Sprachliche und kommunikative Praktiken 9783110448948, 9783110451542, 9783110449464

For the first time, this volume shows the benefits of a praxeological approach to linguistics. It conceives of language,

428 25 12MB

German Pages 499 [500] Year 2016

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Praktiken: etwas Gewissheit im Geflecht der alltäglichen Welt
Sprachliche und kommunikative Praktiken: Eine Annäherung aus linguistischer Sicht
Praktiken der leiblich-verbalen Interaktion
Praktiken des Sprechens und Interagierens im Gespräch aus der Sicht von Konversationsanalyse und Interaktionaler Linguistik
Gestische Praxis und sprachliche Form
Deiktische Praktiken: Zwischen Interaktion und Grammatik
Handeln in Praxis. Hinter- und Untergründe situierter sprachlicher Bedeutungskonstitution
Im Zweifel für den Zweifel : Praktiken des Zweifelns
Kommunikative Gattungen in der Interaktion: Kulturelle und grammatische Praktiken im Gebrauch
Am Rande der Praktik – Körperliche Eigendynamiken und ihre Funktionalisierung am Beispiel von Reality-TV
Praxis, kommunikatives Handeln und die Videoanalyse der Videoanalyse
Textuelle Praktiken
Literale Praktiken und literale Kompetenz
Praktiken in der internetbasierten Kommunikation
Praktiken modellieren: Dialogmodellierung als Methode der Interaktionalen Linguistik
Mediatisierte Praktiken: Zur Rekontextualisierung von Anschlusskommunikation in den Sozialen Medien
Vom Handeln zur Kultur. Das Konzept der Praktik in der Analyse von Verabschiedungen
„In den tiefsten Winkeln unserer Betonwälder tanzten die Namen ein farbenfrohes Fest und wir tanzten mit bis in die Morgenstunden“ – Zur praktischen Kultur des Szene-Graffiti
Vom vielschichtigen Planen. Textproduktions-Praxis empirisch erforscht
Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft. Fallbeispiele und sieben Thesen zum raktiken-Konzept, seiner Reichweite und seinen Konkurrenten
Recommend Papers

Sprachliche und kommunikative Praktiken
 9783110448948, 9783110451542, 9783110449464

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Sprachliche und kommunikative Praktiken

Jahrbuch 2015 Redaktion Melanie Steinle

Sprachliche und kommunikative Praktiken Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Helmuth Feilke und Angelika Linke

ISBN 978-3-11-044894-8 e-ISBN [PDF] 978-3-11-045154-2 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-044946-4 ISSN 0537-7900 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Ludwig M. Eichinger Praktiken: etwas Gewissheit im Geflecht der alltäglichen Welt 

 VII

Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke Sprachliche und kommunikative Praktiken: Eine Annäherung aus linguistischer Sicht   1

Praktiken der leiblich-verbalen Interaktion Margret Selting Praktiken des Sprechens und Interagierens im Gespräch aus der Sicht von Konversationsanalyse und Interaktionaler Linguistik   27 Jürgen Streeck Gestische Praxis und sprachliche Form 

 57

Anja Stukenbrock Deiktische Praktiken: Zwischen Interaktion und Grammatik  Stephan Habscheid Handeln in Praxis. Hinter- und Untergründe situierter sprachlicher Bedeutungskonstitution   127 Wolfgang Imo Im Zweifel für den Zweifel: Praktiken des Zweifelns   

Susanne Günthner/Katharina König Kommunikative Gattungen in der Interaktion: Kulturelle und grammatische Praktiken im Gebrauch 

 153

 177

Axel Schmidt Am Rande der Praktik – Körperliche Eigendynamiken und ihre Funktionalisierung am Beispiel von Reality-TV   205 Hubert Knoblauch/René Tuma Praxis, kommunikatives Handeln und die Videoanalyse der Videoanalyse   229

 81

VI 

 Inhalt

Textuelle Praktiken Helmuth Feilke Literale Praktiken und literale Kompetenz 

 253

Michael Beißwenger Praktiken in der internetbasierten Kommunikation 

 279

Joachim Scharloth Praktiken modellieren: Dialogmodellierung als Methode der Interaktionalen Linguistik   311 Jannis Androutsopoulos Mediatisierte Praktiken: Zur Rekontextualisierung von Anschlusskommunikation in den Sozialen Medien   337 Juliane Schröter Vom Handeln zur Kultur. Das Konzept der Praktik in der Analyse von Verabschiedungen   369 Doris Tophinke „In den tiefsten Winkeln unserer Betonwälder tanzten die Namen ein farbenfrohes Fest und wir tanzten mit bis in die Morgenstunden“ – Zur praktischen Kultur des Szene-Graffiti   405 Daniel Perrin Vom vielschichtigen Planen. Textproduktions-Praxis empirisch erforscht   431 Thomas Gloning Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft. Fallbeispiele und sieben Thesen zum Praktiken-Konzept, seiner Reichweite und seinen Konkurrenten 

 457

Ludwig M. Eichinger (Mannheim)

Praktiken: etwas Gewissheit im Geflecht der alltäglichen Welt Die Sprache muss für sich selber sprechen. (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Grammatik, § 27)

1  Sprachlich und kommunikativ 1.1  Allgemeines Das Thema der diesmaligen Jahrestagung „Sprachliche und kommunikative Prak­ tiken“ lässt sicherlich, wie die meisten Themen, die mittels des Konnektors und verbunden sind, verschiedene Lesarten zu. Auf jeden Fall spannen die beiden Adjektive dieser Fügung ein Feld auf, bei dem man neugierig ist, wie das Verhält­ nis der Elemente sprachlich und kommunikativ im Einzelnen aufgelöst werden wird.1 Aber es geht bei dieser Art der Formulierung unausweichlich um Praktiken auch im Bezug auf Sprache, also nicht unmittelbar um etwas wie Systemstruktu­ ren. Eigentlich spricht das Reden von Praktiken von den Grenzen dessen, was eine systemlinguistische Abstraktion leisten kann. Bei solch einer Fokussierung ist die rein systemlinguistische Bestandsaufnahme eher eine Voraussetzung für die Behandlung des Praktiken-Themas. Das Funktionieren der sprachlichen Regel­ haftigkeiten ist eine der Grundlagen, von deren Funktionieren man im Prinzip ausgeht, an deren Funktionalität auch kein vernünftiger Zweifel besteht, wenn man über Praktiken einigermaßen sinnvoll reden will.

1 Wovon die Beschreibung der Funktion (wenn auch der Propositionen verknüpfenden) des Konnektors und in Breindl/Volodina/Waßner (2014, S. 394 f. und 407 ff.) beredtes Zeugnis gibt.

VIII 

 Ludwig M. Eichinger

1.2  sprachlich Denn natürlich ist es wichtig, zu wissen, wie die Strukturen der Sprache funktio­ nieren, wenn man sehen und bewerten will, wie uns die Sprache erlaubt, in der Welt mit ihren Herausforderungen angemessen zu agieren. Die Idee der Einbet­ tung in den Rahmen situationsbezogenen Funktionierens bringt allerdings auch bei der Beschreibung der sprachlichen Mittel eine Fokussierung mit sich, die es erlaubt, die Fragen der systematischen Ausstattung unter den Bedingungen die­ ses Vorkommens zu bewerten. Es lässt sich über die Akzeptabilität oder so etwas wie die systemgerechte Wohlgeformtheit und ihre Beschreibung in der gespro­ chenen Sprache ohne ein Wissen über die Bandbreite der Praktiken nicht so recht reden. Nun ist in den letzten Jahrzehnten viel dazu geforscht worden, was die medial bzw. konzeptionell bedingten Spezifika gesprochener Sprache ausmacht.2 Über eine Bestandsaufnahme spezifischer Formen und Strukturen hinaus, die in manchen Bereichen durchaus noch weiterer empirischer Fundierung bedürfte, geht es dabei nicht zuletzt darum, in der Beschreibung umzusetzen, was die spe­ zifischen Verarbeitungsbedingungen gesprochener Sprache betrifft. Ausgehend von den Bedingungen von Dialogizität3 ergibt sich eine Ausgestaltung des sprach­ lichen Teils von Praktiken, deren Gestalt und Umfang sich aus der Interaktion mit den anderen Möglichkeiten situativer Orientierung, Information, Anweisung oder Ausdrucksintention ergibt. Dieser Tatbestand reduziert im Normalfall den Grad an Explizitheit, den wir von skriptural konzipierten Texten erwarten, gerade auch, weil in medialen Kontexten, die von Erwartungen geprägt sind, die wir mit Ora­ lität verbinden, ein höherer Grad an Explizierung und damit auch Explizitheit nachgefordert werden kann.4

