder fehlenden Fragebögen (n=53). Nicht berücksichtigt wurden ferner Fragebögen von Befragten im Alter von unter 10 Jahren (n=10). Weiterhin nicht ausgewertet wurden Fragebögen, in denen ein Objekt oder mehrere Objekte ausgelassen, mehr als zwei Items bei einem Messzeitpunkt nicht beantwortet oder bei denen reversiert kodierte Items nicht als solche erkannt wurden (n=51). Schließlich wurden alle Versuchspersonen der Versuchsgruppe mit Frage nach Authentizität ausgeschlossen, die die Frage nach der Authentizität mindestens einmal falsch beantwortet hatten (n=5). Nach der Datenbereinigung konnten 395 Fragebögen ausgewertet werden. Von den Befragten waren 51% männlich (n=395). Das durchschnittliche Alter lag bei 47 Jahren (SD=16,54, Min=10, Max=83, n=375). Über zwei Drittel der Befragten stammten aus Deutschland. Annähernd die Hälfte der Befragten (n=369) gab als Wohnort Passau oder einen der angrenzenden Landkreise (21%), das restliche Bayern (21%) oder das benachbarte Österreich (5%) an. Bei 13% der Befragten handelte es sich um Besucher und Besucherinnen aus dem europäischen und nicht-europäischen Ausland (zum Großteil aus Großbritannien und den USA). Hinsichtlich der erhobenen demographischen Daten ließen sich keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Versuchsgruppen (ohne Frage nach Authentizität vs. mit Frage nach Authentizität) feststellen, weshalb die demographischen Daten bei den weiteren Analysen nicht weiter berücksichtigt wurden.

10 Ergebnisse der Untersuchung

Im folgenden Teil der Arbeit werden die Ergebnisse der Untersuchung dargestellt. Dabei werden zunächst die Ergebnisse der statistischen Auswertung des Experiments berichtet. Im Anschluss daran werden dann die Ergebnisse der Inhaltsanalyse präsentiert.

10.1 ERGEBNISSE

DES

EXPERIMENTS

Bei der statistischen Auswertung wurden zunächst alle im Rahmen des Experiments erhobenen Variablen deskriptiv ausgewertet, um festzustellen, ob sich neben der unabhängigen Variable Objektauthentizität noch andere Drittvariablen auf den Zusammenhang zwischen Objektauthentizität und situationalem Interesse auswirken. Hier konnten bei zwei Variablen Unterschiede zwischen den beiden Versuchsgruppen festgestellt werden. Anschließend wurde der Effekt der experimentellen Manipulation auf die abhängige Variable situationales Interesse varianzanalytisch ausgewertet. In einem zweiten Schritt wurden für die beiden Versuchsgruppen ohne Frage nach Authentizität und mit Frage nach Authentizität separate Mediatoranalysen durchgeführt, um zu überprüfen, ob der Effekt über die erhobene potenzielle Mediatorvariable Anzahl erinnerter Objekte vermittelt ist. Die im Rahmen der deskriptiven Analyse festgestellten Unterschiede in den Versuchsgruppen wurden danach mit einer Konfundierungsanalyse überprüft. Im letzten Abschnitt der statistischen Auswertung des Experiments wurden die als potenzielle Kontrollvariablen erachteten Drittvariablen zu explorativen Zwecken im Rahmen von Kovarianzanalysen in die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen unabhängiger und abhängiger Variable miteinbezogen.

218 | Die »Aura« des Originals im Museum

Darstellung der deskriptiven Befunde Im Rahmen der statistischen Auswertung des Experiments werden vor der Überprüfung der Hypothesen zunächst die Ausprägungen der abhängigen Variablen und der Drittvariablen mithilfe deskriptiver Statistik beschrieben. Die Darstellung erfolgt dabei bei jeder Variable einmal bezogen auf die gesamte Stichprobe und einmal verteilt auf die beiden Versuchsgruppen (ohne Frage nach Authentizität vs. mit Frage nach Authentizität). Für jede Variable werden bei metrisch skalierten Variablen das arithmetische Mittel (M) bzw. bei ordinal skalierten Variablen der Median (m), die Standardabweichung (SD), die Zahl der Antworten (n) sowie das Minimum und das Maximum, also der in der Gesamtheit der jeweils gültigen Antworten niedrigste und höchste vorkommende Wert der betreffenden Variable, angegeben. Bei den Testverfahren wird ein Signifikanzniveau (p) von p=0,05 festgelegt. Sofern ein Test ein statistisch signifikantes Ergebnis erbrachte, wird zusätzlich das Maß der Effektstärke (Cohens d) angegeben. Ein Wert von d=0,2 entspricht laut Cohen einem kleinen Effekt, ein Wert von d=0,5 entspricht einem Effekt mittlerer Größe und ein Wert von d=0,8 entspricht einem großen Effekt.1 Ausprägung der abhängigen Variable Aus den Messzeitpunkten pro Person wurde jeweils ein Mittelwert für das situationale Interesse an Originalen und ein Mittelwert für das situationale Interesse an 1:1-Nachbildungen errechnet. Für das durchschnittliche situationale Interesse aller Befragten lässt sich für die Originale ein Minimum von 1,54 und ein Maximum von 4,54 berichten. Der Mittelwert für das Interesse an Originalen liegt für alle Befragten bei M=3,13, SD=0,58, n=395. Für das durchschnittliche situationale Interesse an 1:1-Nachbildungen ergab sich für alle Befragten ein Minimum von 1,29 und ein Maximum von 4,58. Der Mittelwert für das Interesse an 1:1-Nachbildungen liegt für alle Befragten bei M=3,07, SD=0,59, n=395. Beim Vergleich der Mittelwerte zwischen den Gruppen deutet sich eine Interaktion an: So gab es bei der Versuchsgruppe ohne Frage nach Authentizität keine Unterschiede. Hier sind die Mittelwerte für das situationale Interesse an Originalen (M=3,14, SD=0,58, n=266) wie an Nachbildungen (M=3,12, SD=0,59, n=266) nahezu gleich. Auch das Minimum und das Maximum sind für das situationale Interesse an Originalen (1,54 bis 4,54) und an Nachbildungen (1,54 bis 4,58) fast identisch. Dagegen zeigte sich ein kleiner Unterschied bei der Versuchsgruppe mit Frage nach

1 | Vgl. Cohen, J.: Statistical Power Analysis for the Behavioral Sciences, S. 26 f.

10 Ergebnisse der Untersuchung | 219

Authentizität. Der Mittelwert für das situationale Interesse an Originalen (M=3,10, SD=0,57, n=129) ist hier etwas höher als für das situationale Interesse an Nachbildungen (M=2,98, SD=0,57, n=129). Das Minimum liegt hier für das Interesse an Originalen bei 1,75 mit einem Maximum von 4,50, während das Minimum für das Interesse an Nachbildungen deutlich niedriger bei 1,29 und das Maximum ebenfalls etwas niedriger bei 4,29 liegt. Die Mittelwerte für das Interesse an Originalen unterscheiden sich nicht signifikant (t=0,53, p=0,598). Dafür gab es statistisch signifikante Unterschiede für das Interesse an Nachbildungen zwischen den Versuchsgruppen (t=2,19, p=0,029, d=0,235). Das Interesse an Originalen und das Interesse an Nachbildungen korrelierten sowohl in der Versuchsgruppe ohne Frage nach Authentizität (r=0,74, p