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German Pages 59 [68] Year 1903
Vorträge der theologischen Konferenz zu Giessen 1-. folge. -------
■■ —
Die Predigt lm 19. Jahrhundert Kritische Bemerkungen und praktische Minke von
D» paul Drewd Professor der Cheologie an der Universität Siessen.
1$"
Giessen
J, Ricker’scbe Verlagsbuchhandlung (Mlfrcd C5pelmann) 1903»
Druck von C. G. Röder, Lei-ri-.
Vorwort Den Vortrag, den ich am 11. Juni d. I. auf der „Gießener theologischen Konferenz" gehalten habe, lege ich
im Folgenden in erweiterter Form vor.
Mir kam es bei
dem Vortrag hauptsächlich auf den historischen Gesichts punkt an, den ich in den Mittelpunkt gestellt habe.
Dabei
waren freilich prinzipielle Bemerkungen nicht zu umgehen. Allein man wolle darin nicht eine vollständige Darlegung meiner homiletischen Grundsätze sehen und mir also nicht
Anschauungen zuschreiben, die ich nicht anerkennen könnte.
Möchten meine Ausführungen der guten Sache zu einiger Förderung gereichen. Gießen, im Juli 1903.
Drewe.
Niemand wird erwarten, daß ein kurzes Referat über die Predigt im 19. Jahrhundert auch nur annähernd er
schöpfend sein kann.
Denn ein reichbestandenes, buntes
Feld dehnt sich vor unsrem Blicke aus, wenn wir die Predigtliteratur des hinter uns liegenden Jahrhunderts ins Auge fassen.
Schon die Zahl der Veröffentlichungen
hat sich im Vergleich zu den vorhergehenden Zeiten ganz außerordentlich gesteigert. Aber es tritt uns auch eine
bei weitem reichere Mannigfaltigkeit entgegen, eine Folge
des immer individueller sich gestaltenden geistigen Lebens. In dem breiten Strom der Durchschnittsprediger erheben
sich zahlreiche eigenartige Charakterköpfe, von denen jeder für sich genommen sein toiC. Diese Tatsache hat für die Geschichte der Predigt ihre besonderen Folgen. Ihr liegt es an sich schon nahe, sich nur mit den interessanten
Einzelerscheinungen zu beschäftigen, ganz wie es die Ge
schichte der Theologie nur mit den führenden Geistern zu tun hat.
Das ist ja auch das Leichteste und das Inter
essanteste, und niemals wird die Einzelcharakteristik aus
der Geschichte der Predigt verschwinden können. Aber darf sich die Geschichte der Predigt darauf beschränken?
Die vorliegenden Darstellungen tun es, wenigstens für das 19. Jahrhundert. Hinter der Einzelcharakteristik tritt so gut wie ganz zurück, was doch schließlich das Gemein same ist, das auch die Besten und die Selbständigsten mit« 1*
4 einander teilen; fast ganz tritt zurück die eigentliche Ent wicklung, soweit nicht die allgemeine religiöse und dog-
mattsche Entwicklung
in Betracht kommt, als deren Ab
schaltung gewissermaßen die Geschichte der Predigt erscheint. Es wäre eine lohnende Aufgabe, sich
darüber klar zu
werden, welche Fragen eigentlich eine Geschichte der Pre
digt — sagen wir nur einmal: seit der Reformatton —
zu beantworten hat. noch Zeit.
Dazu ist jetzt freilich weder Raum
Allein, was ich Ihnen zu bieten beabsichtige,
wenn ich über die Geschichte der Predigt im 19. Jahr
hundert zu Ihnen reden will, ist nicht eine Auswahl von
Charatteristiken interessanter Prediger dieser Zeit.
Viel
mehr möchte ich Ihnen die Entwicklung der Predigt über haupt unter einem einzigen Gesichtspunkt vorführen, der
neben manchen anderen, wie ich glaube, sein gutes Recht
hat. digt.
Dieser Gesichtspunkt ist der Gegenstand der Pre Der Predigtgegenstand hat im Laufe des 19. Jahr
hunderts seine deutliche Geschichte, in der sich mehr oder
weniger bestimmt die Entwicklung der Predigt überhaupt spiegelt.
Deshalb ist es nicht uninteressant, diesen Ge
sichtspunkt zu verfolgen, und es ist auch nicht wertlos,
weil sich auS dieser Geschichte allerlei Beherzigenswertes für die Predigt der Zukunft lernen läßt. Jedenfalls ist an sich der Gegenstand bei einer Pre
digt nichts Unwesentliches, Nebensächliches.
Bei jeder Rede
ist der Gegenstand eigentlich das Herz der Sache, der
Mittelpuntt, um den sich alles bewegt. Vorttag
Nicht nur der
macht des Redners Glück, auch die Wahl des
Themas schon entscheidet oft über Erfolg und Nichterfolg.
Von der Predigt gilt das nicht weniger.
Zwar haben
alle Predigten zuletzt einen einzigen Gegenstand, das Evan gelium, aber die einzelne Predigt hat einen einzelnen Punkt
5 aus dieser Fülle herauszugreifen, und wie dies zu ge
schehen
hat, was gewählt werden soll, das macht zum
Wir
guten Teil mit die Aufgabe des Predigers aus.
charakterisieren auch einen Prediger nicht zuletzt mit da nach, welche Gegenstände er auf der Kanzel zu behandeln
pflegt.
Ja, man kann weitergehen und sagen:
von der
Wahl des Predigtgegenstandes hängt zumeist der Cha
rakter der ganzen Predigt ab.
Wer schon einen abstrakten,
allgemeinen Gegenstand wählt, wird auch in der Aus führung leicht abstrakt, allgemein bleiben. konkrete Predigtgegcnstände weisen
Und umgekehrt:
den Prediger bereits
auf die Bahn des Konkreten für die Ausführung.
Es
ist auch nicht gleichgültig, aus welchen Gebieten ein Pre diger oder eine ganze Zeit ihre Predigtgegenstände wählen, ob unmittelbar nur aus der
christlichen Denkweise und
Lebensanschauung, ob aus der Ethik, ob aus der Dog matik oder aus dem täglichen Leben, ob aus den lokalen
Zuständen und Stimmungen der Gemeinde, oder aus der
Natur und der Geschichte; es verdient Beachtung, wenn dauernd eins dieser Gebiete völlig
außer acht gelassen
Diese wenigen Bemerkungen sollen nur dazu dienen,
wird.
Ihnen zum lebendigen Bewußtsein zu bringen, daß es sich
wirklich um etwas Bedeutungsvolles handelt, wenn ich den Gegenstand
wähle.
der Predigt zum Gegenstand
meiner Rede
Hoffentlich enthalten aber diese meine Vorbemer
kungen nicht das Todesurteil über meinen eigenen Vortrag.
Noch eine kurze Bemerkung sei vorausgeschickt.
Wenn
ich vom Gegenstand der Predigt spreche, so wird sich in
den weitaus meisten Fällen der Gegenstand einer Predigt mit ihrem Thema decken.
Aber dies ist nicht immer der
Fall. Es kommt auch vor, daß der Prediger seinen Gegen stand im Thema ungenau, nur überschristsmäßig formu-
— liert hat.
6
—
Was er eigentlich behandelt, das ist erst aus
der Disposition oder gar aus der Predigt selbst zu er
sehen.
Um also genau zu sein, wird mau stets im Auge
zu behalten haben, daß sich Thema und Gegenstand der
Predigt nicht immer decken.
Und nun zur Sache selbst!
hat der Predigtgegenstand
Welche Wandlungen
im Laufe
steckten Zeitraums durchlaufen?
des abge
I. Der Gegensatz zwischen dem Predigtideal des Pietis mus und dem der Aufklärung, soweit er hier in Frage kommt, läßt sich treffend in zwei Äußerungen wiederffnden,
deren eine von Aug. Herm. Francke, deren andere von dem Gothaer Gencralsuperintendenten Löffler (f 1816)
stammt.
Ersterer fordert von jeder Predigt, sie müsse die
Heilsordnung in sich tragen, sodaß, wenn ein Mensch
nur einmal in seinem Leben eine evangelische Predigt ge hört hätte, er wisse, wie er selig werden solle.
Löffler
dagegen stellt den Grundsatz auf: »Jede Predigt soll eine
Gelegenheitspredigt fein".1)
Es ist klar, eine Predigt nach
diesem und eine Predigt nach jenem Rezept werden we sentlich voneinander verschieden sein.
Wer nach Franckes
Vorschrift sich richtet, wird ganz von selbst dazu gedrängt
werden, allgemeine, zenttale Gegenstände für die Predigt
zu wählen, wie denn Francke selbst, wenn auch nicht immer, so doch meist sehr allgemeine Themata behandelt: „Von der wahren Herzensbuße"; „Gott ist die Liebe"; „Von der
Offenbarung der Herrlichkeit Jesu Christt"; „Die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes"; „Die Überschwänglichkeit der Gnade und dero Größe über die Sünde"; „Das reine *) Auch Röhr
sagt gelegentlich
einer Predigtrezension,
das
Kasuelle und Zeügemäße sei immer das Rechte (Kritische Prediger
bibliothek, 4. Band, 1823, S. 80).
8 und einfältige Glaubensauge der Kinder Gottes in diesem Leben" u. a. — alles Themata, die dem Mittelpunkt christ
lichen Denkens entnommen sind. den entgegengesetzten Weg.
Löffler dagegen führt
Nicht das Allgemeine, sondern
das Besondere, nicht das ewig sich gleichbleibende mensch liche Bedürfnis
und
dessen Erfüllung im Christentum,
sondern das einzelne Bedürfnis der augenblicklichen Lage,
das soll das Bestimmende für die Predigt sein.
In der
Tat hat nun auch die Aufklärung der Predigt einen ganz
kasuellen, lokalen, speziellen Charakter verliehen, tatsächlich
den Charakter der Gelegenheitsredc im weitesten Sinne des Wortes. Aber nicht Löffler ist es gewesen, der diese Bahn
wies und führte, sondern weit vor ihm ist der Mann zu suchen, der diese Wendung in der Geschichte der Predigt
heraufzuführen stark genug war: es ist, soviel ich sehe,
Lorenz von Mosheim gewesen, der eigentliche Schöpfer der modernen Predigt, der nicht nur theoretisch den Satz
verfocht, der Prediger soll sich stets .nach den Umständen der Gemeinde, zu der er reden muß, richten" ’), sondern
*) In seiner „Pastoral-Theologie von
denen
Pflichten und
Lehramt eines Dieners des Evangelii" (Frankfurt und Leipzig. Auf
Kosten guter Freunde. 1754) findet sich als eine Art Anhang S. 77 bis 142 eine, soviel ich sehe, bisher ganz übersehene Homiletik unter
dem Titel: Continuatio Theologiae Pastoralis.
Hier heißt es in
§ 11 des 1. Kapitels (S. 88 s.): „Dem ohngeachtet sind zwo Seelen
der Homileten in unserer Kirchen entstanden, die noch jetzund ein
ander in den Haaren liegen, und vielleicht wohl niemals werden
vereiniget werden.
Die eine ist die Stete der Rationalisten, die alles
auf der Kanzel nach den ersten Gründen der Vernunft will ausgeführet und abgehandelt wiffen.
Die andere ist die Secte derjenigen,
die von nichts, als einer einfältigen Erklärung der Sache und der
Lehren, die in der Schrift stehen, wissen will.
Man könnte diese
9 der auch selbst diesen Grundsatz in der glänzendsten Weise in seinen .heiligen Reden" befolgte.
Und dies, nicht jener
theoretische Ratschlag, ist sicher das Wirkungskräftige ge wesen; denn theoretisch war jene Forderung von der Rück
sicht auf die Gemeinde längst ausgesprochen toorben *). Allein auch Mosheims Vorbild würde nicht die durch schlagende Wirkung gehabt haben, wäre nicht der Geist
der Aufklärung seinem Grundsatz entgegengekommen. Auch
ohne ihn wäre schließlich wohl die Predigt der Aufklärung das geworden, was sie geworden ist. Ausgestaltung
Was auf diese kasuelle
des Predigtthemas hindrängte,
der ausgesprochene Sinn
das war
fürs Praktische und Nützliche,
der der Aufklärung eigen ist.
Zentrale christliche Ge
danken in den Mittelpunkt zu stellen, wie der Pietismus, dazu war die Aufklärung schon deshalb nicht fähig, weil
sie sie nicht hatte.
Daß sich dabei oft Geschmacklosigkeiten
und Trivialitäten breit machen, steht auf einem anderen Blatt.
Man sollte endlich aufhören, die ganze rationa
listische Predigtweise
nur
nach
den Themen
von
dem
Secte die Sccte der Scripturariorum nennen, Der ist aber am allergeschentesten, der die Lehrsätze dieser beyden Seelen auf eine ge wisse Weise zusammen verbindet, u. sich dabey stets nach den Umständen der Gemeine, zu der er reden muß, richtet." § 1 des 5. Kapitels lautet: „Wer predigen will, muß vor allen Dingen zuerst den Text verstehen, worüber er predigen soll, und denselben im Verstände gleichsam zu zergliedern sich bemühen. Er muß weiter an die Gemeine sich erinnern, zu der er reden soll, um aus dem Zustande und Beschaffenheit derselben zu urteilen, waS sich für dieselbe schicke, und was mit Nutzen vorgetragen werden könne." Vgl. dazu Mosheims „Anweisung erbaulich zu predigen". HerauSgeg. von Chr. E. v. Windheim (Erlangen 1763), S. 113 ff.; 194 ff.; 366. *) Vgl. der Kürze halber die Angaben bei Krauß, Homiletik, S. 383.
10
Nutzen der Stallfütterung und dem Nutzen des Frühauf
stehens
zu charakterisieren.
Beispiele
für
völlige Ver
irrungen lassen sich aus jeder Zeit beibringen.
Um zu beweisen, daß tatsächlich das Kasuelle, das Spezielle das den Predigtgegenstand Bestimmende ist, wäre
es nicht richtig, nur einzelne Themata von hier und von
da aufzugreifen, vielmehr ist dem Bedürfnis nur dann genügt, wenn man möglichst sämtliche Predigtgegenstände
ein und derselben Predigtsammlung vorführt, und wenn man die verschiedensten Prediger auf diesen Punkt hin zu Lassen Sie mich aus der Fülle des
Worte kommen läßt.
Materials nur drei Prediger herausnehmen, die als un
anfechtbare
Vertreter
des
Rationalismus
bez.
Supra
naturalismus gelten können: Dräseke, Tzschirner und
Röhr.
Der erste Band der Predigten für denkende Verehrer Jesus (erschienen 1804; 4. Aufl., Lüneburg 1826) von
Bernhard Dräseke, der bekanntlich einer der gefeiertsten Prediger seiner Zeit war (f 1849), bietet 22 Predigten mit folgenden Themata: Am Neujahrstag 1803: „Über die
hiesigen
Kirchenregister
nach Mt. 8, 5 ff.
vom
(Hauptmann
verflossenen von
Jahre";
Kapernaum)
das
Thema: „Den Kranken gebührt der Gesunden treue Sorg falt"; der Text: Jesus auf dem See (Mt. 8, 23 ff.) er
gibt das Thema:
„Der Schlaf";
Jesu Rede über die
Dämonenaustreibung Lc. 11,14 ff. wird unter dem Thema
hehandelt:
„Die freimütige Wertung fremder Verdienste";
auf Grund von Joh. 8, 46 ff. predigt Dräseke über den
Satz: „Wer die Wahrheit nicht hören mag, ist ein ebenso verkehrter
als
unglücklicher Mensch".
Am
Charfreitag
schärfte er seinen Hörern ein: „Daß die Erhaltung unseres Lebens zwar eine sehr heilige, aber nicht die vornehmste
11 Pflicht sei". zu:
Am ersten Ostertag ruft er seiner Gemeinde
„In uns, neben uns, über uns erhalten wir die
Lehre:
Wir sind unsterblich!"
