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German Pages [397] Year 2020
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik
Band 21
Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand: Michele Barricelli, Martin Lücke, Monika Fenn, Markus Bernhardt und Christine Gundermann
Thomas Sandkühler / Markus Bernhardt (Hg.)
Sprache(n) des Geschichtsunterrichts Sprachliche Vielfalt und Historisches Lernen
In Kooperation mit Christoph Bramann, Nicola Brauch, Saskia Handro, Martin Lücke, Martin Nitsche, Martin Schlutow und Jörg van Norden Mit 48 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gefördert durch die Konferenz für Geschichtsdidaktik e.V. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Matthias Schweiger Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-7370-1205-8
Inhalt
Thomas Sandkühler Zum Stand von Disziplin und Verband
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Markus Bernhardt Sprache(n) des Geschichtsunterrichts – Sprachliche Vielfalt und Historisches Lernen. Einführung in die Tagung . . . . . . . . . . . . . . .
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Sektion 1: Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Geschichtslehrer*innenbildung. Konzepte einer phasenübergreifenden Professionalisierung Martin Schlutow Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Geschichtslehrer*innenbildung. Einführung in die Sektion . . . . . . . . .
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Mareike-Cathrine Wickner Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Sprachsensibler Geschichtsunterricht fängt mit einer sprachsensiblen Geschichtslehrer*innenbildung an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kerstin Lochon-Wagner Sprachsensibler Geschichtsunterricht als wichtige Aufgabe in der zweiten Phase der Lehrer*innenbildung: Einblicke in die Ausbildungspraxis . . .
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Martin Schlutow Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Lehrerfortbildung. Herausforderungen und Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Sektion 2: Historische Sprachhandlungen initiieren – Aufgaben im Fokus Christoph Bramann / Nicola Brauch Aufgaben im Kontext fachlicher Sprachbildung. Zur Einführung
. . . . . 119
Nicola Brauch / Lena Heine / Christoph Bramann Schriftliches Erklären im Fach Geschichte unterstützen. Ansätze eines sprachlich-epistemologischen Scaffolding-Tools . . . . . . . . . . . . . . 137 Christoph Bramann (Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben im Kontext einer Aufgabenkultur historischen Lernens erforschen . . . . . . . . . . . . . . 165 Charlotte Husemann Fachspezifische Sprachhandlungen konkretisieren. Schüler*innentexte zum Beschreiben, Erklären und Begründen im Rahmen des Historischen Sachurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Sektion 3: Fachsprache als Leichte Sprache und als Bildungssprache – Sprache und Geschichte im (scheinbaren) Spannungsverhältnis zwischen Inklusion und Sprachbildung Martin Lücke Fachsprache als Leichte Sprache und als Bildungssprache – Sprache und Geschichte im Spannungsverhältnis von Inklusion und Sprachbildung. Einführung in die Sektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Sebastian Barsch Über Quellen sprechen – in der eigenen Sprache . . . . . . . . . . . . . . 215 Bettina Degner / Jessica Kreutz Darstellungstexte in differenzierenden Geschichtsschulbüchern im Spannungsverhältnis von Textverständlichkeit und Ansprüchen an historisches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Matthias Sieberkrob Sprachbildung bedeutet Emanzipation – Wege zum Geschichten Erzählen mit Lernaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
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Inhalt
Sektion 4: Historische Kompetenzen sprachbasiert erfassen Martin Nitsche / Jörg van Norden Historische Kompetenzen sprachbasiert erfassen. Einführung in die Sektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Jörg van Norden Theorie, Empirie, Pragmatik – Versuch einer Zuordnung
. . . . . . . . . 277
Kristina Karl / Christoph Kühberger Perspektivische Einseitigkeit – Zu Wahrnehmung und Versprachlichung in historischen Darstellungen von Studienanfänger/inne/n . . . . . . . . . 297 Martin Nitsche / Kristine Gollin Zeitlichkeit und narrative Kompetenz – zur kategorialen Erfassung des Umgangs mit Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Sektion 5: Sprachsensibel und geschichtsbewusst? Herausforderungen bei der Konzeption von Geschichtslehrwerken Saskia Handro Sprachsensibel oder geschichtsbewusst? Herausforderungen bei der Konstruktion von Geschichtslehrwerken. Einführung in die Sektion
. . . 331
Claudia Schmellentin Gestaltung von Verfassertexten in Geschichtsschulbüchern. Desiderate, Möglichkeiten und Grenzen aus sprachdidaktischer Perspektive . . . . . 345 Viola Schrader Historisches Denken durch Verfassertexte fördern? Das Potenzial der Sprache(n) in Geschichtslehrwerken aus geschichtsdidaktischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Michael Sauer / Jana Schumann Schulbücher sprachsensibel gestalten. Perspektiven der Schulbuchkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Thomas Sandkühler
Zum Stand von Disziplin und Verband
Wie bei den Haupttagungen der Konferenz für Geschichtsdidaktik üblich, verbinde ich meinen Bericht über die Entwicklungen des Verbands in der letzten Wahlperiode mit einigen Bemerkungen zum Stand der Disziplin.1 Auch in diesem Jahr hat der Vorstand der KGD Grund zu offizieller Danksagung an die Sponsoren der Zweijahrestagung: Die Bildungsinitiative RuhrFutur hat den größten Teil der entstandenen Kosten übernommen; unbürokratisch und entgegenkommend. Die Körber-Stiftung hat freundlicherweise die gestrige Podiumsdiskussion ausgerichtet. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat einen namhaften Betrag dazu geleistet, dass dieses Zusammentreffen möglich war. Der Universität Duisburg-Essen danken wir für ihre Gastfreundschaft. Ein besonderer Dank geht an die Stiftung Zollverein, die uns großzügig Räume im RuhrMuseum überlassen hat, und den Direktor des Museums, Professor Theodor Grütter, der uns diese wunderbare Tagungsstätte zur Verfügung gestellt hat. Ich könnte mir keinen besseren Ort vorstellen, um über sprachliche Diversität und historisches Lernen nachzudenken. Dass dies möglich wurde, verdankt die KGD in erster Linie dem Kollegen Markus Bernhardt, der diese Zweijahrestagung ausgerichtet hat, und seinem Team. Das Programm kann sich sehen lassen. Ich bin sicher, dass wir spannende Vorträge und Diskussionen erleben werden. Herr Bernhardt wird dazu gleich Näheres ausführen.
Innere Entwicklung des Verbandes Beginnen wir mit den Daten. Der Verband hat weiterhin neun korporative Mitglieder. Die Zahl der persönlichen Mitglieder ist von 343 am Beginn dieser Wahlperiode auf 375 angestiegen, darunter erfreulich viele jüngere Kolleginnen und Kollegen. Im selben Zeitraum sind 42 Damen und Herren ausgeschieden, 1 Der Text dieses Berichts entspricht weitgehend dem gehaltenen Wortlaut. Der Abschnitt über geschichtsdidaktische Neuerscheinungen wurde aus Zeitgründen nicht vorgetragen.
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deren Mitgliedschaft zum Jahresende erlischt.2 384 Mitglieder nach heutigem Stand gegenüber 343 vor zwei und 337 vor vier Jahren sind ein schöner Aufwuchs, der sich hoffentlich fortsetzen wird. Zwei Kolleginnen und Kollegen, die dem Verband jahrzehntelang verbunden waren, sind gestorben. Professor Wolfgang Hug starb im Mai 2018 im Alter von 86 Jahren. Professorin Hilke Günther-Arndt starb überraschend im Alter von 73 Jahren. Wir alle erinnern uns an Wolfgang Hugs stupenden Kenntnisse und seine warmherzige Liberalität, an die ebenso kompetente wie energische Persönlichkeit von Frau Günther-Arndt. Sie hat zum Thema der diesjährigen Zweijahrestagung frühzeitig Bleibendes veröffentlicht und zahlreiche fachdidaktische Akzente gesetzt. Der Verband hat auf seiner Homepage Nachrufe auf Wolfgang Hug und Hilke Günther-Arndt veröffentlicht.3 Die Konferenz für Geschichtsdidaktik wird ihren verstorbenen Mitgliedern ein ehrendes Andenken bewahren. Satzungsgemäß endet mit dem heutigen Tag meine Amtszeit als Vorsitzender der Konferenz für Geschichtsdidaktik. Es waren bewegte, anstrengende, erfüllte vier Jahre, in denen die Wogen des politischen Meinungskampfes mitunter hochgingen. Ich sehe für mich persönlich Michael Sauers Auffassung bestätigt, dass die Konferenz für Geschichtsdidaktik zwar ein fachpolitisches Mandat hat, sich aber aus der Tagespolitik heraushalten sollte. Vorgenommen hatte ich mir, die Kontinuität der Vorstandsarbeit zu sichern und die KGD in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen. Beides konnte, in aller Bescheidenheit, erreicht werden. Ohne die vielfältige Unterstützung, die mir aus dem Kreis der Vorstandsmitglieder zuteilwurde, wäre das nicht möglich gewesen. Dafür sage ich herzlichen Dank.
Information und Kommunikation Unter diesem Punkt habe ich Hocherfreuliches zu berichten: Die Konferenz für Geschichtsdidaktik hat, wie bereits im Newsletter kommuniziert, ihren Internetauftritt im Portal historicum.net gründlich überarbeitet und sowohl grafisch als auch technisch modernisiert. Im Ergebnis können die Seiten der KGD nun auch auf mobilen Endgeräten dargestellt und skaliert werden.4 2 Davon sind zwei Personen verstorben; acht wurden aufgrund von säumigen Mitgliedsbeiträgen ausgeschlossen. 3 Dietmar von Reeken: Nachruf auf Hilke Günther-Arndt (1945–2019), https://www.historicum. net/fileadmin/user_upload/5_disziplinen/6_didaktik/1_kgd/1_pdfs/news/2019/02-05_0-Nac hruf_Guenther-Arndt.pdf; Gerhard Schneider: Nachruf auf Wolfgang Hug (1931–2018), https://zeptools.bsb-muenchen.de/bereitstellung/pdf/web/viewer.html?file=..%2F..%2Fdqvw rxie5d8.pdf, beides aufgerufen am 20. 03. 2020. 4 https://www.historicum.net/kgd, aufgerufen am 20. 03. 2020.
Zum Stand von Disziplin und Verband
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Die neue Homepage kann sich sehen lassen. Die Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatsbibliothek bei diesem zeitaufwendigen Relaunch war hervorragend. Und doch hätte dieses Projekt nicht gelingen können ohne den unermüdlichen und selbstlosen Einsatz von Astrid Schwabe, der scheidenden Referentin für Öffentlichkeitsarbeit im Vorstand der KGD. Sie hat die neue Homepage praktisch im Alleingang aufgesetzt und sich bleibende Verdienste um unseren Fachverband erworben. Unter dem Link »Nachrichten« finden Sie, wie gewohnt, geschichtsdidaktische Stellenausschreibungen, Konferenzankündigungen etc.5 Die von Frau Schwabe fachlich betreute Rubrik »Wissenschaftlicher Nachwuchs« informiert über Nachwuchstagungen und Qualifikationsarbeiten.6 Die neu angelegte Liste der KGD-Kooperationspartner bezeugt die guten Außenbeziehungen des Verbands.7 Der Information der Mitgliedschaft dient ferner der regelmäßig erscheinende »Newsletter« der KGD. Für ihre zuverlässige Betreuung auch des Newsletters sei Astrid Schwabe nochmals herzlich gedankt.
Nachwuchsförderung Die 9. Nachwuchstagung der KGD hat im Juni 2018 an der Universität Kassel stattgefunden. Die Tagung bot elf jüngeren Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit, ihre Projekte vorzustellen.8 Geschichtsschulbücher, bilingualer Geschichtsunterricht, Akteure des Geschichtsunterrichts – diese Sektionsüberschriften zeigten an, dass das Thema unserer letzten Zweijahrestagung auch in laufenden Qualifikationsarbeiten eine gewichtige Rolle spielt. Christine Pflüger und ihrem Mitarbeiter Dennis Erk sei für ihre vorzügliche Vorbereitung der Nachwuchstagung gedankt, ebenso der Universität Kassel für die Gastfreundschaft, mit der sie die KGD aufgenommen und prominent begrüßt hat. Ein Tagungsbericht von Dennis Erk ist auf H-Soz-Kult zu finden.9 Der von Kollegin Pflüger herausgegebene Tagungsband ist soeben in den Beiheften zu unserer Zeitschrift erschienen10; auf die verbandseigenen Publikationen gehe ich gleich noch ein. 5 6 7 8
https://www.historicum.net/kgd/nachrichten/void, aufgerufen am 20. 03. 2020. https://www.historicum.net/kgd/nachwuchs, aufgerufen am 20. 03. 2020. https://www.historicum.net/kgd/kooperationen, aufgerufen am 20. 03. 2020. https://zeptools.bsb-muenchen.de/bereitstellung/pdf/web/viewer.html?file=..%2F..%2F8tzli fbdtsd.pdf, aufgerufen am 20. 03. 2020. 9 H-Soz-Kult, 23. 10. 2018 (www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7894, aufgerufen am 20. 03. 2020). 10 Vgl. Anm. 26.
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Thomas Sandkühler
Verbandspolitik und »Außenbeziehungen« Der Historikerverband zählt nach wie vor nicht zu den Freunden kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts, aber, wie der Geschichtslehrerverband, zu den verlässlichen Verteidigern des Geschichtsunterrichts als Institution. Diesbezüglich gibt es übereinstimmende Interessen, auf deren Grundlage sich die Zusammenarbeit mit den beiden Nachbarverbänden lohnt. Am Standort Münster hat es eine erfolgreiche Kooperation zwischen KGD, VHD und VGD gegeben, um die sich vor allem die Kollegin Saskia Handro verdient gemacht hat. Im Ergebnis hat die nordrhein-westfälische Landesregierung den Anteil des Geschichtsunterrichts an der Stundentafel erhöht.11 Ich würde mir wünschen, dass ähnliche gemeinsame Anstrengungen auch in anderen Bundesländern unternommen werden. Gute Außenbeziehungen bestehen auch zur Körber-Stiftung. Viele Geschichtsdidaktikerinnen und -didaktiker sind dieser Stiftung bereits durch den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten verbunden, aber eine offizielle Kooperation zwischen Körber-Stiftung und Konferenz für Geschichtsdidaktik hat es lange nicht gegeben. Wir betrachten es daher als gutes Zeichen, dass die Stiftung nun schon die zweite Zweijahrestagung der KGD ideell und materiell mitträgt.12 Die Bundeszentrale für politische Bildung hat uns bei der Durchführung der Berliner Zweijahrestagung sehr unterstützt. Sie hat auch den Tagungsband über den Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert in ihre Schriftenreihe aufgenommen.13 Das Buch wird viel nachgefragt. Das ist erfreulich. Die Beziehungen der KGD zur Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD), der Dachgesellschaft der fachdidaktischen Disziplingesellschaften, bestehen fort. Die aus Mitgliederbeiträgen teilfinanzierte englischsprachige Online-Zeitschrift der GFD, »Research in Subject-Matter Teaching and Learning« (RISTAL) ist inzwischen am Markt.14 11 Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Mehr Zeit und neue Spielräume für den Unterricht. Faktenblatt v. 6. 9. 2018, https://www.schulministerium.nrw. de/docs/Schulpolitik/G8-G9/Kontext/Faktenblatt_G9-Stundentafel.pdf; Endlich wieder 8 Stunden Geschichte! Landesregierung ändert die Stundentafel für die neue APO S I. Pressemitteilung des Geschichtslehrerverbands Nordrhein-Westfalen, o. D., https://geschichtsleh rerverband.de/mehr-geschichtsunterricht-in-nrw-onlinepetition-des-landesverbandes-nrw/ (beides aufgerufen am 20. 03. 2020). 12 Geschichtslernern in der Einwanderungsgesellschaft. Pressemitteilung über die Podiumsdiskussion im Anschluss an einen Vortrag von Zafer S¸enocak, https://www.koerber-stiftung. de/koerber-netzwerk-geschichtsvermittlung/news-detailseite/geschichtslernen-in-der-ein wanderungsgesellschaft-1828, aufgerufen am 20. 03. 2020. 13 Vgl. Anm. 24. 14 https://www.ristal.org/, vgl. https://www.fachdidaktik.org/veroeffentlichungen/verbandszeit schrift-der-gfd/ (beides aufgerufen am 20. 03. 2020).
Zum Stand von Disziplin und Verband
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Ungetrübt ist die nun schon traditionelle Zusammenarbeit mit dem Wochenschau-Verlag. In Berlin war der Verlag wegen seines Umzugs nicht vertreten, aber hier in Essen ist er wieder präsent. Darüber freuen wir uns sehr. Der 52. Deutsche Historikertag hat im September 2018 an der Universität Münster stattgefunden. Das Oberthema lautete »Gespaltene Gesellschaften«.15 Dieser Historikertag wird sicher wegen der Resolution der VHD-Mitgliederversammlung zu aktuellen Gefährdungen der Demokratie in Erinnerung bleiben, über die in der politischen und fachlichen Öffentlichkeit heftig debattiert wurde.16 Aus dem Kreis der KGD haben Manuel Köster, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting eine gut besuchte Sektion zum Thema »Standardisierung oder Pluralisierung? Geschichtsunterricht in der ›gespaltenen‹ Gesellschaft« durchgeführt.17 Eine weitere Sektion über »Werte und Werteerziehung im Geschichtsunterricht?«, ausgerichtet für den VGD von dem Schulleiter Holger Schmenk und dem Fachleiter Frank Schweppenstette, fand viel Zuspruch aus der Lehrerschaft.18 Die Mitgliederversammlung des Geschichtslehrerverbands hat in Münster Peter Droste aus dem Landesverband Nordrhein-Westfalen zum Nachfolger von Ulrich Bongertmann gewählt.19 Wir wünschen Herrn Droste viel Erfolg bei der Leitung des VGD. Reges Interesse fand erneut auch das »Forum Geschichte in Wissenschaft und Unterricht«, diesmal ausgerichtet von Saskia Handro zum Thema »Sprache oder Fach? Aktuelle Kontroversen zu Sprachbildung im Geschichtsunterricht«.20 Herzlichen Dank an alle Beteiligten. Der 53. Deutsche Historikertag wird vom 8.–11. September 2020 an der LMU München stattfinden. Das Motto lautet »Deutungskämpfe«.21 Sektionsvorschläge 15 https://www.historikertag.de/Muenster2018/index.html (aufgerufen am 20. 03. 2020). 16 Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie. Verabschiedet von der Mitgliederversammlung am 27. Sept. 2018 in Münster (https://www.historikerverband.de/verband/stellungnahmen/reso lution-zu-gegenwaertigen-gefaehrdungen-der-demokratie.html); Thomas Sandkühler: Historiker*innen und Politik. Streit um eine aktuelle VHD-Resolution/Historians and Politics. Quarrel Over a Current Resolution, in: Public History Weekly, 18. 10. 2018, DOI: dx.doi.org/ 10.1515/phw-2018–12675 (beides aufgerufen am 20. 03. 2020). 17 https://www.historikertag.de/Muenster2018/sektionen/standardisierung-oder-pluralisierun g-geschichtsunterricht-in-der-gespaltenen-gesellschaft/ (aufgerufen am 20. 03. 2020). 18 https://www.historikertag.de/Muenster2018/sektionen/werte-und-werteerziehung-im-gesch ichtsunterricht/ (aufgerufen am 20. 03. 2020). 19 Neuer Bundesvorstand gewählt. Pressemitteilung des VGD v. 27. 09. 2018, https://geschichts lehrerverband.de/vgd/bundesvorstand/ (aufgerufen am 20. 03. 2020). 20 https://www.historikertag.de/Muenster2018/programm/fgwu/ (aufgerufen am 20. 03. 2020). 21 https://www.historikerverband.de//historikertag/53-deutscher-historikertag-2021.html (aufgerufen am 20. 03. 2020). Zwischenzeitlich wurde der Historikertag wegen der Maßnahmen zur Abwehr der Corona-Pandemie auf den 05.–08. 10. 2021 verschoben. Die KGD ist dieser Entscheidung des VHD gefolgt und hat die für September 2021 vorgesehene Zwei-
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können wie üblich bis zum 31. Oktober des Vorjahres eingereicht werden. Die Geschichtsdidaktik ist üblicherweise mit zwei Sektionen vertreten. Der Arbeitsausschuss des VHD sieht gehaltvollen geschichtsdidaktischen Sektionsvorschlägen mit Interesse entgegen. Der Vorstand hat sich entschieden, diese 23. Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik anders zu organisieren als die bisherigen. Um die Qualität und Kohärenz der Sektionen zu erhöhen, haben wir einen Call for Sections veröffentlicht statt des bisher üblichen Call for Papers.22 Im Grundsatz meinen wir, dass bei der KGD durchaus funktionieren kann, was beim Historikerverband von jeher üblich ist. Selbstverständlich wächst durch diese Modifikation die Verantwortung der Sektionsleitungen. Daher werden die Leiterinnen und Leiter der Sektionen zugleich Mitherausgeber des Tagungsbandes sein, der wie gewohnt in der Schriftenreihe der ZfGD erscheinen soll. Ich komme damit zu meinem nächsten Punkt, den Publikationen der KGD.
Publikationen der KGD Auf dem Gebiet der verbandseigenen Publikationen ist im Wesentlichen Kontinuität zu vermerken. Seit der Berliner Zweijahrestagung sind zwei weitere Bände der »Zeitschrift für Geschichtsdidaktik« erschienen, der Jahresband 2018 zum Thema »Fakten und Fiktionen«, den der Hamburger Kollege Andreas Körber herausgegeben hat, sowie der Jahresband 2019 zum Thema »Orient?«, für den Björn Onken, Duisburg-Essen, verantwortlich zeichnete. Herzlichen Dank den Kollegen Körber und Onken für die Mühen der Herausgeberschaft. Das Heft 19 (2020) wird sich dem Thema »Bewegte Bilder« widmen; Herausgeber wird Christian Bunnenberg von der Ruhr-Universität Bochum sein. Der Call for Papers ist bereits auf der Homepage der KGD veröffentlicht worden. Vorschläge für Beiträge sind Herrn Bunnenberg bis zum 31. Oktober dieses Jahres einzureichen. Eine wichtige Innovation auf dem Publikationsgebiet wurde Ihnen durch den Newsletter vom März 2019 bekannt gegeben: Mit dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht haben wir ein Verfahren entwickelt, um allen Verbandsmitgliedern den Online-Zugang zu den Ausgaben der ZfGD zu eröffnen. Unsere Schatzmeisterin Monika Fenn hat sehr viel Arbeit in die Klärung der Details investiert; der jahrestagung auf den März desselben Jahres verschoben, https://twitter.com/KGD_Fachver band/status/1250905404521041925 (aufgerufen am 20. 03. 2020). 22 Call for Sections: XXIII. Zweijahrestagung der KGD 2019 in Essen: Sprache(n) des Geschichtsunterrichts – Sprachliche Vielfalt und Historisches Lernen, https://www.historicum. net/fileadmin/user_upload/5_disziplinen/6_didaktik/1_kgd/1_pdfs/CfS_KGD-ZJT_2019_Es sen.pdf (aufgerufen am 20. 03. 2020).
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2. Vorsitzende Michele Barricelli hat freundlicherweise die Information der Mitgliedschaft über ihre individuellen Zugangsdaten übernommen. Dafür sage ich beiden Mitvorständen herzlichen Dank. Im Berichtszeitraum sind vier weitere Bände der Schriftenreihe »Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik« erschienen, zwei Sammelbände und zwei Qualifikationsschriften. Als Band 16 der Schriftenreihe lag 2018 Etienne Schinkels Dissertation über die Darstellung der deutschen Gesellschaft und Wehrmacht in Geschichtsschulbüchern vor, die unter dem Titel »Holocaust und Vernichtungskrieg« erschien.23 Es folgte im selben Jahr der Tagungsband zur 22. Zweijahrestagung der KGD über »Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert«, herausgegeben vom Vorstand der KGD und Markus Bernhardt.24 In diesem Jahr erschienen als Band 18 der Schriftenreihe die Dissertation von Sabrina Schmitz-Zerres, ebenfalls von der gastgebenden Universität DuisburgEssen. Das Buch hat Zukunftsnarrationen in Geschichtsschulbüchern von 1950 bis 1995 zum Gegenstand und trägt den Titel »Die Zukunft erzählen«.25 Unlängst kam der von Christine Pflüger besorgte Tagungsband zur Kasseler Nachwuchstagung unter dem Titel »Die Komplexität des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts« in den Handel.26 In den »Beiheften« können – und sollen – Forschungsmonographien veröffentlicht werden. Die KGD vergibt einen Druckkostenzuschuss für geschichtsdidaktisch herausragende Qualifikationsschriften ab dem Prädikat »magna cum laude« in Höhe von 1.000 Euro. Anträge sind von den Betreuerinnen und Betreuern an den Vorstand zu richten.
23 Etienne Schinkel: Holocaust und Vernichtungskrieg. Die Darstellung der deutschen Gesellschaft und Wehrmacht in Geschichtsschulbüchern für die Sekundarstufe I und II (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 16). Göttingen 2018, vgl. die Rezension von Philipp Mittnik in der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019), S. 221f. 24 Thomas Sandkühler u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 17). Göttingen 2018, sowie Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 10294. Bonn 2019, vgl. die Rezension von Bert Freyberger: in: sehepunkte 20 (2020) H. 4 (http://www. sehepunkte.de/2020/04/33116.html, aufgerufen am 20. 03. 2020). 25 Sabrina Schmitz-Zerres: Die Zukunft erzählen. Inhalte und Entstehungsprozesse von Zukunftsnarrationen in Geschichtsbüchern von 1950 bis 1995 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 18). Göttingen 2019. 26 Christine Pflüger (Hrsg.): Die Komplexität des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts. Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungen (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 19). Göttingen 2019.
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Geschichtsdidaktische Neuerscheinungen Eine Anzahl geschichtsdidaktischer Neuerscheinungen widmet sich den (unterrichtlichen) Medien historischen Lernens. Markus Bernhardt hat sein Standardwerk über das Spiel im Geschichtsunterricht in erweiterter Neuauflage vorgelegt.27 Dem boomenden Markt der digitalen Spiele wendete sich Daniel Gieres Dissertation zu, deren Druckfassung kürzlich erschien.28 Ein aktueller Tagungsband spürt dem Verhältnis zwischen »Fake und Filter« in digitalen Medien nach.29 Michael Sauers neues Handbuch über Textquellen behandelt die Ziele und Probleme der Arbeit mit diesen Materialien, ihre Gattungen und ihre Verwendung in der Unterrichtspraxis. Das Buch beschäftigt sich u. a. mit der Alltagsund Fachsprache, trägt also zum diesjährigen Tagungsthema bei.30 Ebenso einschlägig sind ein von Katharina Grannemann, Sven Oleschko und Christian Kuchler herausgegebener Sammelband über »Sprachbildung im Geschichtsunterricht«31 und ein ähnliches Buch, das unter dem Titel »Sprachsensibler Geschichtsunterricht« von Christiane Bertram und Andrea Kolpatzik herausgegeben wurde.32 In beiden Publikationen wird mit Blick auf verschiedene Schulstufen und jugendliche Adressaten die Relevanz der Fachsprachbildung und des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts untersucht. Die Berliner Historikerin Sabine Moller setzt sich in ihrer Habilitationsschrift »Zeitgeschichte sehen« mit der Rezeption verfilmter Geschichte durch unterschiedliche Publika auseinander. Zuschauerinnen und Zuschauer sind, so wird empirisch deutlich, keine bloßen Betrachter des Dargestellten, sondern aktive Mit-Konstrukteure der visuell erzählten Geschichte.33 Rezeptionsweisen stehen auch im Mittelpunkt der empirischen Studie von Isabel Brüning über den Einsatz 27 Markus Bernhardt: Das Spiel im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 3. Aufl. 2018. 28 Daniel Giere: Computerspiele – Medienbildung – historisches Lernen. Zu Repräsentation und Rezeption von Geschichte in digitalen Spielen. Frankfurt/M. 2019. 29 Sebastian Barsch/Andreas Lutter/Christian Meyer-Heidemann (Hrsg.): Fake und Filter. Historisches und politisches Lernen in Zeiten der Digitalität. Frankfurt/M. 2019. 30 Michael Sauer: Textquellen im Geschichtsunterricht. Konzepte – Gattungen – Methoden. Seelze 2018, vgl. die Rezension von Christian Kuchler in der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019), S. 218–220. 31 Katharina Grannemann/Sven Oleschko/Christian Kuchler (Hrsg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. Münster/New York 2018, vgl. die Rezension von Max-S. Kaestner in: sehepunkte 19 (2019) H. 6 (http://www.sehe punkte.de/2019/06/32360.html, aufgerufen am 12. 03. 2020). 32 Christiane Bertram/Andrea Kolpatzik (Hrsg.): Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Von der Theorie über die Empirie zur Pragmatik. Frankfurt/M. 2019. 33 Sabine Moller: Zeitgeschichte sehen. Die Aneignung von Vergangenheit durch Filme und ihre Zuschauer. Berlin 2018, vgl. die Rezension von Julian Genten, in: H-Soz-Kult, 29. 08. 2019 (www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26991, aufgerufen am 12. 03. 2020).
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videographierter Zeugnisse von Überlebenden nationalsozialistischer Massenmorde im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I. Die Tübinger Dissertation widmet sich der Frage, wie unterrichtliche Zeitzeugenarbeit nach dem »Ende der Zeitzeugenschaft« noch möglich sein soll und welches Interesse Schülerinnen und Schüler videographierten Zeitzeugnissen entgegenbringen. Ein Schwerpunkt bildet hierbei die Frage nach der Zeitgeschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft.34 Hannes Liebrandt und Michele Barricelli haben einen Sammelband über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus publiziert.35 In der Buchreihe »Beiträge zur Geschichtskultur« erschien eine Festschrift zum 80. Geburtstag des Nestors geschichtsdidaktischer Theoriebildung, Jörn Rüsen. Der Band fragt nach Rüsens Denkwegen und lotet die Zukunftsfähigkeit seiner Historik aus.36 Als Beitrag zur Disziplingeschichte versteht sich das jüngste Buch von Jörg van Norden, der sich an den Bedeutungsschichten und -wandlungen des »Geschichtsbewusstseins« abarbeitet. Es hat eine lange, in Teilen problematische Vergangenheit, von der sich die konstruktivistische Neuinterpretation des Begriffs seit Jeismann und Rüsen abhebt. Zwischen »Leerformel« und »Fundamentalkategorie« schwankend, scheint das Geschichtsbewusstsein nach wie vor unentbehrlich zu sein, um die Geschichtsdidaktik als Wissenschaft vom historischen Lernen zu profilieren.37 Dem Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und Identitätskonstruktion bei in Deutschland geborenen Nachkommen türkischer Immigrant*innen widmet sich eine weitere geschichtsdidaktische Qualifikationsschrift, Lale Yildirims Berliner Dissertation über den »Diasporakomplex« eines »semi-historischen Bewusstseins« von Jugendlichen mit Migrationshintergrund.38 Eine Monographie Elisabeth Gentners
34 Christina I. Brüning: Holocaust Education in der heterogenen Gesellschaft. Eine Studie zum Einsatz videographierter Zeugnisse von Überlebenden der nationalsozialistischen Genozide im Unterricht. Frankfurt/M. 2018, vgl. die Rezension von Heike Krösche in der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019), S. 193–195. 35 Hannes Liebrandt/Michele Barricelli (Hrsg.): Aufarbeitung und Demokratie. Perspektiven und Felder der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in Deutschland. Frankfurt/M. 2019. 36 Thomas Sandkühler/Horst-Walter Blanke (Hrsg.): Historisierung der Historik. Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 39). Köln/Weimar/Wien 2018, vgl. die Rezensionen von Helen Wagner in der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019), S. 214– 218, und Thomas M. Buck in: sehepunkte 19 (2019) H. 10 (http://www.sehepunkte.de/2019/ 10/32542.html, aufgerufen am 12. 03. 2020). 37 Jörg van Norden: Geschichte ist Bewusstsein: Historie einer geschichtsdidaktischen Fundamentalkategorie. Frankfurt/M. 2018, vgl. die Rezension von Michele Barricelli in der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019), S. 211–213. 38 Lale Yildirim: Der Diaspora-Komplex. Geschichtsbewusstsein und Identität bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation. Bielefeld 2018, vgl. die Rezensionen von Sebastian Barsch in: sehepunkte 19 (2019), H. 7/8 (http://www.sehepunkte. de/2019/07/33318.html, aufgerufen am 12. 03. 2020), und Bettina Degner in der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019), S. 223–225.
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fragt nach Potenzialen und Themen interkulturellen Geschichtslernens.39 Ein Sammelband zu den Problemkreisen von Diversität und Inklusion möchte Handbuchwissen vermitteln.40 Martin Lücke und Irmgard Zündorf übertragen in ihrer Einführung in die Public History geschichtsdidaktische Kategorien auf diesen Grenzbereich der Geschichtsdidaktik und illustrieren an praktischen Beispielen die Arbeitsweise dieser Subdisziplin, die an der Freien Universität Berlin mit einem eigenen Masterstudiengang vertreten ist.41 Anders angelegt ist ein von Marko Demantowsky herausgegebener Sammelband, der »Public History« als einen öffentlichen Diskurs über Geschichte und Geltungsansprüche definiert und das Verhältnis zwischen Public History und Schule im internationalen Kontext untersucht.42 Auch in diesem Berichtszeitraum wurden Studien über Institutionen und Akteure des Geschichtsunterrichts veröffentlicht. Monika Fenn hat einen Tagungsband über das historische Lernen in der Elementar- und Primarstufe herausgegeben.43 Wolfgang Jacobmeyer und Holger Thünemann haben schulbezogene Texte über Didaktik und Historik im 19. Jahrhundert zusammengestellt. Die verbreitete Auffassung, die Geschichtsdidaktik jener Zeit sei im Wesentlichen geschichtstheorieferne Unterrichtsmethodik gewesen, wird durch diese Edition zurechtgerückt.44 Thünemann, Meik Zülsdorf-Kersting und eine Reihe jüngerer Kolleginnen und Kollegen haben ferner eine »Theorie des Geschichtsunterrichts« vorgelegt. In diesem Band wird Geschichtsunterricht aus systemtheoretischer Perspektive als Kommunikationsvorgang analysiert und ein Panorama vom historischen Denken über Geschichtsbewusstsein, Emotionen, Kommunikation, Medien und Sprache des Geschichtsunterrichts aufgeblättert.45 39 Elisabeth Gentner: Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2019. 40 Sebastian Barsch u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2019. 41 Martin Lücke/Irmgard Zündorf (Hrsg.): Einführung in die Public History. Stuttgart 2018, vgl. die Rezension von Thorsten Logge in: sehepunkte 18 (2018) H. 12 (http://www.sehepunkte. de/2018/12/31521.html, aufgerufen am 20. 03. 2020). 42 Marko Demantowsky (Hrsg.): Public History and School. International Perspectives. Berlin/ Boston 2018, vgl. die Rezension von Ruth F. Pollmann in: sehepunkte 19 (2019) H. 12 (http:// www.sehepunkte.de/2019/12/33844.html, aufgerufen am 20. 03. 2020). 43 Monika Fenn (Hrsg.): Frühes Historisches Lernen. Projekte und Perspektiven. Frankfurt/M. 2018, vgl. die Rezension von Marcel Ebers in der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019), S. 205–207. 44 Wolfgang Jacobmeyer/Holger Thünemann (Hrsg.): Grundlegung und Ausformung des deutschen Geschichtsunterrichts. Schulische Diskurse zur Didaktik und Historik im 19. Jahrhundert (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 17). Münster 2018. 45 Sebastian Bracke u. a.: Theorie des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/M. 2018, vgl. die Rezension von Hilke Günther-Arndt in: sehepunkte 18 (2018) H. 9 (http://www.sehepunkte.de/ 2018/09/31722.html, aufgerufen am 20. 03. 2020).
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Der Heidelberger Geschichtsdidaktiker Mario Resch hat die Druckfassung seiner Dissertation über die Professionalisierung von Geschichtslehrkräften publiziert. Resch hat einen Vignettentest zur Erfassung der professionellen »Kompetenz für historisches Lernen« durch Aufgabenstellungen entwickelt und validiert, dessen Aufbau sich an der bekannten COACTIV-Studie über die professionelle Kompetenz von Mathematiklehrkräften orientiert.46 Auf die Unterrichtsqualität zielt auch der von Christian Kuchler und Andreas Sommer herausgegebene Sammelband »Wirksamer Geschichtsunterricht«. Das Buch besteht aus Experteninterviews mit bekannten Geschichtsdidaktiker*innen, aus denen die Herausgeber »Professionseinschätzungen« herausdestillieren.47 Einem ›klassischen‹ Thema der Geschichtsdidaktik widmen sich zwei aktuelle Sammelbände eines Herausgeberteams über das Geschichtsschulbuch.48 Der Sammelband »Geschichtsunterricht für Europa« erinnert an die mittlerweile acht Jahrzehnte zurückliegende Publikation der deutsch-französischen Schulbuchempfehlungen und fragt nach ihrer Reichweite in Frankreich und Deutschland.49 Geht es in diesem Band um binationale Perspektiven auf den Geschichtsunterricht, macht Anke John auf die Geschichte und aktuelle Bedeutung nahräumlicher Geschichte aufmerksam: Die Lokal- und Regionalgeschichte, prominent vertreten etwa im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, kann nach Johns Auffassung einen wichtigen Beitrag dazu leisten, das Geschichtsbewusstsein von Schülerinnen und Schülern auszubilden und die Selbstreflexion der Jugendlichen zu befördern.50 Ein empirischer Beitrag zur Stadtgeschichte ist Sebastian Wemhoffs Dissertation über die Kontinuität und Veränderung der Geschichtskultur in der elsässischen Grenzstadt Straßburg.51 Wie die Alltagsgeschichte der DDR im Museum präsentiert wird und wie dieser Gegenstand geschichtskulturell interpre46 Mario Resch: Aufgaben formulieren können. Entwicklung und Validierung eines Vignettentests zur Erfassung professioneller Kompetenz für historisches Lehren. Frankfurt/M. 2018. 47 Christian Kuchler/Andreas Sommer (Hrsg.): Wirksamer Geschichtsunterricht. Hohengehren 2018, vgl. die Rezension von Christian Heuer, in: H-Soz-Kult, 27. 09. 2018 (www.hsozkult.de/ publicationreview/id/reb-27194, aufgerufen am 20. 03. 2020). 48 Christoph Bramann/Christoph Kühberger/Roland Bernhard (Hrsg.): Historisch Denken lernen mit Schulbüchern. Frankfurt/M. 2018, vgl. die Rezension von Nicola Brauch in: sehepunkte 19 (2019) H. 9 (http://www.sehepunkte.de/2019/09/31645.html, aufgerufen am 20. 03. 2020); Christoph Kühberger/Roland Bernhard/Christoph Bramann (Hrsg.): Das Geschichtsschulbuch. Lehren – Lernen – Forschen. Münster/New York 2019. 49 Rainer Bendick u. a. (Hrsg.): Deutschland und Frankreich. Geschichtsunterricht für Europa. France – Allemagne. L’Enseignement de l’Histoire pour l’Europe. Frankfurt/M. 2018. 50 Anke John: Lokal- und Regionalgeschichte. Frankfurt/M. 2018, vgl. die Rezension von Christoph Hamann in der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018), S. 169–171. 51 Sebastian Wemhoff: Städtische Geschichtskultur zwischen Kontinuität und Wandel. Das Beispiel Straßburg 1871 bis 1988 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 18). Münster 2019.
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tiert werden kann, zeigt Regina Göschl in der Druckfassung ihrer Münsteraner Dissertation.52 Die beiden zuletzt genannten Bücher erschienen in der von Saskia Handro und Bernd Schönemann herausgegebenen Reihe »Geschichtskultur und historisches Lernen«. Die von Holger Thünemann u. a. im Verlag Peter Lang herausgegebene Buchreihe »Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und Historisches Denken« ist fortgesetzt worden in einer Festschrift für den Augsburger Geschichtsdidaktiker Karl Filser53, der Buchfassung einer Paderborner Dissertation von Eva Lettermann über die unterrichtliche Thematisierung des Täterhandelns im Nationalsozialismus54 und zuletzt einen Sammelband über Geschichte in der Öffentlichkeit.55 In der Buchreihe »Geschichtsdidaktische Studien«, die Bettina Degner u. a. im Berliner Logos Verlag herausgeben, sind zuletzt zwei Qualifikationsschriften erschienen. Stefanie von Rüden untersucht die Geschichtsbilder historischer Romane vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik.56 Britta Wehen analysiert die Auswirkung der Rezeption von historischen Spielfilmen auf die Erzählmuster von Schülerinnen und Schülern.57 Eine weitere Monographie zur geschichtskulturellen Gattungsgeschichte, thematisch verwandt mit der Arbeit von Rüdens, hat Monika Rox-Helmer im Wochenschau Verlag vorgelegt. Es handelt sich um die Druckfassung ihrer Frankfurter Dissertation über den historischen Jugendroman.58 52 Regina Göschl: DDR-Alltag im Museum. Geschichtskulturelle Diskurse, Funktionen und Fallbeispiele im vereinten Deutschland (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 19). Münster 2019. 53 Karl Filser: Ort der Geschichte – Geschichte vor Ort. Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Wolfgang Hasberg/Eugen Kotte. Frankfurt/M. u. a. 2017. 54 Eva Lettermann: Täterhandeln im Nationalsozialismus. Ein Unterrichtsmodell zum historischen Lernen über die Shoah. Frankfurt/M. u. a. 2018, vgl. die Rezension von Christina Brüning in: sehepunkte 19 (2019) H. 10 (http://www.sehepunkte.de/2019/10/32982.html, aufgerufen am 20. 03. 2020). 55 Christine Gundermann/Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hrsg.): Geschichte in der Öffentlichkeit. Konzepte – Analysen – Dialoge. Berlin u. a. 2019. 56 Stefanie von Rüden: Die Geschichtsbilder historischer Romane. Eine Untersuchung des belletristischen Angebots der Jahre 1913 bis 1933 (Geschichtsdidaktische Studien, Bd. 4). Berlin 2018, vgl. die Rezension von Heike Talkenberger in: H-Soz-Kult, 14. 02. 2019 (www.hsoz kult.de/publicationreview/id/reb-27430, aufgerufen am 20. 03. 2020). 57 Britta Wehen: Macht das (historischen) Sinn? Narrative Strukturen von Schülern vor und nach der De-Konstruktion eines geschichtlichen Spielfilms (Geschichtsdidaktische Studien, Bd. 5). Berlin 2018, vgl. die Rezension von Josef Memminger in: H-Soz-Kult, 24. 09. 2018 (www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26992, aufgerufen am 20. 03. 2020). 58 Monika Rox-Helmer: Der historische Jugendroman als geschichtskulturelle Gattung. Fiktionalisierung von Geschichte und ihr didaktisches Potential. Frankfurt/M. 2019, vgl. die Rezensionen von Torsten Mergen in: literaturkritk.de, 15. 06. 2019 (https://literaturkritik.de/pu blic/rezension.php?rez_id=25735) und Constanze Dorn, in: sehepunkte 19 (2019) H. 9 (http:// www.sehepunkte.de/2019/09/32962.html, beides aufgerufen am 20. 03. 2020).
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Zahlreiche didaktische Analysen und Handreichungen für den Geschichtsunterricht und das Lehramtsstudium zeigen, dass die Geschichtsdidaktik den wohlfeilen Vorwurf der Praxisferne nicht verdient. Aus Platzgründen kann ich diese Publikationen nicht vorstellen, sondern nur annotieren.59 Die Geschichtsdidaktik ist weiterhin vielgestaltig und lebendig. Die Neuerscheinungen des Berichtszeitraums schließen stärker als vor zwei Jahren auch Bücher etablierter Geschichtsdidaktiker*innen ein. Daneben gibt es weiterhin eine ausgeprägte Publikationstätigkeit jüngerer Kolleginnen und Kollegen.
Stellenausschreibungen und Besetzungsverfahren Nach der Besetzungswelle von nicht weniger als zehn Professuren in der Bundesrepublik und drei Professuren in Österreich, über die ich vor zwei Jahren berichten konnte, haben sich Stellenausschreibungen und -besetzungen naturgemäß etwas ausgedünnt. Gegenwärtig sind allerdings eine Reihe von Berufungsverfahren noch im Gang, über deren Ausgang in zwei Jahren zu berichten sein wird. Zu berichten ist an dieser Stelle über drei Berufungen: Meik Zülsdorf-Kersting wurde auf eine W 2-Professur für Didaktik der Geschichte an der Universität Hannover berufen. Lars Deile wurde nach erfolgreicher Tätigkeit als Juniorprofessur für Didaktik und Theorie der Geschichte zum Universitätsprofessor für diese Fächer an der Universität Bielefeld ernannt. Holger Thünemann hat im Ergebnis von Bleibeverhandlungen den Ruf auf eine W 3-Professur für Theorie und Didaktik der Geschichte an der Universität zu Köln angenommen. Allen 59 Helene Albers u. a.: Schulpraktika im Fach Geschichte betreuen. Konzeption und Reflexion fachdidaktischer Lehrveranstaltungen. Frankfurt/M. 2018; Heinrich Ammerer: Historische Orientierung im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2019; Steffen Barth/Daniel Kettenhofen: Der Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 2019; Wolfgang Buchberger/Nikolaus Eigner/Christoph Kühberger: Mit Concept Cartoons historisches Denken anregen. Ein methodischer Zugang zum subjektorientierten historischen Lernen. Frankfurt/M. 2019; Martin Buchsteiner/Tobias Lorenz/Jan Scheller: Medien analysieren im Geschichtsunterricht. Kompetenzorientierte und binnendifferenzierte Aufgaben für Karten, Bilder, Plakate, Karikaturen, Schemata, gegenständliche Quellen, Statistiken, Texte und Lieder. Frankfurt/M. 2018; Markus Drüding/Martin Schlutow: Vergleich(en) im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2019; Robert Rauh: Geschichte kompetent unterrichten. Wie sich Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht umsetzen lässt. Frankfurt/M. 2018; Michael Sauer: Begriffslernen und Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2019; Holger Schmenk/Markus Veh: Leitfaden Praktikum im Fach Geschichte. Frankfurt/M. 2019; Ulrich Schnakenberg (Hrsg.): Deutsche Geschichte in Karikaturen. Eine visuelle Geschichte unserer Demokratie. Frankfurt/M. 2019; Christian K. Tischner: Historische Reden im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2. Aufl. 2019; Eva Wolff: Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe II. Frankfurt/M. 2019; Heike Wolter: Forschend-entdeckendes Lernen im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2018.
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Kollegen gratuliere ich herzlich und wünsche ihnen weiterhin viel Erfolg in Forschung und Lehre.
DFG-Fachkollegienwahl Im Oktober/November dieses Jahres steht die Neuwahl der DFG-Fachkollegien an. Ich versage mir hier kritische Bemerkungen zum Modus der Kandidatenkür. Immerhin ist bemerkenswert, dass sich unter den elf Kandidatinnen und Kandidaten für das Fachkollegium Neuere und Neueste Geschichte auch unser Oldenburger Kollege Dietmar von Reeken befindet.60 Ich möchte Sie herzlich bitten, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen und mit ihrer Stimme dafür zu sorgen, dass die Geschichtsdidaktik durch einen kompetenten Professor in den Gremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft vertreten ist.
Umfrageergebnisse Ich komme nun zu den Ergebnissen der bekannten Umfrage zum Stand der Disziplin, die ich im August dieses Jahres durchgeführt habe. Der Fragebogen blieb unverändert, so dass Vergleiche mit den Vorjahren möglich sind. Von 58 versandten Fragebögen wurden diesmal nur 22 zurückgeschickt. Das ergibt eine Rücklaufquote von 38 Prozent, die gegenüber 2017 nochmals zurückgegangen ist. Die Umfrage wird offenbar nur noch von einer Minderheit der geschichtsdidaktischen Standorte als relevantes Erhebungsinstrument betrachtet. Das finde ich sehr bedauerlich. Alle nachfolgend referierten Ergebnisse stehen daher unter dem Vorbehalt, dass statistisch gesicherte Aussagen über eine so kleine Kohorte kaum zu treffen sind und bestenfalls Tendenzen ablesbar sind.
Ausstattung Die personelle und sachliche Ausstattung der geschichtsdidaktischen Standorte hat sich nach Einschätzung der Befragten weiter verbessert. Für die Lehre wird sie von 73 Prozent für ausreichend gehalten, gegenüber 69 Prozent vor zwei und 65 Prozent vor vier Jahren. Nach wie vor fehlen Dauerstellen und es muss auch für anspruchsvollere Aufgaben auf Lehrbeauftragte zurückgegriffen werden. 60 Kandidierendenliste des Fachbereichs Neuere und Neueste Geschichte, https://www.dfg.de/ download/pdf/dfg_im_profil/gremien/fachkollegien/fk-wahl2019/kandidierendenliste.pdf (aufgerufen am 20. 03. 2020).
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Bezüglich der Forschung wird die Personalausstattung in etwa so beurteilt wie vor zwei Jahren. Jeweils 50 Prozent halten sie für ausreichend und unzureichend, wobei fehlende Forschungsressourcen dem hohen Lehrbedarf geschuldet sind. Die finanzielle Ausstattung der Professuren halten 73 Prozent der antwortenden Standorte für ausreichend, deutlich mehr als vor zwei Jahren (56 Prozent, das sind 16 Standorte). Fünf Standorte finden ihre finanzielle Ausstattung unbefriedigend. Ich tue mich schwer, aus solchen Werten Schlüsse zu ziehen. Man wird abwarten müssen, ob ein veränderter Trend vorliegt oder ein momentanes Zufallsergebnis.
Verhältnis zur Fachwissenschaft Im Verhältnis zwischen Fachwissenschaft und Geschichtsdidaktik hat sich der positive Trend der letzten Jahre fortgesetzt. 2015 sahen sich 61 Prozent der Antwortenden in ihren Institutionen wertgeschätzt, 2017 waren es 77 Prozent, in diesem Jahr 82 Prozent. Die freien Antworten zeigen, dass ungeachtet des insgesamt positiven Befunds Verbesserungsmöglichkeiten gesehen werden: Bemängelt wird eine zu geringe Anerkennung der Geschichtsdidaktik als Fach, nicht nur ihrer Fachvertreterinnen und Fachvertreter, im Einzelfall sogar fehlende Satisfaktionsfähigkeit in den Augen der Historikerinnen und Historiker des eigenen Fachbereichs.
Studiengänge Die Modularisierung der Lehramtsstudiengänge ist inzwischen weiter vorangeschritten und wird überwiegend akzeptiert. Vor zwei Jahren bewerteten 63 Prozent der Befragungsteilnehmer die Umstellung auf das B.A./M. Ed.-System positiv, diesmal sind es 82 Prozent. Positiv werden die Stärkung und Festigung der Geschichtsdidaktik hervorgehoben, negativ, wie schon in den Vorjahren, die Bürokratisierung und »Verschulung« des Studiums im Zeichen von »Bologna« sowie unerwünschte Auswirkungen auf die Studienmotivation. Die vor zwei Jahren ablesbare Konsolidierung geschichtsdidaktischer Studienanteile an den Lehramtsstudiengängen wird durch die Befragungsergebnisse dieses Jahres bestätigt. Nur noch rund 14 Prozent der Antwortenden (das sind drei Standorte) – gegenüber 45 Prozent im Jahr 2015 und 27 Prozent 2017 – zeigen gestiegene oder in Kürze wachsende Studienanteile an, wohingegen dies bei 82 Prozent nicht der Fall ist. Der Anteil der Geschichtsdidaktik an den Lehramtsstudiengängen wird indes weniger günstig beurteilt als vor zwei Jahren. Seinerzeit hielten ihn 58 Prozent der
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Befragungsteilnehmer für genau richtig, 38 Prozent für zu gering. In diesem Jahr kommt die letztgenannte Gruppe auf 50 Prozent, während nur noch 45 Prozent den Anteil der Geschichtsdidaktik für genau richtig halten. Man sollte dies im Auge behalten, weil sich aus den freien Antworten erneut eine gewisse Tendenz ablesen lässt, die Studienanteile der Geschichtsdidaktik zugunsten neuer Aufgaben wie Inklusion, Sprachförderung etc. indirekt oder sogar qua Leistungspunkte zu vermindern, die als vermeintlich fachübergreifende Anforderungen den Bildungswissenschaften zugewiesen werden. Das Praxissemester ist in vielen Standorten Realität. Es löst aber weder Begeisterung noch entschiedene Abwehr aus. Rund 46 Prozent der Befragungsteilnehmer sind zufrieden oder sehr zufrieden, 27 Prozent sind es nicht, ebenso viele äußern sich gar nicht. Die freien Antworten ähneln denjenigen von 2015 und 2017: Vorzüge werden nach wie vor in der steigenden Akzeptanz geschichtsdidaktischer Problemstellungen und einem höheren Reflexionsniveau der Studierenden gesehen, Nachteile im hohen Organisations- und Betreuungsaufwand, dem zu großen Stellenwert schul- und allgemeinpädagogischer Problemstellungen und einer ungünstigen Einbettung des Praxissemesters in den Studienverlauf. Das Akkreditierungskarussell dreht sich mit etwas verringerter Geschwindigkeit weiter. 2015 hatten 13 Standorte solche Beurteilungen ihrer Leistungsfähigkeit hinter sich, 2017 waren es neun, diesmal acht Standorte. An immerhin fünf von ihnen wirkte sich die Evaluation positiv auf die Geschichtsdidaktik aus, materiell etwa durch die Forderung der Akkreditierungsagentur, den Personalbestand der Geschichtsdidaktik zu erhalten oder auszubauen, teils auch durch die Zuweisung unbefristeter Hochdeputat-Stellen im Gefolge von Akkreditierungen. 2017 war an dieser Stelle Fehlanzeige zu vermelden. Insofern ist eine leichte Verbesserung eingetreten.
Qualität des geschichtsdidaktischen Studiums Auch in diesem Jahr wurde nach den Fähigkeiten und Fertigkeiten gefragt, über die Studierende nach Meinung der Befragten verfügen müssen, um erfolgreich Geschichtsdidaktik zu studieren. Diese Frage erbrachte interessante Ergebnisse, die in ihrer Gesamtheit ein vielschichtiges Bild von Professions- und DidaktikVerständnissen vermitteln. Ich greife hier nur einige der Antworten heraus, die mir für das Sample repräsentativ erscheinen: – »Historisches Basiswissen; geschichtstheoretisches Interesse; Allgemeinbildung und offene Haltung«;
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– »Die Grunderwartung richtet sich an Aufgeschlossenheit für die Fachdisziplin und für die Fachwissenschaft, Offenheit für einen forschenden Blick auf Schüler/innen und ihr historisches Lernen, auf den Geschichtsunterricht und vor allem auch den eigenen Unterricht, Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Fachdisziplin«; – »Interesse an und Neugier auf die Wahrnehmung von Phänomenen mit Vergangenheitsbezug in der Geschichtskultur im weitesten Sinne«; – »Bereitschaft, das Lehramtsstudium (1. Phase) nicht vornehmlich als eine Ausbildung im Sinne einer Einführung in bewährte und beizubehaltende Wissensbestände, Strukturen, Methoden etc. zu verstehen, sondern als Befähigung zur Reflexion der Natur, Bedingungen, Probleme, Herausforderungen und Praxen der Disziplin(en) und des disziplinären und institutionellen Handelns«; – »Nach unseren Vorstellungen ist Geschichtsdidaktik nichts, was sich an das geschichtswissenschaftliche Studium anschließt, sondern eine Perspektive, die von Beginn des Studiums an eingenommen werden sollte […] – daher können außer den normalen Studieneingangsvoraussetzungen und einem grundsätzlichen Interesse an Geschichte und deren Vermittlung/Rezeption keine weiteren (spezifischen) Voraussetzungen genannt werden«. Zu Recht haben Befragte auf die Schwierigkeit hingewiesen, das Vorhandensein solcher Voraussetzungen zu quantifizieren – das ist das grundsätzliche Dilemma von Kompetenzmessungen. Immerhin haben die Zahlen eine gewisse Aussagekraft. (Ich beziehe mich zunächst auf die Anzahl der Befragungsteilnehmer, nicht auf Prozentanteile.) Demnach sind die Kolleginnen und Kollegen an neun Standorten der Auffassung, dass ihre Studierenden den definierten Anforderungen im Durchschnitt gerecht werden; an acht Standorten ist dies nicht der Fall; an weiteren vier Standorten gibt es zu dieser Frage kein klares Meinungsbild. Vor zwei Jahren war das Gesamtbild ähnlich, aber die Verteilung zwischen den Gruppen wich ab: Seinerzeit waren 50 Prozent der Befragungsteilnehmer unzufrieden mit ihren Studierenden, gegenüber 37 Prozent im Jahr 2019; zufrieden waren 27 Prozent gegenüber 41 Prozent in der aktuellen Befragung. Bei den kleinen Fallzahlen der diesjährigen Erhebung würde ich daraus aber keine weitergehenden Schlüsse ziehen.
Qualifikationsarbeiten und Projekte An zehn Standorten wurden im Berichtszeitraum geschichtsdidaktische Promotionen abgeschlossen (elf waren es 2017). An fast allen, nämlich 20, antwortenden Standorten laufen insgesamt rund 70 geschichtsdidaktische Promoti-
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onsvorhaben. Von diesen entfallen allein 58 auf vier forschungsstarke Professuren. Das Verhältnis zwischen laufenden und abgeschlossenen Vorhaben liegt im diesjährigen Sample bei Sieben zu Eins. Die Frage nach der Abbruchquote drängt sich auf, lässt sich aber gegenwärtig nicht beantworten. Tendenziell dürfte der Anteil abgebrochener oder aus anderen Gründen nicht fertig gestellter Doktorarbeiten in der Geschichtsdidaktik über derjenigen der Gesamtstatistik an deutschen Universitäten liegen, die sich auf ein rundes Drittel der Dissertationen beläuft. Habilitationen wurden im Berichtszeitraum nicht abgeschlossen. An sechs Standorten laufen derzeit Habilitationsverfahren. Die Anzahl ist allerdings unklar, weil zwei Standorte hierüber keine Auskunft gegeben haben. Es sind mindestens fünf Verfahren. 2017 waren es sieben Standorte mit insgesamt neun Habilitationsverfahren. Rund 87 Prozent der Befragungsteilnehmer (80 Prozent waren es 2017) haben Drittmittel eingeworben oder sind an Drittmittelprojekten beteiligt. Es würde den Rahmen dieses Berichts sprengen, die vielfältigen Forschungsthemen auch nur annähernd vollständig wiederzugeben. Nach wie vor spielt die »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« des BMBF eine wichtige Rolle in der Drittmittelakquise. Dafür liefen im Berichtszeitraum offenbar keine DFG-Projekte, nachdem zwischen 2013 und 2017 bereits ein Rückgang solcher Forschungsvorhaben zu konstatieren war. An zwei Standorten wurde ein erfolgloser Versuch gemacht, Mittel der DFG einzuwerben. Bezüglich der DFG-Antragstellung besteht ein Ungleichgewicht gegenüber anderen kleinen Fächern wie der Wissenschaftsgeschichte, was in unserem Fall mit der betrüblichen Neigung der Gutachter zusammenhängt, Anträge nicht nach der Originalität und Qualität von Fragestellungen zu beurteilen, sondern nach ihrer »Methodenförmigkeit«, wie es in einem Fragebogen treffend heißt. 17 Standorte, rund 77 Prozent der Befragungsteilnehmer, sind international vernetzt. Das ist eine deutliche Steigerung gegenüber dem letzten Berichtszeitraum, wo 65 Prozent ermittelt wurden – freilich schon seinerzeit in den Grenzen überschaubarer Gesamtzahlen. Das Fazit zu diesem Unterpunkt fällt nicht schwer: Die Geschichtsdidaktik ist ein kleines, aber trotz beschränkter Ressourcen forschungsstarkes Fach. Man sollte diesen Befund gelegentlich kommunizieren, wenn wieder einmal landläufige Vorurteile über die Geschichtsdidaktik reproduziert werden oder diese sogar mit »Geschichtspädagogik« verwechselt wird, wie unlängst in einem Spitzengremium der deutschen Geschichtswissenschaft.
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Standing der Geschichtsdidaktik Ich komme damit zum letzten Punkt der Umfrage, zum Standing der Geschichtsdidaktik. Die Kolleginnen und Kollegen haben sich hier wieder recht ausführlich geäußert und der KGD ein wertvolles Stimmungsbild übermittelt. In einer Reihe von Fragebögen wird auf die Standortabhängigkeit des Standings hingewiesen, wie ja überhaupt die Umfrage zum Stand der Disziplin recht unterschiedliche Geschichtsdidaktik-Kulturen zutage fördert, also ebenfalls standortabhängig ist. Wie im letzten Berichtszeitraum wird die Stellung der Geschichtsdidaktik positiv beurteilt. Das Fach habe Expertise erworben, sich weiter professionalisiert und sei sichtbarer geworden. Auch die Qualität des Nachwuchses wird hervorgehoben. Die fast unüberschaubare Zahl geschichtsdidaktischer Schriftenreihen zeige die Produktivität des Fachs. In verschiedenen Beiträgen wird der Sorge Ausdruck verliehen, dass sich die Geschichtsdidaktik in ein ungutes Konkurrenzverhältnis zur derzeit boomenden Public History hineinmanövriere oder hineinmanövrieren lasse, obwohl (oder weil?) beide Subdisziplinen ähnliche Zielsetzungen verfolgten. In einem gewissen Spannungsverhältnis zu solchen Beurteilungen und Prognosen steht die Empfehlung, sich auf den fachlichen Kern dessen zu besinnen, was die Geschichtsdidaktik unverwechselbar macht, darunter die Pragmatik des Geschichtsunterrichts. Diese komme im Vergleich zur Theorie und vor allem zur Empirie oftmals zu kurz, so dass die Kommunikation mit den Lehrerinnen und Lehrern erschwert sei. In einigen Fragebögen wird auf die politische Relevanz der Geschichtsdidaktik hingewiesen und eine klare Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen eingefordert. Betont wird die »Herausforderung, die plurale, diversitätsoffene, auf die agency aller Mitglieder der Gesellschaft im politischen und auch historischen Denken sowie ihre Befähigung dazu gerichtete Konzeption von Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht gegen demokratiefeindliche Tendenzen zu sichern und zu verteidigen.«
Bilanz der Befragung Die objektive Situation der Geschichtsdidaktik hat sich nach Auffassung der Befragungsteilnehmer weiter verbessert: personell, in den Studiengängen, im Verhältnis zum jeweiligen Kollegium, auf dem Gebiet ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichungen wie auch in der Forschung. Über die Zukunft der Geschichtsdidaktik besteht naturgemäß kein Konsens, weil die Auffassungen über
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den »Markenkern« des Fachs und seine politischen Aufgaben divergieren. Ich meine aber, dass insgesamt Grund zu gemessener Zuversicht besteht.
Ausblick Die Geschichtsdidaktik wächst und gedeiht. Sie ist vielgestaltig sowohl in ihren Forschungen als auch in ihrem Fachverständnis, wobei ein Grundkonsens über ein konstruktivistisches Verständnis von Geschichte und Narrativität vorzuherrschen scheint. Die Arbeitskreise der KGD sind lebendig, und neue Arbeitskreise werden gebildet. Die Nachwuchsarbeit der KGD ist bemerkenswert rege. Sie verfügt mit ihren zweijährigen Tagungen an wechselnden Universitäten und den zugehörigen Tagungsbänden auch über ein wirksames Instrument der Nachwuchsförderung. Persönlich habe ich mich darüber gefreut, dass den Bemühungen des Vorstands die Anerkennung nicht versagt wurde, die Geschichtsdidaktik durch Kooperationen, Medienarbeit und geeignete Tagungsformate attraktiver zu machen. Die Haupttagungen der KGD bieten Gelegenheiten zum »Agenda Setting«, zur Positionsbestimmung und Kursabsteckung. Das Verhältnis von Sprache und Geschichte im historischen Denken und Lernen ist ein solches Thema, an diesen Tagen und sicher über sie hinaus.
Markus Bernhardt
Sprache(n) des Geschichtsunterrichts – Sprachliche Vielfalt und Historisches Lernen. Einführung in die Tagung
Angesichts der zunehmenden Heterogenität in den Schulklassen unseres Landes und der veränderten Lese- und Schreibgewohnheiten im Rahmen der Nutzung von und der Kommunikation in digitalen Medien hat das Thema Sprache gerade jetzt Aufmerksamkeit in politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussionen gewonnen.1 Insofern kann man sagen, dass sich die Konferenz für Geschichtsdidaktik mit dem Thema ihrer aktuellen Zweijahrestagung im Zentrum dieser Diskurse befindet. Die Wahl des Themas war also richtig und wir alle haben hier die Gelegenheit, es durch Austausch und intensive Diskussion zu vertiefen und weiterzuentwickeln. Wir haben dem im Übrigen dadurch Rechnung getragen, dass wir in der vorliegenden Publikation Sprachsensiblen Geschichtsunterricht durchweg großschreiben und damit zum geschichtsdidaktischen Begriff erheben. Die bildungspolitische Debatte hat seit den ernüchternden PISA-Ergebnissen im Hinblick auf die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern an deutschen Schulen deutlich an Fahrt aufgenommen, aber die daraus erwachsene Forderung nach Sprachförderung adressiert, so Saskia Handro, »ganz heterogene Problemlagen schulischen Lernens«. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht befinden sich daher in einer schwierigen Gemengelage, in der fachliche und überfachliche Sprachstandsdiagnosen erstellt sowie differenzierende sprachsensible Lernumgebungen geformt werden sollen, die den heterogenen Sprach- und Lernvoraussetzungen in den Schulklassen gerecht werden.2 Kurz: es 1 Vgl. den Beschluss der Kultusministerkonferenz v. 5. 12. 2019 »Empfehlung Bildungssprachliche Kompetenzen in der deutschen Sprache stärken« (https://www.kmk.org/fileadmin/Datei en/pdf/PresseUndAktuelles/2019/2019-12-06_Bildungssprache/2019-368-KMK-Bildungsspra che-Empfehlung.pdf, aufgerufen am 10. 02. 2020). Zu beachten ist auch die dazugehörige »Dokumentation der aktuellen Maßnahmen in den Ländern nach den zehn Grundsätzen einer erfolgreichen Stärkung bildungssprachlicher Kompetenzen in der deutschen Sprache« (https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2019/2019-12-06_Bildung ssprache/2019-368-KMK-Bildungssprache-Beispiele.pdf, aufgerufen am 10. 02. 2020). 2 Saskia Handro: Sprache(n) und historisches Lernen. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 5–24, hier S. 9.
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muss eine fachliche Antwort auf die sprachlichen Herausforderungen im Geschichtsunterricht gefunden werden. Die Geschichtsdidaktik versucht dem seit Längerem nachzukommen, indem sie den Zusammenhang von sprachlichem und historischem Lernen näher erkundet.3 Dabei ist sie mit der Schwierigkeit konfrontiert, verschiedene Sprachforschungszweige zu berücksichtigen, um die Erfordernisse einer fachsprachlichen Förderung zu identifizieren. Sie muss unter dieser Maßgabe geschichtstheoretische,4 geschichtsdidaktische5 und linguistisch-sprachdidaktische6 Perspektiven miteinander kombinieren. Das ist es aber nicht allein: es existieren mit Lesen, Schreiben und Kommunizieren drei sprachpraktische Handlungen, die zwar durch den Begriff Sprache zusammengehalten werden. Aber sie werden
3 Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Markus Bernhardt/Mareike-Cathrine Wickner: Die narrative Kompetenz vom Kopf auf die Füße stellen. Sprachliche Bildung als Konzept der universitären Geschichtslehrerausbildung. In: Claudia Benholz/Magnus Frank/Erkan Gürsoy (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart 2015, S. 281–296, hier S. 283–286; Handro (Anm. 2), S. 15; Dies.: Sprachbildung im Geschichtsunterricht: Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. In: Katharina Grannemann/Sven Oleschko/Christian Kuchler (Hrsg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. Münster/New York 2018, S. 13–41, hier S. 15–23. Für die außerdeutsche Forschung siehe z. B. Caroline Coffin: Learning to Write History. In: Written Communication 21 (2004) H. 3, S. 261–289; Dies.: Historical Discourse. The Language of Time, Cause and Evaluation. London 2006; Mary Schleppegrell/Stacey Greer/ Sarah Taylor: Literacy in history. Language and meaning. In: Australian Journal of Language and Literacy 31 (2008) H. 2, S. 174–187; Jannet van Drie/Carla van Boxtel: Historical Reasoning: Towards a Framework for Analyzing Students’ Reasoning about the Past. In: Educational Psychology Review 20 (2008) H. 2, S. 87–110. 4 Die geschichtstheoretische Befassung mit dem Problem der Sprache als wissenschaftliches Werkzeug kann hier nicht umfassend, sondern nur skizzenhaft dargestellt werden. Vgl. Bernhardt/Wickner (Anm. 3); zur Entstehung der sprach- und erkenntniskritischen Reflexion über die Frage, inwieweit die durch Sprache dargestellte Geschichte dem Gegenstand der Darstellung entsprechen könne vgl. Wolfgang Hardtwig: Formen der Geschichtsschreibung. Varianten des historischen Erzählens. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek 1998, S. 169–188; zum Historischen Erzählen vgl. Jörn Rüsen: Historisches Erzählen. In: Ders.: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte. Köln 2001, S. 43–105; zum »linguistic turn« in der Geschichtswissenschaft vgl. z. B. Stefan Haas: Theory Turn. Entstehungsbedingungen, Epistemologie und Logik der Cultural Turns in der Geschichtswissenschaft. In: Ders./Clemens Wischermann (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffs in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 2015, S. 11–44; zur Forderung einer »Textsortenlehre der Geschichtsliteratur« vgl. Johannes Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). Stuttgart 2000, S. 11–31 (dort auch ein Forschungsbericht über die Narrativitätsdiskussion der 1970er Jahre, S. 23–26). 5 Wie Anm. 3. 6 Vgl. dazu Handro (Anm. 3), S. 23–27.
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in der Leseforschung,7 in der Erst- und Zweitspracherwerbsforschung,8 in der angewandten Sprachwissenschaft9 oder in der psychologischen Linguistik10 – um nur eine Auswahl zu nennen – mit ganz unterschiedlichen Methoden und Hintergrundtheorien untersucht. Das hat dazu geführt, dass sich auch in der Geschichtsdidaktik verschiedene Forschungsrichtungen etabliert haben, die sich in Anlehnung an linguistische Forschungen dezidiert dem Lesen,11 Schreiben12 oder Kommunizieren13 widmen. Gegen diese Orientierung an sprachdidaktischen Theorien wird aus der Geschichtsdidaktik verschiedentlich die eigene Fachtradition ins Spiel gebracht, die hermeneutische Verfahren bei der Analyse von Quellen und narrative Verfahren bei der Formulierung von Darstellungen in den Vordergrund stellt.14 Es wird ins Feld geführt, dass sich das Forschungsinteresse der linguistischen und vor allem der sprachdidaktischen Disziplinen auf Strategien des Wissenserwerbs durch Texte und auf deren sprachliche Strukturen bezieht.15 Diese Strategien entsprächen nicht oder kaum dem hermeneutischen Verstehen und der narrativen Kompetenz, welche die zentralen sprachlichen Operationen des Fachs Geschichte darstellten. Hier besteht erhöhter Klärungs-
7 Ulrich Schiefele u. a. (Hrsg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Wiesbaden 2004; David Rose/J. R. Martin: Learning to write, reading to learn. Genre, knowledge and pedagogy in the Sydney school. Bristol 2012. 8 Hans H. Reich u. a.: Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher. Ein Überblick über den Stand der nationalen und internationalen Forschung. Hamburg 2002; Erika Hoff: Language Development. Belmont 5. Aufl. 2014. 9 Karlfried Knapp u. a. (Hrsg.): Angewandte Linguistik. Tübingen/Basel 3. Aufl. 2011. 10 Horst M. Müller: Psycholinguistik – Neurolinguistik. Die Verarbeitung von Sprache im Gehirn. Paderborn 2013. 11 Christian Mehr/Kerstin Werner: Geschichtstexte verstehen. Sinnerschließendes Lesen als historisches Lernen. In: Geschichte lernen 25 (2012) H. 148, S. 2–11; Hilke Günther-Arndt: PISA und der Geschichtsunterricht. In: Dies. (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 254–264; Manuel Köster: Historisches Textverstehen. Rezeption und Identifikation in der multiethnischen Gesellschaft. Berlin 2013. 12 Josef Memminger: Schüler schreiben Geschichte. Kreatives Schreiben im Geschichtsunterricht zwischen Fiktionalität und Faktizität. Schwalbach/Ts. 2007; Olaf Hartung: Geschichte – Schreiben – Lernen. Empirische Erkundungen zum konzeptionellen Schreibhandeln im Geschichtsunterricht. Münster u. a. 2013; Mareike-Cathrine Wickner: Über die Vorzüge einer textsortenbasierten Schreibförderung im Geschichtsunterricht. Forschungsergebnisse aus dem SchriFT-Projekt. In: Heike Roll u. a. (Hrsg.): Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen. Empirische Befunde aus den Fächern Geschichte, Physik, Technik, Politik, Deutsch und Türkisch. Münster 2019, S. 129–148. 13 Gerhard Henke-Bockschatz: Viel benutzt, aber auch verstanden? In: Geschichte lernen 20 (2007) H. 116, S. 40–45; Birgit Wenzel: Über Geschichte kommunizieren. In: Hilke GüntherArndt/Saskia Handro (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 5. Aufl. 2015, S. 191–202. 14 Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010, S. 208–210. 15 Günther-Arndt (Anm. 11), S. 262–264.
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bedarf, wie diese fachlichen Perspektiven interdisziplinär zusammengeführt werden können. Ich werde demgemäß im Folgenden die geschichtstheoretischen, geschichtsdidaktischen und linguistischen Perspektiven auf den Zusammenhang von Sprache und Fach skizzieren. Was hat also das Fach selbst zu bieten?
1.
Sprache im Fach Geschichte – Geschichtstheorie
Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Geschichte gibt es nicht erst seit den PISA-Untersuchungen der 2000er Jahre, sondern sie sind so alt wie das Fach selbst. Die Sprachreflexion bewegte sich aber bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Rahmen der Rhetorik, als deren Teil die Geschichte bis dahin fungierte.16 Einen Theoretisierungsschub erhielt sie mit ihrer Verwissenschaftlichung um 1800, als sie »als ein sich aus den vielen Einzelgeschichten zusammensetzender Realzusammenhang zeitlicher Veränderung« wahrgenommen und ihr der Status eines wissenschaftlichen Objekts mit eigenen Qualitäten zuerkannt wurde.17 Konstitutiv für das wissenschaftliche Nachdenken über Geschichte wurde die Frage, inwieweit gegenwärtige Sprache die Wirklichkeit vergangenen Geschehens abzubilden in der Lage sei. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ging es dabei nicht mehr um die literarische Qualität der Historiographie, sondern um grundsätzliche Fragen nach den Möglichkeiten historischer Erkenntnis durch Sprache.18 Für die Geschichte als Wissenschaft war es im 19. Jahrhundert deshalb bedeutsam, sich von literarischen Formen der Geschichtsschreibung abzugrenzen und dafür die historische Methode auszudifferenzieren, um damit einen wissenschaftlichen »Garanten wahrer Aussagen über die Geschichte« zu gewinnen, wie Friedrich Jaeger es formuliert.19 So entstand die Überzeugung, dass sich der Historiker mit Hilfe der historischen Methode objektiv über den Realzusammenhang Geschichte äußern könne, während das Literaten mangels wissenschaftlicher Absicherung nicht vermögen. Auch wenn die hier aufscheinende Subjekt-Objekt-Dichotomie bei der Erkenntnisgewinnung heute sehr viel kritischer gesehen wird,20 kann man sagen, dass die spezifische Wissenschaftlichkeit 16 Wolfgang Hardtwig: Geschichtsstudium, Geschichtswissenschaft und Geschichtstheorie in Deutschland von der Aufklärung bis zur Gegenwart. In: Ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft. München 1990, S. 13–57, hier S. 13f. 17 Friedrich Jaeger: Geschichtstheorie. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek 1998, S. 724–756, hier S. 727. 18 Wolfgang Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der neueren Geschichtsschreibung. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek 1998, S. 245–260. 19 Jaeger (Anm. 5), S. 727. 20 Ute Daniel: Objektiv/subjektiv. In: Dies.: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt/M. 5. Aufl. 2006, S. 390–400.
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der Geschichte durch Heuristik, Kritik und Interpretation im historischen Forschungsprozess verbürgt werden soll. Mittels der methodisch reflektierten und reflexiven Analyse von Quellen gewinnen historisch Forschende die Möglichkeit, wahrheitsfähige oder objektive Aussagen zu produzieren.21 Dass dabei sprachliche Handlungen in vielfacher Ausprägung zum Einsatz kommen, ist evident. Von Karl Georg Faber ist dieser Prozess in seiner »Theorie der Geschichtswissenschaft« von 1974 deshalb als Übersetzungsvorgang von vergangener Sprache in gegenwärtige Sprache beschrieben worden.22 Gleichwohl ist die Geschichtswissenschaft die Nähe zur Literatur nie ganz losgeworden. Das hängt damit zusammen, dass die auf dem Wege der Forschung gewonnenen Erkenntnisse in eine Darstellung gebracht werden müssen, um lebenspraktische Wirksamkeit zu entfalten.23 Möglicherweise ist es dieses Unbehagen über die Nähe zur Literatur, dass nicht alle Historikerinnen und Historiker der Auffassung folgen wollen, die – eben auch literarische – Erzählung sei die spezifische Form des wissenschaftlichen Erklärens von Geschichte.24 Der Einwand, den zum Beispiel Johannes Süßmann vorbringt, lautet, dass wissenschaftliche Textformen wie der Forschungsaufsatz, das Handbuch oder die geschichtsphilosophische Abhandlung nicht der Logik literaturwissenschaftlicher Erzählmuster folgen und »dass Erzählen nicht ausreicht, um darauf Theorien der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsbewusstseins zu gründen«.25 Es gibt zu diesen Fragen einen breiten geschichtstheoretischen und geschichtsdidaktischen Diskurs, der hier nicht thematisiert werden muss.26 Im Rahmen unserer Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Geschichte ist es jedoch wichtig hervorzuheben, dass auch für den Geschichtsunterricht gilt: Narrative Aussagen sind vielleicht die maßgeblichen, aber nicht die einzigen, die dort vorzufinden sind. Vielmehr gehören Beschreiben, Erklären, Begründen, Argu21 Derartig idealtypisch formulierte Feststellungen zur Wahrheitsfähigkeit von Geschichtsforschung wird heute ebenfalls stark kritisiert, vgl. Achim Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit, Essays zur Geschichtstheorie. Frankfurt/M. 2016, S. 89–117 (Kapitel »Wirklichkeit«). 22 Karl-Georg Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft. München 1974, S. 147–164 (Kapitel »Zur Sprache der Historie«). 23 Einen gewissen Höhepunkt erlangte diese literaturwissenschaftliche Kritik, Fiktionales und Historiographisches seien im Grunde dasselbe, mit der Publikation von Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M. 1991 (engl. 1973). 24 So wissenschaftstheoretisch begründet von Arthur C. Danto: Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965 (dt. 1974); vgl. auch Rüsen (Anm. 4). 25 Johannes Süßmann: Erzählung. In: Stefan Jordan (Hrsg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2002, S. 85–88, hier S. 87. 26 Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster 2013, S. 317–333, hier S. 321–323.
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mentieren und ähnliche diskursive Sprachhandlungen ebenso zum Repertoire der Forschung wie des Geschichtsunterrichts.27 Das gilt besonders, wenn man nicht nur ans Schreiben, sondern auch ans Kommunizieren denkt.
2.
Geschichtsdidaktik
Auch die Geschichtsdidaktik hat eine längere Forschungstradition, was das Thema Sprache angeht. So trat Friedrich Lucas bereits in den 1960er Jahren mit einer Arbeit »Zur Funktion der Sprache im Geschichtsunterricht« hervor.28 Diese Publikation und die Beiträge eines nachfolgenden Sammelbandes zur Geschichtsdarstellung aus dem Jahr 198229 zeigen die Richtung dieser frühen Untersuchungen: Im Zentrum standen ideologiekritische Zugriffe auf den Text. Es wurde nach verschleiernden Begriffen und Formulierungen gesucht oder subjektive Voraussetzungen der historischen Textproduktion entschlüsselt, welche möglicherweise indoktrinierenden Charakter haben. Um Schülerinnen und Schüler als Adressaten dieser Texte und als Produzenten von eigenen Texten ging es in diesen Aufsätzen aber nicht. Die Nutzer und Produzenten von historischen Texten kamen seit den 1990er Jahren verstärkt in den Blickpunkt von empirischen Untersuchungen, weil immer deutlicher hervortrat, dass viele Schülerinnen und Schüler weder Quellen noch Schulbuchtexte angemessen verstehen können. Bodo von Borries, HansJürgen Pandel und Gerhard Henke-Bockschatz haben beispielsweise hervorgehoben, dass Autorentexte in Schulbüchern Lernende schlicht überfordern.30 Die narrative Struktur dieser Texte weise ein derartig schlechtes Verhältnis von neuen und bekannten Informationen zuungunsten des Bekannten auf, dass man kurz gesagt die Geschichte, die man liest, schon kennen muss, um sie verstehen zu 27 Bernhardt/Wickner (Anm. 3); Markus Bernhardt/Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte. In: Geschichte lernen 30 (2018) H. 182, S. 2–9. 28 Friedrich J. Lucas: Zur Geschichtsdarstellung im Unterricht (1965). In: Ders.: Geschichte als engagierte Wissenschaft. Zur Theorie einer Geschichtsdidaktik. Hrsg. v. Ursula Becher u. a. Stuttgart 1985, S. 108–125. 29 Karl-Ernst Jeismann/Siegfried Quandt (Hrsg.): Geschichtsdarstellung. Determinanten und Prinzipien. Göttingen 1982. 30 Bodo von Borries: Das Geschichts-Schulbuch in Schüler- und Lehrersicht. Einige empirische Befunde. In: Internationale Schulbuchforschung 17 (1995) H. 1, S. 45–60; Bodo von Borries u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung im deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005; Hans-Jürgen Pandel: Wer erzählt für wen Geschichte? Geschichten von Sklaven und Sklavenhändlern. In: Ulrich Baumgärtner/Waltraud Schreiber (Hrsg.): Geschichts-Erzählung und Geschichts-Kultur. Zwei geschichtsdidaktische Leitbegriffe in der Diskussion. München 2001, S. 11–28; Henke-Bockschatz (Anm. 13).
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können. Die Tagungs-Sektion »Sprachsensibel oder geschichtsbewusst? Herausforderungen bei der Konzeption von Geschichtslehrwerken« unter der Leitung von Saskia Handro greift dieses Problem auf und will Wege zeigen, wie Schulbücher »aus geschichts- und sprachdidaktischer Perspektive und unter Berücksichtigung pragmatischer Rahmungen der Schulbuchproduktion und -nutzung« gestaltet werden können. Dass diese sprachlich bedingte Problemlage keineswegs nur durch Förderung im Sinne einer linguistisch konzipierten Lesekompetenz beseitigt werden kann, machten Untersuchungen zum Begriffsverstehen deutlich, wie sie von Helmut Beilner und Martina Langer-Plän31 oder von Anna Emilia Berti sowie von Magret McKeown und Isabel Beck Mitte der 1990er Jahre durchgeführt wurden.32 Allein das Abstraktum »Staat«, das auch in Schulbüchern für die fünfte Klasse absolut gängig ist, wird von vielen Kindern dieses Alters überhaupt nicht verstanden. Der historische Begriffsgebrauch zeichnet sich darüber hinaus durch Historizität aus. Eine Quellenanalyse kann nur gelingen, wenn ein athenischer Bürger von einem mittelalterlicher Stadtbürger oder dem Staatsbürger des Nationalstaats seit dem 19. Jahrhundert sicher unterschieden werden kann. Beim Verstehen und Produzieren von Texten muss also die Semantik der Begriffe immer mitgedacht werden. Man kann derartige Begriffe kaum wie Vokabeln lernen, der entsprechende Artikel in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« entspannt sich über fünfzig eng bedruckte Seiten.33 Der sprachliche Umgang damit wird deshalb erst dann erfolgreich sein, wenn die konzeptionelle Rahmung der historischen Dimension, also etwa die Funktionsweise einer mittelalterlichen Stadtgesellschaft, mitbedacht wird. Neben diesen Lese- oder Verstehensleistungen von Schülerinnen und Schülern wurden auch deren fachliche Schreibleistungen empirisch untersucht. Ohne hier auf die Arbeiten von Joseph Memminger,34 Olaf Hartung35 oder die Abiturstudie von Bernd Schönemann, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-
31 Martina Langer-Plän/ Helmut Beilner: Zum Problem historischer Begriffsbildung. In: Hilke Günther-Arndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006, S. 215–250. 32 Anna Emilia Berti: Children’s Understanding of the Concept of the State. In: Mario Carretero/ James F. Voss (Hrsg.): Cognitive and Instructional Processes in History and the Social Sciences. Hillsdale 1994, S. 49–75; Isabel L. Beck/Margaret McKeown: Outcomes of History Instruction. Paste -up Accounts. In: Ebd., S. 237–256; Margaret G. McKeown/Isabel L. Beck: Making Sense of Accounts of History. Why Young Students Don’t and How They Might. In: Gaea Leinhardt u. a. (Hrsg.): Teaching and Learning in History. Hillsdale 1994, S. 1–26. 33 Manfred Riedel: Bürger, Staatsbürger, Bürgertum. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1: A-D. Stuttgart 1972, S. 672–725. 34 Memminger (Anm. 12). 35 Hartung (Anm. 12).
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Kersting36 dezidiert einzugehen, weisen die Ergebnisse darauf hin, dass den Lernenden, wie Saskia Handro formuliert, »die bedeutungsgenerierende und damit fachliche Funktion der von ihnen genutzten sprachlichen Mittel« kaum bewusst sei.37 Besondere Defizite zeigen sich gerade beim historischen Erzählen, bei dem, wie Memmiger zeigt, Schülerinnen und Schüler »erhebliche Schwierigkeiten« hätten, »wenn es darum geht, semantisch sinnvolle Verknüpfungen herzustellen. So ist z. B. eine finale oder kausale Verbindung der einzelnen historischen Fakten, die wirklich historisches Erzählen ausmachen würden, relativ selten.«38 Das lässt wiederum vermuten, dass eine fachspezifische Sprachbildung im Geschichtsunterricht, den die Lernenden genossen haben, nicht oder nur am Rande stattgefunden hat.
3.
Sprachförderung aus sprachdidaktischer Perspektive
Dieser Gedanke führt zu aktuellen geschichtsdidaktischen Projekten und auch zu den Themen der anderen Sektionen dieser Tagung. Er hängt eng zusammen mit der linguistischen oder sprachdidaktischen Perspektive.39 Diese hat die Geschichtsdidaktik für die Wahrnehmung der Kluft sensibilisiert, die sich zwischen den theoretischen Modellierungen narrativer Kompetenz und den sprachlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler auftut. Lehrerinnen und Lehrer wissen, was ich meine. Bei etlichen Gelegenheiten müssen sie sich mit Schreibprodukten wie dem folgenden auseinandersetzen: »Viele Länder sind arm, weil die Leute nichts haben. Auch waren sie oft Kolonien und können meistens nicht lesen und schreiben.«40 Sie bemerken sicher die konzeptuellen und semantischen Schwächen dieser Aussage. Fachspezifisch lässt sich dieses Defizit mit Begriffen wie fehlende Kontextualisierung, unzureichende historische Begründung oder fehlerhafte Generalisierung beschreiben. Das Verdienst der linguistisch-sprachdidaktischen Perspektive besteht darin, dass sie den geschichtsdidaktischen Blick auf die problematischen syntaktischen Verknüpfungen von derlei sprachlichen Aussagen gelenkt hat. Sie hat deutlich gemacht, dass zur Produktion von diskursiven oder narrativen Texten eben auch bildungssprachliche Kompetenzen 36 Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. Berlin 2010. 37 Handro (Anm. 3), S. 21. 38 Memminger (Anm. 12), S. 209. 39 Vgl. dazu Michael Becker-Mrotzek/Hans-Joachim Roth (Hrsg.): Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder. Münster/New York 2017. 40 Frank Michael Czapek: Denken und Schreiben in Zusammenhängen. Eine vernachlässigte Aufgabe im Geographieunterricht. In: Praxis Geographie 44 (2014) H. 4, S. 10–14, hier S. 11.
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unerlässlich sind.41 Man könnte auch sagen, die Sprachdidaktik hat die Forschung über den Zusammenhang von Sprache, Denken und reflexivem Lernen aus Schülersicht auch zu einer geschichtsdidaktischen Aufgabe gemacht: »Sprachliche Bildung in allen Fächern.«42 Die Geschichtsdidaktik hat sich in den letzten Jahren dieser linguistischsprachdidaktischen Perspektive geöffnet. Davon zeugen mehrere interdisziplinäre Sammelbände,43 die häufig aus gemeinsamen Tagungen hervorgegangen sind, semesterbegleitende Kolloquien44 wie im WS 2019/20 an der Universität Münster,45 aber auch verschiedene Forschungskooperationen. Ich erwähne hier beispielhaft zwei: zum einen unser eigenes Projekt SchriFT »Schreiben im Fachunterricht unter Einbeziehung des Türkischen«, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Fachdidaktiken Geschichte, Physik, Politik und Technik sowie aus den Instituten für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache und für Turkistik zusammengeführt hat.46 Oder auch das Projekt »Fachlernen durch Sprachbildung« an der Ruhr-Universität Bochum, in dem die Geschichtsdidaktik mit der Germanistik, Abteilung Sprachbildung und Mehrsprachigkeit, und der Physikdidaktik kooperiert.47 In beiden Forschungsverbünden spielen Operatoren und daraus hervorgehende Schülertexte eine zentrale Rolle. Nicola Brauch und Christoph Bramann leiten die Tagungs-Sektion »Historische Sprachhandlungen initiieren – Aufgaben im Fokus«. Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Disziplinen gehen dort der Frage nach, inwiefern Operatoren beziehungsweise »Aufgaben zur Initiierung und Förderung fachspezifischer Sprachhandlungen im Geschichtsunterricht« anregen können.48 41 Ingrid Gogolin/Mechthild Gomolla/Imke Lange: Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In: Sara Fürstenau/Mechthild Gomolla (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel. Mehrsprachigkeit. Wiesbaden 2011, S. 107–127. 42 Die »Förderung in der deutschen Sprache als Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern« wurde in Nordrhein-Westfalen bereits im Jahr 1999 per Erlass geregelt (https://www.schulent wicklung.nrw.de/cms/angebote/foerderung-in-der-deutschen-sprache/angebot-home/start seite.html, aufgerufen am 10. 02. 2020). 43 Becker-Mrotzek u. a. (Anm. 26); Claudia Benholz/Magnus Frank/Erkan Gürsoy (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart 2015; Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in der Lehrerbildung. Münster/New York 2017; Katharina Grannemann/Sven Oleschko/Christian Kuchler (Hrsg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. Münster/New York 2018. 44 Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache. Berlin 2010. 45 Tagungs-Flyer unter: https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/geschichte/didakt ik/flyer_kolloquium_ws1920.pdf (aufgerufen am 10. 02. 2020). 46 Zur ersten Projektphase ist 2019 ein Sammelband erschienen: Roll (Anm. 12). 47 Informationen zum Projekt unter: http://staff.germanistik.rub.de/sprachbildung/projekte/ (aufgerufen am 10. 02. 2020). 48 Martin Buchsteiner u. a.: Operatoren im Fach Geschichte. Greifswald 2018; Olaf Hartung: Generische Lernaufgaben im Geschichtsunterricht – oder: die ›zwei Seiten‹ einer Gattungs-
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Möglichkeiten der Integration
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Forschungsverbünden hat zu einer intensiven Diskussion darüber geführt, wie der Zusammenhang zwischen Sprach- und Fachdidaktik gestaltet werden kann. Für die Geschichtsdidaktik hat sich dabei besonders der Ansatz der funktionalen Linguistik als anschlussfähig erwiesen.49 Dort wird Sprache als aktives Sprachhandeln betrachtet und als Denkund Lernwerkzeug verstanden. Die Gruppe um Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting, die 2018 eine »Theorie des Geschichtsunterrichts« vorgelegt hat, konzentriert sich vor einem systemtheoretischen Hintergrund auf die Untersuchung der sprachlichen Kommunikation im Geschichtsunterricht mithilfe der systemisch-funktionalen Linguistik.50 Hier geht es also um die sprachliche Bewältigung von kommunikativen Situationen und nicht um das Erlernen von einzelnen grammatischen und lexikalischen Elementen. Im Zentrum dieses Ansatzes steht das Schreiben von Texten, eine zentrale Operation auch des historischen Lernens. In den meisten Geschichtsstunden werden aber selten längere Texte geschrieben. Dort dominiert weiterhin das fragend-entwickelnde Gespräch. Das kann man schon selbst beobachten, aber auch der einschlägigen Literatur entnehmen. »Geschrieben wird selten – und wenn, dann überwiegend telegraphisch und in instrumenteller Funktion (Schreiben als Mittlerfertigkeit). Dabei geht es vorrangig um Tafel-/ Folienabschriften, Bildzuschriften, Anfertigen von Notizen, Ausfüllen von Lückentexten, Unter- und Überschriften, kurze Sätze für Plakate und Präsentationen. Schreiben wird funktional eingesetzt für die Überprüfung von Verstehensleistungen, für die Zusammenfassung von Lernergebnissen sowie für die Organisation des Lehr- und Lerngeschehens«, meint etwa der Linguist Eike Thürmann.51 Diese Feststellung erweist sich im geschichtsdidaktischen Diskurs als Schlüsselproblem. Denn der Erwerb von narrativer Kompetenz ist nur vorstellbar, wenn Schülerinnen und Schüler längere Texte verfassen. HansJürgen Pandel hat dafür 2010 eine Erzählkompetenz skizziert, die unter anderem die Fähigkeit der textlichen Kohärenzbildung umfasst.52 Wie kommt man nun
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kompetenz. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte. Berlin 2016, S. 187–198. Die funktionale Linguistik ist keine einheitliche Forschungsrichtung, sondern versammelt unter ihrem Dach unterschiedliche Strömungen. Vgl. z. B. Konrad Ehlich: Funktionale Pragmatik. In: Ders.: Sprache und sprachliches Handeln. Band l: Pragmatik und Sprachtheorie. Berlin/New York 2007, S. 9–52. Sebastian Bracke u. a.: Theorie des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/M. 2018, S. 193–231. Eike Thürmann: Lernen durch Schreiben? Thesen zur Unterstützung sprachlicher Risikogruppen im Sachfachunterricht. In: dieS-online Nr. 1/2012, S. 1–28, hier S. 11 (http://geb.unigiessen.de/geb/volltexte/2012/8668/, aufgerufen am 10. 02. 2020). Pandel (Anm. 14), S. 162.
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aber vom Tafelabschrieb oder von der tabellarischen Notiz zur kohärenten Erzählung? Ich bin der Ansicht, dass uns auf dem Weg dorthin das Verfassen von diskursiven Textformate wie Beschreibungen oder Begründungen helfen kann, weil diese Texte entscheidende Elemente historischer Narrationen sind. Jörn Rüsen hat diesen Zusammenhang bereits 1979 so formuliert: »Ich kann mir keine wissenschaftlich anspruchsvolle Geschichte der Industrialisierung oder einer Revolution denken, in der nicht diskursiv zwischen verschiedenen Hypothesen darüber abgewogen und entschieden würde, welche Faktoren in welcher Gewichtung für die Entstehung der industriellen Wirtschaftsform oder für den Ausbruch einer Revolution zu veranschlagen sind«.53 Ein schreibdidaktischer Ansatz, der diese diskursiven Formate adressiert, konzentriert sich auf das Konzept von Textsorten oder so genannte Genres. Einfach gesagt sind Genres in bestimmter Weise strukturierte Textsorten, die Lehrpersonen als schriftliche (oder mündliche) Antwort auf einen Operator erwarten. Schülerinnen und Schüler müssen eine Vorstellung von der sprachlichen Struktur der Textsorte oder des Genres haben, wenn ihnen die fachsprachliche Bewältigung einer vorgelegten Aufgabe gelingen soll.54 Wenn sie also schriftlich oder mündlich etwas »erklären«, »begründen« oder »bewerten« sollen, umfasst der Erwartungshorizont der Lehrperson keineswegs nur bestimmte historische Wissenselemente oder beliebig arrangierte Aussagen und Behauptungen. Stattdessen wird ein relativ eindeutiges Textformat erwartet, eben ein Genre, das durch spezifische lexikalische, syntaktische und semantische Strukturen gekennzeichnet ist, die sich auch benennen lassen.55 Im Unterricht ist zu beobachten, dass Lehrpersonen die Beherrschung solcher Genres von den Lernenden
53 Jörn Rüsen: Wie kann man Geschichte vernünftig schreiben? Über das Verhältnis von Narrativität und Theoriegebrauch in der Geschichtswissenschaft. In: Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Hrsg.): Theorie und Erzählung in der Geschichte. München 1979, S. 300–333, hier S. 311. 54 Genre-Didaktik ist im englischsprachigen und im skandinavischen Raum gelegentlich unter der Bezeichnung Genre Pedagogy verbreitet, in Deutschland vor allem in der Fremdsprachendidaktik. Vgl. Wolfgang Hallet: Genres im fremdsprachlichen und bilingualen Unterricht. Formen und Muster der sprachlichen Interaktion. Seelze 2016; im Bereich der Geschichtsdidaktik u. a. Matthias Sieberkrob/Martin Lu¨ cke: Narrativität und sprachlich bildender Geschichtsunterricht. Wege zum generischen Geschichtslernen. In: Brigitte Jostes/ Daniela Caspari/Beate Lu¨ tke (Hrsg.): Sprachen – Bilden – Chancen: Sprachbildung in Didaktik und Lehrkräftebildung. Mu¨ nster 2017, S. 217–229; Mareike-Cathrine Wickner: So schließt sich der Kreis. Textsortenspezifische Schreibförderung im Geschichtsunterricht mit dem »Genre Cycle«. In: Geschichte lernen, 31 (2018) H. 182, S. 49–56. 55 Wolfgang Hallet: Generisches Lernen im Fachunterricht. In: Becker-Mrotzek u. a. (Anm. 26), S. 59–75.
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implizit erwarten, obwohl die Schülerinnen und Schüler nicht genau wissen, was von ihnen verlangt wird.56. Nicola Brauch und Marcel Mierwald haben zum Beispiel für das historische Argumentieren einen »How to write Your Essay«-Plan als Schreibmethode erprobt und empirisch überprüft. Sie stellten fest, dass derartige Methoden geeignet sind, um Schülerinnen und Schüler bei dem Erlernen des historischen Argumentierens zu unterstützen.57 Ähnliche positive Effekte konnten im Essener SchriFT-Projekt mit der Methode des Genre-Cycles nachgewiesen werden.58 Der Genre Cycle ist ein in Australien entwickeltes Schreibförderkonzept, in dem das generische Lernen im Mittelpunkt steht.59 Dieses Konzept wird in einer Sektion dieser Tagung vorgestellt. Es zeichnet sich demnach ab, dass der Erzählbegriff beziehungsweise die narrative Kompetenz um die Genre-Konzepte sinnvoll erweitert werden kann. Man sollte also beachten, dass eine Narration aus narrativen und diskursiven Strukturen besteht. Es gibt bis jetzt allerdings nur wenige Anläufe, die sprachliche Struktur von narrativen historischen Texten empirisch zu erfassen. Zu nennen ist das HiTCHProjekt, in dem 18 interdisziplinären Forscherinnen und Forschern der Codierung solcher Texte nachgegangen sind.60 Nicht gelungen ist dem Forschungsteam allerdings die empirische Bestätigung einer narrativen Kompetenz, was für die umfassende Komplexität dieses Konstrukts spricht.61 Mit Arbeiten zur empirische Messung von narrativer Kompetenz sind unter anderen Martin Nitsche und Jörg van Norden bereits hervorgetreten.62 In ihrer 56 Sabine Schmölzer-Eibinger: Sprache als Medium des Lernens im Fach. In: Ebd., S. 25–40, hier S. 27. 57 Marcel Mierwald/Nicola Brauch: Historisches Argumentieren als Ausdruck historischen Denkens. Theoretische Fundierung und empirische Annäherung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 104–120. Siehe dazu auch Arthur Chapman: Causal explanation. In: Ian Davies (Hrsg.): Debates in History Teaching. Florence 2. Aufl. 2017, S. 130–143. 58 Mareike-Cathrine Wickner: Über die Vorzüge einer textsortenbasierten Schreibförderung im Geschichtsunterricht. Forschungsergebnisse aus dem SchriFT-Projekt. In: Roll (Anm. 12), S. 129–147. 59 Rose/Martin (Anm. 7). 60 Ulrich Trautwein u. a.: Kompetenzen historischen Denkens erfassen. Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts »Historical Thinking – Competencies in History (HiTCH)«. Münster/New York 2017. 61 Vgl. dazu die Rezension von Holger Thünemann. In: sehepunkte 18 (2018), Nr. 2 [15. 02. 2018], http://www.sehepunkte.de/2018/02/30759.html (aufgerufen am 10. 02. 2020). 62 Martin Nitsche/Monika Waldis: Narrative Kompetenz von Studierenden erfassen. Zur Annäherung an formative und summative Vorgehensweisen im Fach Geschichte. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 7 (2016) H. 1, S. 17–35. Monika Waldis/Philipp Marti/Martin Nitsche: Angehende Geschichtslehrpersonen schreiben Geschichte(n). Zur Kontextabhängigkeit der Erfassung narrativer Kompetenz. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 63–86; vgl. auch Jan Hodel u. a.: Schülernarrationen als Ausdruck historischer Kompetenz. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 4 (2013) H. 2, S. 121–145; Jörg van Norden/Wanda Schürenberg (Hrsg.): Lernprogression narrativer
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Sektion »Historische Kompetenzen sprachbasiert erfassen« gehen sie der qualitativen Erfassung derartiger Kompetenzen nach und stellen drei Projekte vor, um »unter anderem Blindstellen aktuell genutzter sprachbasierter Zugriffe sowie die Theoriegebundenheit empirischer Forschung an konkreten Beispielen aufzeigen zu können«. Es bleibt über diese Tagung hinaus eine Aufgabe der Geschichtsdidaktik, diesen Zusammenhang weiter zu erforschen. Die Verankerung der erwähnten fachspezifischen Konzepte der Sprachbildung in der Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und -lehrern63 beschäftigt die Sektion »Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Geschichtslehrer*innenbildung. Konzepte einer phasenübergreifenden Professionalisierung« unter der Leitung von Martin Schlutow.64 Sie verfolgt, den Gedanken der Integration der Lehrerbildung aufgreifend, das Ziel, »Sprachsensiblen Geschichtsunterricht als fachspezifischen Professionalisierungsauftrag in den drei Phasen der Lehrer*innenbildung zu profilieren.«
5.
Bildungspolitische Agenda der Sprachbildung
Ich habe bislang von dem Verhältnis von Sprache und Geschichte beziehungsweise von sprachlichem und historischem Lernen gesprochen. Gleichwohl werden von denjenigen, die sich des Themas Sprache in Lern- und Bildungsprozessen annehmen, ganz unterschiedliche Probleme adressiert. Während die bildungspolitische Forderung nach Sprachförderung auf die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe und politischen Partizipation zielt, meint Sprachförderung im Geschichtsunterricht die Steigerung der sprachlichen Fähigkeiten, argumentativ plausibel und angemessen Geschichte deuten zu können. Die bildungspolitische Diskussion ist auch von analytischen Schnellschüssen belastet, die abgegeben werden, ohne ausreichend informiert zu sein über das, was man meint erkannt zu haben. Oft genug beruhen die Statements auf kulturpessimistischen oder alltagstheoretischen Perspektiven.
Kompetenz im Geschichtsunterricht. Ein Vergleich von Waldorf- und Regelschule. Frankfurt/M. 2019. 63 Vgl. dazu Saskia Handro/Vanessa Kilimann: Textverstehen im Geschichtsunterricht. Ein Projekt zur Professionalisierung historischer Leseförderung (ProLeGu). In: Marion Bönninghausen (Hrsg.): Praxisprojekte in Kooperationsschulen. Fachdidaktische Modellierung von Lehrkonzepten zur Förderung strategiebasierten Textverstehens in den Fächern Deutsch, Geographie, Geschichte und Mathematik (Schriften zur Allgemeinen Hochschuldidaktik, Bd. 4). Münster 2019, S. 165–222. 64 Martin Schlutow/Isabelle Nientied: Auf dem Weg zum Reflective Practitioner? Forschendes Lernen im Praxissemester Geschichte aus der Perspektive von Studierenden. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 8 (2017) H. 2, S. 143–156.
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Ein gutes Beispiel ist dafür die Forderung des CDU-Politikers Carsten Linnemann im Sommer 2019, man solle doch Kinder, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, gar nicht erst einschulen.65 Das hat neben einiger Zustimmung von Lehrerverbandsfunktionären zu Recht kritische Reaktionen hervorgerufen, die aber eher den diskriminierenden Charakter seiner Formulierung hervorgehoben haben. Sie sind indessen kaum auf die implizite Unterstellung Linnemanns zur Bedeutung von Sprachen eingegangen. Seine Aussage beruht nämlich auch auf dem alltagstheoretischen Glauben, dass Herkunftssprachen eine Art Behinderung seien, die vor der eigentlichen Einschulung irgendwie behoben werden müsse, um das Kind auf eine monolinguale Schiene zu bringen. Die Mehrsprachigkeitsforscherin Ingrid Gogolin hat in einem SPIEGEL-Interview dieser Fehlvorstellung deutlich widersprochen und klargestellt, es sei »totaler Unsinn, Kinder von der Schule fernzuhalten, bevor sie Deutsch sprechen. Denn es ist ja gerade die Aufgabe der Bildungsinstitutionen in Deutschland, Schülern Deutsch beizubringen.« Auf die Frage, ob es schlimm sei, wenn Kinder zuerst eine andere Sprache lernten, antwortete die Forscherin: »Nein, das ist überhaupt nicht schlimm. Für Kinder ist es vollständig egal, ob sie von Anfang an eine, zwei, drei oder auch vier Sprachen lernen. Sie können auch im Nachhinein noch genauso gut Deutsch lernen, wenn man sie entsprechend fördert.«66 Die Sektion »Fachsprache als Leichte Sprache und als Bildungssprache – Sprache und Geschichte im (scheinbaren) Spannungsverhältnis zwischen Inklusion und Sprachbildung« unter der Leitung von Martin Lücke wird diese Problemlage aufgreifen, indem sie unter anderem zeigen will, wie das »Fachpotenzial von Geschichte durch die Berücksichtigung von sprachlicher Vielfalt nicht etwa verwässert, sondern gestärkt wird«.67 Ich habe diese Ausführungen zur Mehrsprachigkeit an den Schluss meines Vortrags gestellt, weil damit ein Aspekt angesprochen ist, der in der geschichtsdidaktischen Diskussion bislang noch unterbelichtet ist, den ich aber für sehr bedeutsam halte. Er spielt auch im Titel unserer Tagung eine prominente Rolle: »Sprachliche Vielfalt und historisches Lernen«. Es ist zwar nachvollziehbar, wenn Sprachprobleme, die im Geschichtsunterricht oder in historischen Universitätsseminaren auftauchen, gelegentlich darauf zurückgeführt werden, 65 Linnemann gegen Einschulung bei mangelnden Deutschkenntnissen. In: Zeit Online v. 5. 8. 2019 (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-08/carsten-linnemann-grundschule-in tegration-deutschkenntnisse-cdu, aufgerufen am 10. 02. 2020). 66 Debatte über Deutschpflicht für Grundschüler, in: SPIEGEL Online v. 6. 8. 2019 (https://www. spiegel.de/lebenundlernen/schule/carsten-linnemann-fuer-deutschpflicht-an-der-grundsch ule-totaler-unsinn-a-1280738.html, aufgerufen am 10. 02. 2020). 67 Martin Lücke/Matthias Sieberkrob: Sprachbildende Lernaufgaben im Geschichtsunterricht, in: Sebastian Barsch u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik. Frankfurt/M. 2020, S. 424–439; Bettina Alavi: Leichte Sprache und historisches Lernen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 169–190.
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dass Deutsch nicht die so genannte Muttersprache der betreffenden Personen ist. Das ist aber empirisch alles andere als triftig. Wenn man die Ergebnisse der Mehrsprachigkeitsforschung etwas plakativ zusammenfasst, kann man sagen, dass sich Mehrsprachigkeit nicht zugunsten einer Monolingualität irgendwann auswächst. Sie bleibt stattdessen permanent als Bildungsvoraussetzung erhalten. Für schulische Bildungsprozesse bedeutet das zum einen: Zwei- und Mehrsprachigkeit muss als Voraussetzung bei der Gestaltung von Lernumgebungen beachtet werden. Und es bedeutet, zweitens, dass Mehrsprachigkeit dann zu einer Bildungsressource werden kann, wenn die sprachliche Förderung sowohl in der Herkunftssprache als auch in der Zielsprache stattfindet.68 Der häufig konstatierte geringe Bildungserfolg von Mehrsprachlern kann nicht mit mangelnden Fähigkeiten in der gesprochenen Alltags- bzw. Umgangssprache begründet werden. Er liegt stattdessen in verdeckten bildungs- und fachsprachlichen Schwierigkeiten. Ausschlaggebende Risikofaktoren für fehlenden Schulerfolg sind dabei in erster Linie sozioökonomische Ressourcen in den Familien – was für ein- und mehrsprachig aufwachsende Kinder in gleichem Maße gilt.69 Wir tun also gut daran, Potenziale und Probleme der Sprachbildung im Geschichtsunterricht wissenschaftlich zu identifizieren, um erst aus den Ergebnissen eine geschichtsdidaktische Sprachförderung abzuleiten. Diese sollte auch Mehrsprachigkeit berücksichtigen. Ein spannender Ansatz ist der Herkunftssprachliche Unterricht70 in Nordrhein-Westfalen, der dort derzeit in 23 Sprachen stattfindet und der in anderen Bundeländern ebenfalls eingeführt wird.71 Unter der Voraussetzung, dass in diesem Unterricht bildungssprachliche und literale Kompetenzen gefördert werden, hat das positive Transfereffekte auf das Erlernen des Deutschen. An dieser Stelle kann man übrigens auch mit der Wertschätzung des bilingualen Geschichtsunterrichts argumentieren.72 Diese Unterrichtsform erfreut 68 Ingrid Gogolin: Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg: Über Ansprüche an das Lehren von Sprache, nicht nur im Deutschunterricht. In: E&C-Fachforum: Konzepte der frühkindlichen Sprachförderung in sozialen Brennpunkten. Dokumentation der Veranstaltung vom 9. und 10. Mai 2005 in Berlin. 69 Frank Niklas/Wolfgang Schneider: Home literacy environment and the beginning of reading and spelling. In: Contemporary Educational Psychology 38 (2013) H. 1, S. 40–50. 70 Havva Engin: Herkunftssprachenunterricht und Deutsch als Zweitsprache. In: Christiane Fäcke/Franz-Joseph Meißner (Hrsg.): Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik. Tübingen 2019, S. 489–493. 71 Herkunftssprachlicher Unterricht soll ausgeweitet werden. In: StN.de. Stuttgarter Nachrichten (https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.reform-in-mehreren-bundeslaendernsaarland-und-berlin-wollen-herkunftssprachlichen-unterricht-ausweiten.6af05350-7552-4b db-8543-da8cd8ca01df.html, aufgerufen am 10. 02. 2020). 72 Martin Schlutow: Geschichte bilingual unterrichten. Didaktische Grundlagen und methodische Zugänge. Schwalbach/Ts. 2016; Michael Maset: Bilingualer Geschichtsunterricht. Didaktik und Praxis. Stuttgart 2015.
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sich seit Jahrzehnten großer Beliebtheit, und in diesem Zusammenhang wird Zweisprachigkeit weniger als Problem, sondern mehr als Chance für die Lernenden wahrgenommen. Man fragt sich, warum dieser Vorteil nur für die Sprachen Deutsch und Englisch gelten soll. Martin Schlutow plädiert dafür, »sprachliches und historisches Lernen nicht als Gegensatzpaar, sondern als zusammengehörige Größe ein- und desselben Phänomens zu begreifen und die Diskurse über Sprachlichkeit und Bilingualität im Geschichtsunterricht zusammenzuführen«.73 Damit ist gleichzeitig die Grundposition beschrieben, aus der heraus die Geschichts- und Sprachdidaktik heute über den Zusammenhang von Sprache und Geschichte beziehungsweise von sprachlichem und historischem Lernen diskutieren. Sprachliches und historisches Lernen sollen demnach nicht als Gegensatz, sondern integrativ begriffen werden. Zudem sollen in dieser Integration noch die Diskurse über Sprachlichkeit, Bi- und Multilingualität im Geschichtsunterricht zusammengeführt werden.74 Eine geschichtsdidaktische Konkretisierung des Verhältnisses von sprachlichem und historischem Lernen ist deshalb hier und heute unsere Aufgabe. Ich sehe darin auch ein klares Bekenntnis dieser Konferenz zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit sowie zu wissenschaftlicher Redlichkeit im Umgang mit den gleichzeitig gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen von Heterogenität und Vielfalt, die unsere heutige Lebenswelt prägen. Es kann jedenfalls nicht sein, dass das aggressive Vorgehen gegen Mehrsprachigkeit, gegen gendergerechte Sprache, inklusiven Unterricht oder Multikulturalität im Klassenzimmer zugunsten eines bornierten Nationalismus unwidersprochen bleibt. Denn er richtet sich nicht nur gegen den demokratischen Pluralismus, sondern er verachtet auch die wissenschaftliche Expertenkultur.
73 Martin Schlutow: Bilingualer Geschichtsunterricht. Ein Puzzle, das nicht passt? In: Public History Weekly 2 (2014) 1, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014–1035. 74 Vgl. dazu den Sammelband des interdisziplinären Forschungsprojekts SchriFT, das diese integrativen Elemente zwischen Erst- und Zweitsprache, Bildungs- und Fachsprache untersucht: Roll (Anm. 12).
Sektion 1: Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Geschichtslehrer*innenbildung. Konzepte einer phasenübergreifenden Professionalisierung
Martin Schlutow
Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Geschichtslehrer*innenbildung. Einführung in die Sektion
Begreift man mit Handro »Sprache und historisches Lernen« als ein »Schlüsselproblem […] des Geschichtsunterrichts«,1 so lässt sich Sprachbildung im Fach Geschichte zugleich als Schlüsselaufgabe für Geschichtslehrer*innen charakterisieren. Darum ist es das Ziel dieser Sektion, den Sprachsensiblen Geschichtsunterricht als Chance zur fachspezifischen Professionalisierung in den drei Phasen der Lehrer*innenbildung zu profilieren. Dem liegen drei Prämissen zugrunde, die es im Folgenden zu erläutern gilt: Erstens ist Sprache für historisches Lernen grundlegend. Historisches Erzählen als übergeordnetes Ziel des Geschichtsunterrichts verlangt nicht zuletzt angesichts der Heterogenität vieler Lerngruppen nach Unterstützung durch Sprachbildung zur Bewältigung dieser anspruchsvollen Tätigkeit. Zweitens kommt den Geschichtslehrkräften aufgrund ihrer professionellen Kompetenz die Aufgabe zu, ihren Schüler*innen entsprechende Lerngelegenheiten und Unterstützungen durch methodische Differenzierung zur Förderung historischen Erzählens bereitzustellen. Drittens können Lehrkräfte dies jedoch nur dann sinnvoll umsetzen, wenn Sprachbildung im Geschichtsunterricht fachspezifisch erfolgt. Zunächst zur ersten Prämisse über die grundlegende Bedeutung sprachlichen Lernens für den Geschichtsunterricht: Sprache ist gegenwärtig – das verdeutlicht nicht nur die in diesem Band dokumentierte Zweijahrestagung – eines der wichtigsten Themen im geschichtsdidaktischen wie auch im interdisziplinären Diskurs. Entsprechend vielstimmig wird dieser Diskurs geführt. So lässt sich der Zusammenhang von Sprache und historischem Lernen etwa geschichtstheoretisch, kognitionspsychologisch oder linguistisch erklären, wodurch je nach disziplinärer Perspektive der Fokus auf die sprachliche Verfasstheit des Untersuchungsgegenstandes Geschichte, auf die Lese- und Schreibprozesse des lernen1 Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 3). Münster 2013, S. 317– 333, hier S. 317.
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den Individuums oder die sprachlichen Merkmale fachlicher Sprachproduktion gerichtet wird.2 Vertreter*innen der Erziehungswissenschaft, der Sprachdidaktik (vor allem des Arbeitsbereichs »Deutsch als Zweitsprache«), aber auch des Konzepts der »Leichten Sprache« und der Bildungspolitik sehen demgegenüber in der Sprachförderung im Fachunterricht vor allem ein Instrument der Etablierung von Chancengleichheit und Teilhabe im Bildungssystem.3 Aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik gilt es allerdings zu beachten, dass die in diesen Ansätzen angestrebte Sprachförderung nur dann zielführend in den Geschichtsunterricht integriert werden kann, wenn sie in Anbindung an die fachlichen Lernprozesse der Schüler*innen erfolgt. Das bedeutet, Sprache nicht nur im Hinblick auf ihre kommunikative Funktion im Unterricht zu betrachten, sondern auch als erkenntnisgenerierendes Instrument und als fachspezifische »Lernstruktur«4 aufzuwerten. Nimmt man letzteren Zugang zum Verhältnis von Sprache und historischem Lernen ernst, so wird deutlich, dass es sich beim Sprachsensiblen Geschichtsunterricht um weit mehr als ein aktuell gefragtes »Modekonzept« handelt. So zeigen empirische Untersuchungen zum Lesen und Schreiben oder zu Unterrichtsgesprächen im Geschichtsunterricht, dass das Fach Geschichte viele Schüler*innen vor große Herausforderungen stellt. Im exemplarischen Sinne sei für das Lesen etwa daran erinnert, dass laut Beilner und Langer-Plän das alltagsweltliche Begriffsverständnis vieler Schüler*innen den Zugang zu fachangemessenem Textverstehen erschwert.5 Im Bereich des Schreibens gelangt z. B. 2 Vgl. exemplarisch Hans-Jürgen Goertz: Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Reinbek 1995; Susan De La Paz: Effects of Historical Reasoning Instruction and Writing Strategy Mastery in Culturally and Academically Diverse Middle School Classrooms. In: Journal of Educational Psychology 97 (2005), S. 139–156; Caroline Coffin: Historical Discourse. The Language of Time, Cause and Evaluation. London/New York 2006. 3 Vgl. u. a. Magdalena Michalak/Valerie Lemke/Marius Goeke: Sprache im Fachunterricht. Eine Einführung in Deutsch als Zweitsprache und sprachbewussten Unterricht. Tübingen 2015; Bettina Alavi: Leichte Sprache und historisches Lernen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 169–190. 4 Handro (Anm. 1), S. 328. 5 Vgl. Helmut Beilner/Martina Langer-Plän: Zum Problem historischer Begriffsbildung. In: Hilke Günther-Arndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 14). Berlin 2006, S. 215–250. Vgl. zu den Herausforderungen des Lesens im Geschichtsunterricht außerdem u. a. Gerhard Henke-Bockschatz: Viel benutzt, aber auch verstanden? Arbeit mit dem Schulgeschichtsbuch. In: Geschichte lernen 20 (2007) H. 116, S. 40–45; Johannes Meyer-Hamme: »Man muss so viel lesen. […] Nimmt so viel Zeit in Anspruch und ist nicht so wichtig.« Ergebnisse einer qualitativen und quantitativen Schülerbefragung zum Schulbuchverständnis (2002). In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 16). Berlin 2011, S. 89–103; Christian Mehr/Kerstin Werner: Geschichtstexte verstehen. Sinnerschließendes Lesen als historisches Lernen. In: Geschichte lernen 25 (2012) H. 148, S. 2–11, und Manuel Köster: Historisches Textverstehen.
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Memminger zwar zu dem Fazit, dass Schüler*innen grundsätzlich in der Lage seien, historisch zu erzählen. Zugleich beobachtet er jedoch »erhebliche Schwierigkeiten, wenn es darum geht, semantisch sinnvolle Verknüpfungen herzustellen. So ist eine z. B. finale oder kausale Verbindung der einzelnen historischen Fakten, die wirkliches Erzählen ausmachen würde, relativ selten.«6 Über das Unterrichtsgespräch wissen wir bislang nur äußerst wenig. Der Befund Spieß’ erscheint jedoch plausibel, dass dies die wohl verbreitetste Kommunikationsform im Geschichtsunterricht ist, Schüler*innen allerdings oft nur als Stichwortgeber*innen fungieren, sodass zusammenhängende mündliche Erzählleistungen auf Seiten der Schüler*innen eine Rarität darstellen.7 Begreift man also das Lesen von Quellen und Darstellungen sowie das mündliche oder schriftliche Aushandeln von historischen Deutungen, Urteilen und Sinnbildungen als Kerngeschäft des Geschichtsunterrichts, eröffnet sich in unterrichtspraktischer Hinsicht ein Spannungsfeld. Historisches Lernen ist, besonders in seiner theoretisch komplexen Struktur historischen Erzählens, für viele Schüler*innen äußerst herausfordernd, da ihnen hierfür die »sprachlichen Basiskompetenzen« fehlen.8 Die »Hinwendung zur Sprache in der Geschichtsdidaktik«9 ist damit zugleich auch eine Hinwendung zu den Lernenden und ihren heterogenen Lernvoraussetzungen. Anders als im Konzept der Sprachförderung vorgesehen, richtet sich Sprachsensibler Geschichtsunterricht mit einem Fokus auf Sprachbildung allerdings nicht ausschließlich an sprachschwache Lernende, sondern hat alle Lernenden im Blick, indem er durch die Integration sprachlichen und fachlichen Lernens die Anforderungen des Faches Geschichte trans-
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Rezeption und Identifikation in der multiethnischen Gesellschaft (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 11). Berlin 2013. Josef Memminger: Schulung von historischem Denken oder bloß fiktionale Spielerei? Über kreative Schreibformen im Geschichtsunterricht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60 (2009), S. 204–221, hier S. 221. Vgl. auch Ders.: Schüler schreiben Geschichte. Kreatives Schreiben im Geschichtsunterricht zwischen Fiktionalität und Faktizität. Schwalbach/Ts. 2007. Zu heterogenen Befunden bzgl. der historischen Schreibfähigkeiten Jugendlicher gelangt auch Olaf Hartung: Geschichte Schreiben Lernen. Empirische Erkundungen zum konzeptionellen Schreibhandeln im Geschichtsunterricht (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 9). Berlin 2013. Christian Spieß: Das Unterrichtsgespräch als zeitgemäße Form der Geschichtserzählung? Asymmetrische Kommunikation im Geschichtsunterricht. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 154–168. Vgl. Markus Bernhardt/Mareike-Catherine Wickner: Die narrative Kompetenz vom Kopf auf die Füße stellen – Sprachliche Bildung als Konzept der universitären Geschichtslehrerausbildung. In: Claudia Benholz/Magnus Frank/Erkan Gürsoy (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart 2015, S. 281–296, hier S. 282f. Hilke Günther-Arndt: Hinwendung zur Sprache in der Geschichtsdidaktik. Alte Fragen und neue Antworten. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 21). Berlin 2010, S. 17–48.
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parent macht und Unterstützungen bei der Bewältigung fachlicher Denkoperationen bereithält. Dieser Ansatz verweist auf die zweite Prämisse der Sektion: Eine wesentliche Verantwortung für das Gelingen historischen Lernens im Geschichtsunterricht kommt den Lehrkräften zu. Auch das aktuell florierende »Forschungsfeld Geschichtslehrkräfte« folgt dieser fächerübergreifend etablierten Annahme, da im Gefolge des so genannten PISA-Schocks »die Lern- und Schulleistungen in Korrelation zu den Lehrleistungen gestellt wurden und die darauf aufbauende Lehrerbildung systematisch erforscht werden sollte.«10 Wenig Berücksichtigung fand in der Geschichtsdidaktik allerdings bislang die Frage, über welche Kompetenzen Geschichtslehrkräfte konkret im Umgang mit den heterogenen sprachlichen Lernvoraussetzungen ihrer Schüler*innen verfügen (sollten). Hier legen bildungswissenschaftliche und sprachdidaktische Studien nahe, dass Lehrkräfte zwar einen kompetenten Umgang mit Heterogenität im Allgemeinen und mit den Herausforderungen sprachlicher Vielfalt ihrer Schülerschaft im Besonderen als wichtig für das Gelingen ihres Unterrichts erachten, sie sich zugleich jedoch in allen Phasen der Lehrer*innenbildung schlecht auf diese Aufgabe vorbereitet fühlen.11 In beiden Disziplinen wurden zudem theoretische Konzepte entwickelt, über welche Kompetenzfacetten Lehrkräfte im Umgang mit Heterogenität bzw. mit »Deutsch als Zweitsprache« verfügen sollten. Für den Bereich der Heterogenität nennen Biederbeck und Rothland vor allem diagnostische Expertise, Kenntnisse über methodische Verfahren zur Differenzierung und Individualisierung sowie die Fähigkeit, »Lernergebnisse und -fortschritte individuell zu beurteilen«.12 Speziell auf die Erfassung der Kompetenzen von Lehrkräften im Bereich »Deutsch als Zweitsprache« hebt u. a. das Modell des Projekts DaZKom ab. Auf Basis einer Dokumentenanalyse verschiedener DaZCurricula identifiziert es zunächst die Dimensionen »Didaktik«, »Mehrsprachigkeit« und »Fachregister«, die wiederum in Subdimensionen – im Bereich »Didaktik« sind dies »Diagnose« und »Förderung« – und Facetten unterteilt
10 Manfred Seidenfuß: Forschungsfeld Geschichtslehrkräfte. Eine Einführung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), S. 5–14, hier S. 5f. 11 Vgl. Michael Becker-Mrotzek u. a.: Sprachförderung an deutschen Schulen – die Sicht der Lehrerinnen und Lehrer. Ergebnisse einer Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern. Köln 2012, S. 3; Ina Biederbeck/Martin Rothland: Professionalisierung des Umgangs mit Heterogenität. In: Thorsten Bohl/Jürgen Budde/Markus Rieger-Ladich (Hrsg.): Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Grundlagentheoretische Beiträge, empirische Befunde und didaktische Reflexionen. Bad Heilbrunn 2017, S. 223–235, hier S. 231; Songül Kiliç: Bildungssprache Deutsch im Fach Gesellschaftslehre. Überzeugungen von Gesellschaftslehre-Lehrkräften der Sekundarstufe I in Bezug auf sprachsensiblen Unterricht. Weinheim 2019, S. 207 u. 210. 12 Biederbeck/Rothland (Anm. 11), S. 227.
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werden.13 Zu Recht wird an diesem Modell jedoch kritisiert, dass es in der Dimension »Didaktik« »wegen der fehlenden Verknüpfung mit verschiedenen Fächern ausgesprochen unspezifisch bleiben« muss und »als Facetten nur allgemein ›Makro- und Micro-Scaffolding‹ [sic!] sowie den ›Umgang mit Fehlern‹ nennen« kann.14 Die dritte Prämisse der Sektion schließt an diese Kritik an, indem sie betont, dass die erforderlichen professionellen Kompetenzen im Umgang mit Sprache im Geschichtsunterricht nur fachspezifisch konkret bestimmt werden können. Zielführender als eine Auflistung überfachlicher DaZ-Kompetenzen für (angehende) Lehrkräfte ist deshalb der Ansatz Handros und Kilimanns, die im COACTIV-Modell professioneller Kompetenz von Lehrkräften15 unterschiedenen Bereiche und Facetten des Professionswissens im Rahmen ihres »ProLeGuModells« auf die sprachlichen Herausforderungen des Geschichtsunterrichts zu übertragen (vgl. Abbildung 1). Mit dem Fokus auf historische Leseförderung bestimmen sie innerhalb des »Geschichtswissens« die Facetten »historische Fragekompetenz«, »geschichtstheoretische Kompetenzen«, »historische Methodenkompetenz« und »historische Sachkompetenz« als bedeutsam für Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Im Bereich des »geschichtsdidaktischen Wissens« unterscheiden sie vier Kompetenzfacetten, über die Geschichtslehrkräfte verfügen sollten: die »diagnostische Kompetenz« zum Erfassen von Schülervorstellungen und Heterogenitätsfacetten, die »analytische Kompetenz« zur Identifikation narrativer Strukturen und sprachlicher Textschwierigkeiten, das Kennen und Nutzen »fachdidaktischer Strategien zur Erschließung von Quellen und Darstellungen« und die »Entwicklung adaptiver Aufgabenformate zur Differenzierung«.16 Beide Bereiche spielen zusammen und sind erforderlich für die 13 Vgl. Barbara Koch-Priewe: Das DaZKom-Projekt – ein Überblick. In: Timo Ehmke u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenzen angehender Lehrkräfte im Bereich Deutsch als Zweitsprache. Münster 2018, S. 7–37, hier S. 23. 14 Brigitte Jostes/Annkathrin Darsow: Entwicklung eines phasenübergreifenden Ausbildungskonzepts für Sprachbildung/Deutsch als Zweitsprache in der Berliner Lehrkräftebildung – Grundlegende Fragen und Vorgehen. In: Brigitte Jostes/Daniela Caspari/Beate Lütke (Hrsg.): Sprachen – Bilden – Chancen: Sprachbildung in Didaktik und Lehrkräftebildung (Sprachliche Bildung, Bd. 5). Münster 2017, S. 289–306, hier S. 296. 15 Vgl. Jürgen Baumert/Mareike Kunter: Das Kompetenzmodell von COACTIV. In: Mareike Kunter u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster 2011, S. 29–53, hier S. 32. Das ursprünglich für MathematikLehrkräfte entwickelte Modell wird fächerübergreifend breit rezipiert, so auch in der Geschichtsdidaktik. Vgl. z. B. Christian Heuer/Mario Resch/Manfred Seidenfuß: Geschichtslehrerkompetenzen? Wissen und Können geschichtsdidaktisch. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 8 (2017) H. 2, S. 158–176. 16 Vgl. Saskia Handro/Vanessa Kilimann: Textverstehen im Geschichtsunterricht. Ein Projekt zur Professionalisierung historischer Leseförderung (ProLeGu). In: Marion Bönnighausen (Hrsg.): Praxisprojekte in Kooperationsschulen. Fachdidaktische Modellierung von Lehrkonzepten zur Förderung strategiebasierten Textverstehens in den Fächern Deutsch, Geo-
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Martin Schlutow
»Unterrichtsführung und Orchestrierung des Lernprozesses«, die Handro und Kilimann als eine von vier Facetten des »pädagogischen Wissens« fassen. Professionelle Kompetenzen von Geschichtslehrkräften Fokus: Historische Leseförderung Motivationale Orientierungen und Selbstregulation
Überzeugungen und Werthaltungen zum Lesen und zur Leseförderung im Geschichtsunterricht
lesefördernden Handelns im Geschichtsunterricht
Professionswissen zur Diagnose -, Planungs- und Handlungskompetenz
Geschichtswissen
Geschichtsdidaktisches
Pädagogisches Wissen
Wissen
Historische Fragekompetenz (z.B. historische Frage als heuristisches Instrument)
Diagnostische Kompetenz (Schülervorstellungen, Heterogenitätsfacetten u. historische Sinnbildung)
Unterrichtsführung u. Orchestrierung des Lernprozesses (z.B. Unterrichtsverlauf)
Geschichtstheoretische Kompetenzen (z.B. Narrativität, Basiskategorien)
Analytische Kompetenz (narrative Strukturen, sprachliche Textschwierigkeiten)
Wissen über Entwicklung von Lernen (Lernprogression)
Historische Methodenkompetenz (z.B. Quellen - und Darstellungsinterpretation)
Fachdidaktische Strategien zur Erschließung von Quellen u. Darstellungen, Strukturierung von Leseprozessen
Individuelle u. bedarfsgerechte Leseförderung (Subjektorientierung)
Entwicklung adaptiver Aufgabenformate zur Differenzierung
Diagnostik von Lernleistungen (sprachlich/fachlich)
Historische Sachkompetenz (z.B. historische Begriffe, thematischer Gegenstand)
Abbildung 1: ProLeGu-Modell: Professionelle Kompetenzen von Geschichtslehrkräften im Bereich historischer Leseförderung
Dieses Modell soll als theoretischer Rahmen für die Sektion dienen, bedarf allerdings zweier Erweiterungen: Erstens sollen zwei Kompetenzfacetten konzeptionell geöffnet werden, sodass sich das Modell Handros/Kilimanns auch auf die schriftliche und mündliche Sprachproduktion beziehen lässt. Die diagnostischen Kompetenzen beziehen sich demnach nicht allein auf das Erfassen der rezeptiven Sprachdimension der Lesefähigkeiten, sondern betreffen ebenso Schreibgraphie, Geschichte und Mathematik (Schriften zur Allgemeinen Hochschuldidaktik, Bd. 4). Münster 2019, S. 165–222, hier S. 184.
Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Geschichtslehrer*innenbildung
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und Sprechfähigkeiten im Geschichtsunterricht. Gleiches trifft auf die Facette »fachdidaktische Strategien« zu, da auch die aktive Unterstützung von schriftlichen und mündlichen Kommunikationsprozessen berücksichtigt werden sollte. Zweitens gilt es zu bedenken, dass allein die Differenzierung von Bereichen des Professionswissens es nicht ermöglicht, den von Lehrer*innenbildung angestrebten Professionalisierungsprozess abzubilden. Im Rahmen des »ProLeGu«Projekts wird deshalb auch der angestrebte Professionalisierungsprozess in ein Modell überführt, doch bezieht sich dies explizit auf die Entwicklung von Kompetenzen und Überzeugungen bei Studierenden, sodass es sich – der Logik des Projekts entsprechend – auf die erste Phase der Geschichtslehrer*innenbildung beschränkt.17 Demgegenüber lässt sich das Modell »Professionelle Kompetenz im Lehrerberuf« Rothlands, Cramers und Terharts auch als Darstellung eines phasenübergreifenden Entwicklungsprozesses lesen.18 Auch COACTIV ergänzt das Strukturmodell der professionellen Kompetenz von Lehrkräften um ein Modell der Kompetenzentwicklung.19 Beide Modelle ähneln sich stark und berücksichtigen unter anderem auch die Kategorien der persönlichen Voraussetzungen als Einflussfaktor auf den Professionalisierungsprozess20 sowie des Lernerfolgs der Schüler*innen als Indikator für professionelles Lehrerhandeln. So plausibel dies in theoretischer und empirischer Hinsicht erscheint, sind beide Modelle damit für die vorliegende Sektion allerdings zu komplex, da sich die folgenden Beiträge vor allem auf einen einzelnen Aspekt beider Modelle – und zwar auf die formalen Lerngelegenheiten für (angehende) Lehrkräfte – konzentrieren. Um dennoch Fragen des Professionalisierungsprozesses diskutieren zu können, soll in dieser Sektion deshalb in Anlehnung an Fenstermacher ergänzend zu den Bereichen zwischen zwei Formen des Professionswissens unterschieden werden: dem theoretisch-konzeptionellen Wissen (formal knowledge) einerseits und dem praktischen Handlungswissen (practical knowledge) andererseits.21 Dies erweist sich insbesondere deshalb als hilfreich, weil spätestens seit der Publikation des »Abschlussberichts der von der Kultusministerkonferenz einge17 Ebd., S. 195. 18 Vgl. Martin Rothland/Colin Cramer/Ewald Terhart: Forschung zum Lehrerberuf und zur Lehrerbildung. In: Rudolf Tippelt/Bernhard Schmidt-Hertha (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Wiesbaden 4. Aufl. 2018, S. 1011–1034, hier S. 1017. 19 Vgl. Mareike Kunter u. a.: Die Entwicklung professioneller Kompetenz von Lehrkräften. In: Dies. (Anm. 15), S. 55–68, hier S. 59. 20 Damit nehmen beide Modelle in der kontrovers diskutierten Frage, ob professionelle Kompetenz von Lehrkräften eher auf die persönliche Eignung oder auf die Qualifikation der (angehenden) Lehrkräfte durch geeignete Ausbildungsangebote zurückzuführen ist, eine vermittelnde Position ein, ebd., S. 58. 21 Vgl. Gary D. Fenstermacher: The Knower and the Known. The Nature of Knowledge in Research on Teaching. In: Review of Research in Education 20 (1994), S. 1–54.
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Martin Schlutow
setzten Kommission« im Jahr 2000 Konsens darüber besteht, dass Lehrer*innenbildung nicht mit Studium und Referendariat abgeschlossen ist, sondern auch das jahrzehntelange »Lernen im Beruf« als zentraler Baustein von Professionalisierungsprozessen ernst genommen werden sollte.22 So lassen sich beispielsweise historische Lese- und Schreibstrategien im Rahmen des Lehramtsstudiums theoretisch-konzeptionell erschließen und in schulpraktischen Phasen ansatzweise erproben. Ein den individuellen Lernvoraussetzungen angemessener und funktional zum historischen Lernziel stehender Einsatz dieser Strategien ist von Berufsanfänger*innen dagegen nur bedingt zu erwarten. Erst im Rahmen eines langfristigen Prozesses erwerben (angehende) Geschichtslehrkräfte demnach professionelle Kompetenz für den Sprachsensiblen Geschichtsunterricht, indem sie theoretisch-konzeptionelles Professionswissen in den skizzierten Bereichen und Facetten schrittweise aufbauen, vor dem Hintergrund eines zunehmend differenzierten praktischen Handlungswissens reflektieren und in kompetentes Unterrichtshandeln überführen. Die zentralen Fragen der Sektion lauten dementsprechend: Über welche theoretischen, diagnostischen, analytischen und methodischen Kenntnisse und Fähigkeiten sollten Geschichtslehrer*innen zur Umsetzung Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts verfügen? Und mit welchen Konzepten können sie hierauf in den verschiedenen Phasen der Geschichtslehrer*innenbildung vorbereitet werden? Zwar sind in der jüngeren Vergangenheit vielfältige Projekte zur Professionalisierung angehender und praktizierender Lehrkräfte im Bereich des Sprachsensiblen Unterrichts ins Leben gerufen worden, an denen auch Vertreter*innen des Faches Geschichte beteiligt waren,23 und an den Standorten Berlin und Duisburg-Essen wurden bereits konzeptionelle Überlegungen einer phasenübergreifenden Professionalisierung von (angehenden) Lehrkräften zur Sprachbildung u. a. im Geschichtsunterricht publiziert.24 Wohl nicht zuletzt aufgrund der Interdisziplinarität dieser Projekte geraten die spezifischen Herausforderungen von Sprachbildung im Geschichtsunterricht dabei allerdings tendenziell aus dem Blick. Ohne den Anspruch zu erheben, in dieser Sektion Antworten auf sämtliche konzeptionellen und organisatorischen Herausforde22 Vgl. Ewald Terhart (Hrsg.): Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland. Abschlussbericht der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission. Weinheim/Basel 2000, S. 20. 23 Vgl. für die erste Phase der Lehrer*innenbildung vor allem das Projekt ProDaZ an der Universität Duisburg-Essen (https://www.uni-due.de/prodaz/, aufgerufen am 05. 02. 2020); für die zweite Phase z. B. Sven Oleschko (Hrsg.): Sprachsensibles Unterrichten fördern. Angebote für den Vorbereitungsdienst. o. O. 2017, oder für die dritte Phase Heidi ScheinhardtStettner: Das Projekt »Sprachsensible Schulentwicklung«. Erfahrungen und Konzepte zur Umsetzung in Schulen. o. O. 2017. 24 Vgl. Jostes/Darsow (Anm. 14); Claudia Benholz/Ursula Mensel: Kooperation und Vernetzung – Grundvoraussetzung für die Lehrerbildung in der ersten, zweiten und dritten Phase. In: Benholz/Frank/Gürsoy (Anm. 8), S. 343–365.
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rungen einer phasenübergreifenden Professionalisierung geben zu können, birgt der hier gewählte gemeinsame theoretische Rahmen zu den Bereichen und Formen des Professionswissens über Sprachsensiblen Geschichtsunterricht demgegenüber das Potential, sprachliches Lernen im Geschichtsunterricht nicht als überfachliches Addendum, sondern als integralen Bestandteil historischen Lernens zu diskutieren. Demgemäß diskutiert Mareike-Cathrine Wickner (Duisburg-Essen) in ihrem Beitrag Fragen in Bezug auf die erste Phase der Lehrer*innenbildung: Hinsichtlich welcher Dimensionen von Bildungssprache und historischer Fachsprache müssen die Studierenden im Rahmen ihres Studiums vorbereitet werden? Und welche weiteren, auf Sprache bezogenen, Kompetenzen sind den Studierenden im Studium zu vermitteln? Der Beitrag Kerstin Lochon-Wagners widmet sich der zweiten Phase der Geschichtslehrer*innenbildung und stellt methodische Konzepte der Fachseminararbeit in den Vordergrund, die darauf abzielen, das bis dahin vor allem theoretisch-konzeptionell angebahnte Wissen der Lehramtsanwärter*innen während des Vorbereitungsdienstes in erste Ansätze von praktischem Handlungswissen zu überführen. Auf eine explizite Verbindung von theoretisch-konzeptionellem Wissen und praktischem Handlungswissen setzt das Konzept einer Geschichtslehrerfortbildung, das im dritten Beitrag der Sektion von Martin Schlutow vorgestellt wird und als Beispiel für grundlegende Herausforderungen und Zugänge bei der Entwicklung von Lehrerfortbildungen zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht dient. Ausgehend von den Unterrichtserfahrungen der Fortbildungsteilnehmer*innen verfolgt dieses Programm das Ziel, fachspezifische Merkmale sprachlichen Lernens im Geschichtsunterricht herauszuarbeiten und Sprachbildung als kontinuierliche Entwicklungsaufgabe der Fachschaften erfahrbar zu machen. Abschließend sei jedoch nicht verschwiegen, dass diese Sektion einige wichtige Fragen offenlassen musste, von denen mindestens die folgenden drei grundlegend sind: Erstens ermöglicht die von COACTIV vorgelegte und auch in dieser Sektion zugrunde gelegte Auflistung einzelner Kompetenzbereiche und -facetten zwar eine empirische Untersuchung des Konstrukts »professionelle Kompetenz von Lehrkräften«, aus pragmatischer Sicht erscheint diese Trennung jedoch künstlich, stehen doch die einzelnen Bereiche in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander.25 So ist kompetentes Lehrerhandeln im Sprachsensiblen Ge25 Ludger Schröer: Individuelle didaktische Theorien und Professionswissen. Subjektive Konzepte gelingenden Geschichtsunterrichts während der schulpraktischen Ausbildung (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 14). Berlin 2015, S. 35.
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Martin Schlutow
schichtsunterricht zum Beispiel auch bei fundierten Kenntnissen über differenzierende Aufgabenformate und Prinzipien der Lese- und Schreibförderung nur dann möglich, wenn die Lehrkraft sich zugleich der fundamentalen Bedeutung historischer Fragen für die Orchestrierung des Lernprozesses im Geschichtsunterricht bewusst ist, sie in der Lage ist, eine Quelleninterpretation selbst im Sinne der historischen Methode zu modellieren und auf Basis gesicherter Kenntnisse über den thematischen Gegenstand ein fachliches Lernziel zu formulieren. Der Zusammenhang von »Geschichtswissen«, »geschichtsdidaktischem Wissen« und »pädagogischem Wissen« bedarf in der Geschichtsdidaktik allerdings noch vertiefender Diskussionen. Zweitens besteht in der Forschung Einigkeit darüber, dass auch der Kompetenzaspekt der »Überzeugungen und Werthaltungen« erheblichen Einfluss auf die Ausübung des Lehrer*innenberufs besitzt.26 Insofern erscheint es zunächst plausibel, auch die Überzeugungen von Lehrkräften zum sprachlichen Lernen im Geschichtsunterricht zum Gegenstand der Lehrer*innenbildung zu machen. Gewarnt werden muss an dieser Stelle allerdings vor einer »normativ-idealistisch[en]« Aufladung des Umgangs mit (sprachlicher) Heterogenität in der Lehrer*innenbildung, wie sie in Teilen der Fachliteratur zu finden ist.27 Ernst zu nehmen ist u. a. der Hinweis Terharts, dass bei einer allzu umfangreichen Skizzierung der erforderlichen Kompetenzen im Umgang mit Heterogenität »die Lehrerschaft zunehmend in eine Überforderungsfalle gerät bzw. gezogen wird, die der Sache nicht dienlich ist und am Ende bei Akteuren und Publikum nur Enttäuschung und Widerwillen erzeugt.«28 Wie viel dürfen wir also von unseren Geschichtslehrer*innen erwarten? Drittens drängt sich in empirischer Hinsicht die Frage auf: »Wie wirkt Lehrerbildung?«29 Auch hierüber wissen wir in Bezug auf das Thema der Sektion so gut wie nichts. Angesichts der enormen Komplexität der Frage nach dem Einfluss von Lehrerbildungskonzepten auf den Professionalisierungsprozess von (angehenden) Geschichtslehrkräften lässt sich vorläufig zumindest mit den Worten 26 Ebd., S. 39. 27 Biederbeck/Rothland (Anm. 11), S. 227f. So heißt es beispielsweise im DaZ-Kom-Projekt mit normativer Ausrichtung: »Es wäre zu begrüßen, wenn in Zukunft mehr Lehrkräfte mit starken, ausgeprägten, multikulturellen, sprachsensiblen Überzeugungen die Bildungsressourcen ihrer mehrsprachigen und mehrkulturellen Lernenden erkennen und nutzen würden. […] Mehrsprachigkeit sollte als Bereicherung für alle Lernenden, die monolingualen eingeschlossen, eingeschätzt und genutzt werden«. Vgl. Nele Fischer/Svenja Hammer/Timo Ehmke: Überzeugungen zu Sprache im Fachunterricht: Erhebungsinstrument und Skalendokumentation. In: Ehmke u. a. (Anm. 13), S. 149–184, hier S. 174. 28 Ewald Terhart: Umgang mit Heterogenität: Anforderungen an Professionalisierungsprozesse. In: Lehren & Lernen 40 (2014) H. 8/9, S. 7–12, hier S. 7. 29 Ewald Terhart: Wie wirkt Lehrerbildung? Forschungsprobleme und Gestaltungsfragen. In: Zeitschrift für Bildungsforschung 2 (2012), S. 3–21.
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Mary Diez’ konstatieren: »It is complicated.«30 Insofern steht auch die geschichtsdidaktische Professionsforschung in Bezug auf das Thema der Sektion vor großen Herausforderungen.
30 Mary E. Diez: It is Complicated: Unpacking the Flow of Teacher Education’s Impact on Student Learning. In: Journal of Teacher Education 61 (2010), S. 441–450.
Mareike-Cathrine Wickner
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Sprachsensibler Geschichtsunterricht fängt mit einer sprachsensiblen Geschichtslehrer*innenbildung an
1.
Einleitende Gedanken
»Die Förderung in der deutschen Sprache ist Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern.«1 Dieser auf den Runderlass von 1999 zurückgehende Eintrag in der aktuellen Fassung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen markiert zunächst lediglich die Verpflichtung, sich mit Sprache im Fachunterricht auseinanderzusetzen. Er liefert allerdings kein Argument dafür, warum diese Forderung eine Berechtigung hat. Noch viel weniger gibt er Anregungen, wie eine solche Verankerung im Fachunterricht erfolgen soll. Nichtsdestotrotz liefert er einen ersten Anhaltspunkt dafür, warum Studierende auch im Rahmen ihrer universitären Ausbildung darauf vorbereitet werden müssen, wie sie eine Förderung »in der deutschen Sprache« im Fachunterricht umsetzen können. Hierfür soll das vormals unsystematische oder lediglich teil-systematisierte Handhaben von Sprache systematisiert und zudem für alle Akteur*innen historischer Bildung nutzbar gemacht werden.2 Als Label fungiert der »sprachsensible Geschichtsunterricht«, ohne dass man sich so recht einig darüber ist, was darunter zu verstehen sei. Einmal wird mit der Bezeichnung eine zielgerichtete, problemorientierte Thematisierung von Sprache vor dem Hintergrund des Einsatzes diverser Unterrichtsmedien und den mit der Rezeption einhergehenden Verstehensschwierigkeiten von Lernenden verbunden.3 Ein anderes Mal handelt 1 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Verordnung über die Ausbildung und die Abschlussprüfungen in der Sekundarstufe I. APO-S I 2019, § 6, Absatz 6. 2 Vgl. Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 3). Münster 2013, S. 317–333, hier v. a. S. 319f., 325. 3 Vgl. Kerstin Lochon-Wagner: Sprachsensibler Geschichtsunterricht: Ein Plädoyer für sprachliches Lernen als Schlüsselmomente/-kompetenz historischer Diskursfähigkeit. In: Seminar (2014) H. 2, S. 142–150, hier v. a. S. 142–144. Lochon-Wagner fokussiert hier einen für die
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Mareike-Cathrine Wickner
es sich um eine Form des Geschichtsunterrichts, die sprachliche Hürden dezimiert und auf diese Weise die Zugänge zum historischen Lerngegenstand vereinfachen soll.4 Auch scheint bisher nicht geklärt zu sein, wer von »sprachsensiblem Geschichtsunterricht« profitieren soll. Einerseits stehen die leistungsschwachen Lernenden und jene mit anderen Erstsprachen im Fokus.5 Andererseits sollten eigentlich auch die leistungsstarken Lernenden profitieren.6 Nicht zuletzt ist ebenso abzustimmen, wer den Studierenden all das, was unter »sprachsensiblem Geschichtsunterricht« subsumiert werden kann, vermittelt: die Geschichtswissenschaft, die Geschichtsdidaktik, die Sprach- und Schreibdidaktik oder der Fachbereich Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. In diesem Beitrag wird angenommen, dass ein Geschichtsunterricht dann als »sprachsensibel« gelten kann, wenn für die Lernenden die Möglichkeit eröffnet wird, Sprache zugunsten eines historischen Erkenntnisgewinns gezielt einzusetzen und in diesem Sinne Sprache als epistemischer Wegbereiter und kognitive Stütze des Lernprozesses wirken kann.7 Sprache ist dann nicht nur Medium, sondern auch Modus des historischen Lernens und vor diesem Hintergrund ein wesent-
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5
6 7
alltägliche Unterrichtspraxis besonders bedeutsamen, wenngleich ausschnitthaften Bereich von historischer Fachsprache (Verwendung fachspezifischer Lexeme und zeitgebundener Phasen) bzw. mangelnder Fähigkeiten der Lernenden (Leseverstehen und Wortschatz). Vgl. u.a. Bettina Alavi: Leichte Sprache und historisches Lernen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 169–190, hier v. a. S. 172–176. Alavi gibt zu bedenken, dass sich nicht jeder komplexe Sachverhalt mit den Mitteln Leichter Sprache fassen lasse, und problematisiert die durch sprachliche Verkürzungen entstehenden Verschiebungen der darzustellenden Sachverhalte. In eine gleiche Richtung argumentieren auch Handro und Kilimann (vgl. Saskia Handro/Vanessa Kilimann: Textverstehen im Geschichtsunterricht. Ein Projekt zur Professionalisierung historischer Leseförderung [ProLeGu]. In: Marion Bönnighausen [Hrsg.]: Praxisprojekte in Kooperationsschulen. Fachdidaktische Modellierung von Lehrkonzepten zur Förderung strategiebasierten Textverstehens in den Fächern Deutsch, Geographie, Geschichte und Mathematik [Schriften zur allgemeinen Hochschuldidaktik, Bd. 4]. Münster 2019, S. 165–222, hier S. 167). Eike Thürmann/Helmut Johannes Vollmer/Irene Pieper: Language(s) of Schooling: Focusing on Vulnerable Learners (The Linguistic and Educational Integration of Children and Adolescents from Migrant Backgrounds. Studies and Resources), https://rm.coe.int/16805a1caf (aufgerufen am 04. 03. 2020), S. 6f. Die Autor*innen legen nahe, dass beide Gruppen gleichermaßen förderungswürdig sind. Diese Förderbedürftigkeit wird auf den Mangel an bildungssprachlichen Fähigkeiten der Lernenden zurückgeführt. Vgl. hierzu u. a. den Beitrag von Martin Schlutow in diesem Band. Schlutow betont zu Recht, dass sprachliche Heterogenität auch jene Lernenden einschließt, die über ausgeprägte sprachliche Fähigkeiten verfügen. Ähnliche Definitionen finden sich – ohne Verweise auf fachspezifische Aspekte – auch auf den Seiten des Mercator-Instituts. Vgl. Till Woerfel/Marlis Giesau: Sprachsensibler Unterricht. Köln 2018 (Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache [Basiswissen sprachliche Bildung], https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/de/themenportal/ thema/sprachsensibler-unterricht/, aufgerufen am 04. 03. 2020).
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licher Bestandteil des Geschichtsunterrichts insgesamt.8 Eine solche Form des Geschichtsunterrichts bedarf der zielgerichteten Planung und Umsetzung. Angehende Geschichtslehrpersonen sind darauf angewiesen, dass ihnen nicht nur die Bedeutung von Sprache für historische Lern- und Lehrprozesse nähergebracht wird, sondern sie müssen ebenso Wissen erwerben und Strategien erlernen, wie sie Sprache zum Gegenstand des historischen Lernens und des Geschichtsunterrichts machen können.
2.
Das sprachliche Handlungsumfeld des Geschichtsunterrichts und seine Akteur*innen
Aktuelle Modelle, die die Verwendung von Sprache im Geschichtsunterricht zum Gegenstand haben, finden sich sowohl für die Ebene der konkreten historischen Lernprozesse als auch für die Ebene der verschiedenen Kompetenzbereiche auf Seiten der Lehrenden.9 Sie betrachten je nach ausgewählter Detailebene konkrete sprachliche Bedingungen spezifischer historischer Lernprozesse vor dem Hintergrund geschichtsdidaktischer Theorien, teilweise unter Einbezug relevanter Erkenntnisse aus den Nachbardisziplinen. Es scheint jedoch geboten zu sein, erneut einen Schritt zurückzutreten und den Geschichtsunterricht hinsichtlich seines vielfältigen, sprachlichen Bedingungsgefüges als Ganzes in den Blick zu nehmen. Zur Veranschaulichung der einzelnen Aspekte soll die nachfolgende Systematisierung herangezogen werden (Abb. 1).10 Für die sprachliche Interaktion im und die sprachliche Reflexion über den Geschichtsunterricht sind fünf Aspekte von besonderer Relevanz: die verschiedenen sprachlichen Register (kurz: Sprachen), die Akteur*innen, die historische Methode, die Medien und die Inhalte.11 In Anbetracht der unterschiedlichen 8 Die Verwendung des Begriffs »Modus« orientiert sich u. a. an den Überlegungen des Germanisten Hanspeter Ortner, der den Modus als Sprachverwendungsform begreift, »in dem das besondere Wissen [i. e. Wissen, das über alltägliches Wissen hinausweist, in diesem Sinne auch Fachwissen] be- und verarbeitet wird und für den besonderes sprachliches und kognitives Können konstitutiv ist« (Hanspeter Ortner: Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Bildungssprache. In: Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape [Hrsg.]: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung [Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 31]. Berlin, New York 2009, S. 2227–2240, hier S. 2228). 9 Handro (Anm. 2), S. 325; Handro/Kilimann (Anm. 4), S. 184. 10 Die Systematisierung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie dient lediglich der Visualisierung der diskutierten sprachlichen Bedingungen des Geschichtsunterrichts, die im Rahmen dieser Ausführungen als besonders bedeutsam erachtet werden. 11 Der Begriff der Register bezeichnet die entsprechende Sprachverwendung in spezifischen Kontexten zur Erreichung eines kommunikativen Ziels. Dabei zeichnen sich Register nicht nur durch die Verwendung bestimmter Begriffe, sondern auch durch ihnen eigentümliche
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Mareike-Cathrine Wickner
Abb. 1: Das sprachliche Handlungsumfeld des Geschichtsunterrichts (eigene Darstellung)
institutionellen Einbettung der Kommunikation über Geschichte, Geschichtsunterricht und historisches Lernen in der Schule, der Universität und den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) erfüllen die verschiedenen sprachlichen Register unterschiedliche Funktionen. Je nachdem, welche/r Akteur*in sich welchen sprachlichen Registers bedient, können auf unterschiedlichem Niveau und Abstraktionsgrad Aussagen über Geschichte getätigt werden. Auch die Art und Weise, wie in den unterschiedlichen Medien Geschichte verhandelt wird, lässt sich auf die Funktion dieser Medien zurückführen.12 Andemorphologisch-syntaktische Charakteristika aus (vgl. Ernest W. B. Hess-Lüttich: Fachsprachen als Register. In: Lothar Hoffmann/Hartwig Kalverkämper/Herbert Ernst Wiegand [Hrsg.]: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft [Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 14.2]. Berlin/New York 1999, S. 208–218, hier S. 208f.). Für die Einordnung des Begriffs in den Kontext Sprache und Geschichtsunterricht vgl. Manuel Köster/Christian Spieß: Sprache. In: Sebastian Bracke u. a. (Hrsg.): Theorie des Geschichtsunterrichts (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 9). Frankfurt/M. 2018, S. 193–231, hier S. 199–203. 12 Ausgegangen wird hier von einem sprachkulturell-konventionalisierten Zusammenhang zwischen der Inhaltsdimension und der formalen Umsetzung einer sprachlichen Äußerung (vgl. Daniela Rotter/Sabine Schmölzer-Eibinger: Schreiben als Medium des Lernens in der Zweitsprache. Förderung literaler Kompetenz im Fachunterricht durch eine »Prozedurenorientierte Didaktik und Focus on Form«. In: Sabine Schmölzer-Eibinger/Eike Thürmann
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rerseits erfordern ebenso die einzelnen Inhaltsbereiche mitunter verschiedene Formen der sprachlichen Verhandlung. Für die Akteur*innen ist es zudem relevant, ob sie sich rezeptiver oder produktiver Praktiken bedienen und ob sie ihre Äußerungen eher konzeptionell mündlich oder schriftlich tätigen.13 Der Aspekt der Mehrsprachigkeit spielt dabei vor allem in drei Bereichen eine Rolle. Die Akteur*innen selbst können mehrsprachig aufgewachsen sein.14 Das beeinflusst die Nutzung bzw. Nutzungsmöglichkeiten der sprachlichen Register. Ebenso können sich die Medien verschiedener Sprachen bedienen. Von Lehrpersonen, die sprachsensiblen Geschichtsunterricht durchführen möchten, muss erwartet werden, die Planung ihres Unterrichts auch in Anbetracht der hier hervorgehobenen Aspekte zu durchdenken. Ihr Vorgehen bedarf verschiedener diagnostischer, didaktischer, methodischer und nicht zuletzt sprachlicher Fähigkeiten, die weder kurzfristig angeeignet noch ohne eine konkrete Thematisierung im Laufe der Zeit spontan erworben werden. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Aspekte bedeutet das für Studierende Folgendes: Als Geschichtsstudent*innen befinden sie sich mitten im (vertiefenden) Aneignungsprozess der Register »Fachsprache« und »Wissenschaftssprache«.15 Nach und nach erwerben sie die Fähigkeit, sich in der Institution Universität den Anforderungen entsprechend konzeptionell mündlich und schriftlich zu artikulieren. Im Laufe ihres Studiums gelingen ihnen rezeptive und produktive Praktiken immer besser. Sie erlernen den Umgang mit einer ganzen Reihe von [Hrsg.]: Schreiben als Medium des Lernens. Kompetenzentwicklung durch Schreiben im Fachunterricht [Fachdidaktische Forschung, Bd. 8]. Münster 2015, S. 73–97, hier S. 77f.). 13 Im Kontext der Schreibdidaktik wird zwischen vier sprachlichen Fertigkeiten unterschieden: produktive und rezeptive Fertigkeiten sowie mündlicher und schriftlicher Modus. Angenommen wird, dass die jeweiligen Anwendungsformen unterschiedlicher Arten der Sprachverarbeitung bedürfen (vgl. Paul R. Portmann: Schreiben und Lernen. Grundlagen der fremdsprachlichen Schreibdidaktik [Reihe Germanistische Linguistik, Bd. 122]. Tübingen 1991, S. 57–66). Anders als bei Portmann wird jedoch nicht zwischen artikulierter Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterschieden. Dies impliziert, dass es bei der mündlichen/schriftlichen Äußerung nicht nur um den Äußerungsakt an sich geht, sondern ebenso um die durch den Kontext vorgegebenen Anforderungen an den Formalisierungsgrad der Sprache (vgl. Peter Koch/Wulf Oesterreicher: Mündlichkeit und Schriftlichkeit von Texten. In: Nina Janich [Hrsg.]: Textlinguistik. 15 Einführungen und eine Diskussion. Tübingen 2. Aufl. 2019, S. 191–207, hier S. 191–195). 14 Unter »Mehrsprachigkeit« wird hier die individuelle Mehrsprachigkeit verstanden, »bei der mehrere Sprachen im mentalen System einer Person als miteinander interagierend und vernetzt angenommen werden« (Adelheid Hu: Mehrsprachigkeit. In: Eva Burwitz-Melzer u. a. [Hrsg.]: Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen 6. Aufl. 2016, S. 10–15, hier S. 12). 15 Vgl. zum Erwerb der (alltäglichen) Wissenschaftssprache Angelika Redder: Wissenschaftssprache – Bildungssprache – Lehr-Lern-Diskurs. In: Gabriella Carobbio/Antonie Hornung/ Daniela Sorrentino (Hrsg.): Diskursive und textuelle Strukturen in der Hochschuldidaktik. Deutsch und Italienisch im Vergleich (Sprach-Vermittlungen, Bd. 12). Münster/New York 2014, S. 25–40, hier v. a. S. 25f.
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Inhalten und üben den Umgang mit Quellen, Darstellungen sowie weiteren wissenschaftlichen Texten.16 Dieser Prozess der Elaboration setzt sich beständig fort und kommt gewissermaßen zu keinem »echten« Abschluss.17 Elaborierte sprachliche Fähigkeiten sind eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Durchführung sprachsensiblen Geschichtsunterrichts. Hierfür müssen die Lehrenden in der Lage sein, eigene und fremde Sprachnutzungen zu analysieren, zu reflektieren und im Hinblick auf die Lernenden zu diagnostizieren. Zudem kann die Passung der zusammengestellten Lehr-LernMittel und der sprachlichen Fähigkeiten der Lernenden nur stimmig sein, wenn bekannt ist, ob die Lernenden grundsätzlich in der Lage sind, die ausgewählten Materialien zu verstehen. Vor diesem Hintergrund müssen Lehrende dazu fähig sein, die Lehr-Lern-Materialien hinsichtlich ihrer sprachlichen Voraussetzungen zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Die Anpassung sollte dabei nicht zwangsläufig als didaktische Reduktion verstanden werden.18 Dies würde unter anderem dazu führen, verfrüht auch sprachliche Hürden zu minimieren, indem man sie dezimiert. Eher sollte auf das Prinzip des Scaffolding zurückgegriffen werden, das die Lernenden gemäß ihrer aktuellen Fähigkeiten an den Stellen unterstützt, an denen der konkrete Bedarf zur Unterstützung besteht.19 Ein derartiges Vorgehen erfordert ein elaboriertes Wissen um Formen der sprachlichen Unterstützung. Die unterschiedlichen Aspekte von Sprache insgesamt und die verschiedenen sprachlichen Felder des Geschichtsunterrichts im Speziellen verdeutlichen zweierlei: Einerseits zeigen sie auf, dass eine einfache Hinwendung zu Sprache im 16 Als »wissenschaftliche Texte« werden hier jene Textsorten begriffen, die im fachlichen und überfachlichen konzeptionell-schriftlichen Diskurs Verwendung finden. Dazu zählen bspw. Abstracts, Aufsätze, Essays oder Handbuchartikel. In ihnen kommt das Register der Wissenschaftssprache zur Anwendung, das je nach Disziplin unterschiedlichen fachlichen und fachsprachlichen Konventionen unterliegt. 17 Gewissermaßen lassen sich diese Fähigkeiten als ein Teil jener Schlüsselkompetenzen begreifen, die für die Ausübung des Berufs »Geschichtslehrer*in« von Bedeutung sind (vgl. zum Begriff »Schlüsselkompetenzen« Vera Nünning/Ansgar Nünning: Schlüsselqualifikationen. In: Carola Surkamp [Hrsg.]: Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Stuttgart 2017, S. 299f.). 18 Als »didaktische Reduktion« wird hier jene Vereinfachung von Unterrichtsinhalten bezeichnet, die davon ausgeht, dass durch das Weglassen bestimmter Teilbereiche der Kern des Sachverhaltes erhalten werden kann, sodass die Lernenden auf diese Weise einen besseren Zugang zum Lerngegenstand erhalten (vgl. hierzu Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 3. Aufl. 2015, S. 113, bzw. Britta Viebrock: Unterrichtsplanung. In: Carola Surkamp [Hrsg.]: Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Stuttgart 2017, S. 361–365, hier S. 363). 19 Scaffolding meint hier »the temporary assistance by which a teacher helps a learner know how to do something, so that the learner will later be able to complete a similar task alone« (Pauline Gibbons: Scaffolding Language, Scaffolding Learning. Teaching Second Language Learners in the Mainstream Classroom. Portsmouth 2002, S. 10).
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Allgemeinen vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnisse nicht genügt. Andererseits wird ebenso deutlich, dass es einer expliziten Vermittlung des Wissens um die sprachlichen und vor allem fachsprachlichen Besonderheiten des Geschichtsunterrichts und des historischen Lernens an zukünftige Lehrer*innen bedarf. Eine Nicht-Thematisierung während des Studiums muss zumindest als fahrlässig gelten: Zu keiner anderen Zeit in der Aus- und Weiterbildung haben (zukünftige) Lehrer*innen so viel Zeit, sich mit dem Phänomen der Fachsprache auseinanderzusetzen. Hier gibt es ausreichend Raum, sich auf theoretischer und pragmatischer Ebene mit den Sprachen des Geschichtsunterrichts zu beschäftigen, unterschiedliche Verwendungen von Sprache zu erproben und die damit erzielten Wirkungen zu reflektieren sowie den Umgang mit Sprache durch andere Personen zu beobachten, etwa im Rahmen der Forschungsarbeiten, die während des Praxissemesters angefertigt werden.20
3.
Ausgewählte Aspekte sprachlicher Handlungsfähigkeiten von Lehramtsstudierenden des Unterrichtsfaches Geschichte
Angesichts der Komplexität des hier dargestellten Bedingungsgefüges scheint es notwendig zu sein, einen Ausgangspunkt für die (fach-)sprachliche Ausbildung der Lehramtsstudierenden festzusetzen, der sich einerseits sprachlich fachspezifisch fassen lässt und andererseits eine ausgesprochene Relevanz für den historischen Lernprozess der Schüler*innen besitzt, die zukünftig von den Kenntnissen und Fähigkeiten der angehenden Geschichtslehrer*innen profitieren sollen. Im »Europäischen Kern-Curriculum für die durchgängige Sprachförderung in der Bildungssprache« aus dem Jahr 2010 werden Vorschläge für die modularisierte Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen präsentiert, die auf die universitäre Lehrer*innenausbildung übertragen werden können. HansJoachim Roth und Joana Duarte identifizieren als wesentliche Kompetenzbereiche das Wissen über »Register, Strukturen [und] Genres in ihrer Bedeutung für sprachliche Bildung im Kontext fachlichen Lernens sowie die Funktion der
20 An der Universität Duisburg-Essen wird seit dem Sommersemester 2017 die Übung »Geschichtswissenschaftliche Textkompetenz« angeboten, die begleitend zu den Lehrveranstaltungen des 2. Fachsemesters in Kooperation mit der Schreibwerkstatt durchgeführt wird. Neben einer Thematisierung des Zusammenhangs von Sprache und historischem Lernen in mehreren Sitzungen der geschichtsdidaktischen Einführungsvorlesung sowie im geschichtsdidaktischen Grundlagenmodul haben die Studierenden des Studiengangs für die Lehrämter an Haupt-, Real- und Gesamtschulen die Möglichkeit, eine Übung zur Planung und Durchführung eines sprachsensiblen Gesellschaftslehreunterrichts zu besuchen.
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Sprache in sozialen Praktiken und in multimodalen Kontexten«.21 Weiterhin betonen sie die auf diesen Kenntnissen aufbauende Fähigkeit, die sprachlichen Aspekte einzuordnen und zu analysieren.22 Den Begriffen »Register« und »Genre« ist dabei die Annahme inhärent, dass sich die Kommunikation in der Institution Schule maßgeblich im Fachunterricht abspielt und dort fachtypischen Gesetz- und Regelmäßigkeiten unterliegt. Studierende des Unterrichtsfaches Geschichte müssen also erkennen, was die Register der Bildungssprache und der historischen Fachsprache – auch in Abgrenzung zueinander – auszeichnet und wie sich die verschiedenen Genres in dieses Setting einordnen lassen. Um dieser Behauptung eine unterrichtspragmatische Notwendigkeit zu verleihen, sei ein kurzer Exkurs in ein vergangenes Semester gestattet. Anhand eines Textbeispiels soll verdeutlicht werden, welche sprachlichen Schwierigkeiten sich bei Studierenden mitunter ausmachen lassen und welche Relevanz sie für die Elaboration von Fach- und Bildungssprache haben. Der Text stammt von einer Studentin aus dem dritten Fachsemester des Lehramtsstudiengangs für Haupt-, Real- und Gesamtschulen. Ihr Auftrag war es, das »Prozessmodell sprachlichen Handelns im Geschichtsunterricht« von Saskia Handro in einem Text zu beschreiben (Abb. 2 u. Abb. 3).23 Die genauere Inaugenscheinnahme des sprachlichen Handelns der Studentin legt nahe davon auszugehen, dass sie keine Kenntnis davon hat, was der Operator des Beschreibens von ihr fordert. Zudem gewinnt man den Eindruck, dass sie die im Modell verwendeten Begriffe und Konzepte inhaltlich nicht füllen und demzufolge in keinen Zusammenhang bringen kann. Doch der Reihe nach: Zunächst nennt die Studentin den Titel der Abbildung, dann folgt sie in Leserichtung den Dimensionen Heuristik, Quellenkritik und Interpretation mit den jeweiligen Subdimensionen, die ebenfalls benannt werden. Benennend eingeordnet werden diese Aspekte in den Kontext des Begriffes »Erkenntnisprozess«, auch der Begriff »Hermeneutik« wird genannt. Auf eine ähnliche Weise verfährt 21 Hans-Joachim Roth/Joana Duarte: Adaption des europäischen Kerncurriculums für inklusive Förderung der Bildungssprache Nordrhein-Westfalen (NRW), Bundesrepublik Deutschland. European Core Curriculum for Inclusive Academic Language Teaching 2010 (http://www. eucim-te.eu/data/eso27/File/Material/NRW.%20Adaptation.pdf, aufgerufen am 04. 09. 2019), S. 12. 22 Neben dem bereits eingeführten Begriff des Registers sei hier auch der Begriff »Genre« hervorgehoben. Mit dem Begriff ist die Verwendung »spezifischer Text- und Diskurstypen« gemeint, die »innerhalb von Themenbereichen spezialisiertere Formen« annehmen (ebd., S. 15). Vgl. hierzu die geschichtsdidaktischen Adaptionen von Olaf Hartung: Generisches Geschichtslernen. Drei Aufgabentypen im Vergleich. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 47–62, und Martin Schlutow: Historisches Denken in der Fremdsprache. Bilingualer Geschichtsunterricht aus funktional-linguistischer Perspektive. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 121–135, hier v. a. S. 126f. 23 Solche Arbeitsaufträge kommen zum Einsatz, wenn es sich anbietet, Studierende mit den sprachlichen Herausforderungen bestimmter Aufgabenstellungen zu konfrontieren.
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Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm »Das Modell von Saskia Handro ist ein Prozessmodell sprachlichen Handelns im Geschichtsunterricht. Das Modell beginnt mit der Heuristik, also der Erkenntnisinitiation und der Recherche. Dabei werden Historische Fragen formuliert, die neuen Sachverhalte mit dem Vorwissen in Verbindung gebracht, Hypothesen formuliert und nach anderen dazu passenden Darstellungen und Quellen formuliert. Der nächste Schritt ist die Quellenkritik, eine Erkenntnisproduktion u. methodische Reflexion. Wichtig ist die innere u. äußere Quelle. Der nächste Schritt wäre die Interpretation, also die Erkenntnisstrukturierung u. Sinnbildung. Quellenaussagen müssen in diesem Schritt bewertet, verglichen und erklärt werden. Das Ganze nennt man den Erkenntnisprozess. Und [kann] fällt unter den großen Überbegriff der Hermeneutik. Nach de[m] Erkenntnisprozess folgt die Erklärung [Anal[k]ytik
] als
Anwendung fachspezifischer Theorien, Konzepte und Begriffe. [Wenn] Mit einer Darstellung präsentiert man die Ergebnisse, die man während des Erkenntnisprozesses erlangt hat. Dies kann durch Zeitungsartikel, Vorträge oder weitere Theorien [geschehen]. Des Weiteren können Historische Deutungen diskutiert werden. Diesen Teil des Modelles nennt man den Kommunikationsprozess.«
Abb. 2: Beschreibung des Prozessmodells sprachlichen Handelns im Geschichtsunterricht von S. Handro durch eine Studentin
sie mit der Wiedergabe des Begriffs »Erklärung« inklusive der Darstellung und der Einordnung in den »Kommunikationsprozess«. Die Studentin hat alle wesentlichen Begriffe benannt. Sie hat aber das Modell nicht beschrieben, zumindest nicht, wenn man sich an den sprachlichen Anforderungen einer Beschreibung orientiert. Denn die sprachliche Handlung des Beschreibens lässt sich in Anlehnung an die Linguistin Angelika Redder als »verbale Wiedergabe gemäß [der] Oberfläche der Sache bzw. ihrer Wahrnehmbarkeit zwecks [Schaffung einer] gemeinsame[n] Wahrnehmungsbasis« definieren.24 Das ist das Mehr im Vergleich zum Operator »benennen«, der bekanntlich das zielgerichtete Zusammentragen von Informationen ohne Kommentierung oder Wertung meint.25 Eine Beschreibung hingegen enthält bereits erste Anteile einer Interpretation, indem eine Auswahl darzustellender Elemente getroffen wird. An der sprachlichen Oberfläche fällt auf, dass die Studentin vornehmlich additive und temporalisierende Konnektoren ver24 Angelika Redder: Wissen, Erklären und Verstehen im Sachunterricht. In: Heike Roll/Andrea Schilling (Hrsg.): Mehrsprachiges Handeln im Fokus von Linguistik und Didaktik. Wilhelm Grießhaber zum 65. Geburtstag. Duisburg 2012, S. 117–134, hier S. 118. 25 Zur Bestimmung der Diskursfunktion des Benennens vgl. Helmut Johannes Vollmer: Schulsprachliche Kompetenzen. Zentrale Diskursfunktionen 2011 (www.home.uni-osnabrueck. de/hvollmer/VollmerDF-Kurzdefinitionen.pdf, aufgerufen am 11. 03. 2019), S. 5f.
Abb. 3: Prozessmodell sprachlichen Handelns im Geschichtsunterricht; das Modell stammt aus Handro (Anm. 2), S. 325 Epistemische Funktion des Sprachhandelns
Heuristik
Erkenntnisinitiation u. Recherche
Deutungsakt
im Erkenntnisprozess
Interpretation
Erkenntnisstrukturierung u. Sinnbildung
Quellenkritik
Erkenntnisproduktion u. methodische Reflexion
Strategien historischen Denkens
Historische Methode
Verstehen (Hermeneutik) als gegenwartsgebundene r
Historische Fragenformulieren Vorwissen darstellen, Hypothesen formulieren Darstellungen und Quellen recherchieren
äußere Quellenkritik Gattungsmerkmale, situativen Kontext nennen, beschreiben innere Quellenkritik Quellenaussagen nennen, zusammenfassen, beurteilen.(u.a. Perspektivität, Intentionen, sprachliche Mittel)
Quellenaussagen u.a.bewerten, vergleichen, erklären
Narrativieren: u.a. kausale, temporale Zhg., Motive erklären, Theorien, Fachbegriffe anwenden, Triftigkeit benennen
im Kommunikationsprozess
Darstellung
Erkenntnispräsentation u. Sinnstiftung/-reflexion
Theorien, Konzepte und Begriffe
Erklärung (Analytik)
als Anwendung fachspezifischer
Historisches Erzählen:adressaten,gattungs- und situationsgerecht (als u.a. Vortrag,Zeitungsartikel) Historische Sachurteile und Werturteile erklären u. begründen: in Bezug auf Theorien, Werte, Normen Historische Deutungen u. Werturteile diskutieren: argumentieren, erörtern
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wendet, etwa »und«, »nach« oder »des Weiteren«. Insgesamt macht sie auch eine innere Strukturierung deutlich, indem sie ein Nacheinander der einzelnen Modellphasen sprachlich markiert. Sie schreibt »das Modell beginnt«, »der nächste Schritt ist/wäre« oder »nach dem Erkenntnisprozess folgt«. Im Sinne bildungssprachlicher Kriterien wird die explizite sprachliche Markierung einzelner Schritte nur dann als Bestandteil einer Beschreibung aufgefasst, wenn es beispielsweise für die Handlungsanweisung von Bedeutung ist, in welcher Reihenfolge bestimmte Teilhandlungen ausgeführt werden. Das reine Nacheinander der einzelnen Phasen des Prozessmodells sprachlichen Handelns von Handro ist aber nicht das eigentlich Zentrale an ihrem Modell und bedarf deshalb keiner hervorgehobenen sprachlichen Markierung: Vielmehr geht es darin um das Durchlaufen unterschiedlicher, nicht notwendigerweise aufeinanderfolgender Phasen des historischen Erkenntnisprozesses und die adäquate Präsentation der daraus gewonnenen Einsichten vor dem Hintergrund sprachlichen Handelns. Verstehen und Erklären als Strategien historischen Denkens stehen dabei in einem stetig wechselseitigen Austausch. Vor allem die unterschiedlichen sprachlichen Handlungen des Fragens, Darstellens, Beschreibens, Zusammenfassens, Beurteilens, Interpretierens und historischen Erzählens werden hinsichtlich bestimmter fachlicher Lernprozesse systematisiert und den jeweiligen Phasen des Erkenntnisprozesses zugeordnet. So oder so ähnlich könnte eine übergeordnete Beschreibung des Prozessmodells lauten. Mit diesem Beispiel soll Folgendes hervorgehoben werden: Scheinbar einfache sprachliche Handlungen wie das Beschreiben verlangen Kenntnis darüber, was vor dem Hintergrund des jeweiligen Registers als Beschreibung angesehen werden kann. Die Orientierung an fachübergreifenden, bildungssprachlichen Kriterien der sprachlichen Handlung des Beschreibens kann auch erste Anhaltspunkte für die fachspezifische sprachliche Handlung sein, bedarf aber einer weiteren fachsprachlichen Konkretisierung.26 Andersherum kann die Realisierung sprachlicher Handlungen offenbaren, ob die Studierenden – und in diesem Sinne auch die Lernenden – den jeweils zu beschreibenden Inhalt oder den zu erklärenden Sachverhalt verstanden haben.
26 Unter »Fachsprache« ist in diesem spezifischen Fall die geschichtsdidaktische Fachsprache gemeint.
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4.
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Bemerkungen zum Register der historischen Fachsprache vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Umsetzung sprachsensiblen Geschichtsunterrichts
Die fachsprachliche Konkretisierung dessen, was wir von den Lernenden in den Schulen erwarten und auch was wir von den Studierenden an den Universitäten erwarten, scheint nach wie vor lückenhaft zu sein. Denn was historische Fachsprache konkret ist und was ihre zentralen Merkmale sind, wurde bisher nicht in der notwendigen (linguistischen) Detailtiefe geklärt. Hans-Jürgen Pandel stellt für die Sprache der Historiker*innen fest: »Es ist nicht die Grammatik, die die Sprache der Historiker von anderen Wissenschaften unterscheidet. Es sind vielmehr die Begriffe [Hervorhebung im Original].«27 In seiner Argumentation geht Pandel davon aus, dass vor allem die Fachbegriffe und historischen Begriffe die historische Fachsprache ausmachen und Historiker*innen ansonsten auf andere Sprachen zurückgreifen. Diese Auffassung greift insofern zu kurz, als nicht nur das inhaltliche Was, sondern auch das kommunikative Wie einer fachlichen Prägung unterliegt.28 Das bedeutet, dass neben der Wortwahl beispielsweise auch Satzstrukturen und Sprachhandlungsmuster dem fachsprachlichen Register zuzuordnen sind.29 Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Zweck-Mittel-Relation bringt ein solches Verständnis von historischer Fachsprache die unterschiedlichen sprachlichen Aspekte in ein engeres Verhältnis zueinander. Auf diese Weise rücken zum Beispiel jene sprachlichen Handlungen in den Fokus, die eine zielgerichtete Fachkommunikation erst ermöglichen. Bezogen auf die für das historische Lernen und gleichermaßen die Geschichtswissenschaft besonders bedeutsame sprachliche Handlung des Erzählens betont Hilke Günther-Arndt, dass »mit der Erzählung […] der historische Ablauf rekonstruiert [wird], der jedoch nur zu verstehen ist, wenn die Motive der Handelnden und die Strukturen beschrieben, analysiert und erklärt werden. Das entspricht auf der darstellerischen Ebene den historischen Erkenntnismethoden Verstehen und Erklären.«30 In einem weiteren Aufsatz hebt sie daran anknüpfend hervor: »Da die historische Erzählung aber immer auch Begründungen für die 27 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtstheorie. Eine Historik für Schülerinnen und Schüler – aber auch für ihre Lehrer (Wochenschau Geschichte). Schwalbach/Ts. 2017, S. 271. 28 Vgl. Gabriele Kniffka/Thorsten Roelcke: Fachsprachenvermittlung im Unterricht. Stuttgart/ Paderborn 2016, S. 20. 29 Pandel ordnet beispielsweise die Faktualitätsgrade von Aussagen der sogenannten »metatheoretischen Sprache« zu, obgleich er selbst anführt, dass »die Geschichtswissenschaft besondere Ausdrucksformen und Formulierungskonventionen entwickelt [hat], die unabdingbar für die Nachprüfbarkeit historischer Aussagen sind« (Pandel [Anm. 28], S. 274). 30 Hilke Günther-Arndt: Geschichte präsentieren. In: Gunilla Budde/Dagmar Freist/Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichte. Studium, Wissenschaft, Beruf. Berlin 2010, S. 252–269, hier S. 258.
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Gültigkeit des Erzählten enthält, also diskursiv und argumentativ verfährt, sind in die historische Erzählung nicht-narrative Textsorten integriert«.31 Aus linguistischer Perspektive argumentiert handelt es sich bei »der« historischen Erzählung eher um ein relativ globales Vertextungsmuster.32 Bei den integrierten Beschreibungen, Argumentationen und Begründungen handelt es sich um eben jene sprachlichen Handlungen, wie sie bereits thematisiert wurden. Im Rahmen historischer Erzählungen erfüllen sie aber einen bestimmten kommunikativen Zweck, der fachspezifischer Anwendungsformen von Sprache bedarf: Es geht nicht um den einen zum Einsatz kommenden Begriff, sondern um die Fragen: Zu welchem Zweck wird der Begriff auf welche Art und Weise in den Text eingebracht und sprachlich eingerahmt? Was geht dem Begriff sprachlich voran und was folgt auf ihn? Hier werden wir auf sprachliche Handlungsmuster stoßen, die eindeutig dem fachsprachlichen Register zugeordnet werden können. Nun lassen sich nicht alle sprachlichen Handlungen in das Vertextungsmuster der historischen Erzählung einpassen. Dennoch haben die sprachlichen Handlungen ihre Berechtigung auch im Geschichtsunterricht, sofern angenommen werden kann, dass mit ihrem Vollzug bestimmte kognitive Prozesse angestoßen und unterstützt werden, die entscheidend für den historischen Denk- und Verstehensakt sind.33 Welche Erkenntnisprozesse mit den sprachlichen Handlungen verbunden sind, lässt sich wiederum auch aus Handros Prozessmodell ableiten. Zudem zeugen Operatorenlisten und Arbeitsaufträge in Geschichtsschulbüchern davon, dass mit historischem Lernen der Vollzug diverser sprachlicher Handlungen verbunden ist.34 Jedoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Lernenden den Vollzug der sprachlichen Handlungen bereits beherrschen, auch wenn sie etwa das Beschreiben im Deutschunterricht erarbeitet haben.35 Be31 Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Dies./Meik ZülsdorfKersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 6. Aufl. 2014, S. 24–49, hier S. 27. 32 Der Begriff »Vertextungsmuster« beschreibt die »Basis für die Entscheidung eines Textproduzenten für eine bestimmte Grundform der strukturellen und sprachlichen Gestaltung eines Textes (unter bestimmten situativen Bedingungen)«, vgl. Wolfgang Heinemann: Vertextungsmuster Deskription. In: Klaus Brinker u. a. (Hrsg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 16.1). Berlin/New York 2000, S. 356–369, hier S. 357. 33 Vgl. Hartung (Anm. 22), hier v. a. S. 59–62. 34 In der aktuellen Operatorenliste für das Land NRW sind 17 Operatoren aufgelistet, wobei sich einige Operatoren nicht direkt in sprachliche Handlungen überführen lassen (vgl. Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Übersicht über die Operatoren. Geschichte 2015, https://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/cms/zen tralabitur-gost/faecher/getfile.php?file=3946, aufgerufen am 11. 03. 2020). 35 Vgl. Markus Bernhardt/Mareike-Cathrine Wickner: Die narrative Kompetenz vom Kopf auf die Füße stellen. Sprachliche Bildung als Konzept der universitären Geschichtslehrerausbildung. In: Claudia Benholz/Magnus Frank/Erkan Gürsoy (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in
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schreibungen im Geschichtsunterricht unterliegen anderen kommunikativen Bedingungen und dienen anderen epistemischen und didaktischen Zwecken. Und so wie auch »die« Bildungssprache nicht automatisch (mit-)erworben wird, weil es sich um ein eigenständiges Register handelt, muss auch die für den Geschichtsunterricht relevante Fachsprache erworben werden.36 Gleichermaßen muss angenommen werden, dass die Studierenden zwar Alltagskonzepte und bildungssprachliche Konzepte verschiedener sprachlicher Handlungen mit in das Studium bringen, sie aber erst an der Universität jene fachsprachlichen Fähigkeiten erwerben können, die sie für die spätere Lehrtätigkeit an den Schulen benötigen. Dieser Zugang zur historischen Fachsprache muss den Studierenden während ihres Studiums ermöglicht werden. Doch sind aktuelle geschichtsdidaktische Kompetenzmodelle in dieser Hinsicht anschlussfähig?
5.
Konsequenzen für die universitäre Geschichtslehrer*innenausbildung
Wie »Sprache« insgesamt waren auch die sprachlichen Fähigkeiten von Geschichtslehrkräften bereits vor der Intensivierung der Diskussion um die Relevanz von Sprache für das historische Lernen ein Thema der geschichtsdidaktischen Kompetenzdebatte. So haben beispielsweise Michael Jung und Holger Thünemann das historische Erzählen stets als notwendige Fähigkeit mitgedacht und mitdiskutiert.37 Ebenso weist Wolfgang Hasberg in seinem Modell aus dem Jahr 2010 die Narrative Kompetenz als für die Anregung historischer Lernprozesse besonders bedeutend aus.38 Wirft man einen Blick auf aktuelle geschichtsdidaktische Kompetenzmodelle für (angehende) Geschichtslehrkräfte, beziehen sich diese grundlegend auf das allen Fächern. Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart 2015, S. 281–296, hier S. 282. 36 In der Mehrsprachigkeitsforschung wird angenommen, dass Bildungssprache – bei mehrsprachigen Lernenden mit den Mitteln der Zweitsprache – im institutionalisierten Rahmen der Schule – explizit erworben werden muss, weil sie im alltagssprachlichen Umfeld der Lernenden praktisch nicht vorkommt (vgl. Anne Köker: Zur Relevanz [bildungs-]sprachlicher Förderung in Schule und Fachunterricht. In: Timo Ehmke u. a. [Hrsg.]: Professionelle Kompetenzen angehender Lehrkräfte im Bereich Deutsch als Zweitsprache. Münster/New York 2018, S. 39–56, hier S. 50). 37 Vgl. Michael Jung/Holger Thünemann: Welche Kompetenzen brauchen Geschichtslehrer? Für eine Debatte über fachspezifische Standards in der Geschichtslehrerausbildung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 6 (2007), S. 242–253, hier S. 249. 38 Vgl. Wolfgang Hasberg: Historiker oder Pädagoge? Geschichtslehrer im Kreuzfeuer der Kompetenzdebatte. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 159–179, hier S. 178.
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COACTIV-Modell von Jürgen Baumert und Mareike Kunter.39 Neu akzentuiert wird in den Adaptionen das Thema Sprache: Das im Jahr 2017 veröffentlichte Heidelberger Geschichtslehrerkompetenzmodell von Christian Heuer, Mario Resch und Manfred Seidenfuß verweist an drei Stellen konkret auf sprachliche Aspekte historischen Lernens: Hinter dem Label Grammatik des Historischen verbirgt sich einerseits die historische Wissenschaftssprache und ihre domänenspezifische Funktionsweise, andererseits verbirgt sich dahinter das Verfügen über historische Kategorien und Begriffe. Das Label Wissen über Schülervorstellungen und individuelle Sinnbildungsleistungen meint auch, dass die Lehrpersonen »die Muster historischer Sinnbildungsprozesse in Schüleräußerungen wahrnehmen und als solche« erkennen müssen.40 Hier geht es auch um Diagnostik auf sprachlicher Ebene. Und das Label Wissen über das Verständlichmachen von historischen Inhalten inkludiert das Erzählen und das Erklären von Geschichte als sprachliche Handlungen sowie unterrichtliche Kommunikationsformen. Das Modell markiert an wesentlichen Stellen Anknüpfungspunkte für die vorhergehenden Ausführungen. Eine für die aktuelle Diskussion besonders gewinnbringende Konkretisierung des Modells von Heuer, Resch und Seidenfuß nehmen Handro und Kilimann vor.41 Sie greifen sich einen Teilbereich heraus und konkretisieren diesen hinsichtlich historischer Leseförderung. Die Autorinnen begreifen die »Vermittlung von prozesssteuernden Lesestrategien als Operationalisierungschance historischer Kompetenzen«.42 Dabei fungiert das Lesen verschiedener fachspezifischer Textsorten als mentale Modellbildung, indem im Rahmen des Leseprozesses fachspezifische Inhalte gedanklich mitvollzogen und zu einem sinnhaften und kohärenten Ganzen konstruiert werden. Textverstehen wird von ihnen ebenso als individuelle Sinnbildungsleistung verstanden, quasi gleichwertig zu der eigenen Produktion von Texten. Je besser verschiedene Lesestrategien als mentale Werkzeuge im Geschichtsunterricht genutzt werden können, desto leichter gelingt den Lernenden die Informationsentnahme und -verarbeitung aus Fachtexten und Quellen. Lesen ist in diesem Modell kein Werkzeug des historischen Lernens mehr, sondern ein Teilbereich.43
39 Jürgen Baumert/Mareike Kunter: Das Kompetenzmodell von COACTIV. In: Mareike Kunter u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster 2011, S. 29–53. 40 Christian Heuer/Mario Resch/Manfred Seidenfuß: Geschichtslehrerkompetenzen? Wissen und Können geschichtsdidaktisch. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 8 (2017) H. 2, S. 158–176, hier S. 168. 41 Handro/Kilimann (Anm. 4), S. 183. 42 Ebd., S. 168. 43 Als »Werkzeug« gelten bei Handro und Kilimann vielmehr Lesestrategien (ebd., S. 174–181).
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Ein ähnlich konstruiertes Modell zur historischen Schreibförderung wäre anhand dieser Vorlage ohne allzu hohen Aufwand zu ergänzen, indem an den zentralen Stellen des Modells die Begriffe ausgetauscht und die dahinterliegenden Methoden durch jene der fachspezifischen Schreibförderung ersetzt werden. Dann würde der Geschichtsunterricht nicht »nur« zum Sprach- und Lesefach, sondern auch zum Schreibfach, wie es hinsichtlich der epistemischen Funktion des Schreibens mindestens ebenso zu befürworten wäre. Doch ändert ein Modell noch lange nicht den Geschichtsunterricht. Hierfür scheint es geboten zu sein, die Sprache des historischen Lernens, ihre bildungssprachlichen Facetten, die Implikationen ihres fachspezifischen Registers, ihre Textsorten und sprachlichen Handlungen weiter zu entschlüsseln, analytisch zu konkretisieren und so zugänglich zu machen für ein historisches Lernen, bei dem Sprache nicht länger nur Werkzeug, sondern Modus des Lernprozesses ist. Nicht zuletzt die Mehrsprachigkeitsforschung bietet Konzepte an, die ein deutliches fachdidaktisches Adaptionspotenzial aufweisen. Das Strukturmodell aus dem DaZKom-Projekt bietet Anhaltspunkte, wie ein Kompetenzmodell für Lehrkräfte aussehen kann, das die Verschränkung sprachlicher und fachlicher Lernprozesse initiiert.44 Auf den ersten Blick fokussiert das Modell hinsichtlich der Didaktik lediglich die Dimensionen Diagnose und Förderung. Wenn man allerdings nicht nur diesen Ausschnitt, sondern das gesamte Modell auf geschichtsdidaktische Lehr-Lern-Diskurse anwendet und entsprechend inhaltlich füllt, ergibt sich ein Bild, das in seiner Gesamtstruktur sehr demjenigen ähnelt, das am Anfang dieses Beitrags eingeführt wurde. Dass es sich bei dem DaZKomModell um ein Modell handelt, welches das bildungssprachliche Lernen bei mehrsprachigen Lernenden fördern soll, kann kaum als problematisch angesehen werden: Erstens hatte in NRW im Schuljahr 2018/19 gut ein Drittel (36,9 Prozent) der Schüler*innen an den allgemeinbildenden Schulen eine Zuwanderungsgeschichte.45 Diese Lernendengruppen müssen in der Ausbildung angehender Geschichtslehrkräfte eine größere Rolle spielen und das nicht nur im Rahmen des DaZ-Moduls.46 Zweitens haben auch Lernende mit der Erstsprache Deutsch mitunter Schwierigkeiten, Darstellungstexte aus dem Schulgeschichts-
44 Vgl. Barbara Koch-Priewe: Das DaZKom-Projekt – ein Überblick. In: Timo Ehmke u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenzen angehender Lehrkräfte im Bereich Deutsch als Zweitsprache. Münster/New York 2018, S. 7–37. 45 Vgl. Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht. 2018/19 2019 (https://www.schulministeri um.nrw.de/docs/bp/Ministerium/Service/Schulstatistik/Amtliche-Schuldaten/Quantita_2018. pdf, aufgerufen am 11. 03. 2020), S. 172. 46 Seit 2009 müssen in NRW alle Studierenden verpflichtend ein Modul belegen, in dem sie ein entsprechendes Grundlagenwissen zum Umgang mit mehrsprachigen Schüler*innen erwerben.
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buch zu verstehen oder die Quellensprache zu begreifen.47 Sie würden gleichermaßen von einem sprachsensiblen Geschichtsunterricht profitieren. Denn – drittens – hängen die bildungs- und fachsprachlichen Fähigkeiten der Lernenden im Unterrichtsfach Geschichte deutlich zusammen; dies konnte im Rahmen des SchriFT-Projektes48 für das Unterrichtsfach Geschichte und auf einem ähnlichen Niveau auch für die anderen beteiligten Fächer ermittelt werden: Die bildungs- und fachsprachlichen Fähigkeiten der Lernenden korrelieren auf einem mittleren Niveau signifikant miteinander (r=.395**).49
47 Vgl. Bodo von Borries: Wie wirken Schulbücher in den Köpfen der Schüler? Empirie am Beispiel des Faches Geschichte. In: Eckhardt Fuchs/Joachim Kahlert/Uwe Sandfuchs (Hrsg.): Schulbuch konkret. Kontexte – Produktion – Unterricht. Bad Heilbrunn 2010, S. 102–117, und Martina Langer-Plän: Problem Quellenarbeit. Werkstattbericht aus einem empirischen Projekt. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003) H. 5/6, S. 319–336. 48 Weitere Informationen zum Projekt »Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen« (gefördert vom BMBF) finden sich unter: https://www.unidue.de/schrift/. 49 Vgl. Mareike-Cathrine Wickner: Über die Vorzüge einer textsortenbasierten Schreibförderung im Geschichtsunterricht. Forschungsergebnisse aus dem SchriFT-Projekt. In: Heike Roll u. a. (Hrsg.): Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen. Empirische Befunde aus den Fächern Geschichte, Physik, Technik, Politik, Deutsch und Türkisch (Mehrsprachigkeit, Bd. 48). Münster 2020, S. 129–147, hier S. 140.
Kerstin Lochon-Wagner
Sprachsensibler Geschichtsunterricht als wichtige Aufgabe in der zweiten Phase der Lehrer*innenbildung: Einblicke in die Ausbildungspraxis
Fragen der Umsetzung des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts in der zweiten Phase der Lehrer*innenbildung, dem Referendariat, sind im Spannungsfeld zwischen der Aufnahme von Impulsen aus der universitären Ausbildung und den Vorgaben des Ministeriums angesiedelt. Es ist besonders von der Seite der Unterrichtspraktiker*innen zu begrüßen, dass sich die universitäre Fachdidaktik vermehrt und intensiver mit der Thematik des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts in der jüngsten Vergangenheit auseinandersetzt und dass die facettenreichen Diskurse rund um Fragen des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts als so aktuell und dringlich erachtet werden, dass sich die Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik 2019 dieser Thematik widmet. Ebenso tragen vermehrt Publikationen aus Wissenschaft1 und Unterrichtspraxis2 rund um das Thema des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts zu einer stetig ausdifferenzierten Betrachtung bei. Die vorliegenden Ausführungen fokussieren die Erfordernisse der Lehrer*innenbildung3 der zweiten Phase und sind den Prämissen einer pragmatischen Umsetzung der vorgestellten Konzepte im Lehr-Lernkontext verpflichtet. Die nachfolgenden Ausführungen stellen weder ein allgemein für NordrheinWestfalen (NRW) gültiges Konzept für das Fach »Geschichte« vor, noch bilden diese »das« Konzept der ZfsL4 ab, sondern geben ausschließlich Einblick in die
1 Auf eine annähernd vollständige Zusammenstellung wird an dieser Stelle verzichtet. Kürzlich erschienen: Christiane Bertram/Andrea Kolpatzik (Hrsg.): Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Von der Theorie über die Empirie zur Pragmatik. Frankfurt/M. 2019. 2 Exemplarisch sollen hier die folgenden Themenhefte von Fachzeitschriften für Lehrer*innen angeführt werden: Geschichte Lernen 31 (2018) H. 182, sowie Praxis Geschichte 2/2018 ebenso wie geschichte für heute 1/2019. 3 Im Folgenden wird die Bezeichnung LAA für Lehramtsanwärter*innen verwendet. 4 ZfsL ist die seit dem 01. 08. 2011 gültige offizielle Abkürzung für ›Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung‹ in Nordrhein-Westfalen. Den Regelungen im Lehrerausbildungsgesetz 2009 entsprechend wurden die bisherigen Studienseminare am 1. August 2011 in Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung umbenannt.
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eigene Herangehensweise der Einbettung von Aspekten des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts in die Fachseminararbeit. Im folgenden Beitrag sollen nach den einleitenden Darlegungen zu Genese und organisatorischen Rahmenbedingungen ausgewählte Umsetzungsbeispiele aus der Arbeit im Fachseminar Geschichte im Mittelpunkt stehen.
1.
Theoretische Verankerung und Grundannahmen
Die zweite Phase der Lehrer*innenbildung ist Bestandteil eines Professionalisierungsprozesses, in welchem professionelle Kompetenzen von Geschichtslehrkräften erworben werden. Ihre theoretische Verankerung speist sich aus dem Konstrukt professioneller Handlungskompetenz nach COACTIV,5 wobei die Ergebnisse der empirischen COACTIV-Studie6 hier von Belang sind. Relevant sind die folgenden Ergebnisse, welche durchaus auf das Professionswissen von Geschichtslehrkräften übertragbar sind: Ein solides Fachwissen ist eine unabdingbare Voraussetzung für fachdidaktisches Wissen; jedoch kann Fachwissen das fachdidaktische Wissen nicht ersetzen, d. h. geringes Fachwissen kann nicht mit fachdidaktischem Wissen kompensiert werden, und die Korrelation von geringem fachdidaktischen Wissen und geringem Fachwissen ist belegt. Mit Blick auf die Erfordernisse der Lehrer*innenbildung in der ersten und zweiten Phase an Universität und ZfsL bedeutet dies, dass die Vermittlungsart und die Qualität der Lehrer*innenbildung entscheidenden Anteil am späteren beruflichen Erfolg haben.7 Auf die Arbeit in der zweiten Phase übertragen kann nur ein Insistieren auf einem hohen Maß an Fachlichkeit unter Beachtung des geschichtsdidaktischen Wissens den Gütemaßstäben des guten Geschichtsunterrichts in Planung und Durchführung gerecht werden.8 5 Jürgen Baumert/Mareike Kunter (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (2006), S. 469–520. 6 COACTIV (Cognitive Activation in the Classroom: The Orchestration of Learning Opportunities for the Enhancement of Insightful Learning in Mathematics) ist eine Studie, in deren Mittelpunkt die Tests zum fachdidaktischen Wissen und zum Fachwissen von Mathematiklehrkräften der Sekundarstufe stehen. Die Studie leistet einen weithin rezipierten Beitrag zum Lehrerwissen in der Mathematik und hatte Auswirkungen auf die Lehrer*innenausbildung. Vgl. zu den hier referierten Ergebnissen Mareike Kunter u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster 2011. 7 Vgl. Heike Schmoll: Sind Lehrer dümmer? In: FAZ vom 24. 03. 2009 (http://www.fz.net/aktuell/ karriere-hochschule/buero-co/bildungsforschung-sind-lehrer-duemmer-1927453-p2.html, aufgerufen am 01. 02. 2020). 8 Markus Bernhardt/Peter Gautschi/Ulrich Mayer: Ein Schaubild und neun Prinzipien zum guten Geschichtsunterricht. Ein Leitfaden für Planung, Praxis und Reflexion des historischen Lernens. In: Geschichte Lernen 26 (2013) H. 155, S. 66–67.
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Das Verständnis von Unterricht, das COACTIV zugrunde liegt, ist Unterricht als eine Gelegenheit für verständnisvolle Lernprozesse, d. h. schulisches Lernen wird als ein aktiver, kumulativer und sozialer Prozess verstanden, der sich als verständnisvolles Lernen dadurch auszeichnet, dass Lernende neues Wissen basierend auf ihrem Vorwissen aufbauen, in Eigenaktivität konstruieren und dabei bestehende Begriffsnetze erweitern bzw. differenzieren – kurzum: Dieses Verständnis von Lernen ist nicht auf Faktenlernen ausgerichtet, sondern bedeutet kontinuierliche Vernetzung von Konzepten und Schemata als Vorbereitung auf spätere, gänzlich eigenständig stattfindende Lern- und Problemlöseprozesse. Diese Prämissen möchte ich auf den Bereich der Erwachsenenbildung, also auf die zweite Phase der Lehrer*innenbildung, im Grundsatz übertragen: Fachseminararbeit als Gelegenheit der Planung bzw. der Erprobung (im Kleinen) und als kumulativer Prozess, in dem die LAA fachliches und fachdidaktisches Wissen aus der Universität auf neue Prozesse bzw. Lernarrangements übertragen und anwenden, um so Leitlinien und Impulse für die eigenverantwortete Unterrichtstätigkeit herleiten zu können. COACTIV spricht von einer geteilten Lehrer*innenxpertise, nämlich der des akademischen Wissens und der der praktisch-validierten Erfahrung. Im Kontext der zweiten Phase gilt es den LAA nachhaltig zu vermitteln, dass es sich bei Fragen des Sprachsensiblen Fachunterrichts nicht um noch eine weitere, zusätzliche (lästige) Pflichtaufgabe handelt – oder um ein überfachliches Addendum –, sondern um einen integralen Bestandteil historischen Lernens. Es gilt in dieser mittleren Phase, eine Brücke von der universitären Forschung und Lehre auf dem Gebiet des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts in die Planungs- und Durchführungsebene der Praxis zu schlagen. Die Herausforderung besteht darin, dass die LAA ihr theoretisch-konzeptionelles fachdidaktisches Wissen zielgerichtet, funktional und passgenau in die Unterrichtsplanung und Durchführung ihres Geschichtsunterrichts einbringen. Somit sind diese als Teil des Professionalisierungsprozesses zu sehen, wenngleich die empirische Studie von Resch, Heuer und Lohse-Bossenz eher nachdenklich stimmt, wenn es um den Zuwachs von Fachwissen und geschichtsdidaktischem Können während des Vorbereitungsdienstes geht.9 Allerdings betonen die Autoren, dass der Vorbereitungsdienst auf individueller Ebene Lerngelegenheiten bietet, die wiederum zu einer Verbesserung im Bereich des Fachwissens führten. Der Sprachsensible Fachunterricht ist ein in NRW festgeschriebener Ausbildungsgegenstand der zweiten Phase; daher soll nun ein Blick auf die Genese der 9 Mario Resch/Christian Heuer/Hendrik Lohse-Bossenz: Zur Entwicklung von Fachwissen und geschichtsdidaktischem Können während des Referendariats. Ergebnisse einer Längsschnittstudie zum Professionalisierungsprozess. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019), S. 61–77. Die Autoren stellten fest, dass für die gesamte Gruppe während des Referendariats kein statistisch bedeutsamer Wissenszuwachs festgestellt werden konnte.
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organisatorisch-formalen Rahmenbedingungen in diesem Bundesland sowie deren Konkretisierung in der fachlichen Ausbildung an den ZfsL geworfen werden.
2.
Organisatorische Rahmenbedingungen
2.1
Genese: Erlass des Ministeriums für Jugend, Schule und Kinder in NRW zur »Förderung der deutschen Sprache als Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern« (1999)
Das Bemühen in der Lehrer*innenbildung um die deutsche Sprache ist dort keinesfalls neu: Bereits im Jahr 1999 gab das Ministerium für Jugend, Schule und Kinder eine rund 80-seitige Empfehlung mit dem Titel »Förderung der deutschen Sprache als Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern«10 heraus. Dabei handelte es sich um einen Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (MSW) vom 24. 06. 1999, in dem es seinerzeit hieß: »Die Schulen werden gebeten, die Empfehlungen in den Fachkonferenzen und den übrigen Schulmitwirkungsgremien zu behandeln und entsprechende Konzepte zu entwickeln. […] Zur Weiterentwicklung des Konzeptes der sprachlichen Förderung soll ein Netzwerk von Schulen eingerichtet werden.«11 Bereits vor zwanzig Jahren war dem Ministerium die übergeordnete Bedeutung von Sprache für Lernprozesse in allen Fächern schulischen Lernens so klar, dass dies in die Ausbildungsordnung für die Sekundarstufe I (AO Sek I) unter §7 Absatz 4 aufgenommen wurde.12 Als Ziel der Empfehlungen steht pragmatisch formuliert: »Die Förderung der deutschen Sprache ist Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern.«13 Daran ist die Tatsache selbstverständlich, dass wir im Unterricht die deutsche Sprache benutzen, um uns zu verständigen und um zu lernen. »Jede angemessene Nutzung von Sprache im Unterricht erweitert dabei auch die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen. Bedeutsam sind die damit verbundenen Aufgaben, die (deutsche) Sprache bewusster zu nutzen, die sprachlichen Fähigkeiten intensiver in jedem Unterricht zu fördern und durch eine solche intensivierte sprachliche
10 Ministerium für Jugend, Schule und Kinder in Nordrhein-Westfalen: Förderung der deutschen Sprache als Aufgabe aller Fächer. Empfehlungen. Düsseldorf 1999 (http://www.zfsl-ha gen.nrw.de/Seminar_GyGe/Seminarmaterialien/Materialien/Foerderung-in-der-deutschenSprache-als-Aufgabe-des-Unterrichts-in-allen-Faechern.pdf, aufgerufen am 01. 02. 2020). 11 Ebd., Vorwort. 12 Ebd., S. 7. 13 Ebd.
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Förderung die Möglichkeiten intensiveren fachlichen Lernens zu erkennen und zu nutzen.«14 Interessanterweise wurde in den Empfehlungen bereits vor 20 Jahren für das Fach Geschichte die damals wie heute aktuelle Problematik des Umgangs mit (Quellen-)Texten in den Empfehlungen thematisiert und es wurden produktive Wege im Umgang mit den ausgewählten Quellen und deren Deutungswiderständen exemplarisch aufgezeigt.15 Die Problematik, dass historisches Lernen v. a. durch sprachliche Hürden erschwert wird, dürfte dem überwiegenden Teil der Geschichtslehrer*innen aus eigener Erfahrung geläufig sein. Sie hat sich in den letzten fünfzehn Jahren in der subjektiven Wahrnehmung verschärft. Die Notwendigkeit einer Umsetzung des Erlasses aus dem Jahr 1999 wurde – rückblickend betrachtet – wohl eher von denjenigen Schulleitungen und Lehrerkollegien als dringlich und notwendig erachtet, die es im Unterrichtsalltag mit einer sprachlich heterogenen Lernerschaft zu tun hatten.16 Auch wenn meines Wissens zu dieser Zeit der Begriff Sprachsensibler Fachunterricht noch nicht existierte, bemühte sich die Praxis 14 Ebd., S. 7. Die Empfehlungen umfassen Themenbereiche wie die Förderung des sprachlichen Lernens als Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern, Bereiche sprachlichen Handelns und Lernens (Sprechen und Schreiben), tragfähige Grundlagen aus der Grundschule, Wege der sprachlichen Förderung in den Fächern der Sekundarstufe I (Biologie, Religion, Naturwissenschaften, Geschichte, Gesellschaftswissenschaften, Kunst, Mathematik) sowie Aspekte der Bewertung sprachlicher Leistungen. 15 Ebd., S. 50. Bezüglich der auch damals bereits bestehenden Probleme der Lerner*innen mit Texten, insbesondere der Quellentexte, heißt es: »Quellentexte und andere Quellenmedien im Fach Geschichte zeichnen sich für Schülerinnen und Schüler aber fast immer durch ihre eigentümliche Fremdartigkeit aus. Die Bilder entsprechen nicht ihren Sehgewohnheiten, die Texte weisen je nach historischem Abstand ein für sie mehr oder weniger ungewöhnliches Vokabular auf. Karten, Tabellen und Übersichten enthalten Namen und Begriffe, die nicht nur völlig unbekannt sind, sondern hin und wieder auch – gemessen am heutigen Verständnis – ›komisch‹ klingen. Sie bedürfen also der besonderen Deutungsanstrengung, um das in ihnen enthaltene vergangene Geschehen in die eigene Sprache übersetzen zu können, gleichzeitig aber auch deren unterrichtssprachliche Elemente als Begriffe der zu lernenden Fachsprache in den eigenen Wortschatz aufzunehmen. Beim Quellenstudium geht es also immer um die Rekonstruktion eines vergangenen Geschehens auf der Ebene der aktuellen Sprachkompetenz der Schülerinnen und Schüler und um die Notwendigkeit, Texte und andere Medien des Geschichtsunterrichts auch als Quelle der fachlichen Begriffsbildung und der durch sie gelenkten Verstehensprozesse zu vermitteln. Damit ist häufig ein doppelter Lese- und Lernwiderstand gegeben, dem nur durch wiederholtes Einüben in den Umgang mit historischem Material und seiner sprachlichen Eigenart begegnet werden kann. Erst dann können Quellen auch als Material für die selbstständige Arbeit der Schülerinnen und Schüler zur Verfügung gestellt werden.« 16 Inwiefern es 1999 und in den Folgejahren eine landesweite Rezeption des Erlasses an den weiterführenden Schulen und den Studienseminaren gab und welche konkreten fachspezifischen Konzepte zur Verankerung der Förderung der deutschen Sprache in allen Fächern darauf basierend erarbeitet, erprobt und evaluiert wurden, entzieht sich einer systematischen empirischen Erhebung.
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nach bestem Wissen und Gewissen, Wege zu finden bzw. bestenfalls in Anlehnung an die Empfehlungen »aus der Praxis geborene« Verfahrensweisen zu entwickeln, um historisches Lernen in sprachheterogenen Lerngruppen zu gestalten oder gar für manch einen der Lerner überhaupt erst zu ermöglichen: learning by doing.
2.2
Organisatorisch-formale Rahmenbedingungen: Referenzrahmen Schulqualität (2015)
Bis zur Veröffentlichung des Referenzrahmens Schulqualität17 zum Schuljahr 2014/15 hatte sich in NRW sowohl in schulischer Hinsicht als auch in fachdidaktischer Perspektive vieles verändert – man denke an die Umstellung des gymnasialen Bildungsgangs auf G8 oder an die Umstellung der neuen Lehrpläne auf die Kompetenzorientierung. Erstmals stand den Schulen in NRW ein Dokument zur Verfügung, das »gute Schule« in allen schulischen Handlungsfeldern definierte.18 Im Tableau der Inhaltsbereiche und Dimensionen des Referenzrahmens Schulqualität NRW19 werden unter der Rubrik ›Lehren und Lernen‹ 17 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Referenzrahmen Schulqualität. Düsseldorf 2015. Im Frühjahr 2013 wurde der Entwurf des Referenzrahmens in ein öffentliches Beteiligungsverfahren unter Einbeziehung von Interessierten aus der Schulpraxis, der Schulaufsicht, den Verbänden, der Eltern- und Schülerschaft, der Wissenschaft sowie einer breiteren Öffentlichkeit gegeben, die mit ihren Hinweisen und Anregungen zur Weiterentwicklung des Entwurfes beigetragen haben. Der vorliegende veröffentlichte Referenzrahmen (2015) stellt das Ergebnis dieses Prozesses dar. Der Referenzrahmen Schulqualität (RRSQ NRW) gibt Orientierung (1) für schulische Planungs- und Gestaltungsprozesse im Kontext der Schul- und Unterrichtsentwicklung, (2) für Maßnahmen schulinterner Evaluation, (3) für die Qualitätsanalyse NRW, die ihre Beobachtungsinstrumente und Kriterien an den Qualitätsaussagen ausrichtet, (4) für die Entwicklung von Zielvereinbarungen zwischen Schulen und Schulaufsicht, (5) für die Beratung und Unterstützung von Schulen durch die Schulaufsicht, (6) für die Ausrichtung und Konzeption von Fortbildungs- und Unterstützungsangeboten, (7) für die Lehrerausbildung im Bereich der schulischen Qualitätsentwicklung sowie (8) für schulpolitische Initiativen und Maßnahmen. Er bezieht sich auf alle an Unterricht und Schule beteiligten Institutionen und Behörden. Auch wenn es sich bei dem RRSQ NRW um ein Dokument handelt, welches sich an alle an Schulen Lehrende richtet (und nicht die LAA als eigentlichen Adressatenkreis hat), darf es hier nicht unerwähnt bleiben. 18 Der RRSQ NRW zeigt anhand von Kriterien und aufschließenden Aussagen auf, was in zentralen Inhaltsbereichen und Dimensionen unter Schulqualität verstanden wird, greift Forschungsergebnisse der Bildungs- und Unterrichtsforschung auf, ebenso wie Aspekte der aktuellen Schulqualitätsdiskussion, führt Qualitätsannahmen von Projekten und Initiativen zur Qualitätsentwicklung zusammen, sorgt für Transparenz und Orientierung und legt die implizit und explizit gegebenen Qualitätsvorstellungen in einem zentralen Dokument offen. Er zeigt damit Entwicklungsrichtungen für Schulqualität auf. 19 Ebd., S. 10.
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»Bildungssprache und sprachsensibler Fachunterricht«20 in der Dimension 2.7 aufgeführt und so als ein konstituierendes Element für »gute Schule« – auch im Kontext von Qualitätsanalyse – verbindlich festgesetzt.
2.3
Organisatorisch-formale Rahmenbedingungen: Kernlehrplan Geschichte Sek I (G9)
Das Bindeglied zwischen den ministeriellen Erlassen und Vorgaben und der Schule – und damit auch dem Geschichtsunterricht – stellen die neuen Kernlehrpläne Sek I für das Gymnasium in NRW dar.21 Erstmals tauchen im neuen Lehrplan von 2019 explizite Ausführungen zur Bedeutung von Sprache im Kontext des fachlichen Lernens auf: »Sprache ist ein notwendiges Hilfsmittel bei der Entwicklung von Kompetenzen und besitzt deshalb für den Erwerb eines reflektierten Geschichtsbewusstseins eine besondere Bedeutung. Kognitive Prozesse des Erwerbs von Sach-, Methoden-, Urteils- und Handlungskompetenz sind ebenso sprachlich vermittelt wie der kommunikative Austausch darüber und die Präsentation von Lernergebnissen. In der aktiven Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten, Prozessen und Ideen erweitert sich der vorhandene Wortschatz, und es entwickelt sich ein zunehmend differenzierter Einsatz von Sprache. Dadurch entstehen Möglichkeiten, Konzepte sowie eigene Wahrnehmungen, Gedanken und Interessen angemessen darzustellen.«22 Das Zitat – entnommen dem Kapitel »Aufgaben und Ziele des Faches« – stellt klar, 20 Ebd., S. 33. Unter der Dimension 2.7.1 »Die Schule fördert den Erwerb der Bildungssprache systematisch und koordiniert« sind als definitorische Annäherung die folgenden Aussagen benannt: (1) Die Schule fördert eine durchgängige Sprachbildung. Es herrscht ein bewusster und förderlicher Umgang mit Sprache in allen Fächern und schulischen Handlungsbereichen. (2) Die Lehrkräfte sind Sprachvorbild, (3) In Lehr- und Lernprozessen wird eine fachund altersangemessene Sprache (Artikulation, Intonation, Sprechgeschwindigkeit, Satzbau, Wortschatz, fachrelevante Begriffe und Redemittel) verwendet, die für die Schülerinnen und Schüler verständlich ist und ihnen darüber hinaus als Modell dienen kann, (4) Lehrkräfte übernehmen Verantwortung dafür, dass alle Schülerinnen und Schüler die Bildungssprache erwerben können, und arbeiten im Bereich der Sprachkompetenzentwicklung zusammen, (5) Die Sprachstände der Schülerinnen und Schüler werden bei der Planung und Gestaltung der unterrichtlichen Prozesse mit dem Ziel berücksichtigt, fachliche Verstehensprozesse zu erleichtern und bildungssprachliche Kompetenzen aktiv zu fördern, (6) Die Schule bietet besondere Unterstützungsmaßnahmen für Schülerinnen und Schüler an, die sprachliche Schwierigkeiten haben, dem Unterricht zu folgen bzw. sich im Unterricht zu verständigen, (7) Schülerinnen und Schüler erhalten umfassend Sprech- und Schreibgelegenheiten zur Erprobung ihrer Sprachfähigkeiten und entsprechende Orientierungen, wie sie diese weiterentwickeln können. 21 Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrpläne für die Sekundarstufe I am Gymnasium in Nordrhein-Westfalen – Geschichte. Düsseldorf 2019. 22 Ebd., S. 10.
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dass Sprachsensibler Geschichtsunterricht integraler Bestandteil des Lehr- und Lernprozesses ist, der anhand von fachlichen Inhalten, Fragestellungen und Prozessen erworben werden soll. Die Frage, wie das konkret in der unterrichtlichen Umsetzung erfolgen soll, wird mit dem Verweis auf bestehende Freiräume, schuleigene Vorgaben mit Gestaltungsfreiheit und Gestaltungspflicht in den Fachkonferenzen sowie der pädagogischen Verantwortung der Lehrer*innen beantwortet.
2.4
Organisatorisch-formale Rahmenbedingungen der zweiten Phase der Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen: Kerncurriculum für die Ausbildung im Vorbereitungsdienst für Lehrämter in den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung und in den Ausbildungsschulen (Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 02. 09. 2016)
In NRW werden die LAA im Referendariat am Lernort »Schule« und dem ZfsL23 ausgebildet. Die Ausbildungsordnung für den Vorbereitungsdienst (VD 18) und die Staatsprüfung (OVP) in der zurzeit gültigen Fassung vom 02. 09. 2016 regeln die zweite Phase der Lehrer*innenbildung. Die Anlage 1 der OVP mit den dort aufgelisteten Kompetenzen und Standards24 legt die verbindlichen Ziele des VD fest. Der Bildungsauftrag von Lehrer*innen erschließt sich dabei unter steter Ausrichtung an dem als Leitlinie fungierenden Handlungsfeld V (= Vielfalt als Herausforderung annehmen und als Chance nutzen).25 23 Für die Ausbildung stehen durchschnittlich fünf Wochenstunden zur Verfügung. Diese umfasst an den ZfsL zum einen die überfachliche Ausbildung im Kernseminar (wöchentliche Sitzung), zum anderen die fachspezifische Ausbildung in den beiden Fachseminaren (wöchentliche Sitzung). 24 KMK-Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften für die theoretischen Ausbildungsabschnitte (KMK 2004–2014). Die von der Kultusministerkonferenz benannten Standards wurden für die Ausbildung in der zweiten Phase der Lehrer*innenbildung in NRW für alle Lehrämter in einheitliche, obligatorische Handlungsfelder überführt. Es werden entsprechend zugeordnete berufsspezifische Handlungssituationen beschrieben und Erschließungsfragen formuliert. 25 Vgl. Kerncurriculum für die Ausbildung im Vorbereitungsdienst für Lehrämter in den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung und in den Ausbildungsschulen (Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 02. 09. 2016). Düsseldorf o. J., S. 2 (https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/LAusbildung/Vorbereitungsdienst/Kern curriculum.pdf, aufgerufen am 01. 02. 2020). Die Ausbildung im Vorbereitungsdienst »folgt dem Grundprinzip einer spiralcurricularen Kompetenzentwicklung in allen Handlungsfeldern. Ausgewählte Handlungssituationen (und Erschließungsfragen) dienen den Lehramtsanwärtern (LAA) als Zugang und Orientierung, den selbstverantworteten Kompetenzerwerb zu erfahren bzw. zu leisten; hierbei erhalten sie von den Schulen und den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) Anleitung, Unterstützung und Begleitung. Die an
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Die grafische Umsetzung des Kerncurriculums, welches die schulpraktische Ausbildung im Vorbereitungsdienst konturiert und strukturiert, umfasst fünf Handlungsfelder,26 die untereinander in wechselseitiger Beziehung stehen und mit unterschiedlicher Gewichtung in allen schulischen Bildungs- und Erziehungsprozessen relevant sind. Die Handlungsfelder werden daher nicht sequenziell abgehandelt,27 sondern mit Blick auf das Ganze bei jeweils unterschiedlicher Schwerpunktsetzung über die Dauer des Vorbereitungsdienstes in Kern- und Fachseminar entfaltet. Dabei stellt das Handlungsfeld V als Querschnittsaufgabe eine Leitlinie jeglichen Lehrerhandelns dar; darunter fällt auch »sprachliche Vielfalt«.28 Was die organisatorischen Rahmenbedingungen anbelangt, kann man für NRW feststellen, dass Sprachsensibler Fachunterricht in der zweiten Phase fest verankert ist und es sich dabei bereits auf formaler Ebene ausdrücklich nicht um ein reines Addendum handelt, zumal es als Querschnittsaufgabe in der zweiten Phase angesiedelt ist.
3.
Umsetzungsbeispiele in der Fachseminararbeit als Handlungswegweiser für den Einsatz im Geschichtsunterricht
Unter Beachtung dieser Rahmenbedingungen sowie bestehender Freiräume hinsichtlich der Einbettung von Fragen des Sprachsensiblen Fachunterrichts in die zweite Phase werden nun Herangehensweisen der konkreten Umsetzung an einem ZfsL vorgestellt. Dabei obliegt es den jeweiligen Institutionen, die im Kerncurriculum festgelegten Ausbildungsgrundsätze in die Kern- und Fachseminare zu überführen. Das ZfsL Bochum hat sich darauf verständigt, recht früh in der LAA-Ausbildung eine überfachliche Veranstaltung in Form eines Inputder Ausbildung Beteiligten stimmen sich dabei – auf der Grundlage der Vorgaben durch das Kerncurriculum – ab, legen Priorisierungen fest und wirken zusammen.« 26 Ebd. Dabei handelt es sich um (1) Handlungsfeld U (Unterricht für heterogene Lerngruppen gestalten und Lernprozesse nachhaltig anlegen), (2) Handlungsfeld E (Den Erziehungsauftrag in Schule und Unterricht wahrnehmen), (3) Handlungsfeld L (Lernen und Leisten herausfordern, dokumentieren, rückmelden und beurteilen), (4) Handlungsfeld B (Schüler*innen und Eltern beraten) sowie (5) Handlungsfeld S (Im System Schule mit allen Beteiligten entwicklungsorientiert zusammenarbeiten). 27 Ebd., S. 3. 28 Ebd. Lehrer*innen aller Lehrämter »berücksichtigen die individuelle Entwicklung in der deutschen Sprache aller Schülerinnen und Schüler bei der Gestaltung der Bildungs- und Erziehungsarbeit auch in multilingualen Kontexten, wertschätzen Mehrsprachigkeit sowie kulturelle Vielfalt und fördern Sprachbildung in allen Fächern und Fachrichtungen.« Ein expliziter Hinweis lässt sich unter Handlungsfeld U unter inhaltlichen Bezügen finden, wo Sprachsensibler Unterricht und Bildungssprache als eine der verbindlichen Determinanten für Lehrerhandeln genannt werden.
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vortrags stattfinden zu lassen, welche zum einen das Ziel verfolgt, für alle LAA eine verbindliche Basis zu schaffen und zum anderen diese (Er)Kenntnisse in die Arbeit in den jeweiligen Fachseminaren zu überführen und zu konkretisieren.29 Wie das im Fachseminar Geschichte gelingen kann, soll beispielhaft aufgezeigt werden.30 Bei der Auswahl der Umsetzungsbeispiele waren diese Erschließungsfragen entscheidend: Wie kann man LAA für die Thematik überhaupt zeitökonomisch, nachhaltig und mit weiterführenden Impulsen für die fachliche Arbeit sensibilisieren und bei welchen weiteren Aspekten des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts ist ein praktisches Arbeiten im Fachseminar wegweisend für die künftige Planung von Geschichtsunterricht? In der einschlägigen Literatur werden die Bereiche Lesen, Schreiben sowie Sprechen (Gesprächsführung und Impulsgebung bzw. Unterrichtsgespräch) angeführt.31 Die so getroffene Auswahl berücksichtigt im ersten Beispiel eine fachspezifische Sensibilisierung der LAA für die Grundsatzthematik. Im zweiten Beispiel wird der Bereich des Lesens (Leseverstehen bzw. Textverständnis) beleuchtet, um einerseits dem Fachspezifikum der Textlastigkeit Rechnung zu tragen, andererseits die empirisch belegten Befunde zu bestehenden Problemen der Lernenden beim Lesen bzw. Verstehen von Quellen und Schulbuchtexten zu berücksichtigen.32 Das letzte Beispiel richtet sich auf die Chancen der Überführung eines Verfassertextes in eine andere Darstellungsform (concept map).
29 Das ZfsL Bochum bildet zwar viele LAA, die zuvor Studierende an der Ruhr-Universität Bochum waren, aus; dennoch sind in jedem Ausbildungsjahrgang auch LAA anderer Hochschulabsolventen aus ganz NRW sowie anderer Bundesländer vertreten. Allein auf Grund der Zusammensetzung der sich in Ausbildung befindlichen LAA ist es geraten – ungeachtet der jeweils vorhandenen Vorkenntnisse zum Sprachsensiblen Fachunterricht – einen gemeinsamen Nenner in der Lehrer*innenbildung in der zweiten Phase zu finden. 30 Die Fachseminararbeit ist meistens so konzipiert, dass wöchentlich neue Themen im Mittelpunkt einer Sitzung stehen, die mit einem Inputvortrag beginnen und dann durch Praxisphasen vertieft bzw. konkretisiert werden (Theorie-Praxisverzahnung). Dabei soll theoretisch-konzeptionelles fachdidaktisches Wissen von der Universität aufgegriffen werden (Schaffung einer Plateauphase) und anhand der Planung eines Unterrichtsarrangements konkretisiert werden. 31 Vgl. Alexander Brämer u. a.: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Fortbildungsprogramm des Landes NRW. Münster/Soest 2019. Das Fortbildungsprogramm umfasst zusätzlich auch die geschichtsspezifischen Bereiche der Interpretation von Text- und Bildquellen. 32 Bodo von Borries u. a. (Hrsg.): Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler-Lehrerbefragung im deutschsprachigen Bildungswesen 2002 (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Bd. 9). Neuried 2005.
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Beispiel 1: Sensibilisierungsübung
Um die LAA für die komplexe Aufgabe des Lesens von Texten zu sensibilisieren, hat sich folgende Übung bewährt.Den LAA wird die Bilderfolge der FriedrichKrupp-Gussstahlfabrik in Essen in den Jahren 1818, 1852 und 1912 gezeigt. Sie sollen diese in ihrer stärksten Fremdsprache detailliert beschreiben.33 In der Regel zeigt sich, dass die LAA auf allgemeinem sprachlichem und syntaktischem Niveau in der Lage sind, die Bildfolge korrekt zu beschreiben; geht es jedoch um Details, d. h. präzise Begrifflichkeiten (Beispiel: Schornstein) auf der Wortebene oder Satzgefüge (Beispiel: etw. in einer zeitlichen Abfolge darstellen) auf der syntaktischen oder auf der Textebene, wo der Lernende seine Zielvorstellungen bzw. sein Verständnis einbringt (Beispiel: Darstellung eines Veränderungsprozesses, historischer Längsschnitt), ist die Versprachlichung um einiges schwieriger und benötigt mehr Zeit.34 Auch wenn es sich beim Ausgangsmaterial um Bildquellen handelt und diese vermeintlich einen schnellen Zugriff bei Schüler*innen – im Gegensatz zu Texten – ermöglichen, zeigt die Übung, dass die Lehrkraft bei der Vorbereitung Wort-, Satz- und Textebene35 berücksichtigen sollte. Damit Lernende, die ebenso die drei Ebenen durchlaufen, überhaupt in der Lage sind, Fachinhalte aufzunehmen, brauchen sie Zeit – auch aus gedächtnispsychologischen Gründen: Wenn das semantische Gedächtnis noch mit der Sprachverarbeitung beschäftigt ist, ist es kaum in der Lage, Fachinhalte aufzunehmen. Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse sollen die LAA realisieren, dass bei dieser komplexen Arbeitsanweisung eine bewusst veränderte Unterrichtsinteraktion mit den Lernenden angebracht ist. Neben dem Einplanen von mehr Zeit für das Betrachten und für das Planen der Schüler*innenäußerungen muss ausreichend Zeit und Gelegenheit zum Sprechen gewährleistet werden. Dies kann sich für das fachliche Lernen und den Kompetenzzuwachs auszahlen.36 33 Entnommen ist sie dem Band von Oleschko, mit dem die Autorin neben weiteren Vertreter*innen anderer ZfsL aus ganz Nordrhein-Westfalens im Rahmen des Mercator Projektes »Sprachsensibles Unterrichten fördern – Angebote für den Vorbereitungsdienst« von 2015– 2016 im Fachcluster Gesellschaftswissenschaften zusammengearbeitet hat. Vgl. Sven Oleschko (Hrsg.): Sprachsensibles Unterrichten fördern. Angebote für den Vorbereitungsdienst. o. O. 2017. 34 Auch wenn in der Gruppe LAA mit einer modernen Fremdsprache als Zweitfach sein sollten, sind die beschriebenen sprachlichen Herausforderungen zu beobachten. 35 Die Abfolge richtet sich nach Leisen, der bei den Prozessebenen des Textverstehens zwischen diesen Ebenen unterscheidet. Vgl. Josef Leisen: Handbuch des deutschsprachigen Fachunterrichts (DFU). Didaktik, Methodik und Unterrichtshilfen für alle Sachfächer im DFU und fachsprachliche Kommunikation in Fächern wie Physik, Mathematik, Chemie, Biologie, Geographie, Wirtschafts- und Sozialkunde. Bonn 1994. 36 Im Rahmen der bundesweiten DESI-Studie in der Klasse 9 in allen Schulformen wurde gezeigt, dass sprachbewusster Unterricht nachweislich zu sprachlichem Kompetenzzuwachs
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3.2
Beispiel 2 – Lesen: Übung zum Leseverstehen/Textverständnis
Dass es sich bei dem Fach Geschichte um ein ›Lesefach‹ handelt, ist unumstritten, und dass im Geschichtsunterricht Textverständnis eine zentrale Rolle beim Erwerb historischer Kompetenzen (etwa bei der Interpretation von Quellen oder bei der Analyse von Darstellungen) spielt, ebenso. Dennoch ist es (für Lernende) oft mühsam, den hohen fachlichen Anforderungen im Bereich des Lesens gerecht zu werden, was auch empirische Studien belegen. Hier kann man der Forderung nach stärkerer Verzahnung von fachdidaktischer Forschung und der praktischen Lehrer*innenbildung Folge leisten:37 Bei der Entwicklung professioneller Kompetenzen im Bereich der historischen Leseförderung wird im Rahmen der Fachseminararbeit auf eine Aufgabe zurückgegriffen, der das Modell Handros und Kilimanns zu Kompetenzfacetten historischer Leseförderung38 zugrunde gelegt werden kann. In dem Modell befindet sich unter der Rubrik ›geschichtsdidaktisches Wissen‹ die analytische Kompetenz (narrative Strukturen, sprachliche Textschwierigkeiten), worunter auch Planungsüberlegungen rund um Fragen des Umgangs mit Verfassertexten in Lehrwerken fallen. Schulbuchtexte sind für Schüler*innen keineswegs eine ›leichte Lektüre‹,39 welche sie ohne Weiteres durchdringen; u. a. sind als Gründe dafür anzuführen, dass diese Textsorte didaktisiert ist und in inhaltlich komprimierter und zugleich sprachlich komplexer Form Lernenden historische Sachverhalte präsentiert. Daher muss bei den LAA ein Bewusstsein für die darin enthaltenen narrativen Merkmale und sprachlichen Hürden geschaffen werden,40 damit sie in ihren Planungsentscheidungen bei der Aufgabenkonzeption den bestehenden Schwierigkeiten beim Lesen bzw. Leseverstehen auf Wort-, Satz- und Textebene41 entsprechend begegnen können.
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und zu einem höheren Leistungsniveau am Ende der Klasse 9 führt, wie Kniffka betont. Vgl. Gabriele Kniffka: Scaffolding. Möglichkeiten, im Fachunterricht sprachliche Kompetenzen zu entwickeln. In: Magdalena Michalak/Michaela Kuchenreuther (Hrsg.): Grundlagen der Sprachdidaktik Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler 2012, S. 208–225. Kerstin Lochon-Wagner: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. In: Seminar 2/2014, S. 142– 150, hier S. 149. Saskia Handro/Vanessa Kilimann: Textverstehen im Geschichtsunterricht. Ein Projekt zur Professionalisierung historischer Leseförderung (ProLeGu). In: Marion Bönninghausen (Hrsg.): Praxisprojekte in Kooperationsschulen. Fachdidaktische Modellierung von Lehrkonzepten zur Förderung strategiebasierten Textverstehens in den Fächern Deutsch, Geographie, Geschichte und Mathematik (Schriften zur Allgemeinen Hochschuldidaktik, Bd. 4). Münster 2019, S. 165–222, hier S. 183. von Borries u. a. (Anm. 32), S. 82. Christian Mehr/Kerstin Werner: Geschichtstexte verstehen. Sinnerschließendes Lesen als historisches Lernen. In: Geschichte Lernen 25 (2012) H. 148, S. 2–12. Vgl. Lochon-Wagner (Anm. 37). Auf der Wortebene ist nicht zuletzt die Spezifik historischer Begriffsbildung herauszustellen, woran viele Lernende scheitern, da ein fachspezifischer und
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Das folgende Beispiel kann aufzeigen, wie man die analytischen Kompetenzen der LAA im Sinne des Modells zu Kompetenzfacetten historischer Leseförderung nach Handro und Kilimann schulen kann: Um die erworbenen Kenntnisse im Bereich ›Lesen‹ zu vertiefen, wird den LAA eine Kopie des Verfassertextes zur römischen familia aus einem gängigen Lehrwerk42 gegeben. Als Aufgaben sind für die Schüler*innen vorgesehen: 1. Lies den Text. 2. Fasse den Inhalt zusammen. Die LAA sollen nun entsprechend ihrer Kenntnisse das Arbeitsblatt überarbeiten, um anschließend die Ergebnisse im Plenum zu präsentieren. Als ein Ergebnis entstand ein Arbeitsblatt, bei dem sich der Verfassertext zur römischen Familie oben befindet und unten eine Tabelle, in der die richtigen (in grün) und falschen Aussagen (in rot) entsprechend farblich von den Schüler*innen zu kennzeichnen sind. Im Aufgabenapparat sind zwei Aufgaben vorgesehen: Aufgabe 1: 1a. Lies den Verfassertext »Die familia der Römer«. 1b. Welche wichtigen Informationen enthält der Text über die römische Familie? Unterstreiche in der untenstehenden Tabelle richtige Aussagen in Grün (in der nachfolgenden Tabelle ohne Unterlegung), falsche Aussagen in Rot (grau unterlegt). Für Schnelle: Formuliere die falschen Aussagen so um, dass sie richtig sind. Merkmale einer römischen familia Zur familia zählten auch Sklaven, Sklavinnen und Klienten. Eine familia konnte so bis zu 100 Personen umfassen.
Der pater familias durfte über alle, auch die erwachsenen Kinder, bestimmen.
Eltern und jüngere Kinder wohnten nicht gemeinsam unter einem Dach.
epochenspezifischer Fachwortschatz implizit vorausgesetzt wird – Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht spielt auch im neuen KLP Sek I Gymnasium NRW (2019) Geschichte eine äußerst marginale Rolle. 42 Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen 1. Stuttgart 2008, S. 108.
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Kerstin Lochon-Wagner
Der pater familias war allen Mitgliedern gegenüber zur Fürsorge verpflichtet: Er half in Not und vertrat sie vor Gericht.
Ehefrau und Ehemann waren gleichberechtigt.
Mädchen durften allein entscheiden, wen sie heirateten.
Gehorsam von allen Mitgliedern gegenüber dem pater familias war ein wichtiger Wert innerhalb der familia.
Der Besitz gehörte allen Der pater familias hatte das Recht, über Leben und Mitgliedern der familia geTod der einzelnen Mitglie- meinsam. der der familia zu entscheiden.
Die Überarbeitung zeigt, dass der Leseprozess der Lernenden durch Teilaufgabe b) verlangsamt wird und den Schüler*innen ein genaues, ggf. erneutes Lesen kleinerer Abschnitte im Detail abverlangt. Dabei wird den Lernenden transparent gemacht, dass sich in der Tabelle Fehler befinden müssen, sodass an den kindlich-detektivischen Ehrgeiz appelliert wird. Die anschließende Korrektur in Form einer Begründung liefert die Grundlage für eine Anwendung von Sachwissen. Auf sprachlicher Ebene wird bei der Korrektur die eigene Textproduktion im angemessenen Register angestrebt. Wichtig ist, dass es bei einer solchen Fehlersuche eine eindeutige Musterlösung geben muss. Der Austausch im Plenum des Fachseminars (z. B. Inwiefern ist es sinnvoll, die Korrektur lediglich als Sprinteraufgabe erfolgen zu lassen?) soll einerseits die Reflexionsfähigkeit der LAA schulen, um zwischen Gelungenem und Verbesserungswürdigem zu unterscheiden. Andererseits werden den LAA Ausführungen zu fachdidaktischen Begründungszusammenhängen abverlangt. Anhand der Arbeitsaufträge zur römischen familia wird Leisens Forderung43 nach einer bewussten Fokussierung in der Fachseminararbeit auf die Formulierung bzw. die »Machart« der Aufgabenstellung Rechnung getragen. Bei der Formulierung einzelner Arbeitsaufträge ist besonders zu beachten, dass diese einige Stolperfallen enthält. Die Kenntnis der Lernenden über die eigentliche Bedeutung des in der Aufgabenstellung genutzten Operators und der dazu notwendigen Teiloperationen ist unabdingbar. Ein Hinweis auf die in jedem gängigen Schullehrwerk dazu enthaltene Doppelseite ist in der Regel unzureichend und für die Lernenden oftmals wenig hilfreich. Wäre dieses Wissen um die Bedeutung der Operatoren im Fach Geschichte in allen Lerngruppen eine Selbstverständlichkeit, wäre bereits viel gewonnen – vieles jedoch wird von der 43 Josef Leisen: Ausbildungsaufgaben zur Sprachbildung im sprachsensiblen Fachunterricht. Vortragsfolien zum Handbuch Fortbildung: Sprachbildung im sprachsensiblen Fachunterricht. Johannes-Gutenberg-Universität Mainz 2017, Folie 59 (http://download.sprachsensi blerfachunterricht.de/folien6/02%20Vortragsfolien%20-%20Referendarausbildung%20-% 20PDF%20-%202017, aufgerufen am 01. 02. 2020). Leisen formuliert als erstes Vorhaben in der Ausbildung den sprachsensiblen Ausbau herkömmlicher Aufgabenstellungen.
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Fachlehrkraft unausgesprochen bzw. unreflektiert vorausgesetzt oder aber bestenfalls einmalig im Plenum besprochen.44 Den Lernenden muss verdeutlicht werden, dass Operatoren fachspezifisch sind, dass etwa der Operator »analysiere« im Fach Deutsch und im Fach Geschichte nicht identisch ist und jeweils andere Teiloperationen fordert.
3.3
Beispiel 3 – Wechsel der Darstellungsform: Überführung eines Verfassertextes in eine concept map
Ein weiteres Beispiel aus der Fachseminararbeit greift auf die fachdidaktische Forderung von Handro und Kilimann zurück, »Lesestrategien als domänenspezifische Lehr- und Lernwerkzeuge zu profilieren«,45 welche die Lernenden dazu befähigen, fachangemessen die in einem Text enthaltenen Informationen zu erschließen. Bei der im Folgenden angewendeten Lesestrategie zur Steuerung des Textlese- und Textverständnisprozesses handelt es sich um eine »Elaborationsstrategie«,46 bei der den Lernenden Hilfen geboten werden, um Textinformationen zu verknüpfen, zu beurteilen und zu neuen Wissensstrukturen zu zusammenzusetzen. Eine Möglichkeit, die Elaborationsstrategie umzusetzen, ist die Arbeit mit concept maps. Sowohl in der geschichtsdidaktischen Literatur bei Handro/Kilimann47 als auch bei Leisen,48 einem Vertreter der zweiten Phase der 44 Geschichte scheint eines der wenigen Fächer in der Sek I zu sein, in denen Übungsphasen bzw. Wiederholungen zu verzichtbaren Elementen der mittelfristigen Unterrichtsplanung gehören. Selbst wenn als eigentlich notwendig erachtet, werden Übungsphasen mit der Begründung übergangen, man müsse mit dem Stoff vorankommen oder man hänge ohnehin bereits im Buch hinterher. Ausgesprochene Übungsphasen scheinen laut meinen Beobachtungen keinen Platz – wenn nicht sogar keinen Wert – im schulischen Geschichtsunterricht zu haben; man kann offensichtlich gut darauf verzichten. Eine Hoffnung bleibt, dass wegen der Rückkehr zu G 9 am Gymnasium in NRW vielleicht die eine oder andere Lehrkraft sich auf den Sinn und Nutzen der Wiederholung für ihre Lernenden besinnt, der stets beklagten Stofffülle in Geschichte offensiv die Stirn bietet und auf didaktische Schwerpunkte zur historischen Kompetenzentwicklung setzt. Anregungen hierfür liefert vor allem Geschichte lernen 30 (2017) H. 179. 45 Handro/Kilimann (Anm. 38), S. 176. 46 Ebd. In den Ausführungen zur Elaborationsstrategie wird auf die historische Sachurteilsbildung verwiesen, welche mit Hilfe der Strategie zu evozieren ist. Im Praxisbeispiel wird auf die Ebene des Sachurteils bewusst verzichtet und der Fokus auf die visuell hervortretende Verknüpfung von Verfassertextinformationen gelegt. Neben der im Praxisbeispiel gewählten concept map werden hier die Strukturlegetechnik, die Definition von Begriffen, eine tabellarische Systematisierung sowie die Erweiterung mit Beispielen genannt. 47 Ebd. 48 Josef Leisen: Prinzipien im sprachsensiblen Fachunterricht. Online unter http://www.sprach sensiblerfachunterricht.de/prinzipien (aufgerufen am 01. 02. 2020). Leisen formuliert neben dem Wechsel der Darstellungsformen die kalkulierte sprachliche und fachliche Herausforderung sowie Methoden-Werkzeuge als Sprachhilfen als die drei grundlegenden Prinzipien
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Lehrer*innenbildung, wird auf den Wechsel der Darstellungsformen als eines der grundlegenden Prinzipien des Sprachsensiblen Fachunterrichts verwiesen. Dabei geht es darum, mithilfe gegenständlicher, bildlicher, sprachlicher und symbolischer Darstellung49 die vielfältigen Möglichkeiten zum fachlichen Verstehen und zur Versprachlichung zu eröffnen. Schüler*innen im Lehrbuch Verfassertexte lesen zu lassen, stellt eine weit verbreitete Aufgabe dar, oft zur Vorbereitung auf die nächste Stunde. In der unterrichtlichen Praxis wird diese Aufgabe erfahrungsgemäß unreflektiert an die Lernenden gestellt, ohne dass ein Bewusstsein für die inhaltliche Verdichtung der Autorentexte, deren verschachtelte Syntax oder die verwendeten Fachbegriffe tatsächlich als Hort von Verständnisproblemen gesehen wird; die Schüler*innen sollen doch »nur« lesen. Hier kann die Fachseminararbeit sinnvoll ansetzen und die bestenfalls schon vorher erarbeiteten Kenntnisse zum Lesen erneut aufnehmen und weiterführen. Die Übung legt damit den Fokus auf die Erweiterung fachdidaktischer Strategien zur Erschließung von Quellen und Darstellungen im Rahmen der Entwicklung professioneller Kompetenzen von Geschichtslehrkräften.50 Als graphische Umsetzung wird eine concept map (dt. Begriffsnetz) gewählt.51 Konkret auf den Geschichtsunterricht bezogen lernen Schüler*innen bei der Erstellung von Begriffsnetzen, Inhalte auf das Wesentliche zu reduzieren sowie darauf zu achten, was die Kernelemente eines Zusammenhangs sind und wie diese miteinander verbunden sind.
des Sprachsensiblen Fachunterrichts. Bereits 2005 veröffentlichte er einen Artikel: Josef Leisen: Der Wechsel der Darstellungsformen. Ein Unterrichtsprinzip für alle Fächer. In: Der Fremdsprachliche Unterricht 76 (2005), S. 9–11. 49 Auf die bei Leisen aufgeführte Ebene der mathematischen Darstellung wird aufgrund der Verortung des Beitrags in den Gesellschaftswissenschaften und aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet. 50 Vgl. Handro/Kilimann (Anm. 38). 51 Bärbel Fürstenau: Concept Maps im Lehr-Lern-Kontext. In: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung 1 (2011), S. 46–48. In der Definition nach Fürstenau handelt es sich bei concept maps um zweidimensionale Strukturdarstellungen von Wissen oder Informationen in Form eines Netzwerkes – bestehend aus Konzepten und Relationen. Konzepte können hier beispielsweise Objekte oder Zeitbegriffe sein; Relationen etwa Verben, Adjektive oder Konjunktionen. Im Gegensatz zu mind maps bezeichnen concept maps die Relationen genau – sie sind Ergebnisse von analytischen Denkprozessen – und haben den Vorteil, dass sie gegenüber anderen Darstellungsformen von Inhalten – wie z. B. Texte – zusammengehörige Informationen durch (benachbarte) Konzepte unmittelbar deutlich machen. Concept maps können als Lernstrategien interpretiert werden, die eine aktive und tiefe Verarbeitung von neuen bzw. bereits gelernten Inhalten unterstützen. Brüning und Saum führen die Effizienz von concept maps an, Wissen zu verarbeiten und sich dadurch einen Überblick über einen thematischen Zusammenhang zu verschaffen. Als Anwendungsbereiche gelten Diagnostik (Messung des zu einem Zeitpunkt vorhandenen Wissens bzw. zur Messung der Veränderung von Wissen) sowie in instruktionalen Prozessen Wissensvermittlung bzw. -aneignung durch die Lernenden.
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Eine Möglichkeit, dies im Fachseminar zu erproben, zeigt das folgende Beispiel: Nach einem kurzen Vortrag über Methode, Zielsetzung, Erstellungsschritte52 und mögliche Anwendungsbereiche von concept maps erstellen die LAA in Kleingruppen eigene concept maps basierend auf einem Verfassertext zur Französischen Revolution unter Berücksichtigung der temporalen Ebene.53 Dieser kommt bei der Aufgabenstellung besondere Bedeutung zu, da die Zeit ein fachspezifisches Element von Verfassertexten im Geschichtsunterricht darstellt. Durch die Anwendung der Elaborationsstrategie ist der Leseprozess als solcher zum einen zielgerichtet auf den Auf- bzw. Ausbau fachlicher Konzepte (hier z. B. Zeit, Kausalität) und zum anderen auf die Erstellung eines eigenen individuellen Produktes ausgerichtet. Um zu angemessenen Ergebnissen zu gelangen, ist es notwendig, den Verfassertext mehrfach zu lesen, so dass das Textverstehen insbesondere während und nach dem Lesen unterstützt wird.54 Der Austausch über die selbst gemachten Erfahrungen während des Erstellungsprozesses soll die LAA zur Reflexion des didaktischen Potentials von concept maps anregen. Die Übung zielt v. a. darauf ab, ein Bewusstsein zu schaffen, dass Verfassertexte ebenso sorgsam im Unterricht behandelt werden sollten wie Quellen und Darstellungen und dass sich diese am ehesten sinnvoll im Nachgang bzw. zum Ende einer Unterrichtssequenz eignen, um Gelerntes zu festigen, Zusammenhänge mit Hilfe des im Laufe der Sequenz erworbenen historischen Wissens zu elaborieren sowie auf diesem Weg zu Ansätzen einer historischen Narration zu gelangen.
4.
Ausblick jenseits des Vorbereitungsdienstes
Ein Ausblick der LAA auf ihre Tätigkeit als Lehrer*innen sollte am Ende der Ausbildung auch den Referenzrahmen Schulqualität NRW berücksichtigen. Der Verweis auf das dort festgeschriebene Qualitätsmerkmal »guten Unterrichts« in der Dimension »Bildungssprache und sprachsensibler Fachunterricht« kann dazu beitragen, dies als selbstverständlichen und integralen Bestandteil des Unterrichtens zu erachten. Hinzu kommt, dass Aspekte des Sprachsensiblen 52 Die Schrittfolge orientiert sich an Michael Sauer: Begriffslernen und Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2019, S. 73. 53 Die unterrichtliche Fokussierung auf die Französische Revolution bietet sich für die LAA an, da es sich dabei um einen Unterrichtsgegenstand handelt, der in der Sek I wie in der Sek II gesetzt ist; es gilt den größten gemeinsamen Nenner zu finden, der sich von den LAA am ehesten auf andere historische Ereignisse übertragen lässt. Bei dem gezeigten Beispiel wurde der Verfassertext dem gymnasialen Lehrwerk »Geschichte und Geschehen« (G8) aus dem Jahr 2016 (S. 124–125) des Klett Verlags entnommen. 54 Handro/Kilimann (Anm. 38), S. 179.
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Kerstin Lochon-Wagner
Geschichtsunterrichts zum Ende der zweiten Phase der Ausbildung den Weg in die selbstverantwortete Unterrichtstätigkeit finden sollen. Wie auch bei anderen Feldern der professionellen Lehrer*innenbildung ist es wichtig, dass in der dritten Phase die Impulse und Anregungen aus der zweiten Phase aufgenommen und mit Hilfe aller an der Lehreraus- und -weiterbildung Beteiligten weiterentwickelt werden. Eine stärkere Vernetzung zwischen den drei Phasen der Lehrer*innenbildung könnte sicherlich zu Synergieeffekten führen, von denen nicht allein die Lehrer*innen, sondern auch die Lehrenden an den Universitäten sowie Fachleiter*innen hinsichtlich der Forschung und Lehre bzw. der Seminarausbildung profitieren dürften.
5.
Schlussbetrachtung
Aus dem im Jahr 1999 vermutlich von vielen als Belanglosigkeit wahrgenommenen Unterfangen, Fragen von fachlichem und sprachlichem Lernen im Rahmen von Schulunterricht zu stellen und den Fachunterricht daraufhin auszurichten, hat sich ein fachdidaktischer Diskurs entwickelt, der aus dem Tätigkeitsfeld der zweiten Phase der Lehrer*innenbildung nicht mehr wegzudenken ist. Sprachsensibler (Geschichts-)Unterricht ist zu einem verbindlichen Ausbildungsgegenstand für alle Lehrämter geworden. Nunmehr stellt sich heraus, dass – wenngleich mit zeitlicher Verzögerung – die Fachdidaktik und universitäre Lehre den Bereich mit Interesse beforschen. Eine Rückkopplung bzw. ein Dialog mit den Praktiker*innen sollte dabei stets mitgedacht werden. Veranstaltungen wie die Sektion »Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Geschichtslehrer*innenbildung: Konzepte einer phasenübergreifenden Professionalisierung« der XXIII. Zweijahrestagung der KGD oder auch die Zusammenarbeit zwischen den Lehrstühlen der Geschichtsdidaktik und den ZfsL im Rahmen des Praxissemesters sind daher wünschenswert, um das gemeinsame Anliegen der Verbesserung des Geschichtsunterrichts weiter voranzutreiben. Im Beitrag wurde anhand von Beispielen aus der Fachseminararbeit aufgezeigt, wie man mit den LAA Aspekte des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts praxisnah erarbeiten kann. Das Lernen anhand von good practice-Beispielen im Rahmen der Fachseminararbeit hat ungemeines Potenzial; und um es nicht bei einem einmaligen Austausch im Fachseminar zu belassen, sollten im Verlauf der Ausbildung immer wieder einzelne Arbeitsblätter bzw. Aufgabenstellungen im Plenum vorgestellt und diskutiert werden. Bei aller akribischen Planung von Geschichtsunterricht sollte nicht vergessen werden: Im Mittelpunkt steht das fachliche, d. h. das historische Lernen. Bei allem Enthusiasmus für Sprachsensiblen Fachunterricht und einer möglichen »(Über) Scaffoldisierung« darf der Geschichtsunterricht nicht dazu genutzt werden, ihn
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als ›bloßes‹ Vehikel für sprachliches Lernen zu missbrauchen. Darüber hinaus zeigt meine persönliche Erfahrung, dass das Vorhandensein guter und funktionaler scaffolds nicht den Lernerfolg aller Schüler*innen im Fach Geschichte garantiert – Erfolgsunsicherheit ist ein Begleitphänomen des professionellen Tuns von Geschichtslehrer*innen und Lehrer*innen überhaupt. Entscheidend erscheint in diesem Zusammenhang die grundsätzliche Bereitschaft und Aufgeschlossenheit bzw. Haltung der Lehrenden zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht zu sein. Diejenigen, die aufgeschlossen, neugierig und offen für fachdidaktische Fragestellungen des Geschichtsunterrichts sind, dürften die sein, die auf freiwilliger Basis auch zu Lehrerfortbildungen gehen und bestenfalls das eine oder andere des dort Erfahrenen im eigenen Unterricht anwenden.
Martin Schlutow
Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Lehrerfortbildung. Herausforderungen und Zugänge
Bereits in Studium und Referendariat können angehende Geschichtslehrer*innen die sprachlichen Dimensionen historischen Lernens theoretisch-konzeptionell erschließen und Ansätze einer fachspezifischen Sprachbildung praktisch erproben. Professionelle Kompetenz im Lehrer*innenberuf bildet sich allerdings – so die fächerübergreifend vertretene These – erst im Laufe der darauf folgenden langjährigen Berufstätigkeit aus, sodass auch die dritte Phase der Lehrer*innenbildung als bedeutender Bestandteil des Professionalisierungsprozesses einer Lehrkraft ernst genommen werden muss.1 Fortbildungen sind in dieser Phase zwar nicht die einzige, wohl aber die wichtigste Lerngelegenheit zur Weiterqualifizierung.2 Dem Sprachsensiblen Geschichtsunterricht kommt in der Lehrerfortbildung derzeit aus mindestens zwei Gründen eine große Bedeutung zu:
1 Vgl. für die Geschichtsdidaktik z. B. Michael Sauer: Die Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und -lehrern. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012, S. 349–369, hier S. 354. In fächerübergreifender Perspektive vgl. u. a. Ewald Terhart (Hrsg.): Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland. Abschlussbericht der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission. Weinheim/ Basel 2000, S. 15, und Rudolf Messner: Leitlinien einer phasenübergreifenden Professionalisierung der Lehrerbildung. In: Dorit Bosse/Lucien Criblez/Tina Hascher (Hrsg.): Reform der Lehrerbildung in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Teil I: Analyse, Perspektiven und Forschung (Theorie und Praxis der Schulpädagogik, Bd. 4). Immenhausen 2012, S. 63–92, hier S. 79. 2 Grundsätzlich werden informelle, non-formale und formale Lerngelegenheiten unterschieden: Während informelle Lerngelegenheiten das Sammeln von Erfahrungen während der Berufsausübung beschreiben, sind Lerngemeinschaften von Lehrkräften oder die individuelle Lektüre von Fachliteratur Beispiele non-formaler Lerngelegenheiten. Die hier im Mittelpunkt stehenden Lehrerfortbildungen zählen zu den formalen Lerngelegenheiten. Vgl. Dirk Richter: Lernen im Beruf. In: Mareike Kunter u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster 2011, S. 317–325, hier S. 317f.
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Martin Schlutow
Erstens handelt es sich beim aktuell geführten Diskurs um Sprache und historisches Lernen um einen relativ neuen Ansatz der Geschichtsdidaktik,3 mit dem erfahrene Geschichtslehrkräfte im Rahmen ihrer Ausbildung nicht vertraut gemacht wurden. Zwar sind mittlerweile »Deutsch als Zweitsprache« und »Sprachsensibler Fachunterricht« als Bestandteile der ersten, teils auch der zweiten Phase der Lehramtsausbildung in zahlreichen Bundesländern etabliert,4 doch dauert es einer Einschätzung Terharts zufolge mindestens zehn bis fünfzehn Jahre, bis solche neuen Impulse der Lehrer*innenbildung flächendeckend in den Schulen zum Tragen kommen.5 Wer also Sprachsensiblen Geschichtsunterricht sowohl als inneruniversitären Fachdiskurs als auch als Konzept für die Unterrichtspraxis begreift, der sollte nicht nur Studierenden, sondern auch ausgebildeten Geschichtslehrkräften die Gelegenheit zu Erfahrungsaustausch und Kompetenzerwerb durch Fortbildungen in diesem Bereich ermöglichen. Zweitens gilt es zu bedenken, dass die praktische Umsetzung Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts äußerst anspruchsvoll ist, verlangt sie doch von Lehrkräften nicht nur grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten zur Analyse sprachlicher Herausforderungen in Quellen und Darstellungen, sondern auch eine Diagnose der sprachlichen und fachlichen Lernvoraussetzungen ihrer Schüler*innen, um auf Basis dieser Erkenntnisse angemessene sprachliche Unterstützungen im Unterricht anzubieten.6 Für Studierende in Praxisphasen und Referendar*innen, für die Unterrichten zunächst vor allem »Handeln unter Druck« bedeutet,7 stellt dies eine echte Herausforderung dar. Insofern erscheinen gerade erfahrenere Lehrkräfte als geeignete Zielgruppe einer vertiefenden Reflexion über den Zusammenhang von sprachlichem und historischem Lernen. Der Nutzen einer Implementierung von Lehrerfortbildungen zu diesem »Schlüsselproblem […] des Geschichtsunterrichts«8 steht damit außer Frage. Bei
3 Zur Historisierung geschichtsdidaktischer Auseinandersetzung mit Sprache vgl. Saskia Handro: Sprache(n) und historisches Lernen. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 5–24, hier S. 10f. 4 Vgl. zum Überblick Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in der Lehrerbildung (Sprachliche Bildung, Bd. 2). Münster/New York 2017. 5 Ewald Terhart: Umgang mit Heterogenität: Anforderungen an Professionalisierungsprozesse. In: Lehren & Lernen 40 (2014) H. 8/9, S. 7–12, hier S. 11. 6 Vgl. Saskia Handro: Sprache und Diversität im Geschichtsunterricht. In: Sebastian Barsch u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik. Frankfurt/M. 2020, S. 93–116, hier S. 104f. 7 Vgl. Diethelm Wahl: Handeln unter Druck. Der weite Weg vom Wissen zum Handeln bei Lehrern, Hochschullehrern und Erwachsenenbildnern. Weinheim 1991. 8 Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 3). Münster 2013, S. 317– 333, hier S. 317.
Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Lehrerfortbildung
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der Entwicklung entsprechender Lernangebote für Lehrkräfte wird man jedoch mit zwei grundlegenden Herausforderungen konfrontiert. Zum einen gilt es auf inhaltlicher Ebene genauer zu bestimmen, was der zentrale Gegenstand einer Fortbildung zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht ist: die Sprache oder das Fach? So kann es mittlerweile zwar als Konsens gelten, dass der Sprache eine bedeutende Rolle im Geschichtsunterricht zukommt, doch sind schon wegen der Nähe vieler historischer Begriffe zur Alltagssprache oder wegen der fächerübergreifenden Relevanz von Bildungs- und Schulsprache im Unterricht die Merkmale einer fachspezifischen Sprachbildung im Geschichtsunterricht mitunter schwer zu bestimmen.9 Zum anderen erscheint es auch auf methodischer Ebene herausfordernd, Fortbildungen für Geschichtslehrkräfte zu konzipieren. Innerhalb der Geschichtsdidaktik stellen Lehrerfortbildungen ein vernachlässigtes Forschungsfeld dar,10 sodass bei ihrer Entwicklung auf keine etablierten fachspezifischen Konzepte zurückgegriffen werden kann. In überfachlicher Hinsicht sind Lehrerfortbildungen zudem in letzter Zeit zunehmend in die Kritik geraten, da die bestehenden Angebote weitgehend an den Bedürfnissen der Lehrkräfte vorbeizugehen scheinen. »Lehrerfortbildung bestenfalls ›ausreichend‹«,11 so titelte beispielsweise die Stuttgarter Zeitung anlässlich der Publikation einer Evaluation des Fortbildungsangebots in Baden-Württemberg aus dem Jahr 2019.12 Was genau zeichnet also eine gelungene Lehrerfortbildung für Geschichtslehrkräfte aus? Im Folgenden sollen diese Herausforderungen zunächst präzisiert und diskutiert werden (Abschnitte 1 und 2). Hieraus lassen sich Zugänge zur Fortbildungsentwicklung für Sprachsensiblen Geschichtsunterricht ableiten, die im Abschnitt 3 anhand eines exemplarischen Fortbildungsprojekts konkretisiert werden. Bei dem gewählten Beispiel handelt es sich um das Lehrerfortbildungsprogramm »Sprachsensibler Geschichtsunterricht«, das in Kooperation mit dem nordrhein-westfälischen Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW) von einem Team aus Fortbildungskoordinator*innen, Lehrkräften und Angehörigen des Instituts für Didaktik der Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entwickelt wurde.13 Abschnitt 4 schließt mit einem Ausblick auf künf9 Vgl. Melanie Beese u. a.: Sprachbildung in allen Fächern. München 2014, S. 115. 10 Vgl. Charlotte Bühl-Gramer: Wer? Die Akteure. Einführung in die Sektion. In: Thomas Sandkühler u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung. Bonn 2018, S. 355–365, hier S. 363. 11 https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.studie-zur-weiterqualifizierung-von-lehrern-fortb ildung-bestenfalls-ausreichend.212c6152-0c7d-4049-9c56-aa50ea5 ff 30b.html (aufgerufen am 28. 02. 2020). 12 Vgl. Colin Cramer/Karen Johannmeyer/Martin Drahmann (Hrsg.): Fortbildungen von Lehrerinnen und Lehrern in Baden-Württemberg. Tübingen 2019. 13 Das Programm wurde konzipiert von Alexander Brämer, Evelyn Futterknecht, Prof. Dr. Saskia Handro, Dr. Michaela Hänke-Portscheller, Dr. Martin Schlutow und Viola Schrader.
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Martin Schlutow
tige Fragen geschichtsdidaktischer Beschäftigung mit Lehrerfortbildungen zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht.
1.
Fortbildungsinhalte: Sprache oder Fach?