2 Auch mit einer langen Tradition am IDS (siehe schon Steger 1988), zusammenfassend Schwitalla (2012); vielfach aufbauend auf Modellen, die zwischen der formalen und einer funk­ tionalen Ebene unterscheiden: Oralität/Skripturalität (Koch/Österreicher 1985); Nähe/Distanz (Ágel/Hennig (Hg.) 2010); Operator/Operand (Fiehler et al. 2004). Sie haben auch ihren Weg in die Standarddarstellungen gefunden (siehe Duden 2009). 3 Zu deren insgesamt grundlegendem Status, der sich etwa in pronominalen Systemen nieder­ schlägt, siehe etwa Weinrich (2004, S. 17 f.) oder Hagège (1987). 4 Dass hier auch praktisch-deiktische Explizierungen möglich sind, soll an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden. Zu entsprechenden Phänomenen im Oralitäts-Skripturalitäts-Über­ gangsbereich vgl. die Ausführungen zu Ellipsen in Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997, S. 409–442; Verf.: Ludger Hoffmann).



Praktiken: etwas Gewissheit im Geflecht der alltäglichen Welt 

 IX

1.3  kommunikativ Für die Kenntnis und Beschreibung von Praktiken kommt aber noch dazu, dass Muster von Situationen mit ihren „regelhaften“ sprachlichen Elementen identi­ fiziert werden sollen. Das heißt, es geht darum, wie bestimmte Strukturen mit interaktionalen Herausforderungen und Wendungen verbunden werden. Im Hin­ blick auf die Interpretation sprachlicher Formen in solchen Kontexten passt das zu Überlegungen, wie sie Ludwig Wittgenstein in „Über Gewissheit“ zur Verwen­ dung bestimmter sprachlicher Formen anstellt:5 (1)

Wenn dies aber nicht bloß eine Bemerkung der deutschen Grammatik sein soll, so muss er (= der Philosoph/L.E.) die Umstände angeben, unter denen dieser Ausdruck funktioniert. (Ludwig Wittgenstein: Über Gewissheit, § 433)

Man kann zweifellos verschiedene Vorstellungen davon entwickeln, was es hei­ ßen kann, die Umstände anzugeben, unter denen ein Ausdruck funktioniert. Ganz offenkundig aber kann es nicht um individuelle Festlegungen gehen, wenn es sich um gelingende Züge eines Sprachspiels handelt. Von hier lässt sich über einen weiteren Schritt die Verbindung zu der typischen Struktur des Sprachli­ chen im Rahmen von Praktiken herstellen. Praktiken funktionieren ja nur, wenn sie als Muster, also wiederkehrende aber variable Konstellationen und Prozess­ formate erkennbar sind. Auf die strukturierende Wirkung solcher musterhafter Einheiten muss man sich verlassen können, wenn Interaktionen möglichst un­ aufwändig ablaufen sollen. Es ist offenkundig, dass die Verlässlichkeit, mit der wir sprachliche Äußerungen als konstituierende Elemente von gesellschaftlichen Übereinkünften zu Praktiken des Handelns lesen können, eben nicht nur an der Sprache festzumachen sind, den aus ihr inferierbaren Behauptungen und den daraus gezogenen Schlüssen über geteilte Überzeugungen und dergleichen.6 Vielmehr, um noch einmal Wittgensteins „Über Gewissheit“ zu zitieren, kann man sagen:

5 Dabei akzentuiert die Vorstellung des „Sprachspiels“, die Wittgenstein entwickelt, kurz ge­ sprochen, Fragen einer Gebrauchsbedeutung (siehe etwa Harras 2004, S. 103) und liegt somit auf einer anderen Ebene als das Konzept der Praktik – sie lässt sich aber in diesem Kontext gut ver­ stehen. Vgl. dazu auch Wittgenstein (2001, S. 956 und 1060). 6 Auch wenn man auf sprachlicher Ebene – und nicht nur bei gesprochener Sprache – eine solche Ebene der Strukturierung feststellen kann, vgl. dazu Eichinger (2010, S. 50, 2014).

X 

 Ludwig M. Eichinger

(2)

Unsre Rede erhält durch unsere übrigen Handlungen ihren Sinn (Ludwig Wittgenstein: Über Gewissheit, § 229)

Die „Rede“ Wittgensteins, also die sprachlichen Bestandteile von geteilten Hand­ lungsmustern können ihre Intentionalität erst im Kontext der Umstände norma­ tiver Zusammenhänge erkennen lassen.7 Diese Objekte der sozialen Welt geben uns die in der alltäglichen Kommunikation normalerweise nicht hinterfragte Gewissheit, die uns unauffällig sprachlich handeln lässt (ober eben vielleicht auch bewusst nicht). Und auch andersherum gilt, dass die Frage, welche Funk­ tion bestimmte Äußerungstypen haben, erst in diesen Kontexten angemessen beantwortet werden kann. So geht es darum, aus den Praktiken der Handhabung durch gemeinsame Wahrnehmung geprägter Abläufe die Funktionalität bestimm­ ter sprachlicher Einsätze zu beurteilen. Die Besonderheit des sprachlichen Teils der Praktiken dürfte es allerdings sein, dass die sprachliche Kodierung in der Lage ist, der im Zweifel aufkommenden Pflicht zum Explizitmachen in komple­ xen Zusammenhängen effektiv nachzukommen – und eigentlich fast beliebig explizit zu sein. Im Normalfall braucht es aber im Alltag genau das nicht, sondern einen an der Verlässlichkeit der Interaktion orientierten angemessenen (mäßi­ gen) Gebrauch der sprachlichen Mittel.

1.4  verlässlich Die Verlässlichkeit des sprachlichen Handelns ohne ständige explizite Begrün­ dung funktioniert auf der Annahme der Realität und Gültigkeit geteilter Hand­ lungsmuster. Es sind das die – auch sprachlichen – Muster, in die wir hinein­ wachsen.8 Wenn sie Praktiken des Alltags sind, brauchen sie nicht die dauernde Begründung, vielmehr liefern sie, ohne dass wir ständig daran zweifelten, eine Vorstellung davon, was (in gewissen intentionalen Kontexten) ein erwartbares und akzeptables Verhalten ist.9 Sie sind damit ein Teil und Objekt unserer Reali­

7 So passt die Diskussion um Praktiken gut zu der derzeit in der Philosophie aktuellen Ausein­ andersetzung um einen „Neuen Realismus“; vgl. die Beiträge in Markus (Hg.) (2014). 8 Unterschiedliche Aspekte dieser Sichtweise werden z.B. in Linke (2011) oder Feilke (2003) thematisiert. 9 Natürlich ist die Gewissheit über die Regularitäten in den jeweiligen Mustern nicht unbe­ grenzt; so kann man bestimmte sprachliche Mittel als die Aufforderung verstehen, gegebenen­ falls Explizitheit einzuklagen (oder eben Einverständnis mit der Interpretation der Situation zu signalisieren), etwa Abtönungspartikeln des Deutschen, die auf gemeinsame Vorannahmen verweisen.