Aus dem hohenpriester-
lichen Gebet leitet er das Thema ab: „Womit der Christ
sich beruhigt, wenn er sterbend eine hülflose Familie zurück läßt". Zu Pfingsten verteidigt er den Satz: „Nur bei dem
innigen Gefühle, daß das Gute das Höchste sei, kommt heiliger Geist auch über uns". Das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus ergibt das Thema: „Über den Unglauben an eine vergeltende Ewigkeit". Auf Grund
von Mt. 18, 1—11 wirft Dräseke die Frage auf:
„Ver
langt die Lehre Jesu von ihren Bekennern auch nicht zu viel?" predigt.
Endlich die letzte Predigt; sie ist wieder eine Oster-
„Diese Festunterhaltung" trägt das überschrifts
mäßige Thema: „Christliche Osterfreude". — Ich wende mich zu Gottlieb Tzschirner, dem Leipziger Professor und Superintendenten (f 1828), dessen Predigten nach seinem
Tode Professor Goldhorn in 4 Bänden (Leipzig 1828 bis 1829; 2. Aust. 1829) herausgegeben hat.
Ich wähle,
ohne Absicht, den 2. Band, der Predigten aus den Jahren 1820 bis 1823 enthält.
Am Neujahrstag 1820 predigt
Tzschirner über Ps. 31, 16: „Meine Zeit stehet in deinen
Händen" und behandelt das Thema:
„Wie in dem Ge
denken an den Herrn über Leben und Tod die Lebens
liebe erwache und die Todesfurcht vergehe".
Die nächste
Predigt (Sonntag Estomihi) hat auf Grund von Jesaias
52, 13—15 zum Gegenstand
„Die Macht, welche Jesus
Christus der Leidende über die menschlichen Gemüter übt".
Aus Jesaias 53, 10—12 leitete er das Thema ab: „Die Betrachtung des sterbenden Erlösers lehret auch in des
Todes Zerstörung und Schmerz die ewige Weisheit und
Güte uns ahnen".
Eine Pfingstpredigt mst dem Text
12 Joh. 3, 16—21 hat das Thema: „Das Verhalten unsrer Zeitgenossen gegen die Kirche ist ein Spiegel ihrer Denk
art und Sitte". „Von der Kraft des Gedankens, daß Gott unser Herz kenne", handelt die nächste auf Ps. 139, 1—6 sich gründende Predigt. Die Verse 17 und 18 des
selben Psalms („Wie köstlich sind vor mir, Gott, deine Gedanken!
Wie ist ihrer eine so große Summe!
Sollte
ich sie zählen, so würde ihrer mehr sein, denn des Sandes")
wendet Tzschirner an „zu einer fruchtbaren Betrachtung der Erkenntnis Gottes in ihrer Unbegreiflichkeit und Herr lichkeit". Ich hebe noch etliche Themata heraus! Über Mt. 8, I ff. predigt Tzschirner mit dem Thema:
„Was
wir tun müssen, wenn wir erfreuliche Erfahrungen von menschlicher Güte machen wollen".
Das Gleichnis von
den Arbeitern im Weinberg Mt. 20, 1—6 führt ihn zu
dem Gegenstand: „Wie wir die Ungleichheit in dem Lohne
der Arbeit mit christlicher Weisheit betrachten
sollen".
Eine Predigt über Mt. 11, 28 u. 29 hat das Thema: „Der Herr weckt die Seele auf und führt sie dennoch
zur Ruhe".
Endlich gibt ihm der Text Ap.-Gesch. 19,
23—38 (Paulus in Ephesus, der Aufstand des Deme trius) Anlaß über „die Abhängigkeit des menschlichen Ur-
telles von Vorurteil und Leidenschaft" zu reden. genug von Tzschirner!
Doch
Als dritten Zeugen rufe ich den
Weimarer Generalsuperintendcnten Röhr (f 1848) auf, an dessen waschechtem Rationalismus wohl noch niemand
gezweifelt hat. Er ließ 1822 den 1. Band seiner „Pre digten in der Hof- und Stadt-Kirche zu Weimar über
die gewöhnlichen Sonn- und Festtags-Evangelien gehalten" erscheinen.
Dieser Band mit seinen 22 Predigten genüge
uns als Unterlage. Die erste Predigt am Neujahrstage hat zum Text Ps. 69, 33 („Die Gott suchen, denen wird
13 das Herz leben") und zum Thema: „Wie wohl es tue, den Eintritt in ein neues Jahr durch den lebendigen Gedanken
an Gott zu heiligen".
Die Epiphanienpredigt behandelt auf
Grund von Mt. 2, 1—12 das Thema: „Was der Mensch in einem verständigen Anschauen der Sterne findet". Mt. 8, 1—11 wird der Satz abgeleitet:
Aus
„Daß der sein
Glück am besten gründet, der sich mit menschlich mildem Sinne hilfsbedürftiger Brüder annimmt".
Das Gleichnis
von den Arbeitern im Weinberg Mt. 20, 1—16 wird unter dem Thema
behandelt:
„Was
wir
zu
erwägen
haben, um unser Herz vor scheelsüchtiger Unzufriedenheit
mit unserer Lage im Leben sicher zu stellen".
Auf Grund
der Versuchungsgeschichte Mt. 4, 1—11 wird die Frage beantwortet:
„Wovon
der
glückliche
Sieg
suchungen zum Bösen vornehmlich abhänge?"
über
Ver
Am Feste
Mariä Verkündigung predigt Röhr über „das Ernste und Schwere des mütterlichen Berufs";
der Text ist Luk. 1,
26—36. Dieses mitgeteilte Material mag genügen — es ließe
sich natürlich ins Unendliche vermehren —, um darauf das Urteil zu gründen:
Die Predigt-Gegenstände
sind
durchgängig bis auf verschwindende Ausnahmen nicht zen tral und nicht allgemein, sondern speziell, d. h. sie be ziehen sich auf einzelne, ganz bestimmte Situationen, Auf
gaben, Probleme, Wahrheiten, Fragen des religiösen oder
— und dies besonders ost — des sittlichen Lebens, oder sie fassen ein Moment ins Auge, das an sich weder reli giös noch sittlich ist, sondern rein natürlich, wie z. B. den
Schlaf (Dräseke),
das sie dann unter die christliche Be
leuchtung rücken.
Nichts Menschliches ist dieser Predigt
weise stemd.
handelt.
Alle Verhältnisse des Lebens werden be
Freilich ist der religiöse Gehalt oft äußerst dünn
14 und mager, aber die Predigt hält Fühlung mit dem kon
kreten Leben.
Namentlich pflegt diese Predigt auch die
fromme Naturbetrachtung.
So naiv uns diese Ergüsse
oft auch berühren mögen, man sollte es doch dem Ratio nalismus zu seinen Gunsten anrechnen, daß er überhaupt
die Natur in die fromme Betrachtung so eifrig hinein gezogen hat.
Es ist ein Zeichen religiöser Schwäche und
Einseitigkeit, wenn der fromme Sinn für die Natur kein Auge hat. — Alles in allem: es konnte damals nur zu
speziellen Predigtgegenständen kommen.
Und weil sie spe
ziell waren, waren die Gegenstände auch außerordentlich mannigfaltig. In Bezug auf die Formulierung läßt sich beobachten, daß einfache Überschriften selten sind; die Regel bildet,
daß das Thema in Form eines Satzes, einer Behauptung, einer Frage angekündigt wird. Wichtiger als dies ist aber,
daß der Predigtgegenstand sich oft ganz lose nur an den Text anschließt. Nur irgend ein Nebenumstand des Schrift wortes wird benutzt, um das Thema daran anzuhängen.
Die Predigten tragen meist, um es mit dem homiletischen
Terminus zu sagen, synthetischen Charakter.
II. Im wichtigsten Punkt, in dem positiven Verständnis des Christentums als einer eigenartigen geschichtlichen Re ligion tritt mit Schleiermacher und der sogen. „Er weckung" die Wendung ein.
Predigt deutlich zu spüren.
Das ist in der Geschichte der
Die spezifisch christlichen Ge
danken treten aus ihrer Verschüttung wieder lebendig und
klar und kraftvoll zu Tage. Mit der allgemeinen Vernunft-
15 ist es zu Ende.
religion
Damit rückt auch die Bibel
wieder in ein neues Licht und gewinnt neue religiöse Be
Es braucht hier nicht ausgeführt zu werden,
deutung.
Nun wird
was dies alles auch für die Predigt bedeutet.
man geneigt sein, den Schluß zu ziehen: Jetzt wird auch
für
jene
speziellen
schlagen haben,
jetzt
die
Predigtgegenstände werden
Stunde
ge
die zentralen Gegenstände
die speziellen ablösen, jetzt werden die allgemein christlichen
Ideen: Glaube an Christus, Wiedergeburt, Erlösung, Nach
folge Jesu usw. zu herrschenden Predigtgegenständen wer den.
Das ist aber nicht der Fall.
einer
von
Zimmermann
Ernst
In einer Besprechung
Darmstadt
in
1825
herausgegebenen Predigtsammlung, die de Wette 1828 in
den theologischen Studien und Kritiken veröffentlichte (I, S. 669 ff.), fordert dieser direkt, daß die „Grundideen des
christlichen Glaubens und Lebens" behandelt werden müß
ten, im Gegensatz zu den üblichen „allgemein religiösen und sittlichen",
„den Ideen von Gottes Schöpfung und
Welttegierung,
menschlicher
Tugend
und
Menschenwohl, bürgerlichem Leben u. bergt.".
Bestimmung,
Er verwirft
die Predigten mit besonderem Charakter nicht unbedingt:
„Es mag auch Predigten geben, wo unter Voraussetzung dieser allgemeinen Ideen besondere Lebensansichten Regeln
gegeben,
Blicke
in
besondere
und
Lebensverhältnisse
getan, und die christlichen Wahrheiten gleich in der An wendung oder in concreto aufgefaßt werden". läßt sie doch nur als Ausnahmen gelten.
Aber er
„Solche", so
fähtt er fort, „müssen nur als Begleiter und Anhängsel zu jenen erscheinen.
Ein Prediger, der das ganze Jahr
hindurch das Evangelium treibt, mag auch zuweilen ganz besondere Belehrungs- und Ermahnungspredigten halten;
aber auf jenes muß
er
immer
wieder
Paul Drew», Die Predigt im 19. Jahrhundert.
zurückkommen". 2
16
Ganz
entsprechend
dem
empfiehlt de Wette
„diejenigen
Predigten als die vollkommensten, in welchen entweder ein biblischer Text analysiert, oder, wenn sie synthetischer Art
sind, der Inhalt in den wesentlichen Punkten aus dem Texte entnommen ist".
Schon diese Wünsche de Wettes
zeigen, daß die Predigt im wesenllichen noch die alten Bahnen ging; und fürs erste ist sie auch diesen von de Wette
empfohlenen
Weg noch nicht
gegangen, trotz
der reli
giösen Neubclebung, trotz der Rückkehr zum konfessionellen Christentum.
Auch Schleiermacher, so
epochemachend
er in der Geschichte der Predigt ist, zeigt noch nicht die
ersehnte Wendung.
Er verdient es, daß wir ein wenig
näher bei ihm verweilen.
Wir treten sofort an ihn mit
der Frage heran: Welcher Art sind bei ihm die Predigt gegenstände?
Zur Beantwortung dieser Frage benutzen
wir den ersten Band seiner gesammelten Predigten, der in drei Sammlungen Predigten aus der Zeit von 1796
bis 1812 enthält, während eine 4. Sammlung Predigten
aus dem Jahre 1818 bringt. findenden Themen:
Ich
gebe
die
hier
zu
Am Neujahrstag predigte Schleier
macher auf Grund von Pred. Salom. 1, 8 u. 9 über das
Thema, daß „die Stimmung, welche nichts Neues unter der Sonne findet, ganz im Geiste der Religion ist“. Über „den Wert und die Kraft des Bittgebets, insofern es auf
äußere Begebenheiten gerichtet ist“, lautete das Thema
einer Predigt über Mt. 26, 36—46 (Jesus in Gethse
mane).
Eine Charfreitagspredigt behandelt nach Mc. 15,
34—37
auch
sollen".
zu:
„einige Empfindungen des sterbenden Jesu, die
wir
uns
für unsere letzten Augenblicke
wünschen
In der nächsten Predigt ruft er seiner Gemeinde
„Laßt uns bedenken, daß alle Vorzüge des Geistes
getrennt von einer sittlichen und würdigen Gesinnung gar
17 keinen Wert haben"; der Text ist I. Cor. 12, 31—13,1. Am allgemeinen Bettag fordert er auf: „Wir wollen uns
gemeinschaftlich vor Gott demütigen".
Die folgende Pre
digt antwortet auf die Frage: „Was wir der auf unseren Wandel gerichteten Aufmerksamkeit der Menschen schuldig
sind", nach I. Ptr. 3, 15.
Das Gleichnis vom reichen
Mann und armen Lazarus Luk. 16 gibt Anlaß, vom
Problem
„der göttlichen Gerechtigkeit" zu reden.
„Tas
Leben und Ende des Trägen" behandelt die nächste Pre
digt über Sprüch. Sal. 21, 25 („Der Faule stirbt über
seinen Wünschen; denn seine Hände wollen nichts tun"). Mt. 6, 34 („Sorget nicht" usw.) wird unter dem Thema
behandelt: „Die schriftmäßige Einschränkung unserer Sorge für die Zukunft".
Aus dem Spruch I. Cor. 13, 7 („Die
Liebe verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie
duldet alles") leitet Schleiermacher das Thema ab: „Von den Grenzen der Nachsicht"; er will seine Hörer davon überzeugen,
„daß die zum Besten der Gesellschaft not
wendige Gerechtigkeit und diese Forderung der Liebe keines
wegs miteinander im Stteit sind".
Nach Ap.-Gesch. 17,
24—27 (Rede des Paulus in Athen) predigt Schleier
macher über das innerste Wesen der Gottseligkeit".
Bon
„der Kraft des öffentlichen Gottesdienstes"
handelt die
Ps. 26, 8
(„Herr, ich
nächste
Predigt mit
habe lieb" usw.)
dem
Text
Die erste Predigt nach Eröffnung des
akademischen Gottesdienstes in Halle bietet nach I. Cor. 12,
4—6 „eine Anweisung, um die Verschiedenheit der Geistes gaben richttg zu beurteilen".
zu
den
Freunden
Gottes
„Wieviel herrlicher es ist, zu gehören,
als
zu
seinen
Knechten", lautet das Thema der nächsten Predigt über Joh. 15, 9, 14 u. 15.
Ebenfalls aus der Hallenser Zeit
stammt eine Predigt über Eph. 2, 19 („So seid ihr nun 2*
18 nicht mehr Gäste und Fremdlinge" usw.) mit dem Thema:
„Wie sehr es die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört".
„Daß überall, wo Gott waltet, Friede
sein muß", ist der Gegenstand der nächsten Predigt über
I. Cor. 14, 33 („Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens").
In drangsalvollster Zeit Preu „Wie öffentliche Un
ßens predigt er über das Thema:
glücksfälle uns zum Besten dienen müssen".
Am letzten
Sonntag des verhängnisvollen Jahres 1806 wählt er als
Text Pred. Salom. 7, 11 („Sprich nicht, was ist es, daß die vorigen Tage besser waren, denn diese.
Denn du
fragest solches nicht weislich"), und das Thema ist nichts als eine Umschreibung des Textes:
„Daß wir auch un-
weislich handeln würden, so unbedingt und so sicher die frühere Zeit der späteren vorzuziehen";
den Neujahrstag
1807 benutzt er dazu, der Gemeinde in einer wundervollen
Predigt einzuprägen:
„Was wir fürchten sollen und was
nicht" auf Grund von Mt. 10, 28.
Die Geschichte von
der Hochzeit zu Kana gibt den Anlaß zu dem Thema:
„Wie unter der Leitung Gottes statt des Gemeinen und Niedrigen das Edlere in der menschlichen Gesellschaft pflegt die Oberhand zu gewinnen".