Fragt man zunächst nach der Bedeutung von Sprache im Fachunterricht aus der Perspektive der Lehrkräfte, so weisen die Aussagen einer Lehrerbefragung Becker-Mrotzeks zur »Sprachförderung in deutschen Schulen« aus dem Jahr 2012 darauf hin, dass Lehrkräfte mehrheitlich Sprache und Sprachförderung eine große Bedeutung für alle Unterrichtsfächer zusprechen, sie sich jedoch auf die Bewältigung der damit einhergehenden Aufgaben schlecht vorbereitet fühlen.14 Diese tendenziell negativen Selbsteinschätzungen bezüglich der Kompetenzen im Umgang mit sprachlicher Vielfalt im Unterricht decken sich beispielsweise für das Fach Mathematik mit dem Befund Hachfelds, dass Lehrkräfte dazu neigen, die sprachlichen Kompetenzen mehrsprachig aufwachsender Schüler*innen zu überschätzen.15 Für das Fach Geschichte liegen bislang keine vergleichbaren Studien vor. Kleinere qualitative Studien zu Lehrervorstellungen über Sprache im Geschichtsunterricht liefern allerdings heterogene Befunde. Einerseits verweisen einige der befragten Lehrkräfte auf eine Vielzahl von sprachlichen Schwierigkeiten, denen ihre Schüler*innen begegnen. Diese betreffen beispielsweise die Historizität der Quellensprache, das Textverstehen oder die Fähigkeit, »zusammenhängend eine Gedankenkette zu entwickeln«, also historisch zu erzählen.16 Derartige Einschätzungen stehen im Einklang mit Befunden der geschichtsdidaktischen Lehr-Lernforschung zu sprachlichen Herausforderungen im Geschichtsunterricht17 und zeigen, dass aus der Perspektive dieser Lehrkräfte sprachliche Fähigkeiten eine zentrale Rolle im Geschichtsunterricht spielen. Demgegenüber wird von anderen Lehrkräften die besondere Bedeutung von Sprache für den Geschichtsunterricht grundsätzlich negiert und der Einsatz 14 Vgl. Michael Becker-Mrotzek u. a.: Sprachförderung an deutschen Schulen – die Sicht der Lehrerinnen und Lehrer. Ergebnisse einer Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern. Köln 2012, S. 3. 15 Vgl. Axinja Hachfeld: Lehrerkompetenzen im Kontext sprachlicher und kultureller Heterogenität im Klassenzimmer. Welche Rolle spielen diagnostische Fähigkeiten und Überzeugungen? In: Elmar Winters-Ohle/Bettina Seipp/Bernd Ralle (Hrsg.): Lehrer für Schüler mit Migrationsgeschichte. Sprachliche Kompetenz im Kontext internationaler Konzepte der Lehrerbildung (Mehrsprachigkeit, Bd. 35). Münster 2012, S. 47–65, hier S. 53. 16 Vgl. Kristin Hillgruber: Lehrereinstellungen zu sprachlichen Herausforderungen im Geschichtsunterricht am Gymnasium. Eine empirische Untersuchung. Masterarbeit WWU Münster 2018, Anhang S. 14 u. 20, sowie Bastian Platte: Sprachlernen und Sprachförderung im Geschichtsunterricht. Ansichten und Erfahrungen im Lehrerkollegium. Bericht zum Studienprojekt im Praxissemester 09/2016, WWU Münster, S. 16. 17 Vgl. hierzu im Überblick Handro (Anm. 6), S. 98–100.
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sprachbildender Methoden im Geschichtsunterricht als nicht notwendig erachtet.18 Zumindest die erste Gruppe von Geschichtslehrkräften dürfte damit vermutlich dem Wunsch nach mehr Qualifizierung zum Umgang mit Sprache im Fachunterricht zustimmen, wie er in der Lehrerbefragung Becker-Mrotzeks u. a. geäußert wurde.19 Über die zweite Gruppe von Geschichtslehrkräften wird in Abschnitt 4 noch zu sprechen sein. Dass eine Qualifizierung von Fachlehrkräften im Bereich Sprache sinnvoll und notwendig erscheint, ist allerdings keineswegs eine neue Einsicht – vielmehr verdeutlicht ein Blick auf die Forschungsgeschichte, dass die große Bedeutung von Sprache für Schule und Bildungserfolg bereits seit den 1970er Jahren betont wird.20 Verstärktes Interesse wurde dem Thema jedoch vor allem seit den 2000er Jahren zuteil, da »internationale Schulvergleichsstudien wie PISA […] sehr deutlich die große Rolle von Sprache und die Bedeutung, die mangelnde Sprachkompetenzen für den Schulerfolg haben, nachweisen.«21 Im Fokus stand deshalb zunächst vor allem die Unterstützung sprachschwacher Lernender durch eine fächerübergreifende Sprachförderung. In den letzten Jahren ist jedoch eine zweifache Akzentverschiebung im Diskurs um Sprache im Unterricht zu erkennen: Erstens rückt ein Verständnis von Sprache als Lerngegenstand, Lernvoraussetzung und Lernmedium22 nicht nur sprachschwache, sondern alle Lernenden als Zielgruppe von Sprachbildung in den Blick. Zweitens hat sich fächerübergreifend die Erkenntnis durchgesetzt, dass Sprachbildung im Unterricht fachspezifisch zu erfolgen hat und entsprechende Konzepte auch von den jeweiligen Fachdidaktiken zu entwickeln sind, da die sprachlichen Herausforderungen der Fächer je eigene Besonderheiten aufweisen.23 18 Hillgruber (Anm. 16), S. 47; Platte (Anm. 16), S. 27. 19 Becker-Mrotzek u. a. (Anm. 14), S. 10. 20 Vgl. Barbara Baumann: Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache in der Lehrerbildung – ein deutschlandweiter Überblick. In: Becker-Mrotzek u. a. (Anm. 4), S. 9–26, hier S. 9. 21 Kristina Peuschel/Anne Burkard: Sprachliche Heterogenität in der Schule. In: Dies.: Sprachliche Bildung und Deutsch als Zweitsprache in den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern. Tübingen 2019, S. 15–51, hier S. 33. 22 Vgl. Magdalena Michalak/Valerie Lemke/Marius Goeke: Sprache im Fachunterricht. Eine Einführung in Deutsch als Zweitsprache und sprachbewussten Unterricht. Tübingen 2015, S. 13. 23 Peuschel/Burkard (Anm. 21), S. 34; Michalak/Lemke/Goeke (Anm. 22), S. 5; Galina Putjata/ Yauheniya Danilovich: Sprachliche Vielfalt als regulärer Bestandteil der Lehrerbildung: Zum Bedarf fachlicher und fachdidaktischer Perspektiven. In: Yauheniya Danilovich/Galina Putjata (Hrsg.): Sprachliche Vielfalt im Unterricht. Fachdidaktische Perspektiven auf Lehre und Forschung im DaZ-Modul. Wiesbaden 2019, S. 1–14, hier S. 9; Beate Lütke/Inger Petersen/Tanja Tajmel: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Fachintegrierte Sprachbildung. Forschung, Theoriebildung und Konzepte für die Unterrichtspraxis (DaZ-Forschung, Bd. 8). Berlin 2017, S. v–viii, hier S. v; Barbara Baumann/Michael Becker-Mrotzek: Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an deutschen Schulen: Was leistet die Lehrerbildung? Überblick, Analysen und Handlungsempfehlungen. Köln 2014, S. 9. Bereits 2010 wurde dies betont von Bernt
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Bezieht man diese Entwicklung auf die Frage »Sprache oder Fach?« bei der Entwicklung von Lehrerfortbildungen zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht, so ist eine deutliche Betonung der fachlichen Spezifika von Sprachbildung im Geschichtsunterricht geboten. Im Mittelpunkt einer Fortbildung für Geschichtslehrkräfte sollte demnach die Erkenntnis stehen, dass Sprache nicht nur im Hinblick auf ihre kommunikative Funktion im Unterricht relevant ist, sondern auch als erkenntnisgenerierendes Instrument für fachliche Denkprozesse ernst genommen werden sollte.24 Ein linguistischer Vergleich von sprachlichen Hürden in Schulbuchtexten einzelner Fächer, wie er beispielweise im Band »Sprachbildung in allen Fächern« vorgenommen wird, kann deshalb nur ein Teilaspekt der Beschäftigung mit Sprache im Geschichtsunterricht sein. Schließlich bestehen bei Formulierungen wie »die eingeladenen Bürger«25 die sprachlichen Herausforderungen aus geschichtsdidaktischer Perspektive nicht allein in der Verwendung einer Partizipialkonstruktion, wie es Beese u. a. suggerieren, sondern vor allem in der Historizität des Begriffs »Bürger«.26 Eine fachspezifische Systematisierung des Zusammenhangs von Sprache und historischem Lernen unter Berücksichtigung der epistemischen Funktion von Sprache hat insbesondere Handro vorgelegt. In ihrem »Prozessmodell historischen Erzählens im Geschichtsunterricht« verdeutlicht sie, dass die klassischen Schritte des historischen Erkenntnisprozesses – Heuristik, Quellenkritik, Interpretation und Darstellung – mit je eigenen rezeptiven und produktiven Sprachhandlungen einhergehen.27 In pragmatischer Perspektive geht damit ein Verständnis von Sprachbildung im Geschichtsunterricht einher, das Handro in folgenden Leitlinien zusammenfasst: Sprachsensibler Geschichtsunterricht integriert fachlichen und (bildungs)sprachlichen Kompetenzerwerb zur Förderung narrativer Kompetenz, denkt damit Sprachbildung im Geschichtsunterricht stets im funktionalen Verhältnis zum historischen Lernziel, berücksichtigt aber in besonderem Maße die sprachlichen Voraussetzungen Lernender und nutzt Mehrsprachigkeit als Ressource. Er verlangt deshalb Transparenz und explizite Vermittlung sprachlicher Anforderungen, bietet bedarfsgerecht scaffolds an und vermittelt fachbezogene Lese- und Schreibstrategien. Von Lehrkräften verlangt
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Ahrenholz: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen 2010, S. 1–14, hier S. 4. Handro (Anm. 8), S. 328. Zit. in Beese u. a. (Anm. 9), S. 113. Vgl. Markus Bernhardt/Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte. In: Geschichte lernen 31 (2018) H. 182, S. 2–9, hier S. 7. Vgl. Saskia Handro: Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Leerformel oder Lernchance? In: Katharina Grannemann/Sven Oleschko/Christian Kuchler (Hrsg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. Münster 2018, S. 13–41, hier S. 30.
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ein solcher Unterricht, Sprachvorbild und Sprachcoach zu sein und Lernenden vielfältige Möglichkeiten für fachliches und gesellschaftlich relevantes Sprachhandeln zu eröffnen.28 Wie können Geschichtslehrkräfte für einen so verstandenen Sprachsensiblen Geschichtsunterricht qualifiziert werden? Grundsätzlich sollten auch die Zielsetzungen entsprechender Fortbildungen fachspezifisch definiert werden. Eine Orientierung können das »ProLeGu-Modell« professioneller Kompetenzbereiche und -facetten für den Sprachsensiblen Geschichtsunterricht sowie die Differenzierung zwischen theoretisch-konzeptionellem und praktischem Handlungswissen nach Fenstermacher bieten.29 Demnach sollten Geschichtslehrkräfte im Rahmen einer Fortbildung zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht zum einen vor dem Hintergrund ihres praktischen Handlungswissens ihre »Überzeugungen und Werthaltungen« zur Sprache im Geschichtsunterricht zum Ausdruck bringen und ihre Erfahrungen mit den sprachlichen Dimensionen historischen Lernens reflektieren. Zum anderen sollten sie in den Bereichen »Geschichtswissen«, »geschichtsdidaktisches Wissen« und »pädagogisches Wissen« ihr Professionswissen über den Umgang mit sprachlichen Herausforderungen im Geschichtsunterricht auch auf theoretisch-konzeptioneller Ebene erweitern. Lehrkräfte können im Rahmen einer Fortbildung damit unter anderem erfahren, dass die Wahl geeigneter Leseund Schreibstrategien bei der Unterrichtsplanung nicht allein von den sprachlichen und fachlichen Fähigkeiten der Schüler*innen, sondern vor allem auch von der historischen Frage der Unterrichtseinheit abhängig ist. »Geschichtswissen«, »geschichtsdidaktisches Wissen« und »pädagogisches Wissen« hängen bei der Umsetzung Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts also eng miteinander zusammen. Dies verdeutlicht teilnehmenden Lehrkräften, dass Sprachbildung
28 Handro (Anm. 6), S. 104f. Vgl. auch Dies.: Historisches Erzählen (lehren) lernen. Potentiale ›Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts‹. In: Waltraud Schreiber/Béatrice Ziegler/Christoph Kühberger (Hrsg.): Geschichtsdidaktischer Zwischenhalt. Beiträge aus der Tagung »Kompetent machen für ein Leben in, mit und durch Geschichte« in Eichstätt vom November 2017. Münster 2019, S. 128–135, hier S. 130f. 29 Vgl. hierzu Martin Schlutow: Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Geschichtslehrer*innenbildung. Einführung in die Sektion (in diesem Band). Vgl. zum »ProLeGu-Modell« Saskia Handro/Vanessa Kilimann: Textverstehen im Geschichtsunterricht. Ein Projekt zur Professionalisierung historischer Leseförderung (ProLeGu). In: Marion Bönnighausen (Hrsg.): Praxisprojekte in Kooperationsschulen. Fachdidaktische Modellierung von Lehrkonzepten zur Förderung strategiebasierten Textverstehens in den Fächern Deutsch, Geographie, Geschichte und Mathematik (Schriften zur Allgemeinen Hochschuldidaktik, Bd. 4). Münster 2019, S. 165–222, hier S. 184, und zur Unterscheidung von theoretisch-konzeptionellem Wissen und praktischem Handlungswissen Gary D. Fenstermacher: The Knower and the Known. The Nature of Knowledge in Research on Teaching. In: Review of Research in Education 20 (1994), S. 1–54.
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im Geschichtsunterricht kein überfachliches Beiwerk ist, sondern fachlichen Kompetenzerwerb fördert. Eine solche fachspezifische Profilierung von Lehrerfortbildungen zur Sprachbildung im Geschichtsunterricht erscheint nicht zuletzt deshalb erforderlich, weil bereits existierende Fortbildungsangebote zu »Deutsch als Zweitsprache« und Sprachsensiblem Fachunterricht zumindest teilweise offenbar an den Bedürfnissen von Fachlehrkräften vorbeigehen. So wird in verschiedenen Erhebungen des Fortbildungsangebots in der Bundesrepublik deutlich, dass zwar auf den Wunsch der Lehrkräfte nach mehr Qualifizierungsangeboten zur Sprachförderung im Unterricht bundeslandübergreifend reagiert wurde und mittlerweile eine Vielzahl an Fortbildungen zu diesem Thema angeboten wird.30 Dennoch steht das existierende Fortbildungsangebot für Lehrkräfte gegenwärtig in der Kritik. Ein Grund hierfür könnte nicht zuletzt in der fehlenden fachlichen Konturierung von primär sprachlich akzentuierten Fortbildungen liegen. So formuliert beispielsweise der Philologenverband Nordrhein-Westfalen in einem Positionspapier vom 05. 02. 2019 deutliche Skepsis gegenüber überfachlichen »Großprojekte[n]« und fordert stattdessen »vor allen Dingen […] fachliche Fortbildung«.31
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Fortbildungsmethodik: Implementierung und Entwicklung »wirksamer« Lehrerfortbildungen
Wie ist es also um das bestehende Fortbildungsangebot für Lehrkräfte bestellt? Und welche Merkmale weist eine gelungene Lehrerfortbildung konkret auf ? Mit diesen Fragen geraten vor allem die methodischen Herausforderungen bei der Entwicklung von Lehrerfortbildungen zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht in den Blick. Widmen wir uns zunächst der ersten Frage, so scheint das aktuelle Fortbildungsangebot für Lehrkräfte in der Bundesrepublik unabhängig von der Themensetzung einzelner Veranstaltungen kaum dazu geeignet, Lehrkräfte in an30 Vgl. Peter Daschner/Rolf Hanisch (Hrsg.): Lehrkräftefortbildung in Deutschland. Bestandsaufnahme und Orientierung. Ein Projekt des Deutschen Vereins zur Förderung der Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung e.V. (DVLfB). Weinheim 2019, S. 55; Baumann/BeckerMrotzek (Anm. 23); Michaela Möhrs/Claudia Bach: Sprachbildung in der Lehrerfortbildung. In: Michael Becker-Mrotzek/Hans-Joachim Roth (Hrsg.): Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder (Sprachliche Bildung, Bd. 1). Münster 2017, S. 365–378, hier S. 365–369, und Simon Morris-Lange/Katarina Wagner/Lale Altinay: Lehrerbildung in der Einwanderungsgesellschaft. Qualifizierung für den Normalfall Vielfalt. Berlin 2016, S. 17f. 31 https://www.phv-nw.de/presse/positionspapier/zum-zustand-der-lehrerfortbildung-in-nrw (aufgerufen am 02. 03. 2020).
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gemessener Weise bei ihrer Professionalisierung während der dritten Phase der Lehrer*innenbildung zu unterstützen. Die Bestandsaufnahmen setzen teils auf Bundesebene, teils auf Länderebene an, gelangen jedoch zu sehr ähnlichen, überwiegend ernüchternden Ergebnissen. Diese betreffen zunächst einmal Fragen der Implementierung von Lehrerfortbildungen. So bemängelt eine kürzlich erschienene Studie des Deutschen Vereins zur Förderung der Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung grundsätzlich die fehlende Bereitschaft der Verantwortlichen staatlicher Lehrerfortbildungen, die konzeptionellen, personellen und finanziellen Planungen ihrer Fortbildungsangebote offenzulegen. Damit gehen eine Zersplitterung der Fortbildungslandschaft und eine fehlende Abstimmung der Angebote verschiedener Träger auf Landes- und erst recht auf Bundesebene einher. Zudem existiert formal zwar in allen Bundesländern eine Fortbildungspflicht für Lehrkräfte, diese ist jedoch nur in Bayern, Bremen und Hamburg durch die Festlegung konkreter Stundenvorgaben des zu absolvierenden Fortbildungsbesuchs auch überprüfbar. Nicht zuletzt erscheint das staatlich organisierte Fortbildungsangebot für Lehrkräfte im Vergleich mit anderen Ländern, aber auch mit anderen Berufsfeldern unterfinanziert: »Betriebe in Deutschland« geben laut Daschner und Hanisch »für die Weiterqualifizierung ihres Personals im Schnitt etwa das Dreifache aus«.32 Kritisiert wird darüber hinaus in Bezug auf die Methodik von Lehrerfortbildungen, dass die große Mehrzahl der Fortbildungen als zeitlich eng begrenzte, nicht sequenziell angelegte Veranstaltungen angeboten werde. Dieser Befund steht in deutlichem Kontrast zu der Erkenntnis einer Reihe von Studien zur Wirksamkeit von Lehrerfortbildungen, die allesamt eine längere Dauer als zentrales Merkmal wirksamer Lehrerfortbildungen charakterisieren.33 Zwar ist die Untersuchung der Wirksamkeit auch in diesem Bereich der Lehrer*innenbildung ausgesprochen komplex, da nach Lipowsky Wirkungen auf den vier Ebenen »Reaktionen der teilnehmenden Lehrkräfte«, »Lernen der Lehrkräfte«, »Veränderungen im unterrichtlichen Handeln der Lehrkräfte« und »Entwicklung der Schülerinnen und Schüler« festgemacht werden können.34 32 Vgl. Daschner/Hanisch (Anm. 30), S. 12–17, zit. S. 15. Auf Länderebene werden ähnliche Befunde festgestellt. Vgl. z. B. für Baden-Württemberg Cramer/Johannmeyer/Drahmann (Anm. 12), und für Nordrhein-Westfalen Evaluation der Lehrerfortbildung in NRW – Stellungnahme der Expertengruppe. o.O. u.J. Online unter https://www.schulministerium.nrw. de/docs/bp/Ministerium/Presse/Pressemitteilungen/2019_17_LegPer/PM20191028_Evaluati on-Lehrerfortbildung/Expertenbericht_Lehrerfortbildung.pdf (aufgerufen am 02. 03. 2020). 33 Vgl. Kathrin Fussangel/Matthias Rürup/Cornelia Gräsel: Lehrerfortbildung als Unterstützungssystem. In: Herbert Altrichter/Katharina Maag Merki (Hrsg.): Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem. Wiesbaden 2. Aufl. 2016, S. 316–384, hier S. 381. 34 Vgl. Frank Lipowsky: Lernen im Beruf. Empirische Befunde zur Wirksamkeit von Lehrerfortbildung. In: Florian H. Müller (Hrsg.): Lehrerinnen und Lehrer lernen. Konzepte und Befunde zur Lehrerfortbildung. Münster 2010, S. 51–70, hier S. 52–62.
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Dennoch ist es zur Beantwortung der Frage nach den Kennzeichen gelungener Lehrerfortbildungen laut Lipowsky und Rzejak möglich, aus den international vorliegenden Wirkungsstudien sieben übergreifende Kriterien wirksamer Lehrerfortbildungen herauszuarbeiten. Neben der 1) längeren Dauer sind dies 2) der Fokus auf das Fach (und hier insbesondere auf das fachdidaktische und diagnostische Lehrerwissen), 3) das Erfahrbarmachen der Wirkungen eigenen Handelns, 4) die Verschränkung von Input-, Erprobungs- und Reflexionsphasen, 5) die Orientierung an Merkmalen lernwirksamen Unterrichts, 6) das Erteilen von Feedback an die Lehrpersonen und 7) die Förderung professioneller Lerngemeinschaften.35 Zieht man an dieser Stelle eine Zwischenbilanz, so lassen sich also eine längere Dauer und der Fokus auf das Fach als die zwei zentralen Zugänge gelungener Lehrerfortbildungen zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht charakterisieren. Denn das Erfahrbarmachen der Wirkungen eigenen Handelns, die Verschränkung von Input-, Erprobungs- und Reflexionsphasen sowie das Erteilen von Feedback und die Förderung professioneller Lerngemeinschaften sind ohne eine längere Dauer der Fortbildung nicht zu realisieren, während die Orientierung an Merkmalen wirksamen Unterrichts eine Konzentration auf Fachlichkeit bedingt. Die beiden letztgenannten Merkmale sind dadurch geprägt, dass sie den Fokus der Fortbildung nicht auf »Oberflächenmerkmale« wie Unterrichtsmethoden oder Sozialformen, sondern auf die »Tiefenstruktur von Unterricht« legen, so Lipowsky/Rzejak: »Der Forschungsstand offenbart, dass wirksame Fortbildungen darauf abzielen, das fachliche Verständnis der Lehrpersonen für den Unterrichtsinhalt zu vertiefen, das Lehrerwissen über typische Schülerkonzepte und -misskonzepte zu erweitern und Lehrpersonen zu befähigen, aus Antworten und Lösungswegen von Schülern Rückschlüsse auf deren Vorstellungen, Wissen und Fähigkeiten zu ziehen.«36 Zu beachten ist allerdings, dass sich die empirischen Studien zur Wirksamkeit von Lehrerfortbildungen weder auf das Fach Geschichte noch auf die Themen Sprachbildung und -förderung im Unterricht beziehen. Zur Sprachförderung in anderen Fächern wurden zwar vereinzelt Evaluationsberichte von Fortbildungen
35 Vgl. Frank Lipowsky/Daniela Rzejak: Lehrerinnen und Lehrer als Lerner – Wann gelingt der Rollentausch? – Merkmale und Wirkungen wirksamer Lehrerfortbildungen. In: Bosse/Criblez/Hascher (Anm. 1), S. 235–253, hier S. 239–246. Auch in internationalen Studien werden diese Merkmale wirksamer Lehrerfortbildungen herausgearbeitet. Vgl. u. a. Laura M. Desimone: Improving Impact Studies of Teachers’ Professional Development: Toward Better Conceptualizations and Measures. In: Educational Researcher 38 (2009) H. 3, S. 181–199, hier S. 185, und Linda Darling-Hammond/Maria E. Hyler/Madelyn Gardner: Effective Teacher Professional Development. Palo Alto 2017, S. v f. 36 Lipowsky/Rzejak (Anm. 35), S. 240.
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publiziert,37 innerhalb der Geschichtsdidaktik verfügen wir jedoch über keinerlei entsprechende Studien. Hilfreich ist deshalb für die methodische Konzeption einer Lehrerfortbildung zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht vor allem Leisens »Handbuch Fortbildung Sprachförderung im Fach«, in dem unter anderem die Berücksichtigung folgender drei Prinzipien empfohlen wird: Erstens lassen sich Fachlehrkräfte am ehesten für den Nutzen des Sprachsensiblen Fachunterrichts sensibilisieren, so Leisen, wenn die Fortbildung auf das fachliche Lernen ausgerichtet ist und an konkreten Unterrichtsmaterialien und Schülerprodukten für die sprachlichen Dimensionen fachlichen Lernens sensibilisiert.38 Dabei sollte, zweitens, eine »Bevormundung« erfahrener Lehrkräfte durch die Vorgabe eines Planungsrasters für Sprachsensiblen Unterricht o. ä. vermieden werden. Stattdessen sei es ratsam, an Standardsituationen fachlichen Lernens im Unterricht anzusetzen. Diese spiegeln sich Leisen zufolge vor allem in den Aufgabenstellungen wider.39 Ein Studientag zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht, der in einem Wechsel aus Input, eigenständigen Arbeitsphasen der Teilnehmer*innen und Diskussionen im Plenum gestaltet wird, kann allerdings, drittens, nur der Auftakt zu einer längerfristigen Beschäftigung mit Sprachsensiblem Fachunterricht im Rahmen eines Schulentwicklungsprozesses sein, innerhalb dessen z. B. sprachliche Probleme der Schüler*innen gemeinsam diagnostiziert oder Lese- und Schreibstrategien erprobt und reflektiert werden.40 Im Hinblick auf inhaltliche und methodische Fragen lassen sich damit auch aus den Empfehlungen Leisens der Fokus auf das Fach und die längere Dauer durch einen Wechsel von Input-, Erprobungs- und Reflexionsphasen als wesentliche Merkmale gelungener Lehrerfortbildungen zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht ableiten.41 Beide Zugänge bilden deshalb die Eckpfeiler des nordrhein-westfälischen Lehrerfortbildungspgrogramms »Sprachsensibler Geschichtsunterricht«.
37 Vgl. Claudia Benholz/Ursula Mensel: Kooperation und Vernetzung – Grundvoraussetzung für die Lehrerbildung in der ersten, zweiten und dritten Phase. In: Claudia Benholz/Magnus Frank/Erkan Gürsoy (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart 2015, S. 343–365, hier S. 361. 38 Vgl. Josef Leisen: Handbuch Fortbildung Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. Stuttgart 2017, S. 20. 39 Ebd., S. 20 u. 50. 40 Ebd., S. 13. 41 Baumann/Becker-Mrotzek (Anm. 23), S. 50, und Morris-Lange/Wagner/Altinay (Anm. 30), S. 17f., empfehlen ebenfalls die Einbindung von Fortbildungen zur Sprachförderung in längere Schulentwicklungsprozesse.
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Das Fortbildungsprogramm »Sprachsensibler Geschichtsunterricht«
Auch von bildungspolitischer Seite wird gegenwärtig versucht, auf die skizzierten Herausforderungen bei der Entwicklung von Lehrerfortbildungen zum Sprachsensiblen Fachunterricht zu reagieren. Dies verdeutlicht nicht nur eine aktuelle Empfehlung der Kultusministerkonferenz,42 sondern auch ein Blick auf die Genese des hier im Mittelpunkt stehenden Fortbildungsprogramms. Ausgangspunkt war ein Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 23. März 2017, in dem die Entwicklung einer »vorrangig als längerfristig angelegte[n] schulinterne[n] Fortbildungsmaßnahme«43 mit dem Titel »Interkulturelle Schulentwicklung – Demokratie gestalten« veranlasst wurde. Es sollten Fortbildungsmodule für die Teilaspekte »prozessbegleitende Schulentwicklung«, »Deutsch als Zweitsprache« und »Sprachsensibler Fachunterricht« entwickelt werden, die im Erlass um bereits bestehende Angebote zur »Demokratischen Schulentwicklung« ergänzt wurden. Daran lässt sich zweierlei ablesen: Erstens wurden neben Programmen zur überfachlichen Sprachförderung (»Deutsch als Zweitsprache«) mit dem »Sprachsensiblen Fachunterricht« gezielt Module für eine fachspezifische Sprachbildung eingefordert, und zweitens sollten diese durch Fortbildungen längerer Dauer realisiert werden. Verantwortlich für die Koordination der Fortbildungsentwicklung war und ist die »Qualitäts- und Unterstützungsagentur – Landesinstitut für Schule« (QUA-LiS NRW), die gemeinsam mit Vertreter*innen der Bezirksregierungen Nordrhein-Westfalens sowie mit Vertreter*innen der »Landesweiten Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren« (LaKI) die Umsetzung des Erlasses realisieren sollte. Dies ist als ein Versuch zu verstehen, gegen die Zersplitterung der Fortbildungslandschaft anzugehen und ein einheitliches Fortbildungsprogramm für ganz Nordrhein-Westfalen zu implementieren. Vor dem Hintergrund, dass die staatlichen Fortbildungen bis dahin primär durch die fünf Bezirksregierungen (Köln, Düsseldorf, Arnsberg, Detmold, Münster) regional
42 Vgl. Kultusministerkonferenz: Empfehlung »Bildungssprachliche Kompetenzen in der deutschen Sprache stärken«. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 05. 12. 2019. o. O. u. J., S. 4f. Online unter https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/ 2019/2019-12-06_Bildungssprache/2019-368-KMK-Bildungssprache-Empfehlung.pdf (aufgerufen am 09. 03. 2020). 43 Runderlass des Ministerium für Schule und Weiterbildung vom 23. 03. 2017: Fort- und Weiterbildung; Strukturen und Inhalte der Fort- und Weiterbildung für das Schulpersonal (§§ 57–60 SchulG); Ergänzung Anlage 4 Teil 1 »Interkulturelle Schulentwicklung – Demokratie gestalten«. Online unter https://bass.schul-welt.de/16807.htm (aufgerufen am 09. 03. 2020).
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geplant und implementiert wurden, war dies ein durchaus ambitionierter Ansatz. Zur Realisierung des Moduls »Sprachsensibler Fachunterricht« strebte die QUALiS für das Fach Geschichte dabei eine Zusammenarbeit mit der Wissenschaft an. Die Aufgaben des daraufhin gebildeten Projektteams bestanden in erster Linie darin, ein Fortbildungsprogramm für den Sprachsensiblen Geschichtsunterricht zu entwickeln und die hierfür benötigten Fortbildungsmaterialien zu erstellen. Für das Institut für Didaktik der Geschichte der WWU Münster bot diese Kooperation vor allem zwei Potenziale: Erstens eröffnete das Projekt die Chance, Fachlichkeit als zentrales Merkmal von Sprachbildung im Geschichtsunterricht zu profilieren. Dies ermöglichte es, zweitens, ein solches Verständnis Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts über die akademische Geschichtsdidaktik hinaus auch mit Vertreter*innen der Schulpraxis zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Die konzeptionellen Grundentscheidungen des Programms spiegeln sich zunächst in folgenden Zielsetzungen der Fortbildung:44 Lehrkräfte sollen ausgehend von ihren Unterrichtserfahrungen den Blick für die Sprachgebundenheit fachlichen Lernens und die Potenziale fachlich integrierter Sprachbildung schärfen. Im Sinne der Reflexion von Praxiserfahrungen stehen Schlüsselprobleme des Geschichtsunterrichts an der Schnittstelle von sprachlichem und fachlichem Lernen im Mittelpunkt, an denen die Teilnehmer*innen exemplarisch diagnostische, analytische und methodische Kompetenzen für den Sprachsensiblen Geschichtsunterricht erwerben. Neben einer theoretischen Fundierung steht deshalb die Auseinandersetzung mit konkreten Schülerprodukten und Unterrichtsmaterialien im Vordergrund. Hauptziel der Fortbildung ist es also, Lehrkräfte für die fachlichen Potentiale Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts zu sensibilisieren und ihnen einen theoretischen und methodischen Reflexionsrahmen zu bieten, um in den Fachkollegien gemeinsam Materialien für einen Sprachsensiblen Geschichtsunterricht zu entwickeln und zu erproben, die die standortspezifischen Rahmenbedingungen und Lernvoraussetzungen der Schüler*innen berücksichtigen. Diese Zielsetzungen lassen sich theoretisch in die Bereiche und Formen des Professionswissens zum Sprachsensiblen Geschichtsunterricht einordnen, wie sie in der Einführung in die Sektion umrissen wurden.45 Deutlich wird dadurch, dass die Fortbildung innerhalb des »ProLeGu-Modells« professioneller Kompetenz von Geschichtslehrkräften für Sprachsensiblen Geschichtsunterricht einen Schwerpunkt auf die Förderung des Professionswissens der Teilnehmer*innen 44 Vgl. Alexander Brämer/Evelyn Futterknecht/Saskia Handro/Michaela Hänke-Portscheller/ Martin Schlutow/Viola Schrader: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Fortbildungsprogramm des Landes NRW. Münster/Soest 2019, S. 6. 45 Vgl. Schlutow (Anm. 29).
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legt. Im Zentrum stehen die »diagnostischen Kompetenzen« zur Ermittlung sprachlich-fachlicher Lernvoraussetzungen und -leistungen, die »analytische Kompetenz« zur Identifikation sprachlicher Herausforderungen in Quellen und Darstellungen sowie »fachdidaktische Strategien« zur Unterstützung von Lesen, Schreiben und Sprechen im Geschichtsunterricht und die Fähigkeit, entsprechende »Aufgabenformate zur Differenzierung« zu entwickeln. Ausgehend von der Prämisse einer fachspezifischen Sprachbildung sind Lehrkräfte zur kompetenten Realisierung Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts allerdings erst dann in der Lage, wenn diese Kompetenzfacetten vernetzt werden mit dem »Geschichtswissen« und dem »pädagogischen Wissen«. Wenngleich nicht im Mittelpunkt der Fortbildung stehend, fördert das Programm deshalb auch die »historische Fragekompetenz«, die »historische Methodenkompetenz« sowie die Kompetenzen zur »Orchestrierung des Lernprozesses« und zur »individuellen Förderung«.46 Die einzelnen Bereiche und Facetten des theoretisch-konzeptionellen Professionswissens zur Sprachbildung im Geschichtsunterricht sollen durch einen kontinuierlichen Erfahrungsaustausch zwischen den Fortbildungsteilnehmer*innen mit dem praktischen Handlungswissen verknüpft werden. Um diese Ziele zu erreichen, ist das Fortbildungsprogramm nach dem Baukastenprinzip angelegt: Den Kollegien werden neben einer obligatorischen theoretischen Einführung in den Sprachsensiblen Geschichtsunterricht insgesamt fünf Bausteine angeboten, die sich auf zentrale Textsorten wie schriftliche Quellen und Darstellungstexte sowie Aufgabenformate, Fachkonzepte und Kategorien des Geschichtsunterrichts konzentrieren. Diese Bausteine sind »Geschichte lesen«, »Geschichte schreiben«, »Textquellen interpretieren«, »Bildquellen interpretieren« und »Unterrichtsgespräche«. Es wird empfohlen, über einen längeren Zeitraum im Wechsel von Fortbildungstagen und Erprobungsund Reflexionsphasen Wahlmodule zu absolvieren, die sich mindestens aus der Einführung und zwei weiteren Bausteinen zusammensetzen und so eine vertiefende Beschäftigung z. B. mit Lese- und Schreibprozessen, mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder mit der Analyse und Interpretation verschiedener Quellengattungen im Geschichtsunterricht ermöglichen.47 Innerhalb der Fortbildungsbausteine setzt das Programm zwar auf methodische Varianz, insgesamt folgen die einzelnen Teile der Fortbildung aber einer wiederkehrenden Struktur, die an den Ansatz eines Conceptual Change ange-
46 Handro/Kilimann (Anm. 29), S. 184. 47 Brämer u. a. (Anm. 44), S. 13f.
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lehnt ist.48 In den Bausteinen »Geschichte lesen« und »Geschichte schreiben« wird dies beispielsweise folgendermaßen umgesetzt: – Beide Bausteine beginnen im ersten Schritt mit einer erfahrungsbasierten Problematisierung. Die Präkonzepte der Teilnehmer*innen werden aktiviert, indem ein Erfahrungsaustausch über die Bedeutung von Lesen und Schreiben sowie über die Lese- und Schreibfähigkeiten ihrer Schüler*innen im Fach Geschichte angeregt wird. – In einem zweiten Schritt erfolgt die theoretische Fundierung: Es werden Kenntnisse zu Einflussfaktoren und Prozessebenen von Lese- und Schreibprozessen in fächerübergreifender und fachlicher Hinsicht sowie zentrale Befunde der geschichtsdidaktischen Lehr-Lernforschung vermittelt. – Der dritte Schritt, die Analyse und Diagnose an Praxisbeispielen, konzentriert sich stärker auf den Erwerb von Fähigkeiten. Hierfür nutzen beide Bausteine einen Verfassertext über die griechische Kolonisation aus dem Schulbuch »Zeitreise 1«49 sowie die damit verbundene Aufgabe für Schüler*innen, mit Hilfe des Textes die Ursachen griechischer Kolonisation zu erklären, als Ausgangspunkt für eine geschichtsdidaktische Reflexion historischer Lese- und Schreibprozesse. Zu diesem überschaubaren Aufgabenformat wurden an einem Münsterländer Gymnasium Textunterstreichungen und Schreibprodukte aller Schüler*innen der sechsten und der zehnten Jahrgangsstufe erhoben. Neben einer Diskussion der sprachlichen Schwierigkeiten des Verfassertextes an der Schnittstelle von Bildungs- und Fachsprache (vgl. Kompetenzfacette »analytische Kompetenz«) können Fortbildungsteilnehmer*innen also in beiden Bausteinen Schülerleistungen historischen Lesens und Schreibens mit Schwerpunkt auf dem Erkennen und Erklären von Migrationsursachen diagnostizieren (vgl. Kompetenzfacette »diagnostische Kompetenz«). – Der vierte Schritt zielt auf die Entwicklung, Erprobung und Diskussion von Methoden Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts und damit ebenfalls auf die Fähigkeiten der Teilnehmer*innen. Sie werden dazu aufgefordert, eine Reihe verschiedener Methoden zur Unterstützung von Lese- bzw. Schreibprozessen bei der beschriebenen Aufgabe im Hinblick auf ihre fachlichen Funktionen sowie Differenzierungs- und Einsatzmöglichkeiten zu diskutieren (vgl. die Kompetenzfacetten »fachdidaktische Strategien« und »Aufgabenformate«). Beispiele hierfür sind im Bereich des Lesens etwa das farbige Unterstreichen sprachlicher Markierungen von Ursachen und im Bereich des Schreibens 48 Vgl. zur großen Bedeutung dieses Ansatzes für die Geschichtslehrer*innenbildung Ludger Schröer: Individuelle didaktische Theorien und Professionswissen. Subjektive Konzepte gelingenden Geschichtsunterrichts während der schulpraktischen Ausbildung (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 14). Berlin 2015. S. 349–359. 49 Zeitreise 1. Stuttgart/Leipzig: Klett 2011, S. 78.
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Unterstützungen des Schreibprozesses von der Modelltextarbeit (Textebene) über das Bereitstellen von Satzbausteinen zur Formulierung von Ursachen (Satzebene) bis hin zum Lückentext (Wortebene). Die Teilnehmer*innen gelangen dabei zu der Erkenntnis, dass die vorgeschlagenen Strategien und Aufgabenformate keiner methodischen Beliebigkeit unterliegen, sondern in Anbetracht der Aufgabe, die Ursachen griechischer Kolonisation zu erklären, alle auf die historischen Kategorien »Ursachen« und »Folgen« abheben. Das historische Lernziel, in diesem Fall das Formulieren eines historischen Sachurteils, sowie die diagnostizierten Kompetenzen der Schüler*innen bilden so die Grundlage aller Überlegungen zur Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Textrezeption und Textproduktion erscheinen in den beiden Fortbildungsbausteinen also als zwei aufeinander bezogene Prozesse historischen Lernens. – Der fünfte Schritt eröffnet in beiden Bausteinen Perspektiven der schulinternen Weiterarbeit, indem u. a. die Entwicklung eines jahrgangsstufenübergreifenden Lese- und Schreibcurriculums innerhalb des Fachkollegiums Geschichte angeregt wird. Er zielt damit vor allem auf eine kooperative Weiterentwicklung, Erprobung und Reflexion der erworbenen Kompetenzen. Aber auch eine reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen »Überzeugungen und Werthaltungen« zu diesem Themenbereich kann dadurch angeregt werden. Vorläufig lässt sich also resümieren, dass das Fortbildungsprogramm Sprachsensiblen Geschichtsunterricht als längerfristige, kooperative Entwicklungsaufgabe von Fachkollegien versteht und an das praktische Handlungswissen und die Bedürfnisse von Geschichtslehrer*innen anschließt, indem es das historische Lernen in den Mittelpunkt rückt. Zu Recht warnt Kühberger angesichts der fehlenden fachlichen Konturierung sprachlichen Lernens in einigen sprachdidaktischen Publikationen und Unterrichtsmaterialien für den Sprachsensiblen Geschichtsunterricht vor einer »Trivialisierung in der Wahrnehmung des Problems«.50 Im Gegensatz dazu begreift unser Fortbildungsprogramm Sprachbildung explizit als Chance zur fachspezifischen Professionalisierung für Geschichtslehrer*innen.
50 Christoph Kühberger: Irrwege sprachsensiblen Geschichtsunterrichts. In: Public History Weekly 5 (2017) 3, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2017–8205.
Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Lehrerfortbildung
4.
113
Ausblick
Freilich wurde damit bislang nur die Angebotsseite von Lehrerfortbildungen in den Blick genommen. Herausforderungen in Bezug auf die Rezipient*innen solcher Lernangebote seien an dieser Stelle keineswegs verschwiegen. Sie bestehen laut Souvignier und Behrmann grundsätzlich auf drei Ebenen: Erstens halten Lehrer*innen »in aller Regel an etablierten Unterrichtsroutinen« fest – nicht zuletzt, da sie zweitens »eine zeitliche Mehrbelastung durch umfangreiche Fortbildungsmaßnahmen ablehnen«. Hinzu kommt, drittens, dass Lehrkräfte mitunter »neue Konzepte aus Unsicherheit, Prinzipien wie z. B. Lesestrategien nicht adäquat vermitteln zu können, nicht in ihr Unterrichtshandeln übernehmen.«51 Souvignier und Behrmann beziehen sich mit diesen Hinweisen zwar nicht auf das hier vorgestellte Fortbildungsprogramm, doch sollten sie auch in diesem Kontext berücksichtigt werden. Auch die Gründe für die Teilnahme bzw. die Nicht-Teilnahme an Lehrerfortbildungen werden fächerübergreifend diskutiert: Besuchen Lehrkräfte Fortbildungen vor allem, um sich ihren eigenen Schwächen zu stellen (Kompensationsthese) oder um ihre schon vorhandenen Interessenschwerpunkte zu vertiefen (Neigungsthese)? Laut Richter stützen nicht nur die Befunde der COACTIV-Studie eher die Neigungsthese,52 was für das Fortbildungsprogramm »Sprachsensibler Geschichtsunterricht« zumindest die Frage aufwirft, ob nicht tendenziell gerade solche Lehrkräfte die Fortbildung besuchen werden, die ohnehin für die Bedeutung von Sprache im Geschichtsunterricht sensibilisiert sind. Dies verweist zugleich auf die große Bedeutung des Kompetenzaspekts »Überzeugungen und Werthaltungen« für die Professionalisierung von Lehrkräften im Bereich des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts: Schenkt man der Neigungsthese Glauben, so werden diejenigen Lehrkräfte, die der Sprache keine besondere Relevanz für den Geschichtsunterricht beimessen, unter Umständen keinen Nutzen darin erkennen, sich überhaupt auf das Fortbildungsprogramm einzulassen. Derartige Überzeugungen lassen sich bekanntlich nur äußerst schwer verändern. Wenn dies jedoch gelingen soll, dann erscheinen laut Reusser und Pauli insbesondere fachspezifisch ausgerichtete Fortbildungsformate er-
51 Elmar Souvignier/Lars Behrmann: Professionalisierung von Lehrkräften zur Förderung des Leseverständnisses: Implementation komplexer Instruktionskonzepte. In: Cornelia Gräsel/ Kati Trempler (Hrsg.): Entwicklung von Professionalität pädagogischen Personals. Interdisziplinäre Betrachtungen, Befunde und Perspektiven. Wiesbaden 2017, S. 153–171, hier S. 155. 52 Richter (Anm. 2), S. 323f.
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Martin Schlutow
folgversprechend, die »aus einer Kombination von Input- sowie beispielhaften unterrichtsbezogenen Trainings-, Reflexions- und Feedbackphasen bestehen«.53 Deshalb soll trotz der Herausforderungen an dieser Stelle mit einem vorsichtig optimistischen Ausblick geschlossen werden: Dass Lehrerfortbildungen positive Wirkungen auf das unterrichtliche Handeln der Lehrkräfte und das Lernen der Schüler*innen haben können, wenn sie den genannten Merkmalen entsprechen, ist für andere Unterrichtsfächer, und zwar insbesondere für Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer,54 bereits empirisch belegt worden. Mit der längerfristig angelegten Verschränkung von Input-, Erprobungs- und Reflexionsphasen und dem Fokus auf das Fach stehen die wichtigsten Merkmale wirksamer Lehrerfortbildungen im Zentrum des Programms »Sprachsensibler Geschichtsunterricht«. Dies ermöglicht es den Teilnehmer*innen, ihr erworbenes theoretisch-konzeptionelles Professionswissen zum Fortbildungsthema mit ihrem praktischen Handlungswissen zu sprachlichen Herausforderungen im Geschichtsunterricht zu verknüpfen. Gerade für den Sprachsensiblen Geschichtsunterricht ist der Fokus auf das Fach von zentraler Bedeutung, um fachliches Lernen nicht als »Appendix« Sprachsensiblen Unterrichts erscheinen zu lassen,55 sondern es als Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Sprachbildung im Geschichtsunterricht zu verstehen. Als besonders sinnvoll hat sich bei der Gestaltung solcher Fortbildungen laut Lipowsky/Rzejak die Zusammenarbeit von Vertreter*innen der Wissenschaft und der Schulpraxis erwiesen, weshalb sie für »eine stärkere Kooperation von Experten der ersten, zweiten und dritten Phase der Lehrerbildung« plädieren.56 Aus der Sicht der Geschichtsdidaktik können Kooperationen, wie sie in diesem Projekt eingegangen wurden, aber nicht nur Impulse im Bereich der Geschichtslehrer*innenbildung setzen, sondern sie verweisen auch auf bislang unbestellte, gleichwohl wichtige Forschungsfelder der geschichtsdidaktischen Professionsforschung. Diese betreffen einerseits die dritte Phase der Geschichtslehrer*innenbildung und die Wirkung von Geschichtslehrerfortbildungen im Allgemeinen, andererseits aber auch die Untersuchung von Professionalisierungsmaßnahmen im Bereich des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts in den verschiedenen Phasen der Lehrer*innenbildung.57 Denn auch künftig wird 53 Kurt Reusser/Christine Pauli: Berufsbezogene Überzeugungen von Lehrerinnen und Lehrern. In: Ewald Terhart/Hedda Bennewitz/Martin Rothland (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster 2. Aufl. 2014, S. 642–661, hier S. 655. 54 Vgl. zum Überblick Dirk Richter: Lehrerinnen und Lehrer lernen: Fort- und Weiterbildung im Lehrerberuf. In: Martin Rothland (Hrsg.): Beruf Lehrer/Lehrerin. Ein Studienbuch. Münster 2016, S. 245–260, hier S. 253f. 55 Handro (Anm. 27), S. 27. 56 Lipowsky/Rzejak (Anm. 35), S. 247. 57 Gegenwärtig beschäftigt sich beispielsweise das Dissertationsprojekt Vanessa Kilimanns im Kontext des »ProLeGu-Projektes« mit entsprechenden Professionalisierungsmaßnahmen im
Sprachsensibler Geschichtsunterricht in der Lehrerfortbildung
115
Sprachbildung wohl eine Schlüsselaufgabe für Geschichtslehrer*innen darstellen.
Bereich der historischen Leseförderung während der ersten Phase der Geschichtslehrer*innenbildung. Vgl. Handro/Kilimann (Anm. 29).
Sektion 2: Historische Sprachhandlungen initiieren – Aufgaben im Fokus
Christoph Bramann / Nicola Brauch
Aufgaben im Kontext fachlicher Sprachbildung. Zur Einführung
1.
Ausgangslage: Aufgaben und Sprache im Fach Geschichte
Entsprechend der wichtigen Funktion, die Aufgaben1 beim Herausfordern, Begleiten und Reflektieren fachlicher Lernprozesse allgemein zuerkannt wird,2 gelten sie auch im aktuellen Diskurs um die Etablierung eines sprachbildenden Geschichtsunterrichts als hilfreiches Instrument für die Steuerung von Lernprozessen.3 Eine solche sprachbildende Aufgabenkultur, die kognitives und sprachliches Lernen konsequent zusammen denkt,4 vereint damit zwei Themenfelder, die sich seit der letzten Jahrtausendwende auch im geschichtsdidaktischen Diskurs etablierten, und die gleichermaßen den fachlichen Diskursrahmen des vorliegenden Kapitels bilden. Dies ist zum einen die Entwicklung einer fachspezifischen Aufgabenkultur, die unlängst »zu einem Katalysator der Entwicklung der Fachdidaktiken« avanciert ist.5 Zum anderen verweist das Ziel einer sprachbildenden Aufgabenkultur auf die Notwendigkeit fachsprachlicher 1 Zur Definition einer »Aufgabe« siehe die Ausführungen weiter unten. 2 Vgl. Stefan Keller/Ute Bender (Hrsg.): Aufgabenkulturen. Fachliche Lernprozesse herausfordern, begleiten, reflektieren. Seelze 2012, sowie auch Stefan Keller/Christian Reintjes (Hrsg.): Aufgaben als Schlüssel zur Kompetenz. Didaktische Herausforderungen, wissenschaftliche Zugänge und empirische Befunde. Münster/New York 2016; Patrick Blumschein (Hrsg.): Lernaufgaben. Didaktische Forschungsperspektiven. Bad Heilbrunn 2014. Speziell für das Fach Geschichte vgl. u. a. Manuel Köster/Markus Bernhardt/Holger Thünemann: Aufgaben im Geschichtsunterricht. In: Geschichte lernen 29 (2016) H. 174, S. 2–11. 3 Vgl. Saskia Handro: Sprache(n) und historisches Lernen. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 5–24, hier S. 12; Katharina Grannemann/Christian Kuchler: (Die) Sprache als Maß aller Dinge. Perspektiven für einen sprachsensiblen Geschichtsunterricht. In: geschichte für heute 12 (2019) H. 1, S. 31–42, hier S. 39; Sven Oleschko/Katharina Grannemann: Das fachliche Lernen in Geschichte durch die Berücksichtigung fachsprachlicher Besonderheiten unterstützen. In: Praxis Geschichte 31 (2018) H. 2, S. 4–9. 4 Handro (Anm. 3), S. 12. 5 Kurt Reusser: Aufgaben – Träger der Lerngelegenheiten und Lernprozesse im kompetenzorientierten Unterricht. In: Seminar (2014) H. 4, S. 77–101, hier S. 81. Für die Geschichtsdidaktik vgl. u. a. Christian Heuer: Geschichtsunterricht anders machen. Zur Aufgabenkultur als Möglichkeitsraum. In: Blumschein (Anm. 2), S. 231–241.
120
Christoph Bramann / Nicola Brauch
Zugänge, wie sie unter anderem nach den Ergebnissen der PISA-Studie unter dem Slogan eines »sprachfördernden« oder »sprachsensiblen Fachunterrichts« Einzug in viele fachliche und überfachliche Richtlinien gefunden haben.6 Auch hinsichtlich des Schulfachs Geschichte, in dem der hohe Stellenwert fachlicher Sprache und Sprachlichkeit im Konzept des »historischen Erzählens« und dem damit verbundenen narrativen Paradigma geradezu inhärent ist,7 herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass im Geschichtsunterricht »das Changieren zwischen den Sprache(n) der Vergangenheit und Gegenwart, und damit verbunden die Analyse und Konstruktion historischer Erzählungen, das Fundament historischen Lernens und didaktischen Handelns« bilden sollte.8 Sprachbildender Geschichtsunterricht hat in diesem Sinne die Aufgabe, die fachsprachlichen Besonderheiten fachspezifischer Sprachhandlungen sowie der hierfür benötigten Textsorten und ihrer Lexik, Topik und Syntax offen zu legen und den Umgang mit diesen im historischen Lernprozess anhand geeigneter Aufgaben zu fördern.9 Dabei bleibt evident, dass Aufgaben im sprachbildenden Geschichtsunterricht nicht nur das allgemeine, (bildungs-)sprachliche, sondern vor allem auch das fachliche – also das historische – Lernen unterstützen müssen.10 Die obligatorische Verbindung des Sprachlichen mit dem Fachlichen im Blick zu behalten, 6 Vgl. Handro (Anm. 3), S. 11; Markus Bernhardt/Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte. In: Geschichte lernen 31 (2018) H. 182, S. 2–9, hier S. 2f. Im Folgenden wird der Begriff der »Sprachbildung« gewählt, um zu verdeutlichen, dass es beim Konzept fachsprachfördernden Unterrichts nicht (nur) um ein Bewusstsein und eine Sensibilität gegenüber der fachlichen Sprachkultur geht, sondern vor allem auch um die Unterstützung individueller sprachbildender (Lern-)prozesse. 7 Vgl. u. a. Handro (Anm. 3), S. 5f. Zum Konzept der Narrativität in der Geschichtsdidaktik vgl. Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2015 sowie grundlegend Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln 2013 und Ders.: Historisches Lernen. Grundlage und Paradigmen. Schwalbach/Ts. 2. Aufl. 2008. 8 Handro (Anm. 3), S. 5; vgl. auch Katharina Grannemann/Sven Oleschko/Christian Kuchler (Hrsg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. Münster/New York 2018, S. 4. Die Wichtigkeit des Themas zeigt sich auch darin, dass allein in den Jahren 2018 und 2019 zwei geschichtsdidaktische Sammelbände und drei Themenhefte einschlägiger Fachzeitschriften zum Thema Sprachsensibilität oder Sprachbildung im Geschichtsunterricht erschienen: Christiane Bertram/Andrea Kolpatzik (Hrsg.): Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2019; Grannemann/Oleschko/Kuchler (Anm. 3); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (Hrsg.): Sprachsensibler Geschichtsunterricht (Themenheft geschichte für heute 12 [2019] H. 1); Sven Oleschko/Katharina Grannemann (Hrsg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht (Themenheft Praxis Geschichte 31 [2018] H. 2); Markus Bernhardt/Franziska Conrad (Hrsg.): Sprachsensibler Geschichtsunterricht (Themenheft Geschichte lernen 31 [2018] H. 182). 9 Vgl. u. a. Oleschko/Grannemann (Anm. 3), S. 6–8; Grannemann/Kuchler (Anm. 3), S. 35–39. 10 Vgl. Matthias Sieberkrob: Lernaufgaben für sprachbildenden Geschichtsunterricht. Theoretische Grundlagen und Hinweise für ihre Entwicklung. In: Grannemann/Oleschko/Kuchler (Anm. 8), S. 121–136, hier S. 126.
Aufgaben im Kontext fachlicher Sprachbildung. Zur Einführung
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muss daher ein Kernanliegen sprachbildender Geschichtsdidaktik sein. Erst kürzlich wurde jedoch gezeigt, dass selbst institutionell geförderte unterrichtspraktische Handreichungen die Förderung fachlicher Kompetenzen über die vermeintliche Förderung von Sprachlichkeit vernachlässigen können.11 So zielen beispielsweise Arbeitsaufträge, die Lernende (in Österreich) dazu auffordern auf einer Karte die beste Wegstrecke von ihrem Heimatort zum Ötztal einzuzeichnen, um anschließend ihrem Nachbarn die Reiseroute zu beschreiben,12 nicht auf die Förderung fachsprachlicher Kompetenz, sondern tragen vielmehr dazu bei, dass – so Saskia Handro – »fachunterrichtliche Lernziele […] auf dem ›Altar‹ der Sprachbildung geopfert werden«.13 Der Fokus des vorliegenden Kapitels liegt daher dezidiert in der fachlichen Perspektive auf sprachbildende Aufgaben. Notwendige Fragen nach dem Zusammenspiel mit überfachlichen Anforderungen werden nur adressiert, wenn sie für die Konzeption fachspezifischer Aufgaben relevant erscheinen. Dazu wird in der folgenden Einführung zunächst auf den geschichtsdidaktischen Diskurs zu Aufgaben im Kontext eines sprachbildenden Geschichtsunterrichts eingegangen, bevor anschließend der Blick auf Aufgaben im Kontext empirischer sprachbildender Forschungen gerichtet wird. Auf dieser Basis werden abschließend anstehende Forschungsdesiderata im Feld fachsprachbildender Aufgaben expliziert, die zugleich zu den Beiträgen dieses Kapitels überleiten.
2.
Aufgaben im sprachbildenden Geschichtsunterricht
2.1
Geschichtsdidaktische Aufgabenforschung
Im Nachklang der großen Bildungsstudien um die Jahrtausendwende und des darauffolgenden Paradigmenwechsels in der Ausrichtung von Unterricht hin zur Förderung fachübergreifender und fachspezifischer Kompetenzen hat das pädagogische und didaktische Interesse am Thema Aufgaben stark zugenommen. Diese Konjunktur der Aufgabenthematik schlägt sich in einer Vielzahl von interdisziplinär angelegten Tagungen nieder.14 Dem Postulat einer »neuen Lernkultur« folgend, stand hierbei insbesondere die Entwicklung neuer, auf die Förderung konkreter Kompetenzen ausgerichteter Lernaufgaben im Vorder11 Vgl. Christoph Kühberger: Wrong Tracks of Language-Sensitive History Teaching. In: Public History Weekly, 3 (2017), http://dx.doi.org/10.1515/phw-2017-8205. 12 Ebd. 13 Vgl. Saskia Handro: Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Leerformel oder Lernchance? In: Grannemann/Oleschko/Kuchler (Anm. 8), S. 13–41, hier S. 27. 14 Vgl. u. a. Josef Thonhauser (Hrsg.): Aufgaben als Katalysatoren von Lernprozessen. Münster u. a. 2008; Keller/Bender (Anm. 2); Blumschein (Anm. 2); Keller/Reintjes (Anm. 2).
122
Christoph Bramann / Nicola Brauch
grund, die Lernende zur eigenständigen Auseinandersetzung mit zentralen Inhalten des Fachs anleiten sollen.15 Für den Geschichtsunterricht wird seitdem die Umsetzung einer »Aufgabenkultur historischen Lernens«16 gefordert, die neben der konkreten Aufgabenformulierung, auch deren Umfeld – also Aspekte der Einführung, Bearbeitung, Evaluation und Reflexion – einbezieht.17 Doch obwohl die von Hans-Jürgen Pandel noch vor wenigen Jahren als »Neuland«18 bezeichnete geschichtsdidaktische Aufgabenforschung mittlerweile durchaus einen sichtbaren Forschungsdiskurs hervorgebracht hat,19 besteht bis heute kein einheitlicher Konsens über die genaue Definition und Reichweite von Lernaufgaben im Fach Geschichte.20 So kann mit einer Lernaufgabe einerseits ein vollständiger Lehr-Lernprozess bezeichnet werden, der ganze Unterrichtsreihen mit dem »Prozess von der Frage, über die Analyse, zur Synthese und schließlich der Re-Organisation von Geschichtsbewusstsein« umfasst.21 Andere wiederum definieren Lernaufgaben offener als von Schülerinnen und Schülern selbständig zu bearbeitende »schriftlich abgefasste inhaltsbezogene Problemstellungen und Arbeitsanleitungen«, die auf einen »fachspezifischen Aspekt (›Lerngegenstand‹) sowie lernbezogene Hinweise (›Prozessstruktur‹) ausgerichtet sind«.22 Und wieder 15 Vgl. Keller/Bender (Anm. 2), S. 8f. Vgl. auch Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 3. Aufl. 2016, S. 247. Zur Unterscheidung von Lernaufgaben und anderen Aufgabenformaten wie Diagnose- oder Leistungsaufgaben vgl. Köster/Bernhardt/Thünemann (Anm. 2). 16 Christian Heuer: Gute Aufgaben?! Plädoyer für einen geschichtsdidaktischen Perspektivenwechsel. In: Christoph Kühberger/Roland Bernhard/Christoph Bramann (Hrsg.): Das Geschichtsschulbuch. Lehren – Lernen – Forschen. Münster/New York 2019, S. 47–160, hier S. 150. 17 Vgl. Christian Heuer: Gütekriterien für kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fach Geschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 62 (2011), H. 7/8), S. 443–458, hier S. 444–446; Heuer (Anm. 2), S. 236; Birgit Wenzel: Aufgaben(kultur) und neue Prüfungsformen. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2012, S. 22–36, hier S. 24. 18 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005, S. 58. 19 Siehe u. a. die Ansätze bei Holger Thünemann: Historische Lernaufgaben: Theoretische Überlegungen, empirische Befunde und forschungspragmatische Perspektiven. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 141–155; Wenzel (Anm. 17); Christoph Kühberger: Aufgabenarchitektur für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht. In: Historische Sozialkunde 41 (2011) H. 1, S. 3–13; Heuer (Anm. 17), Heuer (Anm. 2), Heuer (Anm. 16); Jutta Mägdefrau/Andreas Michler: Individualisierende Lernaufgaben im Geschichtsunterricht. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 208–232; Nicola Brauch: Lernaufgaben im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht. In: Blumschein (Anm. 2), S. 217–230; Köster/ Bernhardt/Thünemann (Anm. 2); Christoph Bramann: Arbeitsaufträge und Kompetenzen. Geschichtsschulbücher im Kontext einer fachspezifischen Aufgabenkultur. In: Kühberger/ Bernhard/Bramann (Anm. 16) S. 161–184. 20 Heuer (Anm. 16), S. 150. 21 Brauch (Anm. 2), S. 219; Nicola Brauch: Geschichtsdidaktik. Berlin/Boston 2015, S. 123. 22 Vgl. Gautschi (Anm. 15), S. 246f.
Aufgaben im Kontext fachlicher Sprachbildung. Zur Einführung
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andere sehen der »Variationsbreite von Lernaufgaben im Fach Geschichte […] kaum Grenzen gesetzt« und bezeichnen eine ganze Reihe bekannter Aufgabenformate, wie z. B. Textverständnisfragen, Lückentexte, die Arbeit mit der Zeitleiste, der Vergleich von Quellendokumenten, Rechercheaufträge, oder einfach Formate, die zum Verfassen eigener Erzählungen führen, bereits als Lernaufgaben.23 Aufgrund der Diskrepanz zwischen den verschiedenen Definitionsansätzen wird im Folgenden – gleichsam als Kompromiss – der Begriff der Aufgabe favorisiert, worunter allgemein lernprozessanregende An- und Aufforderungen verstanden werden, die – im besten Falle – aus mehreren kumulativ gestuften Arbeitsaufträgen bestehen können.24 Neben Überlegungen zu ihrer theoretischen Definition und Reichweite existieren mittlerweile auch normative Ansätze für Aufgaben im Geschichtsunterricht. Diese orientieren sich in erster Linie an allgemeindidaktischen Kriterienkatalogen, die den speziellen Erfordernissen des Geschichtsunterrichts entsprechend adaptiert werden.25 Neben 19 eher allgemein gehaltenen »Qualitätskriterien für Lernprozesse anregende Aufgaben im (Geschichts-) Unterricht« von Birgit Wenzel26 sind hier vor allem Christian Heuers sieben »Gütekriterien für kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fach Geschichte«27 zu nennen, die in den letzten Jahren immer wieder aufgegriffen und konfiguriert wurden. Lernaufgaben im Fach Geschichte sollen demnach (1) verständlich sein, (2) Offenheit aufweisen, (3) fordern, (4) differenzieren, (5) zur Kooperation anregen, (6) Operatoren beinhalten und (7) zum Erzählen anregen.28 Die Kritik aufnehmend, in den auf der Grundlage allgemeindidaktischer Modelle definierten Kriterien zeige sich »nur ein einziges Merkmal mit weitgehend anerkannter Domänenspezifität – nämlich das Kriterium ›zum Erzählen anregen‹«,29 erfuhr das Modell durch Holger Thünemann den Versuch einer fachdidaktischen »Schärfung«. Hierfür wurde es zunächst um einen geschichtsdidaktischen Kern mit den drei Bereichen (1) »Historische Leitfragen«, (2) »Historische Werturteilsbildung« sowie (3) »Historische Reflexion«
23 Monika Waldis: Fachdidaktische Analysen von Aufgaben in Geschichte. In: Marc Kleinknecht u. a. (Hrsg.): Lern- und Leistungsaufgaben im Unterricht. Fächerübergreifende Kriterien zur Auswahl und Analyse. Bad Heilbrunn 2013, S. 145–162, hier S. 147. 24 Heuer (Anm. 17), S. 452; Kühberger (Anm. 19), S. 9; Wenzel (Anm. 17), S. 244; Bramann (Anm. 19), S. 179f.; Christoph Bramann: Historisch Denken lernen mit Schulbuchaufgaben? In: Christoph Bramann/Christoph Kühberger/Roland Bernhard (Hrsg.): Historisch Denken lernen mit Schulbüchern. Frankfurt/M. 2018, S. 181–214, hier S. 194–196. 25 Bezüge zu allgemeindidaktischen (Lern-)Aufgaben-Kategorien finden sich unter anderem bei Gautschi (Anm. 15), S. 251–254; Wenzel (Anm. 17), S. 26; Heuer (Anm. 17). 26 Wenzel (Anm. 17), S. 26. 27 Vgl. Heuer (Anm. 17). 28 Ebd., S. 449–453. 29 Thünemann (Anm. 19), S. 145.
124
Christoph Bramann / Nicola Brauch
ergänzt,30 bevor als letzte Modifikation das Kriterium des »historischen Erzählens« in den Kern des Modells »vor«-rückte.31 Folgt man der Kritik Michele Barricellis, bleibt das Modell jedoch trotz all seiner Erweiterungen in weiten Teilen fachunspezifisch. Barricelli betont, die Fachspezifik der Systematisierungen bestünde im Wesentlichen in dem Versuch, vor die definierten drei Qualitätskriterien im Zentrum »schlicht und automatisch das Attribut ›historisch‹ zu setzen« und betont, dass damit als einziges wirklich fachspezifisches Kriterium einmal mehr die Fokussierung auf »historisches Erzählen« bleibe.32 Nimmt man die Kritik ernst, bleibt festzuhalten, dass im geschichtsdidaktischen Aufgabendiskurs nicht nur kein Konsens darüber herrscht, wie sich historische Lernaufgaben definieren lassen, sondern auch keine Einigkeit hinsichtlich der Frage besteht, was das fachspezifisch »historische« an Aufgaben im Geschichtsunterricht eigentlich ausmacht.
2.2
Normative Einblicke: Zur Konstruktion sprachbildender Aufgaben
Trotz der Schlüsselfunktion, die Aufgaben zur Initiierung fachsprachbildender Lernprozesse zuerkannt wird,33 existieren bislang kaum Ansätze zu sprachbildenden Aufgaben für das Fach Geschichte. Die meisten der Arbeiten, die sich dem Themenfeld explizit widmen, stammen dabei aus bildungsadministrativ geförderten Verbundprojekten, die stets mehrere Fächer in den Blick nehmen. Die Ansätze fokussieren daher in erster Linie auf unterrichtspragmatische und weniger auf theoretische oder fachlich-epistemologische Aspekte, obwohl mit Saskia Handros »Prozessmodellierung historischen Erzählens im Geschichtsunterricht« hierfür durchaus bereits erste konzeptionelle Grundlagen vorliegen.34 Auch Ansätze, die sich bewusst auf geschichtstheoretische Grundlagenmodelle, wie beispielsweise Jörn Rüsens Theorie historischen Denkens beziehen,35 scheinen in der sprachbildenden Aufgabenforschung bislang zu fehlen. Eine der ersten Arbeiten, die sich im aktuellen Diskurs um Sprachsensibilität explizit dem Thema Aufgaben zuwendet, ist die 2013 in Kooperation mit dem Land Berlin-Brandenburg herausgegebenen Online-Publikation zur »Wortschatzarbeit im Geschichtsunterricht«, die auch ein Kapitel mit dem Titel 30 Ebd., S. 146–149. 31 Köster/Bernhardt/Thünemann (Anm. 2), S. 6. 32 Vgl. Michele Barricelli: Historisches Erzählen als Kern historischen Lernens. In: Martin Buchsteiner/Martin Nitsche (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Historische, theoretische, empirische und pragmatische Erkundungen. Wiesbaden 2016, S. 45–68, hier S. 48f. 33 Handro (Anm. 3), S. 12; Oleschko/Grannemann (Anm. 3), S. 8. 34 Handro (Anm. 3), S. 30. 35 Vgl. Rüsen (Anm. 7).
Aufgaben im Kontext fachlicher Sprachbildung. Zur Einführung
125
»Aufgabenformulierungen im Geschichtsunterricht« enthält.36 Die Autoren heben in ihrer dezidiert praxisorientierten Handreichung dabei vor allem die Bedeutung von Operatoren als »Schlüsselwörter« hervor, »die den Schülerinnen und Schülern signalisieren, was sie bei einer Frage oder einer Aufgabe konkret tun sollen«.37 Dabei kritisiert das Autorenteam, dass die in verschiedenen Fächern jeweils fachspezifischen Operatoren »für Schülerinnen und Schüler gerade der Sekundarstufe I nur bedingt geeignet« seien, da sie die Lernenden durch ihre Fachspezifik irritieren könnten. Stattdessen schlagen die Autoren einen Katalog aus zwölf fachübergreifenden Operatoren vor, die jedoch weder hinsichtlich ihrer kognitiven Anforderungen noch der durch sie evozierten (über-)fachlichen Sprachhandlungen konkretisiert werden.38 Damit stellt sich die Handreichung bewusst gegen Forderungen, die gerade eine größere fachspezifische Profilierung von Operatoren verlangen.39 Auch die im Anschluss gegebenen »Hinweise auf Fallstricke und Lösungsmöglichkeiten« zur sprachlichen Gestaltung der Aufgaben bieten zwar hilfreiche Tipps zur Überarbeitung einzelner Teilaspekte von Aufgabenstellungen in der Unterrichtspraxis, bleiben jedoch auch dabei fachunspezifisch (Abb. 1).40 Hinweise zur sprachlichen Gestaltung der Aufgaben (nach Hamann & Krehan, 2013) – Operatoren statt W-Fragen – Sprachliche Konzentration statt Schachtelsatz – Eindeutigkeit statt Vieldeutigkeit – Inhaltliche Klarheit statt Überfrachtung – Offene Fragestellungen – Transfer statt Reproduktion
Abb. 1: Hinweise zur sprachlichen Gestaltung der Aufgaben41
Bereits von seiner Grundanlage her fachübergreifend konzipiert, ist ein zur Unterstützung sprachbildenden Unterrichts im Vorbereitungsdienst entwickel36 Christoph Hamann/Thomas Krehan: Wortschatzarbeit im Geschichtsunterricht. In: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Hrsg.): Sprachsensibler Fachunterricht. Handreichung zur Wortschatzarbeit in den Jahrgangsstufen 5–10 unter besonderer Berücksichtigung der Fachsprache. Berlin 2013, S. 171–210, hier S. 205–208. 37 Ebd., S. 205. 38 Ebd., S. 205f. 39 Kühberger (Anm. 19), S. 6f. 40 Hamann/Krehan (Anm. 36), S. 207f. 41 Eigene Darstellung, nach ebd.
126
Christoph Bramann / Nicola Brauch
ter Ansatz zur »sprachsensiblen Aufgabengestaltung in den Gesellschaftswissenschaften«.42 In dem 2017 veröffentlichten Modell, auf das auch im aktuellen Diskurs um Sprachsensibilität im Fach Geschichte immer wieder Bezug genommen wird,43 werden verschiedene Kriterien definiert, an denen sich Lehrkräfte bei der sprachbildenden Aufgabengestaltung orientieren sollen. Das Autorenteam unterscheidet dabei zwischen der »Aufgabenstellung« im Sinne der »schriftlich vorgelegten Formulierung der Aufgabe« und der »Aufgabenumgebung« im Sinne weiterer Erläuterungen, die »den eigentlichen Aufgabentext nur unnötig erweitern würden« (Abb. 2.).44 Sprachsensible Aufgabengestaltung (nach Böing et al., 2017)
AUFGABEN
AUFGABENUMGEBUNG
– Angaben zum fachlichen Lerngegenstand
– Angaben zu Arbeits und Sozialformen
– Materialbasis
– Weitere Unterstützungsangebote (Input- /Output- Scaffolding)
– Operatoren
– Hinweise zu Diskursfunktionen
– Zeitlicher Umfang
Abb. 2: Sprachsensible Aufgabengestaltung45
Auch bei diesem Ansatz betonen die Autor*innen, dass sich die gelungene Bearbeitung einer Aufgabe vor allem nach dem angewandten Operator richte, legen dabei jedoch besonderes Augenmerk auf die konkreten von diesen erforderten Sprachhandlungen.46 Trotz der Elaboriertheit des Modells verbleiben die Ausführungen aufgrund der fächerübergreifenden Fokussierung jedoch auch hier auf einer allgemeinen, fachunspezifischen Ebene und lassen damit für das Fach Geschichte spezifische Sprach- und Denkhandlungen unberücksichtigt, wie beispielsweise die sprachliche Offenlegung von Perspektivität und Evidenzen sowie die dafür benötigte Lexik, Topik und Syntax. Auch eine das Modell ergänzende »Checkliste zum Einsatz von (schriftlichen) Aufgaben« im sprachbildenden Geschichtsunterricht, die 2018 veröffentlicht wurde, bleibt in ih-
42 Maik Böing/Katharina Grannemann/Stephan Lange-Weber: Cluster Gesellschaftswissenschaften. In: Sven Oleschko (Hrsg.): Sprachsensibles Unterrichten fördern. Angebote für den Vorbereitungsdienst. Arnsberg 2017, S. 68–103, hier S. 88f. 43 Vgl. Oleschko/Grannemann (Anm. 3), S. 6; Grannemann/Kuchler (Anm. 3), S. 38. 44 Böing/Grannemann/Lange-Weber (Anm. 42), S. 88. 45 Ebd., S. 89. 46 Ebd., S. 88.
Aufgaben im Kontext fachlicher Sprachbildung. Zur Einführung
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ren Ausführungen überwiegend auf einer allgemeinen sprachbildenden Ebene (Abb. 3). »Checkliste zum Einsatz von (schriftlichen) Aufgaben« im »sprachbildenden Geschichtsunterricht« (nach Oleschko & Grannemann, 2018)
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Schriftlichkeit in Lernsituationen ermöglichen, damit die Lernenden adäquate Schreib- und Handlungsstrategien erwerben und erlernen können.
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Sprachverarbeitung begleiten, damit der Verstehensvorgang gelingt. Dies bedeutet, dass die Teilprozesse der Textverarbeitung verlangsamt und über Aufgaben eingefordert werden.
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Aufgabenstellung klar formulieren, situieren und so den Fokus und Kontext lenken.
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Darstellungswechsel (vom Text zum Bild und vom Bild zum Text) nutzen, um die Verarbeitung von Textinformationen zu steuern.
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Textinformationen kondensieren und verdichten lassen, damit zentrale Erkenntnisse formulierbar werden.
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Kognitive und sprachliche Aktivitäten konkretisieren und mit Lernenden gemeinsam erarbeiten (sprachliche Alternativen finden lassen).
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Operatoren bewusster einsetzen und hinterfragen, welche Leistungen durch die Lernenden fachlich und sprachlich verlangt werden.
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Transparenz für fachsprachliche Erwartungen herstellen.
Abb. 3: »Checkliste zum Einsatz von (schriftlichen) Aufgaben« im sprachbildenden Geschichtsunterricht)47
47 Oleschko/Grannemann (Anm. 3), S. 8.
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Ähnliches gilt für eine im selben Jahr veröffentlichte Handreichung zur »Sprachbildung in den Fächern«, die sich ebenfalls dem Thema »Aufgabe(n) für die Fachdidaktik« widmet.48 Im Rahmen eines fächerübergreifenden Projektes wurde für die Lehramtsausbildung ein »Instrument zur sprachbildenden Analyse von Aufgaben« im Fach (ISAF) entwickelt, dass – so das Autorenteam – »die Studierenden in dem komplexen Prozess der systematischen fachlichen und sprachlichen Analyse von Aufgaben sowie der Identifikation des sprachbildenden Überarbeitungsbedarfs anleitet bzw. begleitet«.49 Aufgrund der Ausrichtung des Projektes werden jedoch auch hier die definierten »aufeinander aufbauenden Handlungsschritte zu einer sprachbildenden Aufgabenanalyse und -überarbeitung« nicht auf spezifische Sprachhandlungen des Geschichtsunterrichts übertragen (z. B. fachliches Erklären oder Argumentieren),50 sondern verbleiben auf einer abstrakten und damit fachunspezifischen Ebene (Analyse der sprachlichen Anforderungen für die Produktion der in der Aufgabe geforderten mündlichen und schriftlichen Texte) (Abb. 4). Die wenigen Beispiele für Ansätze sprachbildender Aufgabenformate lassen vermuten, dass sich die Diskussion über die Fachspezifik historischer (Lern-) Aufgaben (bisher) auch im Diskurs um die Entwicklung sprachbildender Aufgabenformate widerzuspiegeln scheint. Trotz erster vor allem fachübergreifender Ansätze steht eine fachliche Profilierung sprachbildender Lernaufgaben für das Fach Geschichte und damit auch für die Unterrichtspraxis auf den ersten Blick somit weiter aus.51 Es lohnt sich jedoch durchaus ein näherer Blick auf diejenigen Aspekte, die die bisherigen Ansätze miteinander vereinen. Hier zeigt sich insbesondere ein starker Fokus auf Operatoren sowie die dahinter liegenden fachspezifischen Sprachhandlungen.52
48 Sieberkrob (Anm. 10), S. 131f. Für Details zum Projekt siehe Daniela Caspari (Hrsg.): Sprachbildung in den Fächern: Aufgabe(n) für die Fachdidaktik. Materialien für die Lehrkräftebildung. Berlin 2017. 49 Ebd., S. 1. 50 Vgl. Caroline Coffin: Historical discourse. The Language of Time, Cause and Evaluation. London 2006, S. 66–94. 51 Sieberkrob (Anm. 10), S. 130. 52 Grannemann/Kuchler (Anm. 3), S. 36.
Aufgaben im Kontext fachlicher Sprachbildung. Zur Einführung
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»Aufeinander aufbauende Handlungsschritte zu einer sprachbildenden Aufgabenanalyse und -überarbeitung« (adaptiert nach Caspari, 2017) Fachdidaktische Analyse der Aufgabe –
Analyse der fachlichen bzw. fachdidaktischen Lernziele und damit verbundenen kognitiven Aktivitäten
Rezeption: Sprachliche Analyse der in der Aufgabe verwandten schriftlichen Texte –
Analyse der zur Lösung der Aufgabe verwendeten Textsorten und Darstellungsformen
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Analyse des relevanten Wortschatzes sowie relevanter sprachlicher Strukturen (Frage nach benötigten Textsortenmerkmalen und geeigneten Lesestrategien)
Produktion: Sprachliche Analyse der von den Schülerinnen und Schülern geforderten produktiven Aktivitäten –
Analyse der sprachlichen Anforderungen für die Produktion der in der Aufgabe geforderten mündlichen und schriftlichen Texte (Sprachhandlungen, Textsorten, sprachliche Mittel)
Analyse der Aufgabenstellung –
Analyse der Verständlichkeit der Aufgabenstellung (einfache Formulierungen, gegliederter Textaufbau, Kürze, Prägnanz)
Sprachbildende Überarbeitung –
Analyse der Transparenz der Aufgabenstellung hinsichtlich Ziele und Erwartungen
Abb. 4: Handlungsschritte zur sprachbildenden Aufgabenanalyse53
Im Kontext eines sprachbildenden Fachunterrichts wird dabei grundsätzlich davon ausgegangen, dass Operatoren von Lernenden nicht nur komplexe kognitive und fachliche, sondern auch sprachliche Leistungen verlangen, die sowohl Aspekte der Sprach-Rezeption als auch der Sprach-Produktion implizieren können.54 Solche fachlich-kognitiven Sprach- und Denkhandlungen, wie analysieren, begründen, beschreiben, klassifizieren, vergleichen, erklären usw. können 53 Caspari (Anm. 48), S. 21f. 54 Ebd.
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nach Helmut Vollmer und Eike Thürmann auch als »schulsprachliche Diskursfunktionen« bezeichnet werden.55 Diskursfunktionen stellen demnach »fachliche Denkfiguren« dar, die »erlernt und bei Bedarf in Problemlösungssituationen aufgerufen« werden können.56 Auch im Fach Geschichte muss es daher um die fachliche Profilierung von Sprachhandlungen, wie beschreiben, erklären und beurteilen gehen, um diese epistemologisch von gleich lautenden Diskursfunktionen anderer Fächern sowie im alltäglichen Sprachgebrauch abgrenzen zu können. Mit der fachlichen Profilierung von Sprachhandlungen eng verbunden ist das Konzept des »Generischen Lernens«,57, das auf fachspezifische »Genres« – vereinfacht auch »Textsorten« – und deren »sprachlich-symbolischen und textuellen Eigenschaften«58 fokussiert. Aufgrund der vielen möglichen »Gattungen und Genres historischen Erzählens« im Geschichtsunterricht, schlägt Saskia Handro hier eine Unterscheidung in geschichtsdidaktische, fachlich-disziplinäre und geschichtskulturell relevante Genres vor.59 Erste theoretische und pragmatische Ansätze zur fachlichen Profilierung allgemeinsprachlicher Handlungen liegen also bereits vor.60 Zur Umsetzung einer stärkeren Fokussierung auf die Kenntnis und Anwendung solcher fachsprachlich-spezifischen Ausdrucksformen im Geschichtsunterricht (sowie damit 55 Vgl. Helmut Johannes Vollmer/Eike Thürmann: Zur Sprachlichkeit des Fachlernens. Modellierung eines Referenzrahmens für Deutsch als Zweitsprache. In: Bernt Ahrenholz (Hrsg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen 2010, S. 107–132, hier S. 115. 56 Wolfgang Hallet: Generisches Lernen im Fachunterricht. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 3). Münster u. a. 2013, S. 59–75, hier S. 67. 57 Bernhardt/Conrad (Anm. 6), S. 5–8; Grannemann/Kuchler (Anm. 3), S. 36f.; Olaf Hartung: Generisches Geschichtslernen. Drei Aufgabentypen im Vergleich. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 47–61; Handro (Anm. 3), S. 32f. 58 Hallet (Anm. 56), S. 59. Aufgrund der vielen möglichen »Gattungen und Genres historischen Erzählens« schlug Saskia Handro (Anm. 3, S. 32f.) jüngst eine Unterscheidung in geschichtsdidaktische, fachlich-disziplinäre und geschichtskulturell relevante Genres vor. 59 Ebd. 60 Rüsen (Anm. 7), S. 161–166; Arthur Chapman: Causal Explanation. In: Ian Davies (Hrsg.): Debates in History Teaching. Florence 2. Aufl. 2017, S. 130–143; Peter Seixas/Tom Morton: The Big Six. Historical Thinking Concepts. Toronto 2013, S. 102–135; Tülay Altun/Katrin Günther: Begründen als Arbeitsauftrag im Geschichtsunterricht. In: Grannemann/Oleschko/ Kuchler (Anm. 8), S. 157–177, hier S. 159–162; Nicola Brauch: Vom Umgang mit der Zeit im historischen Erzählen. Auf dem Weg zu Übungsaufgaben. In: Waltraud Schreiber/Béatrice Ziegler/Christoph Kühberger (Hrsg.): Geschichtsdidaktischer Zwischenhalt. Beiträge aus der Tagung »Kompetent machen für ein Leben in, mit und durch Geschichte« in Eichstätt vom November 2017. Münster/New York 2019, S. 187–193; Marcel Mierwald/Nicola Brauch: Historisches Argumentieren als Ausdruck historischen Denkens. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 104–120; Dies.: »Ein Argument für diese Behauptung lautet …«. Beschreibung, Graduierung und Bewertung der strukturellen Qualität argumentativer historischer Essays. In: Christiane Bertram/Andrea Kolpatzik (Hrsg.): Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Von der Theorie über die Empirie zur Pragmatik. Frankfurt/M. 2019, S. 108–114, sowie die Beiträge dieses Buchkapitels.
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verbundener grammatikalischer, lexikalischer und syntaktischer Mittel) bedarf es nach Olaf Hartung jedoch auch »komplexe[r], kompetenzorientierte[r] Lernaufgaben, in denen die Schülerinnen und Schüler Sprache als Form und Funktion in Bezug auf Inhalte erfahren.«61 Hinsichtlich der Fachunspezifik bisheriger Ansätze zur Entwicklung sprachbildender Aufgaben im Fach Geschichte, können damit insbesondere die bereits weitgehend als etabliert geltenden Operatoren eine Chance darstellen, fachlich-epistemologische Denk- und Lernprozesse über konkrete fachsprachliche Handlungen gezielt anzusteuern.
2.3
Exemplarische empirische Einblicke
Inwiefern sprachbildend konzipierte Aufgaben tatsächlich das fachsprachliche Denken und Handeln von Schüler*innen beeinflussen können, ist bereits seit längerem Bestandteil insbesondere internationaler empirischer Forschungen. Im deutschsprachigen Kontext liegen hingegen »noch nicht allzu viele Erkenntnisse zum Einfluss von Textgenre und Aufgabenkonzeption auf die Qualität des historischen Erzählens vor«,62, konstatierte Monika Waldis noch im Jahr 2016. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich die deutschsprachige Geschichtsdidaktik der Thematik Sprache auf einer sehr hohen Abstraktionsebene nähern möchte, was mit zu der oben thematisierten Problematik der Fachunspezifik beiträgt. Davon unterscheidet sich die Herangehensweise des anglophonen Diskurses dadurch, dass hier nicht vom allgemein didaktischen Thema »Sprache im Fach«, sondern direkt von konkreten historischen Sprachhandlungen im Geschichtsunterricht ausgegangen wird.63 Das ist insbesondere für die Kompetenzorientierung ein interessanter Ansatz, weil hier konkrete fachliche Performanzen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Dieser Ansatz führt automatisch auf die Aufgaben und Arbeitsaufträge zurück, mit Hilfe derer sprachliche Performanzen initiiert und beeinflusst werden können. So hält Monika Waldis in Bezug auf die englischsprachige Forschung fest, »[…] dass materialbasiertes 61 Olaf Hartung: Sprachhandeln und kognitive Prozesse von Schülerinnen und Schülern beim Schreiben über Geschichte. In: Grannemann/Oleschko/Kuchler (Anm. 8), S. 67–89, hier S. 86. 62 Monika Waldis: Erzählung oder Argumentation? Zum Einfluss von Textgenre, Aufgabenprompt und Materialauswahl auf das historische Erzählen. In: Keller/Reintjes (Anm. 2), S. 237–260. 63 Überblicke über die anglophone Forschung beispielsweise zum historischen Argumentieren bieten Philipp Marti/Kristine Gollin/Monika Waldis: Zur Praxis und Reflexion historischen Schreibens im Geschichtsunterricht. Fallbasierte Ergebnisse einer Interviewstudie mit Lehrkräften an Deutschschweizer Gymnasien. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019), S. 166–187, hier S. 166–171, und Marcel Mierwald: Historisches Argumentieren und epistemologische Überzeugungen. Eine Interventionsstudie zur Wirkung von Lernmaterialien im Schülerlabor. Wiesbaden 2020.
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Schreiben systematisch gefördert werden kann«,64 und fasst zusammen: »Dabei scheint eine Kombination zwischen allgemeinen Schreibstrategien und der Anleitung zu disziplinspezifischen Denkoperationen am erfolgversprechendsten zu sein.«65 Vor allem die US-Amerikanerin Susan De La Paz war eine Vorreiterin in den Bemühungen um die empirische Operationalisierung der Schnittstellen von sprachlichen und fachlichen Handlungen in Bezug auf Aufgaben. In einer jüngeren Studie aus dem Jahr 2016 konnte sie beispielsweise zeigen, dass sich der Ansatz des »cognitive apprenticeship« besonders bewähre, um das fachspezifische Schreiben von Schüler*innen zu unterstützen. Dabei unterscheidet sie zwischen den Stufen des Vormachens der Lehrperson am prototypischen Modell eines Schreibprodukts und dem anschließenden Unterstützen durch Scaffolds für das eigene Schreiben der Schüler*innen.66 Entscheidend für die Art eines fachlichen »Text-Prototyps« und der hierzu konstruierten Scaffolds scheint das bereits angesprochene Thema Genre zu sein. Insbesondere der Ansatz von Caroline Coffin,67 mit dem derzeit auch das Essener SchriFT-Projekt im Fach Geschichte arbeitet, erweist sich in diesem Kontext an der Schnittstelle von Sprachlichkeit, Fachlichkeit und Aufgaben als besonders anregend.68 In Coffins Ansatz geht es zunächst um die Definition und Funktion der Genres (recording genres, explaining genres, arguing genres) und deren fachlicher wie funktionallinguistischer Spezifika. Als fachspezifische Ausprägungen benennt Coffin die Sprache der Zeit, der Kausalität und der Bewertung. Um diese nach Genres ausdifferenzierten Sprachhandlungen zu fördern, entwirft sie einen dem »cognitive apprenticeship« folgenden Teaching-Learning-Cycle. Darin kommt der Zusammenhang zwischen dem integrierten fachlichen und sprachlichen Fokus in einem Wechselspiel von Einführung und Einübung zum Tragen. Ziel ist die selbständige Textproduktion des je eingeführten Genres durch Anwendung der Sprachschemata und Sprachmuster des historischen Denkens. Die Aufgaben-Idee besteht in der sukzessiv selbständigeren Arbeit an einem eigenen Text. Der Zyklus beginnt mit der Einführung eines Prototyps, gefolgt von Übungen, der Beginn der Arbeit am eigenen Text und der weiteren kollaborativen Überarbeitung bis hin zur Fertigstellung.
64 Marti/Gollin/Waldis (Anm. 63), S. 169. 65 Ebd., S. 169. 66 Daniel R. Wissinger/Susan de La Paz: Effects of Critical Discussions on Middle School Students’ Written Historical Arguments. In: Journal of Educational Psychology 108 (2016) H. 1, S. 43–59; Marti/Gollin/Waldis (Anm. 63), S. 169f. 67 Caroline Coffin: Learning the Language of School Sistory: The Role of Linguistics in Mapping the Writing Demands of the Secondary School Curriculum. In: Journal of Curriculum Studies 38 (2006) H. 4, S. 413–429, und Coffin (Anm. 50). 68 Vgl. die Beiträge von Charlotte Husemann und Markus Bernhardt in diesem Band.
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Es muss ein wichtiger Aspekt sprachbildender Geschichtsdidaktik bleiben, sich künftig tiefergehend auch mit solchen unterrichtsmethodischen Aspekten der aufgabenbasierten (Fach)Sprachbildung weiter auseinanderzusetzen.
3.
Weiterer Forschungsbedarf und Ausblick auf die Beiträge der Sektion
Eine große Herausforderung für das Fach Geschichte besteht sicherlich unter anderem darin, konsensuelle prototypische Sprachhandlungen im Sinne des hier beschriebenen »Cognitive apprenticeship«-Ansatzes auszudifferenzieren. Die teilweise heterogene Verwendung von Operatoren spiegelt dieses Dilemma deutlich wieder. Ein zweites Aufgabenfeld zeigt sich in der Beobachtung, dass Historiker*innen fachspezifische (fach-)sprachliche Marker wie beispielsweise der Zeit oder der Kausalität gar nicht setzen, weil sie diese routiniert voraussetzen.69 So wies Hilke Günther-Arndt hinsichtlich historischer Interpretationen darauf hin, dass »ein Experte für Geschichte […] die regelgeleiteten Schritte einer historischen Interpretation routiniert aus[führt] und […] ebenso routiniert historische Begriffe und Kategorien [benutzt], er definiert sie nicht bei jedem Gedankenschritt.«.70 In didaktischen Settings sollte daher versucht werden, die impliziten sprachlichen Markierungen des Historischen explizit zu machen. In der neuesten Generation von Geschichtsschulbüchern finden sich hierfür bereits erste Ansätze, um beispielsweise mit »Operatorentrainings« in die fachliche und sprachliche Umsetzung der hinter einem Operator liegenden Handlungen einzuführen.71 Auch die Entwicklung speziell auf die Unterstützung solcher Sprachhandlungen abzielenden Hilfen im Sinne eines durchdachten Makro- und Mikroscaffoldings72 muss in diesem Zusammenhang ein wichtiger Aspekt zukünftiger Forschung bleiben. Doch auch über die hier kurz vorgestellte Forschungslandschaft hinaus bleiben offene Fragen hinsichtlich der weiteren Entwicklung sprachbildender Auf69 Z. B. Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Dies./Meik ZülsdorfKersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 6. Aufl. 2014, S. 24–49, und Viola Schrader: Geschichte als narrative Konstruktion. Eine funktional-linguistische Analyse von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 26). Berlin 2013. 70 Günther-Arndt (Anm. 69), S. 43. 71 Bei Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen 1. Ausgabe Nordrhein-Westfalen Gymnasium. Schülerbuch Klasse 5/6. Stuttgart 2019, finden sich solche Trainings zum »Beschreiben« und zum »Zusammenfassen«, die beide von Charlotte Husemann (Essen) stammen, vgl. auch ihren Beitrag in diesem Kapitel. 72 Vgl. Pauline Gibbons: Scaffolding Language, Scaffolding Learning. Teaching Second Language Learners in the Mainstream Classroom. Portsmouth 2002.
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Christoph Bramann / Nicola Brauch
gabenformate für den Geschichtsunterricht. So wurde beispielsweise im Kontext der Konstruktion historischer Testaufgaben mehrfach festgestellt, dass Bildungssprache und die Sprache des Historischen kaum voneinander zu trennen seien.73 Die funktional-linguistischen Spezifizierungen von Coffin (2006) könnten hier weiteren Analysen geschichtstheoretischer Art unterzogen werden, um diese Konfundierung des Historischen mit der Bildungssprache weiter zu untersuchen.74 Im Anschluss daran bedürfte es der Arbeit an Modelltexten und Modellen zur sprachlichen wie (fach-)sprachlichen Kartierung spezifischer Genres, um die erwarteten Sprachhandlungen der Schüler*innen intersubjektiv verlässlicher auswerten zu können. So werden die in der quasi-experimentellen Schreibforschung entwickelte »Rubrics« etwa zum »Causal Reasoning« in den Niederlanden bereits in der Lehrkräfteausbildung eingesetzt, während in Deutschland diese Verzahnung von Forschung und darauf basierende Materialentwicklung bisher nicht üblich ist.75 Neben weiterer Grundlagenforschung bedarf es hierfür selbstredend auch einer stärkeren Berücksichtigung des Themenfelds (fach-)sprachbildender Aufgabenkonstruktionen bereits in der Lehrkräfteausbildung, wie sie in Ansätzen bereits stattfindet.76 Vor dem Hintergrund der ausschnitthaft explizierten Forschungsdesiderata kann das folgende Kapitel selbstverständlich nur in einen kleinen Teilbereich möglicher Forschungszugänge, die es im Kontext sprachbildender Aufgaben aktuell zu »beackern« gilt, Einsicht gewähren. Die anschließenden Beiträge fokussieren daher insbesondere die Konstruktionslogik(en) sprachbildender Aufgaben. Dabei werden Einsichten in aktuelle Forschungen gewährt, die sowohl Aspekte der Aufgabenentwicklung (Brauch, Heine und Bramann), der Analyse von Aufgabenstellung und -umgebung im Kontext einer Aufgabenkultur (Bramann), als auch der Analyse fertiger Aufgabenprodukte (Husemann) beleuchten. Der Fokus des Kapitels liegt damit vor allem auf der Initiierung fachspezifischer Sprachhandlungen durch Aufgaben. Entsprechend der großen Bedeu-
73 Ulrich Trautwein u. a.: Kompetenzen historischen Denkens erfassen. Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts »Historical Thinking – Competencies in History« (HiTCH). Münster/New York 2017, S. 110f. 74 Zu ersten Ansätzen vgl. Schrader (Anm. 69). 75 Gerhard Stoel: Teaching Towards Historical Expertise. Developing Students’ Ability to Reason Causally in History. University of Amsterdam 2017, in Zusammenhang mit der online verfügbaren »Rubric« zum Causal Reasoning (https://www.expertisecentrum-geschiedenis.nl/ de-feiten-voorbij/rubric/, aufgerufen am 19. 04. 2020). 76 Siehe auch Saskia Handro: Historisches Erzählen (lehren) lernen. Potentiale ›Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts‹. In: Schreiber/Ziegler/Kühberger (Anm. 60), S. 128–133; Kerstin Lochon-Wagner: Praxis der Geschichtslehrerausbildung als Grundlage für den sprachsensiblen Geschichtsunterricht. In: geschichte für heute 12 (2019) H. 1, S. 13–30; Hallet (Anm. 56), S. 73. Siehe hierzu vor allem auch das entsprechende Buchkapitel in diesem Sammelband.
Aufgaben im Kontext fachlicher Sprachbildung. Zur Einführung
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tung, die ihnen im Diskurs um fachsprachbildende Aufgaben zugestanden wird, liegt ein besonderer Fokus auf Operatoren. Im ersten Beitrag stellen Nicola Brauch, Lena Heine und Christoph Bramann ein interdisziplinäres Modell zur Förderung historischen Erklärens vor, auf dessen Basis anschließend die Konstruktion eines integrativen (fach-)sprachlich und allgemeinsprachlichen Scaffolding Tools erfolgt. Das Modell, die Scaffoldentwicklung sowie erste Ergebnisse von dessen Einsatz in einer Pilotstudie im Alfried-Krupp Schülerlabor der Ruhr-Universität Bochum werden in diesem Beitrag vorgestellt. Im zweiten Beitrag geht Christoph Bramann vor dem Hintergrund seiner Forschungen zur Aufgabenkultur historischen Lernens in Schulbüchern der Frage nach, welche Voraussetzungen Schulbuchaufgaben aus aktuellen österreichischen Geschichtsschulbüchern mitbringen, um fachspezifische Sprachhandlungen zu ermöglichen. Hierfür werden das Analyseinstrument und die Ergebnisse einer kategorialen Aufgabenanalyse präsentiert, die abschließend durch zwei Einzelfallbeispiele expliziert wird. Im letzten Beitrag des Kapitels diskutiert Charlotte Husemann, welche fachlichen, lexikalischen, syntaktischen und semantischen Strukturen die Textsorte »Historisches Sachurteil« erfordert. Hierfür fokussiert der Beitrag die Operatoren Beschreiben, Erklären und Begründen und präsentiert erste Ergebnisse einer Studie zur (fach-)sprachlichen Umsetzung dieser Sprachhandlungen.
Nicola Brauch / Lena Heine / Christoph Bramann
Schriftliches Erklären im Fach Geschichte unterstützen. Ansätze eines sprachlich-epistemologischen Scaffolding-Tools
1.
Annäherung
Generell besteht im schuldidaktischen Diskurs Einigkeit darüber, dass Schule im Allgemeinen und die einzelnen Fächer im Besonderen spezifische sprachliche Anforderungen stellen. In diesem Kontext ist der Begriff »Bildungssprache« zur Bezeichnung typischer, auf Schule bezogener sprachlicher Diskursmuster mittlerweile als etabliert zu betrachten und hat zu einer theoretischen Ausschärfung von schulrelevanten sprachlichen Funktionen und Kompetenzdimensionen geführt.1 Konsensuell ist allerdings auch, dass unser Kenntnisstand darüber, welche sprachlichen Strukturen im Deutschen dies im Einzelnen betrifft, noch äußerst lückenhaft ist.2 Dies gilt auch für die Frage, worin sich die spezifischen Diskursmuster der einzelnen Fächer voneinander unterscheiden, denn ohne eine Kenntnis der entsprechenden Strukturen fehlt die Grundlage für die Planung von wirkungsvollen didaktischen Interventionen, in denen fachliche und sprachliche Kompetenzen gleichermaßen aufgebaut werden können. Das Thema »Sprache« im Geschichtsunterricht wurde im vergangenen Jahrzehnt unter anderen durch die einschlägigen Arbeiten der Münsteraner Geschichtsdidaktikerin Saskia Handro intensiv bearbeitet und diskutiert.3 In ak1 Vgl. Miriam Morek/Vivien Heller: Bildungssprache – Kommunikative, epistemische, soziale und interaktive Aspekte ihres Gebrauchs. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik 57 (2012) H. 1, S. 67–101; Torsten Steinhoff: Konzeptualisierung bildungssprachlicher Kompetenzen. Anregungen aus der pragmatischen und funktionalen Linguistik und Sprachdidaktik. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik 71 (2019), S. 327–352; Nicole Marx: Förderung, aber welchen Inhalts? Didaktische Perspektiven auf Bildungssprache im DaF-Unterricht. In: Informationen Deutsch als Fremdsprache 45 (2018) H. 4, S. 401–422. 2 Marx (Anm. 1). 3 Vgl. u. a. das Themenheft »Sprache und historisches Lernen« der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, das Saskia Handro als Herausgeberin betreute, worin sie in ihrer Einleitung den bis dato vorliegenden Stand der geschichtsdidaktischen Literatur zum Thema zusammenfasste: Saskia Handro: Sprache(n) und historisches Lernen. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 5–24.
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Nicola Brauch / Lena Heine / Christoph Bramann
tuellen Geschichtslehrplänen wie beispielsweise in Nordrhein-Westfalen4 findet dieser gesellschaftliche wie geschichtsdidaktische Diskurs einen normativen Niederschlag in den Ausführungen zu den »Aufgaben und Zielen des Faches«5 wie beispielsweise in der Zielbeschreibung von Methodenkompetenz: »Zur Methodenkompetenz gehört ebenfalls die Fähigkeit, historische Sachverhalte eigenständig, adressatengerecht und (fach-)sprachlich anhand vorhandener Fragestellungen unter Beachtung vor allem temporaler und kausaler Beziehungen korrekt darzustellen, in eigene Narrationen zu überführen und zu präsentieren.«6
Dabei wurde und wird das Themenfeld in der deutschen Geschichtsdidaktik auch geschichtstheoretisch-epistemologisch in Zusammenhang mit dem Narrativitätsparadigma begründet und als Thema für die Aus- und Weiterbildung von Geschichtslehrkräften aufgegriffen.7 Weniger ausgeprägt ist im deutschsprachigen Diskurs bislang die eingangs bereits angesprochene, stärker unterrichtspragmatische Operationalisierung der fachspezifischen Sprachhandlungen im Geschichtsunterricht, wie sie in der anglophonen Tradition schon länger üblich ist.8 Wir knüpfen in unserem Beitrag an diesen Diskurs an, indem wir die geschichtstheoretischen Grundlagen des historischen Lernens (die »Epistemologie des Faches«) einerseits und deren sprachliche Ausprägung andererseits in einem funk4 Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Geschichte. Düsseldorf 2019. 5 Ebd., S. 10: »Sprache ist ein notwendiges Hilfsmittel bei der Entwicklung von Kompetenzen und besitzt deshalb für den Erwerb eines reflektierten Geschichtsbewusstseins eine besondere Bedeutung.« 6 Ebd., S. 15. 7 Saskia Handro: Historisches Erzählen (lehren) lernen. Potentiale ›Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts‹. In: Waltraud Schreiber/Béatrice Ziegler/Christoph Kühberger (Hrsg.): Geschichtsdidaktischer Zwischenhalt. Beiträge aus der Tagung »Kompetent machen für ein Leben in, mit und durch Geschichte« in Eichstätt vom November 2017. Münster 2019, S. 128– 133; Kerstin Lochon-Wagner: Praxis der Geschichtslehrerausbildung als Grundlage für den sprachsensiblen Geschichtsunterricht. In: geschichte für heute 12 (2019) H. 1, S. 13–30. 8 Z. B. Chauncey Monte-Sano/Mark Felton/Susan de La Paz: Reading, Writing, And Thinking About History. Teaching Argument Writing to Diverse Learners in the Common Core Classroom, Grades 6–12. New York/London/Berkeley 2014. Saskia Handro hat sich in jüngerer Zeit vor allem mit dem Thema Lesen befasst: Saskia Handro: Geschichte lesen, aber wie? Plädoyer für eine geschichtsdidaktische Profilierung von Lesestrategien. In: Thomas Sandkühler u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung. Göttingen 2018, S. 275–293, sowie Dies./Vanessa Kilimann: Textverstehen im Geschichtsunterricht. Ein Projekt zur Professionalisierung historischer Leseförderung (ProLeGu). In: Marion Bönnighausen (Hrsg.): Praxisprojekte in Kooperationsschulen. Fachdidaktische Modellierung von Lehrkonzepten zur Förderung strategiebasierten Textverstehens in den Fächern Deutsch, Geographie, Geschichte und Mathematik (Schriften zur allgemeinen Hochschuldidaktik, Bd. 4). Münster 2019, S. 167–222. Zum fachspezifischen Lesen siehe auch Matthias Hirsch: Geschichte (er-)lesen. Überlegungen zu domänenspezifischen Lesemodi und -prozessen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (2015), S. 136–153. Vgl. zum fachspezifischen Schreiben den Beitrag von Charlotte Husemann in diesem Kapitel.
Schriftliches Erklären im Fach Geschichte unterstützen
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tionallinguistischen Modell parallel führen.9 Unser Erkenntnisinteresse setzt auf der Mikroebene fachlichen Schreibens an und richtet sich auf Möglichkeiten der gezielten Unterstützung schriftlichen historischen Erklärens mithilfe eines hierfür entwickeltes Scaffolding-Tools.10 Im folgenden Abschnitt 2 stellen wir dafür zuerst den geschichtstheoretischepistemologischen Rahmen unseres Verständnisses des »historischen Erklärens« als Teilaspekt des Regelkreises des historischen Denkens11 vor. In Abschnitt 3 fokussieren wir dann auf die spezifische Verhältnisbestimmung von Wissen und Kompetenzen für die Sprachhandlung des historischen Erklärens einerseits und eine mögliche Graduierung der Re-Konstruktionskompetenzen andererseits12 und stellen ein interdisziplinäres Modell zur sprachlich-epistemologischen Fassung historischen Erklärens (CRH – »Causal Reasoning in History«) vor, in dem zwischen fachsprachlichen und fachunspezifisch-bildungssprachlichen Konventionen unterschieden wird. In Abschnitt 4 wird auf dieser Grundlage ein Scaffolding-Tool zum historischen Erklären vorgestellt, das Hilfen in unterschiedlichen Kombinationen von fachlich und/oder sprachlich fokussierten Interventionen umfasst, bevor abschließend die Wirksamkeit und Belastbarkeit des heuristischen Modells bei der Entwicklung und Auswertung einer explorativen Studie im Schülerlabor exemplarisch am Scaffold zur Versprachlichung des fachlichen Konzepts der Evidenz13 beschrieben und diskutiert wird.
9 Handro/Kilimann (Anm. 8) verfahren in ihrem Ansatz zur Leseförderung ähnlich, indem sie vier historische »Basiskategorien« Zeit, Akteure, Raum und Kausalität als Ausgangspunkt für die Leseförderung identifizieren. 10 Pauline Gibbons: Scaffolding Language, Scaffolding Learning. Teaching Second Language Learners in the Mainstream Classroom. Portsmouth 2002. 11 Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik (Kompetenzen: Grundlagen – Entwicklung – Förderung, Bd. 2). Neuried 2007. 12 Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Dies./Meik ZülsdorfKersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 6. Aufl. 2014, S. 24–49; Christoph Kühberger: Historisches Wissen – verschiedene Formen seiner Strukturiertheit und der Wert von Basiskonzepten. In: Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven (Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und historisches Denken, Band 1). Frankfurt/ M. u. a. 2016, S. 91–107; Andreas Körber: Graduierung von Kompetenzen. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/ Ts. 2012, S. 236–254. 13 Z. B. Peter Seixas/Tom Morton: The Big Six. Historical Thinking Concepts. Toronto 2013; Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u. a. 2013.
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2.
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Verortung im Diskurs über das historische Erklären: Die narrative Erklärung
In den deutschsprachigen Diskurs der Geschichtsdidaktik über die Sprachhandlung des Erklärens im Fach Geschichte ist Bewegung gekommen.14 Während Birgit Wenzel in der ersten Auflage ihres Aufsatzes »Geschichte erklären« im Jahr 2009 (zweite Auflage 2016) noch zu Recht bemerkte, dass das Thema »von der Fachdidaktik zurzeit wenig bis gar nicht beachtet« werde, so hat sich dies auch durch die Öffnung zur englischsprachigen Geschichtsdidaktik, in der das »Erklären« schon länger sowohl unterrichtspraktisch als auch geschichtstheoretisch bearbeitet wird, in den letzten Jahren geändert.15 Das historische Erklären kann als eine Sprachhandlung im Regelkreis des historischen Denkens modelliert und z. B. im Kompetenzmodell historischen Denkens nach FUER der Methodenkompetenz der Re-Konstruktion (Kernkompetenz) zugeordnet werden, während es im niederländischen Framework of Historical Reasoning einen eigenen Teilbereich darstellt.16 Historisches Erklären als Sprachhandlung der Re-Konstruktion lässt sich in Anschluss an die Historik von Jörn Rüsen (2013) geschichtstheoretisch präzisieren. Rüsens Begriff der narrativen Erklärung beinhaltet die Annahme, »dass das Erzählen einer Geschichte selber einen erklärenden Charakter« habe.17 Fachspezifisch geht es nach Rüsen in der narrativen Erklärung darum, »zeitliche Veränderungen dadurch zu erklären, dass man den Veränderungsvorgang erzählt.«18 In dieser Definition der narrativen Erklärung geht die historische Argumentation letztlich auf – zumindest wird nicht zwischen 14 Z. B. Monika Waldis: Erzählung oder Argumentation? Zum Einfluss von Textgenre, Aufgabenprompt und Materialauswahl auf das historische Erzählen. In: Stefan Keller/Christian Reintjes (Hrsg.): Aufgaben als Schlüssel zur Kompetenz. Didaktische Herausforderungen, wissenschaftliche Zugänge und empirische Befunde. Münster/New York 2016, S. 237–260; Birgit Wenzel: Geschichte erklären. In: Rüdiger Vogt (Hrsg.): Erklären. Gesprächsanalytische und fachdidaktische Perspektiven (Stauffenburg Linguistik, Bd. 52). Tübingen 2. Aufl. 2016, S. 169–188. 15 Wenzel (Anm. 14), S. 169; Arthur Chapman: Causal explanation. In: Ian Davies (Hrsg.): Debates in History Teaching. Florence 2. Aufl. 2017, S. 130–143; Gerhard Stoel: Teaching Towards Historical Expertise. Developing Students’ Ability to Reason Causally in History. University of Amsterdam 2017. 16 Körber/Schreiber/Schöner (Anm. 11); Ulrich Trautwein u. a.: Kompetenzen historischen Denkens erfassen. Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts »Historical Thinking – Competencies in History« (HiTCH). Münster/New York 2017; Jannet van Drie/ Carla van Boxtel: Historical Reasoning: Towards a Framework for Analyzing Students’ Reasoning about the Past. In: Educational Psychology Review 20 (2008) H. 2, S. 87–110. 17 Rüsen (Anm. 13), S. 162. 18 Ebd., S. 165. Den Begriff der narrativen Erklärung führt auch Hans-Jürgen Pandel in beiden Auflagen seiner Geschichtsdidaktik ein, ohne sich auf Rüsen zu beziehen: Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2. Aufl. 2017, S. 407– 412.
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narrativer Erklärung und historischer Argumentation unterschieden: »Mit der Narrativität des historischen Erklärens ist natürlich die Rationalität einer wissenschaftlichen Argumentation nicht obsolet geworden. Sie erfährt vielmehr mit ihr eine spezifische Ausprägung.«19 Für Schüler*innen ist das schriftliche historische Erklären eine schwierige Aufgabe, wie in den letzten zwanzig Jahren belegt werden konnte.20 Kausales Schreiben in Geschichte ist unter anderem deshalb komplex, weil dazu fachliche und sprachliche Wissensbestände miteinander verbunden werden müssen.21 Nach Arthur Chapman lassen sich für die Ergebnisse der bisherigen Forschung vier zentrale Aspekte des kausalen Erklärens benennen, mit denen Schüler*innen besondere Schwierigkeiten haben:22 1. Ursachenzusammenhänge: Ursachen in Geschichte sind miteinander in unterschiedlicher Weise verbunden. Schüler*innen neigen dazu, Ursachen als getrennte Größen aufzuzählen. 2. Handlungszusammenhänge: Historische Entwicklungen resultieren aus einem komplexen Zusammenwirken von Personen, Strukturen und mehr oder weniger intendierten Ereignissen. Schüler*innen neigen in ihren Erklärungen zur Personalisierung. So bevorzugen sie das Individuum als Erklärungsfaktor und tendieren häufig dazu, Handlungen und Ereignisse unterschiedslos als prinzipiell durch menschlichen Willen verursacht zu bewerten. 3. Multikausalität: Historische Entwicklungen haben stets mehrere unterschiedliche Ursachen. Schüler*innen neigen dazu, Ursachen unilinear oder auch kumulativ zu modellieren. 4. Ergebniszusammenhänge: Historische Entwicklungen sind in jedem Moment des Geschehens grundsätzlich offen. Das ist für diejenigen, die das Ergebnis einer historischen Entwicklung kennen, häufig schwer nachzuvollziehen. Schüler*innen neigen dazu, Ursachenzusammenhänge als zwangsläufige Entwicklungen zu verstehen, bei denen sprichwörtlich »eines zum anderen« gekommen ist. Es gibt damit konkret benennbare Schwierigkeiten für Schüler*innen, die sich auf die epistemologischen Erfordernisse des kausalen historischen Erklärens als 19 Rüsen (Anm. 13), S. 165. 20 Stoel (Anm. 15). 21 z. B. Caroline Coffin: Learning to Write History. In: Written Communication 21 (2004) H. 3, S. 261–289; Mary Schleppegrell/Stacey Greer/Sarah Taylor: Literacy in History. Language and Meaning. In: Australian Journal of Language and Literacy 31 (2008), S. 174–187. 22 Frei übersetzt und adaptiert von Nicola Brauch nach Chapman (Anm. 15), S. 130–143.
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narrative Erklärung beziehen lassen. Aus diesem Grund wurden in jüngerer Zeit vermehrt experimentelle Studien durchgeführt, die die Wirkung von expliziten Lehr-Interventionen auf die Fähigkeit des kausalen historischen Schreibens prüften.23 So operationalisierte Gerhard Stoel in seiner Promotionsschrift in einer Studie zum historischen Erklären24 mit 53 Oberstufen-Schüler*innen für eine drei Stunden umfassende Intervention das Konstrukt des historical reasoning25 in die Aspekte der fachspezifischen Kategorien (second order concepts), der kausalen sprachlichen Strategien (causal strategies) und der epistemologischen Überzeugungen (epistemological ideas).26 Für die Intervention wurden beispielsweise zur Überwindung von Fehlkonzepten zu Ursachenzusammenhängen concept mapping-Methoden mit Aufgaben zur Erstellung möglicher historischer Zusammenhänge entwickelt. Zusätzlich wurden Unterstützungsinstrumente sprachlicher Art bereitgestellt, die zur Überwindung sprachlicher Hindernisse als Formulierungshilfen eingeübt wurden, um so die epistemologischen Probleme zu bearbeiten. Vor der dreistündigen Intervention erfolgten zwei Unterrichtsstunden über mögliche Ursachen des Ersten Weltkriegs, woraufhin die Schüler*innen einen Essay zur kausalen Erklärung des Ersten Weltkriegs verfassten. Nach der Intervention erhielten sie die Aufgabe, ihren Essay zu überarbeiten, und die Qualität ihrer Erklärung zu verbessern. Das Ergebnis zeigte, dass die meisten Schüler*innen die sprachlichen Hilfen in ihren Überarbeitungen zwar nutzten, häufig aber eher mechanisch, mit wenig inhaltlicher Kohärenz.27 Dieses Ergebnis gibt Anlass zu der Annahme, dass Schüler*innen durch konkrete fachsprachliche Hilfestellungen durchaus wirkungsvoll bei spezifischen Schwierigkeiten beim Verfassen kausaler Zusammenhänge unterstützt werden können (auch wenn sich hierbei Grenzen feststellen lassen). Da Schüler*innen nicht von selbst fachlich angemessene kausale Erklärungen schreiben, müssen sie also sprachlich wie fachlich dazu im Unterricht durch die Lehrkraft mit geeigneten Methoden unterstützt werden. Auch in der Studie von Stoel bleibt dabei die Frage offen, wie sich die Erforschung der Wirkung von unterstützenden Methoden im Sinne eines durchdachten Scaffoldings noch stärker fachspezifisch denken ließe.28 Für die Entwicklung unseres Ansatzes war die fachspezifische Modellierung daher ein zentrales Anliegen. 23 Stoel (Anm. 15). 24 Gerhard L. Stoel/Jannet van Drie/Carla van Boxtel: Teaching Towards Historical Expertise. Developing a Pedagogy for Fostering Causal Reasoning in History. In: Journal of Curriculum Studies 47 (2015) H. 1, S. 49–76. 25 Van Drie/van Boxtel (Anm. 16). 26 Stoel (Anm. 15), S. 112. 27 Ebd., S. 128. 28 Ebd., S. 133.
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Da es uns hierbei um explizites sprachlich-funktionales und fachspezifisches Mikro-Scaffolding geht, haben wir für unseren Ansatz den Blick um die Definition aus der funktional-linguistischen Theoriebildung erweitert, um theoretisch wie sprachlich näher an das Konstrukt des historischen Erklärens heranzukommen. Während in der Geschichtsdidaktik weiterhin nicht zwischen den Sprachhandlungen des Erklärens und Argumentierens unterschieden wird29 und beide außerdem im Begriff des Causal Reasoning integriert werden können30, unterscheidet die Linguistin Caroline Coffin das Sprachgenre des Historischen Erklärens (Explaining Genres) vom komplexeren Genre des Historischen Argumentierens (Arguing Genres) und dem weniger komplexen Genre des Nacherzählens (Recording Genres).31 Das Erklär-Genre nimmt die Zwischenstufe in dieser als Progression gedachten Reihung ein: Jede Argumentation enthält damit auch nacherzählende wie erklärende Elemente. Sowohl das Nacherzählen als auch das Erklären kann eingeübt werden, um das Ziel-Genre der Argumentation vorzubereiten. In unserem Beitrag interessieren wir uns für die sprachlichen Mittel des Genres des historischen Erklärens, das Elemente des Nacherzählens enthält, sobald es auf Basis einer oder mehrerer Textgrundlagen erfolgt.32 In der Praxis des Geschichtsunterrichts gehören Arbeitsaufträge, die auf ein nacherzählendes Erklären zielen, zur täglichen Praxis. Ein Beispiel dafür findet sich etwa in dem Lehrwerk »Geschichte und Geschehen«, Band 2 für Gymnasien in Nordrhein-Westfalen (2016), im Kapitel zur Französischen Revolution: »Fasse zusammen, warum sich Frankreich 1789 in einer Krise befindet (VT, Q1).«33 Der Arbeitsauftrag soll mithilfe des Verfassertextes (VT)34 und einer Quelle (Q1)35
29 Im Unterschied dazu sind die Operatoren-Definitionen hier inzwischen manchmal sogar klarer. So wird in Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen. [Ausgabe] A, [Ausgabe für Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Gymnasium], 1. Auflage, 1. Druck. Stuttgart/Leipzig 2016 der Operator »Erklären« so definiert, dass er sich vom durch Abwägung gekennzeichneten »Diskutieren/Auseinandersetzen« unterscheiden lässt: »Du führst die Gründe und Zusammenhänge einer historischen Situation, einer Handlung oder eines Ereignisses aus.« 30 Waldis (Anm. 14); Stoel (Anm. 15); Chapman (Anm. 15); Marcel Mierwald: Historisches Argumentieren und epistemologische Überzeugungen. Eine Interventionsstudie zur Wirkung von Lernmaterialien im Schülerlabor. Wiesbaden 2020 (i. Dr.). 31 Caroline Coffin: Historical Dscourse. The Language of Time, Cause and Evaluation. London 2006. 32 Ebd., S. 68. 33 Sauer (Anm. 29), S. 127. 34 Ebd., S. 124f. Der Verfassertext trägt den Titel »Frankreich in der Krise«. Die Leitfrage des Teilkapitels zu den Ursachen der Revolution fokussiert eine Antwort in Form einer narrativen Erklärung: »Wie war es dazu gekommen – und wie sollte es weitergehen?«. 35 Ebd., S. 125. Q1 wird als »Radierung, 1789« qualifiziert und mit dem Paratext »Karikatur zur Situation Frankreichs im Jahr 1789« eingeführt.
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bearbeitet werden.36 Durch das Fragepartikel »warum« besteht die erwartete Bearbeitung dieses Arbeitsauftrages in einer narrativen Erklärung, die durch Bezugnahme auf VT und Q1 empirisch plausibel erzählt werden soll und dabei sowohl nacherzählende als auch stärker synthetisierende Anteile enthalten kann.37 Fachspezifisch für die Ausdrucksweise einer historischen Erzählung als Bestandteil einer historischen Erklärung ist damit der Verweis auf die zur Verfügung gestellte empirische Evidenz (VT, Q1) sowie die temporale und damit verbundene kausale Orientierung am Zeitstrahl.38 Sprachliche Muster zum Ausdruck von Zeit und empirischer Evidenz sind damit zentrale epistemologische Marker der Sprache des historischen Erklärens. Verfassertexte des Lehrwerkes Geschichte und Geschehen bieten ein gutes Beispiel für das Genre des Historischen Erklärens in der Ausprägung der historischen Erzählung. So bilden die Zwischenüberschriften des Verfassertextes ein kausales, an gesellschaftlichen Faktoren orientiertes Narrativ zur Erklärung des Ausbruches der Französischen Revolution (»Monarchie«, »Unzufriedenheit des Adels«), das durch die chronologische Darstellung der Evidenz von Ereignissen und Entwicklungen (»Scheitern der Generalstände«) mehr oder weniger explizit temporal organisiert wird. In unserem Scaffolding möchten wir diese epistemologischen sprachlichen Marker explizieren und die Lernenden damit vertraut machen (»Awareness«). Dabei gehen wir davon aus, dass sich diese sprachlichen Marker durch die fachsprachliche Funktion spezifischer allgemein- bzw. bildungssprachlicher Elemente bedienen.39 Das epistemologisch orientierte Mikro-Scaffolding zum historischen Erklären versteht sich daher in unserem Fall als parallel geführte fachspezifische und sprachliche Hilfe für das historische Erzählen eines ausgewählten temporal-kausalen Zusammenhangs. Die Aufgabe, einen temporal-kausalen Veränderungsvorgang mit historisch erklärender Funktion fachsprachlich zu erzählen, verstehen wir als Anlass zur Anwendung der historischen
36 Zur aufgabendidaktischen Problematik dieses Arbeitsauftrages vgl. Nicola Brauch: »Fasse den Verfassertext zusammen!«. Aufgaben im Geschichtsschulbuch – eine explorative Einzelfallanalyse. In: Christoph Kühberger/Roland Bernhard/Christoph Bramann (Hrsg.): Das Geschichtsschulbuch. Lehren – Lernen – Forschen. Münster/New York 2019, S. 185–205. 37 Zur ausführlichen Analyse dieses Arbeitsauftrags vgl. ebd. 38 Vgl. Nicola Brauch: Vom Umgang mit der Zeit im historischen Erzählen. Auf dem Weg zu Übungsaufgaben. In: Waltraud Schreiber/Béatrice Ziegler/Christoph Kühberger (Hrsg.): Geschichtsdidaktischer Zwischenhalt. Beiträge aus der Tagung »Kompetent machen für ein Leben in, mit und durch Geschichte« in Eichstätt vom November 2017. Münster 2019, S. 186– 193. Siehe zur Sprache der Zeit auch Pandel (Anm. 18), S. 139f. Er spricht dort von »zeitdeiktischen Ausdrücken« wie »kurz zuvor« oder »wenig später«. 39 Vgl. hierzu u. a. auch Jannet van Drie/Martine Braaksma/Carla van Boxtel: Writing in History: Effects of Writing Instruction on Historical Reasoning and Text Quality. In: Journal of Writing Research 7 (2015) H. 1, S. 123–156.
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Methodenkompetenzen im Bereich der Re-Konstruktion.40 Um zu einer fachlich angemessenen Re-Konstruktionsleistung zu gelangen, bedarf es der Aktivierung aller Wissensbereiche in Bezug auf die zu leistenden Sprachhandlungen, die nicht nur für Erklärungszusammenhänge allgemeinerer Natur, sondern für eine plausible historische Erklärung vonnöten sind. Wir müssen für die Modellierung eines Scaffolding-Ansatzes daher klären, wie sich im geschichtsdidaktischen Diskurs das Zusammenspiel von Wissen und Kompetenzen so darstellen lässt, dass sich daraus konkrete Scaffoldings für die mit dem historischen Erklären verbundenen Sprachhandlungen aus sprachlicher wie fachlicher Perspektive ableiten lassen.
3.
Entwicklung eines (fach-)sprachlichen Modells »Causal Reasoning in History« (CRH)
Für unseren Zusammenhang bieten die fachspezifischen Ausdifferenzierungen lernpsychologischer Modellannahmen von Hilke Günther-Arndt einen hilfreichen Ansatzpunkt, weil darin Wissen und Kompetenzen in ihren Zusammenhängen fachspezifisch dargestellt werden.41 In Anlehnung an den Kompetenzbegriff von Franz Weinert42 geht Günther-Arndt davon aus, dass für fachliches Lernen das domänenspezifische Wissen ausschlaggebend sei. Sie unterscheidet weiterhin strategisches Wissen, domänenspezifisches Wissen und metakognitives Wissen.43 Strategisches Wissen bezieht sich auf das allgemeine Wissen über Prozeduren, die in unterschiedlichen Domänen oder auch im Alltag eingesetzt werden können. In unserem Fall gehen wir davon aus, dass Erklären eine Prozedur ist, die sowohl im Alltagsverständnis präsent als auch in anderen Domänen von Bedeutung ist. Auch andere sogenannte diskursfunktionale Prozeduren gehören dazu (z. B. Beschreiben oder Urteilen).44 Im Kontext des domänenspe40 Trautwein u. a. (Anm. 16), S. 33: »Kontextualisierende Narrativierung«. 41 Günther-Arndt hat bis zuletzt an ihrem Aufsatz »Historisches Lernen und Wissenserwerb« weitergearbeitet, der in einer ersten Fassung 2003 erschienen war. Wir beziehen uns hier auf die Fassung von 2014. Hierin grenzt sie ihr Modell als lernpsychologisches klar ab von curricular intendierten Wissensmodellen, wie sie Christoph Kühberger (2012 und 2016) vorgeschlagen hat, vgl. Günther-Arndt (Anm. 12). 42 Franz E. Weinert: Lernen lernen und das eigene Lernen verstehen. In: Kurt Reusser/Marianne Reusser-Weyeneth (Hrsg.): Verstehen. Psychologischer Prozess und didaktische Aufgabe. Bern 1994, S. 196–202. 43 Günther-Arndt (Anm. 12), S. 40. Ihre Definitionen basieren auf der Arbeit von Arbringer 1997. 44 Vgl. Christiane Dalton-Puffer: A Construct of Cognitive Discourse Functions for Conceptualising Content Language Integration in CLIL and Multilingual Education. In: European Journal of Applied Linguistics 1 (2013) H. 2, S. 216–253; Christiane Dalton-Puffer/Silvia
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zifischen Wissens unterscheidet Günther-Arndt zwischen deklarativem Wissen (»Wissen, dass«) und prozeduralem Wissen (»Wissen, wie«). Für das Fach Geschichte sei das deklarative Wissen vor allem in semantischer Hinsicht zentral, weil es darum gehe, Relationen zwischen Begriffen herstellen zu können (wie zum Beispiel zwischen Ludwig XVI. und Versailles).45 Das prozedurale Wissen umfasst nach Günther-Arndt das Wissen über die »Werkzeuge« und die »Denkzeuge« des historischen Denkens. Das Werkzeug des Historikers sind diejenigen Kompetenzen, die während des Erkenntnisprozesses zum Einsatz kommen. Kompetenzmodelle für den Geschichtsunterricht können in diesem Zusammenhang als Versuche angesehen werden, diese Prozeduren des historischen Arbeitens (»Werkzeuge«) und Denkens (»Denkzeuge«) zu operationalisieren. In unserer Arbeit beziehen wir uns auf das Kompetenzmodell »Förderung und Entwicklung eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins« (FUER-Modell), das zwischen den prozeduralen Kompetenzen der Frage-, Methoden- und Orientierungskompetenz einerseits und der quer dazu liegenden Sachkompetenz andererseits unterscheidet.46 Die Sachkompetenz äußert sich darin, »in immer wieder neuen Zusammenhängen und Situationen über domänenbezogene Begrifflichkeiten verfügen zu können«.47 Beim historischen Erklären sind vor allem der Kompetenzbereich der Methodenkompetenz mit der Kernkompetenz der Re-Konstruktion und der Kompetenzbereich der Sachkompetenz involviert (vgl. Abb. 1). Das prozedurale Wissen um »Denkzeuge« oder epistemologische Prinzipien umfasst Wissen über die temporal organisierte Denkweise von Historiker*innen in den Konzepten von Dauer/Wandel und Ursache/Wirkung, aber auch die Begrifflichkeiten, die dieses Denken orientieren, wie beispielsweise Macht, Recht oder Herrschaft. Zu den Denkzeugen gehören auch deren sprachliche Repräsentationen, die fachspezifischen diskursfunktionalen Prozeduren wie beispielsweise das Erklären von Ursachen- und Wirkungszusammenhängen.48 Im fachspezifischen prozeduralen Wissen sind damit auch die sprachlichen Mittel zur Herstellung von zeitlich oder systematisch organisierten Relationen inkludiert. Für die fachspezifische Differenzierung des prozeduralen Wissens lässt sich das ursprünglich als Alternative zu dem Modell von Günther-Arndt vorgeschlagene Modell von Christoph Kühberger integrieren. Er unterscheidet darin epistemische, historische und gesellschaftli-
45 46 47 48
Bauer-Marschallinger: Cognitive Discourse Functions Meet Historical Competences. In: Journal of Immersion and Content-Based Language Education 7 (2019) H. 1, S. 30–60. Günther-Arndt (Anm. 12), S. 41. Vgl. grundlegend Körber/Schreiber/Schöner (Anm. 11) sowie Trautwein u. a. (Anm. 16). Trautwein u. a. (Anm. 16), S. 34. Günther-Arndt (Anm. 12), S. 42, spricht von »elementaren Denkoperationen wie Vergleichen, Verallgemeinern«.