Praktiken: etwas Gewissheit im Geflecht der alltäglichen Welt 

 XI

tät.10 Aber natürlich sind solche Übereinkünfte auch nichts, was sich nicht verän­ dern ließe oder verändern würde. Gerade Rekurrenz und Variation der gewählten (sprachlichen) Ausdrucksformen erlauben es, das, was sich uns als ein multi­ modaler11 Strom der Interaktion darbietet, analytisch zu zerteilen, und so die Sprache – zudem die gesprochene – als Untersuchungsobjekt in ihrem natürli­ chen Habitat, in der Welt der intentionalen Praktiken funktional und formal zu beschreiben.12

1.5  wozu Betrachtung der Sprache kann, wie am Anfang festgestellt, die verschiedensten Dinge betreffen und die verschiedensten Wege gehen. Von der Orientierung an Praktiken, wie sie in der hier dokumentierten 51. Jahrestagung des IDS an ver­ schiedensten Objekten und unter verschiedensten methodischen und theoreti­ schen Blickwinkeln betrieben wird, kann man sich dreierlei versprechen: –– Zum einen erlaubt sie eine feingranulare und auf Variation angelegte Be­ schreibung sprachlicher Formen in actu. –– Zum zweiten lassen sich die situationellen Bedingungen als Bestandteile eines Experiments nutzen und modifizieren; das dient der Überprüfbarkeit der Aussagen über die Prägungskraft und relative Festigkeit von Praktiken. –– Zum dritten ist der Blick aus der sprachwissenschaftlichen Welt auf das Konzept der Praktiken ein Ernstnehmen einer sozialwissenschaftlichen Inter­ pretation sprachlichen Verhaltens als Bestandteil von sozialen Handlungs­ mustern. Was das konkret heißt, und was die theoretischen und empirischen Felder sind, die behandelt wurden, wird in der folgenden fachlichen Einführung dargelegt.13

10 Gerade die Möglichkeit, zu handeln und dabei durch Implizitlassen zu „sparen“, spricht da­ von, dass es sich hier nicht um eine immer wiederholte Konstruktion, sondern eine auf festge­ wordene Erfahrung sich stützende Realität handelt (siehe dazu Markus (Hg.) 2014 – übrigens auch Phänomene, die gegenüber geschriebener Sprache wie redundant aussehen). 11 Das ist vielleicht der Punkt, um darauf hinzuweisen, dass die Umbrüche im kommunikativen Leben, die durch die IT-basierten Medien bedingt sind, neue Arten kommunikativer Praktiken hervorbringen. 12 Zu einer entsprechenden Konzeption von Pragmatik siehe z.B. Deppermann (2015, bes. S. 330 und 347). 13 Die Verfasser dieser Einführung, Arnulf Deppermann, Helmuth Feilke und Angelika Linke, haben gemeinsam auch die Tagung inhaltlich vorbereitet. Ihnen sei hier dafür gedankt.

XII 

 Ludwig M. Eichinger

2  Darüber hinaus Die Tagung des Jahres 2015 stand zudem wieder im Lichte der Verleihung des Konrad-Duden-Preises der Stadt Mannheim.14 Er wurde auf einem Festakt im Rahmen der Jahrestagung an Damaris Nübling verliehen.

Literatur Ágel, Vilmos/Hennig, Mathilde (Hg.) (2010): Nähe und Distanz im Kontext variationslinguistischer Forschung. (= Linguistik – Impulse und Tendenzen 35). Berlin/New York. Breindl, Eva/Volodina, Anna/Waßner, Ulrich Hermann (2014): Handbuch der deutschen Konnektoren 2: Semantik der deutschen Satzverknüpfer. 2 Teilbde. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 13). Berlin/Boston. Deppermann, Arnulf (2015): Pragmatik revisited. In: Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Sprachwissenschaft im Fokus. Positionsbestimmungen und Perspektiven. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2014). Berlin/Boston, S. 323–352. Duden (2009): Der Duden in 12 Bänden: Bd. 4: Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim u.a.: Dudenverlag. Eichinger, Ludwig M. (2010): Der durchschnittliche Linguist und die Daten. Eine Annäherung. In: Kratochvílová, Iva/Wolf, Norbert Richard (Hg.): Kompendium Korpuslinguistik. Eine Bestandsaufnahme aus deutsch-tschechischer Perspektive. (= Germanistische Bibliothek 38). Heidelberg: Winter, S. 27–51. Eichinger, Ludwig M. (2014): Was man braucht, kann nicht fehlen. Grammatik, Textstil und Interaktionsmodalität. In: Kolehmainen, Leena/Tiittula, Liisa/Lenk, Hartmut (Hg.): Kommunikative Routinen. Formen, Formeln, Forschungsbereiche. Festschrift zum 65. Geburtstag von Irma Hyvarinen. Frankfurt a.M. u.a., S. 153–167. Feilke, Helmuth (2003): Textroutine, Textsemantik und sprachliches Wissen. In: Linke, Angelika/ Ortner, Hanspeter/Portmann Paul R. (Hg.): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. (= Reihe Germanistische Linguistik 245). Tübingen, S. 209–229. Fiehler, Reinhard et al. (2004): Eigenschaften gesprochener Sprache. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Spezifik mündlicher Kommunikation. (= Studien zur Deutschen Sprache 30). Tübingen. Hagège, Claude (1987): Der dialogische Mensch. Sprache – Weltbild – Gesellschaft. Reinbek: Rowohlt.

14 Der Stadt Mannheim und dem Dudenverlag als der Verleiherin und dem finanziellen Aus­ statter dieses Preises sei dafür gedankt, mit diesem Preis die Möglichkeit geschaffen zu haben, herausragende Arbeit im Bereich der deutschen Sprachwissenschaft in bemerkenswerter Weise zu würdigen. Frau Bürgermeisterin Dr. Ulrike Freundlieb hat in ihrem Grußwort nicht nur die Verbundenheit des IDS mit der Stadt bestätigt, sondern in so konkreter wie überzeugender Weise gezeigt, wie die Frage geteilter oder divergierender Praktiken ein Thema ist, das eine moderne städtische Gesellschaft durchaus angeht.



Praktiken: etwas Gewissheit im Geflecht der alltäglichen Welt 

 XIII

Harras, Gisela (2004): Handlungssprache und Sprechhandlung. Eine Einführung in die theoretischen Grundlagen. 2. erw. u. durchges. Aufl. Berlin/New York. Koch, Peter/Österreicher, Wulf (1985): Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36, S. 15–43. Linke, Angelika (2011): Politics as linguistic performance: Function and ‘Magic’ of communicative practices. In: Steinmetz, Willibald (Hg.): Political languages in the age of extremes. Oxford, S. 53–66. Markus, Gabriel (Hg.) (2014): Der neue Realismus. Berlin. Schwitalla, Johannes (2012): Gesprochenes Deutsch. 4. Aufl. (= Grundlagen der Germanistik 33). Berlin. Steger, Hugo (1988): Erscheinungsformen der deutschen Sprache. ‚Alltagssprache’ – ‚Fachsprache’ – ‚Standardsprache’ – ‚Dialekt’ und andere Gliederungstermini. In: Deutsche Sprache 16, S. 289–319. Weinrich, Harald (2004): Textgrammatik der deutschen Sprache. 3. Aufl. Hildesheim. Wittgenstein, Ludwig (1969): Philosophische Grammatik. (= Schriften 4). Frankfurt a.M. Wittgenstein, Ludwig (1970 ): Über Gewissheit. Frankfurt a.M. Wittgenstein, Ludwig (2001): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. Zifonun, Gisela/Hoffmann, Ludger/Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 7). Berlin/New York.