Ganz aus dem Text (Röm.
14, 23) ist das Thema genommen: „Wie alles, was nicht aus dem Glauben kommt, Sünde sei". mata
aus
der
3. Sammlung!
Noch einige The
„Das Zusammentreten
Christt und seiner Jünger ein Vorblld, wie wir ernste ge
sellige Verhältnisse anzuknüpfen haben" ist der Gegenstand gleich der ersten Predigt über Joh. 1, 35—51.
„Wodurch
uns das Zusammensein der Jünger unter sich und mit
dem Erlöser als das rechte Vorbild unseres vertrauten Umgangs untereinander erscheinen muß", so lautet das
19 Thema über Joh. 21, 2—23.
„Wie wir eine zwischen
großen Ereignissen liegende fülle und ruhige Zeit richüg
anwenden können", so das Thema einer jener so wir kungsvollen Zeitpredigten, und zwar über l.Ptr. 4,8—10.
Doch ich breche ab, um Sie nicht zu ermüden.
Ich
darf wohl schon auf Grund der vorgelegten Beispiele mit Recht behaupten, daß formal Schleiermacher durchaus dem herrschenden Brauche treu bleibt, Gegenstände spezieller,
besonderer Art für seine Predigten zu wählen.
Allgemeine
Themata fehlen nicht ganz, aber sie sind sehr selten. haltlich geht er frellich über die Zeitgenossen hinaus.
In Nicht
darin, daß er meist für den Christen nahe liegende Wider sprüche zu heben, widerchristliche Hemmnisse für das christ
liche Verhalten oder Urteilen zu beseitigen sucht, daß er den Hörer auf die volle christliche Höhenlage in ganz besümmter Beziehung zu erheben versucht — ähnliches tun auch schon die besten unter den supranaturalistischen Pre digern, aber darin ist Schleiermacher neu, daß er ganz anders, als es bisher Sül war, den Text zu Ehren und
zur Geltung kommen läßt.
Aber wohlgemerkt!
Er wählt
den Text immer frei und er wählt fast ausnahmslos ganz
spezielle Textworte, die einen einzigen, scharf umrissenen Gedanken
oder ein Problem aussprechen, die für jeden
Christen innerhalb seines Lebens von Bedeutung werden
können oder sollen.
Sehr selten behandelt Schleiermacher
sogenannte zentrale christliche Gedanken, und wenn er es tut, so geschieht es mit Absicht.
Wenn er aus der Niko-
dcmusgeschichte Joh. 3 das Thema ableitet, „daß nur durch
die neue Geburt aus dem Geist der Mensch in das Reich Gottes komme", so gewinnt dieses Thema dadurch eine
besondere, aktuelle Beleuchtung, daß es für die damalige Zeit ein Neues war, daß es seine ganz besondere Spitze
20 gegen den Rationalismus
kehrte.
Schleiermacher treibt
nicht auf der Kanzel, wie etwa Francke, die großen Zentral wahrheiten, vielmehr geht er einen ganz andren Weg, seine
Zuhörer zu wirklich christlicher Höhe emporzubringen.
Er
zeigt das Einzelne in christlicher Beleuchtung; er rückt Zeitereignisse, Zeitstimmungen, Zeiturteile unter das christ
liche Licht, er faßt tagtägliche Momente heraus, um sie
dem Hörer in neuer Durchleuchtung Vergeistigung zu
zeigen.
Er
und
treibt durch
in christlicher seine ganze
Predigttätigkeit ein großes Erziehungswerk an seiner Ge meinde, die er zu steter Stellungnahme, zu steter persön
licher Entscheidung drängt. In jeder Predigt hat er ein ganz bestimmtes, sichres, klares Ziel, zu dem er den Hörer bringen
will, oder besser, zu dem ihm der Hörer folgen soll und muß.
In wunderbarer Kunst schneidet er dem Hörer, der
ihm etwa entweichen will, einen Seitenweg nach dem andren ab, ihn überführend, überzeugend, bis er ihn glücklich am
Schluß dahin hat, wohin er ihn haben will.
Das bringt
eine große Geschlossenheit und Einheit im Aufbau.
In
der Tat, meisterhaft einheitlich baut Schleiermacher jede seiner Predigten auf: jeder Teil ruht genau auf dem andern, jeder Satz drängt sicher zum nächsten hin, nirgends eine
Abschweifung, sondern allezeit ein straffer, sichrer, zum Ziele hinsttebendcr Gedankenfortschritt. Überall steht dabei
im Hintergrund
die
große christliche Gesamtanschauung
mit der Person Christi im Mittelpunkt, immer führen die
Fäden dahin zurück oder werden von daher gesponnen, aber der Gegenstand der einzelnen Predigt bleibt doch stets
scharf begrenzt und faßt einen besonderen Punkt mit aller Sicherheit ins Auge.
Ohne dies würden die Predigten
nicht das so sicher Zielbewußte erhalten haben, was sie auszeichnet.
Jedenfalls aber entsprach es auch der dia-
21 lettischen Anlage Schleiermachers, daß er mit Vorliebe solche spezielle Probleme wählte.
Sie boten seiner philo
sophischen Entwicklungs- und Redekunst den willkommensten
Gegenstand. — Dieser seiner Art ist Schleiermacher bis an sein Ende treu geblieben.
Wenn man die Predigten
der letzten Jahre prüft, die der 3. Band der gesammelten
Predigten enthält, so fällt wohl auf, daß die Themata
noch viel öfter dem Texte entnommen sind, als die früheren,
ja es scheint, als ob jetzt häufig Text und Thema sich deckten.
Aber es scheint nur so.
Mit Recht sagt Stein
meyer, daß Schleiermacher so nie verfahren fei1).
macher
gibt immer
Schleier
durch einen Zusatz dem Textworte
eine bestimmte Färbung oder Richtung.
Zudem aber sind
seine Texte, wie früher, ganz speziell. Offenbar hat Schleier
macher diejenigen Bibelworte ausgewählt, die ihm einen
besonderen, eigenartigen Gedanken boten, dem nach zugehen ihn reizte.
Oft freilich hatte er auch sicher eher
den Gegenstand der Predigt gegenwärtig, als den Text.
Sagt er doch selbst, jede Predigt müsse aus einem Ge dankenkeim entstehen, welcher auf dem Grunde des religiösen
Lebens des Predigers entstanden sei, ihm von selbst ohne
bestimmten Willensakt ins Bewußtsein trete und nun erst durch ein Schriftwort entwickelt und befruchtet werde. Sind seine Predigten so entstanden, so folgt auch daraus, daß sie
fast nur spezielle Gegenstände behandeln können.
Denn
daß Gedanken, wie etwa die Rechtfertigung durch den Glauben,
die Versöhnung durch Christus und bergt kaum einer solchen Entstehung bedürfen oder fähig sind, ist offenbar.
Wie sehr aber Schleiermacher bei all seinen Predigten sich
im Speziellen bewegt, und wie zweifellos er darin einfach
•) Homiletik, S. 161.
22 der damaligen Tradition folgt, das zeigt auch die Tat
sache,
daß er mit Recht berühmt gewordene Predigten
über den
Hausstand
gehalten
hat.
Nur
ein
Gebiet,
das die Rationalisten so fleißig in ihren Predigtm be bauten, ließ Schleiermacher ganz links liegen: die Natur.
Doch ist das aus seiner Eigenart heraus durchaus ver ständlich.
unausgesprochen
Nicht
Predigtgegenstände
und
eigenartig
außerordentlich
soll
es
Schleicrmachers
bleiben,
daß
diese
tatsächlich
oft
ganz
oft von überaus
feiner
Nuancierung des Gedankens sind, ohne dabei ins Gesuchte,
Manierierte, Spitzfindige, Geschraubte zu verfallen.
Alles
bleibt praktisch, psychologisch wahr und innerlich notwendig.
Es sind keine Spintisierereien, in die er verfällt. Er bleibt immer bei dem wirklich Richtigen, praktisch Anwendbaren
und aus dem Leben von selbst sich Ergebenden. sich
finden
nicht
wenige
Gegenstände,
die
Und doch kaum
vor
Schleiermacher, vielleicht, wenn nicht in Nachahmung seines
Musters,
auch
nicht
nach ihm behandelt worden sind.
Hierin löst er sich vielfach ganz von der Tradition.
Wie
fein, aber doch wie wichtig ist z. B. das Thema: „Ob die Liebe zu Christo hinreiche, den Beruf des Christen zu er
füllen".
Ob je eine Predigt sonst gehalten worden ist
über „das Gebot Christi, um seinetwillen zu hassen" (Luk.
Ein höchst aparter Gedanke, und doch wie
14, 26)?
wichtig und wie fesselnd!
gesucht,
sondern
ein
Es ist offenbar durchaus nicht
sehr
naheliegender
Gedanke,
den
Schleiermacher dem Text Hebr. 10, 24 entnimmt („Lasset
uns untereinander unser selbst wahrnehmen mit Reizen
zur Liebe und guten Werken"):
Gute
unter
uns
immer
„Eine Anweisung, das
vollkommener
zu
gestalten".
Aber ein auf der Kanzel irgend heimischer Gedanke ist
23 es nicht.
über seine Zeit
So ragt Schleiermacher doch
empor. In einem anderen Punkte ihren Spuren.
folgt er jedoch
wieder
Seine Predigten sind speziell, weil sie
höchst gemeindemäßig und kasuell sind.
Er sagt selbst in
der Widmung des ersten Bandes seiner Predigten: „Daß
keine einzige von diesen Predigten meiner jetzigen Gemeine (Schl, war damals Prediger an der Charite in Berlin)
vorgetragen worden ist, betheuere ich Ihnen nicht erst.
Wie Sie diese kennen, wären schon die hier behandelten Gegenstände und der ganze Zuschnitt, wenn auch der Styl
ursprünglich noch so populär gewesen wäre, eine unter«
zeihliche Sünde, deren ich mich bei meiner Liebe zu diesem Amte nicht schuldig machen konnte; vielmehr sind alle diese
Predigten theils gelegentlich in anderen Kirchen gehalten worden, theils Früchte meines interimistischen Dienstes bei
Ihrer Gemeine und in Potsdam."
Beweisen schon diese
Worte, wie lebendig sich Schleiermacher bewußt gewesen
ist, daß der Prediger möglichste Rücksicht auf seine Ge
meinde zu nehmen hat, so spricht er diesen Gedanken mit aller Deutlichkeit in seinen Vorlesungen
Theologie aus.
über praktische
Indem er die Frage aufwirft, wie der
Geistliche zu einer bestimmten Produktion, zu einer ein heitlichen Rede, der einzelnen Predigt gelangt, sagt er: „Der Geislliche lebt in und mit seiner Gemeine; das ist
sein amtlicher lokaler Standpunkt,
und
indem
er
das
religiöse Leben seiner Gemeine mit seinen Vollkommenheiten und Mängeln selbst in sich trägt, kann ihm dadurch eine
Bestimmung werden.
Wenn dem Geistlichen seine Ge
dankenreihe entsteht aus seiner Kenntniß vom Bedürfniß der Gemeine: so
entsteht sie ihm auf die rechtmäßigste
und unmittelbarste Weise, sie geht hervor aus dem gemein-
24 samen Leben"').
Und auch indem er der Frage näher
tritt, ob denn nicht dem Redner der Impuls rein vom
Texte her gegeben werden könne, und ob dies nicht das Rechte sei, behauptet er, daß er dies nur bedingt bejahen könne.
Immer müsse eine Reflexion vom Texte auf den
religiösen Zustand der Gemeinde dazwischentreten, und in diesem Zusammenhang kann er es nicht unterlassen, noch mals hervorzuheben, daß es sehr möglich sei, daß die Ge
dankenreihe ihrem ersten Keime nach aus
dem eigenen
religiösen Zustande des Predigers oder aus dem seiner
Gemeinde entstehe, und daß ihm dazu der Text erst ein falle, der damit in Beziehung stehe2).
Ganz offenbar ist
dies der Weg gewesen, auf dem Schleiermacher selbst zu
seinen Predigtgegenständen und seinen Texten in der Regel
Man fühlt dies deutlich seinen Predigten ab.
kam.
Dies
völlige Ineinander von gemeindemäßigem Predigtgegenstand
und Text, das er in der Theorie fordert, weisen seine
Predigten in vollendeter Form auf. theoretische Forderung und
Völliger können sich
praktische Ausführung nicht
decken, als es hier der Fall ist.
Zu dem Wertvollsten an
Schleiermachers Predigten gehört es gerade, daß sie eine ganz
einzigartige Kenntnis des religiösen und sittlichen Lebens seiner Gemeinde verraten.
Wer zu lesen versteht, der liest
aus seinen Predigten, zumal aus den großen Zeitpredigten,
ein vollkommen deutliches und scharf umrissenes Bild der inneren Lage seiner Hörer heraus.
Da sehen wir ein in
seiner Aufgeklärtheit stolzes und sicheres Geschlecht, aber
auch ein Geschlecht — ich denke an die Predigten aus dem
x) Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangel. Kirche.
Herausgegeb. von I. Frerich- (1850), S. 240.
*) A. a. O. S. 241 f.
25 Jahre 1806 und den folgenden — von philisterhafter Enge
des Horizontes, ohne Tatkraft, ohne weiten, lebendigen, fürs Allgemeine interessierten, oder gar begeisterten und opfer
Da weiß jedermann mit den Verhältnissen,
fähigen Sinn.
so unwürdig sie sind, sich abzufinden, wenn er durch sie nur in seiner eigensten Existenz nicht allzusehr gestört wird;
da ist man aus auf kleine Vorteile und denkt nicht daran,
was der Ernst der Zeit fordert.
Der Geschichtsschreiber,
der das Milieu jener traurigsten Tage Deutschland schil dern will, kann keine reichere Fundgrube sicherster Kenntnis
der damaligen Stimmungen finden, als Schleiermachers Predigten.
Mich wundert, daß noch niemand diese Schätze
gehoben hat.
In der Tat, seine Predigten bekunden eine
ausgezeichnete Kenntnis des inneren Standes seiner Zu
hörer. Aber gerade im entscheidenden Punkte scheint Schleier
machers Theorie und Praxis nicht miteinander im Ein klang zu sein.
Er scheint den speziellen Charakter der
Predigtgegenstände theoretisch nicht zu billigen. Schleiermacher?
Was sagt
Der Gegenstand könne, so meint er, ein
großer und ein kleiner sein; dazwischen sei freilich eine un endliche Menge von Übergängen denkbar. Man habe, und damit bezieht er sich offenbar auf die herrschende homile
tische Doktrin, oft den Grundsatz aufgestellt, die Einheit
des Gegenstandes müßte die möglichst kleine sein. lehnt aber Schleiermacher ab als einseitig.
Das
Er erwägt die
Gründe, die für und gegen große und kleine Gegenstände
sprechen.
Für den größeren Gegenstand spreche, daß sich
darüber leichter ein Einverständnis zwischen Redner und
Hörer erreichen lasse; gehe man ins einzelne, so werde die Übereinstimmung schwieriger. Andererseits sei bei einem allgemeinen Gegenstand die Aufmerksamkeit schwerer bei
26 der Rede festzuhalten, well die Darstellung unbestimmt sei. Freilich sagt Schleiermacher eine Seite weiter, die großen
Gegenstände seien die vom allgemeinsten Interesse, für
lleinere interessierten sich nur wenige.
Dagegen erlaube
der kleinere Gegenstand eine erschöpfendere Behandlung,
was frellich nur dann von Wert sei, wenn man die Auf
gabe der Predigt in der Belehrung sehe, was Schleier macher ablehnt.
Er schließt die Erörterung mit folgenden
Sätzen: „Wenn man eine Gemeine vor sich hat, die aus
homogenen Bestandtellen zusammengesetzt ist, dann wird
auch ein sehr vereinzeltes Interesse für alle denselben Wert haben können, es muß nur in dem Gebiet der Homogeni
tät liegen.