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che Basiskonzepte. Die epistemischen Basiskonzepte lassen sich in etwa mit Günther-Arndts »Handwerkzeug des Historikers« in Beziehung setzen, da es hier mit den Kategorien Belegbarkeit, Auswahl, Bauplan und Perspektive besonders um das epistemologische Prinzip der Evidenz geht.49 Die historischen Basiskonzepte gruppieren sich rund um die Zeit (Zeitverläufe, Zeitpunkte, Zeiteinteilungen) als basales epistemologisches Prinzip des historischen Arbeitens und bieten so eine wichtige Ergänzung zu dem Bereich, den Günther-Arndt mit »Denkzeugen« beschreibt. Die gesellschaftlichen Basiskonzepte nach Kühberger (z. B. Macht, Arbeit, Normen) decken sich mit Günther-Arndts »Denkzeugen« der historischen Begriffe und Kategorien, mit dem Unterschied, dass GüntherArndt auch die epistemologischen Prinzipien von Dauer/Wandel und Ursache/ Wirkung hierunter subsumiert, die bei Kühberger wiederum eher implizit in den Historischen Basiskonzepten der Zeit enthalten sind. Es wird jedenfalls deutlich, dass die beiden Modelle keine Alternativen darstellen, sondern das Modell von Kühberger denselben Bereich kartiert, der in dem lernpsychologisch orientierten Ansatz von Günther-Arndt als fachspezifisches prozedurales Wissen gefasst wird.50 In der engen Verschränkung domänenspezifischen deklarativen und prozeduralen Wissens in der Praxis des historischen Denkens kann man mit GüntherArndt das genuine Merkmal des historischen Denkens ansehen.51 Wegen seines hohen Abstraktionsgrades lässt das Modell im Bereich des deklarativen Wissens allerdings die Frage offen, wie zwischen den für das historische Denken notwendigen Wissensbeständen (z. B. Ludwig XVI., Versailles, 1789) und stärker abstrahierenden Konzepten (Französische Revolution, Macht) weiter differenziert werden kann.52 Für die Entwicklung des hier vorgestellten differenzierten (fach-)sprachlichen Mikro-Scaffoldings wurde daher auf die von Lorin W. Anderson und Kollegen vorgeschlagene Unterteilung des deklarativen Wissens in faktuales und konzeptuelles Wissen zurückgegriffen. Vor dem Hintergrund, dass dieses Modell als Hierarchie von Wissensebenen angelegt ist, muss hier betont werden, dass es bei einer solchen Unterscheidung von Wissensarten nicht um die Modellierung einer Lernprogression geht, sondern um die heuristische Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von Wissensdimensionen, wie Günther-Arndt dies in ihrem Modell beispielhaft durchgeführt hat. 49 Kühberger (Anm. 12), S. 103. 50 Günther-Arndt definiert außerdem den Bereich des meta-kognitiven Wissens, der in unserem Zusammenhang jedoch zunächst vernachlässigt werden kann. 51 Günther-Arndt (Anm. 12), S. 43. 52 Dies., ebd., S. 43–48, legt zwar einen differenzierten Vorschlag für die Definition unterschiedlicher Reichweiten von Begriffen im Anschluss an das Wissensmodell vor, baut diesen aber nicht in das Wissensmodell mit ein.
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Die Unterteilung des Bereichs des deklarativen Wissens in faktuales und konzeptionelles Wissen ist dabei eine grundlegende Voraussetzung für eine differenziertere Beschreibung der verschiedenen Sprachmuster, die für das Erklären erforderlich sind. Vor dem Hintergrund der angestrebten Entwicklung parallel geführter fachspezifischer und sprachlicher Scaffolds sind wir außerdem der Überzeugung, dass eine getrennte Modellierung dieser Wissensdimensionen notwendig ist, da diese unabhängig voneinander ausgeprägt sein können. So können Schüler*innen beispielsweise über bestimmte sprachliche Mittel verfügen, ohne dass ihr funktional zielführender Einsatz zur Realisierung der entsprechenden Bedeutungszusammenhänge gelingt. Ebenso können sich weitgehend unverbundene, faktuale Wissensbestände in einzelnen Lexemen wie z. B. Fachbegriffen oder Jahreszahlen manifestieren. Für stärker vernetztes, konzeptionelles Wissen sind allerdings unterordnende Satzstrukturen mit einer Fülle von nebensatzeinleitenden Konjunktionen zum Ausdruck verschiedenartiger Sinnbeziehungen notwendig. Für unseren Zusammenhang möchten wir das Wissensmodell von GüntherArndt daher adaptieren und für den Bereich der Sprachhandlung des Erklärens fokussieren. Es geht uns dabei um die Erfassung der sprachlichen Ausprägung der historischen Re-Konstruktionskompetenz des historischen Erklärens. Dafür beziehen wir uns auf die drei genannten Dimensionen des faktualen, konzeptuellen und prozeduralen Wissens, und buchstabieren diese drei Dimensionen sprachlich und fachlich für das Erklär-Genre in Geschichte aus. Dabei kommt das epistemologische Prinzip der temporal orientierten Kausalität (Ursache/Wirkung), gewissermaßen als Kompassnadel zur fachlichen und sprachlichen Beschreibung der drei Wissensdimensionen zum Einsatz. Wie sich die Dimensionen des faktualen, konzeptuellen und prozeduralen bzw. sprachbezogenen Wissens zu den Kompetenzdimensionen historischen Denkens verhalten, wird weder im Modell von Kühberger noch in dem von Günther-Arndt expliziert. Diese Verhältnisbestimmung von Wissen und Kompetenzen wird aber notwendig, wenn wir konkrete Möglichkeiten zur fachsprachlichen Unterstützung am Fallbeispiel der Förderung der historischen ReKonstruktionskompetenz im Genre des historischen Erklärens erforschen möchten. Die geschichtsdidaktische Grundlage für das interdisziplinäre heuristische Modell muss daher die genannten Wissensdimensionen mit den Kompetenzdimensionen zusammendenken und dabei auch den Aspekt einer möglichen Graduierung berücksichtigen. In diesem Zusammenhang hat Andreas Körber bereits 2007 im Grundlagenband der Entwicklung des FUER-Modells und 2012 in einem Handbuchartikel einen pragmatischen Parameter als Orientierung für die Graduierung von
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Kompetenzen historischen Denkens vorgeschlagen,53 der auch für die hier in Rede stehende Thematik der Sprache mit dem Unterscheidungsmerkmal der »gesellschaftlichen Konvention« einen fruchtbaren Ansatz bietet. Dabei geht es um die Verfügung »konventioneller Konzepte«, um beispielsweise eine historische Frage »anschlussfähig und differenziert formulieren« zu können.54 Körber unterscheidet hierfür drei Niveaustufen: Das basale Niveau historischen Denkens, das sich durch A-Konventionalität auszeichnet, was bedeutet, dass beispielsweise der Versuch einer historischen Erklärung bereits an der Unkenntnis konventioneller sprachlicher Konzepte scheitert. Das intermediäre Niveau zeigt sich nach dieser Logik beispielsweise in historischen Erklärungen, in denen die »Nutzung gesellschaftlich vorgegebener Begriffe, Konzepte und Verfahren« nachweislich erkennbar ist.55 Das elaborierte und damit höchste Niveau der Graduierungslogik zeichnet sich dadurch aus, dass die Konvention gesellschaftlicher Begriffe, Konzepte und Verfahren nicht nur genutzt, sondern zugleich auch hinterfragt werden, beispielsweise durch die Reflexion ihrer »Reichweiten und Grenzen«.56 In unserem Ansatz zielen wir darauf ab, Lernende gezielt dabei zu unterstützen, das konventionell-intermediäre Niveau einer historischen Erklärung als Ausdruck von historischer Re-Konstruktionskompetenz zu erreichen. Wir gehen dabei davon aus, dass dazu sowohl (a) allgemeinsprachliche und (b) fächerübergreifend bildungssprachliche als auch (c) fachsprachliche Konventionen vonnöten sind. Unter (a) allgemeinsprachlichen Kompetenzen fassen wir in Anlehnung an allgemein anerkannte Kompetenzmodelle kommunikativer Sprachkompetenz57 die grundlegende Beherrschung von hochfrequentem, weltwissensbezogenem Wortschatz, häufig auftretenden grammatischen Strukturen und pragmatischer und soziolinguistischer Kompetenzdimensionen, die die Ausführung von allgemeinen zwischenmenschlichen Sprachhandlungen erlauben.58
53 Andreas Körber: Graduierung: Die Unterscheidung von Niveaus der Kompetenzen historischen Denkens. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 415–472; Körber (Anm. 12). 54 Ebd., S. 249. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 250. 57 Michael Canale/Merrill Swain: Theoretical Bases of Communicative Approaches to Second Language Teaching and Testing. In: Applied Linguistics I (1980) H. 1, S. 1–47; Lyle F. Bachman/Adrian S. Palmer: Language Testing in Practice. Designing and Developing Useful Language Tests. Oxford 1996; Jan H. Hulstijn: Language Proficiency in Native and Non-native Speakers. Theory and Research (Language Learning & Language Teaching, Bd. 41). Amsterdam/Philadelphia 2015. 58 Im anglophonen Diskurs als »General Linguistic Competence« gegenüber »Language for General Academic Purposes« genannt, vgl. für einen Überblick Ken Hyland: General and
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Diese Kompetenzen fallen in den Spracherwerb, der typischerweise bereits im Kindesalter stattfindet, hohe Automatisierung erreicht und sich bei allen Personen mit ausreichendem Kontakt zur Zielsprache weitgehend unterschiedslos vollzieht. Zu (b) fächerübergreifend bildungssprachlichen Kompetenzen zählen wir solche sprachliche Kompetenzen, die als eine sekundäre Form des Spracherwerbs gefasst werden können und mit dem Besuch von Bildungsinstitutionen assoziiert ist: Hier geht es um solche sprachliche Mittel, die dazu geeignet sind, »ein qualitativ komplexes und differenziertes Wissen oder Erleben [zu] repräsentieren oder die zur Gewinnung eines komplexeren Wissens beitragen«59 und deren Erwerb stark mit dem Schriftspracherwerb verschränkt ist. Hier sind neben komplexen und im Alltagssprachlichen weniger frequenten syntaktischen Strukturen stilistisch als markierter Wortschatz und Phraseologismen, aber auch rhetorische Schemata und Textmusterwissen angesiedelt. Diese beiden Bereiche, der allgemeinsprachliche und der fächerübergreifend bildungssprachliche, sind jene, die bei Schüler*innen, die das deutsche Schulsystem grundständig durchlaufen, traditionell als vorhanden vorausgesetzt und nicht eigenständig gelehrt werden. Durch eine stärkere Fokussierung auf den Umgang mit heterogenen Lerngruppen rückt aber mittlerweile auch insbesondere der bildungssprachliche Bereich als schuldidaktisch in den Blick zu nehmender relevanter Lerngegenstand in den Blick.60 Der dritte Bereich der fachsprachlichen Kompetenzdimensionen (c) ist didaktisch betrachtet vor allem deshalb wesentlich als eigener Bereich zu betrachten, weil die Zuständigkeit seiner Ausbildung innerhalb der jeweiligen fachlichen Diskurse, wie in unserem Fall der Geschichtswissenschaft und -didaktik, liegt. Hier geht es nicht nur um Fachbegrifflichkeiten, sondern vor allem um diskursive Konventionen wie das oben dargelegte historische Erklären im Geschichtsunterricht, das aufgrund seiner fachlichen Spezifik und Kontextgebundenheit nicht aus allgemeinen, fächerübergreifenden oder anderen fachbezogenen Kontexten und Zielsetzungen transferiert werden kann.
Specific EAP. In: Ken Hyland/Philip Shaw (Hrsg.): The Routledge Handbook of English for Academic Purposes. London/New York 2016, S. 17–29. 59 Angelika Redder: Rezeptive Sprachfähigkeit und Bildungssprache – Anforderungen in Unterrichtsmaterialien. In: Keno Frank u. a. (Hrsg.): Schulbücher im Fokus. Nutzungen, Wirkungen und Evaluation. Münster 2012, S. 83–99, hier S. 87. 60 Steinhoff (Anm. 1).
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Doing History:
Konventionelles Niveau
(A) Fachliche Konvention
(B) Verbundene sprachliche Konvention
Prozedurales Wissen
Methodenkompetenz :
Fähigkeit, Genre - und
Knowing History
Re-Konstruktion im Sinne einer »Historischen
Textmuster im Sinne einer »Historischen Erklärung« sprachlich zu realisieren
Erklärung« Constructing temporalcausal relations Konzeptuelles Wissen
Sachkompetenz: Konzepte historischen Erklärens; Begriffsbezogene Kategorisierung (inhaltsbezogene Kategorien und
Verfügen über Ausdrücke für inhaltsbezogene Kategorien und Konzepte sowie Versprachlichungsfähigkeit der epistemologischen Prinzipien
Konzepte; epistemologische Prinzipien) Second Order Concepts Faktuales
Fallbezogenes
Gegenstandsbezogener
Wissen
Wissen über das zu
Wortschatz
erklärende Ereignis (Akteure, Räume, Daten, Strukturen) First Order Concepts
Abb. 1: Modell zur sprachlich-epistemologischen Fassung historischen Erklärens (»Causal Reasoning in History«/CRH)61
Das von uns entwickelte Modell zur sprachlich-epistemologischen Fassung historischen Erklärens (Causal Reasoning in History/CRH) (Abb. 1) kartiert auf einem abstrakten Niveau die Zusammenhänge zwischen den Wissensarten und den intendierten Performanzen der Re-Konstruktionskompetenz. Die Wissensarten korrespondieren dabei mit konkreten (fach-)sprachlichen Kompe61 Zur konzeptionellen Grundlage siehe Havekes und Havekes/Arno-Coppen/Luttenberg (beide Anm. 61).
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tenzausprägungen, die zwar an den jeweiligen Wissensbereich gekoppelt sind, sich aber nicht bei allen Schüler*innen über die Zeit automatisch einstellen und deshalb gezielt im Unterricht zu thematisieren und einzuüben sind. Wir rekurrieren in der Terminologie auf das Conceptual Framework for Fostering Active Historical Contextualisation by Students, das der niederländische Geschichtsdidaktiker Harry Havekes in seiner Dissertationsschrift in Anlehnung an das Framework of Historical Reasoning von Jannet van Drie und Carla van Boxtel entwickelt hat.62 In seinem Modell sind Wissen (»Knowing History«) und Kompetenzanwendungen oder Performanzen (»Doing History«) aufeinander bezogen und in Bezug auf den Entwicklungsgrad epistemologischer Überzeugungen der Schüler*innen graduiert. Wir übernehmen für unser Anliegen das Zusammenspiel von »Knowing History« in Bezug auf die drei Wissensarten, die in der Anwendung von Kompetenzen sowohl fachlicher als auch sprachlicher Art zur Sprache kommen. Erst in diesem »zur Sprache kommen« prägt sich nach unserem Verständnis das historische Erklären aus. Das Abrufen faktualen Wissens (unterste Zeile) für sich allein genommen ist noch keine Kompetenzausprägung historischen Denkens im Sinne des FUER Modells. In der englischsprachigen Forschung wird faktuales Wissen im Bereich der First Order oder Substantive Concepts jedoch als Bestandteil des Historical Reasoning aufgefasst.63 Gerade weil deklaratives und prozedurales Wissen in Geschichte typischerweise stets miteinander verflochten sind, gehört es zum internationalen Konsens, dass es mitunter schwierig ist, die First Order Concepts von den unterschiedlichen Typen der Second Order Concepts (Ursache/Wirkung, aber auch Macht oder Revolution) in konkreten Forschungskontexten zu trennen.64 Die Dimension des konzeptuellen Wissens adressiert die Sachkompetenz nach FUER und zielt auf Begriffs- und Kategorienwissen, mit dem Geschichte erschlossen, strukturiert und kommunizierbar gemacht werden soll.65 Dafür 62 Harry Havekes: Knowing and Doing History. Learning Historical Thinking in the Classroom. Ph. D. Radboud University. Nijmegen 2015; Ders./Peter Arno-Coppen/Johan Luttenberg: Knowing and Doing History: A Conceptual Framework and Pedagogy for Teaching Historical Contextualisation. In: History Education Research Journal 11 (2012) H. 1, S. 72–93. 63 z. B. Van Drie/van Boxtel (Anm. 16); Havekes (Anm. 61); Stoel/van Drie/van Boxtel (Anm. 24); Peter Lee/Rosalyn Ashby: Progression in Historical Understanding Among Students Ages 7– 14. In: Peter N. Stearns/Peter Seixas/Samuel S. Wineburg (Hrsg.): Knowing, Teaching, and Learning History. National and International Perspectives. New York/London 2000, S. 199– 222. 64 Z. B. Marjan de Groot-Reuvekamp u. a.: The Understanding of Historical Time in the Primary History Curriculum in England and the Netherlands. In: Journal of Curriculum Studies 46 (2014) H. 4, S. 487–514; Lee/Ashby (Anm. 63). 65 Vgl. Alexander Schöner: Kompetenzbereich historische Sachkompetenzen. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 265–314, hier S. 265.
Schriftliches Erklären im Fach Geschichte unterstützen
153
werden fachspezifische Second Order Concepts benötigt (epistemologische Prinzipien, inhaltsbezogene Kategorien und Konzepte).66 Die Dimension des prozeduralen Wissens zielt schließlich auf die Kernkompetenz der Re-Konstruktion im Kompetenzbereich der Methodenkompetenz nach FUER.67 Im niederländischen Modell wird dies unter dem Wissensbereich »Constructing Temporal-Causal Relations« gefasst. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass unser Modell zum »Causal Reasoning in History« keine Graduierungen definiert, sondern die (Sprach-)Handlung historischer Re-Konstruktion im Genre des Erklärens auf intermediär-konventionellem Niveau beschreiben soll. Auf der Basis dieses Modells entwickeln wir im folgenden letzten Abschnitt ein Scaffolding-Tool und präsentieren erste Ergebnisse seiner Testung in einer quasi-experimentellen Studie.
4.
Entwicklung eines Scaffolding-Tools zum historischen Erklären und seine Anwendung im Schülerlabor
4.1
Konkretisierung fachsprachlicher und fachlich unspezifischer sprachlicher Konvention
Für das Modell CRH haben wir bislang die Konstrukte der Wissensdimensionen (Spalte 1) theoretisch abgeleitet und auf die fachlichen Konventionen (Spalte 2) bezogen. Im Folgenden möchten wir nun auf konkrete Anwendungsbereiche der fachlichen Konvention (Spalte 2) sowie der allgemein- und bildungssprachlichen Konvention (Spalte 3) am Fallbeispiel unserer explorativen Schülerlaborstudie (siehe weiter unten) eingehen, um auf dieser Basis auch die Entwicklung der Scaffolds zu explizieren. Dabei beziehen wir uns direkt auf das Arbeitsblatt (»Fact sheet«), das den Schüler*innen in der Studie für die Entwicklung ihrer Erklärung zur Verfügung stand. Dieses Arbeitsblatt bestand auf der Vorderseite aus einem Auszug aus dem dtv-Atlas Weltgeschichte »Frankreich am Vorabend der Revolution«68 und auf der Rückseite aus einem Begriffs-Glossar zur Erläuterung mutmaßlich unbekannter oder unverständlicher Begriffe.
66 Trautwein u. a. (Anm. 16), S. 34. 67 Ebd., S. 33. 68 Hermann Kinder/Werner Hilgemann/Manfred Hergt (Hrsg.): dtv-Atlas Weltgeschichte. Bd. 2. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. München 44. Aufl. 2017, S. 295.
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Nicola Brauch / Lena Heine / Christoph Bramann
Faktuales Wissen Unter der Dimension des faktualen Wissens im Bereich (A) fachsprachliche Konventionen fassen wir die Anwendung konventioneller First Order Concepts (Akteure, Räume, Daten und gesellschaftliche Strukturen) im Kontext eines konventionellen Narrativs, in unserem Fall zur Erklärung möglicher wirtschaftlicher Ursachen der Französischen Revolution. Am Beispiel des faktualen Wissens, das im Arbeitsblatt für das Schülerlaborprojekt repräsentiert ist, können solche First Order Concepts identifiziert werden. Für eine Erklärung des Ausbruchs der Französischen Revolution mit dem gesellschaftlichen Basiskonzept Wirtschaft werden hier prominent die Akteure Ludwig XV. und Ludwig XVI. genannt. Das zentrale Raumkonzept findet sich in der Überschrift der Seite »Frankreich am Vorabend der Revolution«. Ein zentrales Datum ist der Zeitraum von 1774–1792, in dem König Ludwig XVI. Frankreich regierte. Relevante Strukturen werden vor allem in der linken Spalte des Arbeitsblattes fettgedruckt aufgezählt, darunter auch die Basiskonzepte »Gesellschaft/Wirtschaft«. Unter der Dimension faktualen Wissens im Bereich (B) allgemeinsprachliche Konventionen fassen wir die Anwendung des gegenstandsbezogenen Wortschatzes und der allgemeinsprachlichen First Order Concepts wie z. B. »Missernte« sowie der relevanten Grammatik. Konzeptuelles Wissen Unter die Dimension des konzeptuellen Wissens fällt im Bereich (A) fachsprachliche Konvention die Anwendung konventioneller Second Order Concepts im Kontext des dtv-Atlas-Narrativs. Hier geht es um Begriffe zur Kategorisierung der First Order Concepts wie beispielsweise »Reformprogramm« und um die Anwendung der epistemologischen Prinzipien im Fach Geschichte, wie beispielsweise Selektivität, Temporalität und Kausalität (Sachkompetenz). Die Prinzipien des Faches sind daher zentral für unsere Konzeption des MikroScaffoldings (siehe weiter unten; Abb. 2).Unter der Dimension des konzeptuellen Wissens fassen wir im Bereich (B) allgemeinsprachliche Konventionen die Anwendung der sprachlichen Repräsentationen der Second Order Concepts. Prozedurales Wissen Unter der Dimension des prozeduralen Wissens fassen wir (A) fachsprachliche Konventionen im Bereich der Anwendung rhetorischer und genre-spezifischer Mittel im Erklär-Genre im Sinne des CRH-Modells. Zentral hierfür sind die Versprachlichung temporal-kausaler Beziehungen und eine rhetorische Form für die sprachliche Elaboration der epistemologischen Prinzipien. Dabei ist es
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155
schwierig, von Konventionen des historischen Erklärens zu sprechen, weil historische Erklärungen in der Praxis sprachlich durchaus unterschiedlich angelegt sind.69 Hinzu kommt, dass Experten im historischen Erklären die epistemologischen Prinzipien eher als Vorannahme behandeln als diese explizit in ihren Erklärungen aufzugreifen. Was Günther-Arndt für die historische Interpretation beschreibt, gilt damit genauso für das historische Erklären: »Ein Experte für Geschichte führt die regelgeleiteten Schritte einer historischen Interpretation routiniert aus und benutzt in der Interpretation ebenso routiniert historische Begriffe und Kategorien, er definiert sie nicht bei jedem Gedankenschritt.«70 Für ein didaktisches Setting gilt es daher, eine prototypische rhetorische Form systematisch zu generieren, die möglichst viele Charakteristika des historischen Erklärens integriert, um es in seinen rhetorischen Grundstrukturen explizit beschreiben zu können. Um Lernenden dabei zu helfen, eine Routine aufzubauen, sollen die entwickelten Scaffolds dazu beitragen, die epistemologischen sprachlichen Marker explizit a) bewusst zu machen und b) sprachlich zu repräsentieren. Auch die (B) allgemeinsprachlichen Konventionen in der Dimension des prozeduralen Wissens umfassen vor allem die Anwendung von Textmusterwissen über historische Erklärungen.71 Aus der beschriebenen Anlage und Explizierung des Modells CRH (Abb. 1) haben wir für unser Pilotprojekt verschiedene epistemologische Bestandteile einer Erklärung als fachsprachlich-rhetorische Struktur einer idealtypischen Erklärung abgeleitet.72 Auf diese Weise definierten wir sieben gedankliche 69 Vgl. v. a. die Untersuchung von Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 13). Köln 1997. 70 Günther-Arndt (Anm. 12), S. 43. 71 Vergleichbares wurde im Dissertationsprojekt zum historischen Argumentieren von Marcel Mierwald mit dem generischen How-To-Write-Your-Essay-Plan durchgeführt, der strukturell dem generischen Modell nach Jean Toulmin folgt und fachspezifisch durch die explizite Adressierung durch solche epistemologischen Prinzipien operationalisiert wurde, die für das historische Argumentieren theoriebasiert abgeleitet wurden. Vgl. Mierwald (Anm. 30) sowie Marcel Mierwald/Nicola Brauch: Historisches Argumentieren als Ausdruck historischen Denkens. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 104–120, und Dies.: »Ein Argument für diese Behauptung lautet …«. Beschreibung, Graduierung und Bewertung der strukturellen Qualität argumentativer historischer Essays. In: Christiane Bertram/Andrea Kolpatzik (Hrsg.): Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Von der Theorie über die Empirie zur Pragmatik. Frankfurt/M. 2019, S. 108–114. Darüber hinaus ist anzumerken, dass eine wesentliche Inspirationsquelle für das hier geschichtsspezifisch ausdifferenzierte Vorgehen in der SimO-Studie zu finden ist, die eine didaktische Intervention zur Förderung von Bildbeschreibungskompetenz vorstellt, s. Lars Rüßmann u. a.: Schreibförderung durch Sprachförderung? Zur Wirksamkeit sprachlich profilierter Schreibarrangements in der mehrsprachigen Sekundarstufe I unterschiedlicher Schulformen. In: Didaktik Deutsch 21 (2016) H. 40, S. 41–59. 72 Wir folgen darin in Ansätzen der Vorgehensweise des How-To-Write-Your-Essay-Plan, indem wir die rhetorische Struktur vorgeben, vgl. Mierwald/Brauch (Anm. 71).
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Nicola Brauch / Lena Heine / Christoph Bramann
Scaffolds zur
Fachliches
Sprachliches
Bewusstmachung
Scaffolding
Scaffolding
epistemologischer
(Auszug)
(Auszug)
(1) Historische Frage zur
Es wird benannt, was
»Ich will Euch
Erklärung eines historischen
genau erklärt werden
heute erklären…«
Ereignisses
soll […].
(2) Einflussfaktoren auf
Welche Akteure und
»berücksichtigen,
das Ereignis
welche Rahmen -
weil…«
Prinzipien
bedingungen könnten besonders relevant gewesen sein? (3) Kausalität
Ein ursächlicher
»verursachen«
Zusammenhang zwischen den Faktoren wird hergestellt. (4) Temporalität
Ein zeitlicher
»nachdem«
Zusammenhang zwischen den Entwicklungen wird hergestellt. (5) Selektivität/Gewichtung
Welche der Faktoren
»wichtigste«
könnten besonders wichtig gewesen sein? (6) Evidenz
Die Quelle der
»Auf Grundlage
Informationen wird
der Informa -
genannt.
tionen…«
(7) Antwort auf die zu Beginn
Wie könnte eine
»Wir fassen also
gestellte historische Frage/
mögliche Antwort auf
noch einmal
Zusammenfassung der
die historische Frage
zusammen…«
historischen Erklärung
lauten?
Abb. 2: Überblick über das Scaffolding-Tool zum Modell »Causal Reasoning in History« (CRH) in Auszügen
Schriftliches Erklären im Fach Geschichte unterstützen
157
Schritte einer prototypischen historischen Erklärung, die für jeden der sieben Schritte sowohl fachlich als auch (fach)sprachlich modelliert wurden: (1) Die zu erklärende historische Frage; (2) Selektion der Einflussfaktoren; (3) Kausalitäten; (4) Temporalitäten; (5) Gewichtung der Einflussfaktoren; (6) Empirische Plausibilität; (7) Zusammenfassende Erklärung (Abb. 2). Die Grundidee des Scaffolding-Tools besteht darin, dass wir einerseits die Funktion der für eine historische Erklärung notwendig zu berücksichtigenden epistemologischen Prinzipien explizit machen und kurz erläutern, ohne ihn jedoch mit typischen sprachlichen Mustern in Verbindung zu bringen (fachliches Scaffolding). Andererseits bilden wir dessen sprachliche Besonderheiten durch Wort- bzw. Textmusterbeispiele ab (sprachliches Scaffolding). Dafür besteht jeder Scaffold-Bestandteil aus zwei Teilen: In der oberen, fachlichen, Hälfte wird erläutert, welche epistemologische Funktion der jeweilige Schritt hin zur historischen Erklärung beinhaltet, in der unteren, sprachlichen, Hälfte werden Hilfen zu je spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung gestellt. Das so organisierte Scaffolding beinhaltet stärker strukturelle Scaffolds (1 und 7), und stärker epistemologische Scaffolds (2 bis 6). Wir bewegen uns damit innerhalb der einzelnen Scaffoldings im Rahmen des beschriebenen CRH-Modells (Abb. 1) in den fachlichen und verbundenen sprachlichen Konventionen des konzeptuellen und prozeduralen Wissens.73
4.2
Exemplarische Einblicke in die Anwendung des Scaffolding-Tools
Die hier beschriebene Pilotierungsstudie, in der das neu entwickelte ScaffoldingTool (Abb.2) zur Anwendung kam, wurde im Alfried-Krupp-Schülerlabor (AKS) an der Ruhr-Universität Bochum im Juni 2019 durchgeführt.74 Insgesamt nahmen 80 Schüler*innen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren teil (M = 16.39; SD = 1.0; 40 weiblich). Es handelte sich um vier Lerngruppen: eine Klasse der 9. Jahrgangsstufe eines Gymnasiums (n=23) sowie drei Klassen der 11. Jahrgangsstufe verschiedener Gesamtschulen (n=57) aus Nordrhein-Westfalen. Die 73 Die Nutzung des Glossars zur Wortschatzarbeit auf der Rückseite des Arbeitsmaterials (die in unserem Modell zum faktualen Wissen gezählt würde) haben wir bislang nicht in unsere Auswertungen einbezogen. 74 Der größere Forschungskontext ist die interdisziplinäre Projektgruppe »Sprache im Fach«, in der Physikdidaktik (Heiko Krabbe, Carina Wöhlke), Geschichtsdidaktik (Nicola Brauch, Christoph Bramann) und Sprachbildungsforschung (Lena Heine, Lisa Otto) der Frage nachgehen, wie sprachliche und fachspezifische Unterstützungen bei der Förderung der Erklärkompetenz konzipiert werden können. Das Projekt befindet sich zum jetzigen Zeitpunkt noch in der Auswertungsphase. Konkretere Ergebnisse aus dem Bereich der Geschichtsdidaktik werden voraussichtlich im Rahmen der Tagungsreihe geschichtsdidaktik empirisch (gde) in Basel 2020 präsentiert.
158
Nicola Brauch / Lena Heine / Christoph Bramann
Studie war als Quasi-Experiment angelegt, das bedeutet, dass jede Klasse randomisiert in Kleingruppen geteilt wurde, die entweder (1) die sprachlichen oder (2) die fachlichen oder aber (3) beide Hilfen zusammen zur Bearbeitung derselben Erkläraufgabe erhielten. Um individuell vergleichbare Daten zu erhalten, sollten die Schüler*innen zuerst angeleitet ein kurzes Drehbuch für ein Erklärvideo zur schlechten Wirtschaftslage als möglicher Ursache für den Ausbruch der Französischen Revolution schreiben, im Anschluss zwei Übungen mit den dann ausgegebenen Scaffolds durchführen und anschließend ihren ersten Drehbuchentwurf anhand der Scaffolds überarbeiten. Da sich das Projekt zum jetzigen Zeitpunkt noch in der Auswertungsphase befindet, dienen die folgenden ersten Einblicke in die Art der Hilfestellung und die Ergebnisse des Schülerlaborprojekts ausschließlich der Illustration des beschriebenen Scaffolding-Tools und seiner exemplarischen Anwendung. Die Schülerlabortage waren auf eine Intervention von 6,5 Zeitstunden (inklusive 1,5 Std. Pause) angelegt. Zunächst erhielten die Schüler*innen eine Einführung mit einem prototypischen Erklärvideo zur Kritik am Absolutismus als einer möglichen Ursache für die Situation vor 1789, wodurch sie unangeleitet mit dem Genre Erklärvideo und der Sprache des Erklärens konfrontiert wurden. Anschließend wurde ein Info-Blatt zur »Ursachenforschung in der Geschichtswissenschaft« ausgeteilt. Dieses enthielt das Materialblatt mit dem Auszug aus dtv Atlas Weltgeschichte (2017) mit dem Narrativ zu »Frankreich am Vorabend der Revolution« und dem Glossar »Hilfen zur Erstellung eines Erklärvideos mit PowerPoint« sowie die Aufgabenstellung: Erkläre die schlechte Wirtschaftslage in Frankreich am Vorabend der Französischen Revolution: (1) Entwirf eine Visualisierung Deiner Erklärung in Form einer Erklärmatrix. (2) Schreibe einen Drehbuchtext für ein Erklärvideo. Nutze für Deine Erklärung die Informationen aus dem dtv -Atlas (Arbeitsmaterial) und die vorbereitete PowerPoint -Datei (DREHBUCH.pptx).
Abb. 3: Ausschnitt der Aufgabe für die Erstellung eines Erklärvideo-Drehbuchs (hier: Drehbuch A)
In einem zusätzlichen Informationstext zur Aufgabe wurden die Schüler*innen dazu aufgefordert, zuerst sechs wirtschaftliche Einflussfaktoren und zwei Daten zur Erklärung auszuwählen (Selektivität, Partialität). Um die Schüler*innen bei
Schriftliches Erklären im Fach Geschichte unterstützen
159
der Auswahl der vielen möglichen im Text genannten Faktoren zu unterstützen, haben wir hierfür bereits einige Einflussfaktoren im Text markiert, die wir farblich in Rahmenbedingungen (z. B. »Feudalordnung« ), Akteure (»Marie Antoinette«) und Daten (»1774–92«) unterschieden haben. Nach der kurzen Besprechung der Aufgabenstellung und des Vorgehens hatten die Schüler*innen insgesamt 60 Minuten Zeit, um in Einzelarbeit einen ersten Entwurf ihres Erklärvideo-Drehbuchs (= Drehbuch A) und eine dazugehörige (zu diesem Zeitpunkt noch statische) Visualisierung zu erstellen. Der Text wurde direkt in die Notizenseitenfunktion einer Powerpoint-Präsentation geschrieben, die als DateiVorlage für das Erklärvideo standardisiert zur Verfügung stand. Die Visualisierung sollte auf der Basis von uns vorher definierter Symbole zu Rahmenbedingungen und Akteuren, einem Zeitstrahl sowie Pfeilen zur Visualisierung von ursächlichen Relationen (temporal-kausalen Concept-Mapping) auf der Folienansicht der Präsentation erstellt werden.75 Im Anschluss an die erste Arbeitsphase wurden die verschiedenen Scaffolds an die jeweiligen Tischgruppen verteilt und die Schüler*innen in die Hilfen und deren Nutzung mit einer Übungsaufgabe (30 min) eingeführt. Nach dieser »Anwendungsübung« hatten die Schüler*innen noch einmal 30 Minuten Zeit, um in Einzelarbeit ihre zuvor erstellen Erklär-Drehbücher (Drehbuch A) anhand der Scaffolds zu überarbeiten (= Drehbuch B). Der Schülerlabortag endete damit, dass die Schüler*innen auf Basis ihrer Drehbücher in Gruppenarbeit ein animiertes und mit einer Audiospur unterlegtes Erklärvideo gestalten konnten. Die für uns relevanten Forschungsdaten – Drehbücher A (ohne Hilfen) und Drehbücher B (mit Hilfen) – sind damit in Einzelarbeit entstandenen. Die überarbeiteten Drehbücher wurden dabei etwa zu gleichen Teilen nach der Intervention mit (1) sprachlichen, (2) fachlichen und (3) sprachlichen und fachlichen Scaffolds erstellt. Im Folgenden möchten wir abschießend am Beispiel des Scaffold (6) »Evidenz« ausschnitthaft illustrieren, wie bzw. ob die Schüler*innen unsere Scaffolds genutzt haben, um ihre Drehbücher zu überarbeiten. Die Berücksichtigung des epistemologischen Prinzips der Evidenz bestand in diesem Fall darin, sprachlich explizit auf die materiale Grundlage der eigenen historischen Erklärung zu verweisen und (besten Falles) auch über deren Verlässlichkeit zu reflektieren. In diesem Sinne zielt die im Scaffold »Evidenz« gegebene fachliche Erläuterung (Abb. 2, mittlere Spalte) darauf, die Funktion des epistemologischen Prinzips für die historische Erklärung zu verdeutlichen. In der prototypischen Erklärung, die die Schüler*innen zur Einübung in die Nutzung der Scaffolds erhielten, ist dieses epistemologische Prinzip sprachlich und fachlich ausdrücklich repräsentiert. Hierfür wurde bereits zu Beginn auf die Frage fokussiert: »Warum war die Kritik 75 Eine Auswertung der Text – Bild Korrelation in den individuellen Erklärvideos der Schüler*innen steht noch aus.
160
Nicola Brauch / Lena Heine / Christoph Bramann
am Absolutismus nach den Angaben vieler Historiker eine wichtige Ursache für den Sturm auf die Bastille?« In der weiteren Erklärung wird weitergehend explizit auf die Informationen des dtv-Atlas verwiesen: »Die Autoren des dtv-Atlas schreiben auf S. 295 in den Zeilen 16 und 17, dass bereits am Vorabend der Französischen Revolution in verschiedenen Ständen große Unzufriedenheit mit der ›veralteten Feudalordnung‹ herrschte.« Der fachliche Scaffold enthielt dazu unter anderem den Hinweis: »Die Quelle der Informationen wird genannt.«, der sprachliche Scaffold enthielt unter anderem die Formulierungsbeispiele »auf Grundlage der Informationen«, »nach den Angaben« und »die Autoren schreiben«. Die Auswertung aller überarbeiteten Drehbücher ergab, dass sich in 33 der 80 angefertigten Drehbücher insgesamt 41 Änderungen feststellen lassen, die vermutlich auf eine Verwendung des Scaffolds (6) »Evidenz« zurückzuführen sind. Die Quantifizierung der Reliabilität der Ergebnisse anhand eines zufallsbereinigten Kappa-Koeffizienten ergab einen »sehr guten« Wert von κ = .83.76 Scaffold (6): Evidenz | Fachliche Intervention Drehbuch A
Drehbuch B (Überarbeitung von
[G1_F_T3 -18]
Drehbuch A) [G1_F_T3 -18]
»Hallo und herzlich willkommen zu
»Hallo und herzlich willkommen zu
meiner Präsentation. Mit diesem
meiner Präsentation. Mit diesem
Schaubild möchte ich euch die
Schaubild möchte ich euch die
Entwicklung der [schlechten
Entwicklung der schlechten
Wirtschaftslage erklären. Dazu
Wirtschaftslage erklären. Dazu
schauen wir uns den Vorabend der
schauen wir uns den Vorabend der
Revolution in Frankreich an. […]«
Revolution in Frankreich an. Der Text stammt aus dem dtv Atlas
Weltgeschichte auf der Seite 295 von Kinder, H., Hilgemann, W. & Hergt, M. aus dem Jahr 2017. […]«
Abb. 4: Anwendungsbeispiel des fachlichen Scaffolds zum epistemologischen Prinzip der Evidenz (der unterstrichene Text enthält die Überarbeitung)
76 Nach Udo Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim/Basel 3. Aufl. 2016, S. 210, können Kappa-Werte zwischen 0.6 bis 0.8 als »gut« und ab 0.8 als »sehr gut« bezeichnet werden. Die Quantifizierung der Intercoderübereinstimmung erfolgte anhand des zufallsbereinigten Kappa-Koeffizienten κ = (Po-Pc)/(1-Pc).
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161
Aus der Interventionsgruppe, die mit den fachlichen Scaffolds arbeitete (N=26) griffen insgesamt 10 Schüler*innen bei ihrer Überarbeitung den Scaffold (6) »Evidenz« auf. Ein exemplarisches Anwendungsbeispiel findet sich in Abbildung 4. In einem Text dieser Gruppe konnten sogar zwei Anwendungen ausgemacht werden, sodass innerhalb der Interventionsgruppe mit den fachlichen Scaffolds insgesamt 11 Änderungen auf den Scaffold Evidenz zurückzuführen sein könnten. Auch in der Gruppe, die nur mit den sprachlichen Scaffolds arbeitete (N = 27) können in 11 Texten insgesamt 15 Überarbeitungen auf Basis des Evidenz-Scaffolds angenommen werden, wobei sich auch hier in vier Drehbüchern zwei Anwendungen feststellen ließen. Ein ähnlicher Wert konnte in der Gruppe erreicht werden, die mit den integrierten Hilfen arbeitete (fachliche und sprachliche, N = 27). Hier kam es in 12 Drehbüchern zu 15 Überarbeitungen, die wahrscheinlich auf die Anwendung der Hilfen zurückzuführen sind. Dabei kamen sowohl die fachliche als auch die sprachliche Hälfte der Scaffolds zur Anwendung. So wurde in einem Fall der Begriff »Informationen« aus dem sprachlichen Scaffold übernommen, sodass sich im überarbeiteten Drehbuch B die Formulierung findet: »die Informationen sind von dtv-Atlas Weltgeschichte.« [G1_F+S_T1–06]. Auch in einem weiteren Fall wurde die Formulierung eines sprachlichen Scaffolds übernommen: »Auf Grundlage der Informationen aus dem dtv-Atlas kann man herausnehme das […]« [G1_F+S_T2–15]. Dagegen lässt sich bei dem folgenden Beispiel eher eine Verwendung der fachlichen Scaffold-Hälfte vermuten: »Auch weitere Faktoren wie Hungersnöte durch Missernten oder enorme Kriegskosten bis 1786 führen laut Historikern zum Sturm auf die Bastille.« [G3_F+S_T1–08]. Neben fachsprachlich validen Anwendungen enthält das Textkorpus auch Fälle, bei denen zwar eine stichwortartige Anwendung einzelner Scaffolds stattfand, diese jedoch nicht vollständig in die grammatikalische und epistemologische Struktur des Satzes integriert wurden. In einem Text heißt es beispielsweise: »Nach den Angaben Ludwig XV. verlor 1714 seine Autorität und Prestige.« [G1_F+S_T1–01]. Hier wurde anscheinend der Versuch unternommen, den sprachlichen Scaffold »nach den Angaben« zu nutzen, ohne diesen jedoch in die kohärente Struktur des Satzes einzubauen und eine versprachlichte epistemologische Umsetzung zu erreichen. Dieses letzte Beispiel lässt die Vermutung zu, dass eine Intervention, die auf sprachliche Muster abzielt, aber getrennt von ihrer Verbindung zur unterliegenden Funktion bleibt, nicht unbedingt im fachlichen Sinne zielführend ist. Diese knappen Eindrücke illustrieren unsere Beobachtung, dass der von uns entwickelte Scaffold zur sprachlichen Explizierung des epistemologischen Prinzips der Evidenz in allen drei Interventionsgruppen von Schüler*innen angenommen und zur Überarbeitung ihrer Erklärvideo-Drehbücher verwendet wurde. Allerdings zeigt sich ebenso, dass die Anwendungsquote des Scaffolds insgesamt bei lediglich etwa einem Drittel liegt, sodass in der zum jetzigen
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Zeitpunkt noch laufenden Auswertung anhand der vorliegenden Daten nach möglichen Gründen hierfür geforscht wird (besonders auch in Gegenüberstellung zu der Anwendung der anderen Scaffolds). Auch ob durch die Überarbeitungen anhand der Scaffolds tatsächlich eine empirisch feststellbare Qualitätssteigerung erzielt werden konnte, ist Bestandteil des laufenden Forschungsprojekts. Die potentielle Wirksamkeit des Scaffolds »Evidenz« kann auf Grundlage der hier präsentierten Ergebnisse jedoch begründet angenommen werden.
5.
Zusammenfassung und Ausblick
Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer (auch) unterrichtspragmatischen Operationalisierung grundlegender fachspezifischer Sprachhandlungen im Geschichtsunterricht haben wir in unserem Beitrag einen Ansatz zur Modellierung und zur Erfassung der (Fach-)Sprachhandlung historischen Erklärens (CRH – Causal Reasoning in History) vorgeschlagen (Abb. 1). Die Funktion dieses Ansatzes besteht darin, die Sprachhandlung des historischen Erklärens sowohl hinsichtlich ihrer epistemologischen Grundlagen als auch ihrer sprachlichen Ausprägungen systematisiert zu erfassen und damit sichtbar und didaktisierbar zu machen. Auf Basis vorhandener fachlicher Ansätze wurden hierfür verschiedene Wissensdimensionen theoretisch abgeleitet und auf konkrete fachsprachliche sowie allgemein- und bildungssprachliche Konventionen bezogen. Auf Basis dieses Modells (Abb. 1) konnte ein Scaffolding-Tool zum historischen Erklären entwickelt werden, das verschiedene für eine historische Erklärung notwendige epistemologische Prinzipien und Schritte sowohl fachlich (fachliche Beschreibung) als auch sprachlich (Wort- bzw. Textmusterbeispiele) explizit macht. Von den sieben auf diese Weise konstruierten Scaffoldgruppen wurde im Folgenden der Scaffold zur sprachlichen Explizierung des epistemologischen Prinzips der Evidenz in seiner Konstruktionslogik näher beleuchtet und seine Verwendung in einer explorativen Schülerlaborstudie beispielhaft illustriert, wobei erste Hinweise auf eine Wirksamkeit des Zusammenspiels der kombinierten (fach-)sprachlichen und allgemeinsprachlichen Hilfen festgestellt werden konnten. Dies entspricht im Wesentlichen der bisherigen Forschung77, wobei weiterhin zu untersuchen bleibt, wie das fachlich valide Anwenden der (fach-) sprachlichen und allgemeinsprachlichen Tools noch besser didaktisch gezielt unterstützt werden könnte.78
77 Rüßmann u. a. (Anm. 71). 78 Stoel/van Drie/van Boxtel (Anm. 24); Stoel (Anm. 15); van Drie/Braaksma/van Boxtel (Anm. 39).
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Das Tool mit den sieben Scaffolds stellte sich in der Pilot-Studie sowohl als hilfreiche Basis für die Entwicklung der Intervention als auch für die Auswertung der im Schülerlabor gewonnenen Daten heraus. Insbesondere ermöglicht die konzeptuelle Schärfung in der Verbindung von Fachlichkeit und der mit ihr assoziierten Sprachlichkeit die Entwicklung überprüfbarer Instrumentarien, mit denen zielgerichtete Spracharbeit im Geschichtsunterricht operationalisiert werden kann. Für den didaktischen Diskurs zu Fragen der Sprachbildung im Geschichtsunterricht zeigt sich dabei, wie entscheidend der Einbezug der fachdidaktischen Expertise für die Erarbeitung von sprachbildenden Maßnahmen ist, um für den Fachunterricht zielführend sein zu können.
Christoph Bramann
(Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben im Kontext einer Aufgabenkultur historischen Lernens erforschen1
1.
Ausgangslage
Spätestens seit der Neuausrichtung des Geschichtsunterrichts auf die Förderung fachspezifischer Denkprozesse wurde deutlich, dass ein solches historisches Denken von Lernenden aktiv, also selbstständig, erlernt und eingeübt werden muss.2 Über die wichtige Funktion, die Aufgaben bei der Initiierung und Begleitung solcher fachlichen Lern- und Denkprozesse zukommt, besteht in der Geschichtsdidaktik weitgehender Konsens.3 Die Entwicklung einer Aufgabenkultur historischen Lernens im Fach Geschichte, die neben dem eigentlichen Aufgabentext auch Aspekte der Aufgaben- und Lernumgebung berücksichtigt, wird daher explizit eingefordert.4 Auch im Kontext eines sprachbildenden Geschichtsunterrichts wird auf die Notwendigkeit der Entwicklung einer (fach-) sprachbildenden Aufgabenkultur verwiesen, »die inhaltliches, kognitives und sprachliches Lernen gleichermaßen berücksichtigt, indem sie einzelne Opera-
1 Der vorliegende Beitrag ist Bestandteil meines Promotionsprojekts zur Analyse von Schulbuchaufgaben im Kontext einer fachspezifischen Aufgabenkultur. 2 Vgl. Christian Heuer: Geschichtsunterricht anders machen – Zur Aufgabenkultur als Möglichkeitsraum. In: Patrick Blumschein (Hrsg.): Lernaufgaben. Didaktische Forschungsperspektiven. Bad Heilbrunn 2014, S. 231–241, hier S. 233. Darüber dass historisches Lernen auf Prozesse historischen Denkens ausgerichtet sein sollte, besteht innerhalb der Geschichtsdidaktik weitgehender Konsens, vgl. Holger Thünemann: Historisch Denken lernen mit Schulbüchern? Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Christoph Bramann/ Christoph Kühberger/Roland Bernhard (Hrsg.): Historisch Denken lernen mit Schulbüchern. Frankfurt/M. 2018, S. 17–36, hier S. 22. 3 Vgl. Ders.: Historische Lernaufgaben. Theoretische Überlegungen, empirische Befunde und forschungspragmatische Perspektiven. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 141– 156. Zur definitorischen Abgrenzung von (Lern-)Aufgaben, Arbeitsaufträgen und Schulbuchaufgaben siehe die Ausführungen in Abschnitt 2. 4 Vgl. Heuer (Anm. 2); Birgit Wenzel: Aufgaben(kultur) und neue Prüfungsformen. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/ Ts. 2012, S. 23–36, hier S. 24.
166
Christoph Bramann
tionen historischen Denkens und historischer Sinnbildung fokussiert«.5 Der in diesem Beitrag verwendete Begriff einer »sprachbildenden Aufgabenkultur« soll hierbei verdeutlichen, dass auf fachsprachliche Prozesse ausgerichtete Aufgaben im Geschichtsunterricht nicht nur auf eine »Sensibilisierung« oder ein »Bewusstsein« für die sprachlichen Eigenheiten einer spezifischen Fachkultur abzielen, sondern im Sinne einer umfassender zu verstehenden Aufgabenkultur darüber hinaus auch auf die Anregung und Begleitung fachsprachbildender (Lern-)prozesse bei Schüler*innen ausgerichtet sein sollten. Damit steht nicht eine defizitorientierte Kompensation von zu fördernder sprachlicher »Schwäche« im Vordergrund, sondern das Ziel, allen Schüler*innen die Weiterentwicklung ihrer individuellen (fach-)sprachlichen Kompetenzen zu ermöglichen.6 Bislang existieren jedoch kaum Forschungen dazu, wie solche sprachbildenden Prozesse durch Aufgaben in Geschichtsschulbüchern als häufig genutzten Unterrichtsmedien initiiert und unterstützt werden (können).7 Vor diesem Hintergrund geht der Beitrag anhand einer kategorialen Analyse von Aufgaben aus österreichischen Geschichtsschulbüchern den Fragen nach, zu welchen fachspezifischen Sprachhandlungen die Schulbuchaufgaben konkret auffordern und inwiefern die Schulbücher deren Umsetzung durch das zur Verfügung gestellte Materialarrangement unterstützen. Da auf Basis einer solchen Aufgabenanalyse allein keine Aussagen über die Verwendung der Aufgaben im Unterrichtskontext oder die Produkte der Aufgabenbearbeitung getroffen werden können, liegt der Fokus des Beitrags damit insbesondere auf dem geschichts-
5 Saskia Handro: Sprache(n) und historisches Lernen. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 5–24, hier S. 12; Saskia Handro: Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Leerformel oder Lernchance? In: Katharina Grannemann/Sven Oleschko/Christian Kuchler (Hrsg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. Münster/New York 2018, S. 13–41, hier S. 22. 6 Mein Dank gilt an dieser Stelle Lena Heine von der Ruhr-Universität Bochum für ihren kritischen Blick auf dieses Problemfeld aus der Perspektive der allgemeinen Sprachbildungs- und Mehrsprachigkeitsforschung. 7 Siehe die bisherigen Ansätze bei Tülay Altun/Katrin Günther: Begründen als Arbeitsauftrag im Geschichtsunterricht. In: Grannemann/Oleschko/Kuchler (Anm. 5), S. 157–178; Sven Oleschko/Anastasia Moraitis: Die Sprache im Schulbuch. Erste Überlegungen zur Entwicklung von Geschichts- und Politikschulbüchern unter Berücksichtigung sprachlicher Besonderheiten. In: Bildungsforschung 9 (2012) H. 1, S. 11–46, hier S. 27–37; Maik Böing u. a.: Cluster Gesellschaftswissenschaften. In: Sven Oleschko (Hrsg.): Sprachsensibles Unterrichten fördern. Angebote für den Vorbereitungsdienst. Arnsberg 2017, S. 68–103, hier S. 85; Kerstin LochonWagner: Praxis der Geschichtslehrerausbildung als Grundlage für den sprachsensiblen Geschichtsunterricht. In: geschichte für heute 12 (2019) H. 1, S. 13–30, hier S. 20–23; Jennifer Müller: Lehrmaterialanalyse als Grundlage für die Planung sprachsensiblen Geschichtsunterrichts. In: Una Dirks (Hrsg.): DaF-/DaZ-/DaM-Bildungsräume: Sprech- & Textformen im Fokus. Marburg 2019, Bd. 10, S. 197–218.
(Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben
167
didaktischen Potenzial von Schulbuchaufgaben.8 Dabei stehen die Entwicklung des kategorialen Zugriffs und die Ergebnisse der Aufgabenanalyse im Mittelpunkt. Im Sinne der Erforschung von Schulbuchaufgaben im Kontext einer Aufgabenkultur historischen Lernens in Geschichtsschulbüchern werden hierbei nicht nur Aspekte der Aufgabenstellung, sondern auch des Aufgabenumfeldes (hier: das zur Verfügung gestellte Schulbuchmaterial) einbezogen,9 und die Ergebnisse werden anschließend zusätzlich über zwei exemplarische Einzelfallanalysen expliziert. Die vorgestellte Untersuchung versteht sich damit einerseits als Bestandsaufnahme des Status Quo österreichischer Schulbuchaufgaben hinsichtlich vorhandener Möglichkeiten zur Initiierung und Unterstützung fach(sprach)spezifischer Lernprozesse sowie andererseits als Beitrag zur Weiterentwicklung einer Aufgabenkultur in Geschichtsschulbüchern und damit auch zur weiteren Schulbuchentwicklung.
2.
Schulbücher, Aufgaben und sprachbildender Geschichtsunterricht
Jüngste empirische Studien zur Verwendung des Schulbuchs im Geschichtsunterricht in Österreich bestätigen nicht nur, dass (analoge) Schulbücher weiterhin häufig genutzte Unterrichtsmedien sind, sondern auch, dass dabei auch die in den Büchern abgedruckten Arbeitsaufträge immer wieder zum Einsatz kommen.10 Im Zuge ihrer Etablierung als fester Bestandteil der multimodalen Struktur von Geschichtsschulbüchern seit den 1970er Jahren, gelten gute Aufgabenstellungen mittlerweile als Qualitätsmerkmal gelungener Geschichtsschulbücher.11 Die vorrangig als Lern- und Arbeitsmedien konzipierten Schüler*innen-Bände der Schulbuchreihen beinhalten vor allem Aufgabenformate, die Lernprozesse auslösen und unterstützen sollen und sich daher – zumindest 8 Vgl. bereits Waltraud Schreiber/Alexander Schöner/Florian Sochatzy: Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik. Stuttgart 2013, S. 79f. 9 Vgl. bereits Christoph Bramann: Arbeitsaufträge und Kompetenzen. Geschichtsschulbücher im Kontext einer fachspezifischen Aufgabenkultur. In: Christoph Kühberger/Roland Bernhard/Christoph Bramann (Hrsg.): Das Geschichtsschulbuch. Lehren – Lernen – Forschen. Münster/New York 2019, S. 161–184, hier S. 179f. 10 In Österreich gaben ca. 80 Prozent der Lehrkräfte und ähnlich viele Lernende an, Arbeitsaufträge aus dem Geschichtsschulbuch jede oder jede zweite Stunde zu nutzen, vgl. Ulrike Kipman/Christoph Kühberger: Einsatz und Nutzung des Geschichtsschulbuches in Österreich. Wiesbaden 2019, S. 63 u. 78. Eine nicht-repräsentative Umfrage unter deutschen Geschichtslehrkräften ergab etwas niedrigere Werte, vgl. Michael Sauer: Wie verwenden Geschichtslehrkräfte Schulbücher? Ergebnisse einer Lehrerbefragung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018) H. 7/8, S. 406–417, hier S. 413. 11 Vgl. Christian Heuer: Vorschläge, Aufträge, Aufgaben? Zum Wandel von Aufgaben im Schulgeschichtsbuch. In: Erziehung und Unterricht 167 (2017) H. 9/10, S. 935–944, hier S. 941.
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Christoph Bramann
analytisch – von anderen Aufgabenformaten, wie Diagnose- oder Prüfungsaufgaben unterscheiden lassen.12 Schulbuchaufgaben stellen damit einen wichtigen Indikator für die didaktische Gesamtkonzeption von Schulbüchern als Lernmedien dar.13 Im Zuge der Fokussierung auf den Zusammenhang fachlicher und sprachlicher Handlungsprozesse sind hierbei auch fachsprachbildende Ansätze zu berücksichtigen,14 wenngleich dieser Aspekt in den österreichischen Lehrplänen – als den hier analysierten Schulbüchern zugrunde liegenden normativen Vorgaben – bislang eher randständig behandelt wird.15 Der in diesem Beitrag verwendete Begriff und die Definition einer Schulbuchaufgabe orientiert sich aufgrund eines weiterhin fehlenden fachlichen Common Sense über die Definition von Lernaufgaben im Fach Geschichte am offener gehaltenen Begriff der Aufgabe (auch wenn die Definitionsansätze hier ebenfalls auseinandergehen).16 Dabei kann grundsätzlich zwischen einer umfassender zu verstehenden »Aufgabe« auf der einen Seite, sowie kleinschrittig organisierten und im besten Fall im Sinne einer Lernprogression graduierten Arbeitsaufträgen auf der anderen Seite unterschieden werden.17 Da sich Aufgaben und Arbeitsaufträge in Schulbüchern als einer medialen Sonderform jedoch auf vielfältigste Weise konstituieren können (z. B. Leitfragen zu ganzen Abschnitten oder Kapiteln; kleinteilig organisierte Aufgaben-»Pakete« auf Methoden- oder Kompetenz-Seiten; einzelne Lese- und Zusammenfassungsaufträge), bedarf es für ihre Zuordnung als Aufgabe oder als Arbeitsauftrag bereits einer interpretativen Zuordnung. In Adaption der Aufgabendefinition von Sigrid
12 Zur analytischen Trennung verschiedener Aufgabenformate vgl. Manuel Köster/Markus Bernhardt/Holger Thünemann: Aufgaben im Geschichtsunterricht. Typen, Gütekriterien und Konstruktionsprinzipien. In: Geschichte Lernen (2016) H. 174, S. 2–11. 13 Vgl. Schreiber/Schöner/Sochatzy (Anm. 8), S. 51; Holger Thünemann: Zwischen analogen Traditionen und digitalen Verheißungen. Lernen und Lehren mit Geschichtsschulbüchern im 21. Jahrhundert. In: Kühberger/Bernhard/Bramann (Anm. 9), S. 81–96, hier S. 89. 14 Vgl. Handro (Anm. 5), S. 12; Grannemann/Oleschko/Kuchler (Anm. 5), S. 7f. 15 Vgl. Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Hrsg.): Bundesgesetzblatt II 290/ 2008. Lehrplan Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung. Wien 2008, S. 7; Bundesministerium für Bildung und Frauen (Hrsg.): Bundesgesetzblatt II 113/2016. Lehrplan Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung. Wien 2016, S. 3. Reinhard Krammer und Christoph Kühberger fordern in einer Handreichung für österreichische Schulbuchautor*innen jedoch bereits explizit Schulbuchaufgaben, die »dazu auffordern, fachspezifische Denkleistungen zu erbringen (die im Optimalfall mit einer fachsprachlichen Umsetzung verbunden sind)« (Reinhard Krammer/Christoph Kühberger: Handreichung Fachspezifische Kompetenzorientierung in Schulbüchern. Hilfestellungen für Autorinnen und Autoren, Schulbuchverlage und Gutachterkommissionen. Wien 2011, S. 9–11). 16 Zu den verschiedenen geschichtsdidaktischen Ansätzen zur Definition fachlicher Lernaufgaben vgl. auch die Ausführungen im einführenden Beitrag dieses Buchkapitels. 17 Vgl. Heuer (Anm. 11), S. 937.
(Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben
169
Blömeke und Kollegen18 werden im Folgenden mit dem Begriff »Schulbuchaufgabe« daher sämtliche Anweisungen oder Fragen in einem Schulbuch bezeichnet, die Schüler*innen zu konkreten Handlungen auffordern. Während im geschichtsdidaktischen Diskurs der letzten Jahre bereits verschiedene Vorschläge zur normativen Modellierung historischer Lernaufgaben diskutiert wurden,19 existieren für spezifisch sprachbildende Aufgabenformate bislang vor allem fächerübergreifend konzipierte Ansätze.20 Die geschichtsdidaktische Forschung fokussiert hier bislang vor allem auf die durch Aufgaben evozierten Schreibprodukte, wobei wiederholt eine Korrelation zwischen der Aufgabenkonstruktion und den zur Bearbeitung verwendeten fachsprachlichen Umsetzungen festgestellt wird.21 Noch stärker als im allgemeinen Aufgabendiskurs steht dabei die Funktion von Operatoren, verstanden als integrative fachliche und sprachliche Handlungen evozierende Verben, im Fokus.22 Diese Sprach- und Denkhandlungen – im linguistischen Kontext auch als Diskursfunktionen bezeichnet – verlangen von Lernenden im Fach Geschichte z. B. zeitliche und ursächliche Wirkungszusammenhänge darzustellen, Urteile argumentativ zu vertreten oder Plausibilitäten sprachlich umzusetzen.23 Diskursfunktionen bilden in diesem Sinne eine »integrative Einheit von Inhalt, Denken und Sprechen, die […] mit basalen Denkoperationen und deren Versprachlichung in elementaren Texttypen in Beziehung gesetzt werden kön-
18 Vgl. Sigrid Blömeke u. a.: Analyse der Qualität von Aufgaben aus didaktischer und fachlicher Sicht. In: Unterrichtswissenschaft. Zeitschrift für Lernforschung 34 (2006) H. 4, S. 330–357, hier S. 331. 19 Vgl. exemplarisch Köster/Bernhardt/Thünemann (Anm. 12). 20 Vgl. die ersten Ansätze bei Christoph Hamann/Thomas Krehan: Wortschatzarbeit im Geschichtsunterricht. In: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Hrsg.): Sprachbildung und Leseförderung in Berlin. Berlin 2013, S. 171–210, hier S. 205–208; Daniela Caspari (Hrsg.): Sprachbildung in den Fächern: Aufgabe(n) für die Fachdidaktik. Berlin 2017; Böing u. a. (Anm. 7), S. 88f. Erste Überlegungen zu sprachbildenden Lernaufgaben für das Fach Geschichte finden sich bei Matthias Sieberkrob: Lernaufgaben für sprachbildenden Geschichtsunterricht. Theoretische Grundlagen und Hinweise für ihre Entwicklung. In: Grannemann/Oleschko/Kuchler (Anm. 5), S. 121–136. Siehe hierzu auch die Ausführungen im einführenden Beitrag dieses Kapitels. 21 Vgl. die Ergebnisse bei Olaf Hartung: Generisches Geschichtslernen. Drei Aufgabentypen im Vergleich. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 47–61; Monika Waldis: Erzählung oder Argumentation? Zum Einfluss von Textgenre, Aufgabenprompt und Materialauswahl auf das historische Erzählen. In: Stefan Keller/Christian Reintjes (Hrsg.): Aufgaben als Schlüssel zur Kompetenz. Münster/New York 2016, S. 237–260, sowie international u. a. Chauncey Monte-Sano/Susan de La Paz: Using Writing Tasks to Elicit Adolescents’ Historical Reasoning. In: Journal of Literacy Research 3 (2012) H. 44, S. 273–299. 22 Vgl. u. a. Katharina Grannemann/Christian Kuchler: (Die) Sprache als Maß aller Dinge. Perspektiven für einen sprachsensiblen Geschichtsunterricht. In: geschichte für heute 12 (2019) H. 1, S. 31–42, hier S. 36f. 23 Handro (Anm. 5), S. 32.
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Christoph Bramann
nen«.24 Im Kontext sprachbildender Ansätze wird daher grundsätzlich davon ausgegangen, dass die durch Operatoren evozierten Handlungen in unterschiedlichen Fach- und Wissenschaftskulturen durchaus verschiedene – also fachspezifische – Denk- und Sprachhandlungen verlangen. Im Kontext sprachbildender Forschungen durchgeführte Schulbuchforschungen fokussieren jedoch bislang vor allem auf konzeptionelle, theoretische oder funktional-linguistische Aspekte von Schulbuchnarrationen.25 Die von den Schulbüchern zur Verfügung gestellten Aufgaben und Arbeitsaufträge werden hingegen überwiegend hinsichtlich allgemeiner Kriterien zur Förderung historischen Lernens analysiert.26 Dabei wurde immer wieder gezeigt, dass zur Bearbeitung der meisten Schulbuchaufgaben kognitive Anforderungen Leistungen auf dem unteren und mittleren Niveau ausreichen,27 während historische Urteilsund Reflexionsprozesse nur selten angestoßen werden,28 und damit einhergehend auch die Förderung fachspezifischer Kompetenzen nur selten ermöglicht wird.29 In jüngeren Forschungen wird dabei insbesondere die durchdachte Verbindung zwischen Aufgabenstellung und dem zur Verfügung gestellten Material als notwendiges Qualitätsmerkmal für Schulbuchaufgaben im Kontext einer Aufgabenkultur historischen Lernen betont.30 24 Vgl. Helmut Johannes Vollmer/Eike Thürmann: Zur Sprachlichkeit des Fachlernens. Modellierung eines Referenzrahmens für Deutsch als Zweitsprache. In: Bernt Ahrenholz (Hrsg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen 2010, S. 107–132, hier S. 116. 25 Vgl. u. a. Björn Onken: Theorie und Praxis im Konflikt. Überlegungen zur Narrativität von Verfassertexten in Geschichtsschulbüchern. In: Martin Buchsteiner/Martin Nitsche (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Wiesbaden 2016, S. 69–84; Viola Schrader: Geschichte als narrative Konstruktion. Eine funktional-linguistische Analyse von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern. Berlin 2013; Müller (Anm. 7). 26 Vgl. auch den Forschungsstand bei Christoph Bramann: Historisch Denken lernen mit Schulbuchaufgaben? Medienspezifische Analyse von Arbeitsaufträgen in österreichischen Geschichtsschulbüchern. In: Bramann/Kühberger/Bernhard (Anm. 2), S. 181–214, hier S. 189f. 27 Vgl. u. a. Andreas Michler: Arbeitsauftrage in den Schulbüchern. Anleitungen zum historischen Lernen über das Mittelalter? In: Martin Clauss/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Das Bild des Mittelalters in europäischen Schulbüchern. Berlin 2007, S. 271–302, hier S. 301. 28 Vgl. Simone Lankes/Holger Thünemann: Historisch denken lernen mit aktuellen Schulgeschichtsbüchern? In: Erziehung und Unterricht 167 (2017) H. 9/10, S. 945–953, hier S. 951. 29 Vgl. Nicola Brauch/Hannah Westphal/Jaron Sternheim: Fostering Competencies of Historical Reasoning Based on Cognitive Activating Tasks in Schoolbooks? In: Eva Matthes/Sylvia Schütze (Hrsg.): Aufgaben im Schulbuch. Bad Heilbrunn 2011, S. 237–249, hier S. 246; Veronika Wild: Aufgaben im Geschichtsschulbuch: Eine Schulbuchanalyse aus didaktischer Perspektive. Universität Passau 2012, S. 58f.; Roland Bernhard: Lernaufgaben zur Förderung historischer Denkprozesse. In: Eva Matthes/Sylvia Schütze (Hrsg.): Schulbücher auf dem Prüfstand. Textbooks Under Scrutiny. Bad Heilbrunn 2016, S. 243–252, hier S. 251, sowie den hier untersuchten Aufgabenkorpus betreffend Bramann (Anm. 9), S. 170–176. 30 Vgl. Heuer (Anm. 11), S. 940–942 und Bramann (Anm. 2), S. 200–206. Vgl. auch bereits Jörn Rüsen: Das ideale Schulbuch: Überlegungen zum Leitmedium des Geschichtsunterrichts. In: Internationale Schulbuchforschung 14 (1992) H. 3, S. 237–250, hier S. 244.
(Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben
171
Die Erforschung spezifisch fachsprachbildender Aspekte von Schulbuchaufgaben scheint hingegen erst am Anfang zu stehen.31 Im Anschluss an die bisherigen Ansätze sprachbildender Aufgabenforschungen liegt der Fokus hier besonders auf den verwendeten Operatoren und den dahinter liegenden (fach-) sprachlichen Umsetzungsformen. So zeigte eine im Jahr 2012 publizierte Analyse deutscher Geschichts- und Politikschulbücher beispielsweise, dass in den Büchern die Nutzung von Operatoren zwar bereits weitgehend umgesetzt werde, es jedoch zusätzlich notwendig sei, die dadurch erwarteten sprachlichen und fachlichen Anforderungen für die Lernenden »aufzuschlüsseln« und damit transparent zu machen, welche konkreten fachsprachlichen Handlungen die Arbeitsaufträge von ihnen letztlich erfordern.32 Eine an anderer Stelle veröffentlichte Detail-Analyse von Schulbuchaufgaben zum Operator »Begründen« kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass Aufgaben zum »echten Begründen« nicht nur die Nutzung eines Operators, sondern vor allem auch ein passendes »Begründe Setting« im Umfeld der Aufgabe benötigen.33 Dieses müsse sowohl die zur Bearbeitung benötigten kognitiven Anforderungen, als auch das zur Verfügung gestellte Material genauer aufeinander abstimmen, weil sonst selbst »Begründe«-Aufgaben auf einer rein reproduktiven Ebene verharren könnten.34 Auch andere Forschungen zu Schulbuchaufgaben heben hervor, dass sich die vermeintlich eindeutige Zuordnung von Operatoren zu einzelnen kognitiven Anforderungsbereichen ohne Beachtung des weiteren Aufgabenkontextes vorschnell als »lerntaxonomischer Kurzschluss« herausstellen kann.35 So wurde jüngst gezeigt, dass selbst der Operator »zusammenfassen«, der gemeinhin dem ersten Anforderungsbereich zugeordnet wird, von Lernenden weitaus höhere kognitive Leistungen einfordern (kann) als die bloße reproduktive Wiedergabe eines Textinhalts.36 Das tatsächliche Niveau und die Komplexität einer Schulbuchaufgabe offenbaren sich demnach erst über die wechselseitigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Medienbausteinen einer Schulbuch-
31 Siehe hierzu die ersten Ansätze bei Altun/Günther (Anm. 5); Oleschko/Moraitis (Anm. 7), S. 27–37; Böing u. a. (Anm. 7), S. 85; Lochon-Wagner (Anm. 7), S. 20–23; Müller (Anm. 7); Sieberkrob (Anm. 5). 32 Oleschko/Moraitis (Anm. 7), S. 34. 33 Vgl. Altun/Günther (Anm. 5), S. 174. 34 Vgl. Ebd. 35 Vgl. Monika Waldis: Fachdidaktische Analyse von Aufgaben in Geschichte. In: Thorsten Bohl u. a. (Hrsg.): Lern- und Leistungsaufgaben im Unterricht. Bad Heilbrunn 2013, S. 145–162, hier S. 150; Bramann (Anm. 2), S. 198f. 36 Vgl. Nicola Brauch: »Fasse den Verfassertext zusammen!« Aufgaben im Geschichtsschulbuch – eine explorative Einzelfallanalyse. In: Kühberger/Bernhard/Bramann (Anm. 9), S. 185–205, sowie ähnlich bereits Schreiber/Schöner/Sochatzy (Anm. 8), S. 80f.
172
Christoph Bramann
doppelseite.37 Die Notwendigkeit der sinnvollen Verknüpfung von Aufgabenstellung und Materialarrangement zeigt sich daher insbesondere auch im Kontext sprachbildender Zugänge.38
3.
Leitfragen, Sample und methodisches Vorgehen
Unter Bezug auf den vorgestellten Fachdiskurs zu Schulbuchaufgaben im Kontext einer sprachbildenden Aufgabenkultur stehen in der vorgestellten Aufgabenanalyse folgende Leitfragen im Fokus: 1. Werden in den Schulbuchaufgaben Operatoren verwendet, um die erwarteten fachsprachlichen Handlungen zu explizieren? Welche Sprachhandlungen stehen dabei im Zentrum? 2. Stellen die Bücher Material zur Verfügung mit dem die in den Schulbuchaufgaben geforderten fachlichen Sprachhandlungen unterstützt und umgesetzt werden sollen? Um welches Material handelt es sich dabei? 3. Wie zeigt sich der Zusammenhang zwischen Schulbuchaufgaben zur Sprachhandlung »Erklären« und dem hierfür zur Verfügung gestellten Schulbuchmaterial in zwei konkreten Fallbeispielen? Die Auswertung der Schulbuchaufgaben erfolgt anhand einer kategorialen Analyse, die als Methode zur Erforschung von Schulbüchern innerhalb der Geschichtsdidaktik mittlerweile als etabliert gelten kann.39 Dabei werden bestimmte Aspekte von Geschichtsschulbüchern – wie hier die Schulbuchaufgaben – anhand festgelegter Kategorien kodiert und anschließend ausgewertet und interpretiert. Das zentrale Analyseinstrument ist das zugrundeliegende Kategoriensystem, das die intersubjektive Überprüfbarkeit und Vergleichbarkeit der Ana37 Vgl. auch die Ergebnisse bei Christoph Kühberger u. a.: Task Complexity in History Textbooks: A Multidisciplinary Case Study on Triangulation in History Education Research. In: History Education Research Journal 16 (2019) H. 1, S. 139–157, hier S. 144f. Zum Aspekt der spezifischen Multimodalität und Intertextualität von Geschichtsschulbüchern vgl. grundlegend Christoph Kühberger: Multimodale Narration. Bild-Text-Graphik-Kommunikation in Schulgeschichtsbüchern. In: Carsten Heinze/Eva Matthes (Hrsg.): Das Bild im Schulbuch. Bad Heilbrunn 2010, S. 43–55; Hans-Jürgen Pandel: Was macht ein Schulbuch zu einem Geschichtsbuch? Ein Versuch über Kohärenz und Intertextualität. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. Berlin 2. Aufl. 2011, S. 15– 37. 38 Vgl. Sieberkrob (Anm. 5), S. 122; Altun/Günther (Anm. 5), S. 174; Katharina Grannemann: Ideen und Perspektiven zur Gestaltung von Lernmaterialien im sprachsensiblen Geschichtsunterricht. In: Grannemann/Oleschko/Kuchler (Anm. 5), S. 107–120, hier S. 110–113. 39 Vgl. u. a. Schreiber/Schöner/Sochatzy (Anm. 8); Etienne Schinkel: Schulbuchanalyse. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014) H. 7/8, S. 482–497, hier S. 491–494.
(Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben
173
lyse sicherstellen soll.40 Zur Reliabilitätsprüfung der Kategorien und Ergebnisse sollte zudem eine unabhängige Kodierung durch einen zweiten Codierer durchgeführt werden, auf deren Basis die Reliabilität anhand des erweiterten Kappa-Koeffizienten quantifiziert werden kann.41 Das Nennen verschiedener Beispielaufgaben sowie die detaillierte Beschreibung zweier Einzelfallanalysen soll das Vorgehen zusätzlich transparent machen. Die zugrundeliegende Codiereinheit der folgenden Analyse bildet eine Schulbuchaufgabe. Diese wird innerhalb der Struktur eines Schulbuchs als kleinstmögliche, visuell abgrenzbare Einheit definiert, die sich von anderen Medienbausteinen – also auch anderen Schulbuchaufgaben – optisch unterscheiden lässt. Eine Schulbuchaufgabe kann hierbei sowohl aus einem als auch aus mehreren Arbeitsaufträgen bestehen. Das der Analyse zugrunde liege Untersuchungskorpus besteht aus 188 Schulbuchaufgaben aus 14 aktuellen österreichischen Geschichtsschulbüchern für die siebte Jahrgangsstufe Allgemeinbildender Höherer Schulen (in Deutschland: Gymnasien), und Neuer Mittelschulen (in Deutschland: Haupt- und Realschulen), aus den Abschnitten zum Themenkomplex Nationalismus.42 Alle Bücher waren für das Schuljahr 2016/2017 zuge-
40 Vgl. Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Weinheim/Basel 11. Aufl. 2010, S. 49; Schinkel (Anm. 39), S. 493. 41 Da es sich bei der vorliegenden Analyse um einen kleinen Teilausschnitt eines laufenden Promotionsprojektes handelt, erfolgt die endgültige Reliabilitätsprüfung der hier vorgestellten Kategorien anhand eines erweiterten Kappa-Koeffizienten erst nach der Gesamtanalyse des Datenmaterials. Teile des Analyserasters wurden jedoch bereits einer mehrfachen Reliabilitätsprüfung unterzogen, vgl. Bramann (Anm. 9), S. 167–176. 42 Es handelt sich um ein Untersuchungskorpus, mit dem bereits an anderer Stelle kategorialanalytisch gearbeitet worden ist, vgl. ausführlich Bramann (Anm. 2), 190f.; die Analyse beschränkte sich auf die Schüler*innenbände der Schulbuchreihen: [SB01] Michael Bachlechner: Bausteine 3. Geschichte, Sozialkunde, Politische Bildung. Wien 2012; [SB02] Christine Kreiner/Heinz Amler/Gerhard Huber: Einst und heute 3 – Chronologisch. Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung. Wien 2012; [SB03] Christine Baumgartner-Lemberger: Genial! Geschichte 3. Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung. Wien 2. Aufl. 2014; [SB04] Elisabeth Monyk/Eva Schreiner/Elisabeth Mann: Geschichte für alle 3. Wien 3. Aufl. 2012; [SB05] Margit Feyerer-Fleischanderl u. a.: Geschichte live 3. Geschichte, Sozialkunde/Politische Bildung. Linz 2. Aufl. 2011; [SB06] Anneliese Gidl/Günther Leutgöb: Geschichte schreiben 3. Geschichte und Sozialkunde – Politische Bildung. Wien 2011; [SB07] Gerhard Donhauser/Ludwig Bernlochner et al.: Geschichte und Geschehen 3. Wien 2008; [SB08] Margot Graf/Franz Halbartschlager/Martina Vogel-Waldhütter: MEHRfach Geschichte 3. Linz 2. Aufl. 2015; [SB09] Jutta Hofer/Bettina Paireder: Netzwerk Geschichte Politik 3. Linz 2012; [SB10] Michael Lemberger: VG – Durch die Vergangenheit zur Gegenwart 3. Linz 2007; [SB11] Alois Scheucher/Anton Wald/Ulrike Ebenhoch: Zeitbilder 3. Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung. [HS, AHS – Unterstufe], Wien 2013; [SB12] Heinz Amler u. a.: ZeitenBlicke. Geschichte und Sozialkunde, Politische Bildung. Wien 2010; [SB13] Robert Beier/ Ute Leonhardt: Zeitfenster 3. Geschichte und Sozialkunde. Wien 2010; [SB14] Ute Leonhardt/ Robert Donner: Zeitfenster 3 duo. Geschichte, Sozialkunde, politische Bildung. Wien 2015. Es handelt sich damit um eine Vollerhebung der im Schuljahr 2016/2017 als »kompetenzori-
174
Christoph Bramann
lassen und laut Schulbuchliste offiziell hinsichtlich der kompetenzorientierten Lehrpläne für das Unterrichtsfach Geschichte und Sozialkunde/ Politische Bildung approbiert.43 Die zur Beantwortung der genannten Forschungsfragen definierten Kategorien werden im Folgenden jeweils kurz vorgestellt, bevor anschließend die Ergebnisse der Analyse präsentiert werden.
4.
Analyse und Ergebnisse
4.1
Aufgabenstellung: Verwendung von Operatoren
Zur Überprüfung der in Schulbuchaufgaben verwendeten Operatoren als Ausdruck fachlich konkretisierter Sprach- und Denkhandlungen kann auf verschiedene katalogartige Zusammenstellungen fachspezifischer Operatoren zurückgegriffen werden,44 wie sie in Deutschland beispielsweise in den einheitlichen Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung im Fach Geschichte festgelegt wurden.45 Die folgende Analyse österreichischer Geschichtsschulbücher erfolgte auf Grundlage der in den österreichischen Richtlinien zur kompetenzorientierten Reifeprüfung im Fach Geschichte und Sozialkunde/ Politische Bildung definierten Operatoren, die auf der Basis der Richtlinien einzelner deutscher Bundesländer »adaptiv erstellt und erweitert« wurden.46
43 44 45 46
entiert« approbierten Geschichtsschulbuchreihen in Österreich. In SB13 fanden sich in den analysierten Abschnitten keine Arbeitsaufträge. Auf welches Lehrplankonzept sich ein Schulbuch bezieht, ist in online frei zugänglichen Zulassungslisten (»Schulbuchaktion«) über die Zusätze »Lehrplan 2008« oder »Lehrplan 2012« gekennzeichnet. Vgl. auch das Vorgehen bei Michler (Anm. 27); Wild (Anm. 29); Bramann (Anm. 2); Schreiber/ Schöner/Sochatzy (Anm. 8), S. 80; Philipp Mittnik: Holocaust-Darstellung in Schulbüchern. Deutsche, österreichische und englische Lehrwerke im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2017. Vgl. Kultusministerkonferenz (KMK): Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Geschichte. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01. 12. 1989 i. d. F. vom 10. 02. 2005. Bonn 2005, S. 6–8. Vgl. Christoph Kühberger: Operatoren als strukturierende Elemente von Aufgabenstellungen für Geschichte und Sozialkunde, Politische Bildung. In: Bundesministerium für Bildung und Frauen (BMBF) (Hrsg.): Die kompetenzorientierte mündliche Reifeprüfung in den Unterrichtsgegenständen Geschichte und Sozialkunde, Politische Bildung. Wien 2011, S. 15–20, hier S. 17–19; zuerst publiziert in Christoph Kühberger: Aufgabenarchitektur für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht. In: Historische Sozialkunde 41 (2011) H. 1, S. 3–13.
175
(Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben
SbA mit mindestestens einem Operator 39%
SbA ohne Operator 61%
Abb. 1: Anteil der Schulbuchaufgaben am Gesamtkorpus (n=188), die mindestens einen Operator beinhalten (nach Bramann 2018).47
Während hinsichtlich deutscher Geschichtsschulbücher immer wieder gezeigt wird, dass viele der »W-Fragen« bereits durch mit Operatoren-gestütze Aufgabenformulierungen abgelöst worden sind,48 zeigt sich für österreichische Geschichtsschulbücher bislang ein anderes Bild.49 Wie bereits an anderer Stelle gezeigt wurde, verwenden lediglich etwa ein Drittel der untersuchten Schulbuchaufgaben Operatoren (74 von 188) (Abb. 1). Die Mehrheit der Schulbuchaufgaben besteht hingegen aus W-Fragen, wie »Warum wurde die Habsburgermonarchie geteilt?«50 oder allgemeinen Aufforderungen mit teils unbestimmten Operatoren, wie »Arbeite mit M1! Schreibe die Zahlen aus der Bildlegende in die Kreise zu den Bildern!«51. In den 74 Schulbuchaufgaben (= 83 einzelne Arbeitsaufträge), die mindestens einen Operator verwenden, kommen dabei insgesamt 19 verschiedene Operatoren zum Einsatz (Abb. 2). Hinsichtlich der Häufigkeit ihrer Verwendung zeigt sich eine klare Dominanz von Operatoren aus dem ersten (43 %) und dem zweiten Anforderungsbereich (39 %).52 Alleine die Operatoren »nennen«, »beschreiben« und »erklären« machen hierbei 55 % der im Untersuchungskorpus verwendeten Operatoren aus, womit sich in der Tendenz die Ergebnisse bisheriger deutscher Schulbuchanalysen bestätigen lassen, wonach diese Operatoren
47 Für die Ergebnisse siehe bereits Bramann (Anm. 2), S. 198. Dadurch dass sich Schulbuchaufgaben aus mehreren Arbeitsaufträgen zusammensetzen können, können in einer Schulbuchaufgabe grundsätzlich auch mehrere Operatoren verwendet werden. 48 Vgl. Schinkel (Anm. 39), S. 484. Vgl. auch die Ergebnisse bei Oleschko/Moraitis (Anm. 7). 49 Vgl. u. a. Mittnik (Anm. 44). 50 Amler u. a. (Anm. 42), S. 148. 51 Bachlechner (Anm. 42), S. 95. 52 Zur Problematik der vermeintlich eindeutigen Zuordnung von Operatoren zu einzelnen Anforderungsbereichen siehe die Ausführungen weiter oben.
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Christoph Bramann
untersuchen formulieren definieren aufzeigen beurteilen zuordnen überprüfen interpretieren herausarbeiten auflisten gestalten erläutern begründen zusammenfassen vergleichen diskutieren nennen erklären beschreiben 0
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Abb. 2: In den Operator-gestützten Schulbuchaufgaben (n=74) sowie den darin enthaltenen Arbeitsaufträgen (n=83) zum Einsatz kommende Operatoren.
zu den am häufigsten verwendeten in Geschichtsschulbüchern der Sekundarstufe I gehören.53
4.2
Aufgabenkontext: Zur fachsprachlichen Umsetzung bereitgestelltes Schulbuchmaterial
Auf der Basis vorliegender Systematisierungen von Medienbausteinen in Geschichtsschulbüchern wurden für die vorliegende Analyse vier verschiedene Kategorien von Schulbuchmaterial definiert: (1) Autor*innentexte (als medienspezifische historische Darstellungen); (2) Bild- und Textquellen (als Zeugnissen der Vergangenheit); (3) Darstellungen (im Sinne schriftlicher oder visueller Interpretationen über die Vergangenheit); sowie (4) sonstige Ausführungen und Visualisierungen, die nicht als spezifisch historisch anzusehen sind, wie
53 Vgl. Tülay Altun/Katrin Günther: Operatoren am Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II als Vorbereitung auf wissenschaftspropädeutisches Arbeiten in der Sekundarstufe II? Eine Auszählung von Aufgabenstellungen in 10 Schulbüchern der Sekundarstufen I und II (Februar 2015), S. 4–6 (https://www.uni-due.de/imperia/md/content/ prodaz/altun_g%C3%BCnther_operatoren.pdf, aufgerufen am 8. 5. 2020).
177
(Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben
beispielsweise aktuelle Fotografien oder Gesetzestexte.54 Dabei wurde zunächst nur solches Material als mit einer Schulbuchaufgabe verknüpft codiert, das durch die Aufgabenstellung explizit vorgegeben war. War dies nicht der Fall, wurde anhand von Einzelfallprüfungen jeweils festgelegt, welches Schulbuchmaterial zur Bearbeitung einer Aufgabe tatsächlich benötigt werden könnte.55 200
SbA (gesamt)
SbA mit Operator SbA ohne Operator
180 160 140 120 100 80 60 40 20 0
Mit einem Mit Mit Mit oder mehreren Autor*innentexten historischen Quellen historischen Materialbaustein(en) verknüpfte SbA verknüpfte SbA Darstellungen verknüpfte SbA verknüpfte SbA
Gesamtzahl der SbA
Mit sonstigen Ausführungen und Visualisierungen verknüpfte SbA
Abb. 3: Anzahl und Art des mit Schulbuchaufgaben (SbA) (n=188) verknüpften Schulbuchmaterials.56
Dabei konnte bereits an anderer Stelle gezeigt werden, dass immerhin drei Viertel der untersuchten Schulbuchaufgaben (74 %) mit dem zur Verfügung gestellten Material bearbeitet werden sollen (Abb. 3; dunkelgraue Balken). Umgekehrt verweist damit jede fünfte Aufgabe (20 %) auf kein spezifisch ausgewiesenes Material, womit sich grundsätzlich die Ergebnisse bisheriger Analysen bestätigen 54 Die vorhandenen Systematiken (vgl. Bernd Schönemann/Holger Thünemann: Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis. Schwalbach/Ts. 2010, S. 81–98; Pandel [Anm. 37], S. 18–27) wurden deduktiv adaptiert und erweitert. Die letzte Kategorie ist notwendig, weil in Österreich im Fächerverbund »Geschichte und Sozialkunde/ Politische Bildung« explizit auch politische Kompetenzen gefördert werden sollen, vgl. Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Anm. 15); Bundesministerium für Bildung und Frauen (Anm. 15). Siehe ausführlich auch Bramann (Anm. 2), S. 202–204. 55 Implizite Bezüge auf illustrative Bilder oder Ausführungen wurden hierbei nur kodiert, wenn diese einen Mehrwert an eigener Information für die Bearbeitung einer Schulbuchaufgabe boten (also über eine illustrative Funktion hinausgingen). 56 Da einige der Schulbuchaufgaben auf mehr als einen Materialbaustein verweisen, entspricht die Summe aller verknüpften Materialien (Säulen rechts der gestrichelten Linie) nicht der Gesamtanzahl der Schulbuchaufgaben, die mit Schulbuchmaterial verknüpft sind. Die Darstellung basiert auf einer Erweiterung der Ergebnisse bei Bramann (Anm. 2), S. 203.
178
Christoph Bramann
lassen.57 Als weitere Auffälligkeit zeigt die vorliegende Analyse, dass operatorengestützte Aufgaben weitaus häufiger mit Schulbuchmaterial bearbeitet werden sollen (insgesamt 97 %; siehe die beiden linken hellgrauen Balken), als Aufgaben ohne Operator (insgesamt 64 %; siehe die beiden linken weißen Balken). Ein Blick auf das konkret in Verbindung mit den Schulbuchaufgaben stehende Material zeigt zudem, dass sich der überwiegende Teil aller mit Schulbuchmaterial verknüpften Schulbuchaufgaben (n=140) auf verschiedene Formen von Autor*innentexten bezieht (insgesamt 102 SbA).58 Auf historische Quellen und historische Darstellungen als Kernmaterial des Geschichtsunterrichts verweisen lediglich je etwa ein Drittel der Aufgaben (49 bzw. 47 SbA).59 Die Ergebnisse von Analysen deutscher Schulbuchaufgaben, die einen quantitativ höheren Bezug zu Quellentexten und einen weitaus geringeren zu Autor*innentexten feststellten,60 lassen sich anhand der vorliegenden Daten daher nicht bestätigen. Wie sich die Verbindung zwischen Schulbuchaufgaben und Schulbuchmaterialien im konkreten Fall darstellen kann, und inwiefern dabei eine fachsprachliche Bearbeitung der Schulbuchaufgaben unterstützt wird, soll im Folgenden anhand zweier Fallbeispiele zum Operator »erklären« veranschaulicht werden.
4.3
Fallbeispiele zur fachlichen Sprachhandlung »Erklären«
Die Sprachhandlung »Erklären« (engl.: explaining) gilt fachübergreifend als eine der im schulischen Kontext am häufigsten geforderten Denk- und Sprachhandlungen.61 Nach der lernpsychologischen Taxonomie des Teams um Lorin Anderson verlangt »Erklären« dabei im allgemeinen Sinne »gedanklich ein Ursache-Wirkungs-Modell [zu] konstruieren«.62 Während auch der österreichische 57 Michler (Anm. 27), S. 293, fand in seiner Analyse von 120 Arbeitsaufträgen aus deutschen, englischen und französischen Geschichtsschulbüchern heraus, dass ca. ein Fünftel (n=26) der Aufgaben Schulbuchelemente »explizit ausblenden«; auch nach Mittnik (Anm. 44), S. 202, können in englischen, deutschen und österreichischen Geschichtsschulbüchern lediglich 52,2 Prozent der Schulbuchaufgaben mit dem Schulbuchmaterial gelöst werden. 58 Etwa ein Viertel (24 Prozent) der mit Schulbuchmaterial verknüpften Aufgaben verweisen ausschließlich auf ›klassische‹ Autor*innentexte ohne zusätzlich weiteres Material mit einzubeziehen. 59 In beiden Fällen überwiegen Formen visueller Darstellungen deutlich (bildliche Quellen 73 %; Geschichtskarten und Rekonstruktionszeichnungen 68 %). 60 Vgl. Michler (Anm. 27), S. 293; Wild (Anm. 29), S. 57. 61 Vgl. Vollmer/Thürmann (Anm. 24), S. 117. 62 Vgl. L. W. Anderson u. a.: A Taxonomy for Learning, Teaching, and Assessing. A Revision of Bloom’s Taxonomy of Educational objectives. New York 2001, zit. n. Jutta Mägdefrau/Andreas Michler: Arbeitsaufträge im Geschichtsunterricht. Diskrepanz zwischen Lehrerintention und didaktischem Potenzial? In: Bernd Ralle u. a. (Hrsg.): Lernaufgaben entwickeln, bearbeiten und überprüfen. Münster 2014, S. 105–119, hier S. 108.
(Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben
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Operatorenkatalog für Geschichte ein eher allgemeinsprachliches Verständnis von »Erklären« vertritt,63 bezeichnet fachspezifisch historisches Erklären nach dem Lexikon der Geschichtswissenschaft, »ein historisches Phänomen auf seine Ursachen und Bedingungen zurückzuführen«, indem es unter Berücksichtigung kausaler Beziehungen, als »Folge von (auch zeitlich) vor ihm liegenden Einflussfaktoren bestimmt« wird.64 Historische und gegenwärtige Ereignisse und Entwicklungen plausibel erklären zu können, ist als wichtige Ausdrucksform historischen Denkens65 daher implizit auch Bestandteil verschiedener nationaler wie internationaler Kompetenzmodelle für das Fach Geschichte.66 Auch wenn »historisches Erklären« im Fachdiskurs durchaus als »schwieriger Fall« bezeichnet wird, der »von der Fachdidaktik zurzeit wenig bis gar nicht beachtet« werde,67 existieren besonders in der internationalen Forschung bereits verschiedene Ansätze, um die für historisches Erklären notwendigen sprachlichen und fachlichen Handlungen offenzulegen und zu strukturieren.68 Bei der Betrachtung der folgenden Beispiele steht daher die Frage im Mittelpunkt, inwiefern die Schulbuchaufgaben und das zur Verfügung gestellte Material das eigenständige Erklären historischer Zustände, Ereignisse und Entwicklungen unter Einbeziehung temporaler und kausaler Strukturen fachsprachlich einfordern und unterstützen (können).
63 Kühberger (Anm. 46), S. 18: »Sachverhalte und Materialien durch eigenes (Vor)Wissen und eigene Einsichten in einen Zusammenhang (Theorie, Modell, Regel uvm.) einordnen und dies begründen.« 64 Thomas Welskopp: Erklären. In: Stefan Jordan (Hrsg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2002, S. 81–84, hier S. 81. 65 Vgl. Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u. a. 2013, S. 161–166. 66 Vgl. Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007; Jannet van Drie/Carla van Boxtel: Historical Reasoning: Towards a Framework for Analyzing Students’ Reasoning about the Past. In: Educational Psychology Review 20 (2008) H. 2, S. 87–110. Zu den geschichtstheoretischen Grundlagen zum historischen »Erklären«, vgl. Rüsen (Anm. 65), S. 161–166; siehe hierzu auch die Ausführungen im Beitrag von Nicola Brauch, Lena Heine und Christoph Bramann in diesem Band. 67 Birgit Wenzel: Geschichte erklären. In: Rüdiger Vogt (Hrsg.): Erklären. Gesprächsanalytische und fachdidaktische Perspektiven. Tübingen 2016, S. 169–187, hier S. 169 u. 186. 68 Vgl. u. a. Caroline Coffin: Historical Discourse. The Language of Time, Cause and Evaluation. London 2006, S. 67–75, 116–138; Arthur Chapman: Causal Explanation. In: Ian Davies (Hrsg.): Debates in History Teaching. London 2010, S. 130–143; Gerhard Stoel/van Drie Jannet/Carla van Boxtel: Teaching Towards Historical Expertise. Developing a Pedagogy for Fostering Causal Reasoning in History. In: Curriculum Studies 47 (2015) H. 1, S. 49–76.
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Christoph Bramann
Schulbuchaufgabe A Die erste Schulbuchaufgabe (A) befindet sich in einem österreichischen Geschichtsschulbuch für die 7. Jahrgangsstufe auf einer Doppelseite zum Thema Nationalismus. Die Seite enthält zwei »klassische« Autor*innentexte sowie drei Abbildungen mit teils ausführlichen Bildunterschriften. In der rechten unteren Ecke befinden sich in einem optisch abgegrenzten Bereich sieben Schulbuchaufgaben (Abb. 4). he Sprachhandlungen ermöglichen. ermöglichen gaben aben im Kontext einer einer Aufgabenkultur historischen his rischen Lernens Überschrift Abbildung
Kopfleiste
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Autor*innentext T1
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Autor*innentext T2
1. 2. 3. 4.
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6. 7.
Schulbuchaufgabe A
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Abb. 4: Schematische Darstellung der Doppelseite zu Schulbuchaufgabe A.69
Die auf der Doppelseite analysierte Schulbuchaufgabe (A) lautet: »Erkläre! Was war die Idee des Nationalismus? Wie war ihre Verwirklichung? (T1)«70
Bereits aus der Aufgabenstellung gehen zwei relevante Aspekte hervor: zum einen wird das zur Lösung zur Verfügung gestellte Material »T1« im Aufgabentext schon explizit vorgegeben. Schüler*innen werden dazu angehalten, das übrige optisch stark hervortretende Bildmaterial nicht in die Bearbeitung einzubezie69 Original-Schulbuchseite aus Bachlechner (Anm. 42), S. 88f. Die hier besprochenen Elemente sind eingekreist. 70 Ebd., S. 89.
(Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben
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hen, sondern sich ausschließlich auf einen Autor*innentext T1 mit der Überschrift »Der Nationalismus« zu beziehen. Zum anderen kann festgestellt werden, dass die Schulbuchaufgabe zwei Arbeitsaufträge umfasst: »Was war die Idee des Nationalismus?« und »Wie war ihre Verwirklichung?« Adaptiert könnten die beiden Arbeitsaufträge also so formuliert werden: Adaption der Schulbuchaufgabe A: A(1). Erkläre anhand von T1 die Idee des Nationalismus. A(2). Erkläre anhand von T1, wie die Idee des Nationalismus verwirklicht wurde.
Der zur Bearbeitung der beiden Arbeitsaufträge vorgesehene Autor*innentext T1 lautet: Autor*innentext T1: »Nach dem Wiener Kongress wurde in vielen Ländern Europas wieder die alte Ordnung hergestellt. Die Fürsten hielten an ihren ererbten Rechten fest. Meist fühlten sich die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Länder mit ihren Herrschern verbunden. Allmählich jedoch kam in Europa die Idee auf, dass in einem Staat nur Menschen mit einer gleichen geschichtlichen Vergangenheit, einer gleichen Sprache und einer gleichen Kultur leben sollten. Diese neue Idee nannte man Nationalismus. In manchen Fällen, wie in Italien oder in Deutschland, lebten Menschen, die diese Gemeinsamkeiten hatten, in vielen verschiedenen kleinen Staaten. In anderen Staaten, wie zum Beispiel im Reich der Habsburger, lebten Menschen mit sehr unterschiedlichen Sprachen und Kulturen zusammen. Viele Nationalisten waren bereit, ihre Wünsche nach einem eigenen Staat, einer Nation, auch mit Gewalt durchzusetzen.«71
Eine adaptiv erstellte mögliche Lösung der Teilschulbuchaufgabe A (1) könnte auf Basis des zur Verfügung gestellten Schulbuchtextes (vor allem des ersten Absatzes) beispielsweise folgende sein: Teil-Schulbuchaufgabe A(1): Erkläre anhand von T1 die Idee des Nationalismus. Mögliche Antwort: Die Idee des Nationalismus war, dass in einem Staat nur Menschen mit einer gleichen geschichtlichen Vergangenheit, einer gleichen Sprache und einer gleichen Kultur leben sollten.
Für die Bearbeitung des Auftrags wird damit weder die Herstellung eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs noch die Konstruktion temporaler oder gar kausaler Zusammenhänge benötigt. Das Material bietet zudem keine Voraussetzungen zur Umsetzung solcher Sprachhandlungen. Höchstens die Verknüpfung zweier Zeitpunkte und damit einer temporalen Verbindung erscheint auf Basis des Autor*innentextes möglich. Auch wenn der Auftrag diese nicht explizit 71 Ebd., S. 88.
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Christoph Bramann
erfordert, wäre im Rahmen einer (freiwilligen) erweiterten Bearbeitung dann zumindest folgende Antwort möglich: Mögliche erweiterte Antwort auf Schulbuchaufgabe A(1): Früher fühlten sich die Bewohnerinnen und Bewohner Länder mit ihren Herrschern verbunden. Doch dann kam die Idee des Nationalismus auf. Diese Idee beinhaltete, dass in einem Staat nur Menschen mit einer gleichen geschichtlichen Vergangenheit, einer gleichen Sprache und einer gleichen Kultur leben sollten.
In beiden Fällen wird jedoch deutlich, dass der Auftrag nicht darauf abzielt, etwas historisch zu »erklären« und damit eine fachspezifische Sprachhandlung umzusetzen. Die Teilaufgabe erfordert stattdessen die inhaltliche Beschreibung einer politischen Ideologie auf der Basis eines vorgegebenen Textbausteins. Damit verbunden zeigt sich zudem, dass zur Bearbeitung des Auftrags keine kognitiven Anforderungen aus dem zweiten Anforderungsbereich (Reorganisation, Transfer) benötigt werden, dem der Operator »Erkläre« allgemein zugeordnet wird.72 Der gewählte Operator ist damit auch lerntaxonomisch betrachtet nicht passend gewählt.73 Ähnliches gilt für den zweiten Arbeitsauftrag der Schulbuchaufgabe A (2), der ebenfalls ausschließlich auf Basis einer adaptierten Reproduktion von Teilen der vorgegebenen Textvorlage bearbeitet werden kann. Hier könnte eine mögliche Antwort lauten: Teil-Schulbuchaufgabe A(2): Erkläre anhand von T1, wie die die Idee des Nationalismus verwirklicht wurde. Mögliche Antwort: In den Ländern herrschten verschiedene Voraussetzungen zur Umsetzung der Idee des Nationalismus. Viele Nationalisten waren bereit, ihre Wünsche nach einem eigenen Staat, einer Nation, auch mit Gewalt durchzusetzen.
Auch wenn vor allem bei diesem zweiten Auftrag die multimodale Struktur der Schulbuchdoppelseite durchaus dazu einlädt, bei der Bearbeitung auch auf andere Medienbausteine, wie auf einen Autoren*innentext über die Einigung Italiens (T2) oder auf große Abbildungen samt Bildunterschriften zu Giuseppe Garibaldis »Rothemden« oder auf die »Schlacht von Solferino« (M3) zurückzugreifen, wird deren Verwendung weder verlangt, noch würde eine solche Bearbeitung die Antwort perspektivisch erweitern, da hierdurch lediglich das bestehende Narrativ des Autor*innentextes wiederholt würde. Wie in der ersten Teilaufgabe zeigt sich hinsichtlich des geforderten »Erklärens« damit auch hier
72 Vgl. Kultusministerkonferenz (KMK) (Anm. 45), S. 6; Kühberger (Anm. 46), S. 18. 73 Zur lerntaxonomischen Passung von Schulbuchaufgaben vgl. Bramann (Anm. 2), S. 198f.
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eine fehlende Unterstützung der geforderten Fachsprachhandlung sowie die lerntaxonomisch unpassende Verwendung des Operators. Schulbuchaufgabe B Auch das zweite Aufgabenbeispiel (B) stammt aus einem österreichischen Geschichtsschulbuch für die 7. Jahrgangsstufe (Abb. 5) und lautet: »Erkläre die Entwicklung ab 1815!«74 e Sprachhandlungen ermöglichen. aben im Kontext einer Aufgabenkultur f historischen orischen Lernens Überschrift Lorem ipsum dolor sit amet, consetetur sadipscing elitr, sed diam nonumy eirmod tempor sadipscing elitr, sed diam nonumy. Lorem ipsum dolor sit amet, consetetur sadipscing elitr, sed diam nonumy eirmod tempor sadipscing elitr, sed diam nonumy. Lorem ipsum dolor sit amet, consetetur sadipscing elitr, sed diam nonumy eirmod. Lorem ipsum dolor sit amet, consetetur sadipscing elitr,
Autor*innentext
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Kopfleiste
Schulbuchaufgabe B Erkläre die Entwicklungen ab 1815! Aspekt 1:
Aspekt 2 Aspekt 3: Aspekt 4:
Vorgegebene Stichpunkte + Schreiblinien
Aspekt 5:
Abbildung (Geschichtskarte)
Aspekt 6:
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Schulbuchaufgabe
Schulbuchaufgabe
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Sonstiger Paratext
Abb. 5: Schematische Darstellung der Doppelseite zu Schulbuchaufgabe B.75
Im Gegensatz zur zuvor analysierten Doppelseite sind die Schulbuchaufgaben hier dezentral organisiert und damit optisch direkt bestimmten Medienbausteinen zugeordnet (Abb. 5). Für die Bearbeitung der hier in den Blick genommenen Schulbuchaufgabe (B) stehen bereits linierte Zeilen zur Verfügung, die zusätzlich durch sechs vorgegebene Stichpunkte vorstrukturiert sind: »Absolute Monarchien«, »Parlamentarische Monarchien und Monarchien mit Gewaltenteilung«, »Republik«, »Erhebungen/Revolutionen«, »Neue Staaten«, »Staaten mit 74 Baumgartner-Lemberger (Anm. 42), S. 111. 75 Original-Schulbuchseite aus ebd., S. 110f. Die hier besprochenen Elemente sind eingekreist.
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Christoph Bramann
neuer Verfassung«.76 Das weitere zur Bearbeitung vorgesehene Schulbuchmaterial wird zwar nicht über den Aufgabentext vorgegeben, aus der farblichen Zuordnung ergibt sich jedoch, dass hierfür eine große Geschichtskarte und ein kurzer Autor*innentext auf der gegenüberliegenden Schulbuchseite herangezogen werden sollen. In dem 4-zeiligen Autor*innentext werden – beinahe fragmentarisch – verschiedene Entwicklungen ab 1830 (sic!) beschrieben: Autor*innentext: »1830 führte die Aufhebung der französischen Verfassung durch König Karl X. zur Revolution. Der Herrscher musste abdanken. In den Vereinigten Niederlanden erhoben sich darauf die südlichen Landesteile und erwirkten die Unabhängigkeit (Belgien). Im November erhoben sich die Polen gegen die Fremdherrschaft der Russen. Dieser Aufstand wurde jedoch von den Russen gewaltsam niedergeschlagen.«77
Bei der Karte selber handelt es sich um eine komplexe Geschichtskarte, die sowohl räumliche (Verteilung der Länder im Raum Europa, Region eines Aufstandes), als auch zeitliche (Jahreszahl der Aufstände) und inhaltliche (Regierungs- und Staatssysteme) Informationen für die Zeit zwischen 1804 (sic!) und 1831 beinhaltet. Damit lassen sich aus dem Autor*innentext und der Karte zumindest für Teilaspekte des geforderten »Erklärens« der Entwicklungen ab 1815 Informationen ableiten, z. B. über das explizite Versprachlichen einzelner temporaler Zusammenhänge. So ließen sich beispielsweise die folgenden Aussagen generieren: Schulbuchaufgabe B: Erkläre die Entwicklung ab 1815! Ansätze für mögliche Antworten: (a) Die Aufhebung der französischen Verfassung durch König Karl X. führte 1830 zur Revolution. Der Herrscher musste daraufhin abdanken. (Bezugspunkt: Autor*innentext) (b) Das Königreich Griechenland wurde 1844 gegründet, nachdem dort 1821–1829 ein Aufstand stattgefunden hatte. (Bezugspunkt: Geschichtskarte) 78
In den meisten Fällen lassen sich aus den verschiedenen in der Karte genannten Jahreszahlen und Ereignissen allerdings nicht ohne weiteres kausale Zusammenhänge herstellen. Stattdessen werfen die vielschichtigen Informationen an vielen Stellen sogar weitere Fragen auf. Warum im Königreich Spanien im Jahr 1820 zwei Aufstände ausbrachen, obwohl in den Jahren 1812, 1820 und 1837 76 Ebd., S. 111. In Österreich sind die Geschichtsschulbücher Eigentum der Schüler*innen, sodass diese auch in sie hineinschreiben können. 77 Vgl. Ebd., S. 110. 78 Diese Beispiellösungen sollen lediglich exemplarisch veranschaulichen, wie eine Bearbeitung des Arbeitsauftrages auf der Grundlage des zur Verfügung gestellten Schulbuchmaterials aussehen könnte; sie beschreiben also keine historischen Entwicklungen.
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gleich drei Verfassungen verabschiedet worden sein sollen, lässt sich aus der Karte nicht ableiten. Auch warum in der Schweiz scheinbar jahrelang Aufstände tobten, obwohl die Eidgenossenschaft auf der Karte sogar explizit als einzige Republik hervorgehoben wird, bleibt unklar. Das geforderte »Erklären« von Entwicklungen kann die Karte daher kaum unterstützten. Dass mit dem Arbeitsauftrag kein fachsprachliches Erklären evoziert werden soll, zeigt sich auch an den zur Bearbeitung vorgesehenen vorstrukturierten Aspekten und Schreiblinien. Diese leiten nämlich offensichtlich dazu an, die entsprechenden zu einem Aspekt gehörenden Informationen stichpunktartig aus der Legende der Karte (in der exakt dieselben Aspekte aufgelistet sind) auf die Schreiblinien zu übertragen. Auf den Linien könnte auf diese Weise beispielsweise Folgendes eingetragen werden: Ansätze für mögliche Antworten auf Schulbuchaufgabe B (im vermuteten Sinn der Aufgabenkonstruktion): [Absolute Monarchien:] Königreich Dänemark, Königreich Preußen (Aufstand 1830), Königreich Polen (Aufstand 1831), Kaiserreich Russland (Aufstand 1825), Kaisertum Österreich, Königreich Sardinien (Aufstände 1820, 1821), Kirchstaat (Aufstand 1831), Königreich beider Sizilien (Aufstände 1820, 1830) […] [Republik:] Schweiz (Aufstände 1831–1845) […] [Neue Staaten:] Königreich Belgien (belgischer Aufstand 1830); Königreich Griechenland (griechischer Aufstand 1821–1829) [Staaten mit neuer Verfassung:] Königreich Norwegen (1814); Königreich Schweden (1809); Königreich Portugal (1821); Königreich Spanien (1812, 1820, 1837); Königreich Frankreich (1814, 1830); Vereinigte Niederlande (1815); Königreich Bayern (1818); Königreich Griechenland (1844)
Abgesehen von den offensichtlichen inhaltlichen und fachlichen Unschärfen, die – wie hier – durch die komplexen und teils missverständlichen Karteninformationen erzeugt werden können, zeigt sich aus fachsprachlicher Sicht auch bei dieser Schulbuchaufgabe, dass für ihre Bearbeitung letztlich kein fachliches Erklären erforderlich ist. Der Arbeitsauftrag scheint stattdessen auf basale Aspekte einer Kartenarbeit im Geschichtsunterricht zu fokussieren, die häufig »fast ausschließlich dem Auffinden oder der Lagevergewisserung historisch relevanter Sachverhalte« dient.79 Ob die Schulbuchaufgabe mit dem Übertragen einzelner Informationen aus der Kartenlegende auf vorgegebene Schreiblinien bereits einen Transfer verlangt und damit zumindest lerntaxonomisch passend for-
79 Christina Böttcher: Umgang mit Karten. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 5. Aufl. 2016, S. 225–254, hier S. 225.
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Christoph Bramann
muliert ist, mag zwar diskussionswürdig sein, die Umsetzung einer historischen Erklärung wird jedoch in jedem Fall weder unterstützt noch ermöglicht.
5.
Zusammenfassung und Ausblick
Durch die vorgestellte kategoriale Analyse der Schulbuchaufgaben konnte zunächst gezeigt werden, dass Operatoren in den untersuchten österreichischen Geschichtsschulbüchern nicht konsequent verwendet werden. Dies ist umso erstaunlicher vor dem Hintergrund, dass die untersuchten Bücher für das Jahr 2016/2017 approbiert waren und auch in Österreich bereits 2011 verbindliche Operatoren-Kataloge eingeführt worden sind. Zudem konnte festgestellt werden, dass bei den verwendeten Operatoren vor allem solche aus dem ersten und zweiten Anforderungsbereich dominieren, womit die Ergebnisse bisheriger deutscher Schulbuchanalysen auch für österreichische Geschichtsschulbücher bestätigt werden konnten. Hierbei zeigte sich, dass im untersuchten Korpus operatoren-gestützte Schulbuchaufgaben häufiger mit dem zur Verfügung gestellten Schulbuchmaterial bearbeitet werden können, als Schulbuchaufgaben ohne Operator. Dass dabei vor allem die reproduktive Arbeit mit Autor*innentexten im Zentrum zu stehen scheint, muss jedoch sowohl aus fachlicher als auch aus bildungsnormativer Sicht unbefriedigend erscheinen. Die bereits an anderer Stelle hervorgehobene Notwendigkeit der durchdachten Verbindung von Aufgabenstellung und Material,80 um die Umsetzung fachsprachlicher Handlungen – hier: des historischen Erklärens – zu unterstützen, konnte in der anschließenden Fallanalyse zweier exemplarischer Schulbuchaufgaben noch einmal in einer Detailaufnahme veranschaulicht werden. Hier öffnete sich der Blick insbesondere auf zwei mögliche Problemfelder bei der Verwendung von Operatoren im Kontext einer sprachbildenden Aufgabenkultur: Zum einen konnte gezeigt werden, dass der Operator »Erklären« in beiden Fällen nicht lerntaxonomisch passend verwendet wird und zum anderen, dass die Umsetzung der vom Operator geforderten fachlichen Sprachhandlung (und damit auch der fachlichen »Denk-«Handlung) historischen »Erklärens« durch das zur Verfügung gestellte Schulbuchmaterial – wenn überhaupt – lediglich in Ansätzen ermöglicht wird. Die Beispiele illustrieren damit das Theorie-, Kongruenz- und Funktionalitätsdefizit, das Holger Thünemann Operatoren in Geschichtsschulbüchern erst kürzlich bescheinigte.81 Auch wenn die Auswahl zweier »Negativ«-Beispiele aus dem Korpus natürlich nicht bedeutet, dass alle untersuchten Schulbuchaufgaben (auch nicht aus den 80 Vgl. Altun/Günther (Anm. 5), S. 170f.; Bramann (Anm. 9), S. 179f. 81 Vgl. Thünemann (Anm. 9), S. 60.
(Fach)sprachbildende Schulbuchaufgaben
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beiden ausgewählten Schulbuchreihen) in ähnlicher Weise konstruiert sind, legen bereits an anderer Stelle vorgestellte Ergebnisse zur taxonomischen Passung der hier untersuchten Schulbuchaufgaben die Vermutung nahe,82 dass einige Schulbuchautor*innen die Notwendigkeit einer durchdachten Verbindung zwischen Operator, erwarteter Sprachhandlung und dem hierfür bereit gestelltem Material bei der Konstruktion von (Schulbuch-)aufgaben zu unterschätzen scheinen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich einmal mehr, dass ein Geschichtsunterricht, der die Förderung fachlicher und fachsprachbildender Lernprozesse anstrebt, nicht allein von der Beschaffenheit der Schulbücher abhängen darf, sondern vor allem (auch) das Ergebnis eines professionellen Umgangs mit diesen im Kontext der Unterrichtsvorbereitung und -durchführung darstellt.83 Eine ausschnitthafte Analyse wie die präsentierte kann selbstverständlich nur Schlaglichter auf die Beschaffenheit aktueller Geschichtsschulbücher bieten. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass Aufgabenforschung im Kontext einer (fach-) sprachbildenden Aufgabenkultur historischen Lernens weiterhin verstärkt auf Aspekte der weiteren Lern- und Aufgabenumgebung fokussieren sollte. Neben dem Schulbuchmaterial sollte der Fokus hier unter anderem auf die Bereitstellung fachsprachlicher Hilfen,84 oder auf die sequenzielle Vernetzung der Schulbuchaufgaben untereinandergelegt werden, um zukünftig die Prozesshaftigkeit historischen Lernens85 – auch im Kontext fachsprachbildender Lernarrangements – verstärkt in den Blick nehmen zu können.
82 Vgl. Bramann (Anm. 2), S. 198f. Demnach verlangen 23 Prozent der hier untersuchten Schulbuchaufgaben (mit Operator) Anforderungen auf einem anderen Niveau als in den verschiedenen Operatorenkatalogen angegeben. 83 Vgl. bereits Alexander Schöner/Waltraud Schreiber: De-Konstruktion des Umgangs mit Geschichte in Schulbüchern. Vom Nutzen wissenschaftlicher Schulbuchanalysen für den Geschichtsunterricht. In: Waltraud Schreiber/Sylvia Mebus (Hrsg.): Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern. Neuried 2006, S. 21–32, hier S. 32; sowie aktuell Lochon-Wagner (Anm. 7), S. 20–23; Christoph Bramann: Schulbucharbeit – Ein Aspekt der Professionalisierung von Geschichtslehrkräften? In: Sebastian Barsch/Burkard Barte (Hrsg.): Motivation – Kognition – Reflexion. Schlaglichter auf Professionalisierungsprozesse in der Aus- und Fortbildung von Geschichtslehrpersonen. Frankfurt/M. 2020 (i. Dr.). 84 Stichproben in aktuellen deutschen Geschichtsschulbüchern ergaben, dass Hilfen bisher nur punktuell angeboten werden – selbst wenn die Bücher den Zusatz »differenzierend« führen, vgl. Christoph Bramann/Christoph Kühberger: Differenzierung in Geschichtsschulbüchern. Wege und Herausforderungen für einen inklusiven Geschichtsunterricht. In: Oliver Musenberg u. a. (Hrsg.): Historische Bildung inklusiv. Zur Rekonstruktion, Vermittlung und Aneignung vielfältiger Vergangenheiten. Bielefeld 2020 (i. Dr.). 85 Vgl. Hanna Kiper u. a.: Ermöglichen Aufgaben in Schulbüchern Lernen? In: Hanna Kiper u. a. (Hrsg.): Lernaufgaben und Lernmaterialien im kompetenzorientierten Unterricht. Stuttgart 2010, S. 155–166, hier S. 164f.
Charlotte Husemann
Fachspezifische Sprachhandlungen konkretisieren. Schüler*innentexte zum Beschreiben, Erklären und Begründen im Rahmen des Historischen Sachurteils
1.
Sprache und Geschichte – eine (noch immer) offene Frage?
Fachdidaktische Überlegungen zu Sprache und Geschichte sind zweifelsohne nicht neu, aber dennoch aktuell. Die Bedeutung von Sprache für den Geschichtsunterricht wurde als Teil des Gesamtkonzepts durchgängiger Sprachbildung sowohl für den Gegenstand als auch für das Medium historischen Lernens in zahlreichen Publikationen hervorgehoben. Entstanden sind beispielsweise Untersuchungen zur Textproduktion und -rezeption sowie zum Begriffslernen von Schüler*innen, aber auch Forschungsprojekte, die sich der Implementierung schreibförderlicher Settings für die Unterrichtspraxis widmen.1 Wenig verwunderlich ist also, dass Sprache im neuen Kernlehrplan für Gymnasien in Nordrhein-Westfalen als »notwendiges Hilfsmittel bei der Entwicklung von Kompetenzen« hervorgehoben und dem sprachlichen Lernen eine besondere Bedeutung beim Erwerb reflektierten Geschichtsbewusstseins zugeschrieben wird.2 Eine konkrete Bestimmung sprachlicher Kompetenzen oder die Operationalisierung bestehender Kompetenzerwartungen auf sprachlicher 1 Zur Sprache im Geschichtsunterricht z. B. Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster 2013, S. 317–334. Zum Textverstehen z. B. Manuel Köster: Historisches Textverstehen. Rezeption und Identifikation in der multiethnischen Gesellschaft. Münster 2013. Zum Begriffsverstehen: Bettina Alavi: Begriffsbildung im Geschichtsunterricht. Problemstellung und Befunde. In: Uwe Uffelmann/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Verstehen und Vermitteln. Armin Reese zum 65. Geburtstag. Idstein 2004, S. 39–61. Zur Textproduktion: Olaf Hartung: Geschichte – Schreiben – Lernen. Empirische Erkundungen zum konzeptionellen Schreibehandeln im Geschichtsunterricht. Berlin 2013. Zur Förderung von Sprachhandlungen: Brauch, Nicola/Mierwald, Marcel: »Ich denke, dass Anne Franks Tagebücher eigentlich eine sehr gute Quelle sind, da…«: Zur Konzeptionalisierung und Förderung des historischen Argumentierens im Fach Geschichte. In: Andrea Budke u. a. (Hrsg.): Fachlich argumentieren lernen. Didaktische Forschungen zur Argumentation in den Unterrichtsfächern. Münster 2015, S. 215–229. 2 Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Geschichte. Düsseldorf 2019, S. 10.
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Charlotte Husemann
Ebene bleiben jedoch aus. Die Vorgaben des Kernlehrplans heben zwar die narrative Kompetenz als konstitutiven Teil des historischen Lernens und Denkens hervor, sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, die das Narrativieren ermöglichen, werden allerdings nicht konkretisiert. Ausgehend von der Annahme, dass eine Fokussierung allein auf historische Narrationen nicht ausreicht, um Geschichtsunterricht sprachbildend zu gestalten, soll deshalb in diesem Beitrag umrissen werden, welche Potentiale diskursive Textsorten und Sprachhandlungen zur Entwicklung fachsprachlicher Fähigkeiten bieten. Textsorten werden verstanden als »konventionell geltende […] Muster für komplexe sprachliche Handlungen«.3 Das Verfassen einer Textsorte entspricht einer Kommunikationssituation, in der der Produzent eine spezielle Absicht verfolgt. Textsorten dienen somit einem spezifischen Zweck, der durch die verknüpfte Realisierung unterschiedlicher Sprachhandlungen4 erreicht werden kann. Für den Geschichtsunterricht kann unter anderem das historische Sachurteil als didaktisierte Textsorte betrachtet werden, welche im folgenden Beitrag im Hinblick auf ihre Funktionalität umrissen und auf ihre konstitutiven Sprachhandlungen zurückgeführt werden soll. Bereits in der ersten Förderphase des Projekts »Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen«5 konnten systematisch Schreibprodukte zur Textsorte Historisches Sachurteil von Schüler*innen der siebenten und achten Jahrgangsstufe an Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen (n=605) erhoben werden. Wie MareikeCathrine Wickner zeigen konnte, bestehen mittlere korrelative Zusammenhänge zwischen fachsprachlichen und fächerübergreifenden Textsortenfähigkeiten (r=.38***) sowie zwischen fachsprachlichen Textsortenfähigkeiten und Fachwissen (r=.38***).6 Die theoretischen Überlegungen und empirischen Ergebnisse führen zur zentralen Forschungsfrage, die in den Blick nimmt, über welche fachlichen und fachsprachlichen Fähigkeiten Schüler*innen verfügen, die eine schriftliche Diagnoseaufgabe, in die ein handlungsinitiierendes Verb als Operator eingebunden ist, lösen. Zur Beantwortung der Frage werden die Instru3 Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin 2001, S. 135. 4 Ludger Hoffmann: Deutsche Grammatik. Grundlagen für die Lehrerausbildung, Schule, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache. Berlin 2016. 5 SchriFT ist ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Projekt, welches sich gegenwärtig in der zweiten Förderphase (2017–2020) befindet. Beteiligt sind neben dem Institut DaZ/DaF der Universität Duisburg-Essen (Prof. Dr. Heike Roll) und der Geschichtsdidaktik (Prof. Dr. Markus Bernhardt) die Institute der Politikdidaktik, Technikdidaktik und Turkistik sowie die Physikdidaktik der Ruhr-Universität-Bochum. 6 Heike Roll u. a.: Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen. Ausgangsannahmen, Forschungsdesign und fächerübergreifende Befunde. In: Dies. u. a. (Hrsg.): Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen. Empirische Befunde aus den Fächern Geschichte, Physik, Technik, Politik, Deutsch und Türkisch. Münster 2019, S. 21–47, hier S. 34.
Fachspezifische Sprachhandlungen konkretisieren
191
mente zur Messung der Textqualität vorgestellt und drei Schüler*innentexte, die im Rahmen der zweiten Förderphase des Projekts (SchriFT II) erhoben wurden, vorgestellt und ausgewertet.
2.
Zur Erweiterung des Narrationsbegriffs
Ein wesentliches Merkmal des Narrationsbegriffs ist die Verknüpfung verschiedener Zeitebenen mit dem Ziel, »dass gegenwärtig erfahrene zeitliche Veränderungen verstanden und Zukunft in Form einer Handlungsperspektive erwartet werden kann«7. Die Aushandlung von historischem Wissen verläuft allerdings nun gerade nicht ausschließlich erzählend, sondern beruht »auf den diskursiven Begründungen, die in diese Struktur eingewoben sind«8. Denn auch Kontroversen, Rezensionen und Streitgespräche über historische Ereignisse und Sachverhalte sowie Ausprägungen und Formen der Strukturgeschichte sind wesentliche Komponenten fach(wissenschaft)lichen Lernens und Denkens. Aus diesem Grund fordert beispielsweise Björn Onken eine Erweiterung des Erzählbegriffs um diskursive Elemente.9 Das im Rahmen historischer Sinnbildung generierte Wissen kann durchaus, insbesondere in seiner elaboriertesten Form, durch die Sprachhandlung des Erzählens organisiert werden. Deshalb soll die Verortung narrativer Kompetenz als Ziel des Geschichtsunterrichts, wie von Hans-Jürgen Pandel und Michele Barricelli vorgenommen10, unbestritten bleiben. Doch reicht eine Fokussierung allein auf historische Narrationen nicht aus, um Geschichts7 Jörn Rüsen: Historisches Erzählen. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Wörterbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber 5. Aufl. 1997, S. 58. 8 Markus Bernhardt/ Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte. In: Geschichte lernen 31 (2018) H. 182, S. 5. Der Diskurs über narrative und diskursive Strukturen gestaltet sich weitaus umfassender, als er in diesem Beitrag dargelegt werden kann. Zum Diskursiven in der Geschichte z. B. Jörn Rüsen: Wie kann man Geschichte vernünftig schreiben? Über das Verhältnis von Narrativität und Theoriegebrauch in der Geschichtswissenschaft. In: Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Hrsg.): Theorie und Erzählung in der Geschichte. München 1979, S. 300–333, und Johannes Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstruktionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). Stuttgart 2000. Gegenpositionen werden z. B. von Pandel oder Barricelli (Vgl. Anm. 10) vertreten. 9 Björn Onken: Theorie und Praxis im Konflikt. Überlegungen zur Narrativität von Verfassertexten in Geschichtsschulbüchern. In: Martin Buchsteiner/Martin Nitsche (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Historische, theoretische, empirische und pragmatische Erkundungen. Wiesbaden 2016, S. 69–84, hier S. 77. 10 Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010, S. 15. Michele Barricelli: Historisches Erzählen als Kern historischen Lernens. Wege zur narrativen Sinnbildung im Geschichtsunterricht. In: Martin Buchsteiner/Martin Nitsche (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Historische, theoretische, empirische und pragmatische Erkundungen. Wiesbaden 2016, S. 45–68, hier S. 49.
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unterricht sprachbildend zu gestalten. Wenn Erzählhandlungen, wie von Barricelli konstatiert, »einzig und allein mit dem konkreten Operator ›erzählen‹«11 angeregt werden können, so ließe der gegenwärtige Geschichtsunterricht nur wenig Raum zur Entwicklung narrativer Kompetenz. Denn Erzähle findet sich weder im Operatorenkatalog des Kernlehrplans noch in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Zentralabitur. Stattdessen initiieren Operatoren wie Beschreibe, Erkläre oder Begründe, die vielfach in fachlichen Lern- und Leistungsaufgaben enthalten sind, diskursive Sprachhandlungen.12 Und doch bleibt die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten bei einer Fokussierung auf diskursive Operatoren nicht auf das deskriptive und argumentative Feld beschränkt. Insbesondere der Umgang mit diskursiven sprachlichen Handlungen erlaubt einen Zugang zum Erzählen. Kaum eine Textsorte besteht aus einer einzelnen sprachlichen Handlung; vielmehr handelt es sich um Großformen, die aus unterschiedlichen sprachlichen Handlungen zusammengefügt sind. So können auch erzählende Texte benennende, beschreibende, erklärende, erläuternde, begründende oder beurteilende Passagen enthalten, wie Jörn Rüsen hervorhebt, wenn er von »wissenschaftlich anspruchsvolle[r] Geschichte«, die durch diskursive Sprachhandlungen konstruiert wird, spricht.13 Anders als die narrative Kompetenz, die bisher kaum auf die Ebenen der Syntax und Lexik heruntergebrochen wurde14, erlaubt die Hinwendung zu diskursiven Sprachhandlungen und denen mit ihnen verbundenen Textsorten das Deklinieren struktureller Merkmale und Besonderheiten sowie (fach-)sprachlicher Mittel und ihre Vermittlung im Fachunterricht.
3.
Textsorten im Fach: Das Historische Sachurteil
Aus funktional-pragmatischer Sicht werden Textsorten betrachtet als gesellschaftlich konventionalisierte Muster, auf die Sprachhandelnde in Kommunikationssituationen zurückgreifen können.15 Beim fachlichen Lernen verknüpfen sie fachdidaktische Funktionen und sprachliche Prozesse miteinander und stellen so eine Makrostruktur dar, mit deren Hilfe wiederkehrende kommunikative Absichten erfüllt werden können. Textsorten dienen dementsprechend als 11 Vgl. Barricelli (Anm. 10). 12 Vgl. Bernhardt/Conrad (Anm. 8), S. 5; Olaf Hartung: Generische Lernaufgaben im Geschichtsunterricht – oder: die ›zwei Seiten‹ einer Gattungskompetenz. In: Saskia Handro/ Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 15). Berlin 2016, S. 189. 13 Rüsen (Anm. 8), S. 311. 14 Bernhardt/Conrad (Anm. 8), S. 4. 15 Vgl. Brinker (Anm. 3).
Fachspezifische Sprachhandlungen konkretisieren
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Folie und Anleitung für die absichtsvolle, also zweckgeleitete Textproduktion.16 Aus überfachlicher Sicht fungieren Textsorten als didaktischer Hebel für eine durchgängige Sprachbildung. Sie ermöglichen bereits in einer frühen Phase des Lernens die Initiierung konzeptionellen und epistemischen Schreibens.17 Das Schreiben von Text(sorten) dient demzufolge als strukturierendes Moment im historischen Erkenntnisprozess, fördert es doch den Aufbau, die Organisation und Reflektion von historischem Wissen. Aus fachlicher Perspektive stellen Textsorten spezifische Denk- und Erkenntnisformen dar.18 Entsprechend ihres spezifischen Aufbaus, der Verknüpfung sprachlicher Handlung und der daraus resultierenden Umsetzung sprachlicher Mittel dienen Textsorten der fachlichen Wissensorganisation. Im Geschichtsunterricht können Textsorten beispielsweise als Muster genutzt werden, an denen sprachliche Handlungen, z. B. UrsacheWirkungs-Relationen oder Hypothesenbildung nachvollzogen und eingeübt werden können. Wie Markus Bernhardt und Franziska Conrad herausgestellt haben, ist der Transfer einer Textsorte aus einem anderen Fach kein Automatismus.19 Was einem/r Schüler*in im Deutschunterricht gelingt, muss er oder sie im Geschichtsunterricht noch lange nicht umsetzten können. Somit muss die Vermittlung textsortenspezifischer Schreibfähigkeiten in den Fachunterricht eingebunden werden. Für den Geschichtsunterricht scheint es jedoch zunächst schwierig, fachtypische Textsorten auszumachen.20 Häufig werden Ausschnitte aus Fachaufsätzen oder Monografien rezipiert, die vielmehr typisch für den Bereich der Wissenschaft im Allgemeinen als spezifisch historisch sind. Das Verschriftlichen eigener Ergebnisse des historischen Denk- und Erkenntnisprozesses bleibt ohnehin häufig auf instrumentelle Absichten (z. B. Lückentexte oder Tafelbilder) beschränkt, obwohl das konzeptionelle Schreiben »zu den wesentlichen Operationen historischer Erkenntnisgewinnung«21 zählt, wie Olaf Hartung festhält. Ein Zugang zu fachspezifischen Textsorten kann stattdessen über die historischen Methoden gelingen. Besondere Aufmerksamkeit soll deshalb dem von Karl-Ernst 16 Vgl. Roll u. a. (Anm. 6). 17 Melanie Beese/Heike Roll: Textsorten im Fach – zur Förderung von Literalität im Sachfach in Schule und Lehrerbildung. In: Claudia Benholz u. a. (Hrsg): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Beiträge zur Sprachbildung und Mehrsprachigkeit aus dem Modellprojekt ProDaZ. Stuttgart 2015, S. 51–72, hier S. 52. 18 Ebd. 19 Bernhardt/Conrad (Anm. 8), S. 6. 20 Vgl. Süßmann (Anm. 8), S. 18f. Süßmann fordert bspw. eine »Textsortenlehre der Geschichtsliteratur«, verdeutlicht aber auch den Zusammenhang zwischen Erkenntnisinteresse und Auswahl der Textsorte. So werden z. B. Spezialanalysen historischer Ereignisse in Monographien und Forschungsaufsätzen realisiert. 21 Olaf Hartung: Geschichte schreibend lernen. In: Sabine Schmölzer-Eibinger/Eike Thürmann (Hrsg.): Schreiben als Medium des Lernens. Kompetenzentwicklung durch Schreiben (in allen Fächern) (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 3). Münster 2015, S. 101–216, hier S. 201.