Arnulf Deppermann (Mannheim)/Helmuth Feilke (Gießen)/ Angelika Linke (Zürich)

Sprachliche und kommunikative Praktiken: Eine Annäherung aus linguistischer Sicht 1  Das Versprechen der ‚Praktiken‘ „Praktiken“ sind in aller Munde. In Soziologie (Bourdieu 1972; Reckwitz 2003; Schatzki et al. (Hg.) 2001), Kulturwissenschaft (Hörning/Reuter 2004), Anthropo­ logie (Hanks 1996), Literaturwissenschaft (Barton/Hamilton 1998), Konversations­ analyse (Schegloff 1997a; Heritage 2010) und nicht zuletzt auch in der Linguistik (Fiehler et al. 2004; Pennycock 2010) sind „Praxis“ und „Praktiken“ auf dem Weg, sich zu Grundbegriffen zu entwickeln. Mit ihnen verbindet sich das Verspre­ chen, Sprache, Text, Verhalten und Kommunikation neu zu denken. Prozessua­ lität, Materialität, Verkörperung und soziale Routinen rücken ins Zentrum des Gegenstandsverständnisses. Im linguistischen Kontext ist ‚Praktik‘ in verschiedenen Zusammenhängen als Grundbegriff vorgeschlagen worden. Es wird argumentiert, dass ‚Praktiken‘ gegenüber anderen Begriffen wie ‚Handlung‘, ‚Kognition‘, ‚Text(sorte)‘ oder ‚Me­ dium‘ ein beschreibungsbezogener und ontologisch adäquaterer Grundbegriff sei und die mit anderen Ansätzen verbundenen theoretischen Probleme zu lösen vermag. Besonders prominent sind dazu folgende Positionen: –– In Abgrenzung zu handlungstheoretischen Ansätzen wie etwa der Sprech­ akttheorie sieht die Konversationsanalyse nicht individuelle Handlungen, die kontextfreien Intentionen des Sprechers entspringen, sondern routini­ sierte Gesprächspraktiken (wie Formen der Reparaturinitiierung, des Refe­ rierens oder der Rederechtzuweisung) als Grundbausteine der sozialen Inter­ aktion. Praktiken zeichnen sich durch den kontextsensitiven Einsatz von bestimmten sprachlich-kommunikativen Formen als Ressourcen zur Lösung grundlegender Aufgaben der Interaktionskonstitution und zur Herstellung bestimmter Handlungen aus (Schegloff 1997a; Heritage 2010). –– Auch Fiehler (2000; Fiehler et al. 2004) sieht in kommunikativen Praktiken Grundformen des kommunikativen Handelns und der gesellschaftlichen Ver­ ständigung, bezieht sich dabei aber im Gegensatz zur Konversationsanalyse auf Muster der Gesamtorganisation von Interaktionsereignissen und Texten (wie Briefe, Sprechstunden- oder Reklamationsgespräche). Unterschiedliche

2 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

Praktiken seien das entscheidende Moment der kommunikationsbezogenen Variation des Sprachgebrauchs, nicht aber, wie in der Forschung zur gespro­ chenen Sprache meist angenommen, medialitätsbezogene Differenzen (vgl. dazu Koch/Oesterreicher 1985). –– Androutsopoulos (2006) wendet sich aus medienlinguistischer Perspektive ebenso gegen die Annahme, Kommunikationsformen des Sprechgebrauchs seien medial determiniert. Unterschiedliche Kommunikationsformen in ver­ schiedenen technischen Medienumgebungen sind zwar durch mediale Be­ dingungen restringiert und oft auch motiviert, können aber nicht durch die medialen Eigenschaften hinreichend erklärt werden. Er zeigt, dass Nutzer innerhalb gleicher medientechnologischer Rahmenbedingungen (etwa im Web 2.0) ganz verschiedene Praktiken entwickeln, die nutzergruppenspezi­ fisch variieren und sozialsymbolisch aufgeladen sind. –– Die multimodale Interaktionsanalyse kritisiert die theoretisch-methodologi­ sche Privilegierung des verbalen Modus als (einzig) maßgeblicher Quelle in­ teraktiver Sinn- und Ordnungsbildung sozialer Interaktion. In seinem explizit als ‚Praxeologie‘ bezeichneten Ansatz fordert Streeck (2001), Interaktion als multimodale Praxis leiblichen Handelns im Raum und mit Objekten zu unter­ suchen. Interaktionen werden mit gestalthaft organisierten leiblichen Prak­ tiken, in denen unterschiedliche Ressourcen koordiniert werden, konstituiert. Schmitt (2013) wendet sich gegen die Priorisierung des Verbalen als kommu­ nikativer Modalität und postuliert, methodologisch sei von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit unterschiedlicher leiblicher Ressourcen für die Herstellung von Sinn und Bedeutung in der Kommunikation als Analyse­prämisse auszugehen. –– Scribner/Cole (1981) konnten zeigen, dass es – entgegen Havelock (1981) und Ong (1982) – nicht der Erwerb eines Schriftsystems als solcher ist, der für die Entwicklung von Abstraktionsvermögen, taxonomischem und logischem Den­ ken entscheidend ist. Der Aufbau dieser Kompetenzen entsteht in bestimm­ ten Praktiken des Umgangs mit Schrift und Texten, wie sie typischerweise in der schulischen Ausbildung erlernt und angewandt werden (siehe dazu auch Feilke in diesem Band), während in anderen (z.B. religiösen, familiären) Kon­ texten die gleichen Subjekte ganz andere, ebenfalls praktisch gebundene kognitive Formen des Weltbezugs benutzen. Wir wollen in diesem Beitrag diskutieren, welche neuen Akzente der PraktikenBegriff für das Gegenstandsverständnis der Linguistik setzt und welche wissen­ schaftlichen Gewinne sich mit ihm verbinden können. Dabei schließen wir an die kulturwissenschaftliche, vor allem in der Soziologie geführte Diskussion praxisthe­ oretischer Ansätze an (vgl. als Überblick Schatzki et al. (Hg.) 2001; Schulz-Schaeffer 2010; Reckwitz 2003; Schmidt 2012; Hillebrandt 2014). Obwohl es zwar zahlreiche



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 3

Vertreter der Praxistheorie gibt und noch weitaus mehr Vorläufer und Sympa­ thisanten, in deren Arbeiten gewisse Aspekte von Praktiken im Zentrum stehen, gibt es kein festes praxistheoretisches Theoriegebäude. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass es kennzeichnend für diese Richtung ist, stets von konkreten sozialen Phänomenen auszugehen. Praxistheoretische Beschreibungen sind meist dezidiert von begrenzter, feldspezifischer Reichweite und beruhen auf genauen qualitativen, empirischen Beobachtungen mit Methoden vor allem der Ethnographie und der Interaktionsanalyse. Wir werden zunächst einige Bestimmungsstücke darlegen, die Praktiken kennzeichnen, und konzentrieren uns dabei vor allem auf die auch bzw. speziell für sprachliche Praktiken relevanten Merkmale (2). Anschließend werden wir Unterschiede zwischen den verschiedenen linguistischen Verständnissen von ‚Praktiken‘, wie sie in den Beiträgen dieses Bandes deutlich werden, aufzuzeigen versuchen (3). Wir reflektieren dann, welche spe­zifischen Akzentsetzungen des Pra­ xisbegriffs die Linguistik beizutragen vermag, die vielleicht auch über sie hinaus für die Praxistheorie in anderen Disziplinen relevant sein können (4). Schließlich wer­ den wir einige strittige Aspekte ansprechen, deren weitere Klärung für die zukünf­ tige Entwicklung der linguistischen Theorie von Praktiken wichtig sein dürfte (5).

2  Bestimmungsstücke eines linguistischen Praktikenbegriffs Auf Basis der kulturwissenschaftlichen Praxistheorien sozialwissenschaftlicher Provenienz und linguistischer Untersuchungen zu Praktiken besprechen wir im Folgenden Bestimmungsstücke, die das Konzept der ‚Praktiken‘ einerseits von anderen theoretischen Perspektiven absetzen, die andererseits aber auch als empirische Kriterien für die Individuierung und Beschreibung einer einzelnen Praktik, zumindest soweit es um sprachlich-kommunikative Praktiken geht, rele­ vant sind. Folgende acht Bestimmungsstücke sind nach unserer Auffassung kennzeichnend für Praktiken – wobei das Gewicht der einzelnen Punkte je nach Typ der Praktik variieren kann: 1. Materialität: Körper, Raum und Objekte, 2. Medialität und modale Ressourcen, 3. Beteiligungsstruktur, 4. Handlungsbezug und praktisches Bewusstsein, 5. Routinisierung, 6. Indexikalität und sozialsymbolische Aufladung, 7. Kontextbezug und Temporalität, 8. Historizität.