Hieraus geht hervor, daß es bei einem jeden
Gottesdienst nur auf eine geschickte Wahl ankommt, um mit demselben Erfolg einen kleinen Gegenstand zu be
handeln als einen großen.
Je mehr der Redner seine
Zuhörer kennt, desto leichter wird es ihm sein, spezielle Gegenstände mit Succeß zu behandeln; je loser dieses
Verhältnis zwischen beiden ist, desto schwerer wird jenes sein und desto richtiger sich mehr in dem allgemeinen zu
halten." *)
So
beantwortet
Schleiermacher
die
aufge
worfene Frage nicht mit einer entschiedenen Verwerfung
der
anderen Praxis,
sondern mit einem Sowohl — als auch.
Nur daß es an
oder Empfehlung der einen oder
Festtagen geboten sei, große Gegenstände zu wählen.
Im
allgemeinen gewinnt man allerdings den Eindruck, daß Schleiermacher eher für die großen als die kleinen Gegen
stände gestimmt sei.
Allein wenn er dann, wovon wir
schon geredet haben, die Gewinnung des Predigtgegen
standes aus der Kenntnis der Gemeinde auf das Nach-
') A. a. O. S. 231 f.
27 drücklichste vertritt, so folgt daraus, daß er eigentlich ent
schieden für die kleinen Gegenstände eintreten müßte. Wenn er es in dem eben mitgeteilten Zusammenhang nicht tut,
so liegt es wohl daran, daß eben jener Gesichtspunkt noch nicht zur Geltung gekommen war.
Jedenfalls wird man
aus dem Gesagten noch nicht gegen unsere gemachte Beob
achtung, daß Schleiermacher in seinen Predigten den „Keinen"
Gegenständen durchaus den Vorzug gebe, mißtrauisch zu werden brauchen.
Denn einmal wissen wir leider nicht,
was denn Schleiermacher eigentlich unter einem „großen",
was er unter einem „kleinen" Gegenstand verstanden hat, da er nicht ein einziges Beispiel anführt, sodann aber führt ihn eben seine ausgezeichnete Kenntnis der Menschen unter seiner Kanzel zur Wahl fast nur ganz spezieller Themata
für seine Predigt. Raum dafür läßt ja auch seine Theorie.
So viel über Schleiermacher!
HI. Auch neben ihm und nach ihm bleibt noch immer in
der herrschenden Predigtart
dem Predigtgegenstand
spezielle Charakter bewahrt.
Es ist nicht schwierig, den
der
Beweis dafür zu erbringen, vielmehr ist es schwierig, aus der Fülle wiederum eine begrenzte Auswahl zu treffen. Ich greife einen Leipziger Prediger heraus, der, in Schleier machers Bahnen wandelnd, nicht verdient, vergessen zu
werden:
Dr. Friede. August Wolf (f 1841).
Aus
den nach seinem Tode herausgegebenen sechs Bänden von Predigten *) lernen wir einen sehr selbständigen, dem Ratio*) Leipzig 1841—1844.
28 nalismus völlig entwachsenen Prediger
kennen.
Schon
die gleich mitzuteilenden Predigtthemen werden das be weisen.
Auf Grund von Jak. 4, 13—16 predigt er dar
über, „daß der Mensch wohl der Zerstörer seines Glückes, aber nicht der Erbauer desselben werden könne".
Charfrettagspredigt über 1. Petr. 2, 23 Thema:
behandelt
Eine
das
„Daß wir wohl darauf achten müssen, worüber
Christus am Kreuz geschwiegen habe, um uns desto fester an das zu halten, was er gesagt hat".
„Des Christen
Trost und Freude an geistlichen Liedern", nach Col. 3, 16 u. 17.
„Daß wir auf dem Wege der Leiden unaus
weichlich entweder den Weg der Besserung oder den Weg der Verschlimmerung gehen", mit dem Text: Ps. 119, 66 u. 67. „Über den trüben Lebensabend frommer Men
schen", auf Grund von Ps. 71,17 u. 18.
„Daß uns die
Macht Gottes reichlich segnen könne, ohne daß seine Güte uns erfreut", nach Ps. 4, 7—9.
„Wie wenig dem Herrn
mit einem falschen Lobe gedient sei", nach Mt. 22, 15—22
(Zinsgroschen).
Das sind einzelne, nur eben herausge
griffene Themata, von denen jeder sagen muß, daß sie durchaus nicht landläufig, sondern ganz speziell und eigen
artig sind.
Aber um auch einen Zeugen aus unserer
Nähe hier zu Watte kommen zu lassen, greife ich nach
den Predigten des Wiesbadener Kirchenrats und Pfarrers Karl Wilhelm Schultz*), der ebenfalls zu den besten
Predigern seiner Zeit gehört.
Hier tragen die ersten zwölf
Predigten folgende Themata: „Die großen Vorzüge des häuslichen Glückes", über Ps. 128; „Über den heilsamen
*) Predigten auf alle Sonn- und Festtage des Kirchenjahres (drei Jahrgänge in je zwei Bänden, Gießen 1843—52. Benutzt ist der zweite Band, 2. Aufl. 1847).
29
Einfluß, welchen eine geläuterte Einsicht in die Wahrheit auf unsere Gebete ausübt", über Joh. 16, 23—30; „Wie
Gott uns durch den Hingang unserer Lieben für den Himmel erzieht", über Mc. 16, 14—20; „Über die Prü fungen durch unverschuldete häusliche Leiden", über Joh. 4, 47—53; „Die Kraft des Gedankens, daß der Geist Gottes in uns wohne", über 2. Cor. 3, 16; „Über den
siegreichen Kampf, welchen das Christentum wegen seiner
ersten Ausbreitung in die Welt zu bestehen hatte", über
Mt. 10, 16—27; „Edlen Herzen gewährt Gott Freuden, von welchen die übrigen Menschen nicht wissen",
über
„Von den Folgen der Genußsucht",
Joh. 4, 30—36;
über Luk. 16, 19—31;
„Von der Gleichgültigkeit gegen
über Luk. 11, 16—24;
das Christentum",
„Von
der
Gnade Gottes gegen die Sünder", über Luk. 15, 1—10;
„Was uns zum Wirken für das Wohl der Nachwelt ver
pflichte", über Joh. 4, 30—38; „Wie läßt sich entschiedene Vorliebe für den eigenen Beruf mit der pflichtmäßigen
Wertschätzung
jedes
Luk. 5, 1—11.
anderen Berufes
vereinigen",
über
Dies einige Proben aus Schultz' Pre
digten.
Interessant ist es auch, auf unseren Gesichtspuntt hin Tholuck zu prüfen.
Er ist als Prediger ohne Zweifel
so ganz vorttefflich und eigenartig, und er steht seiner
religiösen Anschauung nach so weit von Schleiermacher ab
und der modernen Orthodoxie so nahe, daß er wohl ver dient, gehört zu werden.
Tholuck hat ohne Zweifel noch
eine sehr große Reihe ganz spezieller Gegenstände auf die Kanzel gebracht.
Sie liegen zwar dem Zentralen immer
nahe, aber sie stellen doch einen scharf umrissenen Ge
danken, meist dem Glaubensleben entnommen, klar hin, und die einfache Überschrift als Thema, die nicht fehlt,
30 ist im Verhältnis selten.
Man kann doch Themata, wie
die folgenden, nur speziell nennen: „Was hat Gott im
Gewissen den Sterblichen gegeben?", über Röm. 2, 14 bis
16; „Gott suchen und finden, das ist das letzte Ziel des Daseins aller Menschen, die auf Erden sind", über Ap.-
Gesch. 17, 24—28; „Warum auch unter denen, die noch
zur Kirche kommen, so wenige sind, die zu Jesu kommen?", über Joh, 6, 41—47; „Der aufrichtige Wille, der Durst
des Menschen, den Willen Gottes zu tun, führt in den Glauben an Christum ein", über Joh. 7, 16 u. 17; „Der
Durst, den Willen Gottes zu tun, führt int Glauben an Christum fort", über Joh. 7, 17; „Wer in Christo bleibt,
bet dem führt auch sein Zurückbleiben zum Fortschritt", über denselben Text. Diese wenigen Proben mögen genügen, um zu zeigen, wie lang über die Zeit der Erweckung und der Schleiermacherschen Berttefung hinaus die Tendenz anhält, spe
ziellere Fragen zum Gegenstand der Predigt zu wählen. Aber freilich hat sich der Umkreis dieser Gegenstände ein geengt.
Naturpredigten fehlen fast gänzlich (nur einige
Predigten von Claus Harms lassen sich als Ausnahmen anführen);
die Gegenstände liegen weit seltener auf rein
ethischem Gebiet als früher, sie beziehen sich vielmehr vor wiegend auf das religiöse Leben.
Aber speziell sind sie
fast alle.
IV. Je weiter wir unS der Mitte des Jahrhunderts zu wenden, je weiter wir sie überschreiten, desto mehr läßt sich das Aufiommen der allgemeinen Predigtgegenstände nachweisen.
Sie werden jetzt geradezu Mode.
Immer
31 fester klammert sich die Predigt auch mit ihrem Gegen stand an den Text an.
Nicht einzelne Probleme und
Fragen des christlichen Lebens, wie sie sich aus der Rei
bung mit dem Leben in der Welt ergeben, nicht Gegen stände, die außerhalb der biblischen Terminologie liegen, sondern die dogmatischen, biblischen Zentralgedanken schieben
sich in die Themata hinein und behaupten hier fast die
alleinige Herrschaft.
Nur wenn der Text selbst einmal
ins Spezielle geradezu hineinstößt, da wird man um des
Textes willen speziell.
Sonst weicht fast völlig das Inter
esse, spezielle Gegenstände aufzusuchen; man geht ihnen geradezu aus dem Wege.
Um den großen Umschwung,
der sich vollzogen hat, deutlich zu empfinden, vergleiche
man nur einmal einen Band Schleiermacherscher Predigten
in ihren Gegenständen etwa mit einem Band Ahlfeldscher Predigten.
Werfen wir einen Blick in Ahlfelds Predigten über die evangelischen Perikopen'), so muß auffallen, — und
das ist eine Folge des herrschenden Biblizismus — wie überschriftsmäßig die Themen werden.
„Der Nachtbesuch
des Nicodemus bei dem Herrn"; „Das große Abendmahl des Herrn"; „Die doppelte Auslegung der Gebote Gottes"; „Der ungerechte Haushalter"; „Ein Seelencxamen Jesu Christi". Nach solchen Überschriften weiß man vom Gegen stand eigentlich noch nichts; man weiß den Text.
Aber
was der Prediger aus dem Texte gestaltet hat, was ihm daran wertvoll war, erfahren wir nicht; und nicht einmal
die Disposition reicht dazu immer aus.
Aber wir gehen
nicht fehl, wenn wir annehmen, daß alle diese Predigten sich wohl um die Zentralgedanken von Buße und Glaube,
’) 4. Heft, umfassend die Trinitatiszeit, Halle 1851. Paul DrewS, Die Predigt im 19. Jahrhundert.
3
32 Sündcnbewußtsein und Schulderlaß, von Bekehrung und Medergeburt, von Heiligung und neuem Leben bewegen
Aus einzelnen Dispositionen geht dies auch so
werden.
fort hervor: „Fahre auf die Höhe!" — „Seele, die du an dem Erdenufer hangest, eile, daß du auf die Glaubens höh' gelangest, selbst gerettet andre Seelen fangest". Oder: „Wie geht es dem Christen, der mit Christo geht?" — „Er hangt an seinem Herrn und läßt ihn nicht, der Herr
verbirgt ihm wohl zur Zeit sein Angesicht, bis er zuletzt
ihm doch das Brot der Gnade bricht".
Oder das Thema
selbst gibt eben einen jener allgemeinen Begriffe an: „Wie
geht es mit der neuen Geburt?"
(über Joh. 3, 9—21);
oder: „Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen, was verloren"
(nach Luk. 15, 1—10);
oder:
„Aus Gnaden
wird der Mensch gerecht vor Gott" (nach Luk. 18, 9—14); oder:
„Mein Sohn, dir sind deine Sünden vergeben"
(nach Matth. 9, 1—8); oder: „Hüte dich, daß du dir die von Christo erlassene Schuld nicht wieder aufladest" (über
Matth. 18, 23—35) und endlich: „Jesus Christus ist der
rechte
Arzt"
(über Matth. 9, 20—22).
Die
wenigen
Gegenstände spezieller Art, wie über den Dank gegen Gott
oder über die rechte Sonntagsfeier verdanken diesen ihren Charakter durchaus dem Text; jenes Thema hat natürlich die Geschichte der zehn Aussätzigen (Luk. 17), dieses die Rede
des
Herrn
über
den Sabbat
(Luk. 14,
1—11)
zum Text. Ich weiß sehr wohl, wie lebendig, abwechslungs reich und prakttsch Ahlfeld immer auch diese allgemeinen
Gegenstände zu behandeln weiß.
Das ist hier aber nicht
in Frage, sondern nur die Taffache, daß das Interesse
des Predigers wo ganz anders liegt, als in der Ge winnung eines wichtigen, scharf zugespitzten Predigtgegen standes, der der Gemeinde selbst abgelauscht ist und durch
33 dessen Behandlung dem Hörer besondere Steine aus dem
Weg geräumt, besondere Fragen vom Gewissen genommen
werden sollen und können.
Wir fühlen: Sein ganzes
Interesse hastet am Text; die ganze Predigt hängt am Text und der ganze Text findet sich wieder in der Pre
digt.
Jener Grundsatz, von Mosheim her lebendig, von
Schleiermacher energisch vertreten in Theorie und Praxis,
daß der Zustand der Gemeinde ein mitbestimmender Faktor bei der Themagewinnung sein soll, ist stark zurückgedrängt. Es ist mit Händen zu greifen, daß ein Wandel der An
schauung vorliegt.
Und Ahlfeld ist typisch.
Mehr oder
weniger findet sich seine Tendenz in seiner ganzen Zeit.
Man
nehme Gero! zur Hand!
Prüfe ich die Gegen
stände seiner Evangelien-Predigten (I. Band), Predigten,
die um 1850 gehalten worden sind, so sind sie alle, ohne Ausnahme völlig textgemäß, aber sie sind auch alle, bis auf verschwindende Ausnahmen durchaus nicht im Schleiermacherschen Sinn speziell — alles Gegenstände, die zehn-,
die zwanzigmal in der Predigtliteratur wieder behandelt
sind.
Man stutzt förmlich, wenn man ein Thema findet,
wie: „Das Reinmenschliche und zugleich Echtchristliche am Glauben des Hauptmanns zu Kapernaum".
Es ist be
kannt, wie vielfach Geroks Predigten nicht nur im öffent
lichen Gottesdienst gelesen worden sind und werden, son dern wieviel sie auch zur häuslichen Erbauung dienen, ja wie sie sogar nicht selten auf katholische Kanzeln ge wandert sind.
Das ist ein Beweis dafür,
kasuell, speziell, zeitgeschichtlich sie sind.
Stuttgart so
wie
wenig
Sie paßten nach
gut, wie sie auf jedes norddeuffche Dorf
passen.
Sie haben einen gewissen internationalen Eha-
rakter.
Und das liegt nicht zum wenigsten mit an den
allgemeinen Gegenständen, die sie behandeln.
34 Es ist ja eine unmögliche Aufgabe, durch Ausbrei tung des überreichen Materials den Beweis für meine
Behauptung, die sich auf die Predigtentwicklung von fast einem halben Jahrhundert bezieht, anzutreten. Aber ein
brauchbares Hülfsmittel bieten in
dieser Beziehung die
Sammlungen von Predigten verschiedener Verfasser. Hier muß das Typische, das Allgemeine mit annähernder Sicher heit sich beobachten lassen.
So greife ich eine Predigt
sammlung heraus, die 1888 Pfarrer Wilh. Stöber er scheinen ließ: Das christliche Kirchenjahr. So viel Predigten,
so viel Mitarbeiter. Durchblättern wir die Predigten für die Trinitatiszeit — fast ausnahmslos Themen von der all gemeinsten Färbung.