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Jeismann geprägten Begriff des Sachurteils gewidmet werden.22 Axel Becker betrachtet das Historische Sachurteil als »rational-begründete Stellungnahme zu einer historischen Fragestellung«23, bei der Sachverhalte, Prozesse und Ereignisse auf ihre Gründe und Ursachen zurückgeführt werden. Im Kernlehrplan stellt die Sachurteilsbildung einen zentralen Gegenstand dar. Zwar bleibt eine explizite Nennung der Textsorte aus, doch werden in allen Kompetenzbereichen des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans für das Fach Geschichte Teilkompetenzen bestimmt, die einen wesentlichen Beitrag zur Sachurteilsbildung bilden. Im Prozess der Sachurteilsbildung sollen Schüler*innen zum Beurteilen fachbezogener Sachverhalte angeleitet werden, ein Denkprozess, der bereits in der Sekundarstufe I mündlich als auch schriftlich vollzogen werden kann. Bei dem Historischen Sachurteil handelt es sich also um eine konstruierte Textsorte, die den Prozess der Urteilsbildung mit einem Textmuster verknüpft. Das zugrundeliegende Muster umfasst die Analyse und Deutung eines historischen Sachverhaltes sowie die Verknüpfung des dargestellten Ereignisses mit Erkenntnissen und Einsichten zu dem jeweiligen Erklärungszusammenhang. Als wesentliches Strukturierungsmerkmal kann ein Dreischritt aus Historischer Einordung, Analyse und Schlussfolgerung festgehalten werden. Jeder Teilschritt wird durch bestimmte sprachliche Handlungsmuster realisiert, die entsprechend in der Einleitung, im Hauptteil und im Schlussteil des Historischen Sachurteils vollzogen werden (vgl. Abb. 1).24 Beim Lernen im Geschichtsunterricht kann das Historische Sachurteil somit als Textsorte betrachtet werden, für das vor allem diskursive Sprachhandlungen wie Beschreiben, Erklären und Begründen konstitutiv sind.25
22 Vgl. Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9–33. 23 Axel Becker: Urteilsbildung im Geschichtsunterricht aus erzähltheoretischer Sicht. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 21). Berlin 2010, S. 131–138, hier S. 132. 24 Bernhardt/Conrad (Anm. 8), S. 6. 25 Mareike-Cathrine Wickner: So schließt sich der Kreis. Textsortenspezifische Schreibförderung im Geschichtsunterricht mit dem »Genre Cycle«. In: Geschichte lernen 31 (2018) H. 128, S. 38–45, hier S.40.
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Fachspezifische Sprachhandlungen konkretisieren
Das historische Sachurteil
Einleitung: Historische Einordnung
Sprachliche Handlungsmuster
BEHAUPTEN BESCHREIBEN ERKLÄREN
Hauptteil: Analyse FOLGERN BEGRÜNDEN
Schluss: Schlussfolgerung
URTEILEN
Abb. 1: Sprachliche Handlungsmuster in der Textsorte Historisches Sachurteil
4.
Die sprachlichen Handlungen BESCHREIBEN, ERKLÄREN und BEGRÜNDEN im Geschichtsunterricht
Die Sprachhandlungen, die innerhalb von Textsorten, aber auch als eigenständige Textformate vollzogen werden können, stellen aus Sicht der funktionalen Pragmatik »durch Konstellation und Zwecke geprägte Realisierungen mündlicher und schriftlicher Kommunikation«26 dar. Sprachliche Handlungen wie das Beschreiben, Erklären und Begründen können inner- und außerhalb von Institutionen wie der Schule erworben werden, um den Sprachhandelnden dann als Muster und Instrument zur Bewältigung spezifischer sprachlicher Anforderungen zu dienen. In Lehr-Lern-Prozessen im Geschichtsunterricht treten die sprachlichen Handlungen unter anderem in Form von Operatoren, aber auch eingebunden in Textsorten, auf. In Lern- und Leistungsaufgaben initiieren die Verben sprachliche Handlungsmuster, die als Ausgangspunkt für einen auf Textsorten fokussierten Erarbeitungsprozess genutzt werden können. Die handlungsinitiierenden Verben fördern und fordern die Verknüpfung spezifischer sprachlicher Handlungen mit den epistemischen Schritten der historischen Methode.27 Sprachhandlungen können auf diese Weise für den Geschichtsunterricht operationalisiert und so als Lerngegenstand nutzbar gemacht werden.
26 Konrad Ehlich: Sprache und Sprachliches Handeln. Pragmatik und Sprachtheorie, Prozeduren des sprachlichen Handelns, Diskurs, Narration, Text, Schrift. Berlin 2007, S. 19. 27 Handro (Anm. 1), S. 323.
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Beschreiben Beschreibungen sind Teile sowohl narrativer als auch instruierender oder erklärender Textsorten. Auch im Geschichtsunterricht stellt das Beschreiben eine grundlegende Darstellungsform dar. Wie Tülay Altun und Katrin Günther bei der Untersuchung von je fünf Schulgeschichtsbüchern für die Sekundastufen I und II herausstellen konnten, ist Beschreiben als handlungsinitiierendes Verb der am häufigsten gebrauchte Operator. Das Beschreiben dient in den Lehrwerken vielfach als eine Art Einstiegs- oder Universaloperator, da durch beschreibende Sprachhandlungen basale Wissensbestände bezüglich eines Sachverhaltes aktiviert werden und eine Grundlage für aufbauende Sprachhandlungen geschaffen werden kann.28 In den Einheitlichen Prüfungsanforderungen fordert der Operator »historische Sachverhalte unter Beibehaltung des Sinnes auf Wesentliches [zu] reduzieren«, der Kernlehrplan sieht vor, dass »Merkmale/Aspekte eines Sachverhaltes oder Materials detailliert [dargestellt werden]«.29 Gemein ist beiden Definitionen die Darstellung eines Sachverhalts, also beispielsweise eines historischen Ereignisses, Zustandes oder einer Quellenaussage. Im Geschichtsunterricht kann eine Beschreibung anhand von Sach-, Bild- oder Textquellen erfolgen, aber auch Informationen, Aussagen und Positionen innerhalb eines Darstellungstexts können beschrieben werden. Anders als in der Definition der Operatoren im Kernlehrplan sieht der funktional-pragmatische Zugang zum Beschreiben nicht das Zusammenfassen von Sachverhalten bzw. das Fokussieren von Details vor. Vielmehr verlangt eine Beschreibung das präzise und vor allem strukturierte Festhalten eines Sachverhalts, mit dem Ziel der Herstellung einer gemeinsamen Wahrnehmungsbasis.30 Diese müssen, da eine Abfolge, wie bei den aus dem Deutschunterricht bekannten Beschreibungen nach dem Ordnungsprinzip (z. B. Weg-/Ablaufbeschreibung) oder äußerer Merkmale (z. B. Personenbeschreibung), nicht vorgegeben ist, in fachspezifischer Weise (z. B. temporal, kausal) geordnet und präzise 28 Tülay Altun/Katrin Günther: Operatoren am Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundastufe II als Vorbereitung auf wissenschaftspropädeutisches Arbeiten in der Sekundarstufe II? Eine Auszählung von Aufgabenstellungen in 10 Schulbüchern der Sekundarstufe I und II, S. 12 (https://www.uni-due.de/imperia/md/content/prodaz/altun_g%C3%BCnther_operato ren.pdf, aufgerufen am 31. 01. 2020). 29 Kultusministerkonferenz: Beschlüsse der Kultusministerkonferenz. Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Geschichte, 2005, und Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Geschichte. Düsseldorf 2019. 30 Helmuth Feilke: Beschreiben, erklären, argumentieren – Überlegungen zu einem pragmatischen Kontinuum. In: Peter Klotz/Christine Lubkoll (Hrsg.): Beschreibend wahrnehmen – wahrnehmend beschreiben. Sprachliche und ästhetische Aspekte kognitiver Prozesse (Litterae, Bd. 130). Freiburg 2005, S. 45–59, hier S. 52, und Jakob Ossner: Das deskriptive Feld. In: Ebd., S. 62–76.
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auf Wesentliches reduziert werden. Von den Schüler*innen ist beim Verfassen einer Beschreibung aus diesem Grund ein hohes Maß an Strukturierung und Planung gefordert, da Reihenfolge, Anknüpfungspunkte und Ziel bzw. Abschluss der Beschreibung selber festgelegt werden müssen. Der präzise Ausdruck fordert und fördert zudem die Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Begriffsbildung.31 Typische sprachliche Mittel einer Beschreibung sind Kohäsionsmarker, die verwendet werden, um Zusammenhänge herzustellen. Anders als bei Beschreibungen in anleitenden Texten (z. B. Bauanleitung, Wegbeschreibung) erfordern historische Beschreibungen häufig kausale Marker, um erklärende Zusammenhänge zum Nachvollzug der sprachlichen Handlung darzustellen. Das für die Sprachhandlung wesentliche Tempus ist das Präsens, welches der Beschreibung das besondere Merkmal der »Zeitlosigkeit« verleiht. Anders als in anderen fachlichen Beschreibungen kann in historischen Texten durchaus das Präteritum Verwendung finden, um unterschiedliche Zeitachsen darstellen zu können.32
Erklären In Unterrichtssettings treten Erklärungen häufig als auf Beschreibungen aufbauende Sprachhandlungen auf, so auch im Fall des Historischen Sachurteils. Ausgehend von der durch das Beschreiben geschaffenen Basis, wird das Wissen zum Erkenntnisgewinn erweitert. Erklärungen fordern aus funktional-pragmatischer Sicht die vertiefende Behandlung eines Sachverhaltes mit dem Zweck einer gemeinsamen Einschätzung des Handlungspotentials bzw. des Schließens einer Wissenslücke beim Rezipienten.33 Wissen und Einsichten spielen dementsprechend auch in der Definition des Operators für den Fachkontext eine wesentliche Rolle. Dabei werden die historischen »Wissenslücken« in der Fachwissenschaft durch die Deutung menschlicher Handlungen und ihrer zugrundeliegenden Absichten oder die Charakterisierung einer historischen Entwicklung zwischen zwei Zeitpunkten (d. h. einer Narration) als Erklärung an sich gefüllt, wie Jörn Rüsen festhält.34 Aus didaktischer Sicht können Quellenaussagen, Motive und eigene sowie fremde Sach- und Werturteile erklärt werden, wie
31 Carsten Hinrichs: Schreiben. In: Saskia Handro/Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2010, S. 224–235. 32 Jochen Rehbein: Beschreiben, Berichten und Erzählen. In: Konrad Ehlich (Hrsg.): Erzählen in der Schule. Tübingen 1984, S. 67–124, hier S. 81–83. 33 Vgl. Hoffmann (Anm. 4). 34 Jörn Rüsen: Gesetze, Erklärungen. In: Bergmann u. a. (Anm. 7), S. 164–169, hier S. 167–169, und EPA (Anm. 28), S. 8.
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Handro im Prozessmodell sprachlichen Handelns im Geschichtsunterricht herausarbeitet.35 Verschiedene Studien zeigen die Schwierigkeiten von Schüler*innen beim Erklären: Neben inhaltlichen Schwächen fehlen Schüler*innentexten häufig die logische Struktur und Textkohärenz. Zudem sind Lernende der Sekundarstufe I häufig durch die Vielfalt und den Umfang von Ursachen und Folgen, die es in Erklärungen einzubeziehen gilt, überfordert.36 Neben kausalen, konditionalen und finalen Bezügen erfordert die Bearbeitung fachspezifischer Erkläre-Aufgaben von den Lernenden vor allem die sprachliche Distanznahme, zum Beispiel um Hypothesen aufzustellen oder sich von der Meinung von Zeitgenossen und Historikern zu distanzieren. Dazu zählen neben Konjunktiv und Passivstrukturen insbesondere graduierende Formulierungen wie vielleicht, etwa oder möglicherweise, mit deren Hilfe Zweifel ausgedrückt und Vermutungen formuliert werden können.
Begründen Der dem Anforderungsbereich II (Reorganisation und Transfer) zugeordnete Operator Begründen gehört zu den besonders häufig verwendeten handlungsinitiierenden Verben in der Sekundarstufe I.37 Beim Begründen liegt das Augenmerk auf der Darstellung der eigenen Perspektive und dem Verteidigen einer eigenen Meinung bzw. des eigenen Standpunktes und dem Entkräften nicht triftiger oder abweichender Standpunkte. Zur Begründung der eigenen Position müssen Handlungsschritte oder Überlegungen expliziert und nachvollziehbar gemacht werden. Insbesondere die Darstellung einer eigenen Perspektive und ihrer Verteidigung unterscheidet das Begründen vom Erklären. Der argumentative Charakter der sprachlichen Handlung ist auch im geschichtsdidaktischen Kontext zentral. Jedoch ist zu beachten, dass beim schriftlichen Begründen der Einverständnismangel, der in alltäglichen Kommunikationssituationen die Sprachhandlung initiiert, in der Regel durch die Aufgabenstellung künstlich evoziert wird. Wie auch beim Erklären spielen beim schriftlichen Begründen vor
35 Handro (Anm. 1), S. 323. 36 Corinna Helms: Entwicklung und Evaluation eines Trainings zur Verbesserung der Erklärqualität von Schüler*innen im Gruppenpuzzle. Osnabrück 2016, S. 5, und Bodo von Borries: Zur Entwicklung historischer Kompetenzen bis zur Sekundarstufe II. In: Bernd Schönemann/ Hartmut Voit (Hrsg.): Von der Einschulung bis zum Abitur: Prinzipien und Praxis des historischen Lernens in den Schulstufen (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 14). Idstein 2002, S. 112–127, hier S. 121f. 37 Altun/Günter (Anm. 28), S. 5f.
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allem sprachliche Mittel zur Herstellung von Textkohärenz (z. B. kausale Marker zur Darlegung von Gründen) und zur Distanznahme eine wesentliche Rolle. Die drei beschriebenen Handlungsmuster können als konstitutive Teile des historischen Sachurteils betrachtet werden und stellen wiederum, für sich gesehen, eigenständige Textsorten dar. Die Sprachhandlungen werden in fachspezifischer Weise realisiert. Grammatikalische, lexikalische und syntaktische Mittel werden auf spezifische Weise miteinander verknüpft, sodass die sprachlichen Handlungen zu fachsprachlichen Handlungen werden. Bei der Differenzierung und Bewertung von Textprodukten können sowohl textformale und -strukturelle Merkmale Beachtung finden, als auch fachsprachliche Mittel. Besonders interessant sind im Zusammenhang mit den genannten Textsorten dabei im Fachkontext z. B. die richtige Tempusverwendung, unpersönliche Formulierungen, die angemessene Verwendung des Konjunktivs, graduierende Formulierungen zur Distanznahme und beispielsweise temporale und kausale Kohäsionsmarker, die die Leserorientierung unterstützen. Parallelen zeigen sich hierbei zum Modell von Pandel, welches die Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Entwicklung narrativer Kompetenz umfasst.38
5.
Frage und Hypothesen
Das Historische Sachurteil verlangt von den Schüler*innen die Verwendung spezifischer sprachlicher Handlungen und entsprechender sprachlicher Mittel, um die intendierten Zwecke der Textsorte zu realisieren. Beschreiben, Erklären und Begründen nehmen dabei eine herausgehobene Rolle ein. Aus den skizzierten Überlegungen ergibt sich folgende Frage: Über welche fachlichen und fachsprachlichen Fähigkeiten verfügen die Schülerinnen und Schüler, die eine schriftliche Diagnoseaufgabe, in die ein handlungsinitiierendes Verb als Operator eingebunden ist, lösen? Zur Beantwortung der Forschungsfrage sollen sowohl funktional-pragmatische als auch geschichtsdidaktische Überlegungen zur Definition der sprachlichen Handlungen herangezogen werden. Zudem beziehen sich die Forschungsfragen sich auf die qualitative Analyse von Schreibprodukten, die mit Hilfe eines Ratingverfahrens (Kategoriensystem) ausgewertet wurden. Angenommen wurde, dass die Schüler*innen nicht allen fachsprachlichen Anforderungen gerecht werden. In die Entwicklung der Schreibaufgabe und der Kategorien zur Auswertung wurde der generelle Mangel an schriftsprachlichen Übungen im Ge38 Vgl. Pandel (Anm. 10).
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schichtsunterricht einbezogen, dennoch sollen die Instrumente im Prä-PostDesign eingesetzt werden, sodass mit einem Zuwachs fachsprachlicher Fähigkeiten zu rechnen ist.
6.
Testdesign und Stichprobe
Zur Erhebung der sprachlichen, fachlichen und fachsprachlichen Fähigkeiten der Schüler*innen wurden in beiden Förderphasen des Projekts (SchriFT I und II) Schreibaufgaben im Deutsch- und Geschichtsunterricht sowie ein Fachwissenstest im Geschichtsunterricht eingesetzt. Die Schreibfähigkeiten zur Textsorte Historisches Sachurteil wurde im PräPost-Design erhoben. Für eine gekreuzte Testung wurden deshalb zwei vergleichbare Schreibaufgaben entwickelt, die in jeweils 45 Minuten von den Schüler*innen bearbeitet wurden. Die Aufgabe zum Thema »Der Bau der Pyramiden« lehnt sich eng an die in der ersten Förderphase des Projekts von MareikeCathrine Wickner entwickelte Schreibaufgabe an.39 Wesentliche Unterschiede liegen im Einbezug von zusätzlichem Quellenmaterial sowie der Ergänzung einer Begründe-Aufgabe. Die Aufgabe zum Thema »Die Olympische Spiele« wurde in der zweiten Förderphase neu entwickelt und pilotiert (n=108). Beide Themen sind Teile der Inhaltsfelder des Kernlehrplans für den Gesellschaftslehre-Unterricht in der Jahrgangsstufe fünf und sechs, sodass davon ausgegangen werden konnte, dass sich die Schüler*innen im Gesellschaftslehreunterricht bereits mit den Inhalten auseinandergesetzt haben.40 Zudem sollen durch die Themenauswahl ein motivierender Zugang zur Schreibaufgabe geschaffen werden. Während der »Bau der Pyramiden« die Aspekte des Geheimnisvollen und Rätselhaften fokussiert, um Interesse zu generieren, nutzt die Schreibaufgabe »Die Olympischen Spiele« das Interesse von Schüler*innen an sportlichen Wettkämpfen als Mittel, um die Schreibmotivation zu erhöhen.41 Beide Schreibaufgaben umfassen vier Teilaufgaben, die schriftliches Benennen, Beschreiben, Erklären und Begründen einfordern, wobei die Benenne-Aufgabe nicht in die Auswertung einbezogen wuirde, sondern der kognitiven Aktivierung und dem Einstieg in die Schreibaufgabe diente. Als Materialgrundlage zur Bearbeitung der Leistungsaufgaben lagen den Schüler*innen jeweils ein Darstellungstext und kurze Quellenausschnitte vor. 39 Mareike-Cathrine Wickner: Über die Vorzüge einer textsortenbasierten Schreibförderung im Geschichtsunterricht. Forschungsergebnisse aus dem SchriFT-Projekt. In: Roll u. a. (Anm. 6), S. 129–147, hier S. 135. 40 Vgl. KLP Gesellschaftslehre NRW (Anm. 2), S. 25f. 41 Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in Didaktik und Methodik. Seelze 2012, S. 90–92.
Fachspezifische Sprachhandlungen konkretisieren
201
Die Beschreibe-Aufgabe zum Thema »Die Olympischen Spiele« lautete: »Zeitgenossen beurteilten die Olympischen Spiele unterschiedlich. Beschreibe in einem Text genau und in eigenen Worten die verschiedenen Urteile der Zeitgenossen. Schreibe so, dass jemand der den Darstellungstext nicht kennt, die Positionen nachvollziehen kann.« Die Beschreibe-Aufgabe erfordert die Reproduktion von Inhalten aus dem Darstellungstext. Die abschließende Formulierung, die die besondere Berücksichtigung von Leserorientierung und Präzision hervorhebt, wurde anschließend an die Überlegungen von Thomas Bachmann und Michael Becker-Mrotzek angefügt, die der Profilierung von Aufgabenstellungen eine besondere Bedeutung zuweisen. Sie heben die Ausdifferenzierung der Adressaten- und Zielorientierung von Schreibaufgaben hervor, durch die der Interaktionscharakters von Aufgabenstellungen für Schüler*innen erst greifbar wird.42 Der durch das Verb Erklären initiierte Arbeitsauftrag wurde in beiden Varianten der Schreibaufgabe eingesetzt. Die Frage: »Warum kann man über viele vergangene Ereignisse nur Vermutungen anstellen?« und daran angebunden die Aufforderung: »Erkläre ausführlich«, sollen die Reproduktion von Informationen aus Darstellungs- und Quellenmaterial anleiten als auch die Möglichkeit eines eigenständigen Transfers auf andere historische Sachverhalte und bereits erworbene Kenntnisse ermöglichen. Um die Fähigkeiten und Fertigkeiten im Bereich des Verfassens einer historischen Begründung zu ermitteln, wurde der Arbeitsauftrag: »Manchmal kritisieren Forscher historische Quellen. Welche der beiden Aussagen hältst du für richtig? Begründe ausführlich!« mit den vorstrukturierten Auswahlmöglichkeiten: »Kennt sich Herodot wirklich so gut aus? Ich habe Zweifel an der Quelle« bzw. »Herodot sagt immer die Wahrheit! Ich verlasse mich auf die Quelle« für die Schreibaufgabe mit dem inhaltlichen Schwerpunkt »Der Bau der Pyramiden« formuliert. Als Kontrollvariablen wurden sozio-demographische Daten wie Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund, Herkunft und ökonomischer Status der Familie einbezogen, die mit Hilfe eines Fragebogens erhoben wurden. Die sprachbiographischen Daten umfassen Herkunftssprachen, Spracherwerbssituation und den Zeitpunkt des Deutscherwerbs. Als allgemeinsprachliche Kontrollvariablen wurden ein C-Test und das Salzburger Lesescreening (SLS) durchgeführt. Um Aussagen über die allgemeine Intelligenz der Schüler*innen treffen zu können, wurden ausgewählte Skalen zum figuralen Denken (entnommen aus dem CFT-20R) eingesetzt.43 Die entwickelten Testinstrumente zur Messung der fachlichen Schreibfähigkeiten kamen bei insgesamt 357 Schü42 Thomas Bachmann/Michael Becker-Mrotzek: Schreibaufgaben situieren und profilieren. In: Thorsten Pohl/ Torsten Steinhoff (Hrsg.): Textformen als Lernformen. Duisburg 2010, S. 191– 210, hier S. 195. 43 Zu den Erhebungsinstrumenten vgl. auch Roll (Anm. 6).
202
Charlotte Husemann
ler*innen der 7. und 8. Jahrgangsstufe an 13 Gesamtschulen in NordrheinWestfalen zum Einsatz. Das durchschnittliche Alter der Lernenden lag zum Zeitpunkt der Erhebung (Januar bis Juli 2019) bei 13,36 Jahren (Std.-Abweichung ,880). 46,8 % der Stichprobe ist weiblich, 53,2 % männlich, die Verteilung auf das Sample ist somit relativ ausgeglichen. Die Stichprobe weist einen hohen Anteil von Schulen auf, die dem »Standorttyp Fünf«44 zuzuordnen sind. Von den getesteten Schüler*innen haben über 80 % einen Migrationshintergrund. Lediglich 27,9 % der Schüler*innen sind allerdings selbst migriert (1. Generation), der Großteil gehört der 2. Generation (Schüler*innen in Deutschland, aber beide Elternteile im Ausland geboren) an. Die Auswertung der Schreibaufgaben wurde anhand eines umfangreichen Kategoriensystems durchgeführt, in dem zwischen textformellen und -strukturellen Kategorien und fachsprachlichen Mitteln unterschieden wurde (vgl. Abb. 2). Das Kategoriensystem stellt eine überarbeitete Version des in SchriFT I angewandten Auswertungsinstrument dar, das in Anlehnung an das Zürcher Textanalyseraster entwickelt wurde.45 Bei der Betrachtung sprachlicher Mittel, wie beispielsweise des Konjunktivs, unpersönlicher Formulierungen (Passivund Passiversatzformen wie die Man-Form) und Tempusformen wurden nicht die orthographische oder grammatikalische Korrektheit, sondern die fachspezifische Realisierung bewertet. So ist beispielsweise nicht die korrekte Verbflexion entscheidend für das Rating und die damit einhergehende Bewertung der Textqualität, sondern vielmehr die Frage, ob die fachlich angemessene Zeitform zur Beschreibung, Erklärung oder Begründung eines Sachverhaltes ausgewählt wurde. Pro Schreibaufgabe wurden zwischen zehn und elf Kategorien in den Gesamtscore einbezogen, wobei sich einzelne Kategorien, wie z. B. der Tempusgebrauch oder die Verwendung von kausalen, finalen oder konditionalen Bezügen wiederholt haben. Bisher durchgeführte Analysen weisen auf die Reliabilität und Objektivität des Testinstruments hin. Die Cronbachs Alpha Werte liegen mit α=[.69; .66; .63] in einem zufriedenstellenden Bereich. Zur Überprüfung der Interraterreliabilität wurden 20 % der Testhefte doppelt codiert. Bei den für den Summenscore relevanten Kategorien liegt der Cohens-Kappa-Koeffizient
44 Vgl. https://www.schulentwicklung.nrw.de/e/lernstand8/allgemeine-informationen/stand orttypenkonzept/index.html, aufgerufen am 30. 01. 2020. An Schulen, die dem Standorttyp Fünf zuzuordnen sind, liegt der Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt bei 61 Prozent. Die Mehrzahl der Schüler*innen stammt aus Wohngebieten, deren Einwohner ein stark unterdurchschnittliches Einkommen und einen überdurchschnittlich hohen Anteil von SGB-II–Leistungsbezieher*innen aufweisen. 45 Wickner (Anm. 38), S. 136, und Markus Nussbaumer/Peter Sieber: Texte analysieren mit dem Zürcher Textanalyseraster. In: Peter Sieber (Hrsg.): Sprachfähigkeiten – Besser als ihr Ruf und nötiger denn je! Aarau 1994, S. 141–186.
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Fachspezifische Sprachhandlungen konkretisieren
bei κ≤.60, sodass angenommen werden kann, dass das Instrument ausreichend reliabel ist und zur Messung der Textqualität eingesetzt werden kann.46 Textform und -struktur
Fachsprachliche Mittel
z. B. Einleitung
z. B. temporale, kausale, additive… Kohäsion
z. B. Positionierung
z. B. Tempus
z. B. präzise Formulierungen
z. B. unpersönliche Formulierungen
z. B. empirische u. normative Triftigkeit z. B. Quellenverweise z. B. Fazit
z. B. Verwendung des Konjunktivs z. B. Graduierung
Abb. 2: Sprachliche Handlungsmuster und -mittel
7.
Ergebnisse
Sprachliche Schwierigkeiten, die von Markus Bernhardt und Mareike-Cathrine Wickner bereits aufgegriffen wurden,47 zeigen sich auch in ersten qualitativen Analysen des in der zweiten Förderphase erhobenen Materials. Am ersten Schülerbeispiel (vgl. Abb. 3) zeigt sich, wie die Beschreibung von Theorien unter Berücksichtigung der fachsprachlichen Mittel umgesetzt wird. Die Schülerin stellt die im Darstellungstext umrissenen Einstellungen der Zeitgenossen zu den Olympischen Spielen präzise dar, indem sie alle im Text genannten Faktoren in die Beschreibung einbezieht. Neben dem Stolz der Stadtbewohner auf »ihren« Sieger, der ihnen die Gunst der Götter bescheren sollte, nennt sie die Aspekte der Freundschaft, des Friedens und des gemeinsamen Gebets. Die Gegenposition beschreibt sie mit den Faktoren Brutalität und damit hervorgerufener Ungnade der Götter, dem Jubel über das verrückte Treiben, das im Gegenteil zu Klugheit keinen Nutzen für das Volk habe. Besonders wurden hier kausale und konsekutive Bezüge verwendet. Durch die präzise und strukturierte Beschreibung aller im Darstellungstext enthaltenen Faktoren wird das Textprodukt nachvollziehbar und in hohem Maß leserorientiert. Unpersönliche Formen, zum Beispiel Passivstrukturen (»wurden…geschlossen«; »benutzt… 46 Zu den Grenzwerten: Jürgen Bortz/Nicola Döring: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. Berlin 2006, und Gustav A. Lienert/Ulrich Raatz: Testaufbau und Testanalyse. Weinheim 2011. 47 Markus Bernhardt/Mareike-Cathrine Wickner: Die narrative Kompetenz vom Kopf auf die Füße stellen. Sprachliche Bildung als Konzept der universitären Geschichtslehrerausbildung. In: Claudia Benholz u. a. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Konzepte für die Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart 2015, S. 281–296, hier S. 286f.
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»Einige Zeitgenossen waren besonders stolz, weil ihr Volk siegte und ein Sieg galt als Zeichen für die Gunst der Götter. Nebenbei wurden Freundschaften mit anderen Völkern geschlossen. Alle beteten zusammen. Es mussten keine Waffen benutzt werden und somit gab es keine toten. Andere kritisierten das brutale vorgehen der Sportler und nannten die Athleten verückt. Sie hatten etwas dagegen, dass die Zuschauer ihr Volk bejubelten. Sie meinten, dass es den Göttern nicht Gefallen könnte. Und sie fanden, dass ein Sieg keinen Nutzen hätte für das Volk. Sie meinten, dass Klugheit wichtiger sei als Stärke.«
Abb. 3: Beispiel Beschreiben – weiblich, Jgst. 7
werden«) und den Konjunktiv (»keinen Nutzen hätte«; »Klugheit wichtiger sei«) wurden weitgehend eingehalten und so wurde eine kritische Distanz zum beschriebenen Sachverhalt hergestellt. Auch das Tempus ist korrekt verwendet. Wie die Hervorhebung »besonders« zeigt, erfolgte eine Graduierung der dargestellten Positionen, die als typisches Merkmal historischer Beschreibungen betrachtet werden kann. »Weil man diese Ereignise nicht selber beobachtet. Man hat zwar Bilder gefunden auf Vasen oder anderen sachen aber wir können die Bilder auch falsch verstehn. Vileicht hat sich jemand früher gedacht wie die olympischen spiele im jahr 2000 n.chr aussieht. Ein anderer könnte sich gedacht haben das es olympische spile in der vergangenehit umgefehr so aussahe. Es gibt bestimmt auch viele vermutungen was dieses thema angeht. nimand kann mit 100% sicherheit sagen was stimmt oder nicht.«
Abb. 4: Beispiel Erklären – männlich, Jgst. 7
In der Erklärung (vgl. Abb. 4) wurde die Ursache »weil man diese Ereignisse nicht selber beobachtet« reproduziert. Weiter differenziert der Schüler im zweiten Textbeispiel, indem er anführt, dass Bilder auch falsch verstanden werden könnten. Zudem führt er berechtigte Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Quellenautoren ins Feld, da diese sich ihre Informationen schließlich auch rückschauend ausgedacht haben könnten. Dem Schüler gelingt sowohl inhaltlich
Fachspezifische Sprachhandlungen konkretisieren
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als auch sprachlich eine Gegenüberstellung verschiedener Positionen, die er durch die Formulierungen »jemand« und »Ein anderer« kennzeichnet. Der sprachlichen Handlung entsprechend fasst er seine Erklärung schließlich in einem Fazit zusammen. Fachsprachlich angemessene Realisierungen der Kohäsionsmittel, des Konjunktivs sowie des Tempus sind fast durchgehend zu sehen, lediglich an einzelnen Stellen fallen Schwierigkeiten ins Auge. Seine Vermutungen leitet der Schüler beispielsweise hauptsächlich mit der Konjunktion »dass« bzw. mit den Fragewörtern »was« oder »wie« ein. Zwar handelt es sich bei diesen Ausdrücken um eher alltagssprachliche Formulierungen, doch gelingt es dem Lernenden, historisch triftige Hypothesen aufzustellen. Ihm gelingt es sogar, die empirische Plausibilität seiner Erklärung durch Formulierungen wie »vielleicht« und »bestimmt« zu unterstreichen. Eine Auffälligkeit ist das verwendete »Wir«, das den sonst konsequent eingehaltenen Gebrauch der ManForm unterbricht, möglicherweise um die Historiker bewusst von der eigenen (Schüler-) Perspektive abzugrenzen. »Ich schließe mich aussage 1 an, weil es nicht genau so ist oder er denkt sich sachen dazu aus. Vielleicht stimmt es so aber wo sind die beweise und die Fakten das es genau so war. Bei Quellen muss nicht immer alles stimmen es gibt bestimmt auch welche wo es wirklich so ist. Zum Beispiel ich mache auch so eine Quelle und Füge sachen dazu die nicht so stimmen und das wird auch später dann so aufgeschrieben also es ist meine meinung jeder kann eine andere haben.«
Abb. 5: Beispiel Begründen – weiblich, Jgst. 7
Die Begründung (vgl. Abb. 5, drittes Schülerbeispiel) weist schließlich ebenfalls typische Elemente der Textsorte auf. Im Anschluss an die Positionierung, die bedingt durch die Aufgabenstellung lediglich die Wahl einer bereits vorgegebenen Position zulässt, erfolgt die Angabe fachlicher Gründe. Mögliche Zweifel an der Quelle von Herodot begründet die Schülerin mit einem Mangel an Beweisen, dem allgemeinen Zweifel an Quellen und dem spezifischen Zweifel an Herodots Bericht über den Bau der Pyramiden. Die Gründe werden weiter ausdifferenziert bzw. mit einem Gegengrund (»vielleicht stimmt es so«) kritisch beleuchtet. Dass noch Potential zur weiteren fachlichen Spezifizierung des Textes gegeben ist, zeigt die Ausdifferenzierung anhand eines persönlichen Beispiels, wie es aus dem Deutschunterricht bekannt ist, und nicht anhand eines Quellenverweises oder ähnlichem. Betrachtet man die sprachlichen Mittel, so wird deutlich, dass es sich
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erneut um einen »besseren« Schülertext handelt. Die Textkohäsion wird durch kausale und konsekutive Marker hergestellt und das Tempus fast durchgehend eingehalten. Es gelingt der Schülerin durch graduierende Formulierungen (»vielleicht stimmt es so«, »wo es wirklich so ist«) ihre Aussagen zu gewichten. In der Textsorte ist eine persönliche Stellungnahme gefordert, sodass statt einer durchgehenden Verwendung der Unpersönlichkeit vielmehr Perspektivwechsel gefordert ist. Zum Teil wird der Text deshalb jedoch umgangssprachlich, wenn die Schülerin vermutet, »er« – damit meint sie Herodot – könne sich Sachen einfach ausdenken. Wie die Beispiele andeuten, erfordern operatorengestützte Aufgaben und die aus ihnen hervorgehenden Textprodukte sprachliche Mittel, die ihre Bedeutung aus dem spezifisch historischen Zweck gewinnen. Herausgearbeitet, eingeübt und angewandt werden können diese Mittel lediglich im Fachkontext. Geschichte
Deutsch
»Also pyramiden gibt es in
»Mann braucht um das zu
Ägypten und die 2 Forscher
bauen eine Schere, ein Messer,
streiten sich wegen dem Model
einen Bleistift, eine
von der pyramide der eine
Kartongrolle, zwei Becher und
sagt große und grade Rampe
das Handy. Zu erst braucht
und der andere sagt Nein eine
mann die kartong rolle und
Mehrere Rampen um die
Bleistift und das Handy und
pyramiden und so und am
dann nimt mann die
Ende gibt es jetzt beide
Kartongrolle legt die Schere da
Pyramiden mit große und
rein und halt das Handy auf
grade Rampen und Mehrere
die Rolle und zeichnet einen
Rampen um die Pyramiden. Ja
viereck und schneidet das mit
es gibt beides wie ich weiß
messer raus danach nimt
aber es gibt eher die normale
mann die Rolle legt die Auf den
Pyramide mit Mehrere
Becher und zeichnet einen
Rampen.«
Kreis bei beiden bechern und schneidet die Kreise aus und tuht die Rolle rein in die Kreise im Becher danach tuht mann das Handy in das vier eck rein und fertig.«
Abb. 6: Vergleich Geschichte – Deutsch – weiblich, Jgst. 7
Fachspezifische Sprachhandlungen konkretisieren
207
Um die von Bernhardt und Conrad angeführte Überlegung der unzureichenden Fähigkeiten zum Transfer sprachlicher Mittel zu unterstreichen, soll an dieser Stelle das Beispiel einer dreizehnjährigen Schülerin herangezogen werden (vgl. Abb. 6). Der Lernenden, die sowohl die Schreibaufgabe für das Fach Geschichte als auch die vergleichbare Aufgabenstellung aus dem Fach Deutsch (»Beschreibe anhand der Bilder in einem Text genau den Bau des abgebildeten SmartphoneLautsprechers, sodass jemand diesen Smartphone-Lautsprecher nachbauen kann, ohne die Bilder zu sehen«) bearbeitet hat, gelingt beim Beschreiben im Rahmen der Bauleitung im Deutschunterricht der Gebrauch unpersönlicher Formulierungen (Man-Form), wenn auch nicht orthographisch korrekt. In der historischen Beschreibung nutzt sie hingegen Formulierungen wie: »der eine sagt« und »der andere sagt: Nein«, die nicht zuletzt durch ihre Schreibweise an wörtliche Rede und persönliche Form angelehnt sind. Dies zeigt sich auch in der Formulierung »wie ich weiß«, die die eigene Schreiberinnenrolle in das Textprodukt einbringt, statt einen unpersönlichen, leserorientierten Text zu entwerfen. Warum insbesondere diese sprachlichen Mittel wesentliche Elemente fachtypischer Textsorten darstellen, muss im Fachunterricht explizit hervorgehoben werden, um fachsprachliche Strukturen sukzessive einüben zu können.
8.
Fazit
Bei der Untersuchung der Schüler*innentexte wurde deutlich, dass Lernende über grundlegende sprachliche und fachliche Fähigkeiten zur Bewältigung von Beschreibe-, Erkläre- und Begründe-Aufgaben im Rahmen der historischen Sachurteilsbildung verfügen. Der qualitative Einblick zeigt jedoch auch, dass von Lernenden bisweilen bestimmte sprachliche Mittel beherrscht, aber im Fachkontext nicht umgesetzt werden können. Diese Ergebnisse, wie auch die mittleren bis hohen Zusammenhänge zwischen Fachwissen, sprachlicher und fachsprachlicher Schreibkompetenz, die bereits in SchriFT I festgestellt werden konnten, sprechen für eine sprachbildende Ausrichtung des Geschichtsunterrichts. Inwiefern fachsprachliche Mittel und Handlungen durch eine textsortenbasierte Schreibförderung zweckorientiert vermittelt werden können, wird in SchriFT II gegenwärtig im Rahmen einer quasi-experimentellen Interventionsstudie erhoben. Die Auswertung der systematisch erhobenen Schreibprodukte aus Prä- und Posttest soll weitere Einblicke in die fachlichen und sprachlichen Fähigkeiten der Schüler*innen erlauben, aber auch die Möglichkeiten und Grenzen einer textsortenbasierten Schreibförderung abbilden können. Die Entwicklung narrativer Kompetenz bleibt dabei zu Recht das große Kernziel des Geschichtsunterrichts. Die qualitative Analyse der Schüler*innentexte unterstützt jedoch die Hypothese, dass es eben auch der Förderung diskursiver
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Textsorten und ihrer fachspezifischen Umsetzung bedarf, um Lernende zu befähigen, Narrationen fachlich und fachsprachlich angemessen erstellen zu können.
Sektion 3: Fachsprache als Leichte Sprache und als Bildungssprache – Sprache und Geschichte im (scheinbaren) Spannungsverhältnis zwischen Inklusion und Sprachbildung
Martin Lücke
Fachsprache als Leichte Sprache und als Bildungssprache – Sprache und Geschichte im Spannungsverhältnis von Inklusion und Sprachbildung. Einführung in die Sektion
Über das Verhältnis von Sprache und Geschichte wurde und wird viel nachgedacht – inner- und außerhalb der Geschichtsdidaktik. Dass die Konferenz für Geschichtsdidaktik die »Sprache(n) des Geschichtsunterrichts« zum Thema einer dreitägigen Konferenz machte, zeigt aber, dass die Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Sprache und historischem Lernen offenbar auf neue und vielfältige Herausforderungen trifft. Wer die Debatten der letzten Jahre verfolgt, stellt schnell fest, dass es vor allem der Heraufzug des Paradigmas der Inklusion zu sein scheint, das uns das facettenhafte Terrain von Sprache und Geschichte neu und anders (und vielleicht auch in anderer Konsequenz) bearbeiten lässt, denn »erst mit der Diskussion um Inklusion und Heterogenität rücken ungeklärte Fragen des Verhältnisses von Sprache und historischem Lernen auf die geschichtsdidaktische Agenda«.1 Zwar kann noch lange nicht – wie zuletzt von konservativer Seite behauptet – von einer »Leitkultur der Inklusion«2 gesprochen werden (und nichts läge einer Agenda der Inklusion ferner, als sich leitkulturellen Hegemonieansprüchen hinzugeben), doch rücken auf diese Weise die alten Fragen nach einer Differenzierung im Geschichtsunterricht3 neu in unseren Blick. Genuin neu scheint dabei vor allem zu sein, dass die von den theoretischen und normativen Ansprüchen der Inklusion angeleiteten Fragestellungen fast immer auch die empirische Dimension geschichtsdidaktischer Forschungen in den Blick nehmen – und auf diese Weise inklusive Ansprüche auf sprachliche Wirklichkeiten treffen lassen. 1 Saskia Handro: Sprache und Diversität im Geschichtsunterricht. In: Sebastian Barsch u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik. Frankfurt/M. 2020, S. 93–117, hier S. 93. 2 Vgl. hierzu Andreas Rödder: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. München 2015, S. 116–126, zitiert nach Handro (Anm. 1). 3 Zuletzt umfassend und überzeugend zusammengestellt von Birgit Wenzel: Heterogenität und Inklusion – Binnendifferenzierung und Individualisierung. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2017, S. 238– 254.
212
Martin Lücke
Auf welche Weise in einer diversen Gesellschaft Sprache in historischen Lernprozessen manifest wird, wird momentan vor allem anhand der Konzepte bzw. Ansätze von Leichter Sprache4 und Sprachbildung5 diskutiert, die die Bandbreite von sprachlicher Vielfalt im Geschichtsunterricht markieren. Wenn wir in dieser Sektion die Forderung der Tagung aufgreifen, bei den Debatten um Sprache, Inklusion und Sprachbildung das genuin geschichtsdidaktische Potenzial dieses Themenkomplexes in den Blick zu nehmen, möchten wir vor allem zeigen, dass die Verwendung von Leichter Sprache oder Ansätze von Sprachbildung einer fachspezifischen Sprachverwendung nicht im Wege stehen, sondern im Gegenteil jeweils neu, aber immer auch anders über das Fachpotenzial von Sprache nachdenken lassen. Immer wieder jedoch werden Spannungsverhältnisse sichtbar, wenn geschichtsdidaktische Prinzipien mit Ansprüchen von Inklusion, Diversität und Heterogenität konfrontiert werden. Gerade deshalb – das zeigen vor allem die empirischen Ergebnisse der Beiträge – kann bei der Frage nach den »Sprache(n) des Geschichtsunterrichts« von einer »Leitkultur der Inklusion« nicht gesprochen werden, sondern von einem steten Aushandlungsprozess zwischen der normativen Setzung von Fachlichkeit auf der einen Seite und Inklusion auf der anderen Seite. Die Beiträge der Sektion zeichnen sich durch den Fokus auf zwei Aspekte aus: Zum einen hebt jeder Beitrag hervor, auf welche Weise das Fachpotenzial von Geschichte durch die Berücksichtigung von sprachlicher Vielfalt berührt wird. In den Beiträgen wird dann aber auch gezeigt, wie empirische Ergebnisse Eingang in die Pragmatik fachsprachlichen Handelns im Geschichtsunterricht bzw. in Prozesse historischen Lernens gefunden haben – und auf welche Weise dabei der oben skizzierte Aushandlungsprozess zwischen Fachlichkeit und Inklusion stattfindet. Sebastian Barsch stellt Ergebnisse einer empirischen Studie vor, in der erprobt wurde, wie gemeinsame historische Sinnbildung über das Werkzeug der Leichten Sprache in inklusiven Schülergruppen stattfinden kann. Im Fokus der Studie steht die kollaborative Spracharbeit mit Leichter Sprache als Reflexionsanlass, etwa indem Schüler*innen Textquellen in Leichte Sprache übersetzt haben. Sebastian Barsch geht dabei nicht per se davon aus, dass Leichte Sprache die Teilhabechancen von Schüler*innen an (Fach-)Unterricht erhöht, sondern dass 4 Neben den Ausführungen zum Konzept der Leichten Sprache von Sebastian Barsch in diesem Band vgl. dazu zuletzt vor allem Bettina Degner: Leichte Sprache und Visualisierung. In: Sebastian Barsch u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik. Frankfurt/M. 2020, S. 375–384. 5 Neben den Ausführungen zu Sprachbildung von Matthias Sieberkrob in diesem Band vgl. dazu zuletzt vor allem Matthias Sieberkrob/Martin Lücke: Sprachbildende Aufgaben im Geschichtsunterricht. In: Sebastian Barsch u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik. Frankfurt/M. 2020, S. 424–439.
Fachsprache als Leichte Sprache und als Bildungssprache
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sie ihr inklusives Potenzial dann entfalten kann, wenn die Leitideen des Konzeptes der Leichten Sprache zu Übersetzungsleistungen von Quellen anregen, mit ihr also konkret historisch gearbeitet wird. Bettina Degner und Jessica Kreutz analysieren Darstellungstexte in Schulgeschichtsbüchern, die unterschiedliche Lernniveaus anbieten. Sie untersuchen zunächst im Rahmen einer linguistischen Analyse die Textverständlichkeit der Darstellungstexte und greifen dabei auf das numerisch-quantitative Messverfahren der »Syntaktischen Kompliziertheit« zurück, bevor sie im Rahmen einer zweiten, inhaltlich-qualitativen Untersuchung betrachten, auf welche Weise diese Texte unterschiedlicher Niveaus zur Förderung von historischem Lernen beitragen können. Aus einer Synthetisierung der Ergebnisse dieser beiden Blickrichtungen können sie dann genau jenes Spannungsverhältnis zwischen sprachlicher und fachlicher Förderung erkennen, das insgesamt kennzeichnend ist für die Frage nach einer Kooperation von Inklusion und Fachlichkeit. Matthias Sieberkrob schließlich führt in den Ansatz von Sprachbildung ein, den er als ein emanzipatives Projekt (und nicht etwa als eine Elitenmaßnahme zur einseitigen Förderung einer nur für wenige zugänglichen Bildungssprache) entwirft. Unter Rückgriff auf die Ergebnisse des vom Mercator-Institut für Sprachbildung und Deutsch als Zweitsprache geförderten Projektes »Sprachen – Bilden – Chancen: Innovationen für das Berliner Lehramt« (2014–2017) der lehrkräftebildenden Universitäten im Land Berlin analysiert er die im Projekt entwickelten sprachbildenden Lernaufgaben, deren Ziel es war, Studierenden exemplarisch zu zeigen, wie Sprachbildung im Fachunterricht so angegangen werden kann, dass das sprachliche Lernen das fachliche Lernen unterstützt. Auf diese Weise wird zudem der Aspekt der Lehrkräftebildung in diese Sektion integriert. Dass die Beiträge dieser Sektion insgesamt ein Spannungsverhältnis zeigen, mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass wir es gewohnt sind, Fachlichkeit und Inklusion als ein solches Spannungsfeld zu denken – und dass sich die Didaktik der Geschichte oftmals als Fachdidaktik, als die Anwältin der Fachlichkeit versteht. Die Beiträge zeigen aber gleichzeitig, dass der Entwurf solcher Spannung heuristisch außerordentlich ertragreich ist. Denn erst durch eine theoretische und empirische Auslotung dieses Spannungsverhältnisses kann erkannt werden, wie in der Praxis des historischen Lernens sprachliche Vielfalt und Fachlichkeit zusammengebracht werden können.
Sebastian Barsch
Über Quellen sprechen – in der eigenen Sprache
Im Zuge der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen im Jahr 2009 gewann die »Leichte Sprache« vor allem im öffentlichen Raum an enormer Bedeutung. Sie wird als eine Möglichkeit von barrierearmer Kommunikation insbesondere für Menschen mit einer so genannten geistigen Behinderung betrachtet.1 Ein wesentliches Ziel besteht dabei darin, die gesellschaftliche Teilhabe der betroffenen Gruppe zu erhöhen.2 Mittlerweile gibt es im öffentlichen Raum zahlreiche Texte in »Leichter Sprache«. Diese reichen von Informationen von Behörden und Museen über Bildungseinrichtungen bis hin zu Wahlprogrammen von politischen Parteien. Das Einsatzgebiet wird zunehmend ausgeweitet. Sie wird mittlerweile auch als adäquat für Menschen, die nicht gut lesen und schreiben oder »nicht so gut Deutsch können«, ältere Menschen oder Gebärdensprechende, aber auch Jugendliche als hilfreich betrachtet.3 Dabei hat sich in der Praxis die Orientierung am Regelwerk des gemeinnützigen Vereins »Netzwerk Leichte Sprache« manifestiert.4 Dieses formuliert einen strengen Anspruch: »Nur wenn man sich an alle Regeln hält, dann ist der Text wirklich gut.«5 Im Folgenden wird zunächst die Relevanz von »Leichter Sprache« für das historische Lernen skizziert und mit Ergebnissen aus der linguistischen Forschung abgeglichen. Anschließend werden Ergebnisse eines in Schleswig-Holstein durchgeführten Forschungsprojekts vorgestellt, bei dem »Leichte Sprache« als Methode gemeinschaftlicher Quellenübersetzungen ein Reflexionsanlass für 1 »Menschen mit Lernschwierigkeiten« in der Eigenbezeichnung einiger Interessenverbände. 2 Bettina Bock/Daisy Lange/Ulla Fix: Das Phänomen »Leichte Sprache« im Spiegel aktueller Forschung – Tendenzen, Fragestellungen und Herangehensweisen. In: Dies. (Hrsg.): »Leichte Sprache« im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung. Berlin 2017, S. 11–31. 3 Siehe Lebenshilfe Bremen e. V.: Das Büro für Leichte Sprache (www.leichtesprache.com/index. php?menuid=53, aufgerufen am 20. 02. 2020). 4 Netzwerk Leichte Sprache: Die Regeln für Leichte Sprache (https://www.leichte-sprache.org/ wp-content/uploads/2017/11/Regeln_Leichte_Sprache.pdf, aufgerufen am 20. 02. 2020). 5 Dass.: Unsere Ziele (https://www.leichte-sprache.org/unsere-ziele/, aufgerufen am 20. 02. 2020).
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Sebastian Barsch
historische Sinnbildung ist. Die Forschungsfrage lautet: Welche Phänomene historischen Denkens können beim Übersetzen von Quellen in »Leichte Sprache« in Gruppen identifiziert werden?
1.
Ausgangslage
Schon vor der Geschichtsdidaktik befasste sich die Linguistik mit der Wirksamkeit von »Leichter Sprache« in verschiedenen Kontexten. Insbesondere die Arbeiten von Alexander Lasch, der auch Berater für die Gestaltung inklusiver Angebote des Deutschen Historischen Museums ist, identifizierten jedoch mehrere Problemfelder. So muss auf Basis seiner empirischen Erkenntnisse der Anspruch zurückgewiesen werden, dass die »Leichte Sprache« für die Gesamtgruppe von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und deren Textverständnis hilfreich wäre, da diese in sich äußerst heterogen ist und überhaupt nicht als eine »Gruppe« bezeichnet werden kann.6 Die Linguistin Bettina Bock konnte zudem zeigen, dass die Anwendung dieser Sprachvarietät gerade im öffentlichen Raum ein äußerst hohes Stigmatisierungspotenzial haben kann:7 Menschen, denen Texte in »Leichter Sprache« etwa bei Museumsführungen angeboten wurden, fühlten sich durch dieses »Sonderangebot« teils diskriminiert. Jüngst machte Lasch noch auf das Phänomen aufmerksam, dass das Nutzungsverhalten von »Leichter Sprache« zu Binnenhierarchisierung innerhalb der Gruppe von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen führen kann, verdeutlicht an der Aussage »Leichte Sprache ist doch für die von der Werkstatt.«8 Auch die Frage, ob Texte in »Leichter Sprache« tatsächlich das abbilden, was ihre Pendants in »Standardsprache« ausdrücken, muss hinterfragt werden. Aus linguistischer Perspektive kann daher die Position vertreten werden, dass Texte in »Leichter Sprache« keine »komplexitätsreduzierten Linearübersetzungen und damit ›kleinen Geschwister‹ größerer Texte [sind], sondern eigenständige For-
6 Alexander Lasch: Zum Verständnis morphosyntaktischer Merkmale in der funktionalen Varietät »Leichte Sprache«. In: Bock u. a. (Anm. 2), S. 275–299, hier S. 281. 7 Ebd. S. 282; Bettina Bock: »Leichte Sprache«: Abgrenzung, Beschreibung und Problemstellung aus Sicht der Linguistik. In: Susanne Jekat/Heike Jüngst/Klaus Schubert/Claudia Villiger (Hrsg.): Sprache barrierefrei gestalten. Perspektiven aus der Angewandten Linguistik. Berlin 2014, S. 17–49. 8 Alexander Lasch: Leichte Sprache im öffentlichen Raum. Vortrag auf der Tagung »Sprache und Vermittlung – Kommunikation in Ausstellungen« am Deutschen Historischen Museum Berlin am 12. 10. 2018 (https://alexanderlasch.wordpress.com/2018/10/14/leichte-sprache-im-oeffent lichen-raum-berlin-12-10-2018/, aufgerufen am 20. 02. 2020).
Über Quellen sprechen – in der eigenen Sprache
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mate, die als solche auch zu entwickeln« seien.9 Die in vielen Institutionen vorzufindenden Praktiken beruhten daher auf problematischen Prämissen, wenn davon ausgegangen werde, dass die regelhafte Übersetzung hilfreich für die Informationsaufnahme sei. Vielmehr müsse davon ausgegangen werden, dass Verständlichkeit stets graduell sei und es kein Maß für eine allgemeine Verständlichkeit gebe. Sprache aber wird stets in der Lebenswelt ausgehandelt. Auch müsse der Unterschied zwischen Sprechen und Schreiben berücksichtigt werden. Generell gebe es viele Aktivitäten der Textproduktion ohne ausreichende Expertise.10 Die »Leichte Sprache« wird auch im geschichtsdidaktischen Diskurs verhandelt. Tatsächlich wird sie in historischen Bildungskontexten oft genutzt, insbesondere wenn es um die Bereitstellung von Informationsangeboten an außerschulischen historischen Lernorten wie Museen und Gedenkstätten geht. Bereits früh geschah dies etwa an der Gedenkstätte Hadamar, in der an die gleichnamige Tötungsanstalt erinnert wird, bei der im Rahmen der sogenannten T4-Aktion in der Zeit des Nationalsozialismus knapp 15.000 Menschen mit geistigen und psychischen Behinderungen ermordet worden sind. Zielsetzung des Aufbaus eines Angebots in »Leichter Sprache« war, dass auch diejenigen Menschen, die im Nationalsozialismus zur dort getöteten Opfergruppe zählten, von den Angeboten der Gedenkstätte profitieren können sollten. Wie Sebastian Priwitzer in seiner Diplomarbeit zeigen konnte, folgte die Gedenkstätte dabei einem Trend, der als die pädagogische Maßnahme für inklusive Geschichtsarbeit galt.11 Auch das Deutsche Historische Museum in Berlin sammelte Erfahrungen mit Objekttexten in »Leichter Sprache« in mehreren Ausstellungen.12 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich dort, dass nur wenig darüber bekannt ist, welche spezifisch geschichtsdidaktischen Probleme mit ihrer Nutzung einhergehen. Pionierarbeit für unsere Disziplin leistete hier Bettina Degner, die zeigen konnten, dass die Übersetzung von Texten bzw. konkret von Quellen in »Leichte Sprache« einige unerwünschte Effekte haben kann: So sei die Komplexität historischer Zusammenhänge reduziert worden, sachliche problematische Formulierungen im Präsens entsprechend der Regeln des Netzwerks Leichte Sprache führten zu 9 Ders.: ›Leichte Sprache‹ – 10 Gestaltungshinweise. Eintrag vom 3. Februar 2013 (https://alexan derlasch.wordpress.com/2013/02/03/leichte-sprache-10-gestaltungshinweise/, aufgerufen am 20. 02. 2020). 10 Ders. (Anm. 8). 11 Sebastian Priwitzer: Geschichte begreifen – Historisch-politische Bildung fu¨ r Menschen mit Lernschwierigkeiten an der Gedenkstätte Grafeneck (Masterarbeit). Ludwigsburg 2010 (https://phbl-opus.phlb.de/files/306/DA_Priwitzer.pdf, aufgerufen am 20. 02. 2020). 12 Friedrun Portele-Anyangbe: Ausstellungstexte in Leichter Sprache – Ein Praxisbericht aus dem Deutschen Historischen Museum. In: Christoph Kühberger/Robert Schneider (Hrsg.): Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts. Bad Heilbrunn 2016, S. 121–135.
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chronologischen Ungenauigkeiten und die ebenfalls in einer frühen Fassung des Regelwerks geforderte Bildunterstützung befördere eine Kindesorientierung auch beim Einsatz für erwachsene Menschen.13 Die grundlegende Frage, die auch schon Bettina Degner aufgeworfen hat, bleibt also diejenige danach, ob die »Leichte Sprache« tatsächlich ein wirksamer Vermittlungsansatz für historisches Denken von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ist. Auf einer pragmatischen Ebene lässt sich trotz der uneinheitlichen Befunde jedoch festhalten, dass eine Sensibilisierung für Sprache auch zu einem adaptiven Sprachhandeln von Akteur*innen in Bildungs- und anderen Einrichtungen führen kann.14 Neben den Arbeiten von Bettina Degner gibt es nur wenige domänenspezifische empirische Erkundungen zur »Leichten Sprache«. Der vorliegende Beitrag stellt Ergebnisse eines Forschungsprojektes vor, das 2019 in Schleswig-Holstein begonnen wurde und noch weiter fortgeführt wird. Ausgangspunkt ist, »Leichte Sprache« nicht primär zum Zwecke der Vermittlung von Informationen zu nutzen, sondern als Reflexionsanlass im Kontext inklusiven Unterrichts. Historische »Spracharbeit« wird hierbei als eine Möglichkeit verstanden, marginalisierten Gruppen eine Teilhabe an historischer Sinnbildung zu ermöglichen, indem sie über Geschichte in der jeweils für sie verständlichen Sprache sprechen. Das basiert auf der Annahme, dass historische Sinnbildung stets situationsgebunden und auf Kommunikation angewiesen ist.15 Erstmalig erprobt wurde das Konzept im Rahmen der Special Olympics, einer Sportveranstaltung für Menschen mit geistiger Behinderung, die 2018 in Kiel stattfand. Im dazugehörigen Begleitprogramm wurde eine inklusive Geschichtswerkstatt angeboten, in der in gemischten Gruppen die Geschichte des Sportfests erarbeitet werden konnte. Dazu wurden verschiedenen Quellen in den Gruppen in »Leichte Sprache« übersetzt. »Leichte Sprache« diente hier also nicht der Komplexitätsreduktion, sondern als Impuls für das gemeinsame Erstellen eines Texts. Es zeigte sich, dass im Prozess des Übersetzens tatsächlich geschichtsdidaktische Reflexionen vorgenommen wurden. Die Frage nach der Kontextualisierung der Quelle wurde etwa gestellt, ebenso wurden Wortbedeutungen und deren Repräsentanten in Vergangenheit und Gegenwart reflektiert.
13 Bettina Alavi: Leichte Sprache und historisches Lernen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 169–190. 14 Dies.: Leichte Sprache und Visualisierung. In: Sebastian Barsch u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik. Frankfurt/M. 2020, S. 375– 384, hier S. 381. 15 Sebastian Barsch/Silja Leinung: »Leichte Sprache«. Vom Übersetzen zur historischen Sinnbildung. In: Geschichte Lernen 190 (2019), S. 10–15.
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Auch die Frage, wie die Quellen aus gegenwärtiger Perspektive beurteilt werden könnten, wurde diskutiert.16 Das hier vorgestellte Forschungsprojekt geht der Frage nach, ob diese Methode auch für den inklusiven Geschichtsunterricht geeignet ist. Der gemeinsame Prozess des Übersetzens von Quellen in eine für die jeweilige Gruppe verständliche Form kann als Basisarbeit historischer Sinnbildung verstanden werden, ohne die historische Narrationen gar nicht erst erstellt werden können. Das Übersetzen erlaubt zudem Einblicke darin, dass Geschichtsschreibung ein sozialer Prozess ist, der sowohl von gegenwärtigen Normvorstellungen und Interpretationen als auch von den Quellen selbst beeinflusst wird. Durch ein solches Vorgehen könnte also der Konstruktcharakter von Geschichte veranschaulicht werden, inklusive der Offenlegung von Wissenslücken, der Reflexion von Standortgebundenheit, der Perspektivität und Partialität.17 Im Ringen um Konsens müssen die Proband*innen verschiedene Fragen implizit oder explizit behandeln: – Wofür steht die Quelle im historischen Kontext? – Was steht überhaupt in ihr? – Würden die in ihr vorhandenen Begriffe und Formulierungen auch heute gewählt oder hat sich ihre Konnotation geändert? – Teilen alle in der Gruppe dieselben Interpretationen? – Was sagt die Quelle überhaupt über die Vergangenheit aus? – Was sagt sie nicht aus? – Wie kann die Quelle aus heutiger Perspektive bewertet werden?
2.
Stichprobe und methodisches Vorgehen
Die Erhebung fand an drei Schulen in Schleswig-Holstein statt. Davon waren zwei inklusiv arbeitende Gemeinschaftsschulen, eine war ein Förderzentrum für Schüler*innen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Das Durchschnittsalter der Schüler*innen betrug 15,2 Jahre. Die Befragten aus dem Förderzentrum waren im Durchschnitt 17 Jahre alt.18 Insgesamt nahmen 41 Schüler*innen an der Erhebung teil. Vor der Erhebung befassten sich die Lernenden im Unterricht jeweils mit Grundlagen der Arbeit von Historiker*innen, gingen also auch der Frage nach, 16 Sebastian Barsch: »Leichte Sprache« als Reflexionsanlass – ein inklusiver Workshop zur Geschichte der Special Olympics. In: ZDG 10 (2019) H. 1, S. 113–125. 17 Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2015, S. 161. 18 Die Oberstufe wurde auf Grund ihrer Leistungsstärke von der Schule als geeignete Klasse identifiziert.
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wie aus Quellen Geschichte konstruiert wird, und setzten sich mit dem Prinzip der Perspektivität auseinander. Dazu erhielten sie Informationen über die Textgattung »Quellen« und deren Funktion bei der historischen Erkenntnisgewinnung. Die Klassen erarbeiteten dann inhaltsbezogenen Unterricht mit den Themen »Mauerbau« oder »Industrialisierung«. Da der Fokus der vorliegenden Studie auf den Aushandlungsprozessen beim Übersetzen von Quellen liegt, wurde es als nicht erforderlich betrachtet, die gleichen Quellen für alle untersuchten Gruppen zu verwenden. Vielmehr erfolgte die Auswahl pragmatisch auf Basis des jeweils in den Schulen stattfindenden Unterrichts: In den beiden Gemeinschaftsschulen wurde gerade das Thema Industrialisierung bearbeitet, die Klasse aus dem Förderzentrum stand kurz vor einer Klassenfahrt nach Berlin. Sie hat sich daher explizit mit der deutsch-deutschen Geschichte befasst. Die unmittelbaren Stunden vor der Erhebung wurden gemeinsam mit den Lehrpersonen der entsprechenden Klassen geplant. So wurden zum Beispiel geeignete Quellen recherchiert und als relevant erachtetes Basiswissen erstellt. Die eigentliche Erhebung fand in einer der »Übersetzungsstunden« statt. In der »Übersetzungsstunde« wurden die Lernenden in Gruppen aufgeteilt (unter der Prämisse: »möglichst vielfältig«) und erhielten verschiedene Quellen zu den von ihnen bearbeiteten Themen. Sie erhielten eine Anleitung zum Vorgehen und die Aufgabe: Übersetzt die Quelle so, dass sie für jede Person in eurer Gruppe verständlich ist. Dazu erhielten sie auch Anschauungsmaterial, aus dem hervorging, wie Leichte Sprache umgesetzt werden könnte.19 Gleichwohl wurde den Gruppen verdeutlicht, dass es nicht darum gehen sollte, eine regelkonforme Übersetzung zu erstellen, sondern die Quelle so zu übersetzen, dass sie von allen Gruppenmitgliedern verstanden wird. »Leichte Sprache« wurde für die Lernenden so definiert, dass sie dann gegeben sei, wenn die jeweilige Gruppe sie als solche betrachtet. Das Ziel des Übersetzungsprozesses war also ein konsensualer Text. Im Anschluss an die Übersetzung sollten die Gruppen die Quellen noch im Sinne eines Werturteils einschätzen. Betrachtet wurde für die vorliegende Untersuchung das sprachliche Aushandeln der einzelnen Schüler*innen und der Gruppen während des Übersetzens der Quellen. Die Forschungsfrage lautet: Welche Phänomene historischen Denkens können beim Übersetzen von Quellen in »Leichte Sprache« in Gruppen identifiziert werden? Der Fokus liegt dabei auf solchen sprachlichen Äußerungen, die erkennen lassen, dass ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart eine Rolle für die Argumentation spielt, zeitliche Differenzen wahrgenommen werden und über die Konstruktion der Übersetzung debattiert wird. Elaborierte intersubjektive Auseinandersetzungen über Geschichte, wie sie etwa 19 Entnommen Barsch/Leinung (Anm. 15).
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im Historical-Reasoning-Konzept20 oder in den Kompetenzmodellen21 angelegt sind, stehen nicht im Mittelpunkt, da in ihnen auch methodischen Kenntnissen ein großer Stellenwert zugemessen wird. Die jeweiligen Klassenlehrer*innen waren in der Übersetzungsstunde anwesend, hielten sich aber stark zurück. Wenn der Gruppenarbeitsprozess deutlich stockte, etwa Wort- und Satzbedeutungen nicht aus dem Kontext hergeleitet werden konnten, unterstützten sie die Lernenden. Die insgesamt acht Gruppengespräche ( je drei bis vier Schüler*innen) wurden audiografiert. Davon fanden drei im Förderzentrum und fünf in den Gemeinschaftsschulen statt. Zusätzlich zur Audioaufnahme wurde die Gruppenarbeit ethnografisch begleitet, d. h. es wurden Feldnotizen und Beobachtungen durch den Projektleiter und studentische Mitarbeiter*innen durchgeführt. Ziel dieses ethnographischen Zugangs war die Rekonstruktion von Interaktionsverläufen zwischen den Gruppenmitgliedern, wobei die gemeinsame Textarbeit als Stimulus betrachtet werden kann, um das soziale Feld »Klassengemeinschaft« in den Blick zu nehmen und dieses »aus seinem Kontext heraus« zu verstehen.22 Die Schüler*innen füllten nach der Gruppenarbeit zusätzlich einen kurzen Fragebogen aus, auf dem sie den Übersetzungsprozess hinsichtlich Schwierigkeiten und Erkenntnisgewinn einordnen konnten. Zuletzt fand ein Gespräch im Klassenplenum statt, bei dem ebenfalls Hürden, aber auch Lernchancen und die Methode generell besprochen wurden. Diese Gespräche wurden ebenfalls aufgezeichnet. Die Übersetzungen der Quellen stehen nicht im Mittelpunkt der vorliegenden Auswertung. Diese sollen zu einem späteren Zeitpunkt (unter Ergänzung von Übersetzungen aus Gymnasialklassen) einer Korpusanalyse unterzogen werden. Die (Wert)Urteile zu den Quellen sollen dann inhaltsanalytisch ausgewertet werden. Die audiografierten Gruppengespräche wurden vollständig transkribiert und mittels der Grounded Theory Methodologie (GTM) nach Charmaz ausgewertet.23 20 Carla van Boxtel/Jannet van Drie: Historical reasoning in the classroom: What does it look like and how can we enhance it? In: Teaching History 150 (2013), S. 44–52. 21 Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens: ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007. 22 Georg Breidenstein u. a.: Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz/München 2015, S. 146 und 33. Ausführlich zum Vorgehen und zur Beschreibung des ethnographischen Vorgehens siehe Sebastian Barsch: Was steht da? Übersetzen von Quellen als Prozess historischer Sinnbildung – Feldforschung in einem Förderzentrum. In: Christoph Kühberger (Hrsg.): Ethnographie und Geschichtsdidaktik. Zugänge für die empirische Forschung. Frankfurt/M. 2020 (i. Dr.). 23 Kathy Charmaz: Den Standpunkt verändern: Methoden der konstruktivistischen Grounded Theory. In: Günter Mey/Katja Mruck (Hrsg.): Grounded Theory Reader. Wiesbaden 2011, S. 181–205.
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Im Gegensatz zur »klassischen« GTM verfolgt Charmaz eine stärker konstruktivistisch ausgeprägte Methodologie. Diese basiert auf der Annahme, dass die Interpretation der Daten das »Ergebnis eines interaktiven Konstruktionsprozesses von Forschenden und Beforschten [ist], in dem die professionellen und persönlichen Voraussetzungen der Forschenden eine wesentliche Rolle spielen und in den Interpretationen entsprechend berücksichtigt werden müssen.«24 Ihr Ansatz versucht, sich bei der Auswertung einerseits nah an den vorgefundenen Daten zu orientieren und die Theoriebildung primär auf der Phänomenebene zu betreiben. Gleichwohl sollen eigene Vorannahmen und eigenes Vorwissen für die Auswertung der Daten produktiv genutzt werden. Die »Theoriebildung zielt auf die Konzeptualisierung von empirischen Phänomenen in abstrakten Begriffen, um dadurch ein vertieftes Verständnis des Untersuchungsgegenstands zu ermöglichen«.25 Auch andere Varianten der GTM gehen davon aus, dass Vorwissen für die Analyse der Daten berücksichtigt werden muss. Gleichwohl fokussiert Charmaz’ Ansatz die jeweilige Fallspezifik deutlicher, ohne den Anspruch einer über die untersuchte Gruppe hinaus wirksamen Theoriebildung zu verfolgen. Die hier vorgestellten Ergebnisse stehen demnach nur für die untersuchte Gruppe und können nicht verallgemeinert werden. Das Material wurde zunächst initial (offen) kodiert, wobei gleichzeitig schon konzeptionelle Codes gebildet wurden. Einzelne Textpassagen wurden paraphrasiert, um so Argumentationsmuster zu verdichten. Die Paraphrasen wurden ebenfalls kodiert. Diese Phase war durch ihre induktive Herangehensweise gekennzeichnet.26 Anschließend wurden diese zu Kategorien zusammengefasst, mit deren Hilfe das Material analytisch erneut systematisiert wurde (focused coding nach Charmaz). Hierbei wurden auch deduktiv hergeleitete Kategorien verwendet. Auch wenn der eigentliche Untersuchungsgegenstand auf Elemente historischen Denkens bei den Gruppen liegt, wurden auch solche Passagen codiert, die vor allem der Texterschließung dienten. So lässt sich mit den Daten auch herausfinden, ob überhaupt eine auf Vergangenheit bezogene Auseinandersetzung mit den Quellen stattgefunden hat oder diese lediglich ohne historische Bezüge übersetzt wurden. Auf Basis dieser Kategorien und ihre Beziehungen zueinander wurde die »Grounded Theory« entwickelt. Diese mündet nicht in einer klassischen Typenbildung, sondern in einer dichten Beschreibung des Gruppenarbeitsprozesses, da letztlich die Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppen nur marginal waren. Die grundlegende Herangehensweise 24 Nicola Bücker: Kodieren – aber wie? Varianten der Grounded-Theory-Methodologie und der qualitativen Inhaltsanalyse im Vergleich. In: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 21 (1) 2020, Art. 2 (http://dx.doi.org/10.17169/fqs-21.1.3389). 25 Ebd. 26 Kathy Charmaz: Constructing Grounded Theory. A Practical Guide Through Qualitative Analysis. London 2016, S. 47.
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ist vergleichbar, die Strategien sind ähnlich. Im Sinne eines Vergleichs wird auf einer zweiten Ebene bei der Ergebnisbeschreibung dennoch der Versuch unternommen, schulformspezifische Unterschiede zu identifizieren. Folgende Kategorien wurden konstruiert: Kategorie und Eigenschaft Texterschließung historischer Begriffe Unbekannte Wörter und Redewendungen sorgen für Irritationen, eine Auflösung erfolgt konsensual.
exemplarische Interviewpassage GS1_1_S2: Danach (…) muss sie (…) um (…) mit dreiviertel sieben, oder? GS1_1_S3: Dreiviertel sieben die Kinder, also mit den Kindern. […] GS1_1_S2: Soll ich einfach das gleich schreiben? Dreiviertel sieben? GS1_1_S3: Joa. GS1_1_S1: Ich würd’s ohne Bruch, weil (…) versteht man das besser. […] GS1_1_S1: Aber ist es jetzt viertel nach sechs oder viertel vor sieben? GS1_1_S3: (lachen) GS1_1_S2: Dreiviertel sieben? […] GS1_1_S2: Also entweder ist es viertel vor acht oder es ist viertel nach sieben. GS1_1_S3: Das ist hier die Frage. […] GS1_1_S3: Viertel nach sieben könnte (…) theoretisch (…) GS1_1_S3: Ja, keine Ahnung, dass man halt diese letzte Viertelstunde und dann halt (unv.) dreivierte voll, oder so, keine Ahnung. GS1_1_S2: Ja, aber ich mein, viertel vor acht würde halt auch irgendwie passen, ne? GS1_1_S1: Ja, viertel vor acht würde mehr passen. GS1_1_S2: Finde ich auch irgendwie, aber (…) joa, wollen wir einfach viertel vor acht aufschreiben? GS1_1_S3: Ja. // S1: Ja.
Texterschließung allgemein Der Inhalt des Textes wird mit Mitteln des Alltagssprachgebrauchs der Schüler*innen hergeleitet.
GS2_2_S5: Ähm (…) gegen die neuen Maschinen eifern, was ist eifern? (..) Streiken? GS2_2_S1: Vielleicht eifersüchtig sein?
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(Fortsetzung) Kategorie und Eigenschaft Gegenwartserklärung Unbekannte historische Phänomene werden mit Erfahrungen aus der Gegenwart erschlossen.
Aktivierung von Vorwissen Bei der Texterschließung wird auf historisches Vorwissen zurückgegriffen. Urteilsübernahme Die Beurteilung der Quellen wird aus den vorliegenden Informationen übernommen. Ein eigenes Urteil wird nicht formuliert.
exemplarische Interviewpassage GS2_1_M1: Ich mein’, wenn mit Wohlfahrt sowas wie die Tafel gemeint ist, dann ist es glaube so, keine Ahnung, vielleicht wenn man irgendwie Klamotten braucht oder sowas. […] GS2_1_M4: Und Essen. GS2_1_M1: Irgendwie Klamotten oder so oder Essen oder sowas braucht und dort hingeht und GS2_1_M4: Und [unverständlich] Brot umsonst. GS2_1_M2: Nein, bei [unverständlich] bezahlen. Also jetzt nicht so viel GS2_1_M4: Nein. GS2_1_M3: Doch, bei der Tafel musst du auch immer bezahlen. GS2_1_M4: Seit wann? GS2_1_M3: Schon immer. […] GS2_1_M1: (13 sec) Also, eine Wohlfahrtseinrichtung is’ so, is’ äh ’ne Tafel mit Extras. GS2_1_W3: Ist eher, die Wohl äh die Tafel ist ein Beispiel für eine Wohlfahrtseinrichtung, okay? GS2_1_M1: Bei Wohlfahr- Wohlfahrtseinrichtungen bin ich mir auch nicht sicher. GS2_1_M3: Hast du ’ne Ahnung? Du? GS2_1_M2: Ich habs gehört, aber das war in WW2.
GS1_1_ S1: Das habe ich jetzt auch daraus verstanden, dass derjenige damit sagen möchte, dass die Frauen da so früh aufstehen und dann da den ganzen Haushalt immer alles machen müssen und arbeiten gehen. Urteilsbildung FZ_1_S4: Okay, also ich, ich find allein die Idee, so’ne Mauer aufzubauen wirklich (.), Auf Basis der Informationen aus den Quellen kommt die Gruppe zu einer eigen- echt (.), ich find das nicht gut. ständigen Beurteilung der Situation, ggf. FZ_1_S1: Ja, man trennt doch die Leute unter Rückgriff auf Vorwissen. und das ist, als würde man so Sklavenarbeit machen. Das ist so wie, schon so, Sklavenarbeit zwingt die Leute zu etwas, das sie gar nicht wollen. Das ist (.), man hat überhaupt gar keine Freiheiten. Tabelle 1: Induktiv gewonnene Kategorien.
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Zwar in den Audioaufnahmen codiert, hier aber nicht eigens aufgeführt sind Aushandlungen über Rechtschreibung und Schreibstrategien. Deduktiv hergeleitete Kategorien basieren auf vier von fünf Merkmalen historischer Narratitivät nach Pandel,27 die für die vorliegende Studie insofern als besonders geeignet scheinen, da sie die Textstrukturen beziehungsweise Argumentationsmuster offenlegen, darüber hinaus aber auch sprachliche Aushandlungen in der Gruppe im Sinne historischen Reflektierens einordnen helfen können. In komplexerer Variante sind diese auch in den aktuellen geschichtsdidaktischen Kompetenzmodellen integriert, wenn etwa davon ausgegangen wird, dass zur Quellenkritik auch gehört, dass Informationen hinsichtlich ihrer gegenwärtigen, aber auch ihrer vergangenen Bedeutung analysiert werden müssen. Narrative Triftigkeit entsteht somit auch durch die Offenlegung und Reflexion von Konstruktionsprinzipien, Einschränkungen der Gültigkeit von Aussagen und den Verweis auf offene Fragen.28 Kategorie und Eigenschaft Retrospektivität Beim Übersetzen werden Wissensbestände aus der Gegenwart auf die zeitgenössische Situation angewandt.
exemplarische Interviewpassage GS1_1_ S1: Ja. Gab’s damals überhaupt einen Kindergarten schon?
GS1_1_S2: Wollen wir den aufschreiben? Temporalität In den Gruppengesprächen werden Zeitdif- Also es gibt Fabrikarbeiterinnen, die (…) ferenzen thematisiert. also sollen wir (…) GS1_1_S3: Ich würd’ vielleicht erstmal in der Industrialisierung, oder in der Zeit der Industrialisierung (…) schreiben. Damit man so weiß, wann das ist. Selektivität und Partialität29 GS1_1_S3: Also ich hab’ jetzt: In der Zeit Es wird darüber gesprochen, dass die der Industrialisierung gibt es zum Beispiel Quellen selbst und der in ihnen behandelte eine Fabrikarbeiterin, die sehr früh aufAspekt nur ein Ausschnitt der Geschichte stehen muss, weil sie (…) keine Ahnung sind. (…) zwei Jobs gleichzeitig machen muss oder so?30 Tabelle 2: Deduktiv gewonnene Kategorien.
27 Pandel (Anm. 17), S. 75–90. 28 Monika Waldis/Philipp Marti/Martin Nitsche: Angehende Geschichtslehrpersonen schreiben Geschichte(n). In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 63–86, hier S. 69. 29 Die beiden Merkmale werden für die vorliegende Untersuchung zusammengezogen, da beide für den Ausschnittcharakter der Quellen stehen. 30 Der Satzbestandteil »zum Beispiel« kann so gedeutet werden, dass der Ausschnittcharakter der Quelle reflektiert wurde.
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3.
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Ergebnisse
Die Gruppenarbeiten waren zunächst durch Strategien der Texterschließung gekennzeichnet. Ebenso mussten Rollen innerhalb der Gruppe ausgehandelt werden: Wer liest vor, wer schreibt auf, wer ist die Person, die erste Bedeutungen vorgibt? Unter quantitativer Berücksichtigung der gebildeten Kategorien zeigt sich, dass neben rein sprachlichen Texterschließungsstrategien oft auf historisches Vorwissen zurückgegriffen wurde. Gerade die Bedeutung unbekannter Wörter, die im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr üblich sind, wurde teilweise durch Bezug auf Vorwissen hergeleitet. Merkmale historischer Narrationen wie Temporalität, Retrospektivität, Selektivität und Partialität konnten identifiziert werden, zeigten sich qualitativ jedoch selten. Im Folgenden werden die konstruierten Kategorien zusammengefasst und die grundlegenden Prinzipien der Quellenübersetzung in Form einer dichten Beschreibung nah am Datenmaterial vorgestellt. Die paraphrasierende Beschreibung wird jeweils durch Auszüge aus den Gruppengesprächen veranschaulicht.
3.1
Texterschließungsstrategien
In der Regel wurden für die Erschließung unbekannter Wörter zunächst direkte Texterschließungsstrategien aus der Alltagssprache gewählt. Es wurde also der Versuch unternommen, den Sinn aus dem Kontext herzuleiten, insbesondere auch bei solchen historischen Wörtern, die im Alltag der Lernenden nicht vorkommen. Dabei kam es oft zu äußerst langwierigen und komplexen Aushandlungsprozessen, bis ein Konsens innerhalb der Gruppe gefunden wurde: GS2_4_A: Nach dem Abendessen, das auch erst wieder von der Frau vorbe- vorbereitet werden muss, kommen all die Kinder, äh die kleinen und großen Verrichtungen. GS2_4_Al: Was das? Verrichtungen? […] GS2_4_Al: Äh, was heißt ›Verrichtungen‹? GS2_4_A: Kinder! (..) Die kleinen und großen Verrichtungen. Klein, groß. GS2_4_Al: Ach so! Ich dachte all die kleinen Kinder! GS2_4_A: Ja, Verrichtungen! Is’ doch Kinder! GS2_4_Al: Verrichtungen sind doch keine Kinder! GS2_4_A: Ja, was denn? GS2_4_Al: Richtungen! Ver-richtungen. […] GS2_4_A: // An einem Abend wird Wäsche gewaschen. Am nächsten Tag wird gebügelt. GS2_4_Al: Also Verrichtungen heißen Arbeiten! (..) Nach dem AbendessenGS2_4_A: // Ah! Die kleinen und großen Arbeiten!
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Oft wurde auf historisches Wissen beziehungsweise Vorwissen zu den im Unterricht behandelten Inhalten zurückgegriffen, um die Quelle zu erschließen. Dies schien vor allem auf vorangegangene Unterrichtsstunden zu basieren, auch wenn durchaus möglich ist, dass anders erworbene Wissensbestände in die Texterschließung einflossen. In den Diskussionen wurden Informationen aus den Quellen mit dazu passendem Wissen abgeglichen, welches textlich nicht vorlag. So wurde etwa auf die soziale Frage verwiesen, als eine Quelle zur Situation der Frau in der Industrialisierung übersetzt wurde: GS1_1_S3: Um denn das Mittagessen vorzubereiten und denn pünktlich aus dem Haus zu kommen, damit sie pünktlich die Kinder in den Kindergarten zum Beispiel bringt und dann pünktlich bei ihrer Arbeit zu sein. GS1_1_S2: Ähm ja, ich würde auch sagen, ja weil (…) zum Beispiel die Reicheren, die müssen ja nicht sowas, also nicht zum Beispiel nicht in ’ner Fabrik arbeiten und sich gleichzeitig um die Kinder kümmern. Die haben halt meistens sogar noch jemanden, der sich um die Kinder kümmert und die arbeiten dann ja gefühlt gar nicht.
An einem weiteren Beispiel lässt sich erkennen, dass auch innere Vorstellungsbilder abgerufen wurden, um Begriffe zu verstehen. Das Wort »Stacheldraht« wurde hier einerseits visuell-imaginativ erklärt (»sind so Spitzen«), andererseits mit der vorangegangenen Unterrichtseinheit in Verbindung gebracht, hier konkret mit dem Zusammenhang zwischen Verhaftungen an der deutschdeutschen Grenze und der physischen Grenzsicherung: FZ_3_S2m: Stacheldraht ist, ähm, dass bei den Zellen, wenn äh in Berlin ist auch so eine Zelle, da wo die ganzen Polizisten die hinbringen. Wo die nicht rauskönnen. Wo die nicht über die Mauer gehen können ist da oben der Stacheldraht. FZ_3_S1w: Ah so, sind so Spitzen. FZ_3_S2m: Wo die Polizisten die nicht rauslassen sollten.
3.2
Erschließungen aus Gegenwartserfahrungen
Bei fast allen Gruppen zeigte sich auch eine Herleitung von Bedeutung bzw. Texterschließung über Gegenwartsbezüge, aus denen Sachverhalte mit eigenen Erfahrungen erklärt wurden. Ein Lebensweltbezug vollzog sich hier vor allem an Erfahrungen mit Institutionen, die im Rahmen der Lebensführung wirken. So zeigt etwa dieses Beispiel, dass das Wort »Anstalt«, das im Rahmen einer Quelle zur Rolle der Frau in der Zeit der Industrialisierung verwendet wurde, mit Erfahrungen aus der unmittelbaren Klassengemeinschaft verknüpft wurde. Unter »Anstalt« verstand ein Schüler etwas »Psychisches« und übertrug eine biographische Erfahrung auf die Quelle:
228
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GS2_4_A: Ja. Da steht: die Kinder werden in die Anstalt gebracht. Kann man auch sagen, dass sie in den Kindergarten gebracht werden? […] GS2_4_Al: Ich verstehe unter Anstalt irgendwas Psychisches. GS2_4_K: Ja. GS2_4_Al: Da wo Kinder hinkommen, die (.) böse zu ihren Eltern waren. GS2_4_A: // Behindert sind! (lacht) GS2_4_K: So wie du! GS2_4_Al: Ne, ich war ja nicht böse zu meinen Eltern. GS2_4_A: Aber böse zu den anderen Kindern! (lacht) Im Kindergarten. Aus einer Anstalt wurde […] aus einem Kindergarten wurde schnell ’ne Anstalt und dann- ist er zu uns gekommen. (…) spannend?
3.3
Erläuterungs- und Erklärsprache
Viele Schüler*innen wechselten zwischen einer Erläuterungs- (im Sinne »lauten Nachdenkens«) und einer Erklärsprache. Das kann beispielhaft an dem folgenden Gespräch einer Gruppe aus dem Förderzentrum gezeigt werden. Zwei Schülerinnen, die eine wesentliche Leitungsfunktion in ihrer Gruppe hatten, wechselten zwischendurch immer wieder in ihre Erstsprache Türkisch, um sich über den Inhalt der Quelle zu verständigen. Anschließend konnten sie ihren Mitschülern die wesentliche inhaltliche Aussage mitteilen und steuerten so den Übersetzungsprozess (Übersetzungen aus dem Türkischen in einfachen Anführungsstrichen): »FZ_2_S2w: Sag mal auf Türkisch, dann kann ich’s übersetzen. […] FZ_2_S1w: Von der anderen Seite kommt. FZ_2_S2w: Ah. (türkisch) FZ_2_S1w: Das man, das man. Orda diyorlar. Anneannesi diye gitmis¸. ›Die sagen, dass… wegen der Großmutter mütterlicherseits sind sie dahin gegangen/ist er/sie dahin gegangen.‹ FZ_2_S2w: Olabilir böyle. Anneannesinin ölümüne die andere Seite öbür tarafa gitmis¸. (Kichern) ›Kann so sein. Wegen des Todes der Großmutter. Die andere Seite‹ FZ_2_S1w: Ach so, stimmt, auf die andere Seite. FZ_2_S2w: Sonra onlar onu eve göndermiyorlar. Anneannesi bizim yanımızda ölsün diyorlar. (Kichern) Ha, okey, tamam. ›Dann/Danach haben sie sie nicht nach Haus geschickt, damit sie bei ihnen sterben kann. (Kichern) Ah, Okay, alles klar.‹ FZ_2_S1w: Je (.) Jetzt nochmal auf deutsch (Lachen) FZ_2_S2w: Sie meint so, dass (.) die andere Seite getrennt ist. FZ_2_S3m: Ja. FZ_2_S2w: In der Mauer, in der Mitte.«
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Ähnliche Phänomene zeigten sich auch bei anderen Gruppen, in denen kein Sprachwechsel stattfand. Dominierende Schüler*innen paraphrasierten oft zunächst in ihrer Alltagssprache den Inhalt der Quellen, bevor sie ihn ihren Gruppen an die Mitglieder weitertrugen. Es kann somit von einem mehrstufigen Übersetzungsprozess gesprochen werden.
3.4
Quellenkritische Perspektiven
Eine dezidierte Interpretation der Quellen aus der Zeit heraus fand kaum statt. Dies deckt sich mit älteren Studien.31 Gleichwohl diskutierten mehrere Gruppen über Aspekte der Temporalität, indem sie die in der Quelle dargestellten Inhalte unter der Perspektive zeitlichen Wandels besprachen. Einige – nicht alle – Gruppen vollzogen also zeitliche Differenzierungen in ihren Gesprächen: GS1_1_S2: Wollen wir den aufschreiben? Also es gibt Fabrikarbeiterinnen, die (…) also sollen wir (…) GS1_1_S3: Ich würd’ vielleicht erstmal in der Industrialisierung, oder in der Zeit der Industrialisierung (…) schreiben. Damit man so weiß, wann das ist.
Unter dem Aspekt der zeitlichen Differenz wurden gelegentlich auch Fragen nach Kontinuität und Wandel bzw. Kausalität unter Einbezug von gegenwärtigem Wissen (also retrospektiv) reflektiert: GS2_2_S3: wenn die Menschen das als, äh, (..) wenn die Menschen die neuen Maschinen als ein Unglück GS2_2_S2: betrachtet hätten GS2_2_S3: immer noch betrachtet hätten, dann, äh, wir heute immer noch Kinderarbeit, also müssten die Kinder heute heutzutage GS2_2_S2: dann hätten wir glaub ich gar keine Schule oder so und wir müssten mehr arbeiten und dann (..) GS2_2_S1: immer Arbeit, Arbeit, Arbeit.
Während des Übersetzungsprozesses wechselten die Schüler*innen oft zwischen verschiedenen Zeitformen. Daraus können jedoch keine Aussagen über ihr Chronologieverständnis abgeleitet werden. Vielmehr scheint es so, dass das Präsens insbesondere bei den Gruppengesprächen die Funktion der Herstellung einer Alltagskommunikationssituation übernahm.
31 Sam Wineburg: On the Reading of Historical Texts: Notes on the Breach Between School and Academy. In: American Educational Research Journal 28 (1991) H. 3, S. 495–519.
230 3.5
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Urteile
Die Beurteilung der Quelle, die überwiegend nach dem eigentlichen Übersetzungsprozess stattfand, konnte in vielen Gruppen nur durch die Aufforderung der jeweiligen Lehrperson vollzogen werden. Während des eigentlichen Übersetzungsprozesses fanden keine Wertungen und Bewertungen statt. Dies deckt sich grundlegend mit älteren Studien, welche die wichtige Bedeutung der instruktionalen Rolle von Lehrpersonen gerade beim quellenkritischen Arbeiten zeigten.32 Wurden Urteile gefällt, äußerte sich dies je nach Gruppe äußerst unterschiedlich. So gab es zum einen Vergleiche der in der Quelle dargestellten Situation mit der als positiv wahrgenommenen Gegenwart: »GS2_3_JaX: Sehr schlecht ist das alles! Kein Internet!« Andere Gruppen bezogen sich bei ihrem Urteil auf Moralvorstellungen und persönliche Werte: FZ1_1_S2: Die wollten keine Freiheit mehr lassen. FZ1_1_S3: […] Deutschland, äh, halt England, Frankreich, (..) die Russen wollten halt Deutschland kontrollieren, dass sie immer, äh, (.), wenn die Russen was sagen, (.) dass die Deutschen immer das tun.
3.6
Unterschiede zwischen den Gruppen
Trotz der unterschiedlichen Schulformen kann eine Unterscheidung hinsichtlich des grundlegenden Vorgehens bei den verschiedenen Gruppen nur schwer getroffen werden. Es scheint weniger die Schulform und die mit ihr verbundene Leistungszuschreibung als vielmehr das soziale Umfeld einen Einfluss auf die Art und Weise zu haben, wie die Gruppen miteinander interagieren. Insbesondere die Gemeinschaftsschüler aus einem so genannten Brennpunktstadtteil in Kiel (GS2) waren in einem wesentlich höheren Maße mit der reinen Texterschließung befasst und vollzogen im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen weniger Bezüge zu Vergangenheit und Geschichte. In einer Gruppe aus dieser Klasse zeigte sich zudem ein Phänomen, welches ein Resultat davon sein kann, dass diese Schule ein spezielles DaZ-Programm hat und das Thema »Sprachsensibilität« auch für die Schüler*innen präsent sein dürfte. Derjenige Schüler der Gruppe, der eine spezielle Sprachförderung erhielt, galt etwa einerseits als Re32 Siehe u. a. Chauncey Monte-Sano: Beyond Reading Comprehension and Summary: Learning to Read and Write in History by Focusing on Evidence, Perspective, and Interpretation. In: Curriculum Inquiry 41 (2011) H. 2, S. 212–249 (https://doi.org/10.1111/j.1467-873X.2011. 00547.x).
Über Quellen sprechen – in der eigenen Sprache
231
ferenz für die Verständlichkeit der Übersetzung, andererseits wurde immer wieder die Verantwortung für das Gelingen der Gruppenarbeit auf ihn übertragen: GS2_3_J: Und fragen, ob JaX irgendein Wort nicht verstanden hat. JaX! (…) So, jetzt. Les mal den Text durch. GS2_3_JaX: Ich? GS2_3_J: Ja, lies mal den ersten Satz! […] J: Aber die Frage ist, ob äh JaX Untermieter versteht.
In dieser Gruppe führte der Auftrag, eine für alle verständliche Übersetzung anzufertigen, also zu ausgrenzendem Verhalten.
4.
Ausblick
Die steigende Sensibilisierung für Sprache auch im Fachunterricht führt dazu, dass auch Varianten wie die »Leichte Sprache«, die von mehreren Seiten unter dem Aspekt von Teilhabe als wertvoll betrachtet wird, dahingehend befragt werden müssen, ob sie tatsächlich geeignet für schulisches historisches Lernen sind. Das hier vorgestellte Forschungsprojekt basiert auf der Annahme, dass »Leichte Sprache« nicht per se Teilhabechancen erhöht, insbesondere dann nicht, wenn sie in einem passiven Sinne verstanden und vorrangig dazu genutzt wird, Information für bestimmte Zielgruppen zu vereinfachen. Vielmehr schöpft sie ihr Potenzial dann aus, wenn mit ihrer Hilfe aktiv »historisch« gearbeitet wird. Die hier vorgestellten Ergebnisse geben einen Hinweis darauf, dass im Prozess des Übersetzens von Quellen in eine jeweils für spezifische Lerngruppen verstandene »Leichte Sprache« primär »reine« Spracharbeit vollzogen wird und historische Reflexionen bzw. Ansätze historischen Denkens nachgelagert auftreten. Gleichwohl finden diese trotz einer fehlenden expliziten Aufgabenstellung, Retrospektivität und Temporalität zu reflektieren oder generell die Auseinandersetzung mit historischem Vorwissen zu betreiben, statt. Weitergehende Forschungen müssten daher der Frage nachgehen, ob die explizite Einbeziehung geschichtstheoretischer Fragestellungen und eine deutlich stärker durch Aufgabenstellungen angeleitete Herangehensweise an die Quellenübersetzung zu elaborierteren historischen Reflexionen bei Schüler*innen führen können.33 Das 33 In der internationalen Forschung gibt es Hinweise, dass gerade Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf vom Einbezug geschichtstheoretischer Reflexionen in den Unterricht profitieren können. Zusammenfassend dazu: Sebastian Barsch/Burghard Barte: Historisches Denken von Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Einblicke in die Forschung. In: Barsch u. a. (Anm. 14), S. 188–201.
232
Sebastian Barsch
gemeinsame Verfassen von Kommentaren oder die Interpretation von Quellen im Klassenverband in »Leichter Sprache«, verstanden als Schülersprache, könnte etwa geeignet sein, geschichtstheoretische Reflexionen zu befördern. Quellenkritik ist zunächst für fast alle Schüler*innen anspruchsvoll.34 Um diese zu optimieren, bedarf es sicher auch einer klaren Instruktion durch die Lehrpersonen, zumindest wenn man der Studie von Matthias Martens folgt, nach der Lernende mithilfe von Instruktion und orientierenden Strukturen grundlegend zwischen Quellenarbeit und Darstellungen unterscheiden können.35 Zumindest erlauben die hier vorgelegten Ergebnisse die vorsichtige Vermutung, dass das »Ringen« um Worte, das diese Methode beinhaltet, eine kollaborative Auseinandersetzung mit Geschichte initiieren kann. Die Konsensfindung gelang meistens, so dass am Ende der Übersetzung tatsächlich ein Text entstand, der für die Gruppenmitglieder verständlicher war. Die Erkenntnisse mögen zudem den Wert von Schreibanlässen auch für inklusiven Geschichtsunterricht verdeutlichen, denn der Wert des Schreibens für den Geschichtsunterricht wird von vielen Forschenden der Geschichtsdidaktik besonders hervorgehoben.36 Erkenntnisse konnten – ebenso vorsichtig eingeordnet – auch hinsichtlich der sozialen Funktion einzelner Schüler*innen gewonnen werden. So zeigte sich, dass sprachkompetente Schüler*innen in Gruppen eine steuernde Funktion haben. Bei einer überlegten Rollenwahl in den Gruppen kann vermutet werden, dass der Teilhabeaspekt durch ein kollaboratives Übersetzen in »Leichte Sprache« gefördert werden kann. Letztlich kann die hier vorgestellte Methode auch als Scaffold verstanden werden, um in eine tiefere Auseinandersetzung mit historischen Quellen zu kommen und diese sprachlich zu erfassen.
34 Christian Spieß: Quellenarbeit im Geschichtsunterricht. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzerwerb im Umgang mit Quellen. Göttingen 2014. 35 Matthias Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzen historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte. Göttingen 2010. 36 Olaf Hartung: Geschichte Schreiben Lernen: Empirische Erkundungen zum konzeptionellen Schreibhandeln im Geschichtsunterricht. Berlin 2013.
Bettina Degner / Jessica Kreutz
Darstellungstexte in differenzierenden Geschichtsschulbüchern im Spannungsverhältnis von Textverständlichkeit und Ansprüchen an historisches Lernen
1.
Einleitung und Zielsetzung
Untersuchungen bestätigen wiederholt, dass eine sprachliche Anpassung von Schulbuchtexten an die jeweilige Alters- und Bildungsstufe der Lernenden nicht erfolgt.1 Dies ist jedoch zwingend notwendig, da sich Unterstützungsmaßnahmen insbesondere in einer sprachlich heterogenen Lerngruppe an den individuellen Lesekompetenzen der Kinder orientieren sollten. Vor allem leseschwachen Kindern bleibt der Zugang zu Wissen dann verwehrt, wenn sie die Sprache am Verständnis von Texten hindert. Gerade beim historischen Lernen spielt Sprache eine herausragende Rolle, weil Geschichte als ein aktiver Re- und Dekonstruktionsprozess von Vergangenheit zumeist sprachlich, sowohl mündlich als auch schriftlich, produziert und reproduziert wird. Jedoch wird auch in der Geschichtsdidaktik der mangelnde Zusammenhang zwischen dem Lernangebot und den individuellen Lesekompetenzen von Schülerinnen und Schülern kritisiert.2 Aktuelle Bildungspläne greifen die Forderungen nach individuell angepasster Förderung von Schülerinnen und Schülern verstärkt auf. Beispielsweise differenzieren Baden-Württembergische Bildungspläne in ein grundlegendes Niveau (G), das zum Hauptschulabschluss führt, ein mittleres Niveau (M), das zum Realschulabschluss führt, und ein erweitertes Niveau (E), das Schülerinnen und Schüler in neun Jahren zum Abitur führt. Auf der Basis dieser Bildungspläne sind seit dem Jahre 2016 differenzierende Ausgaben von Geschichtsschulbüchern für die Sekundarstufe I erschienen, die diese Differenzierung durch die Konzeption von verschiedenen Niveaus umsetzen. Differenzierungen finden sich hier jedoch 1 Karin Berendes u. a.: Does the Linguistic Complexity of Textbooks Increase with Grade Level and the Academic Orientation of the School Track? In: Journal of Educational Psychology 4 (2018) H. 110, S. 518–543. 2 Christan Heuer: Zur Aufgabenkultur im Geschichtsunterricht. In: Ute Bender/Stefan Keller (Hrsg.): Aufgabenkulturen: Fachliche Lernprozesse herausfordern, begleiten, reflektieren. Seelze 2012, S. 100–112.
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Bettina Degner / Jessica Kreutz
nicht nur in der Themenwahl, dem Materialangebot oder in den Arbeitsaufgaben. Differenzierende Schulbücher aus Baden-Württemberg halten gegenüber Schulbüchern anderer Bundesländer zudem spezielle, d. h. einzelne Seiten für das G-, M- und E-Niveau bereit.3 Hiernach besteht die Möglichkeit, dass Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlich ausgeprägten Lesekompetenzen entsprechende Schulbuchseiten bearbeiten können. Damit soll auf die sprachliche Heterogenität in den Klassen reagiert und der Lehrkraft weitere Möglichkeiten der Differenzierung eröffnet werden. Eine Analyse von Darstellungstexten in differenzierenden Geschichtsschulbüchern scheint besonders gut geeignet zu sein, da diese explizit für sprachlich heterogene Lerngruppen konzipiert worden sind und somit sowohl einzelne sprachliche Entwicklungsstufen als auch Differenzierungspotenziale aus Fachperspektive vermuten lassen. Zudem können Darstellungstexte von Schulbuchautorinnen und Schulbuchautoren z. B. im Unterschied zu Quellenvereinfachungen sprachlich frei formuliert werden. Es wird zunächst untersucht, ob die Darstellungstexte in differenzierenden Geschichtsschulbüchern ihrem konzeptionellen Anspruch nach auch tatsächlich sprachlich differenzieren und einer sprachlich heterogenen Lerngruppe gerecht werden können. Hierzu wird auf textlinguistische Methoden der Sprachwissenschaft zurückgegriffen, mit denen sich etwaige Sprachniveaus in den differenzierenden Darstellungstexten auf eine numerisch-quantitative Art und Weise erfassen lassen. Ziel ist es, herauszufinden, was einen Text aus textlinguistischer Perspektive leicht verständlich bzw. schwer verständlich macht. Da sich jedoch auch die Sprachwissenschaft als Wissenschaftsdisziplin keineswegs nur mit syntaktischen und semantischen Phänomenen beschäftigt, sondern auch den Zusammenhang von Sprache, Denken und Wissen untersucht,4 wird in einem zweiten Schritt aus fachlicher Perspektive eine inhaltlich-qualitative Untersuchung angeschlossen, die Aufschluss über die Förderung von historischem Lernen in Darstellungstexten verschiedener Niveaus gibt. Hier stellt sich vor allem die Frage, was einen Text aus fachlicher Perspektive leicht bzw. schwer verständlich macht. Abschließend werden die Ergebnisse aus textlinguistischer und fachlicher Perspektive synthetisch in einen interdisziplinären Zusammenhang gebracht, um zu klären, in welchem (scheinbarem) Spannungsverhältnis sprachliche und didaktische Merkmale eines Texts zueinanderstehen. Zentral ist nicht nur die 3 Vgl. die Geschichtsschulbücher Entdecken und verstehen, Reise in die Vergangenheit, Denkmal Geschichte. Insgesamt wurden neun Geschichtsschulbücher untersucht, vgl. die Liste der Geschichtsschulbücher am Ende dieses Beitrags. 4 Christine Ott: Das Schulbuch beim Wort nehmen. Linguistische Methodik in der Schulbuchforschung. In: Petr Knecht u. a. (Hrsg.): Methodologie und Methoden der Schulbuch- und Lehrmittelforschung. Bad Heilbrunn 2014, S. 254–263, hier S. 255.
Darstellungstexte in differenzierenden Geschichtsschulbüchern
235
Frage, ob und wie Schülerinnen und Schüler durch die Lektüre von Darstellungstexten differenzierender Schulbuchausgaben sowohl sprachlich als auch fachlich gefördert werden, sondern auch, welches Potenzial an Förderung und welche konzeptionellen Lösungsansätze sich daraus gerade für leseschwache Schülerinnen und Schüler ergeben.
2.
Forschungsstand zur Untersuchung von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern
Günther-Arndt konstatierte zu Beginn des neuen Millenniums, dass das Lehren und Lernen mit Schulbuchtexten in der Geschichtsdidaktik kaum thematisiert werde und dass das Schreiben von Schulbuchtexten keinen fachdidaktischen Konsensregeln unterliege.5 Letzteres ist zweifellos immer noch so, jedoch ist die fachdidaktische Untersuchung von Darstellungstexten vorangekommen. Pandel charakterisiert den Darstellungstext in Schulgeschichtsbüchern als ein »Derivat der Historiographie«,6 das durch Rekonkretisierung, Herstellung eines Adressatenbezuges und Verkürzung entsteht. Handro fokussierte jüngst auf »die Informationsdichte, das Abstraktionsniveau, die mangelnde narrative Kohärenz von Autorentexten«.7 Schrader fragt, wie Schulbuchautorinnen und Schulbuchautoren ›erzählen‹ und welche Hindernisse sich daraus für Schülerinnen und Schüler ergeben können.8 Diese erstellen den Darstellungstext ohne Sprecher, sodass Kohärenz und Kohäsion ohne die unmittelbare Rückkoppelung mit dem Rezipienten erreicht werden müsse. Sie stellte fest, dass die Kohäsion als Komponente eines schlüssigen Textaufbaus im Wesentlichen durch eine Sprachwahl geregelt werde, die »ein profundes, sicheres und v. a. kontextuell variierbares Sprachvermögen des Rezipienten«9 voraussetze. In den Darstellungstexten würden zwar – wie von 5 Hilke Günther-Arndt: Basiskompetenz Lesen. Lernen aus Fachtexten am Beispiel des Geschichtsunterrichts. In: Barbara Moschner/Hanna Kiper/Ulrich Kattmann (Hrsg.): PISA 2000 als Herausforderung. Perspektiven für Lehren und Lernen. Baltmannsweiler 2003. S. 139–156, hier S. 146. 6 Hans-Jürgen Pandel: Was macht ein Schulbuch zu einem Geschichtsbuch? Ein Versuch über Kohärenz und Intertextualität. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. Münster 2006, S. 15–37, hier S. 18. 7 Saskia Handro: Geschichte lesen, aber wie? Plädoyer für eine geschichtsdidaktische Profilierung von Lesestrategien. In: Thomas Sandkühler u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung. Göttingen 2018, S. 275–293, hier S. 281. 8 Viola Schrader: Geschichte als narrative Konstruktion. Eine funktional-linguistische Analyse von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern. Münster 2013. 9 Ebd., S. 343.
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der modernen Geschichtsdidaktik gefordert – Standpunkte aufgezeigt; das geschehe aber weitgehend implizit, subtil und einseitig formuliert. Die Darstellungstexte oszillierten zwischen traditionaler und exemplarischer Erzählung, die mit einer äußerst stringenten Formulierung innerhalb einer deklarativ-autoritären Zuspitzung auf eine Geschichte hinarbeite.10 Hinzu kommt, dass in Schulgeschichtsbüchern die in der Schule gebräuchliche Bildungssprache noch um fachsprachliche Elemente ergänzt wird. So gibt es verschiedene Genres wie z. B. die Formulierung eines Sachurteils, die eine spezifische Textgrammatik erfordern. Im Bereich der Lexik ist der Gebrauch von Synonymen, die Historizität von Begriffen und die syntaktische Wichtigkeit von Nebensätzen zu nennen.11 Es gibt also einen Bereich, den Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht über die Bildungssprache hinaus erlernen müssen. Im Umfeld der Inklusion ist das Augenmerk auf die »Leichte Sprache« gerichtet worden, die von Menschen mit Lernschwierigkeiten, also von den Betroffenen selbst, entwickelt wurde und ein Regelwerk umfasst, das beim Gebrauch in spezifischen Kontexten angepasst und weiterentwickelt werden kann. Die »einfache Sprache« verfügt nicht über ein solches Regelwerk, vielmehr werden die Sprachvereinfachungen im Bereich Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF) eingeführt und als Entwicklungsstufe hin zur Standardsprache verstanden.12 Die in der Geschichtsdidaktik diskutierte Frage geht in die Richtung, welche Sprachvereinfachungen bei Darstellungstexten möglich sind, ohne dass die inhaltliche Differenziertheit des historischen Inhalts nivelliert wird.
3.
Das Untersuchungsmaterial
Die Schulbuchverlage bewerben ihre Konzepte mit Slogans wie »altersgerechte Texte«, mit der Verwendung von »verständlicher Sprache« oder versprechen »zahlreiche Angebote« für alle Niveaus.13 Auffällig ist, dass die Verlage ihre 10 Ebd., S. 95. 11 Markus Bernhardt/Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Faches Geschichte. In: Geschichte lernen 182 (2018), S. 2–9, hier S. 6f. 12 Bettina Alavi: Leichte Sprache und Historisches Lernen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 169–190. 13 In folgender Reihenfolge zitiert: Cornelsen: Entdecken und Verstehen (https://www.cornel sen.de/reihen/entdecken-und-verstehen-geschichtsbuch-210000150000/differenzierende-aus gabe-baden-wuerttemberg-210000150053, aufgerufen am 10. 03. 2020), Westermann: Reise in die Vergangenheit (https://www.westermann.de/reihe/REINVEBW15/Die-Reise-in-dieVergangenheit-Differenzierende-Ausgabe-2016-fuer-Baden-Wuerttemberg, aufgerufen am 10. 03. 2020), Westermann; Denk mal (https://www.westermann.de/reihe/DENKM15BW/
Darstellungstexte in differenzierenden Geschichtsschulbüchern
237
dreistufigen Konzepte unterschiedlich ausweisen. Die Benennung der drei Niveaus im Schulbuch Entdecken und Verstehen orientiert sich am Bildungsplan: Während Seiten mit mittlerem Schwierigkeitsgrad keine Kennzeichnung haben, wird das grundlegende Niveau als »besonderer Zugang« und das erweiterte Niveau als »weiterführendes« mit G bzw. E angegeben.14 Das dreistufige Differenzierungskonzept im Schulbuch Denkmal Geschichte spiegelt sich hingegen vor allem in einem Farbkonzept wider: Während blaue Titelseiten die mittlere Schwierigkeitsstufe markieren, die sich an alle Lernenden richten, würden die orangefarbenen Titelseiten einen »anderen Zugang zu grundlegenden Themen« bieten. Auf grünen Titelseiten werden Inhalte durch ergänzendes Material erweitert oder zusätzliche Themen angeboten, die Schülerinnen und Schüler fordern sollten und etwas schwieriger seien. Auch das Schulbuch Die Reise in die Vergangenheit bietet unterschiedliche Seiten an, die sich in einem Farbkonzept widerspiegeln. Dieses Schulbuch wurde jedoch – anders als das Schulbuch Denkmal Geschichte – ausgehend vom G-Niveau entwickelt: Während das grundlegende Niveau »für alle« ausgegeben ist, ist das mittlere Niveau »für Schnelle« und das erweiterte Niveau mit »Themen, die schwieriger« sind, für »Experten« ausgewiesen. Um weitere Aussagen zum durchschnittlichen Sprachniveau dieser differenzierenden Darstellungstexte treffen zu können, wurden auch Texte anderer Schulbücher der Sekundarstufe I und anderer Schularten untersucht. Als Vergleich dienen Primarstufenschulbücher, Gymnasialschulbücher, Schulbücher des sonderpädagogischen sowie des DaF/DaZ-Bereichs. Insgesamt wurden Darstellungstexte von neun Geschichtsschulbüchern untersucht.
3.1
Textlinguistische Untersuchungen
Mithilfe von Lesbarkeitsanalysen, die Wort-, Satz- und Textbausteine in eine quantitative Relation zueinander setzen, lassen sich zahlreiche Indizien für das potenzielle Verständnis von Darstellungstexten sammeln. Einen guten Überblick über Ansätze und Methoden der Textlinguistik gibt Oomen-Welke.15 Die darin beheimatete Textverständlichkeitsforschung geht der Frage nach, mittels welcher Indikatoren die sprachliche Verständlichkeit eines Textes gemessen und bewertet werden kann. Oomen-Welke geht ausführlich auf frequenzielle Lesbarkeitsfordenkmal-Differenzierende-Ausgabe-2016-fuer-Baden-Wuerttemberg, aufgerufen am 10. 03. 2020). 14 Hier und im Folgenden zitiert: Entdecken und Verstehen, vgl. Nr. 2, S. 8; Denkmal Geschichte, Nr. 1, S. 5; Reise in die Vergangenheit, Nr. 3, S. 5. 15 Ingelore Oomen-Welke: Sachtexte verstehen. Dichte, Lesbarkeit, Wortschatz. In: Beate Lütke/ Inger Petersen/Tanja Tajmel (Hrsg.): Fachintegrierte Sprachbildung. Forschung, Theoriebildung und Konzepte für die Unterrichtspraxis. Berlin 2017, S. 127–149.
238
Bettina Degner / Jessica Kreutz
meln ein, die auf Häufigkeitsauszählungen bestimmter sprachlicher Einheiten (Wörter, Silben, Suffixe) basieren und schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts im amerikanischen Raum entwickelt wurden. In der deutschsprachigen Diskussion wurden diese in den 1960er/1970er Jahren aufgegriffen und an die Gegebenheiten der deutschen Sprache angepasst. Oomen-Welke konstatiert, dass Lesbarkeitsberechnungen in der Didaktik der Schulfächer eine nur geringe Wahrnehmung finden, weil diese oft wenig transparent und die Indexwerte zu disparat seien. Sie kann aber an mehreren Beispielen zeigen, dass schon einfache Formeln zur Berechnung der durchschnittlichen Wortlänge zu Ergebnissen führen, weshalb die Fachdidaktik hier ein stärkeres Augenmerk haben sollte. Iluk führt zwei Formeln zur Berechnung der begrifflichen Schwierigkeit und syntaktischen Kompliziertheit ein, die Manfred Baumann in Berlin-Ost veröffentlicht hat und die deshalb wohl nicht ihren Weg in die Fachcommunity fanden.16 Diese Formeln liefern im Rahmen dieser Untersuchung besonders valide Ergebnisse. Obermayer arbeitet im Hinblick auf den bildungssprachlichen Gehalt von Texten vier Bereiche heraus, die den kognitiven Anspruch verringern bzw. erhöhen: Verbkomplexität, Wortkomplexität, Satzkomplexität und Satzlänge.17 Ott skizziert verschiedene linguistische Verfahren und Kategorien, die sich für eine Analyse der Schulbuchsprache eignen.18 Sie fordert einen stärkeren Einbezug linguistischer Methodik in die Schulbuchforschung. Dieser Forderung wird erstmals breiter im Sammelband von Kiesendahl/Ott nachgegangen.19 In ihrer Einleitung verweisen die Autorinnen auf Forschungen im Bereich von Geschichtsschulbüchern, die auf ein textlinguistisches Repertoire zurückgreifen, wie etwa Schöner/Schreiber bei ihrer Analyse narrativer Kohärenz von Autorentexten und Materialien.20 Im Sammelband selbst ist für den Fachbereich Geschichte nur der Beitrag von Wallsten enthalten, der mit Hilfe der multimo-
16 Jan Iluk: Der Einfluss des terminologischen und syntaktischen Schwierigkeitsgrades von Lehrwerktexten auf Lehr- und Lerneffizienz. In: Knecht u. a. (Anm. 4), S. 303–314. 17 Annika Obermayer: Bildungssprache im graphisch designten Schulbuch. Eine Analyse von Schulbüchern des Heimat- und Sachunterrichts. Bad Heilbrunn 2013. 18 Christine Ott: Das Schulbuch beim Wort nehmen. Linguistische Methodik in der Schulbuchforschung. In: Knecht u. a. (Anm. 4), S. 254–263. 19 Jana Kiesendahl/Christine Ott (Hrsg.): Linguistik und Schulbuchforschung. Gegenstände – Methoden – Perspektiven. Göttingen 2015. 20 Alexander Schöner/Waltraud Schreiber: Dekonstruktion des Umgangs mit Geschichte in Schulbüchern. Vom Nutzen wissenschaftlicher Schulbuchanalysen für den Geschichtsunterricht. In: Waltraud Schreiber/Sylvia Mebus (Hrsg.): Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern. Neuried 2. Aufl. 2006, S. 21–32.
Darstellungstexte in differenzierenden Geschichtsschulbüchern
239
dalen Textanalyse Bedeutungspotenziale aus dem Zusammenspiel von Bild und Bildunterschrift ermittelt.21 Im Sammelband von Ahrenholz/Hövelbrings/Schmellentin finden sich mehrere Beiträge, die Einzelmethoden der Textlinguistik an Schulbuchtexten erproben. Auffallend ist dabei, dass das Fach Geschichte nicht enthalten ist, aber viele Beispiele aus naturwissenschaftlichen Fächern, die eine ausgewiesene Fachsprache haben.22 Kleinschmidt/Pohl kommen aus dem Forschungsfeld des adaptiven Sprachhandelns, das im Erstspracherwerb zwischen Mutter und Kind, aber auch im schulisch flankierten Spracherwerb eine wichtige Rolle spielt. Sie untersuchen z. B. die Nebensatzfrequenzen der Schulbuchtexte und schauen, ob diese adaptiv über die Schuljahre hinweg gesteigert werden.23 Diese Herangehensweise ist anregend in Bezug auf die Steigerung der sprachlichen Komplexität über die Jahrgangsstufen. Insgesamt gibt es viele Einzelpublikationen zu Textverständlichkeitsanalysen unterschiedlicher Fächer. Ein Handbuch der textlinguistischen Schulbuchforschung steht noch aus, sodass aus dem vorliegenden Bestand passende Methoden für diesen Beitrag ausgewählt werden mussten. Nach Erprobung zahlreicher Berechnungsformeln für die Ermittlung des Textverständnisses haben wir uns in unserer Analyse aus Gründen der Validität und Praktikabilität auf drei Variablen und deren Berechnung konzentriert. Erstens ist die Bestimmung des Textumfangs zu nennen, die sich aus der Gesamtzeichenanzahl (ohne Leerzeichen) des Textes ergibt. Da mit steigendem Textumfang die Aufmerksamkeit des Lesenden sinkt, ist anzunehmen, dass in den Schulbüchern mit steigendem Niveau auch der Umfang des Darstellungstextes zunimmt. Zweitens ist die Bestimmung der Textdichte zu nennen, die sich aus zwei Faktoren zusammensetzt. Ein erster Faktor für die Bestimmung der Textdichte ist die durchschnittliche Wortlänge in einem Text, die sich aus der Division von Zeichenanzahl (ohne Leerzeichen) und Wortanzahl ergibt. Ein zweiter Faktor für die Bestimmung der Textdichte ist die durchschnittliche Satzlänge, die sich aus der Division der Wortanzahl und Satzanzahl ergibt. Je höher die Textdichte ist, bestehend aus Wortlänge und Satzlänge, desto schwieriger ist es für den Lesen21 Barbara Wallsten: An der Schnittstelle zwischen Bild und Text. Geschichtslehrbücher als Untersuchungsgegenstand sprachwissenschaftlicher Schulbuchforschung. In: Kiesendahl/ Ott (Anm. 19), S. 137–155. 22 Bernt Ahrenholz/Britta Hövelbrinks/Claudia Schmellentin (Hrsg.): Fachunterricht und Sprache in schulischen Lehr/Lernprozessen. Tübingen 2017. 23 Katrin Kleinschmidt/Thorsten Pohl: Leichte Sprache vs. adaptives Sprachhandeln. In: Bettina M. Bock/Ulla Fix/Daisy Lange (Hrsg.): Leichte Sprache im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung. Berlin 2017, S. 87–110.
240
Bettina Degner / Jessica Kreutz
den, den Text im Ganzen inhaltlich zu verstehen. Demnach sollten sich die Darstellungstexte auf den unterschiedlichen Niveaus auch durch eine unterschiedliche Textdichte auszeichnen. Drittens bietet sich ein Messverfahren zur Feststellung der syntaktischen Kompliziertheit (SK) des Textes an. Diese Variable berücksichtigt das numerische Verhältnis von Sinnabschnitten innerhalb eines Satzes: »Es ist erwiesen, dass lange Sätze die Inhaltserfassung weniger erschweren, wenn sie gut strukturiert und die Inhaltsmengen gut überschaubar sind. Diese Beobachtung gilt jedoch nicht, wenn ein langer Satz mehrfach zusammengesetzt ist.«24 Um die syntaktische Kompliziertheit eines Textes im Spannungsfeld von Gliederung und Zergliederung zu errechnen, wird folgende Formel vorgeschlagen: SK = Gesamtwortzahl /Anzahl Sätze x Gesamtwortzahl / Anzahl Satzabschnitte x 0,1 Hiernach ist anzunehmen, dass die Darstellungstexte auf dem unteren Differenzierungsniveau sich entweder durch kurze Sätze mit nur einem Sinnabschnitt oder durch in Sinnabschnitte gut strukturierte Sätze auszeichnen. Inwieweit diese Formel in Bezug auf die quantitative Bemessung der Textverständlichkeit valide und reliabel ist und in welchem Verhältnis diese Ergebnisse zur syntaktischen Kompliziertheit, Textdichte und zum Textumfang stehen, wird zu diskutieren sein. Die Ergebnisse zum Textumfang, zur Textdichte und syntaktischen Kompliziertheit werden in Tabelle 1 dargestellt.25 Es zeigt sich, dass der Umfang der Darstellungstexte mit ansteigendem Niveau in der Regel zunimmt. Demnach verstehen Schulbuchautorinnen und Schulbuchautoren unter einem schwierigeren Text zunächst vor allem mehr Textumfang. Unterschiede zeigen sich allerdings zwischen den Texten verschiedener Schulbücher, die der gleichen Niveaustufe zugeordnet sind: Der Text im Schulbuch Die Reise in die Vergangenheit (Nr. 3) ist auf der dritten Stufe doppelt so lang wie der Text dergleichen Stufe im Schulbuch Denkmal Geschichte (Nr. 1). Eine positive Korrelation von ansteigendem Niveau und zunehmendem Textumfang zeigt sich auch bei der Untersuchung von Texten anderer Schularten: Während der Umfang des Darstellungstextes im Gymnasialschulbuch Mosaik (Nr. 6) konsequent über den Niveaus von denen der differenzierenden Schulbücher liegt, ist der Wert im Primarstufen- und Förderschulbereich (Nr. 7, 8) unter den Niveaus der differenzierenden Schulbücher. Kaum verwunderlich ist 24 Iluk (Anm. 16), S. 308. 25 Bei der Analyse der Darstellungstexte wurden die Überschriften nicht berücksichtigt. Ebenso wurden die Darstellungstexte, ungeachtet ihrer einzelnen Textabschnitte, bis zum Quellenabdruck bzw. Aufgabenbereich erfasst und untersucht.
241
Darstellungstexte in differenzierenden Geschichtsschulbüchern
auch, dass der Textumfang im Fremdsprachenbereich (Nr. 9) dem Durchschnitt der mittleren Stufe der differenzierenden Schulbücher entspricht. Textlänge: Anzahl der Zeichen Satzlänge: Wörter pro Satz Wortlänge: Zeichen pro Wort
Stufe Nr. 1 Nr. 2 Nr. 3 Nr. 4 Nr. 5 Nr. 6 Nr. 7 Nr. 8 Nr. 9 1. 1146 776 1745 — — — 672 591 1117 2. 3.
657 1214 1952 1194 1105 1666 2145 —
956 —
— 2878
— —
— —
— —
1. 2.
11,4 11,0
14,4 15,2
14,7 13,9
— 11,1
— 11,6
— 13,2
10,5 —
10,1 —
9,2 —
3. 1.
12,2 5,1
16,0 5,2
13,2 5,5
— —
— —
— —
— 5,1
— 5,7
— 5,3
2. 3.
5,8 5,9
5,5 5,6
5,7 5,8
5,8 —
5,3 —
5,5 —
— —
— —
— —
Syntaktische 1. 8,5 13,8 17,6 — — — 9,5 8,5 8,2 Kompliziertheit: 2. 12,1 14,5 14,5 11,3 12,7 19,8 — — — Sätze und Sinn3. 11,8 17,8 14,0 — — — — — — abschnitte Tabelle 1: Ergebnisse zum Textumfang, Textdichte und syntaktischen Kompliziertheit26
Die konsequente Zunahme der durchschnittlichen Wortlänge der Texte entsprechend ihrer Niveaustufen ist vermutlich auf die vermehrte Verwendung von komplexeren Verben, Substantiven oder Fachbegriffen im Allgemeinen zurückzuführen. Die Ergebnisse zur durchschnittlichen Satzlänge sind hingegen disparat. Während die Satzlänge der Texte im Schulbuch Entdecken und Verstehen (Nr. 2) entsprechend der Niveaustufen zunimmt, nimmt die Satzlänge der Texte im Schulbuch Die Reise in die Vergangenheit (Nr. 3) mit steigendem Niveau jedoch konsequent ab. Diese zunächst widersprüchlichen Relationen spiegeln sich auch in den Werten zur syntaktischen Kompliziertheit wider: je kürzer der Satz, desto geringer ist die syntaktische Kompliziertheit. Allerdings, und das ist besonders hervorzuheben, lässt sich diese positive Korrelation von ansteigender Satzlänge und zunehmender syntaktischer Kompliziertheit nicht regelhaft für alle Darstellungstexte ausmachen: Während die Satzlänge des Schulbuchs Denkmal Geschichte (Nr. 1) von der zweiten zur dritten Niveaustufe zunimmt, nimmt hingegen der Wert zur syntaktischen Kompliziertheit auf diesen Stufen ab. Genau umgekehrt verhält es sich beim Schulbuch Mosaik (Nr. 6): Die syntaktische Kompliziertheit des Textes ist auch bei relativ kurzer Satzlänge 26 Vgl. die Auflistung der Schulbücher am Ende dieses Beitrags. Es wurden mehrheitlich, d. h. sofern möglich, Darstellungstexte aus dem Themenfeld »Kloster und religiöses Leben« gewählt, um vergleichbare Ergebnisse zu erhalten. Inwiefern sich textlinguistische Untersuchungen von Darstellungstexten verschiedener Themen unterscheiden, ist in einer anderen Studie zu prüfen.
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Bettina Degner / Jessica Kreutz
vergleichsweise sehr hoch. Anders: die durchschnittliche Satzlänge des Darstellungstextes auf der höchsten Niveaustufe im Schulbuch Die Reise in die Vergangenheit (Nr. 3) entspricht der durchschnittlichen Satzlänge des Darstellungstextes im Gymnasialschulbuch Mosaik (Nr. 6). Allerdings unterscheiden sich die Werte zur syntaktischen Kompliziertheit beider Texte in einem erheblichen Maße (14,0 vs. 19,8). Dieser zunächst konfuse Befund macht eine genauere Betrachtung der Darstellungstexte in Bezug auf die syntaktische Kompliziertheit lohnend, um herauszufinden, was konkret einen Text aus textlinguistischer Perspektive schwer oder leicht verständlich macht. Hier ist es zielführend, die syntaktische Kompliziertheit eines Textes auch für deren einzelnen Sätze zu ermitteln. Der Wert des folgenden Beispielsatzes aus dem Schulbuch Die Reise in die Vergangenheit (Nr. 3) beträgt SK=25,6: Sie stiegen vielleicht selbst zum Abt oder Äbtissin auf und halfen ihren Familien durch ihren Einfluss.27 Dieser Wert ist im Vergleich zum Durchschnitt des gesamten Textes (SK=17,6) deshalb so hoch, weil er aus syntaktischer Sicht aus nur einem einzigen Satz besteht.28 Inhaltlich gesehen, werden hier jedoch zwei Aspekte thematisiert, die allerdings aus der Perspektive des Lesenden in keinem expliziten Zusammenhang stehen. Formuliert man den Satz, wie folgt, entsprechend um, sinkt der Wert der syntaktischen Kompliziertheit auf SK=9,8: Sie stiegen vielleicht selbst zum Abt oder Äbtissin auf, wodurch sie ihren Familien halfen. Aus textlinguistischer Sicht ist dieser umformulierte Satz nun leichter zu verstehen. Als weiteres Beispiel dient der folgende Satz, der dem Förderschulbuch Klick! (Nr. 8) entnommen ist: Viele Klöster hatten ein Krankenhaus angeschlossen und versorgten alte und kranke Menschen.29 Während der Wert bei diesem Satz bei SK=14,4 liegt, zeichnet sich der folgende umformulierte Satz durch einen niedrigeren Wert von SK=9,8 aus: Viele Klöster hatten ein Krankenhaus angeschlossen, sodass sie alte und kranke Menschen versorgten konnten. Der umformulierte Satz ist nun gemäß der Berechnungsformel leichter zu verstehen.
3.2
Geschichtsdidaktische Untersuchungen
Die Ergebnisse aus der textlinguistischen Forschung zeigen, dass die Textverständlichkeit bei Darstellungstexten unter Berücksichtigung klarer Regeln generell erhöht werden kann. Es stellt sich aber die Frage, ob die Förderung eines 27 Die Reise in die Vergangenheit, vgl. Nr. 3, S. 42. 28 Unter einer phrase clauses wird ein syntaktisch vollständiger Satz verstehen, bestehend aus Subjekt, Objekt und Prädikat. Da bei diesem Beispiel das Subjekt im zweiten Sinnabschnitt nicht wiederholt wird, gilt dieser Satz als ein einziger Sinnabschnitt. 29 Klick!, vgl. Nr. 8, S. 10.
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reflektierten Geschichtsbewusstseins als Ziel des Geschichtsunterrichts dabei genügend Berücksichtigung findet. Fördern die textlinguistisch gesehen einfacheren Darstellungstexte in gleicher Weise den Aufbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins? Um diese Frage zu beantworten ist es notwendig, die Erkenntnisse aus der Leseforschung in Einklang mit geschichtsdidaktischen Lernzielen zu bringen. Der Ansatz des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts30 versteht sich als prinzipiell auf alle Schülerinnen und Schüler bezogenes Konzept, das davon ausgeht, dass sich historische und sprachliche Lernziele integrativ bedingen, weshalb sie wechselseitig vermittelt werden sollten. Schrader konkretisiert dieses Anliegen, indem sie an einem Darstellungstext aus einem Schulgeschichtsbuch zeigt, dass die Analyse eines Darstellungstextes nach bildungssprachlichen Kriterien zwar hilfreich ist, aber erst die Ausrichtung der Analyse z. B. auf eine historische Kategorie wie Zeit der Fachlichkeit des Darstellungstextes im Geschichtsschulbuch gerecht wird.31 Jeder Darstellungstext müsste deshalb nicht nur nach textlinguistischen Kriterien, sondern auch nach sprachlichen Markern eines reflektierten Geschichtsbewusstseins durchgegangen werden, die für lern- bzw. leseschwächere Schülerinnen und Schüler geeignet sind. Die Untersuchung von Schulbüchern, die Darstellungstexte auf unterschiedlichen Niveaus anbieten, eignet sich besonders, um in einem zweiten Schritt das Verhältnis von Niveaustufe und historischen Lernen zu ermitteln. Diese werden im Folgenden nach den Dimensionen des Geschichtsbewusstseins nach Pandel hin »durchleuchtet«. Diese Dimensionen reflektieren die Kategorien der Geschichte wie Zeit und Wandel, die der Geschichtswissenschaft wie Transparenz der Erkenntnisse, aber auch gesellschaftliche Kategorien wie Macht und Herrschaft, Reichtum, Geschlecht sowie Kategorien der Sinnbildung wie Sach- und Werturteil.32 Beispiel 1: Dieser Darstellungstext ist der 2. Stufe zugeordnet und für alle Schülerinnen und Schüler konzipiert (vgl. Tabelle 1, Nr. 1, S. 28) »Viele Menschen im Mittelalter wollten ihr Leben alleine Gott widmen. Sie glaubten, diesen Lebensplan in einem Kloster, abgeschieden von der Außenwelt, erfüllen zu können. Für Nonnen und Mönche war der Alltag im Kloster streng geregelt. »Bete und
30 Bernhardt/Conrad (Anm. 11). 31 Viola Schrader: Zur Integration historischen und sprachlichen Lernens im Geschichtsunterricht. Theoretische Leitgedanken und sprachliche Umsetzung. In: Yauheniya Danilovich/ Galina Putjata (Hrsg.): Sprachliche Vielfalt im Unterricht. Wiesbaden 2019, S. 123–139. 32 Es wären auch andere Analysekriterien denkbar gewesen, wie der alleinige Bezug auf die Kategorien der Geschichte (z. B. Partialität, Perspektivität). Für die Anwendung der Dimensionen des Geschichtsbewusstseins sprach aber, dass diese die o.g. Breite aufweisen und auf eine didaktische Zielrichtung, nämlich Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins, ausgerichtet sind.