4 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

2.1  Materialität: Körper, Raum und Objekte Der Praktikenansatz sucht menschliche Aktivitäten in ihren situierten Kontexten auf. (Sprachliche) Aktivitäten interessieren ausschließlich in ihren beobachtba­ ren, konkreten Formen – als „bodily doings and sayings“ (Schatzki 2001, S. 56), als hörbare Äußerungen und als sichtbare, lesbare Texte. Praktikenansätze ver­ suchen sprachliche Aktivitäten beobachtungsnah, in ihrer oft widerspenstigen und sich theoretischen Erwartungen nicht fügenden phänomenologischen Gestalt zu beschreiben. Praxistheoretische Ansätze lehnen die theoretisch-deduktiv in­ spirierte, abstraktive Zurichtung von Aktivitäten als disziplinäre, „scholastische“ Gegenstände ab (siehe Bourdieu 1997, S. 19–100). Charakteristisch dafür ist bei­ spielsweise die Ablehnung theoretisch abgeleiteter Sprechaktkategorien (wie von Searle 1971 oder in der Dialoganalyse, z.B. Hindelang 1994) zugunsten der induktiven Erschließung von Handlungskategorien, an denen sich Interaktions­ teilnehmer in ihrer Praxis ausrichten, selbst wenn es für manche dieser Handlun­ gen nicht einmal eingespielte Bezeichnungen gibt (Schegloff 1996). Mit der Konzentration auf Sprache, wie sie als beobachtbares Geschehen und in diesem erscheint, rücken unweigerlich Körper, Raum und Objekte ins Zentrum der Betrachtung. Sie sind die Träger und (Mit-)Konstituenten der Praktiken, ohne die sie sich nicht realisieren (Schmidt 2012, S. 55–69; Hillebrandt 2014, S. 61–87; siehe auch Tophinke in diesem Band). Sprache wird leiblich produziert und ver­ standen, und der leibliche Ausdruck zeigt Intentionen und Verstehen an. Körper sind sozusagen semiotische Anzeigetafeln. Die Position des Körpers im Raum und in Relation zu Objekten und den Körpern der anderen Kommunikationsteil­ nehmer ist ein konstitutiver Hintergrund für viele sprachliche Praktiken, zumal deiktischer Art (Hanks 1990, 1996, Kap. 11). Spezifische Körper-Objekt-Raum­ konstellationen sind als Mitspieler für eine Situation, in der kommuniziert wird (wie etwa im Straßenverkehr, im Operationssaal oder im Sport), unerlässlich (Hirschauer 2004; Schmidt 2012, S. 78–98). Körper und räumliche Konstellatio­ nen (wie Sitzordnungen, Öffentlichkeit vs. Privatheit des Raumes oder visuelle Barrieren) werden daher in vielen Handlungssituationen zu konstitutiven Partizi­ panten (Hirschauer 2004; Hillebrandt 2014, S. 76–87; Linke 2012). In der AkteurNetzwerk-Theorie (Latour 2005) wird ihnen gar der gleiche praxeologische Status wie menschlichen Akteuren zugewiesen (‚Symmetriethese‘), da von ihnen ebenso praktische Effekte ausgehen. Akteurseigenschaften wie Intentionalität, Verant­ wortlichkeit, Intersubjektivität oder Verstehen, die in Handlungstheorien für die Sphäre des Sozialen als konstitutiv erachtet werden, sind aus dieser Sicht irre­ levant für die Prozesse der Praxis. Während diese radikale antihumanistische Position gerade aus linguistischer Perspektive aporetisch erscheint und entschei­ dende Aspekte von Praktiken übersieht (vgl. Abschnitt 5), weist sie doch nach­



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 5

drücklich auf die gerade in der Linguistik zumeist vernachlässigte, mitkonstitu­ tive Rolle der materiellen Beschaffenheiten, medialen Formen und dinglichen Kontexte für den Vollzug von Praktiken hin. Durch ihre perzeptiv-materiellen affordances (Gibson 1977) eröffnen Objekte Handlungsoptionen, legen bestimmte Handlungen nahe und machen andere unwahrscheinlich oder unmöglich – die allerdings nicht per se durch die Dinge, sondern immer abhängig von mensch­ lichen Fähigkeiten und Erfahrungen im Umgang mit den Dingen bestehen (vgl. speziell in Bezug auf die Praxistheorie Schmidt 2012, S. 67 f., in Bezug auf die Raumlinguistik Hausendorf 2013). Praktiken prägen ihrerseits die Wahrnehmung und Benutzung von Dingen als jeweils spezifischen Gegenständen (Nevile et al. 2014): Ein Ordner kann beispielsweise je nach Praktik zur Symbolisierung des Anfangs oder Endes eines Gesprächsthemas, als Unterlage für einen Beamer oder als Argumentationshilfe in einem Meeting benutzt werden. Praxistheoretische Ansätze interessiert dabei stets der konkrete Gebrauch – jenseits der Reduktion von Objekten, räumlichen und medialen Konstellationen (siehe 2.2) auf zweck­ rational eingesetzte Werkzeuge einerseits oder auf verhaltensdeterminierende Zwangsstrukturen andererseits (vgl. Reckwitz 2003).

2.2  Medialität und modale Ressourcen Praktiken sind durch die kinesisch-visuellen Ressourcen des leiblichen Handelns und des Umgangs mit Raum und Gegenständen, durch die und mit denen sie realisiert werden, charakterisiert (Streeck 2001). Ihr leiblich-verkörperter Charak­ ter (embodiment) erfordert eine holistische Analyse ihrer gestalthaften und multi­ modal koordinierten Strukturen (Deppermann/Schmitt 2007). Für die Linguistik bedeutet dies, das Zusammenspiel von grammatischen und lexikalischen Struk­ turen mit Stimme, Blick, Mimik, Gestik, Bewegungen im Raum und Umgang mit Objekten bzw. mit Typographie, Bildern, Ton und Textdispositionen in den analy­ tischen Fokus zu rücken: Sprache kommt nie abstrakt, sondern in einer bestimm­ ten medial-leiblichen Realisierung vor; Sprechen und Schreiben kommen nie allein, sondern stets in einem materiellen, objekt- und personenbezogenen und interaktiven Kontext vor. Mit dem Interesse für die konstitutive Rolle der modalen Realisierungsressourcen betont das Praktiken-Konzept die Relevanz der materia­ len Oberflächen und der beobachtbaren Performanzen für die Typik des Han­ delns (Linke/Feilke (Hg.) 2009). Praktiken entfalten sich innerhalb medialer Rahmenbedingungen, seien sie technisch vermittelter Art (interaktive Web 2.0-Oberflächen, digitale Textverarbei­ tung etc.) oder räumlich-gegenständlicher Art, wobei in beiden Fällen die semio­ tischen Strukturen der Objektwelt (Texte, Bilder, Displays etc., siehe z.B. Hind­

6 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

marsh/Heath 2000) eine große Rolle spielen. Von Interesse ist, wie einerseits (medientechnische) Realisierungsbedingungen Praktiken ermöglichen, favorisie­ ren oder restringieren, andererseits Praktiken, auf welche technische Neuerungen ursprünglich gar nicht angelegt waren (z.B. SMS-Technologie → soziale Praktik und Verwendungen des Simsens; Powerpoint-Technologie → Präsentationsprak­ tiken), zu einer Redefinition der Techniken und ihrer Adaptation im Prozess und in der Geschichte ihrer Nutzung führen (Gloning in diesem Band).

2.3  Beteiligungsstruktur ( participation framework)  

 