„Des Herrn Einladungsruf: Kommt,
denn es ist alles bereit!" — „Eine Verteidigung der Sünder liebe Jesu Christi".— „Wie wir des Herrn Jesu treue Ge
nossen werden". — „Himmelsklugheit der Kinder Gottes". — „Das Zöllnergebet: Gott sei mir Sünder gnädig".
— „Das göttliche Hephata, welches die Stummen redend macht". — „Der Weg zum Leben". — „Der dankbare Samariter" — so geht es weiter. Unter zehn Gegen ständen kaum einer, der nur den Schatten einer Eigenart
trägt. Ich glaube, es bedarf kaum eines weiteren Beweises,
um mir die Zusttmmung zu meiner Behauptung zu er streiten.
Die nächste Folge, oder richtiger die Kehrseite dieses Zustandes ist die große Gleichförmigkeit, Ähnlichkeit der
Predigtgegenstände bei den verschiedenen Predigern.
Es
gehört geradezu zum Charatteristtkum dieser Predigtperiode, in der wir zum guten Tell noch darin stehen, daß es an Eigenart, an Mannigfalügkeit der Predigtgegenstände so
gut wie ganz fehlt.
Währmd man in der zeitgenössischen
Predigtliteratur suchen muß, um so manches Thema von
35 Schleiermacher, von Wolf u. a. noch einmal wiederzufinden,
muß man jetzt suchen, um ein Thema zu finden, das nicht zehn- und hundertmal schon behandelt ist.
Man lauscht
förmlich auf, wenn man einmal auf ein Thema stößt, wie das Dryandersche:
„Christus und die guten Menschen"
(über den reichen Jüngling, Matth. 19, 16—26).
So
hat sich der Gedankenkreis für die Predigt immer mehr
verengt.
Weder werden vorwiegend spezielle Probleme des
religiösen und sittlichen Lebens, wie sie die Lage der Ge meinde fordert, behandelt, noch wird ernstlich das Gebiet
der Natur und der Geschichte betreten.
Die Gegenstände
sind meistens, auch wenn sie das durch eine besondere Formulierung des Themas maskieren, ganz zentral, be
wegen sich nur im allgemeinen, in den abstrakten Haupt begriffen evangelischer Dogmatik.
Man kann fast die Be
hauptung wagen, daß ein bestimmter Kreis allgemeiner Gegenstände so etwas
wie
die
kirchliche Sanktion em
pfangen hat. Ich bin nun nicht der Erste, der das bemerkt hat.
So erhebt schon 1861 ein Pfarrer Ziese seine Stimme
gegen
die
herrschende
abstrakte,
allgemeine
Predigtart.
Wenn er auch nicht speziell den Predigtgegenstand ins Auge faßt, so liegen doch seine beredten, für die „Ge
meindepredigt als die Predigt der Zukunft" eintretenden Worte völlig auf der von mir eingeschlagenen Gedanken
linie').
Was ich empfinde, empfindet er ebenfalls auf das
Bestimmteste, wenn auch seine Formulierung eine andere *) I. H. Ziese, Die Rückkehr zur apostolischen Predigt oder
die Aufgabe der Predigt in der Gegenwart, gelöst durch die Predigt der Zukunft.
1861.
Itzehoe. — Ich benutze die Gelegenheit, um
auf diese, geradezu modern geartete kleine Schrift, die voll von be
herzigenswerten Gedanken ist, nachdrücklich aufmerksam zu machen.
36 ist. Völlig auch in der Formulierung mit mir einig ist ein andrer, ebenfalls vortrefflicher homiletischer Schriftsteller, Otto Koch. Das beweist schon die Überschrift seines hier in Betracht kommenden Auffatzes: „Über das Spezialisieren
des Thema in der Predigt"').
Das ist die Forderung, die
er vertritt im bewußten Gegensatz zur herrschenden Praxis,
die nur allgemeine Gegenstände kennt.
Endlich führe ich
noch als weiteren Zeugen Professor W. Wrede an.
sagt in seinem Auffatz:
hörer"^) u. a.:
„Der Prediger
und sein
Er
Zu
„Vielleicht handeln mehr als die Hälfte
aller Predigten vom christlichen Leben.
Fragen wir, wie
dies Hauptgebiet in der Predigt behandelt wird, betrachten wir etwa nur die Themata einer bekannteren Predigt
sammlung, so finden wir, daß durchweg zentrale Ge danken zur Behandlung kommen.
Die Bekehrung und
Buße, die Wiedergeburt, die Erneuerung, der Wandel im
Lichte, das Leben in Christo, der Glaube, die Liebe, die
Hoffnung, die Sünde, die Versuchung, das Gebet — diese und ähnliche Gegenstände machen den ganz überwiegenden Stoff jener Predigten vom chrisllichen Leben aus"8). An
anderer Stelle sagt er:
„Wer hat jemals eine Predigt
über die Wahrhaftigkeit, über den Neid, die Eitelkeit, den Ehrgeiz, über die Liebe zum Gelde, Ansehen der Person Einige Stellen daraus sind unten S. 52 s. mitgeteilt. Hätte die Schrift zu ihrer Zeit ihre Wirkung getan, wir wären heute mit der Predigt weiter, als wir sind. *) In den „Pastoralblättern" N. F. 3. Band, 1873, S. 200 bis 209. Wir kommen unten noch einmal auf den scharfsinnigen und gehalwollen Aufsatz zurück. *) In der Zeitschrift für prakt. Theologie. XIV. Jahrg., 1892, S. 16—50. Auch dieser Aufsatz verdient die fortgesetzte Beachtung aller Homilettker. *) A. a. O. S. 28.
37
und Menschenfurcht, über die Kraft des Vorbildes, über die Freundschaft, über Geselligkeit in Christi Geiste, über
Andacht und Erbauung im Gottesdienste, über den Segen stiller Stunden uff. gehört, eine Predigt,
die sich mit
diesen Fragen so eingehend befaßt hätte, wie sie es nach ihrer Bedeutung für die christliche Persönlichkeit wahrlich
verdienten?
Nur etwa diejenigen Tugenden genießen —
man weiß nicht, aus welchem sachlichen Grunde — das Vorrecht öfter behandelt zu werden, von denen gerade ab
gerundete Perikopen handeln, wie die Dankbarkeit (10 Aus sätzige) und die vergebende Liebe (Schalksknecht)' **).
Auch
Wrede stellt fest, daß die Predigtgegenstünde zu allgemein
und infolgedessen zu wenig mannigfaltig sind. —
V.
Wenden wir uns nun der Frage zu, woher sich
diese Tatsache erklärt.
Man könnte zunächst glauben,
daran sei die homiletische Theorie schuld. zu, daß sie ihren Anteil daran hat.
Ich gebe gern
Wenn eine so kraft
volle Persönlichkeit wie Steinmeyer in seinen homile tischen Vorlesungen*) jene oben angeflihrte Ansicht von
Schleiermacher über die Entstehung der Predigt mit den Worten abtut: „Aus solchen Seifenblasen darf die Predigt ') A. a. O. S. 32. *) Homiletik von F. L. Steinmeyer.
Den Freunden desselben
dargereicht von M. Reyländer, Leipzig 1901.
Leider erfahren wir
durch den Herausgeber, der überhaupt jede Mühe bei der Herausgabe gespart hat, gar nichts über die Zeit, wann die gebotenen Vorlesungen gehalten worden sind. Steinmeyer war seit 1862 Professor in Breslau,
seit 1854 in Bonn, seit 1868 in Berlin. Vorlesungen aus der Berliner Zeit.
Vermutlich stammen die
38
wesentlich nicht erwachsen, unter die Potenz des Zufalls nicht gestellt werden"; wenn er die Forderung Schweizers,
ganz in Schleiermachers Sinn gestellt, von einer Stoff
wahl der Einzelpredigt mit den entrüsteten Worten zurück weist: „Eine Stoffwahl ist ein Unding — man kann nur von einer Textwahl reden.
Das Verfahren, nach welchem
man erst den Stoff und dann den Text dazu wählt, ist
prinzipiell abzuweisen.... die Genesis der Predigt darf
allein in dem Texte liegen, aus dem sie ihre Substanz und damit ihren wesentlichen Gehalt, mit ihm sogar auch zuletzt ihren Zweck gewinnt.
Frage nie, was soll ich
predigen, sondern immer nur, predigen....
worüber
soll ich
Wähle überhaupt nie einen Stoff.
Hinweg mit aller Stoffwahl, nur Textwahl.
Der Text
ergibt den Stoff"'), — wenn Stcinmeyer so spricht, so
drängt er den Prediger eben, falls er allgemeine Texte
hat, auch auf die Bahn allgemeiner Predigtgegenstände ®). Es kann auch nicht ohne Wirkung geblieben sein, wenn Palmers „Evangelische Homiletik", die sechs Auflagen erlebt hat (zuletzt 1887), immer wieder verkündigte: „Die
Predigt hat ihren Text auszulegen;
folglich
nicht
auf
Anderweitiges sich einzulassen, was den Text nichts an geht, aber auch nichts in ihm Liegendes liegen zu lassen.
Texttreue und Texterschöpfung sind die beiden Er
fordernisse ... Daß das eine Forderung sei, über die man noch streiten könne, oder daß die Erfüllung derselben eine
besondere Tugend sei, lernte man erst in der rationalistisch') A. a. O. S. 56 f. *) Steinmeyer wählt selbst durchgängig ganz kurze und spe
zielle Texte, darin völlig Schleiermacher folgend, und kommt daher auch zu ganz speziellen Themen.
kann nicht kurz genug sein".
Er pflegte zu sagen: „Der Text
39 rhetorischen Predigtzeit" (S. 307).
Allein ich glaube, daß
die homiletische Theorie nur in seltenen Fällen den letzten
Schlüssel für bestimmte Erscheinungen in der Predigtgcschichte bietet.
Sie steht selbst nicht frei da, ihre Fahne
dreht sich ost bedenklich nach der herrschenden Dogmatik.
So
erklärt sich auch die uns interessierende Tatsache im we sentlichen aus zwei eng miteinander zusammenhängenden Gründen.
Zunächst hat hier die rcpristinierte Anschauung
von der Schriftinspiration mitgcwirkt: die Schrift ist an sich Wort Gottes; also ist auch jeder Text Wort Gottes.
Wort Gottes, nicht Menschenwort und Menschenweisheit soll ich predigen, folglich muß ich textgemüß, durchaus Schon das Thema darf nur
streng textgemäß predigen.
den Hauptgedanken des Textes wiedergeben, und die Predigt
muß
den
ganzen Text
umspannen,
damit
nichts
Gottes Wort der Gemeinde vorenthalten werde.
von Hatte
man nach seiner Meinung einen textgemäßen Gegenstand gewonnen, so war das Gewissen ruhig: das Wort Gottes
gilt für alle, paßt für alle.
Die Rücksicht auf die Lage
der Gemeinde, auf die seelischen Zustände des Einzelnen tritt zurück. Höchst charakteristisch ist folgende Äußerung
eines Geistlichen:
„Es ist geradezu vermessen, wenn man
glaubt, ein Mensch könne wissen, wie er das Herz seines
Nächsten treffen könne.
Sind
ja doch
die Liebesseile,
woran der Herr die Seelen führt, so überaus zart und
fein gesponnen, daß wir meistens
sie gar nicht gewahr
werden . . . Eine Predigt, die wirklich dem Leben und
Bewußtsein
einer ganzen Gemeinde
vielleicht gerade
an
dem
und dem
nichts
bietet,
muß
Sonntage gehalten
werden um eines armen wandernden Handwerksburschen willen, dem der Herr lange nachgegangen ist und den er nun hier endlich ergreift und festhält durch die unpraktische
40 Predigt.
Wenn unsere Predigten bloß menschlich praktisch
sind, so werden sie schwerlich eine Frucht schaffen für die Ewigkeit"'). Man tat ein übriges, wenn man eine An
wendung im einzelnen im Laufe der Ausführung ver suchte; aber die Hauptsache blieb doch, daß die ewig großen Heilsgedanken und Hellstatsachen verkündigt wurden; die
Wirkung des „Wortes" lag in Gottes Hand. — Das ist das einfache Gedankengefüge, aus dem heraus der Kanon vom textgemäßen Predigtthema erwuchs.
Dabei müssen
wir uns gegenwärtig halten, daß an dieser Anschauung ein gut Teil Pietismus seinen Anteil hatte. Jener Ge danke Franckes (vgl. oben S. 7), daß in jeder Predigt das ganze Heil verkündigt werden müsse, stellte sich ganz
von selbst wieder ein. weniger stark mit.
Ein zweiter Grund wirkte nicht
Es war der bewußte Gegensatz zum
Hatte dieser speziell, kasuell gepredigt, so predigte man jetzt absichtlich allgemein: nichts fürchtete Rationalismus.
man mehr, als in den Geruch des Rationalismus zu kommen. Bestimmte Gegenstände standen aber in dem
Geruch, rationalistisch zu sein.
gänzlich von
So sagte man sich auch
der Predigtweise des Rationalismus los,
ohne zu fragen, ob sie doch nicht auch ihr Richtiges ge
habt habe.
Wenn diese Lossage nun freilich nicht, wie
wir sahen, mit einem Schlage erfolgte, so hat eben auch
hier die Geschichte, wie immer, einen Bruch vermieden. Die Tradition wirkte nach, und es brauchte auch einige
Zeit, bis die Anschauung von der Schriftinspiration sich wirklich bis zu diesem Punkte hin durchgesetzt hatte. —
Und was waren die Folgen dieser einseitigen Bevorzugung
allgemeiner
Predigtgegenstände?
x) Gesetz und Zeugnis, VI, 1864, S. 688 f.
41 Wie sich damit zugleich der Umkreis dessen, was Predigt
gegenstand zu werden pflegte, einengte, davon war oben schon die Rede.
Eine weitere Folge war, daß die Predigt
leicht an Einheitlichkeit, an Geschlossenheit verlor und da
mit an überzeugender Kraft.
Das
feste, bestimmte Ziel
fehlt leicht diesen so angelegten Predigten.
Was
Die Frage:
will ich gerade mit dieser Predigt? kommt einem
Prediger,
der auf jene Methode geeicht ist, nur schwer,
nur ab und zu.
auslegen.
Er will nichts anderes, als den Text
Das will er immer.
Es liegt völlig in der
Konsequenz seiner Gesamtanschauung, wenn Steinmeyer, wie er Schleiermacher und Schweizer abtrumpft, so auch Ebrard scharf abweist, der meint, die Predigt müsse aus
einem scopus erwachsen; der Prediger müsse zunächst und
vor allen Dingen die Frage aufwerfen, was will ich, was will ich mit dieser Predigt, wozu will ich meine Hörer
dadurch führen und bestimmen?')
Es ist nicht etwa nur
eine künstlerische Forderung, wenn wir von der Predigt
Einheitlichkeit verlangen; es ist das eine Forderung, die sich auf die Wirkung der Predigt gründet.
Kunstwerk wirkt, das in sich geschlossen ist. mit der Predigt.
Nur das
So ist's auch
Führt uns eine Predigt, vielleicht gar
noch planlos, durch eine Menge von Gedanken hindurch,
die sich wohl unter das Thema unterbringen lassen, die aber weder von einem festen Punkte ausgehen, noch an einem festen Punkte enden, so verlieren sie an Kraft. Diese weitgespannten Themata bringen es aber sehr leicht mit
sich, daß nicht ein, sondern zwei oder drei Gegenstände, je nach der Zahl der Teile, behandelt werden: die Predigt
fällt auseinander; jeder Teil müßte, um wirklich gründlich
*) Homiletik, S. 56.
42 und überzeugend behandelt zu werden, eine ganze Predigt
für sich füllen.