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arbeite!« war der Leitsatz der Frauen- und Männerklöster. Ihr Tagesablauf begann in den frühen Morgenstunden mit Gebeten. Über den ganzen Tag verteilten sich verschiedene Gottesdienste. Dazwischen beschäftigten sich die Klostermitglieder mit der Lektüre religiöser Schriften. Aber auch körperliche Arbeit war ein fester Bestandteil des Tages. Zu diesen Tätigkeiten zählten zum Beispiel die Arbeit auf den Feldern oder in den Werkstätten des Klosters. Weiterhin kümmerten sie sich um Kranke oder Reisende in den Herbergen.«
Die Lesbarkeitsanalyse dieses Darstellungstextes hatte gezeigt, dass der Textumfang, die Textdichte und die syntaktische Kompliziertheit auch für schwächere Leserinnen und Leser angemessen sind. Doch inwiefern korreliert diese Feststellung mit den geschichtsdidaktischen Kriterien? Betrachtet man den Text als ganzen, reiht dieser drei Themen, nämlich 1. den Lebensplan Kloster, 2. den Tagesablauf im Kloster, 3. die Tätigkeiten in einem Kloster auf. Zu fragen ist, ob es sich hier tatsächlich um einen Text im linguistischen Sinn handelt, denn ein wichtiges Text-Kriterium, nämlich Kohärenz, ist im Beispiel fast nicht ausgeprägt. Vielmehr enthält jeder Satz eine separate Information, die seine Existenz im Satzgefüge zu legitimieren scheint. Ohne die Überschrift »Bete und Arbeite«, die im Textkorpus nochmals aufgegriffen wird, wäre die Hauptzielrichtung dieses Absatzes, d. i. die Erläuterung des Leitsatzes der Benediktsregel, kaum nachzuvollziehen. Deshalb sind aus geschichtsdidaktischer Sicht schon Bedenken zu äußern, da der Schulbuchautor die Aufgabe, Kohärenz und Kohäsion ohne direkten Rezipientenbezug herzustellen, nur unzureichend gelöst hat. Außerdem können die Schülerinnen und Schüler an diesem Text nicht lernen, wie eine Narration im geschichtsdidaktischen Sinn auszusehen hat. Geht man die Dimensionen des Geschichtsbewusstseins nach Pandel durch, zeigt sich, dass diese kaum angesprochen bzw. gefördert werden. Es gibt nicht nur in diesem Text, sondern auf der gesamten Doppelseite keine Datierung – auch nicht bei dem dort abgedruckten Auszug aus der Benediktsregel, die auf die Kategorie Zeit abzielen könnte. Einzig die Epochenbezeichnung »im Mittelalter« verweist auf die zeitliche Verortung, die aber – wenn überhaupt – bei den Schülerinnen und Schülern mit einem Zeitraum von 1000 Jahren assoziiert wird. Da die drei Themen additiv gereiht werden und keine sprachlichen Marker – wie z. B. Subjunktionen oder Konjunktionen – Beziehungen zwischen den Sätzen herstellen, kann auch nicht von einer Förderung des Historizitätsbewusstseins gesprochen werden: Eine Entwicklung über die Zeit des Mittelalters wird nicht angesprochen. Der im Bildungsplan verankerte Begriff »Kloster« kommt mehrfach vor und wird durch die drei Themen implizit erklärt (abgeschieden von der Außenwelt, geregelter Tagesablauf, bete und arbeite, handwerkliche und sonstige Tätigkeiten). Offensichtlich ist das Bemühen, die Schülerinnen und Schüler nicht mit Fachbegriffen zu überschütten, wenngleich unklar bleibt, warum der Begriff
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»Herberge« gebraucht wird, obwohl dieser auch fachlich nicht richtig passt. Durch »Krankenstation« oder »Unterkunft im Kloster« hätte dieser mühelos ersetzt werden können; offensichtlich werden allzu moderne Begrifflichkeiten vermieden, was aber der Förderung einer fachlichen Begrifflichkeit nicht zuträglich ist. Das soziale und ökonomische Bewusstsein wird über die Tätigkeiten – wenn auch nur sehr oberflächlich beschreibend – angerissen. Durch die additive und um äußerste Sachlichkeit bemühte Reihung wird das moralische Bewusstsein nicht angesprochen, ebenso fehlt die politische Dimension dieser Thematik. Durch die Nennung beider Geschlechter oder durch neutrale Formulierungen (Klostermitglieder) wurden die Anforderungen an ein Genderbewusstsein und an eine gendergerechte Sprache zumindest im Bewusstsein des Autors erfüllt. Woher das Wissen stammt oder was forschungsmäßig nicht ganz gesichert ist, wird nicht angesprochen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass einige Dimensionen des Geschichtsbewusstseins in diesem Text nicht gefördert werden, was bei einer Häufung dieses Befunds eine erhebliche Einschränkung bei der Förderung des reflektierten Geschichtsbewusstseins bedeuten würde. Besonders kritisch ist hier die mangelnde Kohärenz des Darstellungstextes; weshalb der Text kein gutes Beispiel für eine Narration im Kontext historischen Lernens ist. Beispiel 2: Dieser Darstellungstext aus dem gleichen Schulbuch ist der 3. Stufe zugeordnet (Nr. 1, S. 31, Auszug).33 »Viele Klöster verlangten eine Opfergabe, wenn sie ein neues Mitglied aufnahmen. Häufig bestand diese Opfergabe aus Grundbesitz […]. Durch die vielen Schenkungen wurden viele Klöster zu bedeutenden Grundherren. Ihren Grundbesitz verpachteten sie an Bauern, die ihnen dafür Abgaben schuldig waren. Manche Klöster erhielten sogar Lehen von einem Lehnsherrn, von einem Herzog oder einem König. Somit war der Abt in seiner Funktion als Klostervorsteher einerseits Grundherr für die zum Kloster gehörenden Bauern. Andererseits war er seinem Lehnsherrn zu Treue und Gefolgschaft verpflichtet. Dies bedeutete, dass er nicht nur Truppen für die Kriegszüge seines Herrn stellte, sondern auch selbst daran teilnahm. So wurden viele Klöster auch zu einem wichtigen politischen Machtfaktor im Reich. Davon zeugen noch heute die stattlichen Klosteranlagen im Lande, auch wenn nur noch wenige als Kloster dienen.«
Untersucht man diesen Text nach den Dimensionen des Geschichtsbewusstseins, so zeigt sich, dass hier eine historische Entwicklung aufgezeigt wird, das Historizitätsbewusstsein damit angesprochen wird. Die Sätze des Textes sind nicht 33 Die textlinguistische Untersuchung des Darstellungsteils für die 3. Stufe dieses Schulbuchs (vgl. Tab.1, Nr. 1) hatte an exemplarischen Abschnitten ergeben, dass er sprachlich anspruchsvoller ist als der Darstellungstext der niedrigeren Niveaustufe.
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additiv gereiht, sondern durch Adverbien und Subjunktionen verknüpft. Die Begriffe sind dichter und fachlicher (Lehen, Grundherr) gewählt. Die politische Dimension wird in einer Entwicklungslinie als Ursache-Folge-Schema beschrieben, die mehrere Einflussfaktoren hat. Die »Player« werden klar benannt. Die Entwicklung wird bis in die Gegenwart hineingezogen, indem auf Objektivationen der Geschichtskultur verwiesen wird. Dadurch wird die Orientierung der Schülerinnen und Schüler gestärkt. Gleichzeitig bekommen sie durch den Gesamttext eine Vorstellung davon, wie eine historische Narration angelegt sein soll. Einschränkend ist zu sagen, dass das Ansprechen des Genderbewusstseins völlig wegfällt; es wird nicht erwähnt, inwiefern dieses Ursachen-Folge-Schema auf ein Frauenkloster zutraf. Die Geschichte erscheint dadurch »männlich«. Die Beobachtung, dass das Geschichtsbewusstsein nur auf den sprachlich anspruchsvolleren oder schwierigeren Seiten gefördert wird, zeigt auch ein Vergleich mit Schulbüchern aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache und dem Gymnasialbereich. Das Beispiel stammt aus einem Geschichtsschulbuch für Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache (vgl. Tabelle 1, Nr. 9, S. 10). »In einem Kloster lebten Mönche und Nonnen. Das Leben im Kloster war meistens sicher und ruhig. Im Kloster gab es fast immer ausreichend Nahrung. Deshalb musste ein neues Mitglied im Kloster eine Abgabe bezahlen. Das konnten sich fast nur adlige Familien leisten. Nur wenige Kinder aus Bauernfamilien konnten Mönche und Nonnen werden. Das Leben im Kloster war streng geregelt. […] In manchen Klöstern gab es sogar eine Klosterschule. In der Klosterschule wurden die neuen Nonnen und Mönche und einige der begabten und reichen Dorfjungen unterrichtet. Die Nonnen und Mönche mussten sich an viele Regeln halten. […] Sie kannten nur das Leben im Kloster und sprachen meistens nur mit anderen Mönchen und Nonnen.«
Die textlinguistische Analyse hatte bei diesem Darstellungstext eine sehr hohe Textverständlichkeit ergeben. Auch hier kreist der Text darum, den Begriff Kloster durch eine Reihung von Hauptsätzen mit Merkmalen eines Klosters zu erklären. Inhaltlich gesehen verallgemeinert der Text das Klosterleben ungemein: Dass auch Bauern Mönche werden konnten, ist quellenmäßig nicht belegbar, sicher wird es Ausnahmen gegeben haben, in der Regel befanden sich Bauern aber als Laienbrüder bzw. Konversen im Kloster. Ein Hinweis auf die Leerstelle im Quellenkorpus wäre hier sicher im Sinne der Förderung des Geschichtsbewusstseins angemessen gewesen. Durch fehlende Subjunktionen und Adverbien, durch fehlende Beziehungen zwischen Haupt- und Nebensätzen wird im Text keine Entwicklung aufgezeigt, sondern ein zeitflaches Tableau aufgemacht, das eher an eine ethnologische Beschreibung erinnert. Dem arbeitet auch eine fehlende Datierung zu, die das Temporalbewusstsein gefördert hätte. Blieben die Schülerinnen und Schüler
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sprachlich auf diesem Niveau, wäre das historische Lernen gefährdet. Durch den Text bekommen die Schülerinnen und Schüler eine Grundlage, die sprachlich und inhaltlich auf ein höheres Niveau weitergeführt werden muss. Ein Blick in ein Gymnasialgeschichtsbuch zeigt, dass dort das Temporal- und Historizitätsbewusstsein gefördert wird, sich allerdings andere Schwierigkeiten zeigen. Dieses Beispiel stammt aus dem Gymnasialschulbuch Mosaik und kann konzeptionell der 3. Niveaustufe zugeordnet werden (vgl. Tabelle 1, Nr. 6, S. 30f., Auszug). »Was ist ein Kloster? […] Damit bezeichnet man den von der weltlichen Umgebung abgetrennten Wohnort für die Gemeinschaft der dort lebenden Nonnen und Mönche. Das Mönchtum hat einen entscheidenden Anteil in der kulturellen Entwicklung Europas genommen. Auch heute noch gibt es diese Lebensform. […] Schon immer waren manche Menschen des geschäftigen Lebens in der Welt mit ihrem Streben nach Macht und Reichtum überdrüssig und sehnten sich nach einem einfachen Dasein jenseits aller irdischen Güter und Sorgen. So auch im frühen Christentum. […] Als Urvater des abendländischen Mönchtums gilt Benedikt von Nursia (480–547). Er stellte in dem von ihm 529 gegründeten Kloster Monte Cassino (südlich von Rom) eine Regel auf, die von zahllosen weiteren Klöstern übernommen wurde. […] Später spalteten sich vom Orden der Benediktiner weitere ab, wie der Zisterzienserorden. Neue Mönchgemeinschaften entstanden, z. B. die Franziskaner. Auch Frauen gründeten Orden.«
Der Text ist von der Textverständlichkeit her gesehen sehr niedrig angesiedelt, d. h. nach textlinguistischen Kriterien schwerer verständlich. Er enthält vieles, was für die Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins wichtig ist: Das Historizitätsbewusstsein wird durch die Entwicklung des Klosterwesens aufgezeigt und mit Fachbegriffen (Zisterzienser) benannt. Zwischen den Sätzen besteht ein inhaltlicher Zusammenhang, Verben wie spalten, entstehen, gründen »norden« die Entwicklung »ein«. Das Temporalbewusstsein wird mit einer Datierung angesprochen. Das Phänomen wird in seiner Bedeutung gewertet und ein Gegenwartsbezug ist angelegt. Das Genderbewusstsein kommt marginalisiert vor, indem Frauenorden als Appendix angefügt werden. Gleichzeitig fallen hier einige Besonderheiten auf, die die Textverständlichkeit unabhängig von den textlinguistischen Kriterien weiter herabsetzen dürften: Der Darstellungstext beginnt mit einer Definition von »Kloster« in einer abstrahierenden Formelhaftigkeit, die für die Entschlüsselung Kontextwissen und Vorstellungsvermögen voraussetzt. Der einordnende, das Phänomen wertende Satz gibt zwar einerseits Orientierung, andererseits dürfte den Schülerinnen und Schülern nicht klar sein, was der »entscheidende Anteil an der kulturellen Entwicklung Europas« sein dürfte. Im Mittelteil wird der Darstellungstext prosaisch und nutzt Wörter, die sich in der Bibel finden, z. B. »Urvater« statt Gründer. Zusammenfassend kann zur Auswertung der vier Beispiele festgehalten werden, dass in Darstellungstexten der höheren Niveaus (E-Niveau/3. Stufe oder
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Gymnasialniveau) versucht wird, Entwicklungen aufzuzeigen und dadurch das Historizitätsbewusstsein zu fördern. In Büchern für DaZ oder auf Seiten für das (G-Niveau/1. Stufe) erscheinen die hier als inhaltliches Beispiel gewählten Klöster als Monolith. Klöster sind dann auch oft nicht Räumen zugeordnet und eine zeitliche Verankerung fehlt. Solche Marker gehören zu einer Narration im geschichtsdidaktischen Sinne. Fehlen sie, können leseschwächere Schülerinnen und Schüler nicht an Best-Practice-Beispielen lernen, was für die Artikulation ihres Geschichtsbewusstseins zentral ist. Als eines der wichtigsten Ergebnisse kann damit festgehalten werden, dass historische Entwicklungen in Büchern der Klassenstufe 7/8 regelmäßig nur auf den Seiten für die 3. Stufe oder in Gymnasialschulbüchern sprachlich ausgedrückt werden.
4.
Zusammenführung
Im Allgemeinen kann man feststellen, dass das potenzielle Verständnis von Darstellungstexten unterschiedlicher Stufen mit sinkendem Niveau zunimmt bzw. mit ansteigendem Niveau abnimmt. Dieses positive Ergebnis trifft auf die untersuchten Schulbücher allerdings in unterschiedlichem Maße zu.34 Das Potenzial von Darstellungstexten in differenzierenden Schulbüchern scheint sowohl aus sprachlicher Sicht als auch aus fachlicher Sicht keinesfalls ausgeschöpft zu sein. Die Studie zeigt, dass fachliches Lernen bzw. Lernen nach geschichtsdidaktischen Kategorien und Prinzipien mithilfe von Sprache grundsätzlich möglich ist. Unsere Analyse hat jedoch auch gezeigt, dass die Erhöhung des Textverständnisses in Darstellungstexten in der Regel nicht mit der Förderung historischen Lernens einhergeht. Es besteht eine negative Korrelation zwischen dem sprachlichen Schwierigkeitsgrad der Texte und den fachlichen Anforderungen eines Geschichtsunterrichts, d. h. die Darstellungstexte werden aus textlinguistischer Perspektive von den Schülerinnen und Schülern zwar besser verstanden, scheinen aber aus fachlicher Perspektive weniger geeignet bzw. sogar kontraproduktiv zu sein. Textverständnis und Fachlichkeit erscheinen im untersuchten Korpus wie zwei Seiten einer Medaille, die nicht zusammenkommen. Wenn man davon ausgeht, dass Sprache beim Prozess historischen Denkens unterstützend wirken sollte – gerade in sprachlich heterogenen Lerngruppen –, müssen textlinguistische Methoden und Erkenntnisse der Textverstehensforschung mit fachlichen Überlegungen zur Förderung historischen Lernens in einen gewinnbringenden Zusammenhang gebracht werden. Gelingt dies nicht, 34 Als best practice-Beispiel ist das Schulbuch Entdecken und Verstehen (Nr. 3) zu nennen, bei dem die sprachliche Differenzierung adäquat umgesetzt worden ist.
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fördern wir eine sehr große Gruppe von Schülerinnen und Schülern beim Aufbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins nicht optimal, da die Sprache sie daran hindert. Lösungsansätze sollten darauf gerichtet sein, die Förderung historischen Lernens bei Darstellungstexten insgesamt, jedoch besonders bei sprachlich einfach zu verstehenden Texten erheblich zu steigern. Die vorliegende interdisziplinäre Untersuchung gibt hierfür Anhaltspunkte und rückt sprachliche Marker in den Fokus, die das Textverstehen erleichtern oder eben umgekehrt das Textverstehen anspruchsvoller machen. Im Hinblick auf die Bemessungsformel zur syntaktischen Kompliziertheit eines Textes zeigt die Untersuchung, dass eine Erhöhung des Textverständnisses gerade für leseschwache Schülerinnen und Schüler einer Förderung historischen Denkens nicht zwingend bzw. nicht im vermuteten Ausmaß abträglich sein muss. Diese gewinnbringende Abstimmung von sprachlichem und fachlichem Anspruch an einen Darstellungstext kann durch die Verwendung von geschichtsdidaktisch profilierten Textmarkern in Einklang miteinander gebracht werden, die nicht zwangsläufig im Widerspruch zu einem sprachlich leichten Textverständnis stehen. Insbesondere hat sich gezeigt, dass Bindewörter einen Darstellungstext aus textlinguistischer Perspektive nicht nur leichter verständlich machen, sondern Sinnabschnitte eines Satzes im Hinblick auf die Förderung historischen Denkens auch in ein sinnvolles Verhältnis zueinander bringen. Als fachliche Textmarker haben sich insbesondere Bindewörter bzw. Konjunktionen als geeignet erwiesen. Deren Verwendung kann sowohl den Textumfang als auch die Textdichte sogar senken und den Text damit leichter verständlich machen. Ein besonderer Fokus sollte auf den temporalen (z. B. als, seitdem, bis), kausalen (z. B. weil, da, zumal), konditionalen (z. B. wenn, falls sofern), konzessiven (z. B. wenn auch, obwohl, wenngleich), modalen (z. B. wie, indem, ohne dass), finalen (z. B. damit, um zu, dass) und konsekutiven (z. B. dass, sodass, als dass) und auch komparativen (z. B. wie, wie wenn) Bindewörtern liegen. Diese gliedern lange und damit unverständliche Sätze in Sinnabschnitte, die in eine bestimmte inhaltliche Beziehung zueinander gebracht werden und zugleich auf historische Kategorien wie Zeitlichkeit oder Kausalitäten und Entwicklungen abzielen. In diesem Sinne wäre auch eine gezielte Verwendung von anderen Wortarten bei der Erstellung von Darstellungstexten aus textlinguistischer Perspektive erprobenswert. Neben Verben35 sind auch den Text historisierende Adverbien zu nennen, die auf Entwicklungen (z. B. schon immer), auf Zeitlichkeit (z. B. ursprünglich) oder auf Wahrscheinlichkeiten (z. B. womöglich, anscheinend, scheinbar) abzielen. Die Zusammenstellung solcher sprachlichen Marker historischen Lernens wäre z. B. in Form eines sprachlich-geschichtsdidaktischen Ka35 Schrader (Anm. 31).
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talogs sinnvoll, wenn nicht sogar erstrebenswert, an dem sich Schulbuchautorinnen und Schulbuchautoren didaktisch zielorientiert vor (!) der Erstellung eines Darstellungstextes orientieren könnten. Das würde der Forderung von Günther-Arndt nach fachdidaktischen Konsensregeln beim Schreiben von Darstellungstexten nachkommen.36 Liste der untersuchten Geschichtsschulbücher. Seitenzahlen beziehen sich – geordnet nach den Niveaustufen – auf die untersuchten Darstellungstexte Nr. 1 Denkmal Geschichte. Klassenstufe 7/8. Baden-Württemberg Differenzierende Ausgabe. Doll, Daniel; Juneja-Huneke, Monica; Koch, Michael; Pankratz, Wolfgang; Stenzel-Karg, Daniela; Uttendorfer, Jörg. Westermann Schroedel Diesterweg Schöningh Winklers GmbH. Braunschweig 2016, S. 18, 28, 30. Nr. 2 Entdecken und verstehen 2. Klassenstufe 7/8. Baden-Württemberg Differenzierende Ausgabe. Berger-v. d. Heide, Thomas; Oomen, Hans- Gert (Hrsg.). Cornelsen Verlag GmbH. Berlin 2017, S. 26, 34f., 28f. Nr. 3 Die Reise in die Vergangenheit. Klassenstufe 7/8. Baden-Württemberg Differenzierende Ausgabe. Birkenfeld, Wolfgang; Ebeling, Hans (Hrsg.). Westermann, Schroedel, Diesterweg, Schöningh Winklers GmbH. Braunschweig 2016, S. 42f., 40f., 44f. Nr. 4 Menschen/ Zeiten/ Räume. Klassenstufe 7/8. Baden-Württemberg Differenzierende Ausgabe. Brokemper, Peter; Köster, Elisabeth; Potente, Dieter (Hrsg.). Cornelsen Verlag GmbH. Berlin 2017, S. 20. Nr. 5 Zeitreise 2. Klassenstufe 7/8. Baden- Württemberg Differenzierende Ausgabe. Christoffer, Sven; Harkcom, Stephanie; Heiter, Maria; Leinen, Klaus; Müller, Jörg Peter; Offergeld, Peter, et al. Ernst Klett Verlag GmbH. Stuttgart 2017, S. 20.
36 Günther-Arndt (Anm. 5).
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Nr. 6 Mosaik. Der Geschichte auf der Spur. Gymnasium. A2. Cornelissen, Joachim; Henzler, Christoph; Tocha, Michael; Winter, Helmut. Oldenbourg Schulbuchverlag GmbH. München/Düsseldorf/Stuttgart 2005, S. 30f. Nr. 7 Pusteblume. Das Sachbuch. Grundschule. Klassenstufe 4. Baden-Württemberg Neuerarbeitung. Bidlingmaier, Heike; Diersch, Thorsten; Hiestand, Christa; Kanzler, Eberhard; Kundmüller, Klaus; Schmidt, Hans-Joschim, et al. Westermann Schroedel Diesterweg Schöningh Winklers GmbH. Braunschweig 2018, S. 137. Nr. 8 Klick! Geschichte. Förderschule. Klassenstufe 7/8. Arbeitsheft. Fink, Christine; Fink, Oliver; Humann, Wolfgang; Weise, Silke. Cornelsen Verlag GmbH. Berlin 2018, S.10. Nr. 9 Prima ankommen im Fachunterricht. Geschichte; Erdkunde; Politik. Klassenstufe 7–10. Arbeitsbuch DaZ. Cakir-Dikkaya, Yurdakul (Hrsg.). Cornelsen Verlag GmbH. Berlin 2017, S. 10.
Matthias Sieberkrob
Sprachbildung bedeutet Emanzipation – Wege zum Geschichten Erzählen mit Lernaufgaben
1.
Der emanzipatorische Charakter der Durchgängigen Sprachbildung
Der geschichtsdidaktische Diskurs über Sprache(n) und historisches Lernen hat in den vergangenen Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen. Dabei ist allerdings häufig eine Vermischung verschiedener Ansätze in diesem Themenkomplex zu beobachten, etwa von Sprachbildung und Sprachförderung.1 Bislang werden entsprechende Begriffsdiskussionen und -definitionen2 häufig ignoriert. Gleichzeitig werden Fragen des Zusammenhangs von sprachlichem und historischem Lernen mit Blick auf verschiedene Zielgruppen verhandelt, die wiederum unterschiedliche Ansätze im pädagogisch-didaktischen Handeln verlangen. In der Sektion »Fachsprache als Leichte Sprache und als Bildungssprache« auf der KGD-Zweijahrestagung in Essen 2019 haben Sebastian Barsch, Bettina Degner, Jessica Kreutz, Martin Lücke und ich es uns zur Aufgabe gemacht, diesen Fragen im Spannungsverhältnis zwischen Inklusion und Sprachbildung nachzugehen. Obwohl die verschiedenen Ansätze sich in ihren Zielgruppen und ihrer diskursiven Herkunft unterscheiden, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie alle in einem 1 So z. B. bei Saskia Handro: Sprache und Diversität im Geschichtsunterricht. In: Sebastian Barsch u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2020, S. 93– 116; Markus Bernhardt/Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte. In: Geschichte lernen 182 (2018), S. 2–9. 2 Vgl. Wolfgang Schneider u. a.: Expertise »Bildung durch Sprache und Schrift (BISS)« (2012), S. 23 (https://biss-sprachbildung.de/pdf/biss-website-biss-expertise.pdf, aufgerufen am 16. 02. 2020); Simon Morris-Lange/Katarina Wagner/Lale Altinay: Lehrerbildung in der Einwanderungsgesellschaft. Qualifizierung für den Normalfall Vielfalt 2016, Policy Brief des SVR Forschungsbereichs, S. 9 (https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2016/09/Policy_ Brief_Lehrerfortbildung_2016.pdf, aufgerufen am 16. 02. 2020); Brigitte Jostes: »Mehrsprachigkeit«, »Deutsch als Zweitsprache«, »Sprachbildung« und »Sprachförderung«: Begriffliche Klärungen. In: Brigitte Jostes/Daniela Caspari/Beate Lütke (Hrsg.): Sprachen – Bilden – Chancen: Sprachbildung in Didaktik und Lehrkräftebildung (Sprachliche Bildung, Bd. 5). Münster/New York 2017, S. 103–126, hier S. 112–121.
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Matthias Sieberkrob
Zusammenhang mit Diskussionen um Inklusion (im weiteren Sinne) und Diversität stehen.3 Der folgende Beitrag bezieht sich auf das im Modellprogramm »Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund« (FörMig) entwickelte Konzept der Durchgängigen Sprachbildung.4 In Anbetracht der oben angedeuteten Beobachtungen möchte ich im Folgenden in meinen Augen zentrale Punkte dieses Konzepts herausstellen. Der Ansatz der Durchgängigen Sprachbildung reagiert auf die Zusammenhänge von soziokultureller Herkunft und Bildungserfolg im deutschen Bildungssystem. Mit Blick auf Bourdieus Kapitalarten5 wird darauf hingewiesen, dass einige Schüler*innen nicht über ausreichendes kulturelles Kapital verfügen würden. Ihnen ist »soziale Mobilität nur möglich […], wenn sie das entsprechende kulturelle Kapital in Form von Bildungsinhalten und, in vielen Kontexten noch wichtiger: Bildungszertifikaten erworben haben. Voraussetzung dieses sozialen Phänomens ist Kompetenz in der Bildungssprache der Schule.«6 Hier wird der emanzipatorische Charakter des Ansatzes erkennbar, der im Bildungssystem entsprechend der Konzeptualisierung im FörMig-Programm in zwei Dimensionen wirken soll: nämlich in einer vertikalen (durch die Bildungsbiographie, wobei v. a. die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Bildungsinstitutionen ins Auge gefasst wurden) und in einer horizontalen (durch Kooperationen innerhalb von Bildungseinrichtungen sowie Kooperationen mit Partner*innen).7 Denn Bildungssprache8 differenziert sich im Verlauf von Bil3 Vgl. Handro (Anm. 1). 4 Vgl. z. B. Ingrid Gogolin u. a.: Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund FörMig. Bilanz und Perspektiven eines Modellprogramms. Münster u. a. 2011 (FörMIG Edition, Bd. 7); Ingrid Gogolin/Imke Lange: Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In: Sara Fürstenau/Mechtild Gomolla (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel. Mehrsprachigkeit. Wiesbaden 2011, S. 107–127. 5 Vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital. In: Ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht, hrsg. v. Margareta Steinrücke. Durchgesehene Neuauflage der Erstauflage 1992 (Schriften zu Politik & Kultur, Bd. 1). Hamburg 2015, S. 49– 79. 6 Christoph Gantefort: ›Bildungssprache‹ – Merkmale und Fähigkeiten im sprachtheoretischen Kontext. In: Ingrid Gogolin u. a. (Hrsg.): Herausforderung Bildungssprache – und wie man sie meistert (FörMig-Edition, Bd. 9). Münster u. a. 2013, S. 71–105, hier S. 73. 7 Vgl. Gogolin u. a. (Anm. 4), S. 25–51. 8 In seiner heutigen Verwendung geht der Begriff auf Jürgen Habermas zurück. Vgl. Jürgen Habermas: Umgangssprache, Wissenschaftssprache, Bildungssprache. In: Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.): Jahrbuch 1977. Göttingen 1977, S. 36–51. In der aktuellen Diskussion wird er aus unterschiedlichen Perspektiven näher beschrieben. Vgl. hierzu u. a. Gantefort (Anm. 6); Linda Riebling: Heuristik der Bildungssprache. In: Gogolin u. a. (Anm. 6), S. 106–153; Ingrid Gogolin/Joana Duarte: Bildungssprache. In: Jörg Kilian/Birgit Brouër/Dina Lüttenberg (Hrsg.): Handbuch Sprache in der Bildung (Handbücher Sprachwissen, Bd. 21). Berlin/Boston 2016, S. 478–499; Miriam Morek/Vivien Heller: Bildungssprache – Kommunikative, epistemische, soziale und interaktive Aspekte ihres Gebrauchs. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik 57 (2012) H. 1, S. 67–101.
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dungswegen weiter aus. Deswegen »besteht die Notwendigkeit eines ›durchgängigen‹ kumulativen Auf- und Ausbaus als normativ-emanzipatorischer Charakter: Bildungssprache soll als Gegenstand der Bildung einbezogen werden und damit Chancen eröffnen.«9 Die ebenfalls geläufige, vor allem von Josef Leisen geprägte und in der Regel synonym verwendete Bezeichnung ›sprachsensibler Fachunterricht‹ zielt auch ebenfalls auf die Förderung der Bildungssprache. Allerdings verdeckt diese Bezeichnung diesen Zusammenhang, da ›sprachsensibel‹ vieles bedeuten kann. Die Förderung der Bildungssprache kommt einem dabei aber nicht unbedingt als Erstes in den Sinn, während der Begriff ›Sprachbildung‹ untrennbar mit der Fokussierung auf die Förderung der Bildungssprache zusammensteht.10 Daher schlage ich für den Terminus ›sprachsensibel‹ eine Neudefinition vor: Sprachsensibles pädagogisch-didaktisches Handeln bezeichnet den diskriminierungsfreien Sprachgebrauch in der Schule und darüber hinaus. (Angehende) Lehrer*innen müssen ebenso wie die Schüler*innen für die potentiell exkludierende und diskriminierende Wirkung von Sprache z. B. durch die Verwendung des generischen Maskulinums, durch diskriminierende Gruppenbezeichnungen oder durch die aus migrationspädagogischer Perspektive »faktische und symbolische Schlechterstellung von ›Migrationsanderen‹ in der nationalen Schule«11 sensibilisiert werden sowie ihr eigenes sprachliches Handeln und das von anderen diesbezüglich reflektieren. Ein Teil der Reflexion des Sprachgebrauchs im Handlungsfeld Schule umfasst die Sensibilisierung für die sprachlichen Anforderungen der Unterrichtsfächer, wie z. B. die sprachlichen Anforderungen von historischen Quellen. Für Unterrichtskontexte sind Lehrer*innen weiterhin zu sensibilisieren für die sprachlichen Kompetenzen ihrer Schüler*innen in Anbetracht ihrer Erstsprachen, möglicher Mehrsprachigkeit, ihres sozioökonomischen Status und möglicher sprachlicher Entwicklungsverzögerungen.12
Hieraus folgt, dass nur dann von Sprachbildung gesprochen werden sollte, wenn das pädagogisch-didaktische Handeln explizit auf die Förderung der bildungssprachlichen Kompetenzen zielt. Sprachbildender Unterricht schafft dabei stets Angebote für alle Schüler*innen. Der emanzipatorische Charakter der Sprachbildung zeigt sich darin, dass gerade Schüler*innen mit sprachlich bedingten und soziokulturell begründeten geringen schulischen Leistungen Chancen auf die
9 Michael Becker-Mrotzek/Hans-Joachim Roth: Sprachliche Bildung – Grundlegende Begriffe und Konzepte. In: Dies. (Hrsg.): Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder. Münster/New York 2017 (Sprachliche Bildung, Bd. 1), S. 11–36, hier S. 22. 10 Vgl. Imke Lange/Ingrid Gogolin: Durchgängige Sprachbildung. Eine Handreichung (FörMigMaterial, Bd. 2). Münster u. a. 2010, S. 12–20; Jostes (Anm. 2), S. 112f. 11 I˙nci Dirim: Sprachverhältnisse. In: Paul Mecheril (Hrsg.): Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim/Basel 2016, S. 311–325, hier S. 311. 12 So bereits vorgeschlagen in Matthias Sieberkrob/Martin Lücke: Sprachbildende Lernaufgaben im Geschichtsunterricht. In: Barsch u. a. (Anm. 1), S. 424–439, hier S. 426.
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Matthias Sieberkrob
Verfügung über Bildungssprache und die damit verbundenen Partizipationsund Emanzipationsmöglichkeiten eröffnet werden. Während die grundsätzliche Bedeutung der Sprachbildung für historisches Lernen viel Anerkennung gefunden hat – davon zeugen nicht nur die Beiträge auf der KGD-Zweijahrestagung 2019 –, wird der emanzipatorische Charakter doch oft unterschlagen. Zu groß scheinen die Herausforderungen im Sprachfach Geschichte, nahezu unüberwindbar die Diskrepanz zwischen den Sprachkompetenzen mancher Schüler*innen und den sprachlichen Anforderungen historischen Lernens. Doch soll diesem Grundgedanken Rechnung getragen werden, wird es nicht ausreichen, nur auf einzelne sprachliche Fertigkeiten wie etwa das Lesen einzugehen oder an passenden Stellen z. B. mit einem Glossar den Aufbau des (Fach-)Wortschatzes zu unterstützen. Vielmehr braucht es Ansätze, die sowohl die verschiedenen sprachlichen Fertigkeiten in produktiver Weise zusammenführen als auch einen kumulativen Aufbau bildungssprachlicher Kompetenzen über einen längeren Zeitraum ermöglichen. Dies stets mit Blick auf den von Hans-Jürgen Pandel formulierten bereits emanzipatorischen Anspruch des Geschichtsunterrichts, »Erzählzusammenhänge zu vermitteln und Schüler in die Lage zu versetzen, Geschichte zu erzählen und erzählte Geschichte zu verstehen.«13 Hieraus ist auch erkennbar, dass es einer integralen Betrachtung fachlicher und sprachlicher Bildung bedarf,14 wobei weiterhin auch die in FörMig formulierte programmatische Forderung der Anerkennung und Wertschätzung der Mehrsprachigkeit der Schüler*innen mit einbezogen werden muss.15 Es darf also nicht lediglich auf sprachliche Defizite fokussiert werden, sondern Sprachbildung muss als durchgehendes Prinzip aller Unterrichtsstunden ernst genommen werden und die Aktivitäten müssen über die Sicherung des Textverständnisses hinausgehen. Zu konstatieren ist also, dass Sprachbildung im Geschichtsunterricht stets alle sprachlichen Aktivitäten mitzudenken hat. Im Folgenden werde ich in diesem Sinne ein Beispiel für sprachbildendes historisches Lernen mittels einer Lernaufgabe vorstellen, die im Rahmen des 13 Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010, S. 10. 14 Vgl. Saskia Handro: Sprache(n) und historisches Lernen. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 5–24, hier S. 7. 15 In dem Zusammenhang immer wieder fatal sind politische Forderungen der Exklusion von Schüler*innen, die sich in einem frühen Stadium des Zweitspracherwerbs befinden, wie sie z. B. CDU-Politiker Carsten Linnemann im August 2019 vorschlug. Derlei Positionen verkennen die Vorteile integrativer und teilintegrativer Modelle für den Spracherwerb, denn u. a. durch viele sinnhafte Kontakte mit einer Sprache und das Anwenden der Sprache wird diese gelernt. Vgl. Mona Massumi u. a.: Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Köln 2015, S. 7. Weiterhin stigmatisieren sie Schüler*innen als ›Migrationsandere‹, vgl. Dirim (Anm. 11).
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Projekts Sprachen – Bilden – Chancen: Innovationen für das Berliner Lehramt (2014–2017) entwickelt wurde. Dabei ist zu bedenken, dass die im Projekt entwickelten Lernaufgaben primär als beispielhaftes Material für die universitäre Lehre konzipiert wurden, also nicht direkt für die Unterrichtspraxis, obwohl sie auch mit Schulklassen erprobt wurden. Zunächst aber werde ich den Begriff Lernaufgabe näher erläutern und anschließend Wege zur Konzeption sprachbildender Lernaufgaben aufzeigen. Hierfür benenne ich Prinzipien für die Entwicklung von sprachbildenden Lernaufgaben und illustriere diese Vorschläge abschließend beispielhaft. Dabei zählt das für diese Lernaufgabe verwendete Thema »Der Versailler Vertrag« zum Kernbestand des Geschichtsunterrichts in der Schule.16
2.
Lernaufgaben
Lernaufgaben wurden in den letzten Jahren vielerorts allgemein- und fachdidaktisch diskutiert.17 Unter Bezugnahme auf diese Diskussionen verstehe ich unter Lernaufgaben in Abgrenzung von anderen Aufgabentypen wie etwa Prüfungs-, Test- oder Übungsaufgaben einen Aufgabentypus, der den individuellen Lernprozess der Schüler*innen in den Mittelpunkt stellt. In der Regel bestehen Lernaufgaben aus mehreren aufeinander aufbauenden Teilaufgaben sowie den zugehörigen Lernmaterialien, mit denen die Schüler*innen weitgehend selbstständig eine problemorientierte Fragestellung entdecken und bearbeiten können. Lernaufgaben zielen auf ein Lernprodukt, ermöglichen den Schüler*innen die Reflexion ihres Lernzugewinns und zielen nicht primär auf einen Wissenszuwachs, sondern auf die funktionale Verwendung bzw. Weiterbearbeitung des in der Lernaufgabe erworbenen Wissens. Im Geschichtsunterricht bedeutet das vor allem die »produktive eigen-sinnige Aneignung vergangener Wirklichkeiten als selbst erzählte oder selbst imaginierte Geschichte.«18 Dabei ist der erfolgreiche Einsatz von Lernaufgaben im Unterricht nicht nur abhängig von der Aufgabe und den Materialien selbst, sondern auch 16 Nur um einige neue Überlegungen ergänzt sind die folgenden Abschnitte dieses Beitrags erschienen als Sieberkrob/Lücke (Anm. 12), S. 427–436. 17 Vgl. z. B. Sigrid Blömeke u. a.: Analyse der Qualität von Aufgaben aus didaktischer und fachlicher Sicht. Ein allgemeines Modell und seine exemplarische Umsetzung im Unterrichtsfach Mathematik. In: Unterrichtswissenschaft 34 (2006), H. 4, S. 330–357; Hanna Kiper u. a. (Hrsg.): Lernaufgaben und Lernmaterialien im kompetenzorientierten Unterricht. Stuttgart 2010; Patrick Blumschein (Hrsg.): Lernaufgaben – Didaktische Forschungsperspektiven. Bad Heilbrunn 2014; Bernd Ralle u. a. (Hrsg.): Lernaufgaben entwickeln, bearbeiten und überprüfen. Ergebnisse und Perspektiven der fachdidaktischen Forschung (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 6). Münster/New York 2014. 18 Martin Lücke/Irmgard Zündorf: Einführung in die Public History. Stuttgart 2018, S. 39.
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Matthias Sieberkrob
von einer Aufgabenkultur, die die Aufgabeneinführung, -bearbeitung und -evaluation umfasst.19 Der seitens Lehrer*innen und Schüler*innen erforderliche Umgang mit Lernaufgaben im Unterricht steht dabei in einem Gegensatz zu bisherigen Erkenntnissen über den Einsatz von Aufgaben im Geschichtsunterricht. So zeigen etwa Hodel und Waldis in einer quantitativen Studie, dass für die Bearbeitung von Aufgaben im Geschichtsunterricht in der Schweiz nur etwas mehr als sieben Minuten zur Verfügung stehen.20 Thünemann weist darauf hin, dass Aufgaben im Schulbuch oftmals lediglich Reproduktionsleistungen oder deklaratives Wissen erfordern.21 Weiterhin konstatiert er im Zuge einer Analyse der Unterrichtskommunikation von drei Beispielstunden eine mangelhafte Aufgabenkultur.22 Auch unabhängig von der Frage nach der Umsetzung von Sprachbildung im Geschichtsunterricht würde daher ein Wandel in der Aufgabenkultur die Chance eröffnen, in einem stärkeren Maße als bislang historische Denkprozesse zu evozieren.23
3.
Grundlagen der Entwicklung sprachbildender Lernaufgaben
Lernaufgaben im oben definierten Sinne werden verschiedentlich zur Gestaltung sprachbildenden Fachunterrichts vorgeschlagen.24 Denn mit ihnen ist es möglich, Sprachhandlungsmuster mit kognitiven Operationen zu verknüpfen, sprachliches Handeln pragmatisch auf den fachlich relevanten Lernkontext auszurich19 Vgl. Christian Heuer: Zur Aufgabenkultur im Geschichtsunterricht. In: Ute Bender/Keller Stefan (Hrsg.): Aufgabenkulturen. Fachliche Lernprozesse herausfordern, begleiten, reflektieren. Seelze 2012, S. 100–112, hier S. 103. 20 Vgl. Jan Hodel/Monika Waldis: Sichtstrukturen im Geschichtsunterricht – die Ergebnisse der Videoanalyse. In: Peter Gautschi u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 91–142. 21 Vgl. Holger Thünemann: Geschichtsunterricht ohne Geschichte? Überlegungen und empirische Befunde zu historischen Fragen im Geschichtsunterricht und im Schulgeschichtsbuch. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache (Zeitgeschichte, Zeitverständnis, Bd. 21). Berlin 2010, S. 49–59. 22 Vgl. Holger Thünemann: Historische Lernaufgaben: Theoretische Überlegungen, empirische Befunde und forschungspragmatische Perspektiven. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 141–155. 23 Vgl. Heuer (Anm. 19). Weiterführend Andreas Körber u. a.: Inklusives Geschichtslernen via Scaffolding von Aufgaben. In: Barsch u. a. (Anm. 1), S. 405–423. 24 Vgl. z. B. Eike Thürmann: Deutsch als Schulsprache in allen Fächern. Konzepte zur Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen 2011 (https://schulentwicklung.nrw.de/materialdaten bank/nutzersicht/getFile.php?id=5179, aufgerufen am 05. 02. 2020); Sven Oleschko: Lernaufgaben und Sprachfähigkeit bei heterarchischer Wissensstrukturierung. Zur Bedeutung der sprachlichen Merkmale von Lernaufgaben im gesellschaftswissenschaftlichen Lernprozess. In: Ralle u. a. (Anm. 17), S. 85–94.
Sprachbildung bedeutet Emanzipation
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ten und außerdem unterschiedliche sprachliche Bereiche (Hören, Sprechen, Schreiben, Lesen) funktional zusammenzuführen. Dabei wird das Sprachkönnen gefestigt und im Prozess der Aufgabenbearbeitung weiter ausdifferenziert.25 Außerdem hat die Fremd- und Zweitsprachendidaktik seit den 1980er Jahren gute Erfahrungen mit Lernaufgaben gemacht.26 In ihnen wird Sprache gebraucht, um realitätsnahe Aufgaben zu bearbeiten, wobei sich sprachliches Lernen eher beiläufig vollzieht.27 Bislang gibt es jedoch ausgesprochen wenige historische Lernaufgaben, die explizit als solche benannt werden. Das gilt umso mehr für sprachbildende historische Lernaufgaben. Im Projekt Sprachen – Bilden – Chancen ist man daher so vorgegangen, dass Lernaufgaben im oben beschriebenen Sinne entweder konstruiert wurden, indem bestehende Aufgaben weiterentwickelt und dabei oftmals durch weitere Materialien ergänzt wurden, oder indem sie mit Hilfe von vorhandenem Material neu entwickelt wurden.28 An dieser Stelle gehe ich nicht weiter auf geschichtsdidaktische Gütekriterien historischer Lernaufgaben ein,29 sondern fokussiere auf Fragen der Sprachbildung in der Lernaufgabenentwicklung. Jedoch, und damit schließe ich an die oben aufgestellte Forderung der integralen Betrachtung von fachlicher und sprachlicher Bildung an, ist es oberstes Gebot (auch) sprachbildender historischer Lernaufgaben, dass Schüler*innen mit ihnen ihre narrative Kompetenz verbessern können. Denn ein kompetenter rezeptiver und produktiver Umgang mit historischen Erzählungen ist mindestens der Ausgangspunkt, wenn nicht gar der hauptsächliche Beitrag, den der Geschichtsunterricht zur Querschnittsaufgabe Sprachbildung leisten kann. Um diesem Anspruch bei der Entwicklung von sprachbildenden historischen Lernaufgaben gerecht zu werden, müssen die weiterzuentwickelnden Aufgaben bzw. das Material sprachlich analysiert werden. Hierfür wurde im oben genannten Projekt das Instrument zur sprachbildenden Analyse von Aufgaben im
25 Thürmann (Anm. 24), S. 7. 26 Vgl. Mike Long: Second Language Acquisition and Task-Based Language Teaching. New York 2014. 27 Vgl. Matthias Sieberkrob/Daniela Caspari: Entwicklung sprachbildender Aufgaben in den Fächern. In: Daniela Caspari (Hrsg.): Sprachbildung in den Fächern: Aufgabe(n) für die Fachdidaktik. Materialien für die Lehrkräftebildung. Berlin 2017, S. 7–16, hier S. 8. 28 Ebd., S. 13f. 29 Hierzu Christian Heuer: Gütekriterien für kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fach Geschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62 (2011), 7/8, S. 443–458; Thünemann (Anm. 22); Birgit Wenzel: Aufgaben(kultur) und neue Prüfungsformen. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012, S. 23–36; Manuel Köster/Markus Bernhardt/Holger Thünemann: Aufgaben im Geschichtsunterricht. Typen, Gütekriterien und Konstruktionsprinzipien. In: Geschichte lernen 174 (2016), S. 2–11, hier S. 6–8.
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Matthias Sieberkrob
Fach (ISAF) entwickelt.30 Das Instrument besteht aus den Abschnitten A) Fachdidaktische Analyse der Aufgabe, B) Rezeption: Sprachliche Analyse der in der Aufgabe verwandten schriftlichen Texte, C) Produktion: Sprachliche Analyse der von den Schüler*innen geforderten produktiven Aktivitäten, D) Analyse der Aufgabenstellung und E) sprachbildende Überarbeitung. Jeder Abschnitt besteht aus mehreren Schritten.31 Für den Abschnitt E) sprachbildende Überarbeitung wurde im Projekt weiterhin eine komplementär zu ISAF angelegte kommentierte Methodensammlung erstellt, die es ermöglicht, für den Lernprozess passende sprachbildende Methoden zu finden.32 Bei der Entwicklung der sprachbildenden Lernaufgaben kristallisierten sich folgende Prinzipien heraus:33
a)
Das fachliche Lernen als Ausgangspunkt
Gemeint ist, dass das jeweils fachliche Lernen im sprachbildenden Unterricht Vorrang vor dem sprachlichen Lernen haben sollte. Dem sprachlichen Lernen kommt eine dienende Funktion zu. Die Schüler*innen werden durch Sprachbildung im Fachunterricht so unterstützt, dass sie die fachlichen Lernziele erreichen können.34
b)
Kompetenzorientierung
Lernaufgaben generell zielen auf die funktionale Verwendung bzw. Weiterverarbeitung von in der Aufgabe erworbenen Wissensbeständen, nicht auf Wissenserwerb an sich. Außerdem bedeutet Kompetenzorientierung auch, dass vom angestrebten Ergebnis, dem Output, her gedacht wird. Dafür müssen neben den inhaltlichen auch die sprachlichen Voraussetzungen und Anforderungen mitbedacht werden. Saskia Handro sieht in Bezug auf den Zusammenhang von Sprachhandeln, historischem Denken und historischem Lernen in der Kompetenzorientierung zwei weitere Argumente: Erstens sensibilisiere das konstruktivistische Lernverständnis für den Zusammenhang von sprachlichen Kompe30 Vgl. Daniela Caspari u. a.: Instrument zur sprachbildenden Analyse von Aufgaben im Fach (ISAF). In: Caspari (Anm. 27), S. 40–46. 31 Zur Entwicklung und Anwendung vgl. Julia Schallenberg/Daniela Caspari: ISAF – Ein Instrument zur sprachbildenden Analyse von Aufgaben im Fach. In: Ebd., S. 19–25. 32 Vgl. Andreas Kraft u. a.: Kommentierte Methodenauswahl zur Sprachbildung. In: Ebd., S. 47–61. 33 Vgl. Sieberkrob/Caspari (Anm. 27), S. 10–13. 34 Hierzu auch Eike Thürmann/Helmut Johannes Vollmer: Sprachliche Dimensionen fachlichen Lernens. In: Becker-Mrotzek/Roth (Anm. 9), S. 308–310.
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tenzen und individuellen Denk- und Wissenserwerbsprozessen. Zweitens sei Sprache im Paradigma des domänenspezifischen Denkens nicht lediglich das Medium der Unterrichtskommunikation. Es lasse sich feststellen, dass rezeptives und produktives Sprachhandeln als Struktur epistemologischen Denkens und individueller Sinnbildung entscheidend aufgewertet werde.35
c)
Bewusste Fokussierung der sprachbildenden Maßnahmen
Aus dem Anspruch, das fachliche Lernen als Ausgangspunkt (auch) für Sprachbildung im Geschichtsunterricht zu nehmen, folgt weiterhin, dass es nicht sinnvoll ist, alle denkbaren sprachbildenden Maßnahmen umzusetzen. Vielmehr sind die sprachbildenden Maßnahmen konsequent auf die historischen Lernprozesse und das Lernprodukt auszurichten.
d)
Scaffolding
Ohne an dieser Stelle näher auf die lerntheoretischen Hintergründe von Scaffolding (engl. für Baugerüst) einzugehen,36 bietet es sich als Prinzip für sprachbildenden Unterricht in besonderem Maße an. Wie Pauline Gibbons, deren Name mit sprachlichem Scaffolding vor allem verbunden ist, betont, geht es bei Scaffolding um mehr als lediglich eine Hilfestellung: »It is a special kind of help that assists learners in moving toward new skills, concepts, or levels of understanding. Scaffolding is thus the temporary assistance by which a teacher helps a learner know how to do something so that the learner will later be able to complete a similar task alone. It is future-oriented and aimed at increasing a learner’s autonomy.«37
e)
Kleinere sprachbildende Hilfestellungen
Hiermit sind beispielsweise für den Kontext unerlässliche Worterklärungen und Formulierungshilfen oder das Reformulieren einer Aufgabenstellung gemeint. Zumeist ist die Integration solcher Hilfestellungen in Lernaufgaben problemlos 35 Handro (Anm. 14), S. 11. 36 Vgl. Pauline Gibbons: Scaffolding Language, Scaffolding Learning. Teaching English Language Learners in the Mainstream Classroom. Portsmouth 2. Aufl. 2015; Jenny Hammond/Pauline Gibbons: Putting Scaffolding to Work: The Contribution of Scaffolding in Articulating ESL Education. In: Prospect 20 (2005), H. 1, S. 6–30. 37 Gibbons (Anm. 36), S. 16.
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zu vollziehen, während sie gleichzeitig sehr effektiv sind. Jedoch ist darauf zu achten, dass sie nicht in Konflikt mit den historischen Lernzielen stehen.
f)
Genre38-Orientierung
Deutlich komplexer ist die Orientierung an Genres. Wolfgang Hallet betont die generische Form von Sprache generell und jeder Art von Diskurs im Speziellen. Genres folgen demnach bestimmten Traditionen, Konventionen und Erwartungshaltungen. Sie generieren, repräsentieren und vermitteln Wissensbestände.39 Das Wissen über Genres im Geschichtsunterricht ist von Bedeutung, »da es nicht nur als Verstehensressource bei der Rezeption geschichtlicher Quellen und Darstellungen, sondern auch als Produktionslinie beim Verfassen von Texten zu historischen Sachverhalten, mithin zur eigenen historischen Sinnbildung, benötigt wird«.40 Genres stellen somit spezifische Anforderungen an die Schüler*innen. Jedoch hilft die konsequente Ausrichtung auf ein bestimmtes Genre bei der Entwicklung von sprachbildenden Lernaufgaben. Zielführende Scaffolds können so leichter identifiziert werden. Im Geschichtsunterricht sollten historische Erzählungen Produkte von Lernaufgaben sein, die wiederum bestimmte Charakteristika aufweisen. Zu bedenken ist also, welche Charakteristika die jeweiligen historischen Erzählungen haben sollten, z. B. im Hinblick auf den Aufbau, auf typische Argumentationsmuster, auf die Strukturierung von Zeitabläufen oder der Art und Weise von Belegen für getroffene Aussagen.41 Erlangt man hierüber Klarheit, können die jeweiligen Charakteristika in der Lernaufgabe Schritt für Schritt erlernt werden.
38 Häufig wird statt ›Genre‹ auch von ›Textsorte‹ gesprochen. Die Begriffe kommen aus unterschiedlichen Disziplinen, meinen aber etwas sehr Ähnliches. Während ›Textsorte‹ zunächst vielleicht zugänglicher sein mag, scheint sich in der Geschichtsdidaktik eher der Begriff ›Genre‹ zu etablieren, z. B. bei Olaf Hartung: Generisches Geschichtslernen. Drei Aufgabentypen im Vergleich. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 47–62; Handro (Anm. 14); Matthias Sieberkrob/Martin Lücke: Narrativität und sprachlich bildender Geschichtsunterricht – Wege zum generischen Geschichtslernen. In: Jostes/Caspari/Lütke (Anm. 2), S. 217–229. 39 Vgl. Wolfgang Hallet: Generisches Lernen im Fachunterricht. In: Michael Becker-Mrotzek u. a. (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 3). Münster u. a. 2013, S. 59–75, hier S. 59. 40 Hartung (Anm. 38), S. 47f. 41 Sieberkrob/Lücke (Anm. 12).
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g)
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Sprachliches Lernen erfahrbar machen
Auch sprachliches Lernen vollzieht sich prozesshaft. Gut lesen und schreiben zu können oder ein bestimmtes sprachliches Register zu beherrschen, gelingt Schüler*innen erst dann, wenn sie entsprechende Lernprozesse durchlaufen haben. Diese Lernprozesse können in Lernaufgaben erfahrbar gemacht werden, etwa indem schrittweise vom alltagssprachlichen Register zum bildungssprachlichen hingeführt wird oder indem sprachliche Überarbeitungsphasen eingebaut werden. Im Geschichtsunterricht bietet sich hierdurch auch die Chance, über den historischen Sinnbildungsprozess in Form einer historischen Erzählung zu reflektieren.
4.
Ein Beispiel: Eine sprachbildende Lernaufgabe zum Versailler Vertrag
Die im Projekt Sprachen – Bilden – Chancen entwickelte Lernaufgabe »Der Friedensvertrag von Versailles«42 besteht aus vier Teilaufgaben. Sie führt als finales Lernprodukt auf eine Quelleninterpretation ausgewählter Artikel des Friedensvertrags von Versailles hin. Zu Beginn der Lernaufgabe wird den Schüler*innen transparent gemacht, was sie, je nach Lerntempo, in den nächsten zwei bis drei Doppelstunden erwartet und was sie als finales Lernprodukt erstellen sollen. Aufgabenstellung: Der Versailler Vertrag – ein Weg zum Frieden? Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags endete der 1. Weltkrieg. Was wurde in dem Vertrag festgesetzt und wie wurde er in seiner Zeit wahrgenommen? Um hierauf Antworten zu finden, lautet die übergreifende Aufgabenstellung: –
Interpretiere den Versailler Vertrag. Beachte dabei seinen historischen Entstehungs kontext.
Hierfür bearbeitest du auf den folgenden Seiten Teilaufgaben und näherst dich so der Interpretation Schritt für Schritt an.
Der Einstieg in die Bearbeitungsphase der Lernaufgabe erfolgt in Teilaufgabe I über eine vergleichende Kartenbeschreibung Mitteleuropas vor und nach dem
42 Vgl. Matthias Sieberkrob/Sarah-Amina Brunzlow: Beispiel für eine sprachbildende Aufgabe im Fach Geschichte: Der Friedensvertrag von Versailles. In: Caspari (Anm. 27), ohne Seitenangaben in Kap. 3.2.
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Ersten Weltkrieg. Die Schüler*innen sollen die umfangreichen Veränderungen von Staatsgebieten sowie das Entstehen neuer Staaten erkennen. Teilaufgabe I: Einstieg durch eine Kartenbeschreibung Vergleicht in Partnerarbeit die beiden Karten (M1, M2) auf der nächsten Seite. Haltet eure Ergebnisse in Stichpunkten fest. –
Beschreibt dabei insbesondere die Gebietsveränderungen Deutschlands und Österreich-Ungarns.
–
Stellt Vermutungen über innenpolitische Auswirkungen an.
–
Benennt, welche machtpolitischen Auswirkungen die Veränderungen in Europa hatten.
In sprachbildender Hinsicht ist zu vermerken, dass bereits die Aufgabenstellung Hinweise zu einem zielgerichteten Vorgehen gibt. Darauf wurde auch bei der Formulierung der weiteren Teilaufgaben geachtet, was insbesondere bei umfangreichen Teilaufgaben den Arbeitsprozess der Schüler*innen unterstützt. Weiterhin dient die Kartenbeschreibung als pre-reading activity im Sinne einer Vorwissensaktivierung, da in der nächsten Teilaufgabe auf Wissensbestände aus vorherigen Unterrichtsstunden zurückgegriffen werden sollte. Weiterhin stehen den Schüler*innen zielgerichtete Worthilfen zur Kartenbeschreibung als Scaffolds zur Verfügung (Grenzen verschieben sich/die Grenze zu…/der Gebietsverlust, der Gebietsgewinn/etwas vergrößert sich, etwas verkleinert sich/östlich von, nördlich von…/Staaten entstehen, Staaten werden aufgelöst/die Staatsgründung), die ein Beispiel für das oben genannte Prinzip kleinerer sprachbildender Hilfestellungen sind. Die Kartenarbeit steht nicht im sprachbildenden Fokus, ansonsten könnte dieser Aspekt deutlich ausgebaut werden. Im Sinne der bewussten Fokussierung der sprachbildenden Maßnahmen wurden die sprachbildenden Scaffolds an dieser Stelle jedoch als ausreichend erachtet. In Teilaufgabe II vergleichen die Schüler*innen zwei zeitgenössische Karikaturen, jeweils eine aus deutscher und französischer Perspektive, die die unterschiedlichen Perspektiven auf die Bestimmungen des Versailler Vertrags in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zeigen. Aus diesen ersten beiden Teilaufgaben wird im Unterrichtsgespräch die Leitfrage für die weitere Bearbeitung der Lernaufgabe entwickelt: »Der Versailler Vertrag – ein Weg zum Frieden?« Mit den gleichen Argumenten wie in Teilaufgabe I sind die sprachbildenden Scaffolds hier kleinerer Art. Sie beschränken sich auf Beschriftungen zu den Karikaturen. Weiterhin dienen die Karikaturen ebenfalls als pre-reading activity. In Teilaufgabe III setzen sich die Schüler*innen mit wesentlichen Artikeln des Versailler Vertrags auseinander. Sie besteht aus mehreren Arbeitsaufträgen, zu denen sowohl gezielte Leseaufträge, die Bearbeitung unterstützenden Materials
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Teilaufgabe II: Zeitgenössiche Karikaturen zum Versailler Vertrag Die Quellen Q1 und Q2 zeigen zwei Karikaturen zum Versailler Vertrag. Q1 zeigt eine deutsche Perspektive, Q2 eine französische. Vergleiche die beiden Karikaturen. Gehe dabei so vor: –
Beschreibe zunächst beide Karikaturen.
–
Analysiere die beiden Karikaturen hinsichtlich ihrer Aussagen. Denke hierbei an dein bisheriges Wissen zum Ausbruch des 1. Weltkriegs und zu den Interessen und Zielen der Sieger des Krieges in den Verhandlungen in Versailles.
wie auch der Beginn des Schreibprozesses der Quelleninterpretation gehören. Weiterhin sollen wichtige Bestimmungen des Vertragstexts erarbeitet und diese vergleichend mit den Karikaturen aus Teilaufgabe II diskutiert werden. Teilaufgabe III: Der Versailler Vertrag 1. Lies dir die Quelle Q3 einmal durch. Markiere in verschiedenen Farben Textstellen oder Wörter, die du a) besonders wichtig findest, b) zu denen du Fragen hast und c) die du noch nicht verstehst. Besprich Fragen und Unverstandenes mit deiner Sitznachbarin oder deinem Sitznachbarn. Falls notwendig: Benutze ein Wörterbuch. 2. Lies dir den Vertrag nun ein weiteres Mal durch. Verwende die Tabelle M3, um dir neben jedem Artikel die Kernaussage zu notieren. Kläre ggf. mit deiner Sitznachbarin oder deinem Sitznachbarn unklare Stellen und Begriffe. 3. Fülle die Basisinformationen zur Quelle (M4) aus. 4. Du hast nun schon einige Informationen zum Versailler Vertrag und einen inhaltlichen Überblick über wichtige Artikel des Vertrags bekommen. a) Schreibe mit diesem Wissen die Einleitung einer Quelleninterpretation zum Versailler Vertrag. Nimm dafür das Methodenblatt Eine Quelleninterpretation schreiben zu Hilfe. b) Schreibe im Anschluss auch eine kurze inhaltliche Wiedergabe der Quelleninterpretation. Auch hierbei hilft dir das Methodenblatt Eine Quelleninterpretation schreiben.
5. Erarbeite die Beschlüsse aus den Artikeln des Versailler Vertrags (Q3) und die Folgen aus der Karte mit Gebietsabtretungen (M5). Trage deine Ergebnisse in das Arbeitsblatt M6 ein. 6. Vergleiche zusammen mit einer Sitznachbarin oder einem Sitznachbarn die Aussagen der beiden Karikaturen aus Teilaufgabe II mit den Beschlüssen aus dem Versailler Vertrag. Diskutiert, ob die Beschlüsse des Vertrags förderlich für den Frieden sind. Beachtet dabei sowohl deutsche als auch französische Perspektiven. Haltet eure Ergebnisse schriftlich auf dem Arbeitsblatt M7 fest und begründet dort, warum die einzelnen Bestimmungen förderlich oder nicht förderlich für den Frieden sind.
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Die sprachbildenden Scaffolds in dieser Teilaufgabe sind deutlich umfangreicher und tiefgreifender als in den Teilaufgaben zuvor. Sie werden im Folgenden einzeln beschrieben:
a)
Scaffolds zum Leseprozess
Geschichte ist ein leseintensives Fach. Auch in dieser Lernaufgabe müssen die Schüler*innen zur Bearbeitung viel lesen, weshalb hierauf ein sprachbildender Schwerpunkt gelegt wurde. Zunächst ist zu bemerken, dass die Aufgabe bereits ein mehrmaliges Lesen des Vertragstextes vorgibt. Neben den oben genannten pre-reading activities wird den Schüler*innen hier für den Leseprozess im Sinne von while-reading activities erstens eine Reformulierung der Aufgabenstellung nahegelegt, um sich die Leseziele für die Arbeitsaufträge 1 und 2 zu vergegenwärtigen. Ein derartiges Scaffold ist sicherlich für viele Schüler*innen nicht notwendig, für Schüler*innen mit geringer Lesekompetenz kann dies jedoch eine große Hilfe sein. Zweitens wird den Schüler*innen jeweils eine Lesestrategie vorgegeben (Textstellen markieren, Kernaussagen notieren) und drittens im Sinne von post-reading activities eine Anschlusskommunikation angeleitet sowie die für die weitere Bearbeitung der Lernaufgabe notwendigen Textinformationen in vorbereiteten strukturierenden Arbeitsmaterialien festgehalten. Weiterhin stehen den Schüler*innen für den Leseprozess Lesestile zur Auswahl (orientierendes Lesen, suchendes Lesen, kursorisches Lesen, detailliertes Lesen), die sie anhand einer Reflexion über ihr Leseziel auswählen bzw. sich vergegenwärtigen können.43
43 Die Lesestile sind fachunspezifisch. Zu Recht bemängelt Handro (Anm. 14), S. 8, bislang weitgehend fachunspezifische Konzepte u. a. in Bezug auf die Leseförderung. Ebenfalls diesen Mangel konstatierend, stellt Matthias Hirsch: Geschichte (er-)lesen. Überlegungen zu domänenspezifischen Lesemodi und -prozessen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 136–153, aufbauend auf dem FUER-Kompetenzmodell interessante Überlegungen zur Ausarbeitung eines geschichtsspezifischen Lesemodells an. Leser*innen können demnach in einen Modus historischen Lesens versetzt werden, indem sie entweder einen Text als historisch-narrativ wahrnehmen oder indem dem Leseanlass eine historische Fragestellung zugrunde liegt, zu deren Beantwortung der Text zumindest in Teilen hilfreich sein kann. Insgesamt identifiziert er dabei 14 Operationen historischen Lesens, die in Single-Text- und Multi-›Text‹-Operationen unterschieden werden.
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b)
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Scaffolds zum Schreibprozess
Das Schreiben der Quelleninterpretation wird in der Lernaufgabe über die Teilaufgaben III und IV verteilt. Da die Schüler*innen sich bis zu diesem Zeitpunkt die wesentlichen formalen Merkmale der Quelle bereits erarbeitet haben, können sie nun mit dem Schreiben der Einleitung beginnen. Ziel dieses Vorgehens ist es, die Schüler*innen auf den jeweiligen Textabschnitt zu fokussieren. Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass es schreibdidaktisch sinnvoll wäre, die Einleitung als Letztes zu schreiben. Da es für das Schreiben einer Quelleninterpretation jedoch notwendig ist, zunächst die formalen Charakteristika zu klären, wurde der Einleitung an dieser Stelle der Vorzug gegeben. Weiterhin steht den Schüler*innen als auch aufgabenübergreifend zu verwendendes Scaffold ein Methodenblatt44 zur Verfügung, in dem die Struktur sowie die in den einzelnen Textabschnitten unterzubringenden Informationen angegeben sind. Außerdem enthält das Methodenblatt für die jeweils relevanten Punkte Redemittel bereit. Die Quelleninterpretation wird also sowohl inhaltlich in den einzelnen Teilaufgaben vorbereitet als auch sprachlich Schritt für Schritt im Schreibprozess begleitet, was das Prinzip Genre-Orientierung zeigt.
c)
Graphic organizer für komplexe kognitive Operationen
In den Arbeitsschritten 5 und 6 der Teilaufgabe III sollen die Schüler*innen sich zunächst die Beschlüsse des Versailler Vertrags und die Folgen aus einer weiteren Landkarte – durch Fragen unterstützt – erarbeiten, um diese anschließend mit den Aussagen der beiden Karikaturen aus Teilaufgabe II zu vergleichen. Hierauf aufbauend sollen sie diskutieren, ob die Beschlüsse förderlich für den Frieden sind. Die Operatoren »vergleichen« und »diskutieren« gehören zum Anforderungsbereich III, sind also komplexe kognitive Operationen. Um die Schüler*innen zu unterstützen, ihre Gedanken zu explizieren und festzuhalten, stehen ihnen hier zwei sogenannte graphic organizer zur Verfügung. Der erste gliedert die Bestimmungen des Vertrags in militärische, territoriale und wirtschaftliche Bestimmungen sowie die Kriegsschuldfrage, so dass die Ergebnisse jeweils zum passenden Aspekt eingetragen werden können. Der zweite bereitet die Urteilsbildung der Schüler*innen tabellarisch vor, indem die zuvor erarbeiteten Bestimmungen als förderlich bzw. nicht förderlich benannt werden sollen und ein kurzer Begründungstext einzutragen ist. Außerdem stehen den Schüler*innen Formulierungshilfen für eben diese Begründungen zur 44 Vgl. Matthias Sieberkrob: Methodenblatt: Eine Quelleninterpretation schreiben. In: Caspari (Anm. 27), Anhang zu Kap. 2.4.
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Matthias Sieberkrob
Verfügung. In der abschließenden Teilaufgabe IV werden die erarbeiteten Ergebnisse wieder aufgegriffen. Nun steht der Schreibprozess der Quelleninterpretation wieder im Fokus. Zunächst soll diese zu Ende geschrieben und anschließend überarbeitet werden. Teilaufgabe IV: Quelleninterpretation 1.
In Teilaufgabe III hast du bereits angefangen, die Quelleninterpretation zum Versailler Vertrag zu verfassen. Schreibe sie nun zu Ende und halte dich dabei an die Struktur des Methodenblatts Eine Quelleninterpretation schreiben. Verwende hierbei die Teilergebnisse aus den Aufgaben 5 und 6 der Teilaufgabe III. Achte vor allem darauf, am Ende der Quelleninterpretation ein Urteil aus heutiger Perspektive zu schreiben, mit dem du die Ausgangsfrage „Der Versailler Vertrag – ein Weg zum Frieden?" beantwortest.
2.
Findet euch anschließend in Dreiergruppen zusammen und überarbeitet eure Quelleninterpretation in einer Schreibkonferenz.
Das in der vorangegangenen Teilaufgabe begonnene Schreiben der Quelleninterpretation wird weitergeführt, wiederum mit Verweis auf das Methodenblatt. Außerdem enthält die Aufgabenstellung explizite Hinweise an die Schüler*innen. Sie sollen nun einerseits die gerade erarbeiteten Teilergebnisse wieder aufgreifen. Andererseits sollte ein Werturteil unbedingter Bestandteil der Quelleninterpretation sein. Die Überarbeitungsphase, hier realisiert mit der durchaus weit verbreiteten Methode der Schreibkonferenz, ist weiterhin fester Bestandteil der Aufgabe. Die Schüler*innen erhalten weitere Hinweise zur Durchführung der Schreibkonferenz, in der sie in einer ersten Austauschrunde auf die Struktur und den Inhalt der Quelleninterpretationen achten sollen, wofür sie sich wiederum am Methodenblatt orientieren können. Erst in der zweiten Runde geht es um Fragen der sprachlichen Korrektheit sowie den Ausdruck.
5.
Fazit
Die vorgestellten Prinzipien zur Erstellung sprachbildender Lernaufgaben wurden im vorliegenden Beitrag anhand einer beispielhaften Lernaufgabe expliziert. Deutlich wurde dabei die immense Bedeutung der Sprache für historisches Lernen. Gleichzeitig bieten die für den Geschichtsunterricht typischen Lernmaterialien zahlreiche Anknüpfungspunkte für sprachliches Lernen. Doch zeigt sich hierbei auch, dass Sprache eine unhintergehbare Bedingung historischen Denkens ist. Saskia Handro veranschaulicht dies anhand des »Prozessmodells
Sprachbildung bedeutet Emanzipation
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historischen Erzählens im Geschichtsunterricht«.45 Aus didaktischer Perspektive ist dabei zu beachten, dass (auch) sprachliches Lernen prozesshaft verläuft. Dem trägt der hier diskutierte Vorschlag des Einsatzes von Lernaufgaben Rechnung. Denn Lernaufgaben sind per se prozessorientiert und bieten somit die Möglichkeit, auch das sprachliche Lernen in Prozessen zu organisieren – etwa beim Übergang von der Alltags- zur Bildungssprache oder beim Lesen. Gleichwohl ist zu beachten, dass die vorgestellte sprachbildende Lernaufgabe in erster Linie als beispielhaftes Material für die universitäre Lehre entwickelt wurde. Auch wenn sie während der Entwicklung in einer Schule erprobt wurde, ist sie für die gegenwärtigen Bedingungen des Geschichtsunterrichts zu umfangreich gestaltet. Zielführend wäre es daher, wenn erstens die vorgestellten Prinzipien auf das etablierte – wenn auch nicht unhintergehbare – Prinzip der Doppelseite in den Schulbüchern übertragen und zweitens die Doppelseiten auf Lernaufgaben im oben skizzierten Sinne umgestellt würden. Hierauf aufbauender sprachbildender Geschichtsunterricht könnte dann zu einer Aneignung vergangener Wirklichkeiten führen, die auch dem emanzipativen Charakter der Sprachbildung gerecht wird.
45 Handro (Anm. 1), S. 101.
Sektion 4: Historische Kompetenzen sprachbasiert erfassen
Martin Nitsche / Jörg van Norden
Historische Kompetenzen sprachbasiert erfassen. Einführung in die Sektion
Auch über zehn Jahre nach Beginn der ›Kompetenzorientierung‹1 ist die plausible Erfassung historischer Kompetenzen von Lernenden herausfordernd. Zwar liegen inzwischen mit dem Hitch-Test2 und materialbasierten Aufgabenformaten3 sowohl geschlossene als auch offene Formate vor, die darauf zielen, Kompetenzen als Ausprägungen historischen Denkens zu erfassen. Allerdings werden beide Herangehensweisen kritisch beurteilt. Während bei quantitativen Verfahren problematisiert wird, dass sich die historischen Teilkompetenzen (z. B. Reund De-Konstruktionskompetenz) bisher nicht statistisch unterscheiden lassen,4 zielt die Kritik an qualitativen Methoden auf Probleme bei der Erfassung des Umgangs mit Zeitlichkeit mittels sprachlich verfasster Analysebegriffe.5 In der folgenden Buchsektion knüpfen wir vor allem an letztem Kritikpunkt an. Dazu werden drei Studien vorgestellt, bei denen mediengestützte Aufgaben genutzt wurden, um historische Kompetenzen von Lernenden auf unterschiedlichen Altersstufen zu evaluieren. Bei allen Projekten stellte die plausible Verbindung zwischen Sprache und Erhebung eine wesentliche Voraussetzung dar, um die fachlichen Leistungen von Lernenden inhaltlich plausibel sowie valide 1 Vgl. z. B. Bodo von Borries: Geschichte von Geschichtslernen und Geschichtsunterricht (1949– 2014). In: Martin Buchsteiner/Martin Nitsche (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Wiesbaden 2016, S. 9–42. 2 Vgl. Ulrich Trautwein u. a.: Kompetenzen historischen Denkens erfassen. Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts »Historical Thinking Competencies in History (HiTCH)«. Münster 2017. 3 Vgl. z. B. Jan Hodel u. a.: Schülernarrationen als Ausdruck historischer Kompetenz. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 4 (2013), H. 2, S. 121–145; Jörg van Norden: Was machst Du für Geschichten? Didaktik eines narrativen Konstruktivismus, Reihe Geschichtsdidaktik 13. Freiburg 2011; Martin Nitsche/Kristine Gollin/Monika Waldis: Zur Konstruktion von offenen Testaufgaben für die Erfassung narrativer Kompetenz–Kriterienentwicklung und Studienvergleiche. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 235– 249. 4 Vgl. z. B. Sebastian Bracke u. a.: Theorie des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2018. 5 Vgl. Michele Barricelli: Historisches Erzählen als Kern historischen Lernens. In: Buchsteiner/ Nitsche (Anm. 1), S. 45–68.
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Martin Nitsche / Jörg van Norden
untersuchen zu können. So mussten die interessierenden Kompetenzen bzw. die dazugehörigen Teilaspekte voneinander abgegrenzt versprachlicht werden. Für die Erhebungen waren weiterhin solche Aufgaben zu entwerfen, die mittels sprachlicher Aspekte (z. B. Operatoren) mit den zu erfassenden Kompetenzen oder den interessierenden Teilbereichen verbunden sind. Zudem war es notwendig, die Aufgaben sprachlich an die Erhebungsgruppe anzupassen, damit sie von den Lernenden verstanden werden konnten. Außerdem mussten die Auswertungsverfahren anhand von Begriffen mit den Kompetenzdefinitionen sprachlich verbunden sein, um inhaltlich valide Auswertungen zu ermöglichen. Schließlich bedurfte es einer theoretisch begründeten Vorstellung hinsichtlich der erwarteten Kompetenzausprägungen und eine sprachlich trennscharfe Beschreibung der darauf bezogenen Indikatoren.6 Die versammelten Beiträge bewegen sich mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den skizzierten Spannungsfeldern. Dabei wird bewusst vor allem eine geschichtsdidaktische Perspektive eingenommen, da es den beteiligten Autor*innen um historisches Lernen geht, obwohl natürlich ebenfalls andere, etwa linguistische Herangehensweisen denkbar wären.7 Im ersten Beitrag zeigt Jörg van Norden, dass geschichtsdidaktische Theoriebildung und Empirie auf einander angewiesen sind, wie narrative Kompetenz modelliert, Lernprogression beschrieben und Erhebungsinstrumente konzipiert werden können. Ziel seiner Studie mit deutschen Schüler*innen verschiedener Jahrgangsstufen und Schulformen, die er an dieser Stelle kurz zusammenfasst, sind Anregungen für einen Geschichtsunterricht, der narrative Kompetenz fördert. Kristina Karl und Christoph Kühberger stellen im zweiten Beitrag eine Untersuchung zum Umgang mit Perspektivität von österreichischen Studienanfänger*innen für das Lehramt »Geschichte und Sozialkunde / Politische Bildung« sowie »Physik« und »Chemie« vor. Dazu präsentieren sie Ergebnisse einer Analyse historischer Schreibprodukte der Proband*innen, welche mittels einer materialbasierten Aufgabenstellung anhand von Quellen und einer Darstellung 6 Vgl. z. B. Christoph Kühberger/Martin Nitsche: Historische Narrationen wagen – mit Schüler*innen Vergangenheit re-konstruieren. In: Oliver Auge/Martin Göllnitz (Hrsg.): Landesgeschichte an der Schule (Landesgeschichte, Bd. 2). Ostfildern 2018, S. 153–183; Martin Nitsche/Benjamin Bräuer/Jan Scheller: Historisches Argumentieren mittels Schreibaufgaben zum europäischen Kolonialismus in Amerika fördern. In: geschichte für heute 11 (2020) H 2, S. 21–48; Jörg van Norden: Geschichte ist Zeit. Historisches Denken zwischen Kairos und Chronos. Berlin 2014. 7 Vgl. z. B. Caroline Coffin: Historical Discourse. The Language of Time, Cause and Evaluation. London 2006; Olaf Hartung: Sprachhandeln und kognitive Prozesse von Schülerinnen und Schülern beim Schreiben über Geschichte. In: Katharina Grannemann/Christian Kuchler/Sven Oleschko (Hrsg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. Münster/New York 2018, S. 67–89.
Historische Kompetenzen sprachbasiert erfassen. Einführung in die Sektion
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erhoben wurden. Insbesondere wird dabei auf sprachliche Aspekte beim Umgang mit Perspektivität eingegangen. Im dritten Beitrag konturieren Martin Nitsche und Kristine Gollin zunächst das Verhältnis zwischen Zeit, Geschichte, Narration sowie narrativer Kompetenz und skizzieren, wie der Umgang mit historischer Zeit in bisherigen empirischen Studien analysiert wurde. Anschließend stellen sie eine Untersuchung vor, in der Deutschschweizer Gymnasiast*innen aufgefordert wurden, sich im Rahmen von Interviews und Texten mit einer mediengestützten Schreibaufgabe auseinanderzusetzen, welche zum historischen Argumentieren aufforderte. Anhand ihrer Studie verdeutlichen die Autor*innen, welche Aspekte des Umgangs mit historischer Zeit bisher gewinnbringend in den Blick gerieten und welche Kategorien weiterer Forschung bedürfen. Insgesamt illustrieren die vorliegenden Studien beispielhaft, welche qualitativen Vorgehensweisen in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik aktuell genutzt werden, um historische Kompetenz(en) von Lernenden sprach- und textbasiert zu erfassen. Durch die Kontrastierung der unterschiedlichen Herangehensweisen werden zudem Blindstellen der einzelnen Zugriffe für die Lesenden fassbarer. Es zeigt sich, dass erstens insbesondere die plausible Verallgemeinerung qualitativer ›Kompetenzmessung‹ herausfordernd ist und zukünftig mittels statistisch valider Quantifizierung ergänzt werden sollte. Zweitens wird deutlich, dass historische Kompetenzen ohne theoretische Fundierung und somit qualitativ-kategoriale Reflexion nicht plausibel und valide fassbar werden.8
8 Vgl. weiterführend z. B. Bruce A. VanSledright: Assessing Historical Thinking and Understanding: Innovative Designs for New Standards. New York 2014; Josh Radinsky/S. Goldman/J. Pellegrino: Historical thinking: In Search of Conceptual and Practical Guidance for the Design and Use of Assessments of Student Competence. In: Kadriye Ercikan/Peter Seixas (Hrsg.): New Directions in Assessing Historical Thinking. New York 2015, S. 132–141; Jörg van Norden: Geschichte ist Bewusstsein. Historie einer geschichtsdidaktischen Fundamentalkategorie. Frankfurt/M. 2018.
Jörg van Norden
Theorie, Empirie, Pragmatik – Versuch einer Zuordnung
Im geschichtsdidaktischen Diskurs besteht Konsens darüber, dass Theorie, methodenzentrierte Empirie und Pragmatik ›verschieden, aber ungetrennt‹ sind.1 Behaupten zu wollen, einer der drei Bereiche würde im Moment einen Anspruch auf Deutungshoheit erheben, wäre Spiegelfechterei. Wie sie sich aber aufeinander beziehen, ist einer Überlegung wert, denn gewisse eigengesetzliche Tendenzen sind nicht von der Hand zu weisen. Die Zweijahrestagung der KGD in Essen war deshalb ein willkommener Anlass, eine Zuordnung zu versuchen und diese an einem empirischen Beispiel zu verdeutlichen. Dabei spielt die Pragmatik eine zentrale Rolle. Einen entsprechenden Arbeitskreis gibt es übrigens in der KGD (noch) nicht.
1.
Positivistische Irrwege
Ende der 70er Jahre stritt man erbittert um die Frage, ob empirische Methoden bereits die Tragfähigkeit der Forschungsergebnisse garantieren würden oder ob dazu eine theoretische Basis notwendig sei. Damals ging es um Erkenntnis und Interesse, Letzteres verstanden als das interesse der Forscher*in, das heißt ihren Standort im weiten Feld gesellschaftlicher (Macht-)Strukturen und theoretischer Ansätze. Ihr solcherart verfasster Sehepunkt bestimme ihre Forschungsergebnisse, so die Kritische Theorie. Ihre Gegner*innen vertrauten auf die Möglichkeit reiner Erfahrung, die das eigene Selbst auslöscht, beziehungsweise die disziplinierende Kraft der Methode, die die Wahrnehmung von der Subjektivität der Forscher*in befreie. Eine solche Erfahrung ermögliche, die Welt so abzubilden,
1 Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 11–22.
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Jörg van Norden
wie sie ist.2 Der Positivismus geht nicht nur davon aus, dass es Wahrheit gibt, sondern dass sie auch objektiv erkennbar ist.3 Seine ungebrochene Attraktivität für die Geschichtswissenschaft und -didaktik ist möglicherweise mit seiner Anschlussfähigkeit an den Historismus in der Tradition der geisteswissenschaftliche Schule Droysens und Diltheys erklärbar. Historismus und Positivismus verbindet nämlich die Skepsis gegenüber der Theorie und die Liebe zur Methode.4 Aus der englischsprachigen Philosophie kommt die Idee des common sense hinzu, des gesunden Menschenverstands.5 Verstand meint im Wortsinn, den Standort des Anderen einnehmen zu können, dort zu stehen, weil man etwas mit ihm gemeinsam hat: das humanum. Die rationalistische Variante setzt nicht auf Verstand, sondern auf Vernunft als Bindeglied, das Zeit und Raum überbrückt. Dies ist zum Beispiel die Position Collingwoods.6 John Lukacs will dagegen Verstand und Vernunft, Verstehen und Erklären miteinander verbinden, ähnlich wie es auch Dilthey in seinem hermeneutischen Zirkel getan hatte.7 Droysen und Dilthey sind gewissermaßen die Väter der historischen Methode. Sie hat in der Zunft sowohl im deutschen als auch im anglo-amerikanischen Sprachraum bis heute kaum an Bedeutung verloren. Im deutschsprachigen Raum scheint das Verstehen in friedlicheren Zeiten zu dominieren, während das Erklären in Krisenzeiten in den Vordergrund tritt, dann nämlich, wenn sich vermeintlich selbstverständliche Konventionen als Missverständnis herausgestellt haben.8 So hatte zum Beispiel die deutsche Niederlage 1918 die althergebrachte chauvinistisch-nationalistische Geschichtsschreibung zumindest bei einigen Zeitgenossen, zum Beispiel Theodor Lessing, unglaubwürdig gemacht.9 Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Option des gemeinsamen humanum zu verblassen. Denn wie konnte es etwas geben, das die Opfer des Faschismus mit ihren Mördern verband? Das Geschehene war weder mit Hilfe des Verstands noch der Vernunft zu erklären.10 Rüsen bezeichnete dieses Vakuum als »Zerbrechende 2 Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 2. Aufl. 1971; Theodor W. Adorno: Einleitung. In: Theodor W. Adorno (Hrsg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (Sammlung Luchterhand, Bd. 72). Darmstadt/Neuwied 1972, S. 7–79. 3 Jörg van Norden: Geschichte ist Einstellungssache. In: zeitschrift für didaktik der gesellschaftswissenschaften (2012) H. 1, S. 54–75. 4 Jörg van Norden: Geschichte ist Bewusstsein. Historie einer geschichtsdidaktischen Fundamentalkategorie. Frankfurt/M. 2018, S. 117–128. 5 Manfred Buhr/Georg Klaus (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 2 Bde. Berlin 12. Aufl. 1976, S. 245. 6 Robin George Collingwood: The Idea of History. Oxford 7. Aufl. 1966, S. 287, 309. 7 John Lukacs: Historical Consciousness or the Remembered Past. New York 1968, S. XXI, 152, 229, 247. 8 van Norden (Anm. 4), S. 13, 113–116. 9 Jörg van Norden: Wir machen uns etwas aus der Geschichte. Theodor Lessing – Ein Konstruktivist der ersten Stunde? In: geschichte für heute (2014) H. 1, S. 46–64. 10 van Norden (Anm. 4), S. 78–80.
Theorie, Empirie, Pragmatik – Versuch einer Zuordnung
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Zeit«.11 Mit der Distanz, der deutsche Faschismus ist seit 75 Jahren Geschichte, schwindet vielleicht das Bedürfnis nach einer Kritik des Historismus und nach Theoriebildung, während das Vertrauen in die Möglichkeit reiner Erfahrung, methodischer Expertise und positivistischer Wahrheit wächst. Es zeigt sich beispielsweise in der »Teilnehmenden Beobachtung«, die manchmal anachronistisch mit dem Begriff »ethnographische Methode« in Verbindung gebracht wird. Die Ethnographie stützt sich nämlich mittlerweile auf einen kommunikativen Ansatz. Dabei werden Fragestellung und Weg der Forschung gemeinsam ausgehandelt, anstatt dass die Ethnolog*in wie im 19. und zum Teil noch 20s. Jahrhundert eine bestimmte Gruppe beobachtet und damit zum Objekt ihres Interesses macht. Standort und Ziel der Forscher*in spielen im Sinne der Kritischen Theorie eine wichtige Rolle.12 Der Ansatz Samuel Wineburgs, der die geschichtsdidaktische Empirie nicht nur im englischsprachigen Bereich maßgeblich beeinflusst, scheint den Weg der Teilnehmenden Beobachtung zu gehen, wenn er einerseits gestandene Historiker*innen und andererseits Studierende bei ihrer Arbeit mit Quellen begleitet und daraus ableitet, was Geschichtsbewusstsein sei. Die Expert*innen, so die Annahme, müssten über ein solches Bewusstsein verfügen, die Noviz*innen dagegen nicht, sodass der Vergleich beider Gruppen und ihrer Praktiken zu Kategorien führe, die ihrerseits zu Diagnosezwecken verwendet werden könnten.13 Es sei dahingestellt, dass sich Wineburg hier lediglich mit hermeneutischer Kompetenz beschäftigt, die narrative Kompetenz als dem, was Geschichte eigentlich ausmacht, aber weitgehend vernachlässigt. Außerdem soll hier nicht auf das Problem eingegangen werden, dass die beobachteten Historiker*innen, übrigens in der Tradition Collingwoods und Lukacs’, in ihrer Quellenarbeit über den hermeneutischen Zirkel Diltheys eigentlich nicht hinauskommen. Weder thematisieren sie ihn, noch reflektieren sie ihren eigenen Standort. Geschichtsbewusstsein verstanden als Geschichtsbewusstheit spielt weder bei ihnen noch bei Wineburg eine Rolle. Hier rächt sich, dass der Begriff »Geschichtsbewusstsein« als eine Art Container alle möglichen Aspekte historischen Denkens umfassen soll. Die amerikanische Forschung fokussiert sich auf das doing history in der Tradition des Pragmatismus, während im deutschen Kontext Theorie ein
11 Jörn Rüsen: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte. Köln 2001. 12 Hans Medick: Vom Interesse der Sozialhistoriker an der Ethnologie. Bemerkungen zu einigen Motiven der Begegnung von Geschichtswissenschaft und Sozialanthropologie. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte. Göttingen 1984, S. 49–56; Roger Sanjek: Ethnography. In: Alan Barnard/Jonathan Spencer (Hrsg.): Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology. London/New York 3. Aufl. 2002, S. 295–302. 13 Samuel S. Wineburg: Historical Thinking and Other Unnatural Acts. Charting the Future of Teaching the Past. Philadelphia 2001, S. 5–7, 12, 24.
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Jörg van Norden
zentralere Rolle spielt, so das zutreffende Urteil von Peter Seixas.14 Der Unterschied wurzelt in der Vergangenheit: Manche deutsche Historiker*innen, Günter Franz zum Beispiel, haben den Faschismus vor 1945 historiographisch legitimiert, sich dabei aber der historischen Methode nach allen Regeln der Kunst bedient. Nach der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten blieben einige von ihnen in Amt und Würden.15 Sie bei ihrer Arbeit zu beobachten, würde ihr interesse in verschiedenen Systemen und ihre Berufsbiographie vernachlässigen, ist also schwierig. Für die USA stellt sich das Problem nicht in dieser Schärfe, weil sie eine andere Geschichte haben als Deutschland, aber standortgebunden sind Historiker*innen auch dort. Die Alternative zu Wineburgs Ansatz ist, sich zunächst mit dem eigenen Forschungsinteresse und Ziel sowie den geschichtstheoretischen Grundlagen zu beschäftigen, um dann eine Forschungsmethode auszuwählen oder selbst zu entwickeln, die an die Theorie anschließt. Was heißt in diesem Zusammenhang Theorie?
2.
Der erkenntnistheoretische Königsweg
Das altgriechische θεωρία lässt sich als »Anschauen« übersetzen. Es umfasst nicht nur den Standort im Sinne des interesse, sondern auch die Blickrichtung, also das Ziel, das ins Auge gefasst wird. Bevor es um Methodenfragen geht, sind diese beiden Aspekte offenzulegen. Der gesellschaftliche, politische und ökonomische Standort ist wahrscheinlich heute transparenter als in den 1970er Jahren, als sich die Kritische Theorie formierte, denn im Netz findet man in der Regel, was in dieser Hinsicht über eine Forscher*in zu wissen ist. Schwieriger gestaltet es sich in Bezug auf den wissenschaftlichen Standort. Er zeigt sich zwar in den jeweiligen Publikationen. Das Problem ist aber die Fachsprache, die Historiker*innen verwenden. Solange Schlüsselbegriffe nicht klar definiert sind, verschwimmt der wissenschaftliche Sehepunkt. Begriffsbildung ist eine Art theoretischer Standort- und Zielbestimmung.16 Bevor die Zielebene in den Blick genommen wird, sei betont, dass die Standortbestimmung lediglich transparent macht, wie etwas angeschaut wird, und sich nicht anmaßt zu sagen, wie es ist. Eine solche sich als Konstruktion reflektierende, wissenschaftlichen Standards genügende Theorie will Verstän14 Peter Seixas: A Model of Historical Thinking. In: Educational Philosophy and Theory 49 (2017) H. 6, S. 593–605; Anna Clark/Maria Grever: Historical Consciousness. Conceptualizations and Educational Applications. In: Lauren McArthur Harris/Stephan Metzger/Scott Alan Metzger (Hrsg.): The Wiley International Handbook of History Teaching and Learning. Hoboken 2018, S. 177–201, hier S. 179. 15 van Norden (Anm. 4), S. 9–33, 46–60. 16 Ebd.
Theorie, Empirie, Pragmatik – Versuch einer Zuordnung
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digung ermöglichen. Sie macht keine ontologischen Aussagen, denn die sind konstruktivistisch gesehen unmöglich, sondern diszipliniert Alltagstheorien.17 Wenn man davon ausgeht, dass Beobachtung immer vom eigenen Standort, vom interesse, abhängt, läuft Theorieferne auf Realitätsverlust hinaus, denn die Beobachtung bleibt in unbewussten Denkmustern gefangen. Diese Muster sind erkenntnisleitend, sodass als Realität missverstanden wird, was lediglich die Projektion dieser Muster ist. Der Konstruktivismus erhebt nicht den Anspruch, wahrheitsgetreuere Aussagen machen zu können als der Positivismus, wohl aber den eigenen Erkenntnisprozess offenzulegen. Damit verbindet sich der bewusste Verzicht auf Deutungshoheit, der das Gegenüber zu Kritik und Verhandlung einlädt.18
Abb. 1: Standort-Ziel-Sinn
Entscheidend für die Theoriebildung wie auch für die Wahl der Methode ist das Ziel, dass sich die Forscher*in setzt. Sie trifft mit dieser Setzung eine Entscheidung, die zwar gut begründet sein mag, aber von anderen nicht geteilt werden muss. Mit dem Ziel rücken bestimmte Begriffe ins Blickfeld, die es theoretisch zu klären gilt, andere dagegen nicht. Weil hier Wichtiges von Unwichtigem getrennt wird, handelt es sich um ein Werturteil, das von derjenigen zu verantworten ist, die im konkreten Fall urteilt. Das Material nimmt der Forscher*in diese Aufgabe nicht ab. Das Ziel bestimmt Sinn und Unsinn der Theorie, denn Sinn ist etwas Mittelbares, vom Ziel Abgeleitetes. Sinnvoll ist, was hilft, das Ziel zu erreichen.19 Was für die Theorie gilt, gilt auch für die Methode: Diejenige ist sinnvoll, die zum 17 van Norden (Anm. 3). 18 Jörg van Norden: »We Do Not Need Certainty«. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018), S. 9–26, hier S. 24. 19 Alexei Nikolajewitsch Leontjew: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit. Köln 1982.
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Ziel führt. Methode und Theorie haben keine Qualität an sich, sondern eine finale Qualität. Weil sie Konstrukte sind, bilden weder die Theorie noch die Methode oder die Daten Sinn, sondern die Forscher*in stiftet ihn, indem sie entscheidet, wohin sie will. Sie ist im besten Sinne des Wortes autonom, soweit es ihre soziale, politische und ökonomische Verortung zulässt: Damit trägt sie Verantwortung für den Prozess, das heißt, sie muss auf kritische Fragen antworten. Sie kann sich nicht darauf zurückziehen, dass sie die Wahrheit sagt beziehungsweise nur Fakten wiedergibt. Genauso wenig kann sie sich auf ihre Methode zurückziehen. Die Positivist*in, die von sich behaupten kann zu wissen, was Sache ist, hat es leichter. Die im Folgenden skizzierte Studie hat ein pragmatisches Ziel: Es geht darum, Geschichtsunterricht zu evaluieren und zu verbessern. Der Autor hat lange als Geschichtslehrer gearbeitet und stellt sich jetzt aus seiner universitären Perspektive die Frage, was eigentlich guten Geschichtsunterricht ausmacht, wie der status quo erhoben werden kann und welche Optionen sich anbieten, ihn zu optimieren. Aufgrund seines konstruktivistischen Standpunktes vermutet er, dass ein exploratorischer Unterrichtsstil Lernprogression besonders nachhaltig fördert, weil Schüler*innen dort eigene Geschichten erzählen können.20 Die Studie dient als Beispiel für ein Forschungsdesign besagter finaler Qualität und wird deshalb nur holzschnittartig vorgestellt. Sie ist an verschiedenen Stellen bereits ausführlich entfaltet worden. Auf die Möglichkeit, dort bei Interesse nachzulesen, sei ausdrücklich hingewiesen.21
3.
Lernprogression narrativer Kompetenz
Von der genannten Zielsetzung her ist vorrangig der Begriff »Geschichte« zu klären, nicht aber zum Beispiel »Geschichtsbewusstsein«. Wenn Geschichte, wie an anderer Stelle entwickelt, narrativ verfasst ist, hat Geschichtsunterricht die Aufgabe, narrative Kompetenz zu fördern.22 Kompetenz meint die Fähigkeit, mit Herausforderungen im Hier und Jetzt umgehen zu können, Narration die 20 Helmut E. Friedrich/Heinz Mandl: Analyse und Förderung selbstgesteuerten Lernens. In: Franz E. Weinert/Heinz Mandl (Hrsg.): Psychologie der Erwachsenenbildung (Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 1). Göttingen u. a. 1997, S. 237–293, hier S. 261–263; Sabine Liebig: Entdeckendes Lernen – wieder entdeckt. In: Michael Aepkers/Sabine Liebig (Hrsg.): Entdeckendes, forschendes und genetisches Lernen. Hohengehren 2002, S. 4–16, hier S. 9. 21 Jörg van Norden: Geschichte ist Zeit. Historisches Denken zwischen Kairos und Chronos – theoretisch, pragmatisch, empirisch. Berlin 2014; Jörg van Norden/Wanda Schürenberg (Hrsg.): Lernprogression narrativer Kompetenz im Geschichtsunterricht. Ein Vergleich von Waldorf- und Regelschule. Frankfurt/M. 2019. 22 Jörg van Norden: Geschichte ist Narration. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 4 (2013) H. 2, S. 20–35.
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sinnvolle Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit, die hilft, sich in aktuellen Krisen zu orientieren. Narration und Kompetenz sind kongeniale Begriffe. Sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen hat Bildungswert, denn es zielt auf den Alltag jenseits von Schule ab. Es geht nicht darum, aus der Vergangenheit und den Geschichten, die über sie erzählt werden, zu lernen, sondern mit ihnen. Vor diesem Hintergrund sind die aktuell gültigen Lehrpläne der weiterführenden Schulen ein Problem, weil sie, was ihre inhaltliche Obligatorik angeht, dem ›Adam und Eva-Prinzip‹ folgen: Ein bestimmter Kanon traditioneller Gegenstände wird chronologisch geordnet. Die Sekundarstufe I beginnt in der Urgeschichte, als die Menschheit, so die implizite Annahme, noch in den ›Kinderschuhen‹ steckte wie auch die Schüler*innen der fünften oder sechsten Klasse.23 Außerdem wird in der Tradition der geisteswissenschaftlichen Schule stillschweigend vorausgesetzt, dass Menschen heute unabhängig von der zeitlichen Distanz verstehen können, was ihre Vorfahren gedacht haben, weil sie alle eines Geistes Kind sind. An dieser Art und Weise, Auswahlentscheidungen zu treffen, scheint sich mit kleineren Abstrichen seit hundert Jahren nichts geändert zu haben, obwohl ihre metaphysischen Prämissen kaum noch explizit geteilt werden.24 Aktuelle neue Herausforderungen fallen dem überzeitlichen humanum gegenüber nicht ins Gewicht. Zurück zur Begriffsbildung: Narration ist bereits als sinnstiftende, das heißt lösungsorientierte Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit definiert worden. Mit Lösung ist eine vorläufige Antwort auf aktuelle Fragen gemeint, die auf eine tragfähige Zukunft abzielt. Der Sinn der Narration ergibt sich aus diesem Ziel. In Anlehnung an Jörn Rüsen seien vier unterschiedliche Erzähltypen unterschieden, um narrative Kompetenz im Blick auf die Empirie konkreter zu fassen, in anderen Worten zu operationalisieren. Das traditionale und exemplarische Erzählen, die Rüsen noch unterschied, werden hier zusammengefasst, denn sie setzen Vergangenheit und Gegenwart gleich. Krisenbewältigung greift dann auf altbewährte Lösungen zurück. Das kritische Erzählen zeichnet die Vergangenheit dagegen nicht als Vorbild, sondern als Alptraum: Heute ist das genaue Gegenteil angebracht. Das genetische Erzählen versucht einen Mittelweg, indem es damalige und heutige Vorstellungen davon, was gut und richtig ist, verbindet. Diese Synthese steckt den Handlungsraum der Gegenwart ab. Das entrückte Erzählen schließlich verzichtet auf die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart. Dieser Erzähltyp steht nicht in der Tradition Rüsens. Er würde ihm wahrscheinlich den narrativen Charakter absprechen. Das entrückte 23 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für das Gymnasium Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen. Geschichte. Frechen 2007. 24 Kurt Fina: Geschichtsdidaktik und Auswahlproblematik. Vom Sinn des Exemplarischen im Geschichtsunterricht. München 1969; van Norden (Anm. 4), S. 6, 70, 88, 112, 166, 168, 210.
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Jörg van Norden
Erzählen dient nicht der Orientierung, wie es bei den drei anderen Erzähltypen der Fall ist. Es resultiert aus der Faszination für die Vergangenheit und ermöglicht ›kleine Fluchten‹ aus der Gegenwart, die unterschiedlich motiviert sein können. Entrücktes Erzählen liegt aber auch dort vor, wo in Schule im Fach Geschichte Inhalte unterrichtet werden beziehungsweise entsprechendes Wissen vermittelt wird, ohne einen Gegenwartsbezug herzustellen. Die genannten vier Typen werden sachverhaltslogisch drei Niveaus zugeordnet: das nonrelationale entspricht dem entrückten Erzählen (A1). »Nonrelational« meint, dass keine Relation zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt wird. Das relationale Niveau umfasst das traditionale (A2.1) und das kritische Erzählen (A2.2), weil in beiden Fällen eine einfache, weil einschließende oder ausschließende Relation gestiftet wird. Das genetische Erzählen verbindet Tradition und Kritik, deshalb bewegt es sich auf einem multirelationalen Niveau (A3). Die Unterscheidung in drei Niveaus nimmt zweifellos eine Graduierung vor. Um auf die Kritik zu reagieren, die in Essen auf den entsprechenden Vortrag des Autors hin geäußert wurde: Entrücktes Erzählen kann nicht Ziel historisch-politischer Bildung sein, aber der traditionale und kritische Typ soll hier nicht gegenüber dem genetischen herabgesetzt werden. Der faschistische Massenmord kann meines Erachtens nur kritisch erzählt werden. Die Wahl des Erzähltyps hängt vom Gegenstand und vor allem dem Ziel ab, das die Erzähler*in verfolgt. Das Ziel macht, wie oben bereits ausgeführt, den Sinn. Eine Neofaschist*in kann möglicherweise genetisch erzählen, ob man ihre Ziele teilt, ist eine Frage des Werturteils, nicht der Sachverhaltslogik. Die Unterscheidung in drei Niveaus ist im Rahmen des Forschungsdesigns notwendig, wie im Folgenden noch gezeigt wird.
Entscheidungszeit A-Reihe Chronologie B-Reihe Argument K-Reihe Wissen W-Reihe
Nichtrelationales
Relationales
Multirelationales
Niveau entrückt A1 zeitlos B1 unbegründet K1 beschreibend W1
Niveau traditional und kritisch A2 vor - und nachher
Niveau genetisch A3 lang/kurz, schnell/langsam B3 ambivalent K3 bewertend W3
B2
begründet K2 kontextualisierend W2
Abb. 2: Kategorienstrukturmodell narrative Kompetenz
Die gerade skizzierte Verknüpfung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ist der zentrale Aspekt narrativer Kompetenz. Diese Verknüpfung bezeichne ich als »Entscheidungszeit«, weil es um Antworten auf drängende Fragen geht, die narrativ gesucht werden. Die Entscheidungszeit entspricht dem, was der Philosoph McTaggart die A-Reihe der Zeit genannt hat. Sie bildet die erste von vier Kategorien meines Strukturmodells. Die zweite Kategorie ist die »chronologische
Theorie, Empirie, Pragmatik – Versuch einer Zuordnung
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Zeit«, die McTaggart »B-Reihe« nennt.25 Sie ist für Narration wichtig, weil sie ordnet und die Geschichte nachvollziehbar macht, wenn sich Erzähler*in und Zuhörer*in in der gleichen Zeitrechnung bewegen. Die B-Reihe ist genauso eine Konstruktion von Wirklichkeit wie die A-Reihe. Auch die B-Reihe wird in dem vorliegenden Forschungsdesign sachverhaltslogisch gestuft. Auf dem nonrelationalen Niveau (B1) ist im Gegensatz zum relationalen (B2) keine zeitliche Reihenfolge zu erkennen. Wird deutlich, ob etwas lang oder kurz gedauert oder sich schnell oder langsam entwickelt hat, handelt es sich um das multirelationale Niveau (B3). Neben der Entscheidungszeit und der Chronologie als den eigentlichen propria historischen Denkens sind zwei weitere Kategorien für Narration notwendig: die Argumentation oder Komposition (K-Reihe) und das Wissen (WReihe). Die K-Reihe lehnt sich an das Bielefelder Geschichtenmodell an, das in der Germanistik entwickelt worden ist.26 Auf ihrem nonrelationalen Niveau werden Aussagen getroffen, aber nicht begründet (K1). Dies geschieht auf dem relationalen Niveau (K2), während auf dem multirelationalen Niveau Ambivalenzen hergestellt werden, denn es werden zwei oder mehr Seiten eines Sachverhalts deutlich (K3). Ich schlage vor, von der K-Reihe eine Brücke zum historical reasoning zu schlagen.27 Wissen ist wie die Argumentation nichts unbedingt Geschichtenspezifisches und wird nach Berger und Luckmann als gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit verstanden.28 Um die Kategorie Wissen zu erklären, ist ein Blick auf das Testinstrument notwendig. Es handelt sich um ein Arbeitsblatt mit fünf bis sechs Bildern, die zeitdifferente Ereignisse beziehungsweise Situationen zeigt. Zum Gegenstand »Römer und Germanen« waren es zum Beispiel 1) das Foto eines Rössenerhauses, 2) eine Querschnittzeichnung einer römischen Villa mit Bezeichung einiger Bauelementen und Einrichtungsgegenstände, die auf Lehnwörter hinweisen, 3) eine Rekonstruktionszeichnung der Stadt Xanten aus der Vogelperspektive, 4) einer Zeichnung von einem geöffneten Tor im Limes mit einem Pferdewagen und mehreren Personen sowie einen Wachturm im Querschnitt, 5) eine Radierung des Hermannsdenkmals und 6) ein Foto des Kolosseums heute. Die Proband*innen wurden gebeten, zu ihrer Bilderreihe einen zusammenhängenden Text zu verfassen. Beschränkt sich der Text auf die Beschreibung der Bilder, bewegt er sich sachverhaltslogisch auf dem nonrelationalen, reproduzierenden Niveau der W-Reihe (W1), werden die Bilder 25 John McTaggart/Ellis McTaggart: Die Irrealität der Zeit. In: Walther Ch. Zimmerli/Mike Sandbothe (Hrsg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Darmstadt 1993, S. 67–86. 26 Dietrich Boueke u. a.: Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Kompetenz. München 1995. 27 Carla von Boxtel/Jannet van Drie: Historical Reasoning. Conceptualizations and Educational Applications. In: McArthur Harris/Metzger/Metzger (Anm. 14), S. 149–176. 28 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M. 1969.
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reorganisiert beziehungsweise kontextualisiert, auf dem relationalen (W2). Sobald die Proband*innen ein Werturteil fällen, handelt es sich um das multirelationale Niveau (W3). Diese Graduierung korreliert cum grano salis mit Jeismanns Unterscheidung in Analyse, Sach- und Werturteil.29 Die Bilderreihe bedient die A- und die B-Reihe insofern, als die Zeitdifferenz der Bilder eine chronologische Reihung erlaubt und eines von ihnen die Gegenwart repräsentiert.
4.
Durchführung der Studie
Auf das Testinstrument, die Bilderreihe, ist bereits hingewiesen worden. Die Bilder sind in der Studie jeweils an den Gegenstand angepasst worden, der in den beteiligten Klassen dem schulinternen Curriculum entsprechend jeweils gerade unterrichtet worden ist. Der Arbeitsauftrag zu der Bilderreihe lautete: »Schreibe einen zusammenhängenden Text zu den Bildern«. Er ist bewusst offen formuliert, kommt es doch im Sinne der Kompetenzorientierung darauf an, dass die Schüler*innen von sich aus tun, was sie wollen und können. An der Studie waren insgesamt 21 Klassen beteiligt. Die Erhebung erfolgte im regulären Geschichtsunterricht, so wie ihn der Stundenplan und das schuleigene Curriculum vorsahen. Weil der Gegenstand einer der Faktoren sein kann, die Einfluss auf die Narration haben, wurde, wie aus Abbildung 4 ersichtlich, mit Vergleichsgruppen gearbeitet, soweit es möglich war. Jeder Klasse wurde die Bilderreihe dreimal (t1-t3) vorgelegt, vor der Unterrichtsreihe, die etwa sechs Doppelstunden umfasste, danach und etwa sechs Wochen später, um herauszufinden, ob eventuelle Lernfortschritte nachhaltig waren. Bei den Klassen handelte sich um unterschiedliche Jahrgangsstufen der Waldorf- und der Regelschule. Die neun Waldorfklassen wurden epochal unterrichtet, fünf der Regelschulklassen expositorisch und sieben exploratorisch. Neben dem Gegenstand und dem Alter wurden auch diese drei Formen, Unterricht zu gestalten, auf ihre lernfördernde Wirkung hin untersucht, wiederum soweit möglich mit Vergleichsgruppen. Die Unterrichtsreihen wurden von den jeweiligen Geschichtslehrer*innen, von Studierenden unter meiner Leitung und von mir selbst unterrichtet, wobei jede*r der Lehrpersonen selbst entschied, ob expositorisch oder exploratorisch. Die Waldorflehrer*innen unterrichteten epochal, wie es ihr Schultyp verlangt.30 29 David R. Krathwohl: Revising Bloom’s Taxonomy. In: Theory Into Practice 41 (2002) H. 4, S. 212–218; van Norden (Anm. 4), S. 188, 193. 30 Michael Zech: Ideen und Praxis des Geschichtsunterrichts an den Waldorfschulen. In: van Norden/Schürenberg (Anm. 21), S. 27–46.
287
Theorie, Empirie, Pragmatik – Versuch einer Zuordnung Rangnr.
Klasse
Unterrichtsstil
Gegenstand
Lerngruppe
21.
2014b_7b
Expositorisch
Französische Revolution
LG 21
20.
2016v_8b
Epochal
Industrialisierung
LG 20
19.
2014b_7a
Exploratorisch
Französische Revolution
LG 19
18.
2011c_6c
Exploratorisch
Rom
LG 18
17.
2016n_8a
Epochal
Industrialisierung
LG 17
16.
2016s_9a
Epochal
Französische Revolution
LG 16
15.
2010b_7b
Exploratorisch
Stadt im Mittelalter
LG 15
14.
2014b_7c
Exploratorisch
Französische Revolution
LG 14
13.
2016t_11a
Epochal
Christen und Muslime
LG 13
12.
2013d_6d
Expositorisch
Rom
LG 12
11.
2016u_11b
Epochal
Christen und Muslime
LG 11
10.
2015a_7b
Exploratorisch
Stadt im Mittelalter
LG 10
9.
2016o_11
Epochal
Christen und Muslime
LG 09
8.
2016q_9b
Epochal
Französische Revolution
LG 08
7.
2012a_7b
Exploratorisch
Stadt im Mittelalter
LG 07
6.
2015a_7a
Expositorisch
Stadt im Mittelalter
LG 06
5.
2015b_6d
Expositorisch
Rom
LG 05
4.
2014b_7d
Expositorisch
Französische Revolution
LG 04
3.
2016r_11
Epochal
Christen und Muslime
LG 03
2.
2016p_11
Epochal
Christen und Muslime
LG 02
1.
2012c_6a
Exploratorisch
Rom
LG 01
Abb. 3: Nach der auf die A-Reihe bezogenen Lernprogression gewichtete Reihenfolge der beteiligten Lerngruppen.31
Die Forschungsfragen lauteten: 1. Ist ein mittelfristiger (t1-t2) und ein langfristiger (t1-t3) Lernfortschritt festzustellen? 2. Unterscheidet sich der Lernfortschritt von Kategorie zu Kategorie (A, B, K, W)? Lässt sich eine Rangfolge der Kategorien feststellen?
31 Ebd., S. 48f.
288
Jörg van Norden
3. Hängt der Lernfortschritt in besonderem Maße vom Lerngegenstand, dem Unterrichtsstil oder dem Alter ab? 4. Stellt sich die Lernprogression der Schülerinnen anders dar als die der Schüler? 5. Wie entwickelt sich die Lernprogression der in t1 niedrig kodierten im Vergleich zu den hoch kodierten Schüler*innen? Die vierte Frage bringt große theoretische Schwierigkeiten mit, weil sie binär gendert und damit überholte Zuordnungen fortschreibt. Andererseits greift sie etwas auf, das immer noch zur Schulwirklichkeit gehört. Die Studie ergab, dass die Frage zu verneinen ist.32
Abb. 4: Ein Essay mit Codierung
An der Studie waren gut 400 Schüler*innen beteiligt. Jeder der etwa 1.200 Texte, den sie geschrieben haben, erhielt je eine Kodierung für die vier oben skizzierten Kategorien. Wurden in einem Text zum Beispiel mehrfach Gegenwartsbezüge hergestellt, wurde lediglich die Aussage mit dem sachverhaltslogisch höchsten Niveau kodiert. Dazu sind die Niveaus jeweils durchnummeriert worden, zum Beispiel von A1 über A2.1 und A2.2 bis zu A3.33 Eine umfangreichere Kodierung wäre arbeitstechnisch nicht machbar gewesen. Methodisch folgte die Auswertung der qualitativen Inhaltsanalyse Mayrings in ihrer deduktiven Variante, das heißt, die Kategorien sind, wie gerade dargestellt, im Vorfeld der Erhebung theoretisch 32 Ebd., S. 363–367. 33 Kodierleitfaden, vgl. https://www.uni-bielefeld.de/geschichte/regionalgeschichte/empirische _forschung/?sortierung=lernprogression#lernprogression (aufgerufen am 20. 02. 2020).
Theorie, Empirie, Pragmatik – Versuch einer Zuordnung
289
entwickelt worden. Dies ist, teilt man die oben skizzierte Kritik am Positivismus, folgerichtig.
4.
Ergebnisse
Abb. 5: Ergebnisse Wissen (W1–3)34
Es zeigte sich, dass eine Lernprogression erfolgt, aber unterschiedlich ausgefallen ist. Zunächst zum Wissen: W1 entwickelt sich sowohl in der Waldorf- als auch in der Regelschule positiv. Die fallenden Werte kommen in der Regelschule eher dem relationalen (W2), in der Waldorfschule eher dem multirelationalen Niveau zu Gute (W3). Allerdings ist das Werturteil (W3) in beiden Schultypen eher schwach ausgeprägt, sodass zu überlegen ist, wie hier gegengesteuert werden kann. Immerhin soll das Werturteil im Geschichtsunterricht eine zentrale Rolle spielen.35 Dass die Waldorfschüler*innen, was die Kontextualisierung (W2) angeht, weniger erfolgreich sind, liegt möglicherweise an ihrem relativ hohen Ausgangsniveau: Nur 20 % von ihnen starten in t1 auf dem nonrelationalen Niveau, während es in der Regelschule etwa doppelt so viele sind. In t3 halbieren sich die Zahlen, sodass, vom Werturteil abgesehen, der Wissenserwerb beziehungsweise die Kontextualisierung der Bilder des Testinstruments in beiden Schultypen kein Problem gewesen ist. Die Klage, in Schule werde heutzutage nichts mehr gelernt, die sich vor allem auf angeblich fehlendes Daten- und Faktenwissen bezieht, ist daher übertrieben. Ob das erworbene Wissen allerdings über den in der vorliegenden Erhebung abgedeckten Zeitraum hinaus behalten wird, bleibt fraglich. Schon von t2 zu t3 nimmt es tendenziell ab. Um diesbe34 van Norden/Schürenberg (Anm. 21), S. 259. 35 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Anm. 23); Geschichte/Sozialwissenschaft-Übersicht über die Operatoren 2019, https://www.standard sicherung.schulministerium.nrw.de/cms/zentralabitur-wbk/faecher/getfile.php?file=2289 (aufgerufen am 20. 2. 2020).
290
Jörg van Norden
züglich belastbare Aussagen machen zu können, sind Langzeitstudien notwendig, die es bisher nicht gibt. Die vorliegende Untersuchung gehört bisher zu den wenigen, die überhaupt Lernprogression in den Blick genommen haben. Wissen in dem oben anhand des Testinstruments skizzierten Sinne ist nichts genuin Historisches. Im gesamten geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld sind Werturteile (W3) wichtig und es werden Texte verglichen. Nichts anderes ist die Kon-Textualisierung, also das relationale Niveau besagter Kategorie (W2). Dass die Proband*innen bei Wissen positiv und besser abgeschnitten haben als bei Gegenwartsbezug, Chronologie und Argumentation, ist erfreulich, für den Geschichtsunterricht aber eher zweitrangig.
Abb. 6: Ergebnisse Argumentation (K1–3)36
Ihre Performanz in der Kategorie Argumentation beziehungsweise Komposition steht der im Wissen kaum nach. Die Regel- und die Waldorfschule starten auf hohem Niveau, insofern als sich in t1 nur etwa 40 % auf dem basalen Niveau bewegen. Beide Schultypen entwickeln sich in etwa gleich. Das nonrelationale Niveau reduziert sich in t2 auf rund 25 %, um in t3 geringfügig anzusteigen. Diese Entwicklung kommt in etwa gleichmäßig den beiden anderen Niveaus zugute. Die Waldorfschule ist auf dem multirelationalen Niveau geringfügig erfolgreicher.37 Für die Argumentation gilt, was schon für das Wissen gesagt worden ist: Die Lernprogression ist erfreulich, aber nicht fachspezifisch. Sie fällt stärker aus als bei Gegenwartsbezug und Chronologie.
36 van Norden/Schürenberg (Anm. 21), S. 234f. 37 Ebd.
Theorie, Empirie, Pragmatik – Versuch einer Zuordnung
291
Abb. 7: Ergebnisse Gegenwartsbezug (A1 entrücktes, A2.1 traditionales, A2.2 kritisches, A3 genetisches Erzählen)38
Wie sieht es mit dem Gegenwartsbezug aus, an dem sich, folgt man dem oben skizzierten theoretischen Modell, historisches Denken festmachen lässt? Sowohl in der Regel- als auch in der Waldorfschule starten die Proband*innen mit 65 % beziehungsweise 75 % auf dem basalen Niveau wesentlich schwächer, als das bei der Kategorie Wissen der Fall ist. Ich vermute, dass Schüler*innen dem Wissen einen hohen Stellenwert einräumen, weil es in Schule besonders geschätzt und mit guten Noten belohnt wird. Dieser Habitus schlägt möglicherweise auch in der vorliegenden Erhebung durch. Die Fixierung auf Wissen bricht sich besonders in t2 Bahn, bei einigen Proband*innen sogar auf Kosten des Gegenwartsbezugs, der in ihrem ersten Text noch stärker ausgeprägt war. Die Entwicklung der A-Reihe deutet immerhin an, dass Schüler*innen nicht damit überfordert sind, damals und heute zusammenzudenken. In t2 fallen wenn auch nur geringfügig die Werte von A1. Im Gegensatz zu Regel- bleibt dieser Lernfortschritt in der Waldorfschule bis in t3 stabil. Die Veränderungen sind indes gering und damit möglicherweise nicht signifikant. Neben dem Werturteil ist also der Gegenwartsbezug ein Desiderat geblieben. Dieses Bild hat sich inzwischen in verschiedenen kleineren Folgestudien bestätigt, die im Rahmen des Praxissemesters durchgeführt worden sind. In allen Fällen handelte es sich um regulären Geschichtsunterricht.39 Von daher lässt sich die Hypothese wagen, dass Gegenwartsbezug und Werturteil Schwachstellen sind.
38 Ebd., S. 169f. 39 https://www.uni-bielefeld.de/geschichte/regionalgeschichte/empirische_forschung/ (aufgerufen am 20. 02. 2020).
292
Jörg van Norden
Abb. 8: Ergebnisse Chronologie (B1–3)40
Die Werte für die Kategorie Chronologie liegen zwischen denen der A- und der KReihe. Regel- und Waldorfschule unterscheiden sich hier kaum. In t1 bewegt sich etwa die Hälfte der Proband*innen auf dem nonrelationalen Niveau, in t2 ist es nur noch ein Drittel. Dieser Lernfortschritt bestätigt sich in t3 nur sehr eingeschränkt. Die Verbesserung in t2 kommt vor allem dem relationalen Niveau zu Gute. Das multirelationale Niveau, das heißt die Thematisierung von Zeitspannen, ist zu allen Erhebungszeitpunkten schwach ausgeprägt.41 Nicht nur am Gegenwartsbezug, sondern auch an der Chronologie ist also zu arbeiten. Mit Hilfe einer Zeitleiste ist das relativ einfach und, wie die Studie gezeigt hat, auch erfolgsversprechend. In dem Teil der Stichprobe, in der mit diesem Medium gearbeitet worden ist, stellte sich die Lernprogression in der A- und B-Reihe wesentlich besser dar.42 Wichtig ist, dass die Zeitleiste die Gegenwart einschließt und sich nicht auf die Vergangenheit beschränkt, die in der jeweiligen Unterrichtsreihe thematisiert wird. Die Zeitleiste steht für eine umgekehrte Chronologie, die Vergangenheit standort- und gegenwartsgebunden in den Blick nimmt. Was die Faktoren der Lernprogression angeht, also die dritte Forschungsfrage, fällt das Ergebnis von Klasse zu Klasse unterschiedlich aus. Alles in allem war nicht festzustellen, dass ein bestimmter Unterrichtsstil – der epochale, expositorische oder exploratorische – besonders förderlich gewesen ist. Die diesbezügliche theoretisch aus dem Konstruktivismus heraus begründete Hypothese des Autors hat sich also nicht bestätigt. Die einzelnen Kategorien schneiden jedoch je nach Unterrichtsstil unterschiedlich ab. Was den Gegenwartsbezug und die Chronologie angeht, lag der exploratorische, gefolgt von dem epochalen Unterricht, vor dem expositorischen Unterricht. Diese Reihenfolge kehrt sich, was die Argumentation betrifft, um. Beim Wissen führt dagegen der expositorische Unterricht vor dem exploratorischen und dem Epochenunterricht. Der 40 van Norden/Schürenberg (Anm. 21), S. 214f. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 176f., 231f.
Theorie, Empirie, Pragmatik – Versuch einer Zuordnung
293
Unterrichtsgegenstand war für die Lernprogression relevant, es ergab sich allerdings ein heterogenes Bild. Betrachtet man die beiden fachspezifischen Kategorien narrativer Kompetenz, die Fähigkeit, Gegenwartsbezug und Chronologie herzustellen, sind sie durch die Unterrichtsreihen »Christen und Muslime« besonders gefördert worden. Es folgen in der genannten Reihenfolge »Stadt im Mittelalter«, »Rom«, »Französische Revolution« und »Industrielle Revolution«. Der Eindruck relativiert sich insofern, als die Gegenstände »Christen und Muslime« und »Industrialisierung« ausschließlich in der Waldorfschule unterrichtet wurden, »Rom« und »Stadt im Mittelalter« nur in der Regelschule. »Französische Revolution« war in beiden Schultypen Unterrichtsgegenstand. Die Lernprogression fiel dabei in der Waldorfschule wesentlich besser aus, allerdings handelte es sich hier um Schüler*innen der Jahrgangsstufe 9, in der Regelschule dagegen um siebte Klassen. »Christen und Muslime« stand, die Stichprobe betreffend, in der Oberstufe auf dem Lehrplan. Das jeweilige Abschneiden ist von daher sicherlich auch auf das Alter der Proband*innen zurückzuführen.43 Was die Lernprogression der in t1 besonders niedrig beziehungsweise hoch kodierten Schüler*innen angeht, konnten Erstere wesentlich besser gefördert werden.
5.
Fazit
Die Ergebnisse sind eingestandener Maßen bruchstückhaft. Auch wer die theoretischen und methodischen Entscheidungen der vorliegenden Studie teilt, und schon in diesen Punkten kann man anderer Meinung sein, wird vieles kritisieren können: Der soziale Hintergrund der Proband*innen, Gymnasiast*innen und Waldorfschüler*innen, sei nicht berücksichtigt worden; die Stichprobe sei zu heterogen, um Vergleiche zuzulassen; zu viele hier ausgeklammerte Faktoren gingen in historisches Lernen ein, als dass man aus dem Befund Konsequenzen für den Geschichtsunterricht ableiten könne; die Motivation der beteiligten Schüler*innen sei nicht erfragt und die Signifikanz der Daten nicht statistisch berechnet worden. Das sind ernstzunehmende Einwände und entsprechende Kritik ist im Kolleg*innenkreis in Essen und im Anschluss an die KGD-Tagung laut geworden. Der vorliegende Beitrag konnte nicht anders, als sich mit dieser Kritik auseinanderzusetzen, sodass er sich von dem dort gehaltenen Vortrag unterscheidet, den er doch dokumentieren will. Wer die gerade genannten Probleme der Studie erkennt, hat sie noch lange nicht gebannt, denn dies gelänge erst einer Forschung, die alle diese Lücken schließt sowie auf schulische Performanz ausgerichtet und narrationstheoretisch fundiert ist. Das ist meines Erachtens, ohne 43 Ebd., S. 48, 392.
294
Jörg van Norden
meinen empirisch forschenden Kolleg*innen nahe treten zu wollen, noch Zukunftsmusik. Vor diesem Hintergrund ist die vorgestellte Studie meines Erachtens ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn empirische Forschung auf die pragmatische Ebene abzielt, muss sie im Sinne Mayrings ökologisch valide sein, sich also in den real existierenden Geschichtsunterricht hineinbegeben, will sie das eingangs formulierte Ziel ernst nehmen.44 Das ist hier geschehen. Damit entfernt sich die Studie von dem Experiment als einer Rahmung, die vielleicht die Faktoren zu reduzieren vermag, die Lernen beeinflussen, aber so künstlich wird, dass die Ergebnisse nicht mehr auf die Schulpraxis übertragen werden und pragmatische Konsequenzen zeitigen können. Empirische Forschung bleibt übrigens auch dann, wenn sie sowohl theoretisch als auch methodisch allen Regeln der Kunst entspricht, ein Konstrukt. Sie stellt dennoch eine wichtige Perspektive dar, aus der theoretische und pragmatische Modelle, die auch nichts anderes als Konstrukte sind, bekräftigt oder hinterfragt werden können. Zurück zur Zielsetzung: Welche Hypothesen lassen sich in pragmatischer Hinsicht aus den Ergebnissen der Studie ableiten? Erstens spricht vieles dafür, sich weiterhin für eine Revision des Curriculums einzusetzen. Der Gegenwartsbezug und die Orientierungsfunktion von Geschichte, wenn man sie denn will, rufen nach Längsschnitten. Tagesaktuelle Probleme sind mit einem staatlichen Curriculum nur schwer zu verbinden, weil es langfristig angelegt ist, aber es sollten entsprechende Freiräume entstehen, indem auf Teile der inhaltlichen Obligatorik verzichtet wird. Als dauerhafter Bestandteil des Curriculums bieten sich die von Klafki vorgeschlagenen Schlüsselprobleme an. Sie können genutzt werden, aus der unendlichen Zahl historischer Gegenstände auszuwählen und entsprechende Unterrichtsreihen zu konzipieren. Der Gegenwartsbezug des Geschichtsunterrichts ruft zweitens nach Kooperation mit den anderen Fächern des gesellschaftswissenschaftlichen Lernfelds. Ein entsprechendes Integrationsfach wird den geschichtlichen Weltzugang dann nicht vernachlässigen, wenn sich um einen gemeinsamen fächerverbindenden Kern an inhaltlichem Wissen und argumentativer Kompetenz (W- und K-Reihe) sowie die Fähigkeit, kritisch mit Material umzugehen, fachspezifische Aspekte gruppieren. Für das Fach Geschichte sind das die Verknüpfung von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit (A-Reihe) einerseits und die Chronologie (B-Reihe) andererseits. Das Fach Politik, wenn ein laienhafter Vorschlag erlaubt sei, könnte die Kategorien »System« und »Partizipation«, das Fach Erdkunde »Topographie/ Klima« und »Geologie« beisteuern. Alle drei Fächer verbindet nicht nur der gemeinsame Kern, sondern vor allem die Aufgabe, die Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen der Gegenwart zu begleiten. Wer historisch bewan44 Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim 11. Aufl. 2010.
Theorie, Empirie, Pragmatik – Versuch einer Zuordnung
295
dert ist, weiß, dass eine solche Revision des Curriculums schwierig ist. Sie scheiterte in Form der Hessischen Rahmenrichtlinien Anfang der 1970er Jahre und jüngst zum Teil auch in Berlin-Brandenburg. Weil aber die Zeiten wechseln, der Satz Berthold Brechts könnte gut auch von einer ausgewiesenen Historiker*in stammen, dann auch die Lehrpläne. So lange Längsschnitte noch Mangelware sind und es curricular beim Alten bleibt, kann drittens der Geschichtsunterricht modifiziert werden, indem er den Gegenwartsbezug und das Werturteil akzentuiert. Oft ist es trotz des inhaltlichen Korsetts des Lehrplans möglich, einen Gegenwartsbezug herzustellen. Nationalsozialistische Symbole und Semantiken finden sich bei der Neuen Rechten und es liegt nahe, Vergleiche zu ziehen und zu fragen, ob die freiheitliche demokratische Grundordnung heute in ähnlicher Form gefährdet ist wie die Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre. Hier geht es um eine aktuelle Krise, die den Orientierung suchenden Blick auf die Vergangenheit lenkt. Bei anderen im Lehrplan festgelegten Gegenständen ist die Verknüpfung weniger evident. Die »Stadt im Mittelalter« lässt sich durch die Frage, was sich im Laufe der Zeit geändert hat, unschwer mit der Gegenwart verbinden und die entsprechende Narration greift direkt auf die Alltagswelt der Schüler*innen zu. Die aktuelle Herausforderung liegt hier aber nicht so auf der Hand wie in dem oben genannten Beispiel. Vielleicht ließe sich mit der schwindenden Lebensqualität in den Metropolen und dem Janusgesicht des Fortschritts argumentieren. Und die Antike? Ein gegenwartsgenetischer oder geschichtskultureller Ansatz lässt sich in der Regel auch hier realisieren, aber gilt das auch für die alltagsweltlichen Bezüge entsprechender Narrationen und ihre orientierende Funktion in Horizont aktueller Probleme? Viertens spricht die vorgestellte Studie dafür, sich um die Klagen, Schüler*innen kennten zu wenige Daten und Fakten, erst nachrangig zu kümmern. Wenn der Erwerb solchen Wissens nicht die vorrangige Baustelle des Geschichtsunterrichts ist, ermöglicht das vielleicht, sich deutlich für Gegenwartsbezug und Werturteil zu engagieren. Fünftens ist ein Augenmerk auf die leistungsfähigeren Schüler*innen zu richten beziehungsweise ihnen im Rahmen innerer Differenzierung Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Schlussfolgerung aus der Studie, deshalb mache ich sie hier zum Schlusswort, widersprach meinen alltagstheoretischen Vorannahmen, wie ich mich ja auch in Hinsicht auf exploratorische Lernsituationen habe verunsichern lassen müssen. An dieser Stelle zeigt sich der Wert empirischer Forschung. Sie wirkt als ein Korrektiv, obwohl sie selbst abhängig von den theoretischen Prämissen ist, von denen sie ausgeht, die ihrerseits standort- und zielgebunden sind.