Praktiken erfordern spezifische Partizipanten. Sie erfordern Akteure, die in eine spezifische kulturelle Praxis hinein sozialisiert wurden und in der Lage sind, Praktiken kompetent, methodisch und virtuos in jeweils idiosynkratischen und in ihren Details unbekannten und unvorhersehbaren Kontexten zur Anwendung zu bringen (Garfinkel 1967). Sie können nicht von „just anyone“ ausgeführt wer­ den, sondern sind oftmals an spezifische Rechte, Pflichten und soziale Positio­ nen von Akteuren gebunden, die sie reflexiv mitzukonstituieren und bestätigen helfen. Die Handlungs- und Ereignisstrukturen, die mit Praktiken ins Werk gesetzt werden, offenbaren die Unzulänglichkeit der „Sprecher-Hörer“-Dyade als ver­ meintlicher Normalkonstellation kommunikativen Handelns (Linke 2007; Good­ win/Goodwin 2004; Goffman 1981). Die Spezifik bestimmter Praktiken besteht unter anderem gerade darin, Nicht-Anwesende zu Kommunikationsbeteiligten zu machen (z.B. Lesen, Zitieren), bestimmte Hörer in Mehrpersonenkonstellationen als Kommunikationspartner auszuschließen (spezifisch adressierte Anspielungen, Ironie), den Sprecher nicht als Verantwortlichen und Gestaltungsmächtigen agie­ ren zu lassen (organisational präformiertes oder maschinen-/programmgenerier­ tes Handeln) oder nicht-humane Agenten als Kommunikationspartner zu inte­ grieren (Mensch-Maschine-Interaktionen). Andere Praktiken wiederum beruhen auf sozialer Arbeitsteilung, z.B. zwischen Autoren und Verantwortlichen (Ghost­ writing), Inhalts- und Formulierungsverantwortlichen (Pressesprecher, Dolmet­ schen), Informationsquelle, Materialsammler, Redakteur, Chefredakteur und Sprecher einer Nachricht (TV-Nachrichtenproduktion) oder rechtlich Verantwort­ lichem, Formulator und impersonellem Agenten (Webseitenredaktion). Praktiken sind in hohem Maße domänenspezifisch für bestimmte Handlungs­ felder und gesellschaftliche Gruppen bzw. oft noch spezifischer für lokale Gemein­ schaften, die gemeinsame Routinen ausgebildet haben (communities of practice, Lave/Wenger 1991, für die Linguistik siehe Eckert/McConnell-Ginet 1992). Durch ihre Ausbildung in einem bestimmten sozialen Milieu und in ihrer Rolle als Kon­ stituente eines bestimmten Habitus (Bourdieu 1972) gewinnen sie eine sozialsym­



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 7

bolische indexikalische Funktion. Dadurch werden sie im Sinne von Bourdieu (1979) zu einem Teil des symbolischen Kapitals ihrer Träger mit entsprechen­ dem Distinktions- und Herrschaftspotenzial. Während dieser Aspekt etwa für Ansätze der kritischen Diskursanalyse in der Linguistik überaus relevant ist (vgl. Fairclough 2001 – allerdings ebenso auf Althusser, Foucault, Habermas und Marx/Engels theoretisch aufbauend), erscheint er aus ethnomethodologischkonversationsanalytischer Perspektive oft als Zuschreibung aus einer Beobach­ tersicht, die keinen Anhalt in den von den Interaktionsteilnehmern selbst ma­ nifestierten Orientierungen und Interpretationen ihres Tuns findet (vgl. z.B. Benwell/Stokoe 2006). Symbolische Geltungen wie Macht oder sozialer Status sind aus dieser Sicht nur dann begründbar von Bedeutung, wenn sich ihre Rele­ vanz an Teilnehmer-displays in den untersuchten Interaktionsdaten zweifelsfrei aufzeigen lässt (Schegloff 1997b).

2.4  Handlungsbezug und praktisches Bewusstsein Praktiken sind eingebettet in soziale Handlungszusammenhänge, von deren Zweck- und Aufgabenstrukturen sie ihren Sinn und ihre Funktionalität gewin­ nen. Umgekehrt werden soziale Handlungszusammenhänge durch lokale Prak­ tiken als gelebte Strukturen hergestellt („doing (being) X“) und in ihrer Geltung bestätigt (Heritage/Clayman 2010). Der reflexive Bezug von Praktiken auf soziale Zweckstrukturen mit der Doppelgesichtigkeit von schematischer Orientierung und faktischer Realisierung verbürgt die typische Erkennbarkeit, Verstehbar­ keit und Verantwortbarkeit (accountability) sozialer Praxis für die Beteiligten. Eine Besonderheit sprachlicher Praktiken besteht dabei in ihrer durch das semio­ tische Medium der Sprache gegebenen Reflexivität, d.h. Selbstinterpretativität: Im Gegensatz zu den meisten anderen körperlichen Praktiken, denen ein (ein­ deutiger) praktischer Sinn (Bourdieu 1980) erst durch begleitende oder nachträg­ liche sprachliche Deutung beigelegt werden muss, sind sprachliche Praktiken immer notwendig auf Interpretation angelegt – sie vollziehen also Handlungen, die sie zugleich durch die Art ihres Vollzugs interpretierbar machen (Garfinkel/ Sacks 1970). Zu geplanten Handlungen stehen Praktiken dabei im Verhältnis einer weit­ gehend unbewussten und zumeist nicht diskursiv verfügbaren Infrastruktur, eines praktischen Bewusstseins (Giddens 1984). Dies besteht in einem praktischen know how (vgl. Ryle 1949), das nur im situierten Vollzug unter den passenden Bedin­ gungen gezeigt, kaum aber entsituiert beschrieben werden kann (Reckwitz 2003). Routiniertes Handeln, welches von subjektivem Aufmerksamkeitsaufwand, Pla­ nungs- und Entscheidungsdruck entlastet ist, und damit die Schnelligkeit und

8 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

Reibungslosigkeit vieler sozialer Abläufe werden so erst möglich. Praktiken erfor­ dern kaum propositionales Wissen, vielmehr leibliches Können, ein implizites Wissen darüber, wie etwas gemacht wird. Die Realisierung von Praktiken beruht weniger auf bewussten, zweckrationalen Akteursintentionen als vielmehr auf der Einsozialisierung in kontextgebundene Gepflogenheiten. Dies beinhaltet, zu wis­ sen, wann eine bestimmte Handlung passt (Reckwitz 2003). In Praktiken verwirk­ licht sich die „fungierende Intentionalität“ (Merleau-Ponty 1966) der leiblichen Orientierung in der Welt. Praktiken sind typischerweise mit bestimmten Handlungen assoziiert. Aller­ dings ist diese Assoziation nicht eine kontextfreie 1:1-Relation, sondern vom Kon­ text der Praktikenrealisierung abhängig; in anderen Kontexten kann die gleiche Praktik ein anderes Handeln erwirken, und Praktiken können auch multifunktio­ nal sein, d.h. mehrere Handlungen, die zumeist durch eine indem-Relation mitei­ nander verbunden sind, konstituieren (Schegloff 1997a). Trotz ihres Routinecha­ rakters können Praktiken, abhängig von Reflexion und Übung, auch bewusst und rhetorisch bzw. strategisch funktionalisiert, „out of context“ oder entgegen ihrer overten, eingespielten Funktionalitäten eingesetzt werden, um systema­ tisch mit ihnen assoziierte Konsequenzen ins Werk zu setzen oder Kontexte im kontrafaktischen Handeln zu redefinieren und als faktische Geltung neu herzu­ stellen (Schulz-Schaeffer 2010).

2.5  Routinisierung Praktiken ermöglichen situiertes Handeln, indem sie bewährte Routinen für situ­ ierte Handlungsaufgaben bereitstellen (Berger/Luckmann 1966; Giddens 1984). Praktiken sind soziale Strukturen, d.h. nicht kreative, individuelle Lösungen, son­ dern sozial konsentierte Routinen, die sedimentiert sind (Hanks 1996, Kap. 10). Rekurrenz und Habitualisierung von Wortgebrauch und kommunikativen Optio­ nen, die beispielsweise korpuslinguistisch feststellbar sind (vgl. Bubenhofer 2009), stehen am Ausgangspunkt der Genese von Praktiken. Praktiken emergieren aber erst im Prozess einer Institutionalisierung, die, über bloße Rekurrenz hinaus­ gehend, reziproke Erwartungserwartungen sozialer Akteure beinhaltet (Berger/ Luckmann 1966). Routinen des Sprechens bilden Traditionen aus, die ihrerseits normative Geltung gewinnen. Damit einher geht die Projizierbarkeit von Prakti­ ken als Anschlusshandlungen, die sich als Lösungen für rekurrente Probleme des Handelns und Interagierens kommunikationsgeschichtlich bewährt und einge­ spielt haben. Sie tragen somit den Index vergangener gelungener Verständigung und Handlungskoordination (Feilke 1996).