Nun sage man nicht, dieser Mangel an Geschlossen heit, dieses Ausbreiten eines reichen Stoffes unter einem
möglichst weiten Thema schade doch nicht.
Es stecke doch
viel Wahres in den bekannten Goetheschen Worten im
Prolog zum Faust: „Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen, Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus.
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;
Und jeder geht zufrieden aus dem Haus. Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! Solch ein Ragout, es muß euch glücken;
Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht. Was hilst's, wenn ihr ein Ganzes dargebracht! Das Publikum wird es euch doch zerstücken."
Aber man vergesse nicht, daß Goethe diese Worte dem
„Direktor", der auf den äußeren Erfolg, und nicht dem „Dichter", der auf den idealen Erfolg aus ist, in den Mund legt.
Wer einen augenblicklichen, oberflächlichen Erfolg in
der Predigt sucht, wer damit unterhalten will, der verzichte
auf Einheit, aber wer seine Hörer in die Tiefe führen, wer einen ernsten, wichtigen Gedanken ihnen zum persönlichen
Eigentum machen will, wer sie in religiöser Kenntnis för dern und sie zur Gründlichkeit im Nachdenken über reli
giöse und sittliche Dinge erziehen will — und dies letztere scheint mir gerade in unserer Zeit doppelt notwendig —,
der wird von selbst seine Predigt einheitlich gestalten').
2) Man vergleiche zur Sache z. B. Vinet, Homiletik oder Theorie der
Predigt.
Deutsch
bearbeitet von I. Schmid.
S. 62 ff. — Krauß, Lehrbuch der Homiletik. Achelis, Lehrbuch der prakt. Theologie I9.
(Basel
1867.)
(1883) S. 373 ff. —
(1898.)
S. 667 ff.
43 Gewiß verbürgt ein spezielles Thema noch nicht die Einheit der Predigt, wohl aber verführt ein allgemeines Thema geradezu zur Preisgabe der strengen Einheit und damit
zur Oberflächlichkeit. Eng damit zusammen hängt eine weitere Folge, die sich
bei der weiten Themabildung leicht einstellt und bei un gezählten Predigern wie ein Fluch wirkt. Es ist der Punkt, den Koch in jenem erwähnten Aufsatz in ausgezeichneter Weise behandelt: das Sichauspredigen des Predigers und
infolgedessen die stete Wiederholung ein und derselben Ge
dankengänge.
Es wäre eine verdienstliche Aufgabe, einmal
nur zwei Dutzend Predigtsammlungen daraufhin durch
zusehen, welche Hauptgedanken sie gemeinsam haben.
Es
würde sich herausstellen, daß unsere Predigtliteratur an
einem großen Mangel an Gedanken leidet, daß ein ver hältnismäßig sehr kleiner Gedankenkomplex im Kurs ist. Das
ist mit eine Folge der zentralen Predigtgegenstände. Man ist vielleicht geneigt, zu behaupten, es sei doch viel leichter, über ein weites Thema zu predigen, als über ein spezielles: dort stelle sich eine unbegrenzte Fülle von Gedanken zur
Verfügung, während hier sofort eine Begrenzung eintrete. Allein in Wahrheit ist das Gegenteil der Fall.
das in unwiderleglicher, schlagender Weise.
Koch zeigt
Er erinnert
mit Recht an das logische Gesetz, daß der Inhalt des
niedrigeren, d. h. konkreteren Begriffs größer ist, als der
des höheren, d. h. des abstrakteren, und daß der Umfang des niedrigeren Begriffs kleiner ist, als der des höheren. Z. B. der Begriff der Liebe hat zwar einen größeren Um
fang als die Nächstenliebe, aber der Begriff der Liebe hat einen geringeren Inhalt als die Nächstenliebe; ich bedarf
also mehr Worte, um zu sagen, was Nächstenliebe ist, als
um zu sagen, was Liebe ist.
Wenn ich nun gar sagen
44 will, was barmherzige Nächstenliebe ist, so habe ich noch viel mehr zu sagen. Diese einfache Überlegung zerstört die Vorstellung, als sei es leichter, über „die Liebe" zu
predigen, als stellten sich dabei sofort mehr konkrete Ge danken ein, als wenn ich von der barmherzigen Nächsten liebe zu reden habe.
Umfang ist nicht Inhalt.
„Ver
suche es einmal", sagt Koch, „und erzähle einem kleinen
Kinde vom Tiere überhaupt. du sagen sollst.
Du wirst kaum wissen, was
Spezialisiere aber das Thema und rede
vom Hunde, so wirst du schon einiges zu sagen wissen, aber über einige allgemeine Sätze wirst du nicht hinaus
kommen; erst wenn du von einem einzelnen, bestimmten Hunde redest, der einmal gelebt hat oder noch lebt, wirst du imstande sein, etwas der Fassungskraft und Aufmerk samkeit deines kleinen Zuhörers Angemessenes zu erzählen". Analog ist's mit der Predigt.
Ich will durchaus nicht
leugnen, daß ein geschickter Prediger über „die Liebe" eine
ganz treffliche Predigt halten kann.
Aber wenn er zehn
mal dasselbe Thema sich stellt, wird seine Gedankenarmut zu Tage treten.
Er wird sich wiederholen: er wird infolge
dessen an seinen eigenen Gedanken kein lebendiges Interesse
mehr haben, sie erscheinen ihm selbst blaß und matt. Jene
helle, schöne Freude beim Predigen fehlt, die dem kommt, der etwas zu sagen weiß, was ihm selbst auf der Seele
brennt, was ihn ganz erfüllt, was ganz neu aus ihm ge boren, was mit ernstem Nachdenken frisch gewonnen ist —
und das ist eine der Grundbedingungen für die Wirkung
der Predigt.
Ich kann nicht mehr Teilnahme bei meinen
Zuhörern erwarten und auch erwecken, als ich selbst an meiner Sache habe.
Wenn aber gar noch der Zuhörer
den Gedankenvorrat seines Predigers allmählich kennen
gelernt hat, wenn er bereits bei der Verkündigung der
45 Teile genau weiß, was kommen wird — wie kann dann
ein lebendiges Interesse an der Predigt bestehen bleiben? Ganz anders, wo ein spezielles Thema behandelt wird. Schon an solchem Thema nimmt der Prediger ein leben
diges Interesse; er wird es nicht wählen, wenn er nicht Bei der Meditation wird er
ein Interesse daran nimmt.
von selbst auf das Konkrete geführt, das immer interessiert; es wird sich ihm mancher neue große und wichtige Zu sammenhang aufschließen.
Die Meditation ist nicht ein
neues Zusammenraffen längst bereitliegenden, hundertmal
schon zusammengerafften Stoffes, sondern ein Tiefgraben, ein Bohren, ein Entdecken — und das gibt stets Freude, stählt den Glauben an die eigene Sache, hält geistig frisch. Es ist nicht wahr, was doch wie ein Axiom gilt, es ent
hielte das Evangelium nichts Neues mehr.
Im Gegenteil,
es ist von einem unerschöpflichen Reichtum, es trägt eine Fülle von nie gehobenen Wahrheitsschätzen in sich, es hat
jeder Generation, jedem besonderen Menschen wieder etwas Besonderes und Neues zu sagen.
Man lasse es nur auf
die konkreten seelischen Zustände wirken, man konfrontiere
es nur mit den mannigfachen, in der Entwicklung
auf
tauchenden Gedanken, Bedürfnissen, Strebungen; man lebe
es nur selbst, um das zu erfahren; man lebe mit seiner Zeit, mit seiner Gemeinde, man öffne die Seele für die
Luft, die uns umweht, und an Stoff und Gedanken neuer Prägung wird und kann es nicht fehlen.
Das führt mich auf einen letzten Punkt, der in diesem
Zusammenhang besprochen sein soll.
Weil man int Banne
allgemeiner Predigtgegenstände und des Vorurteils steht,
daß das
„alte"
Evangelium
in seinem Gedankengehalt
völlig festliege — übrigens auch eine dogmatische Doktrin —, weil man infolgedessen keine Sachgedanken schafft,
46 schafft man mit allem Fleiß und mit oft brennendem Ehr
geiz Formgedanken.
Nicht auf das Was, sondern auf
das Wie richtet sich das Nachdenken.
Den alten Stoff
in neuer Anordnung, Ausstattung, Aufarbeitung, Deko ration vorzuführen, das gilt als echte Predigtkunst.
So
ist in unsere Predigt vielfach ein falsch ästhetisierender
Zug eingedrungen, den ich nicht anders als eine Verwelt
lichung der Predigt benennen kann.
Es gibt echte Dichter
auf der Kanzel, und sie haben da auch ihr gutes Recht. Aber wenn sie als Muster für alle hingestellt und von
jedem Dritten nachgeahmt werden, so enffteht nicht nur etwas ästhetisch Ungenießbares, sondern vor allem dringt in die Predigt ein Geist der Verzerrung und
sittlicher
Laxheit ein. Nicht die Kraft des Gedankens, sondern das Überraschende, Packende, Reizvolle der Form, die Effekte in geistreich sein sollenden Wendungen, das soll wirken.
Auf diesen Bahnen wandeln viele und gefeierte Prediger. Gefeiert sind sie, denn das Publikum — ich mag hier
nicht von Gemeinde reden — läßt sich dergleichen ästhe tischen Schmaus sehr wohl gefallen.
die Gemeinden.
Aber das verdirbt
Wie hoch wird Kögel gepriesen!
Auch
ich stehe nicht an, das Formelle an ihm bis zu einem gewissen Grade zu bewundern; es ist so: wie in einem
Gedicht ist alles bis ins kleinste ausgefeilt *).
Aber es ist
überall, Satz für Satz, Berechnung in dieser Rede; immer schreitet die Rede dahin im wallenden, prunkenden Mantel
einer kalten Rhetorik.
Für den Dom der Reichshauptstadt
mag dieser Predigtstil vielleicht noch erträglich sein. Aber wie der Dom nicht das evangelische Gotteshaus ist, so ist dieser Predigtstil unevangelisch, und er wird unetträglich,
*) So richtig Hering, Geschichte der Predigt, Berlin 1897, S. 250.
47 wenn er gar auf die Kanzeln der Dorfkirchen verpflanzt wird.
Ich hoffe, die Zeit ist nicht mehr fern, wo man
Prediger dieses Genres nicht mehr als Größen auf der Kanzel preist. Alle echte Größe geht im schlichten Ge wand einher. Prunk war noch immer das Zeichen des Verfalls. Wer nur ein gesundes ästhetisches Empfinden hat, ein Gefühl für das Natürliche, Einfache und Sach
liche, der findet keinen Geschmack an diesen Gesuchtheiten.
Soll ich erst noch an Beispielen deutlich machen, was ich meine? Ist die Predigt der Ort, um sich in geistreichen
Wortspielen zu ergehen?
Bei Kögel stehen sie fast auf
jeder Seite: „Also Umkehr*) von allen bösen Wegen für die Einkehr in das ewige Reich!
Also ein Anziehen
des neuen Menschen zum Einziehen in die neue Gottes zeit!" Oder: „Durchläuterung ist der Anfang der Lauterkeit".
Oder: „Während einem Pilatus, dem die
höchste Angelegenheit nichts ist als eine sehr große Verlegenheit, . . . während diesem so leeren und doch
so satten, diesem so hohlen und doch von sich so einge
nommenen Manne all sein Darben zum Verderben, all sein Hungern nach Ehre und Selbsterhaltung zum Verhungern wird" ufto.e). Auch der Dispositionen hat sich diese Rhetorik bemächtigt.
Nach dem Brand einer
Kirche predigte ein Pfarrer mit folgender Disposition: „Dennoch heißt mein Glaube! dennoch — Gott für uns! 1. Aus Flammen wohl hören wir's: Mit unsrer Macht *) Die folgenden Sperrungen rühren von mir her. ®) Nach dem Vortrag erklärte ein früherer Schüler Kögels,
Prof. Schöler in Friedberg, daß Kögel selbst diese seine ästhetisierende Neigung als eine Schwäche bezeichnet und vor Nachahmung gewarnt habe; das Rhetorische seien „die Schellen am Gewände des Hohen
priesters". Man sollte also seine Schwäche nicht als seine Stärke preisen! Paul Drew», Die Predigt im 19. Jahrhundert.
4
48 2. Den Flammen gebieten wir's: Das
ist nichts getan.
Wort sie sollen lassen stahn.
3. Durch Flammen hin
durch sehen wir's: Das Reich muß uns doch bleiben". —
Ein anderer ruft aus:
„Wir brauchen neue Pfingsten!
Wir brauchen ein Brausen; denn die Christenheit ist
noch taub.
Wir brauchen Feuer; denn die Christenheit
ist noch zu
kalt.
Christenheit
ist
Wir brauchen Zungen;
noch
zu stumm".
denn
die
Haben etwa Aus
führungen, wie die folgenden, irgend einen ernst sachlichen Wert,
oder
Spielereien?
sind „Es
sie
nicht
fast
ist
lediglich
ins
Ohr
keine Lebenszeit
fallende
und keine
Lebenslage, für die der 23. Psalm nicht ein Sprüchlein
bereit hätte.
Der Christ überhaupt, sobald er sich seiner
Christengemeinschast, seiner Zugehörigkeit zu der einen
Herde bewußt ist, spricht:
„Der Herr ist mein Hirte!"
Zu Weihnachten sieht er das prophetische Wort erfüllt:
„Ich will euch einen einigen Hirten erwecken, meinen
David!"
Knecht
Karfreitage
Am
spricht
er:
„Der
Herr ist mein Hirte, er hat sein Leben gelassen für die Schafe".
Zu Ostern jubelt er:
„Gott hat den großen
Hirten der Schafe herausgeführt von den Toten durch
das Blut rühmt er:
des ewigen Testaments!" Zu Pfingsten „Der Herr salbet mein Haupt mit Öl, mit
dem Öl des heiligen Geistes!"
Das Kind im Frühling
seines Lebens sieht mit Lust die Lämmlein springen auf
der Weide und betet:
Aue".
„Er weidet mich auf einer grünen
Der einstige Täufling, der sich nun dessen bewußt
geworden, daß er wiedergeboren ist aus dem Wasser und Geist, spricht: „Er führet mich zum frischen Wasser!"
Der
Konfirmand, der unter der Leitung des Herrn sein Leben
führen will, hofft: „Er leitet mich auf rechter Straße um seines Namens willen".
Der Kommunikant, so oft er zu
49 der Gnadentafel des Herrn tritt, denkt an das Wort:
„Du bereitest vor mir einen Tisch und schenkst mir voll ein" — so geht es fort, bis wir endlich beim Sterben
den ankommen, der natürlich das Wort vom finstern Tal sprechen
muß.
Schade
um
jedes Wort!
Und
solche
Stellen finden sich bei einem Prediger, der nicht nur
eine begeisterte Zuhörerschaft hatte, sondern als Muster
von vielen Predigern nachgeahmt wurde.
grünen Holze
geschieht,
Wenn das am
am dürren werden?
was soll
Unlängst fiel mir ein Bändchen Predigten über die sieben Kreuzesworte, 1902 veröffentlicht, in die Hände.
Gleich
auf der ersten Seite war zu lesen: Die sieben Kreuzes
worte „sind wie ein Siebengestirn über seinem verwundeten
Haupte, aus dem die Strahlen seines unerschütterlichen Glaubens und seiner unwandelbaren Liebe sich auf uns
herab ergießen; sie sind wie sieben Blüten einer aus dem Kreuzesstamme welche
seine
Wohlgerüche ausströmt. welche sich
Passionsblume,
durch
ihre
süßen
hervorgewachsenen
wundervolle
Seele
Sie
wie sieben Farben,
sind
über dem Todeshügel
lieblichen,
zu
einem
herrlichen
Bundesbogen des Friedens vereinigen; sie sind wie sieben
Sätze
einer
gewaltigen
Symphonie,
durch
welche
die
Klänge der gemarterten, erlösenden, versöhnenden, ewigen Liebe erschütternd und hinreißend in unsere Seele dringen".