Kristina Karl / Christoph Kühberger
Perspektivische Einseitigkeit – Zu Wahrnehmung und Versprachlichung in historischen Darstellungen von Studienanfänger/inne/n
1.
Theoretische Rahmung
Der vorliegende Beitrag nimmt die Wahrnehmung und Versprachlichung von Perspektivität in Darstellungen der Vergangenheit in den Fokus. Perspektivität wird dabei nicht nur als implizite Größe geschichtswissenschaftlicher Erkenntnistheorie oder historischen Denkens gesehen, die wie bereits umfassend dokumentiert oft hinter einer geglätteten Darstellung verschwindet und gleichsam in der Ästhetik des historischen Narrativs unterzugehen droht, sondern vor allem auch als sprachliche Manifestation fachspezifischen Denkens. Es gehört zur ›guten wissenschaftlichen Praxis‹ unseres Faches – sowohl des akademischen als auch des schulischen –, Perspektivität zu berücksichtigen. Fachdisziplinäre Diskurse, die meist auf Chladenius und sein Konstrukt des »Sehepuncts« (1742) verweisen, aber auch geschichtsdidaktische Aushandlungen fordern Pluri- bzw. Multiperspektivität ein. So versucht das Basiskonzept »Perspektive«, wie Kühberger es in seinem Wissensmodell zum historischen Denken systematisiert hat, die vielschichtigen Sichtweisen von Zeitgenoss/inn/en, von Menschen, die Darstellungen erstellten, aber auch heutiger Historiker/innen, uns selbst eingeschlossen, zu berücksichtigen, genauso wie stärker theoretisch profilierte Herausforderungen, wie etwa die Retroperspektivität.1 In der Geschichtsdidaktik gibt es dazu eine breite Diskussion, die sich nicht zuletzt in der entsprechenden Monographie Klaus Bergmanns und seinem Drei-Ebenen-Modell (Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität) pointiert gezeigt hat.2 Aber auch im Diskurs zur fachspezifischen Kompetenzorientierung ist das Konzept verankert,
1 Christoph Kühberger: Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012, S. 56. 2 Klaus Bergmann: Multiperspektivität: Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts. 2000.
298
Kristina Karl / Christoph Kühberger
was letztlich auf einen breiten Konsens innerhalb der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik hindeutet.3 Unter Perspektivität wird in der hier vorgestellten empirischen Untersuchung ein epistemisches Konzept verstanden, das die unvermeidbare Standortgebundenheit von Quellen, Darstellungen und ihrer jeweiligen Rezeption anerkennt, sie reflektiert und gegebenenfalls problematisiert.4 Daraus folgt für die Historikerin/den Historiker, die Wirkungsstrukturen von Perspektiven aufzuzeigen und zu verdeutlichen, welche Einschränkungen daraus für die Annäherung an eine vergangene »Wahrheit« erwachsen. Es gilt, von einer unreflektierten »Monoperspektivität« in Darstellungen, einer naiven Informationsentnahme aus den Quellen oder einem selbstverlorenen Präsentismus Abschied zu nehmen.5 Auktoriale und autoritative Textstrukturen müssten damit unmöglich werden. Es geht um die Aufrauhung eines allzu glatten Umgangs mit Darstellungen und Quellen sowie um den selbstkritischen, geschichtsbewussten Umgang mit den eigenen Geschichtsbildern.6
3 Werner Heil: Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht. Stuttgart 2012, S. 81; Christoph Kühberger: Kompetenzorientiertes historisches und politisches Lernen: methodische und didaktische Annäherungen für Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung. Innsbruck u. a. 2015, S. 24 u. 73; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA: Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2012, S. 33f.; Verband der Geschichtslehrer Deutschlands: Bildungsstandards Geschichte. Rahmenmodell Gymnasium 5.– 10. Schulstufe. Schwalbach/Ts. 2006, S. 11 u. 16; Waltraud Schreiber u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell (Basisbeitrag). In: Andreas Körber u. a. (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens: ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 17–53, hier S. 25 u. 32; Alexander Schöner: Kompetenzbereich historische Sachkompetenzen. In: Ebd., S. 265–313, hier S. 281f. 4 Winfried Schulze: Einführung in die Neuere Geschichte. Stuttgart 1991, S. 245f. 5 Klaus Bergmann: Multiperspektivität. In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2007, S. 65–77; Martin Lücke: Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Band 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 281–288, hier S. 281f.; Hans-Jürgen Pandel: Medien historischen Lernens. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber 5. Aufl. 1997, S. 416–421, hier S. 420; Wolfgang Buchberger: Perspektivität – ein epistemologisches Basiskonzept im Geschichtsunterricht. In: Historische Sozialkunde 46 (2016) H. 1, S. 19–28. 6 Vgl. Rolf Schörken, Das Aufbrechen narrativer Harmonie. In: GWU 48 (1997), S. 727–753, hier S. 732–737; Christoph Kühberger: Geschichte schreiben. Ansätze einer subjektorientierten Geschichtsdidaktik. In: Historische Sozialkunde 2 (2012), S. 31–40; Christoph Kühberger/ Martin Nitsche: Historische Narrationen wagen – Mit Schüler*innen Vergangenheit re-konstruieren. In: Oliver Auge/Martin Göllnitz (Hrsg.): Bedrohte Landesgeschichte an der Schule? Stand und Perspektiven. Ostfildern 2018, S. 153–183.
Perspektivische Einseitigkeit
2.
299
Untersuchungsdesign
Die Fragestellungen, denen in diesem Beitrag nachgegangen wird, zielen in erster Linie darauf ab, ob und inwieweit Salzburger Studierende des Lehramtes im ersten Semester perspektivische Herausforderungen im Umgang mit Quellen berücksichtigen und wie sich dies in weiterer Folge in einer selbst verfassten Darstellung sprachlich manifestiert. Konkret geht es darum, ob sie die Einseitigkeit, die in Quellen des Prompts angelegt ist, in ihren schriftsprachlichen Performanzen explizieren und welche sprachlichen Marker dabei erkennbar werden. Die Stichprobe besteht aus 99 Texten zu einem Themenbereich der österreichischen Nachkriegsgeschichte, die in den Wintersemestern 2016 und 2017 von Studienanfänger/inne/n der Lehramtsfächer »Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung« (n = 69), »Physik« (n = 10) und »Chemie« (n = 20) im Rahmen der jeweiligen Fachdidaktik-Einführungsveranstaltung verfasst wurden. Von den Proband/inn/en waren 47 Prozent weiblich und 53 Prozent männlich. Das durchschnittliche Alter lag zum Zeitpunkt der Erhebung bei 21,5 Jahren. 87 Prozent der Proband/inn/en sind deutscher Muttersprache und 43 Prozent haben in Geschichte maturiert7, was durchaus auf ein besonderes Interesse am Fach hindeutet. Das untersuchte Korpus bildet gleichzeitig auch den ersten Erhebungszeitpunkt einer Längsschnittstudie, die den Entwicklungsverlauf von Studierendenperformanzen verteilt auf drei Messzeitpunkte über die Dauer des Lehramtsstudiums hinweg systematisch untersuchen wird.8 Die Daten sind als Produkt kultureller Einbettung in die österreichische Bildungslandschaft zu verstehen. Geschichtsunterricht in Österreich konzentriert sich nach wie vor auf mündliche Kommunikation. Trotz entsprechender normativer Forderungen vernachlässigt er bisher die Anbahnung von historischer De- und Re-Konstruktionskompetenz sowohl in der Sekundarstufe I (seit 2008)9
7 In Deutschland würde man davon sprechen, das Abitur (österr. Matura) abzulegen. 8 Hierbei handelt es sich um das Dissertationsprojekt »Historisches Erzählen als Entwicklungsaufgabe zwischen fachlichen und fachdidaktischen Anforderungen bei Lehramtsstudierenden im Fach ›Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung‹« von Kristina Karl am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg. 9 Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich 2008/II. (12. 8. 2008). 290. Verordnung, Änderung der Verordnungen über die Lehrpläne der Volksschule, der Sonderschulen, der Hauptschulen und der allgemein bildenden höheren Schulen; inzwischen reformiert und noch detaillierter zu dieser Frage: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich 2016/II. (18. 5. 2016). 113. Verordnung, Änderung der Verordnung über die Lehrpläne der Hauptschulen, der Verordnung über die Lehrpläne der Neuen Mittelschulen sowie der Verordnung über die Lehrpläne der allgemein bildenden höheren Schulen.
300
Kristina Karl / Christoph Kühberger
als auch in der gymnasialen Oberstufe (seit der Maturareform 2011).10 Da außerdem in der gymnasialen Oberstufe keine schriftliche Matura für das Fach »Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung« vorgesehen ist,11 sondern ein mündliches Examen, beschäftigen sich die Oberstufenschüler/innen selten bis gar nicht mit eigenständigen Verschriftlichungen von Erkenntnissen aus Quellen und Darstellungen, was es bei der Interpretation der Daten zu berücksichtigen gilt. Die Länge der im Rahmen der Studie erhobenen Texte beläuft sich auf durchschnittlich 163 Wörter, wobei es anzumerken gilt, dass die Geschichtsstudierenden durchschnittlich 50 Wörter mehr schreiben als ihre Kommiliton/ inn/en aus den Naturwissenschaften. Das Essay mit dem kürzesten Text umfasst 17 Wörter, das längste 394 Wörter. Als inhaltliche Rahmung der Studie wurde »Das Verhältnis von US-Soldaten und Internierten (ehemaligen Soldaten und NS-Funktionären) im Lager Marcus W. Orr bei Salzburg« gewählt. Es handelt sich dabei um einen Gegenstand, der – ausgehend vom österreichischen Lehrplan – kontextuell sehr gut eingeordnet werden kann, an sich aber dennoch so spezifisch ist, dass kaum jemand etwas Konkretes über das Lager aus dem Vorwissen abrufen kann. Es ist bisher kaum erforscht worden, da nur begrenzt Quellen auffindbar sind. Diese Annahme bestätigte sich auch in den Essays. Lediglich eine der 99 Personen gab in ihrem Essay an, schon einmal etwas von diesem Lager gehört zu haben. Bei dem Erhebungsinstrument handelte es sich um eine teilweise strukturierte Schreibaufgabe, die im Paper-Pencil-Verfahren zu bearbeiten war. Die Proband/ inn/en schrieben jede/r für sich entlang einer vorgegebenen Aufgabenstellung12 und unter Einbeziehung von ihnen zur Verfügung gestelltem Material ein Essay zum Verhältnis von US-Soldaten und Internierten im Lager Marcus W. Orr (1945–47) bei Salzburg. Das zur Verfügung gestellte Material bestand aus einem kurzen Ausschnitt aus dem Fachtext eines Historikers,13 zwei schriftlichen Erinnerungen von Inter10 Philipp Mittnik (Red.): Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung. Richtlinien und Beispiele für Themenpool und Prüfungsaufgaben. Wien 2011. 11 Auch in den anderen Oberstufenschulformen Österreichs verhält es sich so. Geschichte ist im Rahmen der Matura in der Regel nur ein mündliches Wahlfach. 12 Der Arbeitsauftrag lautete wie folgt: »Nutzen Sie den Text des Historikers sowie Ihr Vorwissen und bringen Sie die angebotenen Quellen in einen historischen Zusammenhang. Argumentieren Sie auf dieser Grundlage kritisch und begründet, wie sich das Verhältnis zwischen den U.S.-amerikanischen Soldaten und den Internierten darstellte.« – Vgl. zur Wahl des Arbeitsauftrages: Monika Waldis: Erzählung oder Argumentation? Zum Einfluss auf Textgenre, Aufgabenprompt und Materialauswahl auf das historische Erzählen. In: Stefan Keller/ Christian Reintjes (Hrsg.): Aufgaben als Schlüssel zur Kompetenz. Didaktische Herausforderungen, wissenschaftliche Zugänge und empirische Befunde. Münster 2016, S. 237–258, hier S. 250. 13 Christoph Kühberger: Gescheiterte Männer? Über den Bruch der idealtypischen nationalsozialistischen Männlichkeit unter der amerikanischen Besatzung. In: Stefan Zahlmann/
Perspektivische Einseitigkeit
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nierten, die rückblickend aber zeitnah über das Lager schrieben,14 und drei bildlichen Quellen (zwei Zeichnungen; ein Druck), die im Lager entstanden sind.15 Die genannten Quellen waren bewusst so gewählt, dass nur eine Perspektive, jene der Internierten, Berücksichtigung fand. Die Amerikaner werden dabei jeweils in einem sehr ähnlichen Bild dargestellt, das aus einer NS-nahen Perspektive gegenüber den »Feinden« und nunmehrigen »Siegern« des Krieges erwachsen ist. Die Amerikaner werden als schlampige, faule, rassisch fragwürdige Männer dargestellt, die rauchend und kaugummikauend »herumhängen« und wahllos durch die Gegend schießen, dabei Inhaftierte verletzen und diese schikanieren. Die schriftlichen und bildlichen Quellen des Prompts stützen gleichermaßen dieses recht konkrete Feindbild und lassen keine anderen Perspektiven (z. B. von U.S.-amerikanischen Soldaten sowie nicht internierten Teilen der Bevölkerung) zu. Die Autorenschaft war in allen zur Verfügung gestellten Quellen eindeutig. Sie stammen alle von ehemals im Lager inhaftierten Personen. Nennenswert ist in diesem Kontext, dass trotz umfangreicher Recherche zu diesem Themenkomplex der Salzburger Lokalgeschichte bis dato keine vergleichbaren Quellen aus der amerikanischen Perspektive ermittelt werden konnten.16
3.
Auswertung und Herausforderungen
Der ersten Forschungsfrage nachgehend, inwieweit Studierende perspektivische Herausforderungen im Umgang mit Quellen überhaupt erkennen und wie sich das sprachlich manifestiert, wurden die Essays entlang von vier verschiedenen Kategorien codiert. Code 1 bezeichnet dabei jene Texte, die die einseitige Perspektivität in den Quellen als Problem thematisiert haben und dies durchgängig auch so kommunizieren. Ein Ausschnitt aus einem Essay soll das hier verdeutlichen: »In allen fünf Quellen wird grundsätzlich die selbe Situation geschildert. Jeder der Texte spricht aus der selben Perspektive, nämlich aus der der Internierten. Sylka Scholz (Hrsg.): Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten. Bonn 2005, S. 191–206. 14 Joseph Hiess: Glasenbach: Buch einer Gefangenschaft. Wels 1956, S. 7; Gustav Stöckelle: Vom Ende zum Anfang. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Nationalsozialisten. Graz/Wien 1949, S. 321. 15 Dabei handelt es sich um zwei Bilder aus: Hans-Hadmar Meyer: In deinem Lager ist Österreich! Camp Marcus W. Orr, Salzburg. Salzburg 1957, o. S., sowie um einen Holzschnitt aus: Mitteilungsblatt der Wohlfahrtsvereinigung der Glasenbacher 51 (1969), o. S. 16 Oskar Dohle/Peter Eigelsberger: Camp Marcus W. Orr: »Glasenbach« als Internierungslager nach 1945. Linz/Salzburg 2009.
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Das Verhältnis zwischen den ›Soldaten‹ und den Internierten ändert sich bei keinem der Texte. Alle haben den selben Eindruck von den amerikanische Soldaten.«17
Code 2 hingegen wurden Texte zugeordnet, die die einseitige Perspektivität an zumindest einer Stelle explizit benannt haben, diese Erkenntnis jedoch nicht durchgängig im Text berücksichtigen. So kann man im folgenden Beispiel erkennen, dass der Studierende zwar in einem Satz richtig ausführt, dass die Quellen nur die Sicht der Inhaftierten zeigen (Zeile 17f.), dies aber gedanklich nicht beibehält, wenn er einen Absatz weiter schreibt, dass die Quellen genau zeigen, wie die Amerikaner sich fühlen (Zeile 19f.). »Quelle1: Diese Quelle wurde von einem Inhaftierten produziert, und deswegen muss man überprüfen, ob die Quelle richtig sein kann oder ob es eine Täuschung\Fälschung ist. Fragen an die Quelle\ was zeigt sie mir bereits? >welchen Nutzen hatten diese Soldaten eigentlich? > Soldaten werden als »faule« und rum liegend abgebildet > Inwiefern sollte dieses Verhalten Deutschland und Österreich helfen sich zu entnazifizieren? > Außerdem Leid durch ein weiteres Leid ?! = nicht sehr hilfreich Quelle 2 und 3 und 4 und 5 Von der Quelle erfahren wir, dass die Soldaten eher ein gemütliches »Soldaten sein« verstehen hatten! Keine Strenge und starke Körperhaltung; grundloses erschiessen der Inhaftierenten [sic!]; > alle Quellen berichten davon, dass es die Inhaftierten schlecht hatten und man kann heraus lesen, dass diese Lager keinen Nutzen hatte (= den Nutzen der Entnazifizierung, es klingt eher danach, dass der Hass größer wurde (Quelle 2: letzter Satz) > die Quellen zeigen uns nur die Sicht der Inhaftierten (= vl. etwas zu einseitig) ein Bericht von einer Krankenschwester wäre hilfreich gewesen! > von den Quellen kann man ablesen, dass sich die Amerikaner klar als Sieger sehen und auch so benahmen > die Soldaten haben sich auch gelangweilt => kein Nutzen des eigentlichen Gedankens (Entnazifizierung) > von den Quellen \Buchausschnitten merkt man, dass die Inhaftierten sich zu Unrecht verhaftet und behandelt fühlten und sie nicht verstanden haben, warum das alles passiert. >die Inhaftierten belächeln die Soldaten (Quelle 3, Zeile 15) Abschließend kann ich sagen, dass durch die Quellen sichtbar wird, dass der Grundgedanke (= Entnazifizierung) in der Umsetzung gescheitert ist. Die Soldaten waren wie fehl am Platz und die Inhaftierten verstanden nicht den Zweck des Lagers!«18
17 Essay Nr. 17ELZELU18. 18 Essay Nr. 16ANSCLI17.
Perspektivische Einseitigkeit
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Unter Code 3 wurden alle Verschriftlichungen zusammengefasst, die die einseitige Perspektive nicht erkannt oder aber zumindest nicht angesprochen haben. Als Beispiel dafür kann das folgende Essay dienen: »Nachdem Österreich 1945 von den Allierten [sic!] ›befreit‹ wurde begann man mit der Entnazifizierung Österreich. Zu diesem Zwecke wurden Internierungslager eingerichtet. Der dann wenig Aufklärung über die Schrecken des Nazi-Regimes betrieben wurde. Die Internierten fühlten sich unfair behandelt. Die Amerikanischen Soldaten wurden als nicht pflichtbewusst, faul und weichlich angesehen. Das führte zu einer Verherrlichung der Wehrmacht, die als viel fähiger, härter und widerstandsfähiger angesehen wurde. Die Amerikanische[n] Soldaten waren oft nur wegen der Personalnot des Amerikanischen Heeres Soldaten. Es war ein zusammengewürfelter Haufen verschiedener Etnien [sic!], die als schießwütig galten. Die inhaftierten Anhänger des NSRegimes werden geschlossen haben, dass Ihre Wehrmacht nicht schrecklich sondern im Vergleich zu den Gis.[sic!] die ihre Aufgabe nur widerwillig als Mittel zum Zweck betrachteten, sogar ehrenhaft und vorbildlich gewesen sei, was natürlich keineswegs der Fall war. Die Amerikaner wollten ihrerseits Macht ausdrücken was mit den eher schlecht als recht ausgebildeten und motivierten Gis …nicht…gut gelang (bezogen auf die Nazis).«19
Einen Sonderfall bzw. eine Residualkategorie bildet Code 4, welcher jene Texte umfasst, die uneindeutige Hinweise auf ein Erkennen der einseitigen Perspektive geben. In ihnen kommen Hinweise auf die Autorenschaft und Perspektivität der Quellen vor, werden aber nicht explizit als problematisch gekennzeichnet. Oft lassen die Texte dem Leser den interpretativen Freiraum, die Einseitigkeit zu erkennen oder eben auch nicht. »In Österreich wurden Internierungslager zur Entnazifizierung vorn den Amerikanern eingerichtet. Die, von der Freiheit beraubten, Internierten sahen die amerikanische Armee als buntes Volk voller Zirkusleute. Sie sahen die Soldaten als keine würdige und mannesbildende Gruppe, das laut der Verhaltensbeschreibung und der Ideologie des Nazi-Tums verständlich war. Aber die Frage ist: ›Wie konnte solche Zirkustruppe das Nazireich stoppen?‹ Durch die Karikaturen wurden die Amerikaner leblos, gelangweilt dargestellt, wie eine Truppe die nur das nötigste erledigt. Ob die ganze amerikanische Armee solch ein Bild zeigen, ist finde ich auch fragwürdig. Viele Menschen haben die Amerikaner als Helden, Befreier gefeiert. Das die Internierten mit den Amerikanern nicht zufrieden waren ist logisch, da diese Wehrmacht Freiheit beraubt haben.«20
Beim Codieren war es oft eine Herausforderung, sich auf das Wesentliche, nämlich die im Codierbuch festgelegten Kategorien, zu konzentrieren. Da immer durchgängig mit dem gesamten Text auf einer Metaebene gearbeitet wurde, war die Gefahr gegeben, sich durch oberflächliche Formulierungen, beigemengte 19 Essay Nr. 17GASAST13. 20 Essay Nr. 17WAVÖSI24.
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Code
Definition
Einseitige Perspektivität durchgängig als Problem erkannt
1
Die einseitige Perspektive der Quellen wird eindeutig und durchgängig erkannt/Bezugnahme auf Perspektivität ist explizit gegeben/in der Schreibperformanz gibt es keine Widersprüche dazu
Einseitige Perspektivität in Teilen erkannt
2
Die einseitige Perspektive der Quellen wird zumindest an einer Stelle explizit benannt, aber nicht durchgehend, »er verliert die Perspektive wieder «/an einigen Stellen wird die einseitige Perspektive eindeutig erkannt, verfällt in anderen Stellen in trivialere Muster
Einseitige Perspektivität nicht erkannt
3
Die einseitige Perspektive der Quellen nicht erkannt/nicht angesprochen/z. B. Quellenpositivist/auch nicht einmal andeutungsweise
Uneindeutige Hinweise auf das Erkennen der einseitigen Perspektive
4
Der sprachliche Ausdruck der Einbindung der Quellen indiziert eine perspektivische Wahrnehmung, doch eine eindeutige Einseitigkeit der Quellen kann nicht erkannt werden.
Abb. 1: Auszug aus dem Codierbuch zum Erkennen der einseitigen Perspektivität
fragwürdige Inhalte und einen gewöhnungsbedürftigen Stil fehlleiten zu lassen. Die Texte bzw. betreffenden Textstellen wurden daher intensiv analysiert, um zu einer begründbaren Zuordnung zu gelangen. Der wesentliche Punkt dabei war, sich auf den radikal unterschiedlichen und damit eben individuellen Umgang der einzelnen Studierenden mit den Materialien einzulassen. Schwierig machte es vor allem die Nennung technischen Vokabulars. Dazu gehören Formulierungen wie »in der Quelle steht …«, »in allen Texten …«, »laut den Bildquellen …« oder »die Quelle sagt …«, denn diese suggerieren, dass Studierende die Problematik der einseitigen Perspektive erkannt hätten. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich aber oftmals eine zu geringe oder uneindeutige Distanzierung von der Quelle und eben nicht das Wissen um ihre Parteilichkeit.
4.
Ergebnisse
Die Codierung fiel insofern sehr ernüchternd aus, als 58 Prozent und somit mehr als die Hälfte aller Studienanfänger/innen die perspektivische Einseitigkeit der Quellen nicht erkennen konnten oder dies zumindest nicht versprachlicht haben.
305
Perspektivische Einseitigkeit
Lediglich 18 Prozent aller Proband/inn/en und somit nicht einmal ein Viertel von ihnen konnten die einseitige Perspektive der vorgegebenen Quellen erkennen und haben sie darüber hinaus auch als Problem benannt. Ebenfalls 18 Prozent der Texte wurden der Residualkategorie zugewiesen, weil sie nur uneindeutige Hinweise auf das Erkennen der Perspektive der Quellen durch die Studierenden gaben. In nur 3 Prozent der Fälle kommunizierten die Studierenden zwar die Einseitigkeit der Perspektive, fielen im Verlauf des Textes aber in positivistisches Schreiben zurück oder ignorierten dieses Moment in weiteren Teilen ihrer Ausführungen (Abbildung 2). 70
58
60 50 40 30 20 10
19
18 3
0 Code 1 Einseitige Code 2 Einseitige Code 3 Einseitige Code 4 Uneindeutige Perspektivitätder Quellen Perspektivitätder Quellen Perspektive der Quellen Hinweise auf das Erkennen durchgängig als Problem in Teilen erkannt nicht erkannt/angesprochen der einseitigen Perspektive erkannt
Abb. 2: Verteilung der Texte nach Codierung
Beim Interrating durch zwei Geschichtsdidaktiker/innen konnte ein nach Kuckartz sehr guter Wert erreicht werden.21 Die Interrater-Reliabilität mittels Cohens Kappa beträgt k ¼ 0; 81. Um auf diesen Wert zu kommen, wurden 37,4 Prozent des Korpus (37 Texte) auf Übereinstimmung geprüft, darüber hinaus zusätzliche Texte, die sich als uneindeutig erwiesen, in einer InvestigatorTriangulation22 den Codes konsensuell zugeordnet. Die hier präsentierten Ergebnisse beruhen auf dieser Routine. Besonders interessant ist der Vergleich der beiden Fachbereiche, also eine Ergebnissichtung, die nach Studierenden der Geschichte und der Naturwissenschaften trennt. Mit Blick auf die Tabelle (Abbildung 3), in der die Ergebnisse nach Fachrichtung dargestellt werden, muss man einräumen, dass die Physiker/ innen und Chemiker/innen eindeutig besser abschnitten, konnten doch 24 Prozent der Naturwissenschaftler/innen und nur 16 Prozent der Geschichtestudierenden die Problematik der perspektivisch einseitigen Quellen erkennen. 21 Udo Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim/Basel 2018. 22 Uwe Flick: Triangulation in der qualitativen Forschung. In: Uwe Flick/Ernst von Kardoff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hamburg 2003, S. 309–318, hier S. 312.
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70% 0,61
60%
0,55
50% 40% 30% 20% 10%
0,24
0,19
0,16 0,04
0%
0,21
0
Code 1 Einseitige Code 2 Einseitige Code 3 Einseitige Code 4 Uneindeutige Perspektivitätder Quellen Perspektivität der Quellen in Perspektive der Quellen Hinweise auf das Erkennen durchgängig als Problem Teilen erkann t nicht erkannt/angesprochen der einseitigen Perspektive erkannt Geschichte & S./PB. (n=69)
Physik & Chemie (n=30)
Abb. 3: Verteilung der Texte. Vergleich von Textzuordnungen nach Fachbereich
5.
Sprachliche Marker
Um noch tiefer und gleichzeitig auf einer anderen Ebene in die Essays der Studierenden einzudringen, wird im Folgenden versucht, sprachliche Marker zu identifizieren, die auf eine Berücksichtigung von Perspektivität im historischen Denken hinweisen.23 Unter sprachlichen Markern werden hier sprachlich manifeste Momente verstanden, die sich im sprachlichen Umgang mit einem bestimmten wissenschaftsorientierten Problem zeigen. Es können einzelne Lexeme sein, aber auch eine Kombination von Lexemen. Sprachliche Marker liefern explizierte sprachliche Hinweise auf eine bestimmte Art des fachlichen Denkens (explizite Kommunikation) oder indizieren dieses (implizite Kommunikation). In der Regel handelt es sich um hoch konventionelle sprachliche Momente innerhalb einer bestimmten sprachlichen Varianz, wenngleich die Anwesenheit eines bestimmten wissenschaftlichen Phänomens auch ohne sprachlichen Marker nachweisbar bzw. belegbar sein kann, wenn der Kontext darauf ver- oder hinweist (partiku-
23 Marker werden hier nicht nur im streng linguistischen Sinn verstanden, sondern durchaus auch als differenzmarkierende Akte, eine Begrifflichkeit, die in unterschiedlichen Wissenschaftszweigen üblich ist. Vgl. Eva Bonn/Christian Knöppler/Miguel Souza (Hrsg.): Was machen Marker? Logik, Materialität und Politik von Differenzierungsprozessen. Bielefeld 2013.
Perspektivische Einseitigkeit
307
larisierte Kommunikation).24 Die Marker werden in Anlehnung an Klaus Hölker entsprechend ihrer Transparenz systematisiert. Während »explizite Kommunikation« als hoch transparent angesehen werden kann, entspricht »implizite Kommunikation« einem mittleren und »partikularisierte Kommunikation« einem niedrigen Grad von Transparenz.25 Dieser Zugang ermöglicht nicht nur eine linguistische Herangehensweise zur Identifikation der illukutionären Funktion innerhalb der Texte, sondern auch einen Einblick in die Verwendung von Sprachmustern zum Ausdruck des gesuchten Phänomens. Auf diese Weise können allgemein verständliche sprachliche Muster didaktisch genutzt werden, um in der Sprache der Lernenden zu kommunizieren und das »Sprechen« wissenschaftsorientiert weiterzuentwickeln. Es verwundert durchaus, dass sich erst wenige Untersuchungen dem Sprachbestand im Umgang mit Geschichte und Vergangenheit angenommen haben, um Unterstützungsstrukturen und Anknüpfungspunkte für Lernprogression in fachspezifischen Konstellationen zu erreichen. Es kann sich im Sinn einer Reflexion der pragmatischen Passung nur als positiv erweisen, wenn man die zielgruppenspezifische sprachliche Realisierung fachspezifischen konzeptionellen Wissens kennt, um eine Erweiterung, einen Umbau, eine Verdichtung etc. im Sprachlichen und Kognitiven voranzutreiben.26 Die Güte der Essays darf jedoch nicht mit dem Grad der Transparenz der Marker gleichgesetzt werden. Ein niedriger und ein hoher Grad gelten in der geschichtsdidaktischen Diskussion wohl als brauchbarer als nur die Möglichkeit eines Markers (mittlerer Grad). Komplexe Texte neigen dazu, eher einen niedrigen Transparenzgrad zu besitzen, und die Leserschaft muss aus einem breiteren Kontext die Wahrnehmung der Perspektivität ableiten. Kehrt man zu den Essays der Studierenden zurück und fragt nach den Markern, die im Sinn der skizzierten Systematik auf eine Berücksichtigung von Perspektivität in historischem Denken hinweisen, ist festzuhalten, dass die meisten Studierenden keine Marker verwenden, aber dennoch in 16 Essays eine explizite und in 7 eine partikularisierte Kommunikation feststellbar ist. Die In24 Klaus Hölker: Marker. Polyfunktionalität und Transparenz. In: Ulrich Dausendschön-Gay: Linguistische Interaktionsanalysen: Beiträge zum 20. Romanistentag 1987. Tübingen 1991, S. 27–50, hier S. 30. 25 Ebd. S. 31. 26 Erste Versuche für Österreich wurden 2008 hinsichtlich sprachlicher Muster zur Artikulation von Aspekten der De-Konstruktion unternommen. Vgl. Christoph Kühberger: Rekonstruktionszeichnungen und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische Reflexionen zu Chancen und Problemen. In: Archäologie Österreichs 1 (2008), S. 50–60. Auch die Arbeit mit Concept Cartoons geht in diese Richtung, da dabei auch auf Formulierungen von Schüler_innen zurückgegriffen wird. Vgl. Wolfgang Buchberger u. a.: Mit Concept Cartoons historisches Denken anregen. Ein methodischer Zugang zum subjektorientierten historischen Lernen. Frankfurt/M. 2019.
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Kristina Karl / Christoph Kühberger
Typ
Ausprägung
Transparenz Beispiel
explizite Kommunikation
Der Text verwendet sprachliche Marker, die eine illokutionäre Funktion eindeutig belegen.
hoher Grad
»Da nur Quellen aus der Sicht der Inhaftierten zur Verfügung stehen, ist es schwer die Perspektive der Amerikaner zu beschreiben.« (17CLSAPH25)
implizite Kommunikation
Der Text verwendet sprachliche Marker, die eine illokutionäre Funktion indizieren oder als möglich erkennen lassen.
mittlerer Grad
»Diese Quelle zeigt wie die Inhaftierten die ›Wärter‹ sahen. Werden als faul dargestellt […]« (16MABRTO10)
partikularisierte Kommunikation
Dem Text fehlt ein Marker für eine illokutionäre Funktion, diese ist vom Kontext abhängig.
niedriger Grad
»Alle Quellen stammen von Inhaftierte[n], die in den amerikanischen Wachsoldaten keine disziplinierte Mannschaft sehen« (14HEOBMA09)
Keine Kommunikation dazu
Dem Text fehlt ein Marker für eine illokutionäre Funktion und sie ist nicht im Kontext gegeben.
keine Transparenz
»In Quelle 1 sind drei Soldaten abgebildet, die an einem Tisch sitzen, die Beine hochgelegt und rauchen. Die amerikanischen Soldaten tun also nichts.« (17KASWAN24)
Abb. 4: Codierraster für die sprachlichen Marker
terrater-Reliabilität mittels Cohens Kappa beträgt k ¼ 0; 78. Zur Berechnung wurden 52,5 Prozent der Texte auf Übereinstimmung geprüft, wobei die Essays, die vorab mit »Perspektivität nicht erkannt« codiert wurden, nicht nochmals gesondert geprüft, sondern sofort dem Code »keine Kommunikation dazu« subsumiert wurden. Hinsichtlich des sich daraus ergebenden Netzes sprachlicher Realisierungen kann man festhalten, dass im Korpus ein sehr stark konventionalisiertes sprachliches Repertoire, was das Problem der Perspektivität angeht, beobachtbar ist. Es sind vor allem Kombinationen mit den Substantiven »Perspektive«, »Sicht« und »Quelle«, die herangezogen werden, daneben aber auch Umschreibungen oder sprichwörtliche Annäherungen. Dennoch bleiben viele mögliche Synonyme
309
Perspektivische Einseitigkeit 70 58
60 50 40 30 20
16
17 7
10 0 explizite Kommunikation implizite Kommunikation
partikularisierte Kommunikation
keine Kommunikation dazu
Abb. 5: Verteilung der Texte nach sprachlichen Markern
der deutschen Sprache unberücksichtigt (Standpunkt, Betrachtungswinkel, Betrachtungsweise, Seh- oder Sichtweise, Blickpunkt etc.). Es stellt sich zudem bei der Verwendung von Begriffen wie »Perspektive« und »Sicht« vielfach die Frage, inwieweit hier nur Worthülsen reproduziert werden, ohne auf das dahinterliegende Konzept der Perspektivität zu verweisen.
Abb. 6: Schaubild der sprachlichen Realisierungen
6.
Fazit
Abschließend lässt sich festhalten, dass durch die Codierung eines erkenntnistheoretischen Prinzips (hier: der Perspektive) sowie durch die daran gekoppelte Suche nach seiner sprachlichen Realisierung eine bisher vernachlässigte Di-
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Kristina Karl / Christoph Kühberger
mension sichtbar wird, die Auskunft über den Horizont von Studienanfänger/ inne/n und damit indirekt von Maturant/inn/en gibt. Zwar sind die Ergebnisse ernüchternd, aber sie bieten die Möglichkeit, entlang konkreter sprachlicher Befunde pragmatische Interventionen zu setzen, um mit Lernenden bzw. hier Studierenden über fachlich-sprachliche Basiskonzepte ins Gespräch zu kommen.
Martin Nitsche / Kristine Gollin
Zeitlichkeit und narrative Kompetenz – zur kategorialen Erfassung des Umgangs mit Zeit
1.
Problemaufriss
Bei einigen geschichtsdidaktischen Kolleg*innen scheint eine gewisse Skepsis vorzuherrschen, inwiefern historische Kompetenzen ›messbar‹ sind. So verweist ein Sammelband bereits im Titel auf »weiße Flecken der Kompetenzdebatte«.1 Mit Blick auf die »empirische Forschung zur narrativen Kompetenz« spricht Barricelli sogar von »Unsicherheiten, Inkonsequenzen und Ausweichbewegungen« und schlussfolgert, narrative Kompetenz lasse sich nur mittels des Operators »erzählen« anbahnen sowie erst mit Blick auf die Zentralkategorie Sinnbildung über Zeiterfahrung untersuchen.2 Wir setzen uns in diesem Text mit diesen Behauptungen auf der Grundlage der theoretischen und empirischen Literatur sowie anhand von historischen Narrationen und Schreibprozessdaten von Schüler*innen auseinander.3 Dazu fragen wir: 1) Wie kommt Zeit in die Geschichte? 2) Wie kann Zeitlichkeit sprachlich-kategorial konturiert werden? 3) Inwiefern lässt sich narrative Kompetenz modellieren und mittels materialbasierter Aufgaben anbahnen? 4) Inwiefern kann die Bearbeitung von Zeitlichkeit anhand von Texten und Schreibprozessdaten kategoriengeleitet eingeschätzt und weitergehend untersucht werden?
1 Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 15). Münster 2016. 2 Michele Barricelli: Historisches Erzählen als Kern historischen Lernens. In: Martin Buchsteiner/Martin Nitsche (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Historische, theoretische, empirische und pragmatische Erkundungen. Wiesbaden 2016, S. 45–68, hier S. 48f. 3 Wir danken der Projektleiterin Monika Waldis sowie den Kolleg*innen Philipp Marti, Julia Thyroff, Kevin van Loon und Dominik Studer für ihre Unterstützung bei der Datenerhebung oder -auswertung.
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Martin Nitsche / Kristine Gollin
2.
Theoretische Fundierung
2.1
Zeit und Geschichte
Seit den 1980er Jahren gilt Zeit aus geschichtstheoretischer4 und -didaktischer5 Perspektive als menschliche Kategorie. Aus naturwissenschaftlicher Sicht stellte Leibniz das absolute Zeitkonzept als Rahmen der Dinge bereits im 18. Jahrhundert in Frage, indem er Zeit als Ordnungssystem zur mathematischen Klassifizierung von Veränderung begriff.6 Physikalisch gilt Zeit spätestens seit Einstein als relationale Kategorie, um Wandel zu beschreiben.7 Biologisch werden Änderungen von Organismen etwa beim Altern oder im Verlauf des Tag-NachtZyklus ebenfalls mittels des Konzepts ›innere Uhr‹ gedeutet.8 Geographisch spielt Zeit etwa zur Beschreibung von Wandlungen der Topografie oder des Klimas eine Rolle.9 Sozial dient sie der Organisation, Identifikation und Abgrenzung gesellschaftlicher Gruppen anhand von Veränderungen innerhalb derselben.10 Pragmatisch lässt sich menschliches Handeln mittels Zeit strukturieren.11 Psychologisch wird Zeit als Resultat »endogen erzeugte[r] zeitliche[r] Referenzrepräsentationen« und sensorischer Ereignisse aufgrund des menschlichen Agierens in der Umwelt aufgefasst.12 Sie kann daher als mentales sowie symbolisch präsentes Konstrukt gelten, das aufgrund von Veränderungserfahrungen hinsichtlich des Selbst sowie diverser Wirklichkeiten (z. B. physikalisch, biologisch) von Subjekten als Ordnungssystem entworfen wird. 4 So Rüsen mittels »Zeiterfahrung«. Vgl. Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u. a. 2013, S. 44. Martin Tschiggerl u. a.: Geschichtstheorie. Wiesbaden 2019, S. 13. 5 Vgl. Hans Jürgen Pandel: Zeit. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber 5. Aufl. 1997, S. 10–15; Jörg van Norden: Geschichte ist Zeit. Historisches Denken zwischen Kairos und Chronos – theoretisch, pragmatisch, empirisch (Geschichte Forschung und Wissenschaft, Bd. 49). Berlin 2014, S. 17. 6 Tschiggerl (Anm. 4), S. 13. 7 Vgl. Bernd Sonne: Spezielle Relativitätstheorie für jedermann. Ohne höhere Mathematik: Grundlagen und Anwendungen verständlich formuliert. Wiesbaden 2020, S. 5–18. 8 Vgl. Urs Albrecht: Die innere Uhr: Gene und Verhalten. In: Bulletin der Naturforschenden Gesellschaft Freiburg 91 (2002), S. 65–72, hier S. 65 (http://doi.org/10.5169/seals-308827). 9 Vgl. Jan Erik Steinkrüger/Winfried Schenk (Hrsg.): Zwischen Geschichte und Geographie, zwischen Raum und Zeit. Beiträge der Tagung vom 11. und 12. April 2014 an der Universität Bonn (Historische Geographie, Bd. 1). Berlin 2015. 10 Vgl. Sabine Hofmann-Reiter: Zeitverständnis am Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe. Empirische Erkundungen der Geschichtsdidaktik (Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte – Sozialkunde – Politische Bildung, Bd. 8). Innsbruck 2015, S. 29f. 11 Vgl. Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Band I: Zeit und historische Erzählung. Paderborn 2007, S. 130. 12 Roland Thomaschke: Zeit. In: Markus Anton Wirtz: Dorsch – Lexikon der Psychologie. Bern 2020 (https://m.portal.hogrefe.com/dorsch/zeit/, abgerufen am 21. 01. 2020).
Zeitlichkeit und narrative Kompetenz
313
Historische Zeit etablieren Subjekte mittels Kombination mathematischer und semantischer Klassifikation. Dazu erfolgt eine Einteilung der Reihe der Jahreszahlen in die Abschnitte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sodass der mathematischen Zählweise eine chronologische Bedeutung zugewiesen wird.13 Historische Bedeutung14 erzeugen Subjekte, indem sie menschlich relevante Aspekte als Dauer oder Wandel sowie ähnlich oder andersartig in der historischen Zeit klassifizieren15 oder diesen die Funktionen Ursache und Folge zuweisen.16 Historischen Sinn bilden Subjekte, indem sie sich anhand von Aspekten menschlichen Lebens im Rahmen der historischen Zeit und Bedeutung orientieren. Dazu stellen Menschen Zeit normativ auf Dauer, indem sie die Gültigkeit von Vergangenem oder daraus abzuleitender Regeln für die Zukunft betonen sowie in der Wiederkehr des Gleichen eine notwendige Konstante des Lebens sehen. Sie schreiben dem menschlichen Wandel Überzeitlichkeit zu, indem sie diesen oder das organische Werden und Vergehen als dauerhaft verstehen. Sie fragmentieren Zeit mittels Kritik hinsichtlich der Zukunftsrelevanz vergangener Lebensentwürfe. Sie entfliehen ihrer Zeit, indem sie in vergangene Zeiten eintauchen oder ihre Lebensziele in die Zukunft verlegen. Schließlich bilden sie historischen Lebenssinn, indem sie die genannten Varianten für ihre Situation adaptieren.17 Um Zeit in historischen Erzählungen zu erzeugen, stehen verschiedene Wege zur Verfügung. Sprachwissenschaftlich betrachtet, sorgt die syntaktische Anordnung von Begriffen, die historische Aspekte bezeichnen, und die Verwendung von verbalen Zeitformen (Präsens, Präteritum usw.) für eine Strukturierung in Vorheriges und Folgendes.18 Zudem dient die Einbindung vor allem von tem-
13 Vgl. van Norden (Anm. 5), S. 18–24. 14 Rüsen abwandelnd, lässt sich historische Bedeutung von historischem Sinn abgrenzen, da erstere Resultat der Deutung erfahrener Zeitdifferenz sei, letzterer jedoch erst mittels Bezug der Erkenntnis aus der Deutung auf die Lebenspraxis entstehe. Vgl. Rüsen (Anm. 4), S. 40–42. 15 Vgl. Jannet van Drie/Carla van Boxtel: Historical Reasoning: Towards a Framework for Analyzing Students’ Reasoning about the Past. In: Educational Psychology Review 20 (2008) H. 2, S. 87–110, hier S. 103 (https://doi.org/10.1007/s10648–007–9056–1). 16 Vgl. van Norden (Anm. 5), S. 25–64. 17 Rüsen (Anm. 4), S. 210f. Andreas Körber: Historische Sinnbildungstypen. Weitere Differenzierung. Hamburg 2013 (urn:nbn:de:0111-opus-72646); Hans-Jürgen Pandel: Erzählen und Erzählakte. Neuere Entwicklungen in der didaktischen Erzähltheorie. In: Marko Demantowsky/Bernd Schönemann (Hrsg.): Neue geschichtsdidaktische Positionen (Dortmunder Arbeiten zur Schulgeschichte und zur historischen Didaktik, Bd. 32). Bochum 2002, S. 39–55, hier S. 43; van Norden (Anm. 5), S. 179f.; Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien. In: Zeithistorische Forschungen 8 (2009) H. 3, S. 413–432, hier S. 419–425 (https://zeithistorische-forschungen.de/3–2009/4566, aufgerufen am 22. 01. 2020). 18 Ricoeur (Anm. 11), S. 102f.
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poralen und kausalen Adverbialen der Konstruktion historischer Bedeutung.19 Narratologisch gewendet bilden menschliches Handeln, das zeitlich seine Ordnung erhält, oder relevante historische Aspekte (z. B. soziale und räumliche Strukturen) das erzählerische Zentrum. Erzählen lässt sich daher als sprachliche Imitation derselben auffassen, sodass ihre Zeit Einzug in die Erzählung hält.20 Zudem konstituiert etwa die Dauer der Narration oder das Verhältnis zwischen der Dauer des Erzählten und der Erzählung Zeit.21 Weiterhin werden die Aspekte mittels einer Fabel – der Konstruktion des Ereignis- oder Handlungsverlaufs – in die Zeitstruktur der Narration überführt, indem sie zu Beginn, in der Mitte, an den Übergängen oder am Ende platziert werden.22 Schließlich bindet Erzählen das Erzählte in einen Plot ein, für dessen Verständnis die Zeit zentral ist. So wird durch diesen etwa festgelegt, ob die geschilderten Aspekte positiv überdauern (Romanze), negativ enden (Tragödie), im Handlungsverlauf vergehen (Satire) oder wenigstens für einen gewissen Zeitraum erfreulich sind (Komödie).23 Historische Narrationen als wissenschaftliche Geschichte(n) können anhand verschiedener Merkmale wie Perspektivität oder Retrospektivität charakterisiert werden.24 Aus dem zuvor Dargestellten lässt sich weiterhin schlussfolgern, dass Subjekte in ihren Zeiten mittels historischer Narrationen historische Zeit, Bedeutung und historischen Sinn verknüpfen können. Dabei wird geschichtswissenschaftlich häufig der Anspruch erhoben, plausibel von historischen Aspekten zu berichten, weil diese anhand vergangener Quellen methodengeleitet re-konstruierbar sind.25 Diese Erwartung lässt sich nur aufrechterhalten, wenn man, z. B. der kulturhistorischen Schule folgend, Menschen ontologisch als Teil ›des Ganzen‹ auffasst, welche etwa mit diesem sowie miteinander mittels Tätigkeiten und
19 Vgl. Olaf Hartung: Sprachhandeln und kognitive Prozesse von Schülerinnen und Schülern beim Schreiben über Geschichte. In Katharina Grannemann u. a. (Hrsg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. Münster u. a. 2018, S. 67–89, hier S. 79. 20 Vgl. z.B. Jerome Bruner: Actual Minds, Possible Words. London 1986, S. 13; Ricoeur (Anm. 11), S. 90. 21 Vgl. Johannes Jansen: Schulbücher als Erzählungen eigenen Formats. Perspektiven narratologischer Geschichtsschulbuchforschung (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 15). Göttingen 2017, S. 129–152, hier S. 135–138. 22 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M. 2008, S. 19. 23 Ebd., S. 22–24. 24 Für weitere vgl. z. B. Michele Barricelli: Historisches Erzählen: Was es ist, soll und kann. In: Olaf Hartung u. a. (Hrsg.): Lernen und Erzählen interdisziplinär. Wiesbaden 2011, S. 61–82, hier S. 65f. 25 Rüsen (Anm. 4), S. 58. Freilich lassen sich auch erkenntnisskeptische Perspektiven finden. Vgl. Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. Stuttgart 2001.
Zeitlichkeit und narrative Kompetenz
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Werkzeugen in Verbindung stehen.26 Davon ausgehend lassen sich Sprache, Symbole und Schrift als Werkzeuge der Kommunikation über die Umwelt auffassen, sodass es möglich ist, Aussagen über Vergangenes geregelt und gegenüber anderen Personen begründungsfähig aus Quellen und vorliegenden Geschichte(n) herzuleiten.27 Geschichte(n) sind somit für Adressat*innen in ihren jeweiligen Kommunikationssituationen bestimmt.28 Damit geht epistemologisch nicht zwangsläufig der Anspruch einher, ›die Geschichte‹ objektiv abzubilden. Vielmehr lassen sich historische Aussagen gerade aufgrund der Subjekt-, Zeitund Sprachgebundenheit als bedeutsam oder sinnvoll begreifen, weil sie im Kontext der gewählten Zeitvorstellungen, Kategorien, Bedeutungen oder Sinnkonstruktionen begründet sind und ihre Funktion entfalten.29 Weiterhin wird von diversen Autor*innen betont, Geschichte(n) müssten wenigstens zwei Zeitpunkte erkennbar verbinden, um als historische Narrationen zu gelten.30 Demgegenüber lässt sich argumentieren, dass selbst Aussagen über Vergangenes, welche lediglich mittels der Zeitform des Verbs oder der Nennung historischer Aspekte als solche erkennbar sind, unter das narrative Paradigma fallen, da sie auf historische Zeiten, Aspekte oder Narrationen verweisen. Davon ausgehend lassen sich solche sprachlich-symbolischen Konstrukte als Teil historischer Narrationen auffassen, die wenigstens historische Zeit erkennbar voraussetzen, ohne selbst der Form nach als historische Erzählung zu gelten.31 Uns scheint es sinnvoll, historische Narration(en) als Oberbegriff aller historischen Formen der Geschichtsschreibung aufzufassen, da die Konstruktion und das Verständnis derselben die Narrativität des Kontextes sowie des Wissens voraussetzt.32 Ein solch umfassendes Verständnis hat den geschichtstheoretischen Vorteil, beschreibende, analytische oder argumentative Formen der Geschichtsschreibung, wie sie zum Beispiel in der Sozial- und Strukturgeschichte vorkommen, einzubeziehen und nicht von vornherein auszuschließen.33 Auch geschichtsdidaktisch bietet diese Position die Möglichkeit, historische Beschreibungen, Erklärungen, Argumentationen und Erzählungen idealtypisch
26 Vgl. Yrjö Engeström: Lernen durch Expansion (Internationale Studien Tätigkeitstheorie 5). Marburg 1999, S. 57–87. 27 Ähnlich Rüsen (Anm. 4), S. 85–89. 28 Vgl. Kurt Röttgers: Geschichtserzählung als kommunikativer Text. In: Siegfried Quandt/Hans Süssmuth (Hrsg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen. Göttingen 1982, S. 29–48. 29 Ähnlich, jedoch auf dem Objektivitätsanspruch beharrend, Rüsen (Anm. 4), S. 88f. 30 Ebd., S. 44; van Norden (Anm. 5), S. 169; Barricelli (Anm. 24), S. 70. 31 Vgl. Ricoeur (Anm. 11), S. 216–246. 32 Ähnlich Rüsen (Anm. 4), S. 43f. 33 Für diverse Positionen vgl. Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Hrsg.): Theorie und Erzählung in der Geschichte (Beiträge zur Historik, Bd. 3). München 1979.
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zu differenzieren, um sie in Schule und Hochschule als Teil der Großform historische Narration zu vermitteln.34
2.2
Analytische Kategorien zum narrativen Umgang mit Zeit
Bisher wurde historische Zeit selten bei der Einschätzung von Lernleistungen berücksichtigt.35 Lediglich van Norden hat mehrfach Anstrengungen unternommen, eine ›Zeitkompetenz‹ zu erfassen. Darunter versteht der Autor das Vermögen, Aspekte in vorherige und folgende zu ordnen oder in eine Beziehung der Gleichzeitigkeit zu bringen sowie diese als Ursachen oder Wirkungen bzw. Dauer und Wandel zu klassifizieren. Folglich richtet er darauf seine Qualitätseinschätzung des Umgangs mit Zeit in historischen Erzählungen Lernender.36 Die Konstruktion historischer Bedeutung wurde in englischsprachigen Studien vor allem anhand des Konzepts Ursache und Wirkung eingeschätzt. Eine Grundlage bildet z. B. die Interviewstudie von Ashby u. a. mit britischen Schüler*innen. Sie verdeutlichen, dass Lernende zwischen individuellen Absichten, strukturellen Gründen sowie zwischen singulären und multiplen Ursachen unterscheiden. Eine entsprechende Lernentwicklung bestehe etwa in der zunehmenden Differenzierung historischer Ursachen sowie einem zunehmenden Verständnis für kausale Komplexität.37 Stoel u. a. unterscheiden historische Ursachen hinsichtlich des Fokus (wirtschaftlich, soziokulturell, politisch), der Rolle (auslösend, verstärkend, voraussetzend), der Dauer (langfristig, kurzfristig) sowie des Gewichts (großes, mittleres usw.). Davon ausgehend schätzten sie die Qualität des ›causal reasoning‹ in Texten von holländischen Elftklässler*innen hinsichtlich der Komplexität sowie Abstraktheit ein.38 Barton zeigt, dass US-amerikanische Schüler*innen historischen Wandel auf große Personen zurückführten, während irische diesen eher soziostrukturell begründen.39 Rüsen u. a. arbeiten für deutsche Abiturient*innen Vorstellungen 34 Vgl. z. B. Carolin Coffin: Historical Discourse. The Language of Time, Cause and Evaluation. London u. a. 2006. 35 Für psychologische Studien vgl. z. B. Hofmann-Reiter (Anm. 10), S. 44–88. 36 van Norden (Anm. 5), S. 195–201, 274–277. 37 Vgl. Rosalyn Ashby u. a.: How Children Explain the »Why« Of History. The Chata Research Project on Teaching History. In: Social Education 61 (1997) H. 1, S. 17–21 (http://www.social studies.org/sites/default/files/publications/se/6101/610104.html, aufgerufen am 20. 02. 2020). 38 Vgl. Gerhard L. Stoel u. a.: Teaching Towards Historical Expertise. Developing a Pedagogy for Fostering Causal Reasoning in History. In: Journal of Curriculum Studies 47 (2015) H. 1, S. 49–76 (https://doi.org/10.1080/00220272.2014.968212). 39 Vgl. Keith C. Barton: A Sociocultural Perspective on Children’s Understanding of Historical Change: Comparative Findings from Northern Ireland and the United States. In: American Educational Research Journal 38 (2001) H. 4, S. 881–913 (https://doi.org/10.3102/00028312 038004881).
Zeitlichkeit und narrative Kompetenz
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hinsichtlich sich wandelnder Aspekte (z. B. Mensch, Natur, Gesellschaft) sowie Faktoren (v. a. Technik) heraus.40 Van Drie und van Boxtel differenzieren Arten des Wandels in soziokulturell, wirtschaftlich oder hinsichtlich Geschwindigkeiten wie plötzlich oder kontinuierlich.41 Seixas und Morton machen auf die Bedeutung der Klassifikation des Wandels als Fortschritt oder Rückschritt bzw. Aufstieg und Fall aufmerksam.42 Nach Van Drie und van Boxtel diene das Konzept Ähnlichkeiten und Unterschiede dem historischen Vergleich. Es werde entweder verwendet, um vergangene Bedeutungen im Zeitkontext zu klären, oder zwecks Abgleichs mehrerer Aspekte über historische Zeiten hinweg, um geeignete Begriffe zur Benennung zu finden.43 Rüsen u. a. versuchten Historische Sinnbildungstypen anhand von qualitativen Daten deutscher Abiturient*innen zu unterscheiden, ohne indes eine Differenzierung zu erreichen.44 Van Norden unterscheidet in seiner Studie hinsichtlich Zeitkompetenz die Qualität der Sinnkonstruktion, indem er die Verknüpfung der Zeitebenen sowie die Sinnzuschreibung in historischen Erzählungen von Schüler*innen beurteilt.45 Nitsche und Waldis differenzieren den Grad der Begründung solcher historischen Orientierungen anhand historischer Erzählungen angehender Geschichtslehrpersonen.46 Zwischen historischer Bedeutung und historischem Sinn liegt das in der englischsprachigen Forschung gebräuchliche ›historical significance‹, das vielleicht treffend mit historischer Relevanz übersetzbar ist.47 Es dient etwa der Benennung erinnerungswürdiger Aspekte in Gesellschaften48 oder der Beschreibung ge-
40 Vgl. Jörn Rüsen u. a.: Untersuchungen zum Geschichtsbewusstsein von Abiturienten im Ruhrgebiet. In: Bodo von Borries u. a. (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein empirisch (Geschichtsdidaktik, Bd.7). Pfaffenweiler 1991, S. 221–334, hier S. 310–318. 41 van Drie/van Boxtel (Anm. 15), S. 103. 42 Vgl. Peter Seixas/Tom Morton: The Big Six Historical Thinking Concepts. Toronto 2013, S. 79f. 43 van Drie/van Boxtel (Anm. 15), S. 102. 44 Rüsen u. a. (Anm. 40), S. 240. 45 van Norden (Anm. 5), S. 201, 274f. 46 Vgl. z. B. Martin Nitsche/Monika Waldis: Narrative Kompetenz von Studierenden erfassen. Zur Annäherung an formative und summative Vorgehensweisen im Fach Geschichte. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 7 (2016) H. 1, S. 17–35, hier S. 33. 47 So Dick Van Straaten u. a.: Making History Relevant to Students by Connecting Past, Present and Future: A Framework for Research. In: Journal of Curriculum Studies 48 (2016) H. 4, S. 479–502, hier S. 481f. (https://doi.org/10.1080/00220272.2015.1089938). 48 Vgl. Keith C. Barton/Linda S. Levstik: »It wasn’t a good part of history«: National Identity and Students’ Explanations of Historical Significance. In: Teachers College Record 99 (1998) H. 3, S. 478–513.
318
Martin Nitsche / Kristine Gollin
schichtswissenschaftlicher Relevanzeinschätzung.49 Seixas und Morton heben zudem hervor, historische Relevanz sei nur relational in Bezug auf Vergangenes, Muster wie Dauer und Wandel sowie Geschichte(n) zu bestimmen.50 Zusammenfassend lassen sich erste Konturen analytischer Kategorien hinsichtlich des Umgangs mit historischer Zeit, Bedeutung und Sinnbildung identifizieren. Jedoch fehlen häufig die Trennschärfe und begründete Einsichten in qualitative Unterscheidungsmerkmale, wohl weil Kategorien mittels Gebrauch entfaltet werden.
2.3
Operationen im Umgang mit Zeit
In operationalen Konzepten gerät historische Zeit aufgrund der Ausrichtung der Denkoperationen in den Blick. Englischsprachig werden verschiedene Konzepte wie ›historical thinking‹,51 ›historical understanding‹52 oder ›historical reasoning‹53 unterschieden. Laut Wineburg nutzten Historiker*innen historisches Denken, indem sie ihre historischen Kenntnisse bei der Bearbeitung von Quellen und Darstellungen für die Kontextualisierung, die Quellenkritik sowie den historischen Vergleich heranzögen, um die zeitgenössische rhetorische Funktion der Medien mental zu modellieren und die historische Situation ›hinter‹ den Medien zu konstruieren.54 Voss und Wiley verstehen ›historical understanding‹ als mentalen Konstruktionsprozess, der Vorkenntnisse hinsichtlich historischer Zeiten, Räume und Aspekte sowie bekannte Fabeln mit historischen Informationen aus Quellen und Darstellungen koordiniere, so dass bedeutsame Geschichte(n) entwickelt werden können.55 VanSledright beschreibt diesen Prozess als fragengeleitete Interaktion zwischen »substantive concepts« (z. B. Chronologie), »procedural knowledge« (z. B. Kausalität) und »procedural practices« (z. B. Argumente konstruieren), der die Entwicklung historischen Wissens in Form von Narrationen, Argumentationen 49 Vgl. Stéphane Lévesque: Teaching SecondOrder Concepts in Canadian History: The Importance of »historical significance«. In: Canadian social studies 39 (2005) H. 2 (https://files.eric. ed.gov/fulltext/EJ1073987.pdf, aufgerufen am 30. 01. 2020). 50 Seixas/Morton (Anm. 42), S. 12. 51 Vgl. z. B. Sam Wineburg: Historical Thinking and Other Unnatural Acts. Charting the Future of Teaching the Past. Philadelphia 2001. 52 Vgl. James Voss/Jennifer Wiley: Developing Understanding While Writing Essays in History. In: International Journal of Educational Research, 27 (1997) H. 3, S. 255–265 (https://doi.org/ 10.1016/S0883–0355(97)89733–9). 53 Vgl. z. B. van Drie/van Boxtel (Anm. 15). 54 Vgl. z. B. Wineburg (Anm. 51), S. 64–75. 55 Voss/Wiley (Anm. 52), S. S. 256f.
Zeitlichkeit und narrative Kompetenz
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oder Erklärungen zur Folge habe und von »Epistemic beliefs« (z. B. zur Frage, was Geschichte ist) und soziokulturellen Aspekten (z. B. Eltern) beeinflusst sei.56 Ähnlich konturieren van Drie und van Boxtel ›historical reasoning‹ als »activity in which a person organizes information about the past in order to describe, compare, and/or explain historical phenomena«, indem historische Fragen gestellt, Quellen kontextualisiert, Wissen hinsichtlich Vergangenem sowie Metakonzepte (z. B. Dauer und Wandel) verwendet und historische Annahmen mittels Argumenten gestützt würden, welche auf Quellen basierten.57 Deutschsprachige Ansätze folgen oft dem Kompetenzparadigma. Dabei wird etwa der historiographische Erkenntnisprozess ins Zentrum gestellt, narrative Kompetenz als Ziel historischen Lernens fokussiert oder ein integrativer Ansatz gewählt.58 Der ersten Tradition folgend, identifizieren Schreiber u. a. in den Bereichen historische Frage-, Methoden-, Orientierungs- sowie Sachkompetenz diejenigen Operationen historischen Denkens, mit deren Hilfe sich Menschen, »in der Zeit […] orientieren«. Dabei spielten im Bereich der Sachkompetenz auch epistemologische Konzepte wie Retroperspektivität eine Rolle.59 Ähnlich sehen Bracke u. a. in den Denkoperationen Fragen, Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil aufgrund der Ausrichtung auf Vergangenes, der Gegenwartsgebundenheit und Zukunftsoffenheit historische Operationen. Zudem spiele beim historischen Denken Wissen erster (z. B. Ereignisse) und zweiter Ordnung wie Dauer und Wandel eine Rolle.60 Narrative Kompetenz wurde wohl zuerst von Rüsen in Teilbereiche (Wahrnehmung, Deutung und Orientierung) unterschieden und als Fähigkeit umrissen, Sinn durch historisches Erzählen zu bilden, indem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft identitätsrelevant verbunden werden.61 Barricelli definiert narrative Kompetenz als »Fähigkeit […] Geschichten bilden, erzählen und verstehen zu können«, wodurch »menschliche Zeit« in Texten verarbeitet werde.62 Pandel begreift das Konstrukt als Vermögen, »Ereignisse [zu] temporalisieren« sowie
56 Bruce VanSledright: Assessing Historical Thinking and Understanding: Innovative Designs for New Standards. New York 2014, S. 25–42. 57 van Drie/van Boxtel (Anm. 15), S. 89. 58 Vgl. für weitere Ansätze z. B. Michele Barricelli u. a.: Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Ders./Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Band 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 207–235. 59 Waltraud Schreiber u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell. Neuried 2006, S. 16–29. 60 Sebastian Bracke u. a.: Theorie des Geschichtsunterrichts (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 9). Schwalbach/Ts. 2018, S. 67f., 100–103. 61 Vgl. Jörn Rüsen: Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik. In: Quandt/Süssmuth (Anm. 28), S. 129–170, hier S. 145. 62 Michele Barricelli: Schüler erzählen Geschichte: Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2005, S. 78–81.
320
Martin Nitsche / Kristine Gollin
»Kohärenzen her[zu]stellen«.63 Van Norden unterscheidet eine hermeneutische – auf Textverstehen ausgerichtete – von einer narrativen Kompetenz, welche in der Kompetenz historischen Sinn zu bilden, der skizzierten Zeitkompetenz (vgl. Abschnitt 2.2) sowie einer eher kompositorischen Kompetenz (z. B. Text strukturieren) bestehe.64 Der integrativen Herangehensweise folgen Gautschi sowie Waldis u. a., indem sie im Erwerb narrativer Kompetenz das Hauptziel historischen Lernens sehen und analytische sowie synthetisierende Teiloperationen anhand des historiographischen Erkenntnisprozesses unterscheiden, indes ohne über die skizzierten Aspekte hinsichtlich der Zeitbezogenheit hinauszugehen.65
2.4
Zur Begründung narrativer Kompetenz
Wir knüpfen an den integrativen Ansatz an und gehen von dem in Abschnitt 2.1 skizzierten weiten Narrativitätsverständnis aus. Folglich verstehen wir narrative Kompetenz als zentrales menschliches Vermögen historischen Denkens, diverse Formen historischer Narrationen zu entfalten oder diese nachzuvollziehen. Basierend auf der englischsprachigen Literatur gehen wir von einer mentalen Interaktion zwischen historischen Operationen, Wissen und geschichtstheoretischen Beliefs aus.66 Zudem verstehen wir, daran anschließend und der kulturhistorischen Schule folgend (vgl. Abschnitt 2.1), das Konstrukt als soziokulturell verfasst. Weiterhin lässt sich narrative Kompetenz als mentale Kapazität der Problemlösung verstehen, mit deren Hilfe Subjekte gegenwärtige Irritationen aufgrund von Veränderungen hinsichtlich des Selbst (z. B. Identität), vergangener Aspekte (z. B. der Wandel von Überresten), Geschichte(n) (z. B. der Wandel zwischen früher und heute)67 oder gesellschaftlichen Anforderungen (z. B. schulische Aufgaben)68 historisch bewältigen. 63 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013, S. 222. 64 Vgl. Jörg van Norden: Was machst du für Geschichten. Didaktik eines narrativen Konstruktivismus (Geschichtsdidaktik, Bd. 13). Freiburg 2011, S. 223–225. Bei van Norden (Anm. 5), S. 201, scheint narrative Kompetenz in der Zeitkompetenz aufzugehen, während er in diesem Band das Konstrukt wieder ausführt. 65 Vgl. Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009, S. 48–52; Monika Waldis u. a.: Material-Based and Open-Ended Writing Tasks to Assess Narrative Competence Among Students. In: Peter Seixas/Kadriye Ercikan (Eds.): New Directions in Assessing Historical Thinking. New York 2015, S. 117–131, hier S. 118. 66 Vgl. z. B. Voss/Wiley (Anm. 52), S. 256f.; VanSledright (Anm. 56), S. 40. 67 Vgl. z. B. Andreas Körber/Johannes Meyer-Hamme: Historical Thinking, Competencies, and Their Measurement: Challenges and Approaches. In: Seixas/Ercikan (Anm. 65), S. 89–101, hier S. 92.
Zeitlichkeit und narrative Kompetenz
321
Aus dem empirischen Bedürfnis heraus, Operationen narrativer Kompetenz zu untersuchen,69 haben wir das Prozessmodell historischen Denkens von Schreiber u. a. adaptiert70 und mit geeigneten Indikatoren aus der dargestellten Forschung verknüpft. In diesem Rahmen lassen sich mentale Aktivitäten in vier Bereichen idealtypisch unterscheiden (vgl. Abb. 1): 1) Irritationen werden in Interessen überführt, indem Fragen oder Hypothesen, welche wenigstens historische Zeit erkennbar voraussetzen, formuliert oder solche anderer Subjekte erkannt werden.71 2) Während der De-Konstruktion werden Aussagen über Vergangenes in Quellen und Darstellungen identifiziert sowie formal verglichen.72 3) Auf Operationen der Re-Konstruktion wird zurückgegriffen, sobald mittels Medienkritik die Plausibilität von Aussagen etwa hinsichtlich vergangener Situation oder zeitgenössischer Funktion der Medien eingeschätzt wird, wozu das Kontextualisieren mittels historischen Wissens sowie Medienvergleiche nötig sind.73 Historische Zeit wird konstruiert, wenn Aussagen in der Chronologie verortet werden. Historische Bedeutung wird mittels Klassifikation von Vergangenem anhand von Deutungsmustern wie Dauer und Wandel, Ursache und Folge sowie Ähnlichkeiten und Unterschieden oder zeitbezogenen Begriffen konstituiert. Die genannten Aspekte werden als Geschichte(n) mittels diverser Strukturierungsmuster etwa argumentativ oder erzählend verknüpft. 4) Der Prozess dient der historischen Orientierung, wenn mittels Sinnbildungsmustern (vgl. Abschnitt 2.2) zukünftiges Handeln begründet oder anhand gegenwärtig gültiger Werte die Relevanz von Vergangenem für heute beurteilt wird.74 Neben historischem Wissen hinsichtlich Vergangenem, Chronologie, Deutungssowie Sinnbildungsmustern sind Kenntnisse bezüglich narrativer Strukturierungsmuster und heutiger Werte (z. B. Menschenrechte) involviert. Zudem
68 Vgl. z. B. Chauncey Monte-Sano/Susan De La Paz: Using Writing Tasks to Elicit Adolescents’ Historical Reasoning. In: Journal of Literacy Research 44 (2012) H. 3, S. 273–299. 69 Vgl. z. B. Nitsche/Waldis (Anm. 46) sowie Kristine Gollin/Martin Nitsche: Schreibprozesse in Geschichte. In: Monika Waldis/Béatrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 17. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 17« (Geschichtsdidaktik heute, Bd. 11). Bern 2019, S. 218–231. 70 Vgl. z. B. Schreiber u. a. (Anm. 59), S. 17. 71 Ebd., S. 22; VanSledright (Anm. 56), S. 40; van Drie/van Boxtel (Anm. 15), S. 90f. 72 Vgl. Waldis u. a. (Anm. 65), S. 118; Voss/Wiley (Anm. 52), S. 259. 73 Vgl. Schreiber (Anm. 59), S. 23f.; Wineburg (Anm. 51), S. 65f. 74 Hier wird Werturteil anders als bei Bracke u. a. (Anm. 60), S. 99, für Beurteilungen mittels heutiger Normen verwendet.
322
Martin Nitsche / Kristine Gollin
dürften geschichtstheoretische Beliefs bezogen auf historische Erkenntnismöglichkeiten und -weisen den Vorgang beeinflussen.75 De-Konstruktion:
Re-Konstruktion:
Medienbezug herstellen;
Medienkritik vornehmen;
Aussagen über Vergangenes identifizieren; Aussagen über Vergangenes vergleichen
Kontextualisieren; Medien vergleichen; Zeitlichkeit konstruieren; Argumentation strukturieren
Orientierung:
Interessen: Historische Fragen stellen / erkennen und / oder
Ve rgangenes auf heute beziehen; Werturteil mit heutigen Normen und Konzepten begründen;
-
Hypothesen formulieren
Sinnbildung begründen;
Ausgangspunkt: Zeitliches Orientierungsproblem; Unsicherheit(en); Aufgaben in der Gegenwart
Abb. 1: Modell narrativer Kompetenz76
3. Empirische Fundierung 3.1
Studienkontext
Die folgenden Analysen basieren auf Daten, die wir im Rahmen der Interventionsstudie »Schülerinnen und Schüler schreiben Geschichte« (2016–2019) erhoben haben.77 An der Untersuchung waren insgesamt 20 Deutschschweizer Lehrpersonen als Beratende oder Unterrichtende sowie über 300 Schüler*innen auf Gymnasialstufe beteiligt. Im Zentrum der Untersuchung stand ein quasiexperimenteller Unterrichtsversuch, der der Erprobung von Fördermaßnahmen zur Entwicklung der narrativen Kompetenz der beteiligten Schüler*innen diente. Während der Entwicklung geeigneter Aufgaben zur Erfassung der narrativen 75 Vgl. zusammenfassend Martin Nitsche: Beliefs von Geschichtslehrpersonen – eine Triangulationsstudie (Geschichtsdidaktik heute, Bd. 10). Bern 2019, S. 71–80; z. B. Wineburg (Anm. 51), S. 75–79. 76 Gollin/Nitsche (Anm. 69), S. 221. 77 Die Studie wurde vom Schweizer Nationalfond (SNF) finanziert (Fördernr.: 100019_160359 / 1).
Zeitlichkeit und narrative Kompetenz
323
Kompetenz der Lernenden fanden Anfang 2017 Cognitive Labs mit einzelnen Schüler*innen statt. Die schulische Umsetzung der Intervention erfolgte zwischen Herbst 2017 und Sommer 2018.78
3.2
Proband*innen
An den Cognitive Labs waren 20 Schüler*innen (MAlter = 16.73; SD = .65) auf gymnasialem Niveau beteiligt. Zwölf von ihnen sind weiblich, elf besuchten die elfte, acht die zehnte, ein*e Schüler*in die neunte Klassenstufe. Der Kontakt zu den Beteiligten wurde von Geschichtslehrkräften, welche Mitgliedern des Projektteams beruflich bekannt sind, vermittelt. Die Teilnahme erfolgte freiwillig nach Einverständniserklärung der Eltern oder der Lernenden.
3.3
Erhebungsverfahren
Für diesen Beitrag wurden historische Argumentationen und Prozessdaten der Lernenden herangezogen, die während der Cognitive Labs entstanden. In diesen führten wir zur Annäherung an die Operationen narrativer Kompetenz kognitive Interviews vor und nach der schriftlichen Aufgabenbearbeitung mit den beteiligten Schüler*innen durch, indem zunächst das geplante und anschließend das gewählte Vorgehen erfragt wurde.79 Dabei kamen zwei materialbasierte Schreibaufgaben zum Thema Schweizer Neutralität im Ersten Weltkrieg zum Einsatz, welche zur Auseinandersetzung entweder mit der militärischen oder der wirtschaftlichen Neutralität aufforderten. Beide Aufgaben bestanden aus derselben Aufgabenstellung, historischen Darstellung und Quelle sowie aus zwei subthemenbezogenen Textquellen. Die Bearbeitungszeit betrug 70 Minuten. Die Subthemen wurden auf je zehn Befragte aufgeteilt. Acht der Lernenden wurden zudem zum Zweck der Erprobung einer stärkeren Strukturierung der Aufgabe mit der Fragestellung ›Verhielt sich die Schweiz im 1. Weltkrieg neutral?‹ konfrontiert. Die zugehörige Aufgabenstellung lautete: »Lesen Sie die folgenden Texte (Quellen und Darstellungen). Bearbeiten Sie die Frage: Verhielt sich die Schweiz im 1. Weltkrieg neutral? Schreiben Sie dazu eine Behauptung auf (eine ›These‹), die Ihnen wichtig erscheint. Untersuchen Sie diese mithilfe von 78 Ausführlich vgl. Martin Nitsche u. a.: Fostering Narrative Competence in Upper Secondary School History Classes: A German Swiss Intervention Study Instructional Science (eingereicht). 79 Gollin/Nitsche (Anm. 69), S. 223.
324
Martin Nitsche / Kristine Gollin
Argumenten aus den Quellen und Darstellungen. Verfassen Sie einen zusammenhängenden Text (ca. 400 Wörter), in dem Sie Ihre Überlegungen verarbeiten. Zeitbudget: 70 Minuten«.80
3.4
Auswertungsverfahren
Die Auswertung der historischen Argumentationen der Schüler*innen erfolgte mittels evaluierender Inhaltsanalyse81 anhand von fünf Kategorien (Medienbezug, Medienkritik, historische Begriffsnutzung, Aufbau der Argumente, Argumentationsstruktur), die mit den Bereichen unseres Modells narrativer Kompetenz verbunden sind (vgl. Abschnitt 2.4), auf einer Abstufung von 0 bis 3 (vgl. Abschnitt 3.5 für Beispiele). Die Unterscheidung erfolgte dabei anhand der Merkmale ›Reflexivität bzw. Bewusstheit‹ und ›Strukturiertheit bzw. Komplexität‹, welche aus geschichtsspezifischen Lernprogressionstudien abgeleitet sind.82 Die Einschätzung der Argumentationen wurde vom Erstautor vorgenommen, nachdem die Interrater-Reliabilität mittels Schätzung von Krippendorfs α83 zwischen dem Erstautor und zwei Auswertenden anhand von je 20 randomisiert gezogenen Texten aus dem Unterrichtsversuch vor dem und in der Mitte des Analyseprozesses bestimmt wurde (αt1 = .73–1.0; αt2 = .69–1.0). Die vergebenen Punkte wurden nach der Überprüfung der Konstruktvalidität der Ratings mittels Konfirmatorischer Faktorenanalyse aufsummiert.84 Wissenschaftliche Hilfskräfte transkribierten die Interviews. Diese wurden anschließend, wie auch in einem zweiten Durchgang die Argumentationen durch die beiden Autor*innen dieses Aufsatzes, mittels strukturierender, theoriebasierter Inhaltsanalyse und induktiver Kategorienbildung sowie Diskussion bei Abweichungen untersucht.85 Die Auswahl der genannten Daten erfolgte aufgrund der erreichten Gesamtpunktzahl in den Textratings, indem die Daten von den drei Beteiligten ausgewählt wurden, deren historische Argumentationen die höchste (11), mittlere (7) sowie niedrigste (1) Gesamtpunktzahl erreichten.
80 Für den Schreibprompt ohne historische Frage vgl. ebd. 81 Vgl. Udo Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim 2016, S. 123–142. 82 Zusammenfassend Nitsche/Waldis (Anm. 46), S. 21f. 83 Vgl. Klaus Krippendorff: Content Analysis: An Introduction to Its Methodology. Thousand Oaks 2013, S. 221–250. 84 Ausführlich vgl. Nitsche u. a. (Anm. 78). 85 Vgl. Kuckartz (Anm. 81), S. 97–122.
Zeitlichkeit und narrative Kompetenz
3.5
325
Resultate
Im Folgenden stellen wir die Konstruktion historischer Zeit und Bedeutung ins Zentrum, da die historische Orientierung aufgrund der verwendeten Aufgabe nicht explizit eingefordert war. Die Konstruktion historischer Bedeutung wurde in den historischen Argumentationen aufgrund der Aufgabenstellung anhand der Kategorie ›historische Begriffsnutzung‹ hinsichtlich »Schweizer Neutralität« beurteilt. Die Abstufung erfolgte hinsichtlich des Merkmals ›Reflexivität bzw. Bewusstheit‹ (vgl. Abschnitt 3.4). Null Punkte wurden vergeben, wenn der Begriff nicht erkennbar bzw. zeitlich kontextualisiert ist oder hinsichtlich der angebotenen Medien nicht nachvollziehbar verwendet wird. Einen Punkt erhielten solche Texte, in denen »Neutralität« oder »neutral« ohne begriffliche Klärung zeitlich verortet ist. War dies unter Berücksichtigung eines Zeitpunktes der Fall, erfolgte die Einschätzung als zeitbezogene Definition und die Vergabe von zwei Punkten. Als historische Definition beurteilt und mit drei Punkten bedacht wurden Texte, in denen zudem verschiedene Zeitpunkte deutlich werden. Anders als vielleicht zu erwarten, erfolgte im Text mit der höchsten Gesamtpunktzahl lediglich eine zeitliche Verortung: »Liest man heutzutage diese widersprüchlichen Dokumente durch fällt es einem leicht ein Urteil zu fällen und der Schweiz vorzuwerfen sie hätte während des 1.Weltkrieges ihre Neutralität verletzt« (P 14). Im Text mit mittlerer Punktzahl wird der Begriff häufiger verwendet und zwei Zeitpunkte sind erkennbar: »Die Schweiz ist seit dem Wiener Kongress 1815 militärisch neutral eingestellt. […] Im Ersten Weltkrieg wurde diese militärische Neutralität von beiden Kriegsparteien anerkannt. Doch wirtschaftlich konnte die Neutralität nicht gesichert werden, da die Schweiz von Importen sowie Exporten abhängig war. […] Aber politisch gesehen war die Schweiz neutral, […] denn ohne diese Neutralität hätte es zu Konflikten im Inland kommen können« (P 18). Eine Erläuterung erfolgt indes nicht, so dass der Text nicht vollständig der Logik der Einschätzung entspricht. Dies illustriert die Grenzen punktbasierter Ratings. In der Argumentation mit der niedrigsten Punktzahl ist die Begriffsnutzung nicht erkennbar (P 7). Weitere Aspekte hinsichtlich historischer Zeit und Bedeutung wurden mittels des Codes ›Konstruktion von Zeitlichkeit‹ analysiert. Damit versehen wurden Aussagen, in denen Chronologie oder Deutungsmuster wie Dauer und Wandel, Kausalität oder Gemeinsamkeiten und Unterschiede genutzt werden, um Aussagen aus den angebotenen historischen Medien zu solchen über Vergangenes diachron zu versprachlichen oder synchron zu vergleichen (Gemeinsamkeiten und Unterschiede). In der Argumentation mit der niedrigsten Punktzahl ist eine chronologische Anordnung sowie Deutung hinsichtlich Ursache und Wirkung zu finden: »Die
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Martin Nitsche / Kristine Gollin
Schweiz hatte sich am Wiener Kongress 1815 dazu verpflichtet in einem Kriegsfall ihre Neutralität zu wahren […]. Nun brach schliesslich [sic] der 1. Weltkrieg aus und die Schweiz war nun verpflichtet diese Vereinbarung einzuhalten. […] Durch […] Einschränkungen beim Handel war die Lebensmittelversorgung in der Schweiz jedoch ziemlich knapp und musste rationiert werden, was zur Folge hatte, dass es der schweizer [sic] Bevölkerung nicht besonders gut ging zu dieser Zeit« (P 7). Im Text mit mittlerer Punktzahl schimmert das Konzept Dauer und Wandel zumindest durch: »Die Schweiz gilt schon lange als neutraler Staat. Doch war diese Neutralität immer vorhanden?« (P 18). Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen heute und damals finden im Text mit der höchsten Punktzahl Verwendung, um die Einschätzung der Einhaltung der Schweizer Neutralität zu differenzieren: »Liest man heutzutage diese widersprüchlichen Dokumente durch fällt es einem leicht ein Urteil zu fällen und der Schweiz vorzuwerfen sie hätte während des 1. Weltkrieges ihre Neutralität verletzt. Bevor man allerdings diese voreiligen Schlüsse zieht, muss man sich in Erinnerung rufen wie schwierig es ist während Krisenzeiten die eigene Bevölkerung zu versorgen und gleichzeitig diplomatisch geschickt vorzugehen […]. Insbesondere für die Schweiz war die Versorgung mit Rohstoffen während des 1. Weltkrieges eine grosse [sic] Herausforderung« (P 14). In den Interviews konstituierte lediglich die Person, deren historische Argumentation die höchste Punktzahl aufweist, explizit historische Zeit und Bedeutung. So sortierte sie die genutzten Quellen chronologisch, um die wirtschaftliche Neutralität zu reflektieren: »Ja, (…) jedenfalls gewisse Dinge sind dazugekommen, die ich noch nicht wusste. Ähm, zum Beispiel […] dieses Abkommen mit den Alliierten oder dieses geheime Protokoll, das, ähm, der Bundesrat eigentlich noch, ja, unmittelbar eigentlich noch vor dem diesem Abkommen mit den Alliierten abgeschlossen, also sozusagen verfasst hat und das eigentlich in sich widersprüchlich ist. […] Dieses Dokument stammt ja vom 4. Dezember und hier geht’s ja darum, dass sie viele Angebote der Deutschen annehmen, wenn nicht sozusagen alle außer eines und ähm, ein Tag später haben sie dann einen Handel mit den Alliierten abgeschlossen.« (P 14).
Dies erklärt sich die Person wenig später selbst kausal: »[…] allerdings haben sie das natürlich auch insbesondere ähm, mit dem Hintergrund getan, […] dass das Überleben der Bevölkerung ähm, im Vordergrund stand und die Wirtschaft allgemein der Schweiz.« Schließlich stellt die*er Schüler*in Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Einschränkung der Pressefreiheit während des Ersten und Zweiten Weltkrieges anhand der angebotenen Darstellung fest: »Ja, diese Thematik ist auch im Zweiten Weltkrieg ein Problem […]. Im Zweiten Weltkrieg war das ja noch fast extremer« (P 14).
Zeitlichkeit und narrative Kompetenz
4.
327
Ausblick
In diesem Beitrag setzten wir uns mit den Behauptungen auseinander, narrative Kompetenz könne lediglich mittels des Operators ›erzählen‹ angeregt sowie anhand des Konzepts ›Sinnbildung über Zeiterfahrung‹ erfasst werden. Dazu grenzten wir Zeit, historische Zeit, historische Bedeutung, historischen Sinn sowie historische Erzählung und Narration voneinander ab. Wir plädierten dafür, ›historische Narration‹ als Oberbegriff für alle Formen der Geschichtsschreibung aufzufassen, da sie Narrativität strukturell und epistemologisch voraussetzen. Daraufhin stellten wir Analysekategorien aus der Forschungsliteratur zum Umgangs mit Zeit vor, zeigten auf, welche Rolle Zeitlichkeit in operationalen Konzepten spielt und entfalteten unser Modell narrativer Kompetenz. Damit argumentierten wir, dass nicht allein ›historischer Sinn‹ sowie ›Erzählen‹, sondern auch die anderen Aspekte zentral für das Verständnis und die Konstituierung historischer Narrationen sind. Anhand historischer Argumentationen von Deutschschweizer Schüler*innen und Daten aus dem Entstehungsprozess der Texte illustrierten wir ihren Umgang mit Zeit. Es wurde deutlich, dass sich die Nutzung des zentralen Begriffs – hier Neutralität – als Indikator für narrative Kompetenz bezüglich historischer Bedeutung eignet. Zudem arbeiteten wir anhand der Texte und Prozessdaten heraus, dass sich ›Chronologie‹ für die Analyse der Konstruktion historischer Zeit sowie solche Deutungsmuster wie Dauer und Wandel für die Untersuchung der Konstituierung historischer Bedeutung eignen. Allerdings ist in der Literatur nur ansatzweise geklärt (z. B. Kausalität), wie sich die Qualität des Gebrauchs solcher Muster einschätzen lässt. Dies gilt ebenso für den Bereich der historischen Sinnbildung, da bisherige Versuche, Lernen anhand der Sinnbildungstypen aufzuzeigen, nicht erfolgreich waren oder Einschätzungen mittels Rankings derselben kaum überzeugen, da eine solche Vorgabe bestimmter historischer Sinnbildungen in diversen Gesellschaften problematisch ist. Die Möglichkeit, dies anhand des Grads der Begründung zu leisten, wurde erst punktuell erprobt. So ist der Eingangshypothese insofern zuzustimmen, dass weiterer Forschungsbedarf hinsichtlich des Einbezugs der historischen Sinnkonstruktion in Erhebungen narrativer Kompetenz besteht.
Sektion 5: Sprachsensibel und geschichtsbewusst? Herausforderungen bei der Konzeption von Geschichtslehrwerken
Saskia Handro
Sprachsensibel oder geschichtsbewusst? Herausforderungen bei der Konstruktion von Geschichtslehrwerken. Einführung in die Sektion
1.
Sprachliche Vielfalt – (k)ein Thema der Schulbuchkonstruktion?
Wenn sich die bundesdeutsche Geschichtsdidaktik auf ihrer Zweijahrestagung dem Thema »Sprachliche Vielfalt und historisches Lernen« widmet, liegt es aus mehreren Gründen nahe, die sprachliche Dimension der Konstruktion von Geschichtslehrwerken zu diskutieren. Grundlegend ist natürlich die Tatsache, dass die unterrichtliche Nutzung von Geschichtslehrwerken sprachliche Kompetenzen voraussetzt. Zudem soll das Schulbuch die Entwicklung narrativer Kompetenz Lernender ermöglichen.1 Dieser enge Zusammenhang von sprachlicher und historischer Kompetenzentwicklung ist weder neu noch strittig.2 Allerdings verlangt das Konferenzthema einen entscheidenden Perspektivwechsel – die heterogenen sprachlichen Voraussetzungen Lernender rücken als Faktor der Schulbuchkonstruktion in den Fokus. Erste Konsequenzen dieses Perspektivwechsels lassen sich auf dem Schulbuchmarkt beobachten. Hier werden bereits fächerübergreifend Lehrwerke für sprachschwache Lernende oder Lernende mit Deutsch als Zweitsprache angeboten oder sprachsensible Konzepte in gesellschaftswissenschaftlichen Lehrwerken adaptiert. Der Trend zur adressatenspezifischen Differenzierung des Schulbuchmarktes darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schulbuchherausgeber*innen und -autor*innen mit der Konzeption von sprach- und heterogenitätssensiblen Geschichtslehrwerken geschichtsdidaktisches Neuland beschreiten. Denn bislang ist das Verhältnis von fächerübergreifender Sprachbildung, individueller Sprachförderung und fachbezogener Kompetenzent1 Vgl. u. a. Hilke Günther-Arndt: Schulbucharbeit. In: Dies./Saskia Handro: Geschichts–Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 5. überarb. Neuaufl. 2015, S. 174–179. 2 Vgl. Saskia Handro: Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Leerformel oder Lernchance? In: Katharina Grannemann/Sven Oleschko/Christian Kuchler (Hrsg.): Sprachbildender Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. Münster 2018, S. 13– 42.
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Saskia Handro
wicklung noch unzureichend systematisiert.3 Zudem hat die empirische Erkundung narrativer Kompetenzen Lernender gerade erst begonnen und fachspezifische Analysen von Textschwierigkeiten sind rar. Darüber hinaus fehlt es an Interventionsstudien zur Textverständlichkeit und der wiederholt angemahnte interdisziplinäre Dialog zwischen Linguistik, Psychologie, Sprach- und Fachdidaktik steckt noch immer in den Anfängen.4 Allerdings gewinnen auf der Suche nach integrativen Wegen fachlichen und sprachlichen Lernens methodische Herausforderungen narrativer Kompetenzentwicklung an Kontur und wiederholt markierte weiße Flecken der geschichtsdidaktischen Schulbuchforschung und -theorie erhalten neues Gewicht. Die im Folgenden zu dokumentierende Sektion »Sprachsensibel oder geschichtsbewusst? Herausforderungen der Konstruktion von Geschichtslehrwerken« nahm die Essener Tagung daher zum Anlass, Wege einer sprachsensiblen und geschichtsdidaktisch reflektierten Konstruktion von Schulgeschichtsbüchern vorzustellen und zwar aus drei Perspektiven: aus sprachdidaktischer Perspektive, aus geschichtsdidaktisch-theoretischer Perspektive und aus Perspektive der Herausgeber*innen und Autor*innen von Schulgeschichtsbüchern. Ziel dieses mehrperspektivischen Zugriffes war es, Synergieeffekte interdisziplinärer Zusammenarbeit aufzuzeigen sowie theoriebasierte und zugleich pragmatisch relevante Bausteine für die Konstruktion sprachsensibler Geschichtslehrwerke im Spannungsfeld von Sprache und Fach zur Diskussion zu stellen. Der Fragestellung »Sprachsensibel oder geschichtsbewusst?« folgend kommt der Einleitung die Funktion zu, die mit der sprachlichen Vielfalt verbundenen neuen Herausforderungen der Schulbuchkonstruktion kurz zu umreißen und konzeptionelle Neuansätze in der geschichtsdidaktischen Forschungstradition zu verorten.
3 Vgl. dazu ausführlicher Saskia Handro: »Sprachsensibler Geschichtsunterricht«. Systematisierende Überlegungen zu einer überfälligen Debatte. In: Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven (Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und historisches Denken, Bd. 1). Frankfurt/M. 2016, S. 265–296. 4 Vgl. dazu bereits Friedrich J. Lucas: Zur Funktion der Sprache im Geschichtsunterricht. In: Eberhard Jäckel/Ernst Weymar (Hrsg.): Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Stuttgart 1975, S. 326–340, hier S. 326; Wolfgang Hug: Schulbuch. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Bd. 1, Düsseldorf 2. Aufl. 1980, S. 218–223, hier S. 222.
Sprachsensibel oder geschichtsbewusst?
2.
333
Sprachsensibel? Die Sprache der Geschichtslehrwerke als Problem
Bildungspolitische Forderungen nach einer fachintegrierten Sprachbildung und lernerorientierten Sprachförderung5 reagieren in erster Linie auf Veränderungen in der Schülerschaft. Doch gleichzeitig sensibilisieren sie dafür, dass den (fach)sprachlichen Hürden und sprachlichen Unterstützungsmöglichkeiten bei der Konstruktion von Lehrmitteln bislang nicht hinreichend Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Dies mag überraschen, denn dass Lernende große Probleme haben, Geschichtsschulbücher fachlich adäquat zu verstehen, wurde seit der Quellenorientierung des Geschichtsunterrichts in den 1980er Jahren wiederholt problematisiert6 und durch Studien zur Schulbuchnutzung und zum Schulbuchverständnis mehrfach empirisch fundiert. So konstatierte von Borries bereits zu Beginn der 1990er Jahre: »Geschichts-Schulbücher sind für ihre Adressaten schwer verständlich, bilden für schwächere Schüler(innen) eindeutig eine Überforderung und genießen bei Lernenden – besonders hinsichtlich ihrer Motivationskraft – einen ungünstigen Ruf.«7 Signifikant seien zwar die schulformspezifischen Unterschiede beim Schulbuchverständnis, aber dennoch handele es sich um einen schulformübergreifende Problematik. An den Hauptschulen könne allenfalls »das stärkste Drittel die Schulbuch-Texte einigermaßen« erfassen. »In den Realschulen kann man diesen Anteil auf etwa die Hälfte und selbst in den Gymnasien auf höchstens zwei Drittel schätzen.«8 Dies gelte nicht allein für »Klassen mit einem hohen Anteil von Kindern anderer Muttersprachen«.9 An dieser Befundlage hat sich in den letzten 30 Jahren wenig geändert.10 Gleichwohl muss konzediert werden, dass nach PISA 2000 die domänenspezifischen Herausforderungen des Textverstehens und der Schulbuchnutzung weiter
5 Vgl. dazu u. a. jüngst: Bildungssprachliche Kompetenzen in der deutschen Sprache stärken. Empfehlung der KMK vom 05. 12. 2019. Abzurufen unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Da teien/pdf/PresseUndAktuelles/2019/2019-12-06_Bildungssprache/2019-368-KMK-Bildungs sprache-Empfehlung.pdf, aufgerufen am 25. 04. 2020. 6 Vgl. u. a. Gerhard Schoebe: Quellen, Quellen, Quellen … Polemik gegen ein verbreitetes Unterrichtskonzept. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 34 (1983) H. 5, S. 298–343; Armin Reese: Texte verstehen. In: Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Verstehen und Verständigen (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik, Bd. 2). Pfaffenweiler 1990, S. 61–71. 7 Bodo von Borries: Das Geschichts-Schulbuch in Schüler- und Lehrersicht. Einige empirische Befunde. In: Internationale Schulbuchforschung. 17 (1995), S. 45–60, hier S. 58. 8 Ebd., S. 54. 9 Ebd. 10 Vgl. Ulrike Kipman/Christoph Kühberger: Einsatz und Nutzung des Geschichtsschulbuches. Eine Large-Scale-Untersuchung bei Schülern und Lehrern. Wiesbaden 2020, S. 144.
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Saskia Handro
profiliert wurden. So haben von Borries u. a.11 oder Martens12 den Zusammenhang von epistemischem Wissen und Schulbuchverständnis aufgezeigt, Beilner und Langer-Plän die Divergenzen zwischen Alltags- und Quellensprache als fachspezifisches Rezeptionsproblem markiert,13 Kipmann und Kühberger die unterrichtliche Methodik der Schulbuchnutzung problematisiert14 oder Bramann15 sowie Brauch16 die Aufgabenkultur in Geschichtslehrwerken kritisch beleuchtet. Diese neueren Befunde erhärten, dass mangelndes Schulbuchverständnis nicht länger als fächerübergreifendes Problem defizitärer Lesefähigkeit delegiert werden kann, sondern als Herausforderung heterogenitätssensiblen und kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts diskutiert werden muss.17 Insofern bietet die interdisziplinäre Debatte um fachintegrierte Sprachbildung und individuelle Sprachförderung neue Anregungen, die Sprache der Geschichtslehrbücher stärker als Lerngegenstand, Lernmedium und Lernstruktur zu berücksichtigen. Das bedeutet fachspezifische sprachliche Hürden zu reflektieren, die fachlichen Funktionen grammatikalischer und syntaktischer Mittel zu systematisieren und in didaktischer Absicht für Lehrende und Lernende explizit zu machen, aber auch die epistemisch-diskursive Funktion von Textgattungen im Fachunterricht didaktisch zu nutzen sowie Schreib- und Leseprozesse aufgabenbasiert als historische Lernprozesse zu strukturieren. Mithin erfordert die Anerkennung sprachlicher Vielfalt, etablierte Formen der Schul-
11 Vgl. Bodo von Borries u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schülerbefragung im Deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005, v. a. S. 82. 12 Vgl. Matthias Martens: Schulformunterschiede im Umgang mit Darstellungen von Geschichte: Hauptschule, Realschule und Gymnasium im Vergleich. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 57–79. 13 Vgl. Martina Langer-Plän: Problem Quellenarbeit. Werkstattbericht aus einem empirischen Projekt. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003) H. 5/6, S. 319–336; Dies./ Helmut Beilner: Zum Problem historischer Begriffsbildung. In: Hilke Gu¨ nther-Arndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen (Zeitgeschichte und Zeitverständnis, Bd. 14). Berlin 2006, S. 215–249. 14 Vgl. Kipman/Kühberger (Anm. 10). 15 Vgl. Christoph Bramann: Arbeitsaufträge und Kompetenzen. Geschichtsschulbücher im Kontext einer fachspezifischen Aufgabenkultur. In: Christoph Kühberger u. a. (Hrsg.): Das Geschichtsschulbuch. Lehren – Lernen – Forschen (Salzburger Beiträge zur Lehrer/Innen/ Bildung. Der Dialog der Fachdidaktiken mit Fach- und Bildungswissenschaften, Bd. 6), S. 161–184. 16 Nicola Brauch: »Fasse den Verfassertext zusammen!« Aufgaben im Geschichtsschulbuch – eine explorative Analyse. In: Ebd., S. 185–205. 17 Vgl. Saskia Handro: Historisches Erzählen (lehren) lernen. Potentiale sprachsensiblen Geschichtsunterrichts. In: Christoph Kühberger/Waltraud Schreiber/Béatrice Ziegler (Hrsg.): Geschichtsdidaktischer Zwischenhalt. Beiträge aus der Tagung »Kompetent machen für ein Leben in, mit und durch Geschichte« in Eichstätt vom November 2017. Münster 2019, S. 126– 133.
Sprachsensibel oder geschichtsbewusst?
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buchkonstruktion und Schulbuchnutzung in Hinblick auf Potenziale historischer Sprachbildung und narrativer Kompetenzförderung zu überdenken. Dies scheint längst überfällig, denn die sprachlichen Hürden in Geschichtslehrwerken wurden wiederholt markiert.18 Neben fachspezifischen Herausforderungen wie der Historizität der Quellensprache oder der Komplexität historischer Begriffe stehen vor allem Verfassertexte aufgrund ihrer Informationsdichte sowie mangelnden Kohärenz schon länger in der Kritik. Pandel betonte zudem, dass Schulbuchautoren wie Historiker eher einen Individualstil pflegten.19 Dies erschwert die Wiedererkennbarkeit von Text- und damit historischen Erzählstrukturen. Zudem sind Quellen- und Darstellungskritik im Geschichtsunterricht unabdingbare, aber anspruchsvolle fachspezifische Lesestrategien, die aufgabenbasiert vermittelt werden müssen. An Problembewusstsein mangelt es also nicht. Doch wie reagierten und reagieren Schulbuchverlage auf die ernüchternden Befunde zum Schulbuchverständnis und vor allem auf die aktuellen Herausforderungen zum Umgang mit sprachlicher Vielfalt? In systematisierender Absicht lassen sich vier Strategien unterscheiden. Erstens setzen die Schulbuchverlage auf defensive Strategien der Textkürzung und Textvereinfachung.20 Dies zeigt sich vor allem beim Vergleich von Geschichtslehrwerken unterschiedlicher Schulstufen und Schulformen.21 Neben der Reduktion der Textlänge und dem Abbau von Textschwierigkeiten sucht man Lernende durch Visualisierungshilfen (Karten, Bildquellen, Rekonstruktionszeichnungen), personalisierende Zugänge oder Gegenwartsbezüge bei der Vorstellungsbildung zu unterstützen. Diese Formen der Lernerorientierung folgen den Prämissen der Textverständlichkeitsforschung. Sie führen allerdings dazu, dass vor allem Lernende der Haupt- und Realschulen kaum systematisch an komplexere Texte herangeführt werden. Zweitens gewinnt seit der Kompetenzorientierung nach 2000 die Vermittlung metakognitiver Strategien an Bedeutung. Lernende werden auf Methodenseiten 18 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Was macht ein Schulbuch zu einem Geschichtsbuch? Ein Versuch über Kohärenz und Intertextualität. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung (Zeitgeschichte und Zeitverständnis, Bd. 16). Berlin 2011, S. 15–38; Viola Schrader: Geschichte als narrative Konstruktion. Eine funktional-linguistische Analyse von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern (Zeitgeschichte und Zeitverständnis, Bd. 26). Berlin 2013. 19 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Fachtexte. In: Ders./Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010, S. 84–97, hier S. 86. 20 Vgl. dazu u. a. Geschichte real. Cornelsen: Berlin 2012. 21 Vgl. dazu z. B. zum Thema Stadtentstehung im Mittelalter: Mosaik D2. Vom Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg. Oldenbourg: München 2008, S. 63; Geschichte Real 2. NordrheinWestfalen (2012). Cornelsen: Berlin 2012, S. 56; Geschichte und Gegenwart 2. Schöningh: Paderborn 2012, S. 85.
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explizit in Lese- und Schreibstrategien eingeführt und damit beim strategiebasierten Umgang mit Darstellungs- und Verfasserbuchtexten unterstützt. Allerdings konzentrieren sich die Sonderseiten vor allem auf den Einsatz allgemeiner Lesestrategien – wie Markieren, Stichworte anfertigen oder eine Mind Map erstellen.22 Diese methodischen Ansätze der fachintegrierten Leseförderung müssten noch deutlicher fachspezifisch konturiert werden.23 Drittens reagieren Schulbuchverlage mit differenzierenden Lehrwerken auf die Diversitätsdebatte der letzten Dekade. Differenzierung ist hier vor allem auf der Ebene der Anforderungsniveaus der Aufgabenstellungen zur Texterschließung bzw. der Schreibaufgaben angelegt. Zudem offerieren Lösungshilfen am Ende der Lehrwerke methodische Hinweise, Scaffolds, aber auch Lückentexte zur Texterschließung, die bedarfsorientiert genutzt werden können.24 Offen bleiben dabei Fragen der Lernprogression. Viertens sind sprachsensible Lehrwerke bzw. ergänzende Lehrmittel ein neues Segment auf dem Schulbuchmarkt, das auf individuelle sprachliche Unterstützungs- und Förderbedarfe im inklusionsorientierten Geschichtsunterricht25 reagiert. Zum einen werden für sprachschwache Lernende mit Förderbedarf Verfasser- und Quellentexte in Einfacher Sprache zur Verfügung gestellt, um gemeinsames Lernen in inklusiven Lerngruppen zu ermöglichen.26 Hier steht der Abbau sprachlicher Barrieren im Vordergrund. Davon zu unterscheiden sind zum anderen Lehrmittel für Lernende mit Deutsch als Zweitsprache, die einen fachintegrierten Spracherwerb anstreben. Folglich stehen hier der Aufbau eines Fachwortschatzes sowie die Vermittlung grammatikalischer und syntaktischer Strukturen stärker im Vordergrund.27 Die Methoden der Schulbucharbeit folgen in erster Linie fremdsprachdidaktischen Ansätzen. 22 Vgl. dazu u. a. Ulrich Baumgärtner/Klaus Fieberg (Hrsg.): Horizonte 2. Geschichte Gymnasium Nordrhein-Westfalen. Braunschweig 2008, S. 95 u. S. 128. Auf die Anwendung allgemeiner Lesestrategien zielen auch Begleitmaterialien zu Lehrwerken wie »Entdecken und Verstehen« u. a. von Silvia Nartschick: Lesetraining Geschichte. 4 Bde. Berlin 2010–2013. 23 Vgl. dazu Saskia Handro: Geschichte lesen, aber wie? Plädoyer für eine geschichtsdidaktische Profilierung von Lesestrategien. In: Thomas Sandkühler u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 17). Göttingen 2018, S. 275–293. 24 Vgl. u. a. Sven Christoffer u. a.: Zeitreise 1. Differenzierende Ausgabe. Stuttgart 2017. 25 Vgl. Saskia Handro: Sprache und Diversität im Geschichtsunterricht. In: Sebastian Barsch u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2020, S. 93–116. 26 Vgl. u. a. Christine Dzubiel: zeitreise 2. Arbeitsheft Sprachförderung. Klett: Stuttgart/Leipzig 2018; Christine Fink u. a.: Klick! 2. Geschichte. Cornelsen: Berlin 2008. 27 Vgl. u. a. Yudakal Cakir-Dikkaya: prima ankommen im Fachunterricht. Geschichte – Erdkunde – Politik. Arbeitsbuch DaZ. Klasse 7–10. Cornelsen: Stuttgart 2017; Sabine Nowack/ Tiffany Powell: Geschichtsunterricht mit Flüchtlingskindern 5–7. Arbeitsblätter mit darauf abgestimmten Wortkarten: Sofort-Hilfe für Lehrer ohne DaZ-Kenntnisse. Auer: Augsburg 2017.
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Die skizzierten Entwicklungen auf dem Schulbuchmarkt bestätigen, dass sprachliche Vielfalt als Normalität des Geschichtsunterrichts zunehmend anerkannt und gleichzeitig als Faktor der Schulbuchproduktion ernst genommen wird. Trotz unterschiedlicher Strategien und Adressatengruppen eint die Lehrwerke das Ziel, die literalen Voraussetzungen der Lernenden zu berücksichtigen, indem sprachliche Barrieren reduziert und Lernende beim Lesen und Schreiben im Fach Geschichte aufgabenbasiert unterstützt werden, um Lesen und Schreiben als Denk- und Lernwerkzeuge nutzen zu können. Insofern reagieren neuere Geschichtslehrwerke auf die von Oleschko und Moraitis im Ergebnis von Schulbuchanalysen pointiert formulierte Forderung, dass ein »Fachunterricht, der mit sprachlichen Strukturen arbeitet, die den meisten Lernenden fremd sind bzw. zu Schwierigkeiten führen, […] diese große Schülergruppe [der sprachschwachen Lerner] nicht ignorieren [darf], sondern […] mit geeigneten Arbeitstechniken und Methoden allen Lernenden ermöglichen [muss], die Zielperspektiven des Unterrichts zu erreichen.«28 Allerdings müssen auch sich abzeichnende Defizite sprachsensibler und differenzierender Lehrwerke thematisiert werden. Diese betreffen insbesondere die Verzahnung von sprachsensiblen Strategien und historischer Kompetenzentwicklung. Denn durch Textvereinfachungen verschwinden die spezifischen Strukturen historischen Erzählens, und sprachlich vermittelte Alteritätserfahrungen werden nivelliert. Häufig konzentrieren sich lese- oder sprachdidaktische Strategien auf die inhaltliche Reproduktion von Texten, so dass überholte Vorstellungen historischen Lehrens und Lernens revitalisiert werden könnten. Mit Blick auf diese geschichtsdidaktischen Defizite zeigt sich die Tendenz, dass ›sprachsensible Lehrwerke‹ in erster Linie individuelle Sprachförderung und gemeinsames inhaltliches Lernen ermöglichen. Die systematische Entwicklung narrativer Kompetenzen ist dagegen nachrangig, denn Aufgabenformate zur Vermittlung, Erschließung und Anwendung fachspezifischer Sprachstrukturen und Textroutinen, d. h. Lernangebote zur rezeptiven und produktiven Auseinandersetzung mit Strukturen historischen Erzählens, finden sich selten. Folglich bleiben bislang Potentiale einer Integration von sprachlicher und fachlicher Förderung ungenutzt. Dies darf jedoch keineswegs allein als Defizit Schulbuchkonstruktion beschrieben werden. Vielmehr treten nun ungelöste Probleme der empirischen Fundierung und Operationalisierung narrativer Kompetenz zu Tage, denn die Konstruktion sprachsensibler Lehrwerke stellt die Macher*innen vor mindestens 28 Sven Oleschko/Anastasia Moraitis: Die Sprache im Schulbuch. Erste Überlegungen zur Entwicklung von Geschichts- und Politikschulbüchern unter Berücksichtigung sprachlicher Besonderheiten. In: bildungsforschung 9 (2012) H. 1, S. 11–46, hier S. 2 (https://www.pedocs. de/volltexte/2013/8306/pdf/BF_2012_1_Oleschko_Moraitis_Die_Sprache_im_Schulbuch.pdf, aufgerufen am 25. 04. 2020).
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drei Herausforderungen: Erstens müssen sprachliche Barrieren adressaten- und lernzielorientiert reflektiert und abgebaut werden. Zweitens sollen Lernende aufgabenbasiert beim Lesen und Schreiben von Geschichte(n) unterstützt werden. Drittens sollen Verfasser- und Darstellungstexte sprachsensibler Geschichtslehrwerke (Sprach)Modelle historischen Erzählens repräsentieren, um Lernende in didaktischer Absicht systematisch beim Aufbau narrativer Kompetenz und damit bei der Entwicklung von Geschichtsbewusstsein zu unterstützen. Trotz der neuen Herausforderungen sprachlicher Vielfalt sieht man sich daher bei der Konstruktion von sprachsensiblen Geschichtslehrwerken erneut mit der altbekannten geschichtsdidaktischen Gretchenfrage konfrontiert: »Wie schreibt man Geschichte in didaktischer Absicht?«29
3.
Geschichtsbewusst? Die Sprache der Geschichtslehrwerke als geschichtsdidaktisches Problem
Jenseits der Feststellung von Bernhardt, dass »[n]arrative Kompetenz […] ein geschichtstheoretischer ›Höhenkamm‹-Diskurs« sei, der »für eine konkrete fachsprachliche Unterrichtsarbeit noch nicht ausgereift« wäre,30 ist die Frage, wie man Geschichte in didaktischer Absicht schreiben könne, so alt wie das Unterrichtsfach. Gerade ein Blick in die Disziplin- und Unterrichtsfachgeschichte vergegenwärtigt, dass Paradigmenwechsel in Zielen, Funktionen und Strukturen des Geschichtsunterrichts immer wieder ein Nachdenken über erzähldidaktische Konsequenzen provozieren.31 Zwar soll an dieser Stelle keine Geschichte historischen Erzählens in didaktischer Absicht präsentiert werden. Jedoch kann schon ein kurzer Abriss den Zusammenhang von lerntheoretischen Prämissen, Lernzielen und erzähltheoretischen Systematisierungsansätzen illustrieren und wiederkehrende Herausforderungen verdeutlichen. Zudem bietet eine kurze Historisierung Orientierung für mögliche Neuperspektivierungen kompetenz29 Pandel (Anm. 18), hier S. 37. 30 Markus Bernhardt/Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte. In: Geschichte lernen 31 (2018) H. 182, S. 2–9, hier S. 4. 31 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Entwicklung der didaktischen Darstellung: Katechese – Erzählung – narrative Rekonstruktion. Eine Diskussionsbemerkung. In: Karl-Ernst Jeismann/Siegfried Quandt (Hrsg.): Geschichtsdarstellung. Göttingen 1982, S. 39–42; Ursula A. J. Becher: Schulbuch. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 1999, S. 45–69, hier S. 47–57. Dass das Nachdenken über die Sprache der Geschichtslehrwerke immer eine entscheidende Dimension der Schulbuchkonstruktion gewesen ist, vergegenwärtigt ein Blick in die Vorworte historischer Geschichtslehrwerke. Vgl. dazu Wolfgang Jacobmeyer: Das deutsche Schulgeschichtsbuch 1700–1945. Die erste Epoche seiner Gattungsgeschichte im Spiegel der Vorworte. 3 Bde. Berlin 2011.
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orientierten und heterogenitätssensiblen historischen Erzählens in Geschichtslehrwerken – und sie schützt vor permanenten Neuentdeckungen. Bereits Historiker der Frühaufklärung wie u. a. August Ludwig Schlözer32 suchten die Katechese als Vermittlungsform durch darstellende Erzählungen abzulösen, die der Kindersprache entsprechen sowie »lebhaft und faßlich«33 seien sollten. Auch Droysen unterschied in seiner »Historik« aus dem Jahre 1868 die didaktische Darstellung für die »Bildungszwecke der Jugend«34 von der untersuchenden, erzählenden und diskursiven Darstellung im wissenschaftlichen Sinne. Während so die pädagogisch ausgerichtete Historiografie der Aufklärung und des Historismus die kindgemäße Geschichtserzählung in den Dienst der historischen Bildung stellte, setzte die maßgeblich mit dem Namen des Nürnberger Volksschullehrers Scheiblhuber verbundene, reformpädagogisch inspirierte Theorie der Geschichtserzählung aus dem Jahre 1919 auf Vorstellungs- und Gesinnungsbildung.35 Die bereits hier formulierten Gestaltungskriterien, wie Anschaulichkeit, Konkretion, Personalisierung, Lokalisierung, d. h. Strukturelemente der aristotelischen Dramentheorie, sah auch noch Ebeling in seiner »Didaktik und Methodik des Geschichtsunterricht« von 1973 als Gütekriterien der Geschichtserzählung, da diese den Lernenden ein Nach- und Miterleben sowie Einfühlen ermöglichten.36 Gleichwohl wurde dieses pädagogische Erzählkonzept vor allem für den Lehrervortrag konzipiert und damit immer auch als Gegenpol oder als Ergänzung zu analytisch-wissenschaftlichen Darstellungstexten verstanden, die mit dem Aufkommen der Sozial- und Strukturgeschichte in den späten 1970er und 1980er Jahren dann Konjunktur hatten.37 Mit dem geschichtsdidaktischen Paradigma des Geschichtsbewusstseins geriet die Geschichtserzählung spätestens in den 1970er Jahren als Medium eines
32 Vgl. August Ludwig von Schlözer: Vorbereitung zur WeltGeschichte für Kinder. Ein Buch für Kinderlehrer, hrsg. von Marko Demantowsky/Susanne Popp. Göttingen 2011. 33 Zit. nach Wolfgang Hasberg: Klio im Geschichtsunterricht. Neue Perspektiven für die Geschichtserzählung im Unterricht? In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997) H. 12, S. 708–726, hier S. 714. 34 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. v. Rudolf Hübner. München 1958, S. 362. 35 Hasberg (Anm. 33), S. 717. 36 Vgl. Hans Ebeling: Didaktik und Methodik des Geschichtsunterrichts. Hannover 5. Aufl. 1973, S. 104–106. 37 Die Spannung zwischen geschichtswissenschaftlicher Darstellung und Geschichtspräsentationen für ein breiteres Publikum war auch für die geschichtswissenschaftliche Diskussion der 1980er Jahre als Frage der Popularisierung (heute Wissenschaftskommunikation) zentral. Vgl. dazu Wolfgang Hardtwig: Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert. In: Ders./Erhard Schütz (Hrsg.): Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2005, S. 11–34.
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Gesinnungsunterrichts ins Kreuzfeuer der Kritik.38 Und mit dem Lehrwerk »Fragen an die Geschichte« von Heinz-Dieter Schmid liegt bekanntermaßen ein Versuch vor, Lernenden allein durch Quellenarbeit eigenständige Urteilsbildung zu ermöglichen. Schnell wurden aber auch die (sprachlichen) Grenzen der Quellenorientierung kritisiert und die keineswegs obsolete didaktische Funktion von Verfassertexten zur Vermittlung von Überblicks- und Kontextwissen betont.39 Wenngleich der methodisch-didaktische Status der Verfassertexte in Schulgeschichtsbüchern nach wie vor umstritten ist, fehlt es seit den 1980er Jahren nicht an Rehabilitationsversuchen der Geschichtserzählung im Schulgeschichtsbuch oder an Forderungen nach einer »Erneuerung des Erzählens mit Augenmaß«.40 Unstrittig ist die narrative Struktur historischer Sinnbildung. Konsens besteht auch darüber, dass narrative Kompetenz im Zentrum historischen Lehrens und Lernens steht. Unscharf oder zumindest vielfältig sind jedoch die damit verbundenen erzähldidaktischen Konsequenzen für die Konstruktion von Schulgeschichtsbüchern. Um dieses Dilemma zu illustrieren, seien zumindest einige Ansätze genannt. Am wenigsten zugestimmt werden kann der Position Pandels, der Verfassertexte in Schulgeschichtsbüchern als »Derivate der Historiografie« oder als »Transformationen der Historiografie« charakterisiert, die in erster Linie auf Rekonkretisierung und Adressatenbezug zielten.41 Denn Verfassertexte werden so zum Wissensspeicher degradiert und nicht als didaktisch-methodisch relevante Textsorte oder gar als Modelltexte historischen Erzählenlernens potentialorientiert gesehen. Im Vergleich dazu rückte Schörken zum einen die Bedeutung der Vorstellungsbildung und Imagination ins Zentrum seiner erzähltheoretischen Überlegungen.42 Zum anderen diskutierte er alternative Erzählformen, um Konstruktionsprinzipien historischen Erzählens wie Perspektivität, Subjektivität
38 Vgl. dazu Schoebe (Anm. 6); Margarete Dörr: Quellen, Quellen, Quellen – und die Alternative? Erwiderung auf den Aufsatz von G. Schoebe. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 34 (1983) H. 5, S. 318–329. Resümierend dazu Dieter Riesenberger: Die Lehrererzählung im Geschichtsunterricht. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Historisch-politischer Unterricht. Stuttgart 1973, S. 41–69, hier S. 65; Joachim Rohlfes: Geschichtserzählung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997) H. 12, S. 736–742. 39 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Der grüne Wollfaden oder Was heißt »Geschichte erzählen« heute? In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 36 (1985) H. 10, S. 684–704, hier S. 698. 40 Vgl. Rolf Schörken: Das Aufbrechen narrativer Harmonie. Für eine Erneuerung des Erzählens mit Augenmaß. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997) H. 12, S. 727–735. Weitere disziplingeschichtliche Kontextualisierung in kommentierter Edition: Rolf Schörken: Demokratie lernen. Beiträge zur Politik- und Geschichtsdidaktik, hrsg. v. Thomas Sandkühler (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 38). Köln/Weimar/Wien 2017, S. 382–394. 41 Vgl. Pandel (Anm. 18), S. 20f. 42 Vgl. Rolf Schörken: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik. Paderborn 1994.
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oder Reduktion für Lernende sichtbar zu machen.43 Auch von Borries plädierte bereits 1988 für eine Modernisierung von Gestaltungskriterien der Geschichtserzählung, denn keine der von ihm gesichteten Mustererzählungen für den Geschichtsunterricht folge geschichtsdidaktischen Prinzipien wie Multiperspektivität oder Problemorientierung.44 Schmid unterschied für den Bereich der mündlichen Geschichtserzählung unterschiedliche Operationen historischen Denkens und damit verbundene didaktische Funktionen wie Informieren, Demonstrieren, Berichten (z. B. perspektivenkritisch, biografisch). Angesichts der Vielfalt von Strukturen und Formen historischen Erzählens plädierte er bereits 1982 für die Einführung eines erzählenden Lehrbuches, das im Unterschied zum klassischen Leitfaden den »nötigen Raum für vielseitige Erzählmuster und Perspektiven unter spezifisch curricularen Gesichtspunkten schaffen könnte«45 und eine Ergänzung zum quellenbasierten Arbeitsbuch wäre. Filser systematisierte ebenfalls Formen historischen Erzählens in didaktischer Absicht, um die »Fallhöhe zwischen Theorie und Praxis«46 zu überwinden, und er plädierte dafür, mit Lernenden die sprachlichen Strukturen von Modelltexten zu analysieren und diese in ihren eigenen Erzählungen anwenden zu lassen. Dieser Vorschlag gewinnt derzeit bei der methodischen Profilierung eines sprachsensiblen Geschichtsunterrichts an Bedeutung – allerdings nicht in Rezeption des geschichtsdidaktischen Diskurses der 1980er und 1990er Jahre, sondern als Import aus dem angloamerikanischen funktional-linguistischen Diskurs.47 Am deutlichsten stellte Rohlfes in seinem Beitrag »Formen und Maßstäbe der Darstellung im Schulgeschichtsbuch« (1989) die didaktisch-kommunikative Funktion von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern heraus. Er bezog sich dabei auf lernpsychologische Positionen von Ausubel und modellierte vor allem Verfassertexte als Repräsentationen »kognitiver Strukturen« des Faches, die als solche sprachlich bewusst zu machen und explizit zu vermitteln sind.48 In der Relektüre erweisen sich seine Vorschläge zur geschichtsbewussten Kon43 Vgl. Schörken (Anm. 40). 44 Vgl. Bodo von Borries: Erzählte Hexenverfolgung. Über legitime und praktikable Medien für die 5. bis 8. Klasse. In: Geschichte lernen 1 (1988) H. 2, S. 41–49. 45 Heinz Dieter Schmid: Zur Geschichtserzählung im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I. In: Siegfried Quandt/Hans Süssmuth (Hrsg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen. Göttingen 1982, S. 57–73, hier S. 67. 46 Karl Filser: »Ohne Imagination keine Geschichte, ohne Sprache keine Imagination!« Marginalien zur Diskussion um die Erzählmethode. In: Herbert Raisch/Armin Reese (Hrsg.): Historica Didactica. Geschichtsdidaktik heute. Idstein 1997, S. 53–64, hier S. 62. 47 Hier werden vor allem Konzepte von Carolin Coffin: Historical discourse. The language of time, cause and evalution. New York 2006. S. 173, rezipiert. Vgl. dazu auch Handro (Anm. 25), S. 106. 48 Joachim Rohlfes: Formen und Maßstäbe der Darstellung im Schulgeschichtsbuch. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 40 (1989) H. 12, S. 597–616, hier S. 598.
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struktion von Verfassertexten ebenfalls als anregend für sprachsensible Neuperspektivierungen, die in den folgenden Beiträgen der Sektion weiter konkretisiert werden. Denn Rohlfes modellierte Kategorien historischen Denkens als didaktisch zu explizierende Erzählmuster, er verweist auf die Bedeutung lernpsychologischer Ansätze der Vorwissensaktivierung und Textstrukturierung für die Textkonstruktion und -rezeption und er unterscheidet in didaktischer Absicht Typen der berichtenden, beschreibenden, argumentierenden und vergleichenden Darstellung. Zudem plädierte er dafür, Triftigkeit und Kontroversität als fachliche Erzählprinzipien in Verfassertexten sprachlich zu markieren, Sachund Werturteile bei der Textstrukturierung deutlicher zu unterscheiden bzw. auch in Verfassertexten dem Gebot der Multiperspektivität zu folgen. Dieser Blick in die Disziplingeschichte vergegenwärtigt, dass aktuelle Forderungen und Ansätze, Strukturen historischen Denkens sprachlich explizit zu repräsentieren49 und konstruktionstransparente Verfassertexte aufzuwerten, zumindest implizit an diese Überlegungen anknüpfen.50 In jedem Fall scheint es angezeigt, diese frühen Positionen als Bausteine für die Konstruktion von sprachsensiblen Geschichtslehrwerken neu zu bewerten. Derzeit muss allerdings konzediert werden, dass die geschichtsdidaktische Erzähldiskussion nur wenige Anregungen für eine Lösung praktischer Darstellungs- und Vermittlungsprobleme im Schulbuch liefert. Eine »didaktische Topik«, die Erzähltypen und Formen didaktischer Darstellung als Teil einer Theorie des Schulgeschichtsbuches modelliert, und eine »historische Linguistik«, die sprachliche Strukturen historischen Erzählens in didaktischer Absicht systematisiert, stellt nach wie vor ein Desiderat dar.51 Gleichwohl erhält diese Forderung von Pandel nun bei der Profilierung sprachsensibler Geschichtslehrwerke neues Gewicht.
4.
Geschichtsbewusst und sprachsensibel! Perspektiven für die Konstruktion von Geschichtslehrwerken
Wie problematisiert, sieht sich die Debatte um die Konstruktion sprachsensibler Lehrwerke vor vielfache Herausforderungen gestellt. Zum einen gilt es, diagnostische und methodische Fragen im Spannungsfeld von Geschichts- und 49 Christoph Kühberger/Martin Nitsche: Historische Narrationen wagen – mit Schüler*innen Vergangenheit re-konstruieren. In: Oliver Auge/Martin Göllnitz (Hrsg.): Landesgeschichte an der Schule. Stand und Perspektiven. Memmingen 2018, S. 153–184. 50 Vgl. dazu Waltraud Schreiber u. a.: Das multimediale Schulbuch – kompetenzorientiert, individualisierbar und konstruktionstransparent. In: Dies. u. a. (Hrsg.): Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik. Stuttgart 2013, S. 212–232. 51 Pandel (Anm. 18), S. 37.
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Sprachdidaktik zu diskutieren. Zum anderen ist die Kluft zwischen Theorie und Praxis sprachsensiblen und narrativitätsorientierten Geschichtsunterrichts unübersehbar. Und nicht zuletzt ist das Verhältnis von sprachlicher Förderung und historischer Kompetenzentwicklung weiter empirisch zu fundieren. Unstrittig ist dagegen, dass die Berücksichtigung der sprachlichen Dimension historischen Lehrens und Lernens für eine lernerorientierte Operationalisierung historischer Kompetenzentwicklung unabdingbar ist. Geschichtslehrwerken kommt bei der Implementierung »sprachsensibler« Konzepte eine wesentliche Transfer- und Innovationsfunktion zu, vor allem weil Lehrkräfte im Umgang mit sprachlicher Vielfalt Unterstützung benötigen. Angesichts der beschriebenen Dilemmata der Schulbuchkonstruktion eint die im folgenden dokumentierten Beiträge der Sektion das Anliegen, Schulgeschichtsbücher als ›geschichtsbewusste‹ Medien zu profilieren, die sprachsensible Strategien nutzen, um narrative Kompetenz zu fördern. Damit zeichnen sprachsensible Geschichtslehrwerke vier Merkmale aus: 1. Sie berücksichtigen die sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden. 2. Sie repräsentieren sprachlich explizit und in didaktischer Absicht vielfältige Muster und Formen historischen Erzählens und bieten so Möglichkeiten zur Entwicklung und Ausdifferenzierung narrativer Kompetenz. 3. Sie unterstützen Lernende und Lehrkräfte aufgabenbasiert bei der fachspezifischen Strukturierung von Lese- und Schreibprozessen und werten Lesen und Schreiben als historische Denk- und Lernwerkzeuge auf. 4. Sie bieten bedarfsorientiert Möglichkeiten sprachsensibler Differenzierung. Die interdisziplinäre Debatte zum Umgang mit sprachlicher Vielfalt bot für die Sektion den Anlass, geschichtsdidaktische Konzepte zur Schulbuchkonstruktion aus unterschiedlichen Perspektiven zu prüfen und vor allem sprachsensible Förderpotentiale geschichtsdidaktisch zu profilieren. Dabei kann und soll im Folgenden keine sprachsensible Schulbuchtheorie vorgelegt werden, aber es werden Perspektiven und Bausteine für eine Konstruktion sprachsensibler Geschichtslehrwerke an konkreten Beispielen zur Diskussion gestellt. Durch exemplarische Analyse, durch konkretisierende Umsetzungsbespiele sowie durch Integration unterschiedlicher Fachperspektiven versuchen die Beiträge so die vielfach beklagte Schere zwischen Theorie und Praxis zu verringern bzw. einen stärker pragmatisch ausgerichteten Diskurs anzuregen, von dem nicht zuletzt die Konstruktion von sprachsensiblen Schulgeschichtsbüchern profitieren könnte. Claudia Schmellentin, Sprachwissenschaftlerin, Sprachdidaktikerin und selbst Autorin von Sprachlehrmitteln, entfaltet im ersten Beitrag der Sektion an einem exemplarischen Verfassertext Textverstehensprobleme und lesepsychologische Prozesse des Textverstehens aus sprachdidaktischer Perspektive. Auf Basis empirischer Befunde diskutiert sie Möglichkeiten und Grenzen einer ausschließlich
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sprachlichen Textvereinfachung und begründet die Notwendigkeit der strategischen Unterstützung beim Textverstehen. Viola Schrader konzentriert sich auf den gleichen Verfassertext, jedoch aus geschichtsdidaktischer Perspektive. Sie analysiert fachspezifische Probleme der Textkonstruktion und stellt alternative sprachsensible Möglichkeiten zur expliziten Repräsentation von Strukturen historischen Denkens vor. Mit ihrem Beitrag plädiert sie zudem für eine auf historische Erzählstrukturen fokussierte Strukturierung von Leseprozessen durch den Einsatz von fachspezifisch profilierten Lesestrategien. Während sich die ersten beiden Beiträge aus sprach- bzw. geschichtsdidaktischer Perspektive auf die sprachsensible Gestaltung von und den strategischen Umgang mit Verfassertexten konzentrieren, widmen sich Michael Sauer und Jana Schumann der Konstruktion sprachsensibler Geschichtslehrwerke, d. h. die Autor*innen nehmen hier die ganze Vielfalt sprachsensibler Bausteine entlang der Strukturelemente von Geschichtslehrwerken in den Blick. Aus der Praxis der Schulbuchmachens werden in dem dritten Beitrag der Sektion Möglichkeiten und Grenzen der sprachsensiblen Konstruktion von Geschichtslehrwerken am konkreten Beispiel der aktuellen Ausgabe des Lehrwerkes »Geschichte und Geschehen« für die Klassenstufe 5/6 erörtert. In der abschließenden Diskussion der Beiträge im Plenum wurde erneut die Notwendigkeit einer weiteren geschichtsdidaktischen Systematisierung sprachsensibler Konzepte betont und zugleich markiert, dass Fragen der Lernprogression für die Integration von sprachlicher und fachlicher Kompetenzentwicklung dringend erörtert werden müssen – nicht zuletzt weil sich dieses Problem bei der Schulbuchkonstruktion als zentrale Herausforderung erweist. Offen und damit empirische Forschungsaufgabe bleibt die Frage nach der Wirksamkeit sprachsensibler Strategien. Insofern schloss die Sektion mit der Aufforderung, geschichtsdidaktische Schulbuchtheorie, die Praxis der Schulbuchkonstruktion und empirische Wirksamkeitsforschung enger zu verzahnen, gerade weil die Berücksichtigung und fachspezifische Förderung sprachlicher Kompetenzen Lernender angesichts der sprachlichen Heterogenität für einen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht unabdingbar ist und bleibt.
Claudia Schmellentin
Gestaltung von Verfassertexten in Geschichtsschulbüchern. Desiderate, Möglichkeiten und Grenzen aus sprachdidaktischer Perspektive
1.
Einleitung
Das Schulbuch ist nach wie vor eines der wichtigsten Medien im Unterricht. Im Lehrmittel wird (Experten-)Wissen didaktisch so aufbereitet, »dass es zur Planung, Initiierung, Unterstützung und Evaluation schulischer Informations- und Kommunikationsprozesse (Lernprozesse) dient.«1 Als Medium der Wissensvermittlung spielt dabei Sprache eine zentrale Rolle und trotz der multimedialen Möglichkeiten, die modernen Lehrmitteln zur Verfügung stehen, dominiert die schriftliche Sprache das Schulbuch. Mit anderen Worten: Grundvoraussetzung dafür, dass Lernen mit Schulbüchern gelingt, sind einerseits ausgebaute literale Kompetenzen seitens der Lernenden, andererseits aber auch die Passung der sprachlichen Anforderungen in den Lehrmitteln zu den sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden. Dies gilt insbesondere für das Fach Geschichte, denn »Geschichte ist ein ›Lesefach‹. […] Geschichte ist Text und wesentliche fachliche Kompetenzen […] verlangen Textverstehen und historische Kompetenzen«.2 Das heißt: Literale und historische Kompetenzen bedingen einander, der Aufbau historischer Kompetenzen setzt das Vorhandensein literaler Kompetenzen voraus und literale Kompetenzen sind Teil der historischen Kompetenz. Studien – auch im Fach Geschichte – weisen allerdings darauf hin, dass große Diskrepanzen zwischen den in Lehrtexten geforderten und den bei Schülern und Schülerinnen vorhan-
1 Walter Wiater: Das Schulbuch als Gegenstand pädagogischer Forschung. In: Ders. (Hrsg.): Schulbuchforschung in Europa. Bestandaufnahme und Zukunftsperspektiven. Bad Heilbrunn 2003, S. 11–22, hier S. 12. 2 Saskia Handro/Vanessa Kilimann: Textverstehen im Geschichtsunterricht – Ein Projekt zur Professionalisierung historischer Leseförderung (ProLeGu). In: Marion Bönninghausen (Hrsg.): Praxisprojekte in Kooperationsschulen. Fachdidaktische Modellierung von Lehrkonzepten zur Förderung strategiebasierten Textverstehens in den Fächern Deutsch, Geographie, Geschichte und Mathematik. Münster 2019, S. 165–222, hier S. 267.