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 9

2.6  Indexikalität und sozialsemiotische Aufladung Charakteristisch für Praktiken ist das Spannungsverhältnis zwischen partikularsituierter Realisierung, d.h. der konkreten, im Prinzip einmaligen „Hier-undJetzt“-Phänomenologie von Praktiken und ihrer generischen, rekurrenten Struk­ tur (Hanks 1996, Kap. 10). Praktiken sind flexibel, sie werden situationssensitiv an aktuelle Kontexte angepasst. Die schematische Struktur praktischen Wissens verbürgt Wiederholbarkeit, Wiedererkennbarkeit und die Nutzung in verschie­ densten Situationen – bis hin zur (abstrahierten) Struktur eines „Habitus“, der in unterschiedlichsten Handlungsfeldern analoge Merkmale praktischen Handelns aufweist. Andererseits beinhaltet die Flexibilität der Praktiken auch ihre Offen­ heit für Emergenz: In neuen Kontexten müssen Akteure stets situierte Lösungen des Handelns finden, die mehr bzw. anderes sind als eine bloße Regelanwendung (vgl. Garfinkel 1967; Reckwitz 2003; Sharrock 2012) und somit zu Formen, Kombi­ nationen und Folgen des Handelns führen, welche jenseits eingespielter Rou­ tinen liegen bzw. diese transformieren können (siehe auch Perrin in diesem Band). Praktiken indizieren rekurrente, typische Kontexte, mit denen sie in Prozes­ sen dokumentarischer Interpretation verknüpft sind (Garfinkel 1967). Praktiken erfordern diese Kontexte als (zumeist oder nur sehr ausschnitthaft bewussten) „Hintergrund“ für ihre Anwendung und Interpretation wie sie umgekehrt die Gel­ tung der Kontexte bestätigen. Aufgrund der konnotativen, kontextualisierenden Relation zwischen Praktiken und Kontexten (siehe Maas 1985; Gumperz 1982) kann die Realisierung einer bestimmten Praktik etwa zur Konstitution bzw. Stüt­ zung der soziokulturellen Identität ihrer Akteure oder der sozialsemiotischen Prägung einer Kommunikationssituation beitragen; sie kann aber auch zu die­ sen in einen unbeabsichtigten oder aber strategisch intendierten Kontrast treten (Scharloth 2011; Linke 2011). Zur sozialsemiotisch-indexikalischen Prägung von Praktiken gehört auch die Relevanz von (linguistischen) Ideologien für ihre Deutung. Wie die Ausformung von Praktiken sind auch diese überschießenden Effekte historisch gebunden bzw. historischen Veränderungen unterworfen.

2.7  Kontextbezug und Temporalität Praktiken sind keine abstrakten, kontextfreien Einheiten oder Types (Hanks 1996, Kap. 10). Praktiken sind durch einen Vollzugscharakter gekennzeichnet, d.h. sie sind zeitlich strukturiert. Die soziale Wirklichkeit ist Vollzugswirklichkeit, da sie durch zeitlich strukturierte Praktiken konstituiert wird (Bergmann 1985). Zeitlichkeit ist in mehreren Hinsichten für Praktiken konstitutiv:

10 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

–– Praktiken bestehen aus dem Vollzug von sequenziell und oft auch simultan koordinierten Aktivitäten. –– Praktiken sind an bestimmte raumzeitliche Kontexte gebunden, innerhalb derer sie entstehen und enaktiert werden (können). Sie sind Verfahren, die darauf spezialisiert sind, bestimmte kontextuelle Konfigurationen anforde­ rungs- und zielfunktional zu bearbeiten und damit situierte Kontexte zu transformieren. Diese kontextuellen Konfigurationen sind, ebenso wie die Praktiken in sich, oftmals zeitlich strukturiert als sequenziell vorgängige oder simultane Handlungs-, Raum- und Objektkonfigurationen. So wie Prak­ tiken auf Kontexte zugeschnitten sind, so erfordern sie auch bestimmte Kon­ textbedingungen, die sie zu ihrer Realisierung benötigen und von denen sie Teile ihrer Bedeutung beziehen. –– Die Praktiken selbst, als Verfahren interpersonaler Kooperation und, gerade im Falle sprachlicher Praktiken, intersubjektiver Verständigung operieren nicht nur retrospektiv, sondern auch prospektiv (Deppermann/Günthner 2015): Sie eröffnen und projizieren Optionen und Erwartungen für das Anschluss­ handeln. So kommt es zu Verkettungen von Praktiken, die ihrerseits zu grö­ ßeren, erwartbaren Formen des kommunikativen Austauschs werden können. –– Praktiken sind offen und formbar, d.h. an die Spezifik (neuer) raumzeitlicher und sich in Entwicklung befindlicher Kontexte in teils systematischer, teils unvorhersehbar emergenter, aber doch motivierter Weise anpassbar (siehe oben 2.6). –– Praktiken gewinnen ihre soziale Typik durch Rekurrenz, d.h. transsituative Anwendung und Anwendbarkeit als typische Lösung für wiederkehrende Situationsanforderungen (siehe oben 2.4).

2.8  Historizität Praktiken sind historisch gebunden. Praktiken, die im kommunikativen Spektrum einer historischen Epoche oder einer bestimmten historischen Sozialformation existieren, fehlen in anderen historischen Zeiten komplett (jemandem seine Auf­ wartung machen, Linke 1996; Teach-Ins, Scharloth 2011), sind zentral oder margi­ nalisiert (Beten), sind obligatorisch oder stigmatisiert (körperliche Züch­tigungen, öffentliche Beichte). Die Gestalt von Praktiken unterliegt historischen Verände­ rungen und hängt eng zusammen mit Veränderungen ihrer medialen Realisie­ rungsform (z.B. vom Brief zur Email, vom Telegramm zur SMS, Schwitalla 2002), aber auch beispielsweise mit dem Wandel des soziokulturellen Kontextes, wie dies z.B. Schröter (in diesem Band) für Verabschiedungspraktiken aufweist. Nicht



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 11

zuletzt aufgrund der Rückbindung von Praktiken an soziokulturelle Zweckstruk­ turen, Institutionen und soziale Akteure bzw. Akteursgruppen gehen sozialhis­ torische Prozesse mit strategisch-bewussten wie unbewussten Formen der Aus­ bildung, Veränderung und auch dem Verschwinden von Praktiken einher (Linke 1996, 2010). Im Durchgang durch die in diesem Abschnitt diskutierten Bestimmungsstü­ cke von Praktiken konnte auf sehr vielfältige, neue wie auch ältere Forschungs­ literatur aus Soziologie, Anthropologie und Linguistik zurückgegriffen werden. Das zeigt, dass in sehr vielen Forschungskontexten und auch durchaus nicht erst in neuerer Zeit zentrale Elemente des Praktikenkonzepts bereits theoretisch dis­ kutiert und zum Teil auch praktisch-methodisch operationalisiert sind (vgl. auch Hillebrandt 2014, Kap. 3). Gleichzeitig zeigt dieser Durchgang aber auch, dass der Praktikenbegriff geeignet ist, Überlegungen zusammenzuführen, Beobach­ tungen zu bündeln und heterogene Befunde in eine Zusammenschau zu brin­ gen und auf diese Weise theoretischen wie forschungspraktischen Mehrwert zu erzeugen.

3  Linguistische Praktikenbegriffe Die Jahrestagung des IDS, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist, setzte sich zum Ziel, Reichweite, Ertrag und Anwendungsbereiche des PraktikenKonzepts für die Linguistik auszuloten und zu einer begrifflichen Schärfung und Systematisierung der für dieses Konzept relevanten Aspekte beizutragen. Diese Zielsetzung entstand aus dem Eindruck, dass der Praktikenbegriff zwar zuneh­ mend Einzug in die Linguistik hält, er jedoch oft eher en passant benutzt wird, ohne dass auf die mit ihm verbundenen theoretisch-methodischen Entscheidun­ gen fokussiert und sein Platz im Gefüge linguistischer Begriffe und Gegenstände genauer bestimmt wird. Die Tagung verstand sich als ein exploratives Unterneh­ men, die Disparatheit unterschiedlicher Fragestellungen, für die das PraktikenKonzept in Anspruch genommen wird, und die Unterschiedlichkeit der Verständ­ nisse von Praktiken zu dokumentieren, um eine erste Bestandaufnahme zu versuchen und Gemeinsamkeiten und Spannungsfelder zu identifizieren. In den Beiträgen dieses Bandes wird das Praktikenkonzept, wie auch sonst in der Linguistik, in mindestens drei unterschiedlichen theoretisch-methodischen Kontexten verstanden.