Wahrlich, die Kanzel ist zu heilig, um sie zur Bühne zu
erniedrigen, auf der wir einem verbildeten Geschmack unsere geistreichen Fündlein zum Besten geben. —
Aus dem Referenten bin ich zum Kritiker geworden. Allein ich glaube nicht mit Unrecht.
Ich hoffe gezeigt zu
haben, daß die einseitige Bevorzugung allgemeiner Predigt gegenstände nicht unbedenkliche Schädigungen nach sich ge
zogen hat.
Ich will den Bogen nicht Überspannen und
4*
50 sagen: Alle jene Schäden müssen sich bei weiten Themen
einstellen.
Geschickte Prediger können sie sehr wohl ver
meiden und haben's auch getan.
Aber daß jene Gefahren
nahe liegen, das wage ich allerdings zu behaupten.
Ich
will auch nicht sagen: Hiermit ist der Punkt gefunden, der
die so vielfach beklagte Wirkungslosigkeit der Predigt er Aber das wage ich wohl zu sagen, daß die allge
klärt.
meinen, stereotyp gewordenen Gegenstände die Predigt um das Interesse der Hörer bringen, und daß somit in der Tat jene Tatsache ein Faktor neben vielen anderen ist, die uns den Mangel an Zugkraft der Predigt erklären.
Ehe ich den Faden des beobachtenden Berichterstatters wieder aufnehme, ist es vielleicht nicht unpraktisch, an der Behandlung einer einzelnen Perikope die ganze von mir behauptete Entwicklung sich zu vergegenwärtigen — ein
Beweis für die Richtigkeit meiner Behauptung. Ich wähle
dazu das Evangelium des 7. Sonntags nach Trinitatis, Mark. 8, 1—9, die Speisungsgeschichte.
Sie wird von
Predigern der verschiedenen Zeiten in folgenden Themen
1. Ribbeck, Probst in Berlin (geb.
behandelt:
1759,
t 1826): „Ist es vernünftig und christlich, daß man seiner
zeitlichen Bedürfnisse wegen besorgt sei und ängstlich frage: Woher werde ich Brot nehmen?" 2. Dräseke (geb. 1774, t 1849):
„Christliche Ansicht von der Ernährung
Menschheit".
der
3. Claus Harms (geb. 1778, f 1855):
„Unterricht über das Tischgebet". 4. Friedr. Aug. Wolf (geb. 1788, f 1841): „Über den Wert der natürlichen Herzensgüte".
5. Marheineke (geb.
1780, f
1846):
„Wie der Christ auch dem Genuß der leiblichen Nahrungs mittel
eine höhere
Beziehung
geben
kann
und
muß".
6. Ehrenfeuchter: „Christus, der Helfer in der Not".
(Denn er gibt den Geist der Barmherzigkeit, er lehret
51
uns sein göttlich Wort, er weiset uns an zur Ordnung und Sparsamkeit und er segnet das Kleine und das Ge ringe.)
7. Ahlfeld (geb. 1810, f 1884): „Wie geht es
(Er hangt an
dem Christen, der mit Christo geht?"
seinem Herrn und läßt ihn, der Herr verbirgt ihm wohl zur Zeit sein Angesicht, bis er zuletzt ihm doch das Brot
der Gnade bricht.)
8. Uhlhorn (geb. 1826, f 1901):
„Der Herr Jesus und das tägliche Brot" (über Joh. 6,
1—15).
9. Ernst Siedel (lebt noch): „Jesus, der beste
Brotherr" (Wem? und wie? erweist er sich als solcher, nämlich als Helfer für die Seelennot).
Man sieht, die
ersten fünf Prediger bleiben ganz speziell, aber die letzten (mit Ausnahme von Uhlhorn) verallgemeinern den Gegen
stand so, daß man erst die Disposition, bez. die Predigt
zu Hülfe nehmen muß, um überhaupt zu sehen, in welchem
Sinne sie ihr Thema meinen.
wieder sehr allgemein:
Der Sinn ist aber meist
man allegorisiert den Text und
nimmt Jesus in seiner erlösenden Bedeutung.
VI.
Wenden wir uns nun der Gegenwart zu! Man hat wohl gesagt, es werde heute noch in der
Regel so gepredigt, wie vor 50 Jahren*). richtig, aber nur mit Einschränkung.
Das ist wohl
Daß die Predigt
heute schon eine Wandlung durchmacht, steht außer Frage.
Es kündigt sich das auch an dem Punkt an, den wir be sonders ins Auge gefaßt haben.
Trügt nicht alles, so
werden auch die Predigtgegenstände wieder mehr speziell. i) Seeberg, An der Zchivelle des zwanzigsten Jahrhunderts, i) 2, 1901. S. 72.
52
Der Prediger, der schon vor einem Menschenalter diese neue Bahn eingeschlagen hat, unbemerkt von dem weiteren Kreise der Theologen, und der jetzt erst anfängt,
durch seine nachgelassenen Predigten vorbildlich zu wirken, ist Albert Bitzius, der Sohn von Jeremias Gotthelf, von
1868—1878 Pfarrer von Twann am Schweizer Jura, ge storben 1882.
Nicht ohne Grund hebe ich hervor, daß
er der Sohn jenes unvergleichlichen Volksschriftstellers war,
der, selbst Pfarrer, nicht nur in der Seele des Volkes zu lesen, sondern die Volksseele zu schildern verstand wie kein
anderer.
Es ist ein väterliches Erbe, das Albert Bitzius
mit auf die Kanzel bringt.
Alle seine Predigten sind aus
dem völligen Verwachsensein mit seiner Gemeinde, aus der
genauesten Kenntnis ihrer Interessen, ihres religiösen und sittlichen Standes geboren.
Was Schleicrmacher forderte,
wovon Ziese in jenem Schriftchen:
„Die Rückkehr zur
apostolischen Predigt", ungehört, gezeugt hat'), was wir *) „Der Gemeindeprediger muß der Gemeinde nach ihrer bleibenden,
die materiellen Grundlagen
wie
nach
ihrer
wechselnden
Seite hin, die kommunalen Zustände und Einrichtungen mit ihrem Beharren und ihrer Weiterbildung, die lokalen Interessen und Schäden mit ihren Wurzeln und Endpunkten, er muß diese ganze natürliche
Basis, auf welcher sich das so oder anders geartete höhere geistige Leben erhebt, in sein Bewußtsein aufnehmen,
in den Grund und
Boden der Gemeinde seine Lebenswurzeln einschlagen, weil ihm sonst das Verständnis abgeht für das Innenleben der Gemeinde, auf daS
er wirken soll.
Er muß
allerlei alltäglichen Verkehr mit
Leuten nicht scheuen, denn das alltägliche Gespräch ist
allerlei
die Offen
barung des alltäglichen Herzenszustandes mit seinem innersten Dichten, Anschauen und Urteilen; er muß da sein an den Stätten der Krank
heit, Trübsal, Armut und Schande, denn allein in den Tiefm des Gemeindelebens ist zu erschauen und nachzufühlen und zu durchleben,
was in den Tiefen der Herzen seiner Gemeinde vorgehl und lebt"
(S. 58 f.).
Um für Zieses Schriftchen noch mehr zu interessieren,
53 erstreben, wenn wir für den Pfarrer religiöse Volkskunde fordern, bei Bitzius ist das bereis verwirklicht und hat
seinen Niederschlag in seinen Predigten gefunden.
Er ist
frei von dem Banne, als müßte ausschließlich der Text
der Mutterboden sein, aus dem die Predigt erwächst und als müßte der ganze Text behandelt werden, er ist völlig frei von jenem Bannkreis hergebrachter, stereotyper Predigt
gegenstände, unter dem wir die große Menge der Prediger
festgehallen sehen. Aus Text und Gemeindebedürfnis heraus schafft er sich seine Predigtgegenstände, und — eine Gegen
probe auf unsere frühere Behauptung — sie werden so lasse ich einige Stellen daraus hier folgen:
„In vermittelter Weise
stellt die Gemeindepredigt die ursprüngliche Predigt des Wortes Gottes
vom Himmel herab wieder her, sie füllt die durch Unglauben auf gerichtete, fast abergläubisch offen gehaltene Kluft zwischen der Zeit
der Offenbarung und unserer Zeit wieder aus, sie leistet, was Claus Harms in rmserem Motto (der Abhandlung vorgedruckt)
von der
Predigt verlangt, daß sie ein Bruchstück der heiligen Schrift sei und zwar des kanonischen Teiles derselben; sie bringt wieder
das all
mächtige Wort des allmächtigen, das lebendige Wort des lebendigen,
daS gegenwärtige Wort des gegenwärtigen Gottes, sie ist die geist
liche Wiedergeburt des ursprünglichen Gotteswortes" (S. 66).
„Ist
das subjettivierte Gemeindebedürfnis das Motiv der Textwahl, so ist
es ja selbswerständlich auch das Schritt für Schritt die ganze Pre digt bestimmende, es ist der Fokus, auf den sich alle Strahlen der in der Predigt ausgehenden Wahrheiten und Worte konzentrieren.
ES bedarf also keine- weiteren Nachweises, dingung nur erfüllt ist,
daß,
wenn jene Be
keinerlei Gefahr vorhanden sei,
daß die
Predigt auf unwirkliche und unwichttge, sei es allgemeine oder indi
viduelle Zustände, Verhältnisse, Sünden, Aufgaben usw. losgehe und sich dadurch überflüssig mache, auch nicht, daß sie die wirklichen und
wichtigen Gemeindebedürfnisse nur
nebenher berühre,
sondern
in
ihrer Genesis liegt bereits die Garantie, daß sie eben auf das vor
allen übrigen hervorragende wirkliche Gemeindebedürfnis ihre ganze Kraft direkt und ungeschwächt richte" (S. 62).
54 gut wie alle ganz speziell.
Man mag seine Predigten auf
schlagen, wo man will, überall springt das in die Augen.
Wo findet man in der gesamten Predigtliteratur noch ein mal eine Predigt etwa mit dem Thema: „Was der Mensch immer noch hat, wenn er gar nichts mehr hat".
Oder:
„Vom Menschenleben als von einem Wunder Gottes".
Oder:
„Wie für unser häusliches Leben das menschliche
Vergeben mit der göttlichen Vergebung zusammenhängt?"
Ein Prediger hergebrachten Schlages predigt vielleicht über die fünfte Bitte mit dem Thema: Vom Vergeben.
Bitzius
spezialisiert sofort: er will den Zusammenhang zwischen
menschlichem Vergeben und der göttlichen Vergebung auf weisen.
Aber noch nicht genug:
er grenzt das Thema
noch mehr ein: er zeigt die Bedeutung jener Wahrheit für das häusliche Leben.
Auf den ersten Blick scheint es
kaum möglich, für diesen engbegrenzten Gegenstand über
haupt genügend Stoff zu finden.
Aber wie quillt Bitzius,
der das wirkliche Leben kennt, der konkrete Stoff hierbei
zu!
Fragt man näher, welchen Gebieten die Gegenstände
bei Bitzius entnommen sind, so fallen zunächst Gegenstände ins Auge, die ins unmittelbare Gemeindeleben gehören, die ganz kasuell sind.
Die Anschaffung einer neuen Turmuhr
wird Anlaß zu einer Predigt mit dem Thema: „Was die
neue Turmuhr für unser geistiges und geistliches Leben werden kann".
Eine Feuersbrunst fühtt zu dem Thema:
„Was das Beten Hilst Feuersbrunst".
vor,
während und nach einer
Am Sängerfest predigt Bitzius:
„Was
es braucht, damit auch wir Feste feiern wie Jesus, die
für unsere Seele zu wirklichen Feiertagen werden".
Das
poliüsche Leben findet fortgesetzt Beachtung. Daneben aber ist eine ganze Fülle von Gegenständen dem chrisllichen
Leben und Denken selbst entnommen, aber so, wie sie den
55 Bauern von Twann verständlich
können.
und wertvoll werden
Wie müht sich Bitzius, seine Zuhörer in ein
wirlliches geschichtliches Verständnis der heiligen Schrift
cinzuführen!
Darin hat er mit kräftigem Griff ein Pro
blem auf der Kanzel angefaßt, das heute nur wenige und dann nur mit zitternder Hand berühren. nicht weiter charakterisieren.
Doch ich will
Jedenfalls steht es fest, daß
Bitzius wieder die speziellen Gegenstände auf die Kanzel
bringt, und damit macht er offenbar Schule.
Nicht allein
beweist das die freudige Aufnahme, die seine sieben Bände Predigten gefunden habens, sondern auch die Beachtung,
die ihm die Geschichte der Predigt anfängt zu zollen2). — Lassen Sie mich neben den Schweizer einen Nord deutschen
stellen, Bernhard Dörries, der sicher von
Bitzius beeinflußt ist.
Auf dem Titelblatt seiner Pre
digten: „Das Evangelium der Armen"8) steht unter seinem Namen:
„Pastor in einer Vorstadt Hannovers".
Dieser
Zusatz ersetzt ein Vorwort und ist zum Verständnis der
Predigffammlung unerläßlich.
Wie Bitzius seinen Bauern
von Twann und nur diesen predigt, so Dörries seinen
Arbeitern in Hannover, und niemandem andern.
Seine
Gemeinde steht ihm klar und fest vor der Seele — ihr hat er in jeder Predigt etwas Besonderes zu sagen; dazu wählt und verwendet er den Text.
Auch er hat
die
*) Der 1. Band ist bis jetzt in 4., der 2. in 3., der 3. u. 4.
in 2. Auflage erschienen. *) Hering hatte in seiner Geschichte der Predigt, Berlin 1897,
ihn noch nicht beachtet; um so erfreulicher ist es, daß Achelis in: „Der Protestantismus am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Wort und Bild" ihn unter den „Meistern evangelischer Kanzelbered^
samkeit" ausführlich würdigt (S. 707—709). ’) 2. Ausl.
Göttingen 1899.
56 falsche Textsklaverei zerbrochen.
Und was finden wir?
Gegenstände, die ganz speziell sind; und auch wo sie sich
zunächst allgemein geben, bekommen sie durch den Ort und
den Zweck eine ganz spezielle Färbung und Beziehung. Dörries hat seinen Leuten die Zweifelfragen einfach aus dem Mund genommen, wenn er predigt über:
„Was das Beten hilft?"
einen Gott?"
„Gibt es
„Ist Gott die
Liebe?"
„Was haben wir eigentlich von unserem Christen
tum?"
„Wie kann Gott so etwas zulassen?"
Wie diese
Arbeiter und Arbeiterfrauen sich diese Fragen stellen, so
faßt sie Dörries, nicht im allgemeinen, nicht von einem rein absttatten Standpuntt aus.
Und so bei jedem seiner
Themen. Wenn er von der „falschen Wohltättgkeit" spricht,
so ist es die Wohltätigkeit, in die seine hannoverschen Vor
stadtbewohner geraten können. Wenn er das Thema an kündigt: „Über Volksfeste, was davon zu halten ist und wie ein Christ sich dazu stellen soll", so handelt sich's eben
nur um die Feste, die seine Leute feiern, die stehen ganz konkret vor seiner Seele.
So sind alle Gegenstände in die
Lokalfarbe getaucht; dadurch sind sie alle aus dem nebel haften Reich des Allgemeinen und Abstrakten herausgeholt.
Hätte jener tteffliche Pfarrer Otto Koch diese Predigt sammlung in die Hand nehmen können, er würde seine
Herzensfreude daran gehabt haben: da war das Thema spezialisiert, viel besser, als er es sich selbst ersonnen hätte.
Wenn wir aber von dem Neuen reden, das werden will,
dürfen
wir
nicht schweigen.
von Naumanns Hilfe-Andachten Hier kehrt eine reiche, kraftvolle Seele
sich allem zu, was unser Geschlecht im Inneren und Äußeren bewegt, und hebt es empor in Gottes reines
Licht. Hier ist der Bannkreis kirchlich hergebrachter Gegen stände kühn und frei verlassen, aber ärmer hat uns Nau-
57 mann damit nicht gemacht.