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Claudia Schmellentin
denen Lesekompetenzen bestehen.3 Einig sind sich die Akteure aus Wissenschaft, Bildungsverwaltung und Praxis darin, dass dieses Missverhältnis von vorhandenen und für erfolgreiches Lernen notwendigen Lesekompetenzen zu überwinden ist, um den sprachbedingten schulischen Misserfolg vieler Lernender zu verringern und damit auch die Chancengerechtigkeit im Bildungswesen zu verbessern.4 Weniger einig ist man sich hingegen darin, welche Maßnahmen zur Überwindung der Diskrepanz zu treffen sind. So zielen die einen Forderungen eher darauf, die Texte an die Verstehensmöglichkeiten der Lernenden anzupassen, z. B. durch Textvereinfachung oder Formulierung von Alternativtexten,5 andere plädieren dafür, die Lernenden in allen Fächern mittels gezielter Spracharbeit und Strategietrainings an die Texte heranzuführen.6 Bei der einen Maßnahme geht es darum, die Texte zu verbessern, bei der anderen darum, die Lernenden zu fördern. Lindauer und Schmellentin betonen allerdings, dass dies nicht gelingt, ohne auch die Lehrenden mitzudenken.7 Die Implementierung von sprachbewusstem Fachunterricht, bei dem auch die Lehrkräfte der nichtsprachlichen Fächer einen Sprachbildungsauftrag haben, lässt sich nur umsetzen, wenn diese das Verhältnis von Sprache und Fachlernen verstehen und befähigt werden, sprachbedingte Lernprozesse fachadäquat zu strukturieren.
3 Bodo von Borries/Claudia Fischer/Sibylla Leutner-Ramme u. a.: Schulbuchversta¨ndnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativquantitative Schu¨ ler- und Lehrerbefragung im Deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005. 4 Vgl. u. a. Michael Becker-Mrotzek/Hans-Joachim Roth: Sprachliche Bildung als Feld von sprachdidaktischer und erziehungswissenschaftlicher Forschung. In: Michael Becker-Mrotzek/Hans-Joachim Roth (Hrsg.): Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder. Münster/New York 2017, S. 11–36. 5 Vgl. u. a. Friedemann Schulz von Thun/Gerhild Go¨ bel/Reinhard Tausch: Verbesserung der Versta¨ndlichkeit von Schulbuchtexten und Auswirkungen auf das Versta¨ ndnis und Behalten verschiedener Schu¨ lergruppen. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht 20 (1973), S. 223– 234; Erich Starauschek: Ergebnisse einer Schu¨ lerbefragung u¨ ber Physikschulbu¨ cher. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 9 (2003), S. 135–146; Josef Leisen: Der Umgang mit Sachtexten im Fachunterricht. In: leseforum 2012/3, S. 1–15 (https://www.leseforum.ch/lei sen_2012_3.cfm, aufgerufen am 15. 02. 2020). 6 Vgl. u. a. Josef Leisen (Anm. 5); William Nagy/Diana Townsend: Words as Tools: Learning Academic Vocabulary as Language Acquisition. Reading Research Quarterly 47 (2012) 1, S. 91– 108; Catherine E. Snow: Academic Language and the Challenge of Reading for Learning About Science. In: Science 328 (2010) , S. 450–452 (http://www.sciencemag.org/cgi/doi/10.1126/sci ence.1182597, aufgerufen am 17. 02. 2020). 7 Vgl. Thomas Lindauer: Nicht im leeren Raum – Überlegungen zur sprachlichen Enkulturation im System Schule. In: Didaktik Deutsch 22 (2017) 42, S. 87–102; Claudia Schmellentin: Gedanken zur Implementierung von Sprachbewusstem (Fach-)Unterricht. In: Britta Hövelbrinks/Isabel Fuchs/Diana Maak u. a. (Hrsg.): Der-Die-DaZ – Forschungsbefunde zu Sprachgebrauch und Spracherwerb von Deutsch als Zweitsprache. Berlin/Boston 2018, S. 121– 136.
Gestaltung von Verfassertexten in Geschichtsschulbüchern
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Neben der Passung der Texte und der Lernenden braucht es also auch eine Passung der Lehrenden. Im Beitrag werden die Möglichkeiten und Grenzen text-, schüler- und lehrerseitiger Maßnahmen sowie deren Auswirkungen auf die Schulbuchentwicklung diskutiert. Ziel dieses sprachdidaktischen Beitrags soll es sein, einen Vorschlag für den sprachbewussten Umgang mit Verfassertexten in der Sekundarstufe I zu unterbreiten, der sowohl die Ziele historischen Lernens als auch die lernpsychologischen Voraussetzungen der Schüler und Schülerinnen der Sekundarstufe I mitberücksichtigt. Der Hauptfokus liegt auf der (lese-)didaktischen Strukturierung der Verstehensprozesse. Die theoretische Basis für eine solche sprachbewusste Strukturierung von (Lese-)Verstehensprozessen bilden die gängigen kognitionspsychologischen Textverstehensmodelle, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird.
2.
(Text-)Verstehen – ein aktiver Konstruktionsprozess
Aus kognitionspsychologischer Sicht wird Textverstehen als Interaktion von Leser bzw. Leserin und Text verstanden. Das Ergebnis einer gelingenden TextLeser-Interaktion ist die leserseitige Bildung eines kohärenten mentalen Modells des im Text dargestellten Inhalts. Dieser Prozess wird als aktiver Konstruktionsund Integrationsprozess verstanden, der sowohl von Personen- als auch von Textmerkmalen beeinflusst wird. Dabei werden drei Ebenen der kognitiven Textrepräsentation unterschieden:8 a) Oberflächenrepräsentation: Auf dieser Ebene werden die direkt erfassbaren Textmerkmale (graphemische, lexikalische und syntaktische Merkmale) wortwörtlich repräsentiert. Texte werden auf dieser Ebene im Wortlaut gespeichert. Die Bildung einer Textoberflächenrepräsentation erfordert kaum kognitiv anspruchsvolle Prozesse. Trotzdem ist die Bildung einer Oberflächenrepräsentation eine bedeutende Vorstufe für die Bildung eines mentalen Modells. Die Oberflächenrepräsentation ist wenig stabil und dem Kurzzeitgedächtnis zugeordnet. b) Propositionale Repräsentation (Textbasis): Auf der mittleren Ebene, der propositionalen Repräsentation, werden Inhalte von Texten in ihrem Zusammenhang repräsentiert. Auf dieser Ebene werden Formulierungen nicht nur wiedergegeben, sondern es werden lokale und globale Textrelationen 8 Vgl. u. a. Walter Kintsch: Comprehension: A Paradigm for Cognition. Cambridge 1998; Wolfgang Schnotz: Was geschieht im Kopf des Lesers? Mentale Konstruktionsprozesse beim Textverständnis aus der Sicht der Psychologie und der kognitiven Linguistik. In: Hendrik Blühdorn/Eva Breindl/Ulrich H. Waßner (Hrsg.): Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Berlin 2006, S. 222–238.
348
Claudia Schmellentin
unter Bezugnahme der Vorwissensstrukturen hergestellt, sodass Reformulierungen möglich werden. c) Mentales Modell (Situationsmodell): Auf dieser höchsten Ebene werden Textoberflächenelemente und propositionale Informationen mit Vorwissensstrukturen verknüpft, sodass eine stabile und im Langzeitgedächtnis abgespeicherte Vorstellung des Textinhaltes entsteht, die auch durch personenbezogene Vorstellungen angereichert ist. Auf dieser Verstehensebene können Inferenzen erzeugt und Kohärenzlücken vervollständigt werden. Die Repräsentationsebenen werden nicht in einem linearen Prozess sukzessive gebildet. Viel eher ist von einem komplexen Zusammenspiel aus textseitigen Konstruktions- und personenseitigen Integrationsprozessen auszugehen. Beeinflusst wird die gelingende Kohärenzbildung sowohl von Text- als auch von Personenmerkmalen.9 Um den Einfluss textseitiger Merkmale geht es im folgenden Abschnitt.
3.
Möglichkeiten und Grenzen textseitiger Maßnahmen
Schulische Fachtexte haben eine doppelte Funktion: Erstens transferieren sie fachliches Wissen und zweitens dienen sie dem Aufbau einer fachspezifischen Literalität, im englischen Sprachraum auch als Disziplinary Literacy10 bezeichnet. Um ihre wissenstransferierende Funktion entfalten zu können, sollten sie zwar mit Blick auf die Vorwissensbestände der Schüler und Schülerinnen so einfach wie möglich, aber zugleich auch fach- bzw. gegenstandsgerecht formuliert sein. Das heißt: Sie müssen manchmal anspruchsvoll formuliert sein, denn inhaltliche Komplexität spiegelt sich in der sprachlichen Komplexität wider. Weiter erfordert auch die Funktion der Texte beim Aufbau fachspezifischer literaler Kompetenzen, dass sie nicht ›ent-fachsprachlicht‹ werden, denn nur wer mit Fachsprache in Kontakt kommt, kann auch die fachlichen Konzepte und die dazu gehörende Sprache erlernen. Die im Folgenden zu diskutierenden textseitigen Maßnahmen gehen von diesen beiden Funktionen von Lehrtexten aus und fragen insbesondere danach, welche textseitigen Maßnahmen unter Berücksichtigung der fachlichen Ziele möglich sind. Dabei werden textlinguistische Perspektiven und empirische Befunde zur Wirksamkeit von Textanpassungen mit geschichtsdidaktischen Perspektiven verbunden. 9 Vgl. Anke Schmitz: Verständlichkeit von Sachtexten: Wirkung der globalen Textkohäsion auf das Textverständnis von Schülern. Berlin/Heidelberg 2016. 10 Vgl. Timothy Shanahan/Cynthia Shanahan: Teaching disciplinary literacy to adolescents: Rethinking content area literacy. In: Harvard Education Review 78 (2008), S. 40–59.
Gestaltung von Verfassertexten in Geschichtsschulbüchern
3.1
349
Textlinguistische Perspektive – Mögliche Ebenen der Textanpassung
Texte lassen sich auf der lexikalisch-semantischen, auf der morpho-syntaktischen sowie auf der textuell-pragmatischen Ebene verändern und damit verbessern. Dabei kann zwischen sprachlicher Oberfläche und tiefenstruktureller Textstruktur unterschieden werden. Veränderungen auf der Oberfläche sind sprachlich markiert, Veränderungen auf der textstrukturellen Ebene zeigen sich in der lerntheoretisch begründeten Organisation und Strukturierung der Informationen.11 In Textverständlichkeitsstudien wird häufig auf das Konzept der lokalen und globalen Textkohäsion rekurriert.12 Textkohäsion meint den durch sprachliche Mittel explizit hergestellten Textzusammenhang. Bei der lokalen Textkohäsion wird mittels Konnektoren (z. B. Pronomen, Wortwiederholungen, Synonymen usw.) der Zusammenhang zwischen Sätzen hergestellt, bei der globalen Textkohäsion können Verknüpfungen über benachbarte Sätze hinweg auch zwischen Texteilen explizit hergestellt werden. Hierzu zählen beispielsweise Überschriften, leserführende Elemente wie Explizierung der Textstruktur, Advance Organizer, Zusammenfassungen zentraler Inhalte oder auch explizite Verweise auf die Relevanz von Inhalten. Lokale und globale Kohäsionsmittel sind wie ein ›roter Faden‹13 auf der Textebene, der die mentale Kohärenzbildung unterstützt. Wie die kurze Darstellung der verschiedenen Ebenen der Textgestaltung zeigt, ist die Forderung, Schulbuchtexte zu verbessern, nicht trivial. So ist immer auch zu fragen, welche Veränderungen auf welchen Ebenen zu besserem Verstehen führen und inwieweit Veränderungen zur Verständlichkeit auf der einen Ebene die Verständlichkeit auf einer anderen negativ beeinflussen. Mittlerweile gibt es verschiedene Studien, die versuchen, die Wirksamkeit von Veränderungen am Text zu prüfen.14 Tatsächlich zeigen diese Studien, dass Textanpassungen nicht per se wirksam sind. Die Ergebnisse der Studien sind äußerst heterogen, denn sie zielen auf völlig unterschiedliche Anpassungsebenen. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Anlagen der Studien können im Moment noch wenig empirisch gesicherte Schlüsse für die Gestaltung von Lehrtexten für die Sekundarstufe I gezogen werden. Trotzdem zeigen sich gewisse Tendenzen.
11 Markus Nussbaumer: Was Texte sind und wie sie sein sollen. Ansätze zu einer sprachwissenschaftlichen Begründung eines Kriterienrasters zur Beurteilung von schriftlichen Schülertexten (Reihe Germanistische Linguistik 119). Tübingen 1991; Norbert Groeben: Die Verständlichkeit von Unterrichtstexten. Münster 2. Aufl. 1978. 12 Vgl. Schmitz (Anm. 9). 13 Ebd., S. 130. 14 Schmitz (Anm. 9), S. 110–113, gibt einen Überblick über die verschiedenen Studien.
350 3.2
Claudia Schmellentin
Textanpassungen und ihre Wirksamkeit
Die meisten Studien zur Wirksamkeit von Textanpassungen nehmen Studierende in den Blick. Wirksamkeitsstudien zu Anpassungen von Lehrtexten für die Sekundarstufe I gibt es bisher sehr wenige und zu Verfassertexten bisher noch keine, zumindest was den deutschsprachigen Raum betrifft. An den Ergebnissen der Studien zeigen sich jedoch gewisse Überschneidungen, aus denen vorsichtige Schlüsse für die Gestaltung von Verfassertexten gezogen werden können: Anpassungen, die nur auf der sprachformalen, lexikalischen und morphosyntaktischen Ebene vollzogen werden – z. B. durch Vermeidung der so genannt typischen lexikalischen und syntaktischen bildungssprachlichen Merkmale – erzielen kaum bzw. gar negative Effekte.15 Dass diese Anpassungen sogar zu negativen Effekten führen können, hat wohl damit zu tun, dass die Komplexitätsreduktion auf der sprachformalen Ebene auf Kosten der lokalen Kohäsion geht. So geht beispielsweise die Vermeidung von Nebensätzen häufig auch mit der Vermeidung von Konnektoren einher.16 Die vermeintliche Vereinfachung für die Bildung der Oberflächenrepräsentation erschwert in diesem Fall die lokale und globale Kohärenzbildung und damit die Bildung der propositionalen Repräsentation (Textbasis). Anders Studien, die die Kohäsion des Textes in den Blick nehmen: Tendenziell erzielen jene Studien Effekte, die sowohl die lokale als auch die globale Kohäsion anpassen.17 Auch Studien, die sowohl die sprachformale als auch die globale und lokale Kohäsion sowie die Textstruktur verändern, erzielen Effekte.18 Mit anderen Worten: Nach bisherigem Erkenntnisstand scheinen Textanpassungen nur wirksam zu sein, wenn sie mehrere Ebenen der Textanpassung berücksichtigen und wenn dadurch sowohl die lokale als auch globale Kohärenzherstellung explizit unterstützt wird. Die meisten hier kurz zitierten Studien entwickelten die Textanpassungen auf Basis der in 3.1 dargestellten textlinguistischen Kriterien. Eine Ausnahme bildet die NawiText-Studie.19 Im Zentrum standen hier nicht Textkomplexitätsmerk15 Vgl. u. a. Dominik Leiss/Madeleine Domenech/Timo Ehmke/Knut Schwippert: Schwer – schwierig – diffizil: Zum Einfluss sprachlicher Komplexität von Aufgaben auf fachliche Leistungen in der Sekundarstufe I. In: Dominik Leiss/Maike Hagena/Astrid Neumann u. a.: Mathematik und Sprache. Empirischer Forschungsstand und unterrichtliche Herausforderungen. Münster 2017, S. 99–125. 16 Ebd., S. 119. 17 Vgl. Schmitz (Anm. 9); Hendrik Härtig u. a.: Kann man Sachtexte vereinfachen? Ergebnisse einer Generalisierungsstudie zum Textverständnis. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 25 (2019), S. 1–15. 18 Vgl. Hansjakob Schneider u. a.: Textseitige Maßnahmen zur Unterstützung des Leseverstehens im Biologieunterricht. In: Didaktik Deutsch 45 (2019), S. 94–116. 19 Ebd.
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male, also das, was an Texten aus linguistischer Sicht komplex ist, sondern Textschwierigkeiten, also das, was in einer bestimmten Situation für bestimme Leser bzw. Leserinnen schwierig ist.20 Die Basis für die Textanpassungen bildeten in dieser Studie also nicht linguistische Kataloge zu Textkomplexitätsmerkmalen, sondern Leseprozessbeobachtungen an Lernenden der Sekundarstufe I im Fach Biologie. In einem Verfahren bestehend aus Leseprozessbeobachtungen mit lautem Denken und einer Fragesequenz wurden unter Einbezug einer linguistischen Analyse der Textkomplexität Textschwierigkeiten ermittelt, die die Grundlage für die Textanpassungen bildeten.21 Die bei den Lernenden der Sekundarstufe I im Fach Biologie beobachteten Textschwierigkeiten könnten auch Hinweise auf erwartbare Textschwierigkeiten im Fach Geschichte liefern, weshalb die wichtigsten Befunde der Studie hier sehr kurz dargelegt werden: Es konnten Verstehensschwierigkeiten auf allen Verstehensebenen beobachtet werden: Auf der lexikalischen Ebene führten erwartungsgemäß Fachbegriffe, die im Text kaum erklärt wurden, aber auch ungewohnte Ausdrücke oder Metaphern zu Verstehensschwierigkeiten. Auf syntaktischer Ebene zeigte sich, dass syntaktisch tief eingebettete Informationen wie beispielsweise Begriffserläuterungen in Einschüben, nicht verarbeitet wurden. Generell stellte die hohe Informationsdichte der Texte, die durch solche Einschübe zusätzlich erhöht wird, eine große Herausforderung für die Lernenden dar. Die Bildung lokaler Kohärenz wurde textseitig unter anderem durch unklare kohäsive Bezüge erschwert. Besonders problematisch erwiesen sich Wiederaufnahmen durch Synonyme.22 Die Bildung globaler Kohärenz gelang nur selten, was unter anderem auch darauf zurückgeführt wurde, dass in den eingesetzten Texten globale Kohäsionsmittel sehr spärlich und wenn, dann kaum hilfreich vorhanden waren: Es fehlten TextBild-Bezüge, die Bildtitel und auch die Untertitel konnten, da zu wenig informativ, nicht für die Bildung globaler Kohärenz nutzbar gemacht werden, Advance Organizer fehlten mehrheitlich usw. Bei der Textanpassung ging es nicht darum, alle beobachteten Textschwierigkeiten zu eliminieren, sondern nur die inhaltlich und fachlich vermeidbaren. Ziel sollte sein, dass die Texte ihre Fachlichkeit behalten. Konkret bedeutete dies, dass Fachbegriffe nicht eliminiert, sondern erläutert wurden. Auf stilistische 20 Vgl. Heidi Anne Mesmer/James W. Cunningham/Elfrieda H. Hiebert: Toward a Theoretical Model of Text Complexity for the Early Grades: Learning from the Past, Anticipating the Future. In: Reading Research Quarterly 47 (2012) 3, S. 235–258. 21 Vgl. detaillierter zur Methode und zu den Ergebnissen dieser Teilstudie aus der NawiTextStudie unter Claudia Schmellentin u. a.: Sprachliche Anforderungen in Biologielehrmitteln. In: Bernd Ahrenholz/Britta Hövelbrinks/Claudia Schmellentin (Hrsg.): Fachunterricht und Sprache in schulischen Lehr-/Lernprozessen. Tübingen 2017, S. 73–92. 22 So wurden beispielsweise die Begriffe Bronchien, Hauptbronchien, Atemkanälchen, Atemwege jeweils synonym gebraucht.
352
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Varianz wurde verzichtet, indem Begriffe konstant gleich verwendet wurden und indem die stilistisch etwas eintönige Thema-Rhema-Struktur eingehalten wurde. Auf Einschübe wurde verzichtet und wenn möglich darauf geachtet, dass ein Satz nicht mehr als eine neue Information enthält. Lokale Kohäsion wurde vor allem durch Rekurrenz (Wiederaufnahme des Begriffs) hergestellt, Pronomen bezogen sich nur auf lokal sehr nahe Nomen. Die globale Kohäsion sollte durch (Unter-) Titelanpassungen und das Einfügen eines Advance Organizers sowie durch eine textlogische Platzierung der Bilder erhöht werden. Zudem wurden die Informationen restrukturiert, indem ein bestimmtes Phänomen an einer Textstelle und nicht verteilt über mehrere Textstellen abgehandelt wurde. Mit anderen Worten: Die Veränderungen zielten auf alle Verstehensebenen, insbesondere aber sollten sie die Kohärenzbildung mittels lokaler und globaler Kohäsion und mittels einer lernerorientierteren Textorganisation stärker unterstützen.23 In der Vergleichsstudie zeigte sich, dass die umfassenden Textmanipulationen durchaus wirksam sind, wenn auch nur mit einem schwachen bis mittelstarken Effekt von d = 0.38.24
3.3
Textschwierigkeiten in Verfassertexten
Verfassertexte im Fach Geschichte verfolgen andere Leseziele als Texte im Fach Biologie und sind daher auch anders aufgebaut. Es ist durchaus anzunehmen, dass sie aufgrund ihrer fachspezifischen Textstruktur auch spezifische Textschwierigkeiten hervorrufen. Trotzdem wird im Folgenden versucht, einige in der NawiText-Studie beobachtete Textschwierigkeiten exemplarisch auf den Verfassertext »Europa entdeckt die Welt«25 zu übertragen. Es handelt sich hierbei nicht um eine vollständige Analyse, sondern lediglich um eine beispielhafte Auswahl von wenigen Merkmalen:26 »Die Inselgruppe, auf der Christoph Kolumbus 1492 erstmals den amerikanischen Kontinent betrat, heißt heute Westindische Inseln. Dies erinnert daran, dass er keine neue Welt suchte, sondern einen neuen Weg nach Indien. 1453 hatten nämlich die Osmanen Byzanz (Konstantinopel) erobert. Sie beherrschten damit das östliche Mittelmeer und kontrollierten den gesamten Handel zwischen Europa und dem fernen Osten. Die Preise für Gewürze, Seide, Parfüm und viele andere Luxuswaren aus Indien und China stiegen erheblich.«
23 Vgl. detaillierter zu den Textanpassungen Schneider u. a. (Anm. 18). 24 Ebd. 25 Ulrich Baumgärtner/Klaus Fieberg (Hrsg.): Horizonte 2. Geschichte Gymnasium NRW. Braunschweig 2008, S. 44f. 26 Hervorhebungen von mir, CS.
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Der Fokus der Analyse in diesem Abschnitt beschränkt sich auf das Merkmal der lokalen Kohäsion und nimmt die hervorgehobenen Kohäsionsmittel in den Blick: Mit dem synonymen Gebrauch von ›Welt‹ (auch im Titel) und ›Kontinent‹ wird an dieser Stelle die Herstellung lokaler Kohärenz unnötig erschwert. Besonders herausfordernd könnten sich aber die vielen unklaren kohäsiven Bezüge auf die Kohärenzbildung auswirken: Worauf sich das Pronomen ›dies‹ im zweiten Satz bezieht, ist sprachlich unklar. Die lokale Kohärenz kann eigentlich nur auf Basis von Vorwissen erstellt werden, nämlich wenn bekannt ist, dass Kolumbus glaubte, in Indien gelandet zu sein. Eine Information, die im Text jedoch implizit bleibt und nur durch die Verknüpfung von historischem Vorwissen mit der nachgestellten Information, dass Kolumbus sich auf den Weg nach Indien gemacht hatte, erschlossen werden kann. Auch der folgende dritte Satz ist auf der Textoberflächenebene nicht eindeutig mit dem vorherigen verknüpft. So signalisiert zwar das Adverb ›nämlich‹, dass hier ein Begründungszusammenhang besteht, dieser bleibt jedoch ohne Vorwissen ebenfalls ungeklärt. Dasselbe gilt für die Verknüpfung des vierten Satzes, welche durch das Pronominaladverb ›damit‹ angezeigt wird. Diese kann jedoch ohne geographische und geo-politische Kenntnisse kaum hergestellt werden. Auch die Karte zum Verfassertext, auf die an dieser Stelle nicht verwiesen wird, ist keine große Hilfe für die Kohärenzherstellung, denn auch diese muss zunächst erschlossen werden. Die Verknüpfung des letzten hier zitierten Satzes wird nicht einmal mehr durch ein Kohäsionsmittel an der Textoberfläche markiert. Die Kohärenzherstellung basiert an dieser Stelle u. a. auf Vorwissen zu ökonomischen Prozessen, wobei bezweifelt werden kann, dass dieses Vorwissen bei Lernenden der Sekundarstufe I tatsächlich vorausgesetzt werden kann. Die Textstelle stellt außerordentlich hohe – mit Bezug auf die PISA-Kompetenzstufen gar zu hohe – Anforderungen an die Fähigkeit, Inferenzen auf Basis von Vorwissen herzustellen. Neben der lokalen Kohäsion wird die Kohärenzherstellung in diesem Verfassertext zudem kaum durch globale Kohäsionsmittel unterstützt:27 Leserführende Elemente wie Advance Organizer mit Nennung des Kerninhalts und Klärung des Leseziels, explizite Verknüpfungen der Textteile durch Explizierung der Textstruktur und der historischen Denkoperationen sowie explizite Verweise auf die Relevanz der einzelnen Textabschnitte fehlen vollständig. Damit werden Organisations- und Selektionsprozesse, die für die Herstellung globaler Kohärenz und für die Bildung der propositionalen Repräsentation wesentlich sind,
27 Für eine detailliertere Analyse der Möglichkeiten globaler Kohäsion und die Chancen der Erhöhung globaler und lokaler Kohäsion für die Förderung der historischen Denkoperationen vgl. auch Viola Schrader: Historisches Denken durch Verfassertexte fördern? Das Potenzial der Sprache(n) in Geschichtslehrwerken aus geschichtsdidaktischer Perspektive, in diesem Band.
354
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unnötig erschwert. Fehlende Leseziele verunmöglichen zudem die Aktivierung adäquater Lesestrategien. Die exemplarische Problematisierung der lokalen und globalen Kohäsion in diesem ausgewählten Text sowie explorative Analysen weiterer schweizerischer und deutscher Geschichtsschulbücher weisen darauf hin, dass Verfassertexte im Fach Geschichte zu wenig Rücksicht auf die Vorwissensstrukturen von Lernenden der Sekundarstufe I nehmen und durch eine adressatenorientiertere Gestaltung durchaus Optimierungspotenzial aufweisen würden. Um die Verständlichkeit von Schulbüchern zu erhöhen, fordert Wellenreuther daher: »Die Verbesserung der Textverständlichkeit ist durch den Einsatz von Experten für Verständlichkeit möglich, erfordert allerdings mindestens einen zusätzlichen Entwicklungsschritt bei der Entwicklung von Schulbüchern.«28 Dieser These wird im Folgenden nachgegangen.
3.4
Möglichkeiten und Grenzen der Optimierung von Verfassertexten
Rein redaktionelle formalsprachliche Textoptimierungen ließen sich im Nachgang zur Textentstehung durch sprachliche Verstehensexperten oder -expertinnen durchführen. Die wenigen empirischen Studien weisen jedoch darauf hin, dass dies nicht allzu viel bringen würde, denn wenn überhaupt, so weisen nur jene Studien Effekte auf, die mehrere Ebenen der Textanpassung berücksichtigen.29 Die unter 3.3 dargestellte exemplarische Analyse von Textschwierigkeiten in Verfassertexten weist zwar auf Optimierungspotenzial hin, gleichzeitig zeigt sich hier aber auch ein Dilemma, das – so die Annahme – spezifisch für das Fach Geschichte zu sein scheint und wohl kaum bloß durch redaktionelle sprachliche Eingriffe gelöst werden kann: Geschichte kann – anders als Biologie – nicht auf Objekthaftes rekurrieren, sondern entsteht in der Narration.30 Alle Kohärenzlücken narrativ mittels sprachlicher Repräsentationen schließen zu wollen, scheint kaum zielführend. Um die unklaren Bezüge zu reduzieren und die Kohärenzlücken zu schließen, müssten nämlich die impliziten Informationen expliziert und so die Anzahl komplexer notwendiger Inferenzen mit Rückgriff auf das Vorwissen reduziert werden. Dies hätte allerdings auch zur Folge, dass die Texte sehr bzw. zu lang werden würden und ihre thematische Fokussierung verloren ginge. Um das zu 28 Martin Wellenreuther: Lehren und Lernen – aber wie? Empirisch-experimentelle Forschungen zum Lehren und Lernen im Unterricht. Baltmannsweiler 2008, S. 211. 29 Vgl. Abschnitt 3.2. 30 Vgl. Handro (Anm. 2).
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verhindern und trotzdem die Kohärenz der Texte zu verbessern, müssten die geschichtsdidaktischen Fragen geklärt werden, welches Vorwissen bei einem großen Teil der Lernenden dieser Stufe vorausgesetzt werden kann, welche Inferenzen also erwartet werden können und welche Inhalte allenfalls auch zugunsten eines vertieften Verständnisses der Kerninhalte zumindest zu diesem Zeitpunkt noch weggelassen werden müssten. Sprachbewusste Textanpassungen können demnach nur unter Einbezug von fachdidaktischem Wissen erfolgen. Rein sprachdidaktisches Wissen aus der allgemeinen Verständlichkeitsforschung reicht dafür nicht aus. Schmellentin fordert daher, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Schulbüchern verstärkt werden sollte.31 Erste Erfahrungen zeigen, dass dieses Vorgehen durchaus Potenzial hätte, auch weil die Expertin bzw. der Experte aus der Sprachdidaktik als Fachnovize bzw. Fachnovizin Kohärenzbrüche besser erkennen kann. Der zeitliche und damit auch finanzielle Aufwand einer solch interdisziplinären Entwicklung von Schulbüchern ist allerdings nicht zu unterschätzen.32 Die Erläuterungen zeigen: Sprachbewusste Textanpassungen sind nicht so trivial, wie es die These von Wellenreuther33 suggeriert. Hinzu kommt, dass der Effekt von Textanpassungen nicht überschätzt werden sollte: Zwar konnten auch in der bereits erwähnten NawiText-Studie durch die umfassenden Textanpassungen die fachlichen Verstehensleistungen der Schülerinnen und Schüler durchaus signifikant verbessert werden, die Effektstärke ist jedoch nicht so hoch, dass Textanpassungen als Allheilmittel gepriesen werden könnten. Weiter konnten von den Textanpassungen in der NawiText-Studie nur die mittelstarken und stärkeren Leser und Leserinnen profitieren.34 Der Verstehensaufbau mittels Texten kann bei schwächeren Lernenden durch diese Maßnahme alleine nicht maßgeblich unterstützt werden. Eine Erklärung dafür, dass textseitige Maßnahmen alleine nicht ausreichen, gibt Kintsch:35 Demnach verfügen Lernende der Sekundarstufe I noch nicht über Vorwissenschemata und über fachspezifisches Strategiewissen, um komplexe Texte eigenständig verstehen zu können. Er fordert daher, dass Lehrpersonen das Textverstehen lesedidaktisch steuern, um Lernen aus Texten überhaupt zu ermöglichen: »For these students, comprehension is an active, effortful, resource-demanding construction process. The role of instruction is to support this process.«36 31 Vgl. Schmellentin (Anm. 7). 32 Vgl. Susanne Metzger/Claudia Schmellentin. Ein sprachsensibel gestaltetes Schulbuch. In: Unterricht Physik 165/166 (2018), S. 51–55. 33 Wie Anm. 29. 34 Vgl. Schneider u. a. (Anm. 18). 35 Vgl. Walter Kintsch: Learning and constructivism. In: Sigmund Tobias/Thomas M. Duffy (Hrsg.): Constructivist Instruction: Success or Failure? New York 2009, S. 223–241. 36 Ebd., S. 227.
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Die Unterstützung kann einerseits durch die Vermittlung von Lesestrategien geschehen (schüler- und lehrerseitige Maßnahme), andererseits durch die didaktische Strukturierung von Lese- und Verstehensprozessen (lehrerseitige Maßnahme). Auf diese beiden lesedidaktischen Maßnahmen wird im Folgenden eingegangen.
4.
Möglichkeiten und Grenzen lesedidaktischer Maßnahmen
Bestehende Lesestrategietrainings und Vorschläge zur Strategieförderung modellieren Lesestrategien als allgemeine und nicht als fachspezifische Strategien,37 obwohl bei Experten eine fachspezifische Nutzung von Lesestrategien empirisch nachgewiesen werden konnte.38 Zwar haben in der besagten Studie High-SchoolLehrkräfte aus Mathematik, Chemie, Geschichte teilweise ähnliche Strategien angewandt, jedoch auf unterschiedliche Weise und zu unterschiedlichen Zwecken.39 Mit anderen Worten: Allgemeine Lesestrategien werden entsprechend der unterschiedlichen Leseziele fachspezifisch genutzt und es ist Aufgabe der Fächer, diese fachspezifische Anwendung zu vermitteln. Die Umsetzung dieser Forderung stellt den Fachunterricht und damit auch den traditionellen Geschichtsunterricht, die Fachlehreraus- und -weiterbildung, die Entwicklung von Schulbüchern und insbesondere die fachdidaktische Forschung vor besondere Herausforderungen, denn einerseits fehlen empirisch fundierte Kenntnisse zu fachspezifischen Verstehensstrategien und deren Erwerb, andererseits fehlen auch fachdidaktische Modelle zu deren Vermittlung. Für das Fach Geschichte hat allerdings Handro ein Modell zur Strukturierung der Lesestrategien in historischen Lehr-Lernprozessen entwickelt.40 Interessant an diesem Modell ist, dass es sich auf einer Metaebene an die gängigen lesedidaktischen Modelle der Strukturierung von Leseprozessen in vor, während und nach dem Lesen orientiert, die in diesen Prozessschritten enthaltenen Teilhandlungen jedoch für historisches Lesen ausdifferenziert und spezifiziert. Eine 37 Vgl. u. a. Andreas Gold/Elmar Souvignier: Texte besser verstehen und behalten – die Methoden der Text- und Lesedetektive. In: Maik Philipp/Anita Schilcher (Hrsg.): Selbstreguliertes Lesen. Ein Überblick über wirksame Leseförderansätze. Seelze 2012, S. 174–184. 38 Vgl. Cynthia Shanahan/Timothy Shanahan/Cynthia Misischia: Analysis of expert readers in three disciplines: History, Mathematics, and Chemistry. In: Journal of Literacy Research, 43 (2011) 4, S. 393–429. 39 Ebd., S. 422. 40 Vgl. Saskia Handro: Geschichte lesen, aber wie? Plädoyer für eine geschichtsdidaktische Profilierung von Lesestrategien. In: Thomas Sandkühler/Charlotte Bühl-Gramer/Anke John (Hrsg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 17). Göttingen 2018, S. 275– 293, hier S. 288.
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solche Orientierung an einer gängigen Leseprozessstrukturierung hat den Vorteil, dass Lernenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Gestaltung von Leseprozessen in den verschiedenen Fächern bewusst gemacht werden können. Das Modell, welches sowohl als Lehr- als auch als Lernmodell konzipiert ist, ist jedoch sehr komplex und illustriert damit sowohl die Komplexität von historischen Leseprozessen und die hohen Anforderungen, die an die Lernenden bisher meist implizit gestellt wurden, als auch die großen didaktischen Herausforderungen, vor die die explizite Vermittlung von fachbezogenen Lesestrategien die Lehrkräfte stellt. Es besteht also die Frage, wie Geschichtslehrkräfte dazu befähigt werden können, Lesestrategien adäquat zu vermitteln, denn bei der Anwendung von Lesestrategien handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel von kognitiven und metakognitiven Prozessen, was nicht einfach vermittelbar ist. Insbesondere stellt sich aber die Frage, wie Geschichtslehrkräfte dazu gebracht werden können, die Vermittlung von fachspezifischen Lesestrategien als ihre Aufgabe anzuerkennen. Solange die Vermittlung von Lesekompetenzen als Förderung allgemeinsprachlicher Kompetenzen modelliert ist, wird es kaum gelingen, Geschichtslehrpersonen für deren Vermittlung zu gewinnen. Handro und Kilimann betonen, dass gerade in Geschichte als Lesefach Leseförderung als fachintegrierte Aufgabe verstanden werden muss, Strategievermittlung also nicht als »fachfremdes Addendum«41 wahrgenommen werden dürfe. Ähnlich fordert auch Schmellentin, dass sprachbewusstes Unterrichten primär dem fachlichen und fachsprachlichen Lernen dienen sollte.42 Es kommen also nicht weitere Lernziele hinzu, sondern mittels eines bewussten Einsatzes von Sprache in fachlichen Lehrund Lernprozessen sollen das fachliche Lernen und die Förderung fachsprachlicher Kompetenzen unterstützt werden. In einer schweizerischen Unterrichtshilfe zu sprachbewusstem Fachunterricht wird vorgeschlagen, einerseits das Verstehen mittels Fragen, die auf alle drei kognitiven Repräsentationsebenen zielen, anzuleiten und zu stützen, andererseits sollen parallel dazu der Leseprozess und damit die für die Textbearbeitung benötigten Lesestrategien schrittweise explizit angeleitet werden.43 Kohärent zum schweizerischen Sprachlehrmittel ›Die Sprachstarken‹44 wird eine Gliederung des Leseverstehensprozesses in vier Teilschritte vorgeschlagen: 41 Vgl. Handro/Kilimann (Anm. 2), S. 185. 42 Wie Anm. 7. 43 Vgl. Thomas Lindauer/Claudia Schmellentin/Anne Beerenwinkel u. a.: Fachlernen und Sprache: Sprachbewusst unterrichten – Eine Unterrichtshilfe für den Fachunterricht. Bildungsraum Nordwestschweiz 2013 (https://www.edubs.ch/unterricht/faecher/sprachbe wusst-unterrichten, aufgerufen am 19. 03. 2020). 44 Vgl. Thomas Lindauer/Werner Senn (Hrsg.): Die Sprachstarken, Bd. 2–9. Sprachlehrmittel für die Schweizer Volksschulen. Zug 2008–2016.
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– Leseschritt 1: dem Text begegnen – Vorwissen aktivieren, Leseerwartung aufbauen, Ziele kla¨ren, – Leseschritt 2: den Text bearbeiten – lokale Informationen gewinnen, – Leseschritt 3: Textinhalte verarbeiten – Textinhalte miteinander verknu¨ pfen, – Leseschritt 4: Textversta¨ ndnis u¨ berpru¨ fen und mit Vorwissen in Verbindung bringen. Dabei geht es darum, die im Prozess ineinandergreifenden Teilschritte in überschaubare und damit auch steuer- und lernbare Schritte zu gliedern. Diese vier Schritte werden durch die Lehrperson oder durch Schulbuchaufgaben explizit angeleitet und der Leseprozess vor, während und nach dem Lesen entlastet. Denn wie bereits erwähnt, sind die meisten Lernenden der Sekundarstufe I noch nicht fähig, diesen komplexen Prozess vollständig allein zu steuern. Parallel zum Leseprozess wird auch das Verstehen auf den verschiedenen Verstehensebenen mittels drei Fragetypen unterstützt: – Fragen zum Nachschauen lenken die Aufmerksamkeit auf relevante (lokale) Informationen, die direkt aus dem Text herausgelesen bzw. im Text nachgeschaut werden können. Sie unterstützen die Bildung der Oberflächenrepräsentation und sind mit Leseschritt 2 verbunden. – Fragen zum Verstehen verlangen anspruchsvollere Verstehensprozesse. Zusammenhänge müssen erkannt und evtl. in eigenen Worten erklärt werden. Dieser Frage- bzw. Aufgabentyp soll die Bildung der propositionalen Repräsentation (Textbasis) unterstützen und ist mit Leseschritt 3 verbunden. – Fragen zum Nachdenken weisen auf Aspekte hin, die über den eigentlichen Informationsgehalt des Textes hinausweisen, in die Lebenswelt verweisen. Sie können zu weiteren Recherchen anregen und mit ihnen können eigene Überzeugungen, (Vor-)Urteile deutlich gemacht werden. Diese Fragen unterstützen die Bildung des mentalen Modells. Die Informationen sollen dabei explizit mit den Vorwissenschemata verknüpft werden. Die Entlastung des Lese- und Verstehensprozesses zielt einerseits auf ein vertieftes fachliches Verstehen. Die Anleitung kann mit Blick auf das Verstehen implizit erfolgen, sie kann aber auch mit Blick auf die Vermittlung der Lesestrategien explizit gemacht werden. Auch wenn dieses Modell nicht fachsprachlich spezifiziert ist, so lässt es eine fachspezifische Ausdifferenzierung zu, wie der Vergleich zu Handros Modell zeigt:45 Leseschritt 1 entspricht den bei Handro tabellarisch aufgeführten Handlungen in der Spalte Vor dem Lesen, Leseschritt 2 und 3 den Handlungen der Spalten Während dem Lesen I und II und Leseschritt 4 den Handlungen in den Spalten 45 Wie Anm. 40.
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Nach dem Lesen I und II. Mit anderen Worten: Leseprozesse ließen sich auf einer Metaebene in allen Fächern gleich strukturieren, die innerhalb der Schritte vollzogenen Handlungen variieren jedoch je nach Fach und/oder Textbeschaffenheit: So mag beispielsweise im Fach Geschichte bei der Textbearbeitung (Leseschritt 2) das Markieren wichtiger Textstellen auf der Grundlage von Fragen zum Nachschauen durchaus zielführend sein, bei einem informationsdichten Biologietext hingegen ist diese Technik wenig hilfreich. Die explizite Strukturierung in die immer gleichen Schritte in allen Fächern und über alle Stufen hinweg schafft allerdings Kohärenz und soll die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, den komplexen Leseprozess mit der Zeit eigenständig und gegenstandsadäquat zu steuern.46 Die hier kurz skizzierte Strukturierung von Lese- und Verstehensprozessen, die einerseits das Verstehen unterstützen, andererseits auch der fachspezifischen Förderung von Lesestrategien dienen sollen, ließe sich auch in Schulbüchern umsetzen, denn es ist für Lehrkräfte sehr anspruchsvoll, lerner- und sachadäquat aufeinander abgestimmte Aufgaben auf allen Prozess- und Verstehensebenen zu konstruieren. Bisher sind Leseprozesse in Schulbüchern kaum strukturiert: Lesen wird selten in Schritte unterteilt und die Aufgaben zielen auf die höchsten Verstehensebenen, ohne explizit die niedrigeren zu sichern. In Bezug auf sprachbewusste, prozessstrukturierende Aufgaben gibt es in den Schulbüchern durchaus Optimierungspotenzial.
5.
Fazit und Diskussion
Lesen ist kein passiver Vorgang, sondern ein komplexer und aktiver Konstruktions- und Integrationsprozess. Lernende der Sekundarstufe I (und teils auch der Sekundarstufe II) verfügen noch nicht über die Vorwissensschemata und über fachspezifisch ausgebaute Lesestrategien, die es ermöglichen würden, eigenständig aus Texten zu lernen. Es stellt sich daher die Frage, ob Lernen mit Texten auf dieser Stufe überhaupt möglich ist. Damit Lernen aus Texten möglich wird, müssen folgende Perspektiven beachtet werden: – Lehrtexte müssen mit Blick auf die Vorwissensbestände der Schüler und Schülerinnen so einfach wie möglich, aber zugleich auch fach- bzw. gegenstandsgerecht, d. h. durchaus anspruchsvoll formuliert sein. Die Fachtexte dürfen nicht ent-fachsprachlicht oder gar simplifiziert werden. Nur wer mit 46 Der Weg von der eng angeleiteten zur selbstgesteuerten Strukturierung von Leseverstehensprozessen wird im Sinne des Cognitive Apprenticeship modelliert, vgl. dazu Frank Lipowsky: Unterricht. In: Jens Mo¨ ller/Elke Wild (Hrsg.): Pa¨ dagogische Psychologie. Berlin/ Heidelberg 2015, S. 69–105.
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Fachsprache in Kontakt kommt, kann auch die fachlichen Konzepte und die dazu gehörende Sprache erlernen, denn gerade komplexe Sachverhalte lassen sich sprachlich häufig ebenfalls nur komplex darstellen. – Schüler und Schülerinnen müssen die für das Verstehen von mündlichen und schriftlichen Texten eines Fachs nötigen fachspezifischen Lese- bzw. Verstehensstrategien erwerben können. Die (fach-)sprachlichen Redemittel, Textstrukturen und grafischen Repräsentationsformen erfordern je unterschiedliche bzw. fachspezifische Lesestrategien, die entsprechend in den Fächern angeleitet sein müssten. – Lehrpersonen unterstützen die Schüler und Schülerinnen mit Hilfe von fachspezifischen sprachdidaktischen Maßnahmen bei der Überwindung sprachlicher Lernhürden. Komplexe Verstehensprozesse müssen verbal explizit strukturiert werden, indem die komplexen Lesehandlungen in Teilschritte zerlegt und schrittweise angeleitet sind. So werden Lesestrategien auch im Fachunterricht zum Lernobjekt. Der Aufbau der fachsprachlichen Kompetenzen soll horizontal-fachübergreifend und vertikal-curricular durchgängig strukturiert werden. Schulbücher unterstützen Lehrkräfte bei ihrer Aufgabe, Verstehensprozesse zu strukturieren und fachspezifische Lesestrategien zu vermitteln, und sie stellen entsprechend prozessorientierte und -strukturierende Aufgaben zur Verfügung. Bei der Umsetzung von sprachbewusstem Geschichtsunterricht spielt damit neben der Lehrkräfteaus- und -weiterbildung auch die Schulbuchentwicklung eine wesentliche Rolle. Eine bessere Passung von Lernenden und Texten ist jedoch nicht dadurch erreicht, dass bei der Schulbuchentwicklung eine Zusatzschlaufe eingeplant wird, in der Experten der Verständlichkeit die Verfassertexte redigieren. Denn Sprachbewusstheit ist nicht nur eine Frage der Texte, sondern gleichermaßen eine Frage der Aufgaben. Sowohl die sprachbewusste Gestaltung der Texte als auch insbesondere die sprachbewusste Strukturierung der Verstehensprozesse mittels Aufgaben ist abhängig von den fachlichen Zielen und damit eine fachdidaktische Herausforderung. Die Sprachdidaktik kann allerdings wichtige Impulse für die sprachbewusste Gestaltung von Schulbüchern liefern. Aus diesem Grunde wäre eine stärker interdisziplinär ausgerichtete Entwicklung von Schulbüchern allgemein und Geschichtsschulbüchern im Besonderen wünschenswert, da so sprach- und geschichtsdidaktische Perspektiven mit Blick auf das historische Lernen und Verstehen integriert würden.
Viola Schrader
Historisches Denken durch Verfassertexte fördern? Das Potenzial der Sprache(n) in Geschichtslehrwerken aus geschichtsdidaktischer Perspektive
1.
Fragestellung
Welches Potenzial hat die Sprache der Verfassertexte in Schulbüchern für die Förderung historischen Denkens und Erzählens im Fach Geschichte? In der geschichtsdidaktischen empirischen Forschung wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Schüler*innen Verfassertexte in Geschichtsschulbüchern nicht oder nur unzureichend verstehen würden und dementsprechend auch keine oder unzureichende historische Sinnbildungsleistungen erbringen könnten.1 Folgt man Vertreter*innen der kognitiven und funktionalen Linguistik,2 so liegt ein zentraler Grund dafür im Sprachgebrauch fachspezifischer Textsorten. Wichtige Denkstrukturen des Faches würden hier in einem impliziten Sprachgebrauch verhandelt und damit für Lesenovizen des Faches wenig zugänglich gemacht.3 Potenzialorientiert gewendet kann in Anlehnung an diese linguistische Grundannahme formuliert werden: Wenn sich domänenspezifisches Denken in Sprache repräsentiert, dann liegt in einem expliziten, modellhaft genutzten Sprachgebrauch in Verfassertexten ein großes Potenzial für die Schulung fachlichen Denkens.
1 Zusammenfassend sei hier verwiesen auf Saskia Handro: Geschichte lesen, aber wie? Plädoyer für eine geschichtsdidaktische Profilierung von Lesestrategien. In: Thomas Sandkühler u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 17). Göttingen 2018, S. 275–294. 2 Vgl. z. B. Caroline Coffin: Learning the Language of School History: The Role of Linguistics in Mapping the Writing Demands of the Secondary School Curriculum. In: Journal of Curriculum Studies 38 (2006) H. 4, S. 413–429; Mary Schleppegrell: The Language of Schooling. A Functional Linguistics Perspective. New York 2004. Zusammenführend z. B. Lena Heine: Theoretische Überlegungen zur Modellierung und Erforschung von integrativem Fach- und Sprachlernen. In: Barbara Hinger (Hrsg.): Zweite »Tagung der Fachdidaktik« 2015. Sprachsensibler Sach-Fach-Unterricht – Sprachen im Sprachunterricht (Innsbrucker Beiträge zur Fachdidaktik, Bd. 2). Innsbruck 2016, S. 75–93. 3 Schleppegrell (Anm. 2), S. 434, bezeichnet den fachspezifischen Sprachgebrauch als ein »hidden curriculum« für die Schüler*innen.
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Viola Schrader
Diese Grundannahme bildet den Ausgangspunkt für die Fragestellung des Beitrags: Wie lassen sich Verfassertexte in Geschichtsschulbüchern in geschichtsdidaktischer Absicht derart gestalten, dass sich Strukturen historischen Denkens und Modi historischen Erzählens in einem expliziten und funktionalen Sprachgebrauch modellhaft in ihnen repräsentieren und somit für die Schulung historischen Denkens nutzbar werden?4
2.
Problematisierung
Im Kontext der interdisziplinären Debatte um einen sprachsensiblen Geschichtsunterricht führt die Frage nach der sprachlichen Struktur von Verfassertexten zunächst ein Dilemma vor Augen: Eine in geschichtsdidaktischer Hinsicht elaboriertere Repräsentation fachspezifischer Denkstrukturen und Konzepte scheint in Verfassertexten nur schwer mit einer sprachlich expliziten Textoberfläche vermittelbar. Entweder legen die Texte den Fokus auf einen expliziten Sprachgebrauch und reduzieren dabei fachliche Komplexität, oder sie repräsentieren komplexere fachspezifische Denkstrukturen, dann jedoch in einem eher dichten und impliziten Sprachgebrauch. Anhand der beiden nachfolgenden Schulbuchtextauszüge lässt sich dieses Dilemma illustrieren.5
4 Die Frage steht einerseits mit dem in linguistischer Hinsicht vor allem von Coffin vertretenen Genre-Ansatz in Verbindung. Vgl. dazu Caroline Coffin: Learning to Write History. In: Written Communication 21 (2004) H. 3, S. 261–289. Andererseits greift sie insbesondere geschichtsdidaktische Wendungen dieses Ansatzes auf. So regt z. B. Saskia Handro: Historisches Erzählen (lehren) lernen. Potentiale ›Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts‹. In: Waltraud Schreiber/ Béatrice Ziegler/Christoph Kühberger (Hrsg.): Geschichtsdidaktischer Zwischenhalt. Beiträge aus der Konferenz »Kompetent machen für ein Leben in, mit und durch Geschichte« in Eichstätt vom November 2017. Münster 2019, S. 128–135, hier S. 131f., an, das mit der Modelltextbildung verbundene Prinzip der expliziten Sprachbildung als methodisches Potenzial des Sprachsensiblen Geschichtsunterrichts zu nutzen, und zwar insbesondere zur fachspezifischen Leseförderung. Vgl. dazu auch Handro (Anm. 1), S. 283–285. Mit Blick auf die (schriftliche) Textproduktion diskutieren diesen Ansatz Markus Bernhardt/Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte. In: Geschichte lernen 31 (2018) H. 182, S. 2–9, hier S. 5–9.; Mareike-Cathrine Wickner: So schließt sich der Kreis. Textsortenspezifische Schreibförderung im Geschichtsunterricht mit dem »Genre Cycle«. In: Geschichte lernen (2018) H. 182, S. 38–45. 5 Die beiden kurzen Textauszüge aus zwei Verfassertexten werden hier rein explorativ betrachtet. Sie rekurrieren aber auf Befunde einer breiteren Datenbasis. Vgl. Viola Schrader: Geschichte als narrative Konstruktion. Eine funktional-linguistische Analyse von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern (Zeitgeschichte, Zeitverständnis, Bd. 26). Berlin/ Münster 2013.
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– Text 1: »Griechen wandern und bleiben Griechen […] Wenn ein Stadtstaat reich wurde, wuchs auch die Bevölkerung. Es gab aber nicht genug Nahrung für alle. Deshalb brachen viele Griechen auf, um anderswo ihr Glück zu versuchen.«6 – Text 2: »Ganz gleich wo: Griechen bleiben immer Griechen […] Griechische Kultur rund um das Mittelmeer. Griechische Tempel und Theater in Italien? Dies deutet auf zwei Dinge hin. Erstens: …«7 Beide Texte stellen Ursachen und Folgen der griechischen Koloniengründung dar. In der Überschrift teilen sie die Gemeinsamkeit, die Perspektive der »Griechen« als Akteure einzunehmen, und sie betonen durch das Verb »bleiben« vor allem die Stabilität griechischer Identität. Die kausalen Beziehungen zwischen Ursachen und Folgen werden allerdings sprachlich unterschiedlich dargestellt. Der erste Text ist ein Beispiel für die explizite Repräsentation kausaler Beziehungen im linguistischen Sinne. Auf der sprachlichen Oberfläche ist leicht zu erkennen, dass hier Zusammenhänge zwischen einer konkreten Ursache und ihrer Folge genannt werden. Dies führt jedoch in der Einleitung des Textes zu einer Monokausalität und Eindimensionalität in der Darstellung der UrsacheFolge-Zusammenhänge. Der zweite Text ist dagegen in elaborierterem Maße fachspezifisch strukturiert. Er legt den Schwerpunkt auf die gegenwartsbezogene, fragegeleitete und an Sachquellen empirisch triftig begründete Deutung der Ursachen und Folgen griechischer Kolonisation. Ursache-Folge-Beziehungen werden damit auf konzeptueller Ebene wesentlich stärker fachspezifisch repräsentiert. Sprachlich bildet sich dies allerdings lediglich implizit ab. Die triftigkeitsbasierte, kausale Argumentationsstruktur erschließt sich daher für Lesenovizen des Faches kaum. Der Vergleich der Schulbuchauszüge zeigt damit einen Spannungsbogen: Auf der einen Seite steht die explizite sprachliche, aber weniger fachspezifische Repräsentation von Ursache-Folge-Beziehungen. Auf der anderen Seite zeigt sich ein elaborierterer fachspezifischer Zugriff, allerdings bei lediglich impliziter sprachlicher Repräsentation. Diese bewusst zugespitzte Gegenüberstellung der Beispiele soll die Notwendigkeit eines geschichtsdidaktisch profilierten Sprachgebrauchs in Verfassertexten unterstreichen, um Lernende durch explizite sprachliche Repräsentation beim Erschließen und beim Aufbau fachspezifischer Konzepte zu unterstützen. Für die Diskussion der Potenziale einer geschichtsdidaktischen Modelltextbildung bilden – in Anlehnung an Handro und Kili-
6 Ernst Klett Verlag (Hrsg.): Zeitreise 1. Stuttgart: Klett: 2011, S. 78. 7 Hans-Jürgen Lendzian (Hrsg.): Zeiten und Menschen 1. Paderborn: Schöningh 2015, S. 107.
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Viola Schrader
mann8 und vor dem Hintergrund empirischer Befunde9 – zwei Prämissen den Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen: – »Lernende als Lesenovizen (des Faches) [müssen] die sprachlichen Marker bzw. Mittel historischen Erzählens erst kennenlernen und auch strategisch erschließen [können], um sie dann für ihre mentale Modellbildung erfolgreich nutzen zu können.«10 – »Lehrkräfte [müssen] die narrativen Merkmale und sprachlichen Hürden von Geschichtstexten kennen und somit auch bei der Planung der Anbahnung von Textverstehensprozessen berücksichtigen.«11
3.
Die Repräsentation historischen Denkens in Verfassertexten
Im Folgenden soll die Diskussion geschichtsdidaktischer Modelltextbildung auf einen Verfassertext aus dem Gymnasialbuch »Horizonte 2« bezogen werden (Vgl. Anhang, Abb. 1).12 Der ausgewählte Text »Europa entdeckt die Welt« steht dabei erneut als Beispiel für Verfassertexte, an denen sich wiederkehrende Herausforderungen skizzieren und transferfähige Ansätze der Modelltextbildung veranschaulichen lassen. Dementsprechend wird in einem ersten Schritt analysiert, wie sich historische Denkstrukturen und Erzählmodi im Text repräsentieren. Unter der Überschrift »Europa entdeckt die Welt« konzentriert sich die Darstellung inhaltlich auf die europäischen Entdeckungsfahrten um 1500 und folgt dabei bekannten Narrativen. Wirtschaftliche Veränderungen durch osmanische Eroberungen werden als zentrale Ursache, wissenschaftlicher Wandel als notwendige Voraussetzung und Erfolge einzelner Akteure als Motor für weitere Entdeckungsreisen dargestellt. Diese Zusammenhänge werden durch die Zwi8 Saskia Handro/Vanessa Kilimann: Textverstehen im Geschichtsunterricht. Ein Projekt zur Professionalisierung historischer Leseförderung (ProLeGu). In: Marion Bönnighausen (Hrsg.): Universitäre Praxisprojekte in Kooperationsschulen. Lehr-Lern-Konzepte und Module zum Einsatz fachspezifischer und diversitätssensibler Lesestrategien. Münster 2019, S. 165–222, hier S. 171. 9 Vgl. z. B. Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 4), Berlin 2. Aufl. 2011; Gerhard Henke-Bockschatz: Viel benutzt, aber auch verstanden? Arbeit mit dem Schulgeschichtsbuch. In: Geschichte lernen 20 (2007) H. 116, S. 40–45; Martina Langer-Plän/Helmut Beilner: Zum Problem historischer Begriffsbildung. In: Hilke Günther-Arndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 14). Berlin 2006, S. 215–250. 10 Handro/Kilimann (Anm. 8), S. 171. 11 Ebd. 12 Ulrich Baumgärtner/Klaus Fieberg (Hrsg.): Horizonte 2. Geschichte Gymnasium NRW. Braunschweig: Westermann 2008, S. 44f.
Historisches Denken durch Verfassertexte fördern?
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schenüberschriften (»Auf der Suche nach neuen Handelswegen«, »Die Voraussetzungen für die Entdeckungsfahrten« sowie »Die Entdeckung Amerikas«) auf der Textebene vorstrukturiert. Bilder (Kolumbus, Santa Maria) und eine Karte illustrieren dabei einzelne Abschnitte des Textes,13 werden darin aber nicht explizit aufgegriffen. Die fachspezifische Darstellungsweise dieser Entdeckungsfahrten birgt jedoch auf der Ebene der sprachlichen Repräsentation unterschiedliche Herausforderungen: Mit der Überschrift rücken erstens zwei historische Räume in den Fokus, ›Europa und die Welt‹, die allerdings metaphorisch zwei ›Akteure‹ repräsentieren. Das Verb »entdeckt« stellt die beiden Akteure nicht nur in einen Zusammenhang, sondern indiziert, a) dass Europa als Handelnder begriffen wird, b) dass die Darstellung der Perspektive dieses Akteurs folgt und c) dass die Handlungen dieses Akteurs zunächst wertfreie Entdeckungen darstellen. In den drei Wörtern der Überschrift kommt damit bereits ein komplexer, werturteilsbezogener Zugriff auf den historischen Gegenstand zum Ausdruck. Unter diesem Akteursbezug beantwortet der Text die sprachlich nicht repräsentierte und so nur implizit durch Textaufbau und Inhalt zu rekonstruierende historische Leitfrage: Warum kam es um 1500 zu europäischen Entdeckungsfahrten? Bei der Beantwortung dieser implizit aufgeworfenen Leitfrage konzentriert sich der Text zweitens vornehmlich auf die multikausale Erklärung von Zusammenhängen, d. h. auf die historische Sachurteilsbildung. Für die Urteilsbildung spielen zudem die historischen Kategorien ›Zeit und Wandel‹, ›Raum‹ und ›Akteure‹ eine zentrale Rolle.14 Sprachlich sind der kategoriale Zugriff sowie die Struktur der Sachurteilsbildung u. a. durch folgende Merkmale gekennzeichnet: a) Auffällig ist ein häufiger Wechsel von Akteuren und den Modi ihrer Benennung. Das Spektrum reicht von konkreten Personen (Kolumbus, Vasco da Gama), über die Benennung von Orten (Byzanz), Funktionsbezeichnungen (Handelsstädte) bis hin zu metaphorisch gebrauchten Raumbezeichnungen (Europa). Es umfasst aber auch unspezifische Benennungen – wie durch das Personalpronomen »man«, Passivstrukturen sowie ›versteckte‹ Benennungen durch Verben oder durch Nominalisierungen (Überlegungen, neue Vorgehensweisen). Der Wechsel der Akteursbezeichnungen ist dabei nicht beliebig, sondern er steht funktional in Beziehung zu unterschiedlichen Schwerpunkten der Narration, die zwischen konkreten Handlungen von
13 Vgl. z. B. Hans-Jürgen Pandel: Was macht ein Schulbuch zu einem Geschichtsbuch? Ein Versuch über Kohärenz und Intertextualität. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung (Zeitgeschichte, Zeitverständnis, Bd. 16). Berlin/ Münster 2006, S. 15–38, hier S. 25. 14 Handro (Anm. 1), S. 287.
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Viola Schrader
Individuen/Gruppen und der Darstellung von Strukturen und abstrakten Einflussfaktoren wechselt. b) Die Markierung von Zeit und Wandel ist ein weiterer zentraler Aspekt der Textsprache. Historische Zeit zeigt sich, neben der Nennung von Jahreszahlen, vor allem in einer Vielzahl von Adverbien (erstmals, heute, bislang, schon vor 1450, damalig) sowie im Wechsel des Verbtempus. Nicht die chronologische Darstellung steht dabei im Fokus, sondern die Zeitmarkierungen unterstützen die kausale Argumentationsstruktur des Textes, indem sie weiter zurückliegende Entwicklungen als Ursachen, Wandel als Voraussetzung und Einzelereignisse der Entdeckungen als Erfolgsgeschichte zueinander in Beziehung setzen.15 Wer kausal relevante Zeitmarkierungen ›überliest‹, dem erschließt sich die Argumentation des Textes nur eingeschränkt. c) Zur Darstellung der Ursachen-Folge-Beziehungen werden die unterschiedlichen Ebenen kausal verknüpft. Die Begründungen bilden sich dabei aber nur teilweise in explizit kausalen Konnektoren ab (nämlich, damit, dadurch, während). Neben den bereits untersuchten Zeitmarkern finden sich eher implizite Verknüpfungen von akteursbezogenen Handlungsspielräumen (hilflos gegenüberstehen), ereignisbezogenen Entwicklungen (an Bedeutung gewinnen) und gegenwartsbezogenen Deutungsanteilen (kaum vorstellbar). d) Die sprachliche Repräsentationsseite des Textes spiegelt auch Prinzipien historischen Denkens wie Perspektivität und Gegenwartsbezug. Die Perspektive ist – wie bereits herausgestellt – eindimensional europäisch, was explizit (Akteur Europa), aber auch implizit durch die Semantik von Verben oder die Wahl der Präpositionen in der Verbindung von Akteuren und Ereignissen kenntlich gemacht wird. Die Gegenwartsbezüge haben als einzige Triftigkeitsmarker der Darstellung eine ganz spezielle Funktion im Text. Über den Gebrauch des Präsens oder von Zeitadverbien wie »heute« werden Gegenwartsrelevanz oder Gegenwartsbezüge als Triftigkeitsbelege herangezogen (»Bereits die Wikinger, so ist heute bekannt, erreichten um 1000 n. Chr. […] Nordamerika.«). Für Experten historischen Lesens repräsentiert der Text somit sprachlich durchaus die Beantwortung einer implizit gestellten Leitfrage durch eine multikausale Sachurteilsbildung in einem historisch-kausalen Erzählzusammenhang. Für Lesenovizen des Faches sind dagegen die lediglich impliziten sprachlichen Repräsentation historischer Kategorien wie beispielsweise Zeit und Wandel, Raum und Akteure, aber auch die implizit-wertende Perspektivität des
15 Schrader (Anm. 5), S. 68.
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Textes herausfordernd.16 Die Herausforderung sachurteilsbezogene Argumentationen zu erkennen, beginnt bereits bei der Dekodierung der implizit gestellten historischen Frage17 und setzt sich beim Erschließen der inkohärenten, als ›sprunghaft‹ wahrzunehmenden Erzählstruktur fort, deren Verständnis elaborierteres fachliches Vorwissen verlangt.18
4.
Lernpotenzialorientierte Modelltextbildung und -nutzung
Welche Konsequenzen können für eine Modelltextbildung aus dieser explorativen sprachbezogenen Analyse des Verfassertextes gezogen werden? Am Fallbeispiel ließe sich auf zwei Ebenen ansetzen: Zum einen ist dies die Ebene der sprachlichen Merkmale des Textes, d. h. historische Denkstrukturen und Erzählmuster müssen sprachlich angemessener repräsentiert werden. Zum anderen ist dies die Ebene der geschichtsdidaktisch begründeten Leseanforderungen, d. h. die Nutzung von strategiebasierten Leseaufgaben, die in Abhängigkeit von Lese- und Lernzielen Lernende bei der frage- und kategoriengeleiteten Erschließung von historischen Texten unterstützen.19 Beiden Ansätzen, der sprachlichen Modellierung historischer Denkstrukturen in Modelltexten sowie der strategiebasierten Erschließung von Modelltexten, soll im Folgenden näher nachgegangen werden.
4.1
Historisches Denken sprachlich explizit modellieren
Mit Blick auf die Merkmale des Textes gilt es im Anschluss an die Problematisierung, die impliziten funktional-sprachlichen Repräsentationen historischen Denkens zu explizieren, um so etwa Kategorien historischen Denkens, die in Beantwortung der historischen Frage wirkmächtig werden, stärker herauszustellen.20 Ansatzpunkte sind auf allen Sprachebenen des Textes denkbar.21 16 Vgl. dazu Friedrich J. Lucas: Zur Funktion der Sprache im Geschichtsunterricht. In: Eberhard Jäckel/Ernst Weymar (Hrsg.): Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Stuttgart 1975, S. 326–342; Schleppegrell (Anm. 2), hier S. 62; Christoph Kühberger/Elfriede Windischbauer: Literacy als Auftrag? Zur Förderung von Leseschwächen im Geschichtsunterricht. In: Geschichte lernen 22 (2009) H. 131, S. 22–29, hier S. 23. 17 Vgl. Christian Mehr/Kerstin Werner: Geschichtstexte verstehen. Sinnerschließendes Lesen als historisches Lernen. In: Geschichte lernen 25 (2012) H. 148, S. 2–11, hier S. 2f. 18 Zu dieser Problematik auch Pandel (Anm. 13), hier S. 19f., S. 27–30; Mehr/Werner (Anm. 17), S. 4f. 19 Handro/Kilimann (Anm. 8), S. 174. 20 Vgl. auch Hilke Günther-Arndt: Dargestellte Geschichte interpretieren. In: Dies./Saskia Handro (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin
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Viola Schrader
a) Zentral ist bereits die Formulierung einer Leitfrage, die den Fokus vor der gesamten Textlektüre auf die kausalen Zusammenhänge setzt, die der Text argumentativ ausführt: »Warum kam es um 1500 zu europäischen Entdeckungsfahrten?« Mit der Nennung einer Leitfrage würde zu Beginn des Verfassertextes verdeutlicht, dass die nachfolgende historische Erklärung einer historischen Frage und somit einer funktionalen Darstellungslogik folgt. b) Zur Vorwissensaktivierung und Aufmerksamkeitslenkung ließe sich die historische Leitfrage durch einen kurzen Einführungstext ergänzen, der nicht allein inhaltsorientiert, sondern als eine Art advanced organizer vielmehr auch methodisch orientiert ist22 und in diesem Zusammenhang u. a. zentrale Kriterien historischer Darstellung wie Triftigkeitsansprüche sprachlich explizit markiert:23 »Warum begab sich Kolumbus auf die Suche nach einem neuen Weg von Europa nach Indien? Wie konnte ihm diese Reise ins Unbekannte gelingen? Die historische Forschung hat auf Basis von Quellen verschiedene Ursachen und Gründe untersucht und gewichtet. So können wir heutzutage nicht nur Kolumbus’ Seefahrten, sondern auch die Ursachen und Bedingungen für weitere wichtige europäische Entdeckungsreisen um 1500 erklären. Diese werden im nachfolgenden Text erläutert.« c) Zur Etablierung von Kategorien der historischen Urteils- und sprachlichen Kohärenzbildung ließen sich auch die Zwischenüberschriften derart umstrukturieren, dass die in den Absätzen aufgeführten Gründe für die Entdeckungsfahrten bereits in ihrem Erklärungszusammenhang, auch in ihren zeitlichen Bedingungen und Veränderungen repräsentiert werden können und u. a. perspektivgebundene Urteilsspielräume offenlegen: »Veränderungen in Wirtschaft und Handel: Suche nach neuen Handelswegen«; »Wissenschaftliche Entwicklungen als Voraussetzungen für die Entdeckungsfahrten«; »Erste Entdeckungsreisen: Eine Erfolgsgeschichte?«; »Wagemut und Vertrauen der Entdecker: Das Beispiel Kolumbus«.
5. Auflage 2015, S. 167–173, hier S. 170; Hilke Günther-Arndt: Schulbucharbeit. In: Ebd., S. 174–179, hier S. 179. Dass die explizite Veranschaulichung und Thematisierung von historischen Denkstrukturen Potenziale für den fachlichen Kompetenzerwerb mit sich bringt, lässt sich nicht allein funktional-linguistisch begründen, sondern dafür sprechen auch erste empirische Befunde wie u. a. der Interventionsstudie von Gerhard L. Stoel/Jannet P. van Drie/ Carla A. M. van Boxtel: The Effects of Explicit Teaching of Strategies, Second-Order Concepts, and Epistemological Underpinnings on Students’ Ability to Reason Causally in History. In: Journal of Educational Psychology 109 (2017) H. 3, S. 321–337. 21 In sprachlicher Distanzierung von der originalen Version des Verfassertextes werden alle nachfolgenden Formulierungsvorschläge als Zitate ausgezeichnet. 22 Mehr/Werner (Anm. 17), S. 9. 23 Günther-Arndt (Anm. 20), S. 172.
Historisches Denken durch Verfassertexte fördern?
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d) Prinzipien historischen Denkens, Triftigkeitsansprüche und die Offenheit von Sachurteilen usw. sollten innerhalb der Absätze stärker berücksichtigt werden. Dabei ginge es auch darum, kausale und temporale Zusammenhänge der Ursache-Folge-Beziehungen zu verdeutlichen:24 »Erste Entdeckungsreisen: Eine Erfolgsgeschichte? In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam es zu ersten portugiesischen Entdeckungsreisen, von denen wir heute beispielsweise aus historischen Karten oder den sogenannten Bordbüchern wissen. Da durch diese Entdeckungsreisen neue Handelswege und Seerouten erschlossen werden konnten, könnte man sie durchaus als eine europäische Erfolgsgeschichte deuten. Zwei wesentliche Gründe ermöglichten dabei den Erfolg der Entdecker: Während einerseits die bereits erwähnten wissenschaftlichen Erkenntnisse unbestreitbar eine bedeutende Rolle für den Erfolg der Entdeckungen spielten, ist andererseits auch zu vermuten, dass der Wagemut der Entdecker und ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wichtige Voraussetzungen für die Bewältigung der gefahrvollen Fahrten waren. Aber was bedeuteten die europäischen Entdeckungen für die indigenen Völker?« Zusammengenommen dienen die Formulierungen damit der Transparenz historischer Darstellungsabsichten durch sprachliche Konkretion. Die Formulierungsvorschläge zum Verfassertext illustrieren lediglich beispielhaft, wie historische Denkstrukturen und Erzählzusammenhänge im Verfassertext stärker in einen bewussten und expliziten Sprachgebrauch übertragen werden könnten, um Beziehungen zwischen Sprachgebrauch und fachspezifischer Erzählabsicht in didaktischer Hinsicht zu verdeutlichen. Anschließend soll in ähnlich exemplarischer Weise die strategiebasierte Strukturierung der Verfassertextlektüre durch Formulierung von Leseanforderungen als ein weiterer Ansatz geschichtsdidaktischer Modelltextnutzung aufgegriffen werden.
4.2
Modelltextnutzung durch geschichtsdidaktische Leseanforderungen
Wie lassen sich Leseanforderungen im Sinne der Modelltextnutzung stärker fachspezifisch konkretisieren? Handro und Kilimann25 verbinden Leseanforderungen in Anlehnung an Artelt26 zunächst als mit »Leseaufgaben verbundene Denkoperationen (z. B. Benennen, Erklären, Reflektieren) in Abhängigkeit vom 24 Ebd., S. 179. 25 Handro/Kilimann (Anm. 8), S. 174. 26 Cordula Artelt u. a.: Expertise: Förderung von Lesekompetenz 2005 (Bildungsreform), (https://www.schule.sachsen.de/download/download_smk/expertise_lesefoerderung_BMBF.pdf, aufgerufen am 09. 03. 2020).
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Lese- und Lernziel«. Für den historischen Lernprozess ergeben sich daraus zwei zentrale Konsequenzen: Auf der Planungsebene sind Leseanforderungen durch historische Lernziele fachspezifisch zu konkretisieren.27 Lernerseitig zielen sie auf einen sukzessiven Strategieerwerb, z. B. auf die fachspezifische Nutzung von Lesestrategien. Im genannten Schulbuch werden Leseanforderungen an den Verfassertext über zwei Aufgaben gestellt: »Fasse zusammen, wie es zur Entdeckung des amerikanischen Kontinents kam.« und »Von welchen geografischen Entdeckungen ließ sich Kolumbus bei seiner Entdeckungsfahrt leiten?« Die Leseanforderungen zielen damit auf die zusammenfassende Wiedergabe eines Teilaspekts des Gesamttextes, berücksichtigen jedoch weder Aspekte der Kohärenzbildung noch der Intertextualität zu den im Schulbuch abgebildeten Quellen, über die Operationen historischen Denkens und Erzählzusammenhänge in den Blick geraten könnten.28 Quellen und Verfassertext stehen in diesen Aufgaben isoliert nebeneinander und zudem liegt auf einer Auseinandersetzung mit dem Verfassertext (kaum) Gewicht. In Anlehnung an Handros Systematisierung leseprozessbegleitender Lesestrategien lassen sich strategiebasierte Leseanforderungen an den bereits bekannten Verfassertext stärker in geschichtsdidaktischer Strukturierungsabsicht konkretisieren.29 In der Systematisierung werden Schritte des Leseprozesses (vor, während, nach dem Lesen) mit epistemisch-methodischen Funktionen im historischen Lehr- und Lernprozess (Heuristik, Sachanalyse, Urteilsbildung, Reflexion) verbunden und so im Einzelnen an fachspezifisch begründete Lesestrategien gekoppelt. Daran anknüpfend ließen sich die Leseanforderungen im Leseprozess etwa wie folgt geschichtsdidaktisch profilieren: a) Vor dem Lesen des Textes kann mit dem Ziel der historischen Erkenntnisinitiierung beispielsweise eine Phase der Vorwissensaktivierung und Hypothesenbildung angeregt werden, die bereits intertextuelle Bezüge ermöglicht:30 »Warum kam es um 1500 zu europäischen Entdeckungsreisen? Stelle, auch mit Hilfe der Karte (M2), erste Vermutungen an.« b) Während des Lesens kann im Sinne der sachanalytischen Informationssicherung ein kategoriengeleitetes Lesen durch Markieren angeleitet werden, etwa bezogen auf Ursache-Folge-Beziehungen: »Warum kam es um 1500 zu europäischen Entdeckungsreisen? Lies den Text und markiere Ursachen und Gründe. Auch zeitliche Zusammenhänge ließen sich derart herausstellen:
27 28 29 30
Handro/Kilimann (Anm. 8), S. 174. Vgl. zu dieser Problematik auch Pandel (Anm. 13); Mehr/Werner (Anm. 17), S. 2. Handro (Anm. 1), S. 288. Kühberger/Windischbauer (Anm. 16), S. 23.
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Markiere im Text unterschiedliche Zeitangaben für Ereignisse und Zeiträume für Entwicklungen, die für die Beantwortung der Fragestellung wichtig sind.« c) Im Sinne einer historischen Erkenntnisstrukturierung können die Leseergebnisse anschließend systematisiert werden, indem die Schüler*innen die markierten Informationen (ggf. in einer Relektüre des Textes) in eine andere Darstellungsform übertragen: »Stelle in einer Concept-Map die Ursachen und Voraussetzungen für die Entdeckungsreisen dar.« Oder, bezogen auf zeitliche Entwicklungen: »Erstelle einen Zeitstrahl, auf dem du wichtige Entwicklungen und Ereignisse für die Entdeckungsreisen markierst.« d) Nach dem Lesen kann die Überprüfung von Urteilen des Textes durch intertextuelle Bezüge initiiert werden: »Haben die Europäer ›die Welt‹ ›entdeckt‹, wie der Text behauptet, oder eher erobert? Bilde dir ein eigenes Urteil zu dieser Frage, indem du die Textquelle ›Auszug aus dem Bordbuch des Kolumbus‹ (M6) und die Bildquelle ›Landung der Spanier auf der Insel Hispaniola‹ von Theodor de Bry (M7) interpretierst.« e) Eine Strategiereflexion im Sinne der Metareflexion nach dem Lesen kann schließlich den historischen Lesekompetenzerwerb nachhaltig und transferfähig unterstützen: »Kann ich die historische Frage beantworten? Was habe ich neu gelernt? Wo sind bei mir noch Fragen offen?« Insgesamt zielen die vorgestellten Lesestrategien mittelfristig auf historischen Lesekompetenzerwerb. Zwar wurden am konkreten Verfassertextbeispiel verschiedene Lesestrategien entlang des Leseprozesses zusammengeführt. Mit Blick auf die Schulbuchgestaltung, aber auch die zeitlichen Ressourcen im Geschichtsunterricht, sollte es beim strategiebasierten Lesen von Modelltexten in erster Linie darum gehen, in Abhängigkeit vom Lernziel und der Textstruktur einzelne Strategien zu schulen und die Lernenden somit sukzessive und lernprozessbegleitend in ihrer historischen Lesefähigkeit zu fördern. Letzteres ist vor allem Aufgabe der Lehrperson.
5.
Fazit und Ausblick
In Anlehnung an funktional-linguistische Sprachgebrauchstheorien wurde eingangs die Frage gestellt, wie Verfassertexte in Geschichtsschulbüchern als geschichtsdidaktische Modelltexte gestaltet und genutzt werden können. Keinesfalls sollten die Ausführungen dabei als pauschale Kritik oder überfrachtende Anforderungen an die Schulbuchgestaltung missverstanden werden.31 Vielmehr 31 Vgl. zur Perspektive der Schulbuchproduktion den entsprechenden Beitrag von Sauer/ Schumann im vorliegenden Band.
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ging es in zweifacher Hinsicht exemplarisch darum, mit Blick auf die Verfassertexte den Zusammenhang von historischer Denk- bzw. Erzählstruktur und ihrer sprachlich expliziten Repräsentation zu konkretisieren. Ausgehend von den Darlegungen ließen sich für den weiteren geschichtsdidaktischen Diskurs folgende Thesen formulieren: – Verfassertexte haben das Potenzial, epistemologische Einsichten in das Fach Geschichte zu ermöglichen sowie historische Denkstrukturen zu veranschaulichen. – Die Sprache der Verfassertexte sollte in didaktischer Hinsicht auf der Text-, Satz- und Wortebene modellhaft, d. h. vor allem explizit und funktional gebraucht werden. – Eine sprachbewusste Textgestaltung sollte dabei vor allem im Sinne der Explikation und Transparenz von geschichtsdidaktischen Leseanforderungen und nicht allein als Textvereinfachung im linguistischen Sinne gedacht werden. Verfassertexte derart sprachbewusst zu gestalten und für das historische Lernen zu nutzen, würde mit Blick auf den Geschichtsunterricht somit die Schulung historischer Kompetenzen durch ein offensives,32 d. h. vor allem strategieerwerbsorientiertes Vorgehen bedeuten. Inwiefern die in diesem Kontext stehenden Thesen Bestand haben können, gilt es dabei jedoch weiter theoretisch zu klären, empirisch zu fundieren und auch in Bezug auf die unterrichtspraktischen Einsatzmöglichkeiten zu prüfen.33
32 Die Differenzierung greift zurück auf Josef Leisen: Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis: Grundlagenwissen, Anregungen und Beispiele für die Unterstützung von sprachschwachen Lernern und Lernern mit Zuwanderungsgeschichte beim Sprechen, Lesen, Schreiben und Üben im Fach. Stuttgart 2015, S. 121. 33 Dies schließt neben der Zusammenarbeit zwischen Geschichtsdidaktik und Unterrichtspraxis die Vernetzung aller drei Phasen der Lehramtsausbildung als Potenzial ein (vgl. dazu die entsprechenden Beiträge des vorliegenden Bands).
Historisches Denken durch Verfassertexte fördern?
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Abb. 1: Schulbuchdoppelseite. In: Ulrich Baumgärtner/Klaus Fieberg (Hrsg.): Horizonte 2. Geschichte Gymnasium NRW. Braunschweig: Westermann 2008, S. 44f.
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Schulbücher sprachsensibel gestalten. Perspektiven der Schulbuchkonzeption
1.
Sprache im Geschichtsunterricht
Sprache spielt im Fach Geschichte auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Funktionen eine zentrale Rolle.1 Bedingt ist dies zunächst durch die epistemologischen Grundlagen des Fachs: Aus Quellen gewinnen wir unsere Erkenntnisse über die Vergangenheit; nur durch Quellen sind uns vergangene Ereignisse, Handlungen, Situationen oder Prozesse überliefert. Unter diesen Quellen stellen wiederum Textquellen die (für den Unterricht) wichtigste Gruppe dar. Auf der Basis dieser Quellen entwerfen wir Deutungen von Vergangenheit. »Geschichte« existiert also nicht an sich. Sie konstituiert sich erst in Form solcher (in der Regel) sprachlich verfasster Deutungen. 1 Allgemein Josef Leisen: Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. Bd. 1: Grundlagenteil. Bd. 2: Praxismaterialien. Stuttgart 2013. Grundlegend für das Fach Geschichte sind die einschlägigen Publikationen von Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts. In: Michael Becker-Mrotzek/Karen Schramm/Eike Thürmann/Helmut Johannes Vollmer (Hrsg.): Sprache im Fach. Fachlichkeit und fachliches Lernen. Münster u. a. 2013, S. 317–333; dies.: Sprache(n) und historisches Lernen. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 5–24; dies.: »Sprachsensibler Geschichtsunterricht«. Systematisierende Überlegungen zu einer überfälligen Debatte. In: Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven. Frankfurt/M. 2016, S. 265– 296; dies.: Geschichte lesen, aber wie? Plädoyer für eine geschichtsdidaktische Profilierung von Lesestrategien. In: Thomas Sandkühler/Charlotte Bühl-Gramer/Anke John/Astrid Schwabe/ Markus Bernhardt (Hrsg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung. Göttingen 2018, S. 275–293; dies.: Sprache und Diversität im Geschichtsunterricht. In: Sebastian Barsch/Bettina Degener/Christoph Kühberger/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik. Frankfurt/M. 2020, S. 93–116. Stärker mit Blick auf die Unterrichtspraxis Markus Bernhardt/Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte. In: Geschichte lernen 31 (2018) H. 182, S. 2–9; Sven Oleschko/Katharina Grannemann: Fokus Sprachhandlung. Das fachliche Lernen in Geschichte durch die Berücksichtigung fachspezifischer Besonderheiten unterstützen (Basisbeitrag und didaktische Überlegungen). In: Praxis Geschichte 31 (2018) H. 2, S. 4–9.
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Michael Sauer / Jana Schumann
Dies erfordert entsprechende sprachgebundene (rezeptive und produktive) Aktivitäten bzw. Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern, die für das Fach Geschichte konstitutiv sind: – Verständnis von Texten in fremder Sprachgestalt: Bei der Quellenarbeit sollen Schülerinnen und Schüler den Prozess historischen Forschens in Ansätzen nachvollziehen. Dafür müssen sie Texte verstehen und analysieren, in denen in einer oftmals fremden Sprache und Begrifflichkeit ihnen fremde Sachverhalte in fremden Kontexten verhandelt werden. – Formulieren eigener Deutungen (»Erzählungen«, »Narrationen«): Um zu eigenen Deutungen dieser Quellen zu gelangen, müssen Schülerinnen und Schüler anspruchsvolle Denkoperationen realisieren, die sich erneut (mündlich oder schriftlich) in Sprache manifestieren. Gegebenenfalls sollen sie unterschiedliche Deutungen in der Klasse aushandeln. – Verständnis von und Auseinandersetzung mit vorliegenden Deutungen: Schülerinnen und Schüler sollen sich aber auch mit bereits vorliegenden Darstellungen von Geschichte auseinandersetzen – von einfacheren, jedoch stark verdichteten Darstellungstexten im Schulbuch bis hin zu Historikertexten, die eine hohe sprachliche Komplexität aufweisen. Schließlich werden Schülerinnen und Schüler in der Praxis des Geschichtsunterrichts mit Aufgabenstellungen konfrontiert, bei denen es ebenfalls um Rezeption und Produktion von Sprache geht: – Verständnis und Umsetzung von Operatoren: Aufgaben werden mithilfe von Operatoren formuliert. Damit verbinden sich sprachliche Anforderungen in Form spezifischer (mündlicher oder schriftlicher) Sprachhandlungsmuster, die Schülerinnen und Schüler kennen und realisieren können sollen. – Umsetzung spezifischer Textformate: Im Kontext handlungsorientierter Aufgaben sollen sich Schülerinnen und Schüler in bestimmten vordefinierten Textsorten äußern (»Schreibe in der historischen Situation X aus der Perspektive von Y einen Brief an Z.«). Sie müssen dafür die Merkmale dieser Textsorten kennen und umsetzen können. Dasselbe gilt für das Schreiben als Zusammenfassung und Präsentation. Die damit verbundenen sprachlichen Herausforderungen beziehen sich auf unterschiedliche Sprachregister, die es im Unterricht einzubinden gilt, nämlich – die Sprache der Quellen, – die Fachsprache der Geschichtswissenschaft, – die Bildungssprache, in der Geschichte im Unterricht verhandelt werden soll, – die Schulsprache, die in den Aufgabenstellungen der Lehrkraft und im Schulbuch verwendet wird, sowie – die Alltagssprache der Schülerinnen und Schüler.
Schulbücher sprachsensibel gestalten. Perspektiven der Schulbuchkonzeption
377
Die damit ohnehin gegebenen sprachlichen Herausforderungen haben sich in den letzten Jahren durch eine zunehmende Heterogenität der Schülerschaft in allen Schulformen verstärkt: Viele Schülerinnen und Schüler sprechen Deutsch nicht als Erstsprache. Insgesamt wird – auch durch das Konzept der Inklusion – das Spektrum sprachlicher Kompetenzen bzw. Lernausgangsbedingungen in einzelnen Klassen breiter. Angesichts dieser Ausgangslage wird schon seit einiger Zeit die generelle Forderung erhoben, Fachunterricht müsse stärker von seinen sprachlichen Voraussetzungen her gedacht und organisiert werden. Nur so könne eine allgemeine Unterrichtsteilhabe von Schülerinnen und Schülern sichergestellt werden.2 Für den Geschichtsunterricht gilt das aufgrund der Eigenheiten des Faches in besonderem Maße. Sprachliche Ausgangslagen und im Unterrichtskontext geforderte sprachliche Aktivitäten von Schülerinnen und Schülern sollten intensiver Berücksichtigung finden, und zwar im Unterricht selbst wie im Geschichtsbuch als Leitmedium des Geschichtsunterrichts. Wo Chancen und Grenzen einer sprachsensiblen Orientierung dieses Mediums liegen, soll dieser Beitrag zeigen. Dafür wird zunächst ein Blick auf die spezifischen Bedingungen der Konzeption und Produktion von Geschichtsschulbüchern geworfen.
2.
Rahmenbedingungen des Mediums Schulbuch
›Schulbuchmacher‹, d. h. Autorinnen und Autoren, Redakteurinnen und Redakteure, Herausgeberinnen und Herausgeber, sind in ihren Gestaltungsmöglichkeiten nicht frei. Schulbücher unterliegen zahlreichen Vorgaben und Rahmenbedingungen, die auch im Hinblick auf eine sprachsensible Ausrichtung zu berücksichtigen sind.3 Zunächst haben sie sich an curricularen Bestimmungen im jeweiligen Bundesland und für die jeweilige Schulform zu orientieren. Diese betreffen nicht nur die für ein Schuljahr vorgeschriebenen Themen, sondern auch die Strukturierung (Epochenquerschnitte, Längsschnitte u. a.), die Kompetenzsystematik und -begrifflichkeit und ggf. die Vorgabe und Definition von Operatoren. Bei der Behandlung der Themen müssen Schulbücher mit sehr begrenztem Raum auskommen, denn ihr Gesamtumfang muss überschaubar bleiben und die einzelnen Themen müssen – insbesondere in der Sekundarstufe I – für Schülerinnen und Schüler bei knappem Stundenansatz zu bewältigen sein. Manche aktuellen Schulbücher weisen deshalb pro Unterkapitel nur noch eine Doppelseite auf. Hinzu kommt ein definiertes Layout, und zwar im Hinblick auf 2 So etwa Leisen (Anm. 1), Grundlagenteil, S. 3. 3 Vgl. Michael Sauer: Schulgeschichtsbücher. Herstellung, Konzepte, Unterrichtseinsatz. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016) H. 9/10, S. 588–603.
378
Michael Sauer / Jana Schumann
das gesamte Buch, auf Groß- und Unterkapitel, Inhaltsseiten und unterschiedliche Arten von Sonderseiten. Sprachsensibilität ist im Schulbuch ein konzeptioneller Aspekt neben vielen anderen. Seine Umsetzung muss sich vereinbaren lassen sowohl mit den genannten curricularen Vorgaben wie auch mit den formalen Zwängen, denen das Schulbuch unterliegt. Sprachförderkonzepte, wie sie in der Sprachdidaktik oder im DaF/DaZ-Bereich propagiert werden, sind oft ausgesprochen elaboriert und aufwendig; in einem Schulbuch für ein Sachfach lassen sie sich deshalb kaum adaptieren – in ihrer ganzen Machart, aber auch im Hinblick auf die Umfangsressourcen eines Schulbuchs.4 Ohnehin ist zu bedenken, dass es beim Geschichtsunterricht und beim Geschichtsschulbuch stets um – sprachlich sensiblen – Fachunterricht geht, nicht aber um Sprachförderung mithilfe des Fachs. Schließlich gibt es ein doppeltes zeitliches Ressourcenproblem. Wenn in einzelnen Untersuchungen beispielsweise Schulbuchverfassertexte unter die Lupe genommen werden, geschieht dies mit einem erheblichen analytischen Aufwand. Sich derart intensiv mit Texten zu befassen, ist im Alltag der redaktionellen Arbeit nicht möglich. Tatsächlich sollten idealerweise nicht nur Verfassertexte, sondern sogar die kompletten inhaltlichen Angebote von Schulbüchern generell mit Schülerinnen und Schülern erprobt werden. Dafür fehlt jedoch die Gelegenheit, denn Schulbücher entstehen durchweg unter erheblichem Zeitdruck, weil sie in aller Regel neue Curricula innerhalb eines engen Zeitfensters zwischen Veröffentlichung und Inkrafttreten bedienen müssen. Ein Zeitproblem gibt es auch im Unterricht selbst: Die Stundenansätze für das Fach Geschichte nehmen seit Jahren tendenziell ab, die an den Unterricht gerichteten Ansprüche dagegen nehmen – mit Recht – zu. Das macht es schwierig, einer weiteren Zusatzaufgabe jenen Platz einzuräumen, den man sich im günstigsten Fall wünschen würde.
4 Das gilt auch für Ansätze einer »Didaktik der Textprozeduren«, die seit einiger Zeit in der Sprachdidaktik propagiert werden. Vgl. Eike Thürmann/Helmut Johannes Vollmer: Sprachliche Dimensionen fachlichen Lernens. In: Michael Becker-Mrotzek/Hans-Joachim Roth (Hrsg.): Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder. Münster/New York 2017, S. 299–320. Der »Genre-based Curriculum Cycle«, auf den dabei häufig Bezug genommen wird, lässt sich nur sehr bedingt auf das Fach Geschichte anwenden. Vorschläge dazu bei Caroline Coffin: Learning the language of school history. The role of linguistics in mapping the writing demands of the secondary school curriculum. In: Journal of Curriculum Studies 38 (2006) H.4, S. 413–429. Vgl. als Unterrichtsvorschlag Mareike-Cathrine Wickner: So schließt sich der Kreis. Textsortenspezifische Schreibförderung im Geschichtsunterricht mit dem »Genre Cycle«. In: Geschichte lernen 31 (2018) H. 182, S. 56–62. Vgl. zu erprobtem Unterricht auf der konzeptionellen Basis von Textprozeduren Max-Simon Kaestner/Britta Wehen: Historische Urteilsbildung (sprachlich) fördern. Eine Unterrichtseinheit zur Aneignung sprachlicher Werkzeuge für das Schreiben von Sachurteilen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), S. 64–81.
Schulbücher sprachsensibel gestalten. Perspektiven der Schulbuchkonzeption
3.
379
Schulbuch und Geschichtsdidaktik
Woher lassen sich Anregungen und Konzepte zur Weiterentwicklung von Schulbüchern gewinnen? Diese Frage stellt sich nicht nur im Hinblick auf das Thema Sprachsensibilität. Die dafür zuallererst zuständige Disziplin ist die Geschichtsdidaktik. Freilich gelangt diese eher selten auf die dafür notwendige pragmatische Ebene, auf der konzeptionelle Ideen und Herausforderungen unterrichts- und schulbuchkompatibel kleingearbeitet und konkretisiert werden.5 Selbstverständlich muss sich die Geschichtsdidaktik als wissenschaftliche Disziplin um die grundlegende theoretische oder auch empirische Klärung einschlägiger Fragen kümmern. Das sollte freilich nicht bedeuten, keinerlei pragmatischen und medienspezifischen Ehrgeiz zu entwickeln – davon ist gleichwohl oft zu wenig zu spüren. Ein medienadäquater Blick ist im Übrigen nicht nur bei Fragen der Schulbuchkonstruktion, sondern auch der Schulbuchanalyse vonnöten. Dem ›Medienpaket‹ Schulbuch wird man nur gerecht, wenn man seine Bausteine in ihrer engen funktionalen Verzahnung in den Blick nimmt und nicht, wie es noch immer zuweilen geschieht, Einzelbausteine isoliert untersucht und kritisiert. Was in der Geschichtsdidaktik so gut wie ganz fehlt, ist schulbuchbezogene Rezeptionsforschung. Sie könnte Schulbuchmacherinnen und Schulbuchmachern (und selbstverständlich auch Lehrkräften) wichtige Informationen an die Hand geben, die zu einer Optimierung der Adressatenorientierung beitragen könnten; das würde, wenngleich stärker forschungsorientiert, in Richtung jener Erprobung führen, die die Verlage selbst nicht leisten können. Alles in allem bedeutet dies: Geschichtsdidaktische Vorarbeiten, aus denen man gewissermaßen top-down Anregungen zur Schulbuchentwicklung erhalten könnte, gibt es kaum. Stattdessen vollzieht sich diese Entwicklung vornehmlich auf Basis der Unterrichts- und Medienerfahrung der Beteiligten bottom-up, wobei vorhandene Anregungen aus der geschichtsdidaktischen Diskussion eklektisch und pragmatisch aufgegriffen werden. Die Wissenschaft will und kann sich viel Zeit für ihre Untersuchungen lassen – Verlage müssen innerhalb eines engen, von außen definierten Zeitrahmens ›liefern‹.
5 Das gilt im Übrigen auch für das in der deutschen Geschichtsdidaktik so hoch gehandelte Konzept der Narrativität. Es gibt kaum handfeste Hinweise darauf, was gutes ›Erzählen‹ ausmacht, welche sprachlichen Muster dafür erforderlich sind und wie Schülerinnen und Schüler diese realisieren bzw. erlernen können (vgl. Bernhardt/Conrad [Anm. 1], S. 4f.). Vorliegende Vorschläge für Operationalisierungen sind sehr elaboriert und beziehen sich auf unterrichtsuntypische ›Großerzählungen‹, so etwa bei Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010, S. 128. Ein Problem liegt insbesondere darin, dass wegen der Orientierung am Metabegriff ›Erzählen‹ zu wenig zwischen unterschiedlichen möglichen Erzählformaten, Textsorten oder Diskursfunktionen und den damit verbundenen spezifischen sprachlichen Anforderungen differenziert wird.
380
4.
Michael Sauer / Jana Schumann
Konzeptionelle Ansätze für Sprachsensibilität im Schulbuch
Diese Problematisierungen vorausgeschickt – wie reagieren Schulbuchmacherinnen und -macher nun konkret auf die Herausforderung eines sprachsensiblen Geschichtsunterrichts?6 Das soll im Folgenden anhand des einschlägigen Konzepts des Klett-Buches »Geschichte und Geschehen« (Sekundarstufe I) verdeutlicht werden, an dem die Autorin und der Autor als Redakteurin bzw. Herausgeber beteiligt sind. Alle Beispiele stammen aus Band 1 der aktuellen Ausgabe für Nordrhein-Westfalen, der an die 5. und 6. Klasse adressiert ist.7 Einzelne Elemente, die Schülerinnen und Schülern sprachliche Unterstützung bei der Arbeit mit dem Buch geben sollen, waren auch in Vorgängerausgaben bereits vorhanden, so z. B. Begriffserläuterungen zu Quellen und Verfassertexten oder ein Operatorenglossar. In der neuen Ausgabe ist die Zielsetzung umfassender geworden. Es ging darum, Maßnahmen in Richtung Sprachsensibilität zu systematisieren, konzeptionell zu fokussieren und zu ›labeln‹, also für Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrkräfte als Nutzer des Buches wahrnehmbar zu machen. Alle Beteiligten haben sich zu diesem Zweck bemüht, gleichsam eine ›sprachsensible Brille‹ aufzusetzen. Und in der Tat haben sie durch diese Brille weitaus mehr Hürden, aber auch Unterstützungsmöglichkeiten wahrgenommen als zuvor. Dabei kommen – allerdings ohne explizite Differenzierung – zwei Strategien zur Geltung, die Josef Leisen beim sprachsensiblen Umgang mit Texten im Fachunterricht unterscheidet. Die eine zielt auf »Anpassung des Lesers an den Text durch Strategien zur Verbesserung des Textverstehens«; die andere strebt eine »Anpassung des Textes an den Leser durch Eingriffe in den Text zur Erleichterung des Textverstehens« an.8 Insgesamt geht es um ein Spektrum sehr unterschiedlicher »Texte«. Sprachsensibel optimierbare und optimierte Schulbuchbausteine sind die Verfassertexte mit Marginalien, die Quellen mit ihrem Präsentationskontext, die Aufgaben/Arbeitsaufträge, das Operatorenglossar sowie bestimmte Sonderseiten. Konzepte zur sprachsensiblen Differenzierung dieser Bausteine sollen im Folgenden beispielhaft vorgestellt werden. 6 Ein sehr allgemeiner Problemaufriss bei Anastasia Moraitis/Sven Oleschko: Die Sprache im Schulbuch. Erste Überlegungen zur Entwicklung von Geschichts- und Politikschulbüchern unter Berücksichtigung sprachlicher Besonderheiten. In: Bildungsforschung 9 (2012) H. 1, S. 11–46 (https://bildungsforschung.org/ojs/index.php/bildungsforschung/article/view/149, aufgerufen am 18. 02. 2020). 7 Michael Sauer (Hrsg.)/Carsten Loth und Jana Schumann (Red.): Geschichte und Geschehen Ausgabe Nordrhein-Westfalen. Schülerband 1. Stuttgart 2019. Erläuterungen zum Konzept finden sich in Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen Ausgabe Nordrhein-Westfalen. Lehrerband 1, Stuttgart 2019, S. 3f. Andere Verlage haben ähnliche, zumeist aber reduziertere Ansätze entwickelt. 8 Leisen (Anm. 1), Grundlagenteil, S. 121, Schema.
Schulbücher sprachsensibel gestalten. Perspektiven der Schulbuchkonzeption
4.1
381
Verfassertexte
Verfassertexte müssen auf sehr überschaubarem Raum komplexe historische Gegebenheiten sprachlich abbilden. Dabei geht es stets um eine Gratwanderung zwischen Sachadäquatheit und Adressatenorientierung. Der Text muss bei aller notwendigen inhaltlichen Elementarisierung der Sache gerecht werden, sonst ist er nicht zu verantworten; gleichzeitig ist nichts gewonnen, wenn er zwar die Sache angemessen darstellt, für Schülerinnen und Schüler aber unverständlich bleibt. Deshalb orientieren sich Verfassertexte soweit wie möglich an einigen allgemeinen Maximen, mit denen sich Verständnishürden reduzieren lassen. Sie sind durch Zwischenüberschriften und weitere Absätze strukturiert, Zeilenzählung soll Orientierung und Verweise erleichtern. Die Satzlänge ist möglichst überschaubar, stark hypotaktische Satzkonstruktionen und schwierige Satzelemente (Passivkonstruktionen, komplexe Nominalgruppen, Partizipialgruppen) gilt es zu vermeiden. Weite Satzklammern, wie sie im Deutschen möglich sind, und komplizierte Satzstellungen sollten nicht verwendet werden. Als Autorin oder Autor ist man beispielsweise geneigt, aus stilistischen Gründen Inversionen einzusetzen. Diese erschweren jedoch das Textverständnis, weil sie von Schülerinnen und Schülern sprachlich wieder umgedacht werden müssen. Spezifischer um Probleme des ›Erzählens‹ von Geschichte geht es bei den folgenden Punkten. Eine Verständnishürde sind Umstellungen, die der Chronologie widersprechen, und zwar sowohl auf der Text- wie auch auf der Satzebene. Folgt beispielsweise auf einen Hauptsatz ein vorzeitiger Nebensatz mit der Konjunktion »nachdem«, so verkehrt sich die eigentliche Chronologie – das müssen Leserinnen und Leser verstehen und erst wieder ›umdenken‹. Vermieden werden müssen Vorausblicke auf spätere Ereignisse, die den Schülerinnen und Schülern noch gar nicht bekannt sind. Ein Thema für sich ist der Umgang mit Begriffen9. Sie stellen im Fach Geschichte aus verschiedenen Gründen eine besondere Herausforderung dar. Begriffe müssen in ihren historischen Kontexten verstanden werden. Das ist besonders dann schwierig, wenn sie Schülerinnen und Schülern aus der Gegenwart bereits bekannt sind, aber historisch etwas anderes bedeuten. Solche Begriffe müssen sorgfältig geklärt und historisiert werden. Zudem sollte eine unnötige Varianz in der Begriffsverwendung vermieden werden. So ist in Schulbüchern oft nach- und nebeneinander von »Karthagern« und »Puniern« die Rede; Schülerinnen und Schüler müssen dann erst erkennen, dass es sich um dieselbe Gruppe handelt. Sofern es sich nicht um unentbehrliche Fachbegriffe handelt, sollten Verfassertexte – jedenfalls in den unteren Klassenstufen – ganz auf schwierige 9 Vgl. Michael Sauer: Begriffslernen und Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht. Frankfurt/M. 2019.
382
Michael Sauer / Jana Schumann
Begriffe verzichten. Schließlich können auch Redewendungen wie »ein Gesetz verabschieden« oder sprachliche Bilder wie »eine versunkene Kultur« Verständnishürden darstellen, auf die es zu achten gilt. Betrachtet man vorliegende Texte im Lichte solcher Maximen, so fallen einem erstaunlich viele Optimierungsmöglichkeiten auf. Hier die Gegenüberstellung zweier Texte aus einer älteren Ausgabe von »Geschichte und Geschehen« mit denen der aktuellen. Es geht um das Thema Rom (S. 102, 109): Alte Ausgabe
Aktuelle Ausgabe
Text 1: Während die Mehrzahl der
Die Stadt war das politische und
Bürger als Bauern in der
wirtschaftliche Zentrum der
unmittelbaren Umgebung Roms
Römer. Die meisten Bürger lebten
lebte, lag das politische und
aber als Bauern in der
wirtschaftliche Zentrum in der
unmittelbaren Umgebung Roms.
Stadt Rom. Text 2: In Rom waren viele
Viele römische Familien waren
Familien durch das Klientelwesen
Klienten von adeligen Herren,
eng miteinander verbunden.
ihren Patronen. Der Patron hatte
Die adligen Patrone nutzten die
gegenüber seinen Klienten eine
Abhängigkeit ihrer Klienten, um
Fürsorgepflicht. Dafür
politische Entscheidungen und
unterstützten ihn die Klienten
Interessen durchzusetzen.
politisch. Auch die
Zwischen Politik und Familie
Klientenfamilien gehörten zur
wurde nicht getrennt .
familia des Adligen. Politik und Familie gehörten zusammen.
Abb. 1: Optimierung des Verfassertextes
Der alte Text 1 beginnt mit einem Nebensatz, der durch die Konjunktion »während« eingeleitet wird. Das ist für das Verständnis der Schülerinnen und Schüler doppelt schwierig: Zum einen kann »während« auch als Präposition fungieren und muss hier erst richtig als Konjunktion aufgefasst werden. Zum anderen ist die Verwendung als temporale Konjunktion gebräuchlicher als die hier vorliegende adversative. Die neue Textvariante verwendet stattdessen zwei Hauptsätze, der Gegensatz wird durch die nebenordnende Konjunktion »aber« im zweiten Satz ausgedrückt. Im Text 2 finden wir zunächst den abstrakten Begriff »Klientelwesen«. Er ist im revidierten Text weggelassen, stattdessen werden die beiden agierenden
Schulbücher sprachsensibel gestalten. Perspektiven der Schulbuchkonzeption
383
Gruppen, nämlich Klienten und Patrone, genannt. Im zweiten Satz wurde der erweiterte Infinitiv mit »um zu«, ein umgeformter Finalsatz, beiseitegelassen, im dritten das überflüssige Passiv beseitigt.10 Schon seit längerer Zeit ist es üblich, die Verfassertexte durch Begriffserläuterungen in einer Marginalienspalte zu entlasten.11 Neu im Konzept von »Geschichte und Geschehen« ist, dass sich diese Erläuterungen nun auch auf andere Begriffe erstrecken, bei denen man auf der jeweiligen Klassenstufe Verständnisschwierigkeiten vermuten kann. Beispiele aus Band 1 sind »Terrasse«, »Bürgerkrieg«, »Heide«, »weltlich«, »geistlich«. Zu einem besseren Verständnis von Verfassertexten und umgekehrt auch Materialien können Verweise beitragen. Wird im Verfassertext ein Ort erwähnt und befindet sich zwei Seiten weiter im Arbeitsteil eine Karte, auf der dieser Ort eingetragen ist, so bietet sich ein Verweis auf diese Karte an. Wird im Verfassertext ein bestimmtes Objekt erwähnt, von dem es auch eine Abbildung gibt (etwa in Band 1 ein Faustkeil), so sollte darauf verwiesen werden, damit Schülerinnen und Schüler von Anfang an die richtige Vorstellung davon gewinnen können. Nicht neu, aber in diesem Zusammenhang auch zu erwähnen ist das Kompetenztraining »Verfassertexte auswerten«, das Schülerinnen und Schülern bei der sinnvollen Arbeit mit Verfassertexten unterstützen soll.
4.2
Textquellen
Die Basis des deutschen Geschichtsunterrichts bildet die Arbeit mit Textquellen. Entsprechend viel Raum nehmen sie auch im Schulbuch ein. Fremdsprachige Textquellen werden in der Regel in deutscher Übersetzung dargeboten, Textquellen aus älteren Sprachformen häufig übertragen. Bei sonstigen deutschsprachigen Textquellen ist es im Rahmen des deutschen Quellenparadigmas – zumindest in Gymnasialbüchern – unüblich, Quellen zum besseren Verständnis durch Schülerinnen und Schüler eingreifend umzuschreiben. Es ist also keine generelle Anpassung an den sprachlichen Horizont von Schülerinnen und Schülern möglich. Welche Optionen, deren Textverstehen zu unterstützen, gibt es dennoch? 10 Vgl. dazu auch den Beitrag von Viola Schrader in diesem Band. 11 Als Scaffolding ist dies im Fremdsprachenunterricht und auch im bilingualen Sachfachunterricht seit Langem obligatorisch. Vgl. Alexander Heimes: Die Integration von Sprach- und Fachlernen, Scaffolding und Diskurskompetenz. Bilingualer (Geschichts-)Unterricht als Beispiel für sprachsensiblen Fachunterricht. In: Katharina Grannemann/Sven Oleschko/ Christian Kuchler (Hrsg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache. Münster/New York 2018, S. 201–224.
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Michael Sauer / Jana Schumann
Seit längerer Zeit schon ist es im Schulbuch Standard, Textquellen mit einer Anmoderation zu versehen, die jene Kontextinformationen vermittelt, die zum Verständnis und zur Einordnung der Quelle unbedingt notwendig sind – zum Verfasser, zur Entstehungszeit und zum Entstehungszusammenhang, zur Textgattung sowie ggf. zu Adressaten oder zur Rezeption. Zum Quellentext selbst sind in der Regel Worterläuterungen notwendig. Worterläuterungen zu zeitspezifischen Begriffen – im weitesten Sinne Fachbegriffen – haben sich bereits seit Längerem eingebürgert. Das Konzept von »Geschichte und Geschehen« sieht nun darüber hinaus vor, dass auch andere Begriffe, sprachliche Wendungen oder Metaphern erläutert werden, bei denen anzunehmen ist, dass sie heutigen Schülerinnen und Schülern fremd sind und für sie Verstehenshürden darstellen könnten. Beispiele für in der aktuellen Auflage erstmals erklärte Wörter und Begriffe sind »Plateau«, »Zuchtlosigkeit«, »untadelig«, »keusch«, »Sänfte«, »Einöde«, »Veteranen«, »anmutig«, »Sippe«, »Bedacht«, »Parteiung«, »höhnisch«, »anonym« oder »imposant«.
4.3
Arbeitsaufträge
Textquellen sind in modernen Schulbüchern obligatorisch mit Arbeitsaufträgen versehen; diese werden in der Regel mit Operatoren formuliert. Operatoren definieren die geistigen Tätigkeiten, die Schülerinnen und Schüler mit den Quellen (und auch Darstellungen) vollziehen sollen. Zugleich sind mit ihnen auch sprachliche Anforderungen verbunden. In »Geschichte und Geschehen« gibt es nun in jedem Unterkapitel mindestens einen sprachbezogenen Arbeitsauftrag. Diese Arbeitsaufträge werden mit dem Signet »SP« ausgewiesen. Dabei kommen verschiedene Varianten zum Einsatz: a) Arbeitsaufträge, die auf das Verstehen und Anwenden von Operatoren abzielen; b) Arbeitsaufträge, die (wiederum in verschiedenen Spielarten) Formulierungshilfen für intendierte Sprachhandlungen bieten; c) Arbeitsaufträge, bei denen es um die Überprüfung von Formulierungen auf Wahrscheinlichkeit bzw. Triftigkeit geht. Im Folgenden werden einige Beispiele für die Formulierung solcher Arbeitsaufträge vorgestellt. Beim Verstehen und Anwenden von Operatoren (a) kann zunächst auf das vorhandene Operatorenglossar (dazu unten mehr) verwiesen werden. Es können aber auch noch einmal Hinweise im Arbeitsauftrag selbst gegeben werden. So im folgenden Beispiel aus einem Kapitel über die Franken (S. 153). Der Operator »Begründen« wird noch einmal umschrieben und es
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385
werden Beispiele für Konnektoren gegeben, mit denen man ihn sprachlich realisieren kann.
Abb. 2: Erläuterung eines Operators mit Angabe von Konnektoren
Formulierungshilfen für intendierte Sprachhandlungen (b) können auf unterschiedliche Weise gegeben werden. So können etwa Beispiel- oder Einstiegsformulierungen Schülerinnen und Schülern dabei helfen, in einen zu schreibenden Text hineinzukommen und dessen Duktus zu erfassen. Dazu ein Beispiel aus dem Kapitel »Der Mensch und seine Geschichte« (S. 23):
Abb. 3: Unterstützung durch Beispiel- oder Einstiegsformulierungen
Ähnlich funktioniert die Vorgabe einzelner Begriffe, die Schülerinnen und Schüler in der Umsetzung des Arbeitsauftrags verwenden sollen. Diese Vorgabe kann ihre Vorstellung anregen und ihnen helfen, in die Aufgabe zu starten: »Schreibe eine Jagdgeschichte. Verwende die folgenden Wörter: Speere, Tal, Fackeln, Schrei, Versteck, Flucht, Beute, Bäume, Felsen, Jäger, Treiber.« (S. 30) In Schulbüchern treten vermehrt Aufgaben auf, die auf eine historische Simulation zielen: Schülerinnen und Schüler sollen sich zu einer Quelle oder allgemeiner zu einer historischen Situation aus der Perspektive von Zeitgenossen in
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einer vorgestellten Rolle und in einer bestimmten Textsorte äußern. Als Textsorten für eine solche handlungsorientierte Aufgabe eignen sich zum Beispiel ein Tagebucheintrag, ein Brief, ein Zeitungsartikel, eine Rede, ein Flugblatt, ein Interview, eine Reportage, als hybrides Format auch ein Plakat. Damit die Schülerinnen und Schüler einem solchen Arbeitsauftrag nachkommen können, muss ihnen erläutert werden, was die inhaltlichen und sprachlichen Besonderheiten der jeweiligen Textsorte sind.12 Hinweise zum Lösen von Aufgaben zur Perspektivübernahme finden sich in »Geschichte und Geschehen« (zusammen mit dem Operatorenglossar) auf den Ausklappseiten hinter dem vorderen Umschlag. Sie können aber auch im Arbeitsauftrag selbst noch einmal explizit formuliert werden. Im folgenden Beispiel zur Ermordung Caesars geht es um die Textsorte ›Rede‹, die Schülerinnen und Schüler aus einer definierten Perspektive und für eine vorgestellte historische Situation entwerfen sollen (S. 119). Die Aufgabe liefert Stichworte dafür, wie sie dies rhetorisch realisieren können.
Abb. 4: Erläuterungen zu einer intendierten Textsorte bei einem handlungsorientiert-perspektivierenden Arbeitsauftrag
Ebensolche Hilfestellungen zu Textsorten werden bei Arbeitsaufträgen gegeben, die auf die Zusammenfassung und Präsentation von Arbeitsergebnissen zielen. Auch hier geht es um die Produktion von Schülertexten, allerdings nicht in simulierten historischen Situationen. Dabei kann es sich um eine rein textliche Zusammenfassung, um ein Lernplakat (klare Strukturierung, grafische Ele12 Eine sprachliche Annäherung an die historische Zeit, um die es geht, stellt eine zusätzliche Herausforderung dar, der Schülerinnen und Schüler (und auch Lehrkräfte) im Allgemeinen kaum entsprechen können dürften: Welche Anredevarianten gab es im Mittelalter?
Schulbücher sprachsensibel gestalten. Perspektiven der Schulbuchkonzeption
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mente), um einen Artikel für ein Schülerlexikon (Einstiegsdefinition, historische Kontextualisierung, unterschiedliche Beispiele) oder um moderne Kommunikationsformate wie SMS oder Tweet (extreme Verdichtung) handeln. Auch hier müssen den Schülerinnen und Schülern die strukturellen und sprachlichen Besonderheiten des jeweiligen Formats, das sie bedienen sollen, vermittelt werden. Zu einem modernen Verständnis des Fachs Geschichte gehört es, Reflexionen darüber anzustellen, woher wir etwas über bestimmte Phänomene der Vergangenheit wissen und wie genau wir dies wissen können (c). Der Grad der Wahrscheinlichkeit oder Triftigkeit, mit der wir über diese Phänomene eine Aussage treffen können, muss dann auch sprachlich zum Ausdruck gebracht werden, nämlich durch die Verwendung von Adverbien wie »sicher«, »wahrscheinlich«, »vermutlich« oder »vielleicht« bzw. durch entsprechende Modaladverbiale. Dies wird in dem folgenden Beispiel intendiert, bei dem es um die Quellenlage zur Gründungsgeschichte Roms geht (S. 103):
Abb. 5: Erläuterungen zum Ausdruck unterschiedlicher Grade von Wahrscheinlichkeit oder Triftigkeit
4.4
Sonderseiten
Moderne Geschichtsschulbücher enthalten diverse Sonderseiten. Sie sind zum ersten Mal in den 1990er-Jahren als sog. Methodenseiten eingesetzt worden. Heute hat sich das Spektrum ihrer Funktionen verbreitert. Hier werden einzelne Beispiele mit ihren jeweiligen Sprachförderfunktionen vorgestellt. Schon seit einigen Jahren enthalten die meisten Geschichtsschulbücher sog. Operatorenglossare. Die Operatoren, die in den Arbeitsaufträgen verwendet werden, sollen den Schülerinnen und Schülern dort erklärt werden. Man orientiert sich dabei – soweit vorhanden – an den Vorgaben der jeweiligen Ländercurricula oder aber an den Definitionen der von der Kultusministerkonferenz herausgegebenen »Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung«. Im Kontext eines sprachsensiblen Geschichtsunterrichts bietet es sich an, diese Erklärungen zu erweitern und Hinweise für die sprachliche Umsetzung der
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einzelnen Operatoren anzubieten. Der folgende Ausschnitt aus dem »Geschichte und Geschehen«-Glossar zeigt dies: In der linken Spalte stehen die Operatoren, in der Mitte die Erklärungen, rechts werden dazu Formulierungsvorschläge gemacht; hervorgehoben ist hier eine Passage, bei der es um die Anwendung des Operators »Beschreiben« auf Bildquellen geht (Ausklappseite hinter der vorderen Umschlagseite):
Abb. 6: Operatorenglossar mit Formulierungsvorschlägen
Die klassischen, je nach Schulbuch unterschiedlich benannten Methodenseiten (in »Geschichte und Geschehen« als »Kompetenztraining Fachmethode« bezeichnet) sollen Schülerinnen und Schülern vermitteln, wie man adäquat mit Quellen und zum Teil auch mit Darstellungen von Geschichte (zum Beispiel Geschichtskarten, Rekonstruktionszeichnungen, Spielfilmen, Filmdokumentationen, Verfassungsschemata oder -schaubildern) umgeht. In der Regel wird hierfür ein (bei Klett durchweg dreischrittiges) Analyseschema vorgegeben und erläutert. Bislang war damit in »Geschichte und Geschehen« ein Musterbeispiel verbunden, an dem exemplarisch die Umsetzung dieses Analyseschemas vorgeführt wurde. Dieses Konzept ist jetzt zugunsten eines neuen sprachsensiblen
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Bausteins verändert worden. Es gibt weiterhin ein Beispiel, aber nun in Form einer Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler unter Anwendung des Schemas selbst lösen sollen – eine Musterlösung wird jetzt online angeboten. Ergänzt wurden für alle drei Schritte der Analyse mögliche Satzanfänge als Formulierungshilfen. Hier als Beispiel die rechte Seite des doppelseitigen Kompetenztrainings »Bildquellen untersuchen«, bei dem es im Kontext des Themas Mittelalter um die Gattung Buchmalerei geht (S. 163).
Abb. 7: Kompetenztraining mit Formulierungsvorschlägen
Ganz neu ist schließlich ein spezielles Kompetenztraining für den Umgang mit Operatoren. Es stellt eine Weiterführung und Intensivierung jener Formulierungshilfen zu Operatoren dar, die im Operatorenglossar gegeben werden. Die Realisierung ausgewählter zentraler Operatoren wird an Modelltexten vorge-
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führt, sprachliche Regeln und Mittel werden bewusst gemacht und bei der Entwicklung eines eigenen Textes angewendet.13 Im Sinne einer Lernprogression behandelt Band 1 von »Geschichte und Geschehen« die Operatoren »Beschreiben« und »Zusammenfassen« und Band 2 »Analysieren«, »Erklären« und »Erläutern«. In Band 3 werden »Begründen«, »Vergleichen« und »Erörtern« und in Band 4 »Beurteilen« und »Bewerten« folgen. Auf der folgenden Seite als Beispiel die Kompetenztrainingsseite zum Operator »Zusammenfassen« (S. 112f.). Alle aktuellen Schulbücher bieten heute Sonderseiten, die am Ende von Großkapiteln der Wiederholung und Zusammenfassung von Gelerntem dienen sollen. Längere Zeit waren derartige Seiten verpönt. Der Grund dafür: Wenn Schülerinnen und Schüler mithilfe des Schulbuchangebots zu eigenen Vorstellungen und Deutungen von Geschichte gelangen sollen, kann man ihnen schlecht am Ende eine verbindliche Vorgabe dafür machen. Heutige Abschlussseiten zielen weniger darauf ab, dass ein definierter fester Wissensbestand (auswendig) gelernt werden soll, sondern sie wollen die behandelten Themen durch geeignete Aufgaben noch einmal ›umwälzen‹ und dabei auch nochmals Akzente im Einüben von Methoden setzen. Die entsprechenden Seiten in »Geschichte und Geschehen« heißen deshalb auch »Wiederholen und Anwenden«. Hier wurde nun mit Blick auf sprachsensiblen Geschichtsunterricht in etwa der Hälfte der Großkapitel ein neuer Baustein eingefügt, nämlich Concept Maps. Concept Maps können im Fach Geschichte dazu dienen, historische Sachverhalte und Zusammenhänge auf der Basis von Begriffen visualisiert, komprimiert und strukturiert darzustellen. Deshalb eignen sie sich für die Zusammenfassung, die Wiederholung, aber auch die längerfristige Speicherung von Inhalten – für die Speicherung besonders deswegen, weil sie sich als Gesamtfigur einprägen, in die Details eingebunden sind. Der »Klassiker« der Concept Map ist das Verfassungsschema oder -schaubild. Für die Arbeit mit Concept Maps gibt es unterschiedliche Varianten: Sie können Schülerinnen und Schülern fertig dargeboten werden; deren Aufgabe ist es dann, diese Darstellung richtig zu ›lesen‹. Schülerinnen und Schüler können eine Concept Map auch komplett eigenständig entwickeln. Und schließlich ist ein Halbfertigprodukt möglich, das die Lernenden dann stimmig ergänzen müssen. »Geschichte und Geschehen« arbeitet mit 13 Auf solchen Kompetenzseiten kann am ehesten im Sinne des oben vorgestellten »Genre Cycle« (Anm. 3) gearbeitet werden. Vgl. vorliegende pragmatische Vorschläge zum Operator »Begründen« bei Tülay Altun/Katrin Günther: Die Debatte um die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Nationalkonvent. Gründe erkennen und formulieren. Eine sprachliche und fachliche Herausforderung im Geschichtsunterricht. In: Geschichte lernen 31 (2018) H. 182, S. 16–22, hier S. 22, sowie Charlotte Puls: Der Pott kocht. Die »soziale Frage« im 19. Jahrhundert. In: Praxis Geschichte 31 (2018) H. 2, S. 40–45, hier S. 45. Das Problem, dass mit Operatoren intendierte Sprachhandlungen sich längst nicht immer auf Textsorten im Sinne eines »Genre Cycle« abbilden lassen, kann hier nicht weiter diskutiert werden.
Schulbücher sprachsensibel gestalten. Perspektiven der Schulbuchkonzeption
Abb. 8: Kompetenztraining für Operatoren
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Abb. 9: Zusammenfassung, Wiederholung und Speicherung mit Concept Maps
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solchen Halbfertigprodukten, wobei im Sinne einer Progression im Verlauf der Bände die Vorgaben immer geringer und die Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler immer größer werden sollen. Was eine Concept Map überhaupt ist, wie man mit ihr arbeiten bzw. sie erstellen kann, das wird den Schülerinnen und Schülern beim ersten Vorkommen – nämlich beim Thema »Frühzeit des Menschen« (Abb. 9, S. 392) – erläutert (S. 40).
5.
Grenzen des Schulbuchs – Möglichkeiten des Unterrichts
Geschichtsschulbücher enthalten, das sollte deutlich geworden sein, mittlerweile eine ganze Reihe von Bausteinen, die Schülerinnen und Schülern helfen können, mit den sprachlichen Herausforderungen des Unterrichtsfachs besser zurechtzukommen. Freilich sind Schulbücher, auch wenn die modernen im Sinne von Selbstlernbüchern konzipiert sind, immer nur Angebote für die Gestaltung des Unterrichts. Wie Unterrichtsarbeit konkret (mit oder ohne Schulbuch) stattfindet, entscheidet, plant und realisiert selbstverständlich die Lehrkraft. Im Hinblick auf Sprachsensibilität hat sie – dies sei hier nur kurz angedeutet – weiter- oder tiefergehende Möglichkeiten zur Verfügung als jene, die das Schulbuch anbieten kann. – Die Lehrkraft kann in ihrem Unterricht gezielt adressatenorientiert arbeiten und die spezielle Lernausgangslage ihrer Klasse in Rechnung stellen (fachliches Wissen, fachliche Kompetenzen, sprachliche Fähigkeiten). – Sie kann selbsterstellte Materialien stärker und gezielter differenzieren als das Schulbuch mit seinen begrenzten Umfangsressourcen (wobei hier OnlineAngebote zu Schulbüchern flankierende Angebote machen können).14 – Sie kann sprachliche Unterstützungsangebote dosieren, also zum Beispiel Hilfestellungen noch nicht sofort präsentieren, sondern sie zunächst in der Hinterhand halten und sukzessive den Schülerinnen und Schülern anbieten (etwa durch den Einsatz von »Hilfekärtchen«). Das Schulbuch kann solche Angebote nur aufnehmen oder aber weglassen, Variation ist allenfalls durch die Platzierung innerhalb des Buches möglich. 14 Grundsätzlich kann die Darbietung von Textquellen auf zweierlei Weise differenziert werden: im Umfang und in der Textgestalt. Eine Textquelle lässt sich als Faksimile, als wortgetreue Übertragung oder ggf. als modernisierende und vereinfachende Übertragung präsentieren. Hinzu kommen Differenzierungsmöglichkeiten bei den Arbeitsaufträgen. Ein digitales Schulbuch hat hier prinzipiell wesentlich größere Spielräume als ein Printbuch – auch im Hinblick auf differenzierende Arbeitsblätter. Das einzige existierende digitale Schulbuch für das Fach Geschichte, das mBook, schöpft diese allerdings nicht aus. Vgl. mBook Geschichte – das multimediale Schulbuch (https://mbook.schule/digitale-schulbuecher/, aufgerufen am 10. 02. 2020).
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Michael Sauer / Jana Schumann
– Sie kann sprachliche Unterstützungsangebote breiter einsetzen, als es im Schulbuch möglich ist.15 Diese können sich zum Beispiel auch auf Verfahren der Quellenanalyse oder auf historische Ereignisse und Personen beziehen.16 – Sie kann Schulbuchangebote aufgreifen und methodisch-technisch detaillierter umsetzen (zum Beispiel die Entwicklung einer Concept Map). – Sie kann mit geeigneten Materialien gezielt und wiederholend aufwendigere Übungsangebote machen, für die im Schulbuch kein Platz ist. Ein möglicher Ansatz dabei wäre der des argumentierenden Schreibens, wie er in jüngerer Zeit in der Deutschdidaktik stärker verfolgt wird.17 Entsprechende Praktiken sind im angloamerikanischen Bereich weitaus verbreiteter als bei uns, auch im Fach Geschichte.18 – Sie kann sich im Geschichtsunterricht auf vornehmlich im Deutschunterricht angesiedelte und ggf. schon eingeübte Lesestrategien beziehen.19 – Sie sollte auf die Einhaltung grundsätzlicher sprachlicher Standards achten, die für das Fach Geschichte von besonderem Belang sind, also etwa die Verwendung des Konjunktivs als sprachliches Mittel der Distanzierung bei der 15 Vgl. etwa die ausführlichen Anregungen zur Wortschatzarbeit bei Christoph Hamann/Thomas Krehan: Wortschatzarbeit im Geschichtsunterricht. In: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Hrsg.): Sprachbildung und Leseförderung in Berlin. Sprachsensibler Fachunterricht. Handreichung zur Wortschatzarbeit in den Jahrgangsstufen 5–10 unter besonderer Berücksichtigung der Fachsprache. Berlin 2013, S. 171–203 (http://bildungsserver. berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/themen/sprachbildung/Durchgaengige_Sprachbil dung/Publikationen_sprachbildung/sprachsensibler_fachunterricht/6_Sprachsensibler_Fach unterricht-Geschichte.pdf, aufgerufen am 10. 02. 2020). 16 Als Beispiel für einen breiten Einsatz von Hilfekarten der Unterrichtsvorschlag von Franziska Conrad/Kerstin Werner: Erinnerungskultur im Unterricht sprachbewusst gestalten. Das Beispiel des Reformationsjubiläums im Jahre 2017. In: Geschichte lernen 31 (2018) H. 182, S. 29–37. 17 Vgl. Helmuth Feilke/Doris Tophinke: Materialgestütztes Argumentieren. In: Praxis Deutsch 44 (2017) H. 262, S. 4–13. 18 Vgl. insbesondere die Lehreranleitung von Chauncy Monte-Sano/Susan de la Paz/Mark Felton, Mark: Reading, Thinking, and Writing About History. Teaching Argument Writing to diverse Learners in the Common Classroom, Grades 6–12. New York/Berkeley 2014, als Raster S. 181– 184. Daran anschließend plädieren Marcel Mierwald und Nicola Brauch für eine gezielte Entwicklung historischer Argumentationsfähigkeit, die unter anderem durch die Nutzung eines »How To Write Your Essay«-Plans gefördert werden könne. Marcel Mierwald/Nicola Brauch: Historisches Argumentieren als Ausdruck historischen Denkens. Theoretische Fundierung und empirische Annäherungen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 104–120. 19 Vgl. als Überblick Ingrid Weis: DaZ im Fachunterricht. Sprachbarrieren überwinden – Schüler erreichen und fördern. Mülheim 2013, S. 71–81; Studienseminar Koblenz (Hrsg.): Sachtexte lesen im Fachunterricht der Sekundarstufe. Seelze-Velber 2009, S. 18–24, anhand eines Beispieltextes aus dem physikalisch-technischen Bereich Leisen (Anm. 1), Bd. 2, S. 139– 167; detaillierter fachspezifisch Handro: Geschichte (Anm. 1), S. 288; auf die Standardthemen des chronologischen Durchgangs bezogen Entdecken und Verstehen. Lesetraining Geschichte. Kopiervorlagen mit CD-ROM. 4 Bde. Berlin: Cornelsen 2010–2013.
Schulbücher sprachsensibel gestalten. Perspektiven der Schulbuchkonzeption
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Wiedergabe fremder Aussagen und Meinungen oder aber die oben schon erwähnte sprachliche Unterscheidung von verschiedenen Triftigkeitsgraden.20 – Sie kann wichtige Regeln und Hilfen durch Lernplakate im Klassenraum dauerhaft präsent halten und damit ins Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler rücken. Das Schulbuch kann also immer nur – aber auch immerhin – eine gewisse Grundausstattung und Starthilfe für einen sprachsensiblen Geschichtsunterricht zur Verfügung stellen. Auf jeden Fall verbindet sich mit den sprachsensiblen Angeboten des Schulbuchs zugleich die Hoffnung, auch Lehrkräfte noch stärker für das Thema zu sensibilisieren – metaphorisch gesprochen: sie mit jener ›Brille‹ sehen zu lassen, die auch der Redakteurin und dem Herausgeber neue Sichtweisen eröffnet haben.
20 Zu den sprachlichen Problemen aus linguistischer Sicht Benjamin Siegmund: Sprachliche Hürden im Geschichtsunterricht aus linguistischer Perspektive. In: Christiane Bertram/Andrea Kolpatzik (Hrsg.): Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Von der Theorie über die Empirie zur Pragmatik. Frankfurt/M. 2019, S. 51–63.