Vor allem sei's mit Freuden
begrüßt, daß er, obwohl modern im Denken auch hier, doch die Natur wieder als Zeugin Gottes versteht und zu uns reden läßt — eine Erlösung aus einem Banne, wonach ein Geschlecht seufzt, das wie keins die Natur erforscht
und genießt *).
Aber auch sonst drängen sich in neueren Predigt
sammlungen die speziellen Gegenstände bemerkbar hervor. Man kann nicht sagen, daß Predigtgegenstände, wie die folgenden, allgemein und sehr landläufig wären: „Seelen
ruhe, eine Frucht des Glaubens"; „Nicht Begabung, son dern Begnadigung ist wahrer Grund zur Christenfreude"; „Daß Gott dem Menschen die Ewigkeit in die Brust ge
legt hat"; „Die Fürsorge der Gemeinde für ihre Armen"; „Die kleinen Sünden"; „Die Unterlassungssünden"; „Die
Demut Menschen gegenüber" (Heinr. Hoffmann in Halle). Oder: „Vom rechten Lebensmut"; „Wie behüten wir uns
vor Selbstbetrug in der Frömmigkeit"; „Was kann und
soll uns letztlich bei Jesu halten?" (Loofs).
Oder: „Was
wir Christen an unseren Geschwistern haben?" „Die Be deutung der Persönlichkeit für die christliche Frömmigkeit" Oder: „Das Gesetz christlicher Bildung"; „Jesu Patriotismus"; „Christliche Gehaltenheit"; „Christ
(Bornemann).
liche Gelassenheit" (O. Baumgarten). Daß diese Wendung eintritt, kann uns nicht wunder
nehmen. Jene elementare Wahrheit, daß das Christentum
Leben ist, hat unter uns heute eine neue Kraft gewonnen. War sie auch vor ein, zwei Menschenaltern nicht vergessen,
so war sie doch in den Hintergrund gedrängt worden durch
l) Eine eingehende Würdigung von Naumann- Andachten habe ich in der Christlichen Wett 1902, Sp. 1131 gegeben.
58 die starke Betonung des Objekiven, der Heilstatsachen, der Lehre.
Mr sind psychologischer geworden.
Wir fühlen's
deutlicher, aber auch lastender, daß das Christentum ein
stetes Werden, ein großer seelischer Prozeß ist, ein Prozeß der feinsten, kompliziertesten Art.
Wir haben ein deut
liches Gefühl dafür, welche Hindernisse sich gerade heute Wir wissen, daß das Evangelium,
dem entgegenstellen.
an sich so einfach und so schlicht, ins Leben umgesetzt, in tausend Strahlen sich bricht, daß es jedem Menschen, jedem Geschlecht etwas Besonderes zu sagen hat, immer neu erfaßt
und errungen sein will.
Die Predigt, als persönliche Be
zeugung des Evangeliums, soll Helfersdienste tun — sie
wird es nur können, wenn sie neben dem Allgemeinen, Zentralen auch das Einzelne und Spezielle zu seinem
Wir haben lebendiger erkannt, daß
Rechte kommen läßt.
jede Gemeinde ihre Individualität hat und daß jeder ge muß verkündigt
rade in
chrer Weise
werden.
Wir glauben nicht mehr daran, daß Predigt
das Evangelium
Predigt ist, ob in Stadt oder Dorf, ob heute, ob morgen gehalten.
Wir glauben's nicht, daß uns Gott heute von
der Pflicht entbunden habe, die einst der größte Apostel
so tief empfand, den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche zu werden.
So wird die Predigt eine lokale
Farbe, ein zeitgeschichtliches Gewand gewinnen.
Es liegt
viel Wahres in dem Löfflerschen Worte, daß jede Predigt
eine Gelegenheitsrede sein soll; das gilt es anzuerkennen,
auch wenn das Wort aus der Feder eines Rattonalisten kommt.
Es wäre töricht, zu fordern: Nun predigt nur nach
speziellen Themen!
Das kann, wie alles, geistlos, öde,
weil nachgeahmt und mechanisch geschehen, und dann wird's ohne Segen sein.
Nie werden, nie dürfen zentrale Gegen-
59 stände ganz verschwinden.
Sie haben ihr bleibendes Recht.
Aber das läßt sich mit Schleiermacher als Ziel aufstellen,
daß jede wirkungsvolle Predigt aus einer Synthese von Prediger, Text und Gemeinde entstehen soll.
Die Per
sönlichkeit wird dabei immer das Bestimmende sein.
Ihre
Macht liegt im völligen Ernst, der nicht in steifer Feier
lichkeit, sondern in reiner Sachlichkeit besteht, der man es
abfühlt, d>aß die Wahrheit die beherrschende Macht über
sie geworden ist.
Wie alles, so zeigt die Predigt neue Triebe — ein Frühling steht vor der Tür.
zu echten Früchten helfen!
Möge Gott ihn segnen und
Durch Kampf zum Sieg. Dredigteanrmlung für das deutsche Raue über fortlaufende Cexte aus der
Hpoetelgescbichte» Von
Dr. C. J. Roembeld, wett. Pfarrer xu Seehelm (n der Bergstrasse. Berausgegeben
von Oberpfarrer
Hlbtrt Junker xu Beerfelden«
71 predigten in ©ross-Oktav-format« Seh. 5 M* 50 Pf.
19OO
Seb. 6 )V. 50 Pf.
Das Merk, dessen Ausstattung vorzüglich und dessen Preis (m Verhältnis dazu billig xu nennen Ist, kann Predigern zum Studium und dem christlichen Bause (m weitesten Sinne des Mortes zur Srbauung auf das Märmste em pfohlen werden. (Cheol. LItt.-Blatt.) Mir können diese Predigtsammlung von ganzem Berzen empfehlen, da sie nütz lich, Inhaltsreich u. voll Interessanter Abwechslung Ist. Die Ausstattung des Buches Ist eine durchaus elegante und der Preis durchaus mässig. (Litteraturblatt.) Mir möchten wünschen, dass an dieser Predigtsammlung in Erfüllung gebe, was er, wohl Im Bliche auf die bereits von Ihm veröffentlichten, sagt: „Causendc lesen wett über Deutschlands Grenzen hinaus u. bis über daspieer hinüber begierig die predigt, die in der Kirche zu Beehelm gehalten wird". Das wäre der beste Lohn auch für den Berausgeber und die Verlagshandlung, die keine plühe gescheut haben, um dieses Opus posthumum seinen Vorgängern würdig an die Seite treten zu lassen. (Mancherlei Sahen.) Das liest sich ganz anders als sonst predigten, das pacht und erbaut im besten Sinne des Mortes. Kein Gebildeter wird's ohne grossen Gewinn aus der Band legen, jedes Kind kann s verstehen. Das Buch müsste auf jedem famtttentlsch, in jedem Studierzimmer zu finden sein. (Gvangel. Bausfreund.) Das schön ausgestattete Predigtbuch bat nicht nur grossen Mert für den Pfarrer zur Vorbereitung auf predigten, sondern es eignet sich auch vortrefflid» als häusliches Grbauungs- und Andacbtsbuch. Möchte es die weite Ver breitung finden, die es in der Chat verdient. (Darmstädter Ztg.) Das ist eine Predigtsammlung, die aus der Bocbflut der Predigtsammlungen um ein Bedeutendes bervorragt. Mir möchten das prächtige Buch R’s für Christi, famttlen als Andachtsbuch ganz besonders warm empfehlen. (Retcbsbote.) Diese Sammlung kann Predigern geradezu als Muster empfohlen werden; aber wir möchten sie auch den Semeindegliedem zur häuslichen Erbauung in die Band geben. Der Preis ist überdies bei der so vorzüglichen Ausstattung geradezu billig zu nennen. (Cgi. Rundschau.)
Predigten und Reden. Von
F). H. Köetlin, Sek. Kirchenrat, Professor der Cbeologfe.
41 predigten, feet-Reden und pastorale 6eleiteworte in OrosB-Ohtav-format»
6eb. s JM. 40 pf.
1901
6eb. 4 JM. 10 pf.
D(e predigten und Reden werden den Kundigen Oberföhren, dass prof. K., was er von der lugend fordert, selbst geübt bat, vorbildlich für alle, welche ihr Leben lang an der schweren Kunst des predigens nicht ausgelernt haben. Diese predigten sind thatsächlich Muster predigten; an ihnen hat nicht bloss wissenschaftliche Meisterschaft und tief frommer Sinn, sondern auch ein nicht gewöhnliches M*»® von künstlerischer Begabung und von künstlerischem Ver ständnis schaffen helfen, predigten pflegen zumeist Schöpfungen von nur kurzer Dauer zu sein, diese predigten aber werden lange jung bleiben; wer sie liest, wird dankbar die verjüngende Kraft spüren, welche von ihnen aus strömt. (Konsistorial-Rat Öhlers im Sv. 6emeindeblatt.)
Die predigten bieten nicht bloss eine Auswahl aus dem gewöhnlichen Sange des Kirchenjahres, sondern auch eine grössere Anzahl von solchen, die bei be sonderen feiern und bei vaterländischen Gedenktagen gehalten worden sind. Die Wirme der Empfindung, die «leite ihres Gesichtskreises und die feinsinnige Einführung in die Liefe des Cextes, durch die sie sich auszeichnen, bekunden die Geistesverwandtschaft, die den Verfasser mit seinem Schwiegervater Karl 6eroh verbindet. (Der Rausvater, kirchl. Monatsblatt.) Der bekannte Autor bietet in dem vorliegenden Buche „als der nach 18 jähriger Wirksamkeit im Lehr- und Aufsiebtsamte in die Stille zurückkehrende ältere freund den jüngeren freunden seinen Abschiedsgruss", reichhaltig mit warmem Appell an das Pflichtbewusstsein der Rörer und Leser, den ver schiedensten Situationen wohl angepasst, in edler fesselnder Diktion. Hile werden diese inhaltreiche Gabe gern und mit Dank in die Rand nehmen. (Kreuz-Zeitung.) Diese predigten können den Amtsbrüdern bestens empfohlen werden.
und besonders den jüngeren (Kirchl. Corr.-Blatt.)
Husgewäblte
Christliche Reden von
Sören Kierkegaard. Hua dem Dänischen übersetzt von Julie voll Rein die»
flehet einem Hnbange über
Kierkegaard s familie und Privatleben nach den persönlichen Brinnerungen
seiner fliehte, fr&ulein Lund» flehet einem Bilde Kierkegaard*! und seines Vaters.
Der Reinertrag ist für ein Isolierhaus am Blieabethenetift xu Darmstadt bestimmt. Oktav-format.
1901
170 Seiten,
elegant geheftet 3 Mark. — elegant gebunden 4 flark.
Die berühmten Reden des sonderbaren Dänen über das Sorgen sind hier zum ersten flale ins Deutsche übertragen, flan kann diesen grossen Denker nicht genug studieren, aber sich kaum genug davor hüten, ihm die eigene Persönlich keit auexuliefem. Interessant ist er immer. (Gvangel. Kirchenzeltg.) Menn man K. den „christlichen Sokrates" genannt bat, so hat man seine bleibende Bedeutung damit gut bezeichnet. Mle der griechisdte Meise wirkt er dadurch, dass er die Menschen auf die höchsten Lebensfragen aufmerksam macht, um ihnen womöglich xum wahren und wirklichen Sein xu verhelfen und sie zu sich selbst kommen zu lassen. — Huch für die Cheologie unserer Zeit könnte man K. einen Propheten nennen. — Mir empfehlen das Büchlein unsern Lesern, weil wir die Beschäftigung mit K. für äusserst anregend halten. (ChristL Veit.) Viel zu wenig ist K., dieser hervorragende Schriftsteller, in Deutschland be kannt und gewürdigt. Die christlichen Reden sind bei aller Ciefe so einfach und klar gehalten, dass sie ein Kind zu verstehen vermag. Mir empfehlen das auch äusserlich schön ausgestattete Buch unserm Leserkreis aufs wärmste. (Das Volk.) Das thut einem doch in der Seele wohl, zwischen hinein Ober ein Buch zu berichten, das man Allen zur Lektüre empfehlen kann. (Züricher freitagextg.) Hm Schlüsse einer ausführlichen günstigen Besprechung heisst es: „Mir sind überzeugt, dass das Buch im Sinne der heimgegangenen {Übersetzerin wirklich dazu dienen wird, diesen seltenen Seist auch weiteren hommei de dösir in Deutschland aufzuschliessen". (Stadt und Land.)
J. Ritker’sche Veriapbeetiuidlmg (Alfred Te,eiem) in (liessen.
Vorträge der theologischen Konferenz zu Giessen: Sell, K«, Die geschichtliche Entwicklung der Kirche im 19. Jahrhundert und die ihr dadurch gestellte Aufgabe.
Erschien zus. mit:
Heinrlcl, G., Die Forschungen über die paulin. Briefe. (Vortr. 2) M. 1.60 Herrmann, W«, Der Begriff der Offenbarung. Erschien zus. mit: Müller, Ke, Bericht über den gegenwärtigen Stand der Forschung auf dem Gebiet der vorreformatorischen Zeit.
(Vortr. 3)
M. 1.—
Sachfse, E., Über die Möglichkeit, Gott zu erkennen. (Vortr. 4) M. 1.— Elbach, Re, Über die wissenschaftliche Behandlung und praktische Benutzung der heiligen Schrift.
Erschien zus. mit:
Schürer, Ee, Über den gegenwärtigen Stand der johanneischen Frage. (Vortr. 6)
M. 1.—
Ehlers, Re, Das neue Testament und die Taufe. (Vortr. 6) M. 1.— Kattenbusch, Fe, Von Schleiermacher zu Bitschi. Zur Orientierung über die Dogmatik des 19. Jahrh. 3. vielfach veränd. Aufl. Mit einem Nachtrag über die neueste Entwicklung. (Vortr. 7) M. 1.75 Reischle, M., Sohms Kirchenrecht und der Streit über das Verhältnis von Recht und Kirche. (Vortr. 8) M. 1.— Flöring, Fr., Das alte Testament im evangelischen Religionsunterricht. (Vortr. 9) M. 1.— Walz, K», Veräußerlichung, eine Hauptgefahr für die Ausübung des geistlichen Berufes in der Gegenwärt. (Vortr. 10) M. —.80 Mirbt, Ce, Der deutsche Protestantismus und die Heidenmission im 19. Jahrhundert. (Vortr. 11) M. 1.20 Deissmann, G. A., Die sprachliche Erforschung der griechischen Bibel, ihr gegenwärtiger Stand und ihre Aufgaben. (Vortr. 12) M. —.80 Rade, M., Religion und Moral. Streitsätze f. Theologen. (Vortr. 13) M. —.60 Krüger, G., Die neuen Funde auf dem Gebiete der ältesten Kirchen geschichte (1889—1898). (Vortr. 14) M. —.60 Foerster, E», Die Rechtslage des deutschen Protestantismus 1800 und 1900. (Vortr. 15) M. —.80 Welfs, Je, Die Idee des Reiches Gottes i. d. Theologie. (Vortr. 16) M. 3.— Holtzmann, Oe, Die jüdische Schriftgelehrsamkeit zur Zeit Jesu. (Vortr. 17) M. —.70 Budde, K«, Das Alte Testament und die Ausgrabungen. Ein Beitrag zum Streit um Babel und Bibel. 2. Aufl. mit vielen Anmerkgn. u. e. Vorworte statt des Nachworts. (Vortr. 18) M. —.90 Brows, P., Die Predigt im 19. Jahrhundert. Kritische Bemerkungen u. praktische Winke. (Vortr. 19) M. 1.— Elbach, Re, Unser Volk und die Bibel. Ein Nachwort zum Bibel- und Babelstreit. (Vortr. 20) M. —.60
Der anhängende Verlagsbericht sei besonderer Beachtung empfohlen. C. G. Röder, Leipzig. 21370. 03.