12 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

3.1  Superstrukturell-handlungsfeldbezogener Praktikenbegriff Praktiken werden hier in einem sehr weit gefassten Sinne verstanden. Praktiken können ganze Handlungsfelder umfassen (z.B. „literarische Praktiken“, „Prakti­ ken der Internetkommunikation“) und sich damit auf komplexe „Praxisforma­ tionen“ (Hillebrandt 2014, S. 103–109) und – stärker akteursbezogen – auf sehr allgemeine Leitstrukturen der Kommunikation und des Umgangs mit Texten im Sinne z.B. von Bourdieus Habitus-Konzept (Bourdieu 1972, 1979) oder Wittgen­ steins Lebensform-Konzept (Wittgenstein 1984) beziehen. In diesem Verständnis, das oft mit diskurstheoretischem Gedankengut Hand in Hand geht, sind Prak­ tiken eng gebunden an Weltanschauungen (Ideologien) und Werte, die Hand­ lungsmotive generieren und von hier aus auch die Struktur von Handlungsfolgen sowie die Wahl und Veränderungen grammatischer Formen motivieren können (siehe auch Hanks 1996, S. 230 ff.). Der Zusammenhang von Praktiken mit institu­ tionellen Hierarchien und Machtverhältnissen und den von hierher definierten Beteiligungsstrukturen (etwa im Bildungsbereich, aber auch in den Medien) in bestimmten sozialen Feldern und Medienverbünden steht im Zentrum des Interes­ ses (Feilke in diesem Band und Perrin in diesem Band).  Neben Hanks (1996) ist hier etwa an die Nexus-Theorie von Scollon (2001), den soziolinguistischen An­ satz von Pennycock (2010) oder an die Vertreter des Konzepts literaler Praktiken (Scribner/Cole 1981; Barton/Hamilton 1998; Street 2000) zu denken.

3.2  Makrostrukturell-gattungstheoretischer Praktikenbegriff Hier geht es um Praktiken als semiotische, interaktive Großformen des Sprach­ gebrauchs, wie sie etwa als ‚kommunikative Gattungen‘ (Luckmann 1986; Günth­ ner/Knoblauch 1994; Günthner/König in diesem Band) bzw. in der linguistischen Anthropologie als ‚Genres‘ (Bakhtin 1986; Hanks 1996, S. 242–245) oder, teils nur auf einzelne Phasen eines Gesprächs bezogen, als „kommunikative Praktiken“ (Fiehler et al. 2004) gefasst werden. Diese Formen stehen einerseits in Zusam­ menhang mit bestimmten gesellschaftlichen Vororientierungen (z.B. Höflichkeits­ konventionen, Relevanzhierarchien für Themen etc.) und sozialen Strukturen (Rollen, Milieus, Institutionen), sind andererseits nur in der sozial bestimmten performativen Qualität des Vollzugs durch unterschiedliche Akteure mit gattungs­ spezifischen Beteiligungsrollen fassbar. Wie im soziologischen Konzept sozialer Praktiken auch basieren sie auf Ethnokategorien und emergenter Ordnungsbil­ dung, z.B. in Form von Ablauf- bzw. Handlungsschemata. Gattungen in diesem



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 13

Sinn lassen sich als Ensembles konventionell situierter, obligatorischer konver­ sationeller Handlungszüge verstehen. Handlungen sind hier Teil von Praktiken; sie gewinnen ihren situierten Sinn gerade aus den Praktiken, in die sie einge­ bettet sind.

3.3  Mikrostrukturell-konversationsanalytischer Praktikenbegriff Hier geht es um Praktiken im Sinne von multimodalen Ressourcen, die in be­ stimmten sequenziellen Kontexten in der Konversation benutzt werden (Scheg­ loff 1997a; Heritage 2010; Selting in diesem Band; Stukenbrock in diesem Band). ‚Praktik‘ ist hier nicht, wie bei vielen soziologischen Praktikentheoretikern (siehe Reckwitz 2003; Hillebrandt 2014), Gegenbegriff zu ‚Handlung‘. Praktiken sind vielmehr stets darauf angelegt, bestimmte, verständliche Handlungen zu voll­ ziehen. Praktiken sind kontextgebundene Einsatzroutinen von beobachtbaren, formbezogen beschreibbaren Ressourcen, die als solche noch keine Praktik sind und auch keine volle Handlungsbedeutung haben, sondern allenfalls ein Funk­ tionspotenzial (Schegloff 1997a). Dazu gehören z.B. bestimmte prosodische und grammatische Formate im Erzählkontext für die Konstruktion der Klimax (Selting in diesem Band) oder lexikalische Formen und Typen von Zeigegesten für be­ stimmte Formen von Zeigehandlungen (Streeck in diesem Band; Stukenbrock in diesem Band). Praktiken sind hier also Konstituenten von Handlungen, die oft durch mehrere kombinierte Praktiken konstituiert werden. Praktiken in diesem Sinne sind eine Infrastruktur des Handelns, auf der erst bewusste Handlungs­ intentionen aufsetzen können und die zur situierten Realisierung des Handelns in konkreter Gestalt notwendig sind (Habscheid in diesem Band). Der Bezug auf größere diskursive Zusammenhänge spielt hier dagegen, soweit nicht unmittelbar durch sequenzielle Präkontexte vermittelt, für den Praktikenbegriff keine sys­ tematische Rolle.

4  Linguistische Beiträge zum Verständnis von Praktiken Für manchen Soziologen mag es befremdlich sein, dass sich ausgerechnet Lin­ guisten den Praktikenbegriff zunutze zu machen versuchen, besteht doch der practice turn für viele gerade in einer längst fälligen, therapeutischen Gegen­ bewegung gegen die Hyperintellektualisierung, Versprachlichung und Textua­

14 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

lisierung des Sozialen, die sowohl poststrukturalistische, diskurstheoretische Ansätze als auch kommunikationsorientierte Sozialtheorien (wie Habermas oder Luhmann) seit den 1970er Jahren ausgezeichnet hatten (siehe Reckwitz 2003). Wie so oft in der Dialektik wissenschaftshistorischer Entwicklungen kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass die Praktikensoziologie dazu tendiert, das Kind mit dem Bade auszuschütten, indem sie (wenigstens theore­ tisch) die schiere Beobachtbarkeit von physischem Verhalten von Körpern und Objekten zum soziologischen Primärgegenstand erklärt und der Sprache und in­ tersubjektiven Verständigungsprozessen nur einen sekundären Status als nach­ trägliche Symbolisierung praktischen Sinnes einräumt (vgl. Hillebrandt 2014; kritisch dazu siehe auch Knoblauch/Tuma in diesem Band). Abgesehen davon, dass dabei in soziologischen Arbeiten vielfach ein stereotypes Bild der Linguistik reproduziert wird, das die Komplexität linguistischer Theorienbildung in diesem Feld nicht zur Kenntnis nimmt (Gloning in diesem Band), hat die Linguistik hier entgegenzuhalten, dass ein Großteil des Sozialen durch sprachlich-multimodale Praktiken (mit-)konstituiert wird. Anstatt Verhalten gegen Handeln oder Körper­ bewegungen und den Eigensinn der Objekte gegen Sprechen und Texte auszu­ spielen, ist es weitaus instruktiver zu sehen, wie Sprache im leiblichen, respek­ tive multimodalen Ausdruck inkarniert und intrinsisch in die Handlungsvollzüge in der materiellen und medial vermittelten Welt verwoben ist. Dabei wird deut­ lich, dass die symbolische Dimension des Handelns doch oft weitaus mehr als nur sekundäre Sinnbildung, sondern (ganz in Austins Sinne, Austin 1972) kon­ stitutiv ist für das, was getan worden ist und was als nächstes geschieht. Sprachliche Praktiken sind unausweichlich sinnstrukturiert. Zwar ist es für sie erforderlich, dass sie materiell realisiert werden, und die Spezifik ihrer mate­ riellen Realisierung trägt erheblich zur Identität einer Praktik bei. Aussagen wie die, dass „die Letztelemente einer Praxis als materielle Elemente bestimmt werden“ (Hillebrandt 2014, S. 56), suggerieren aber, dass Praktiken als Praktiken allein durch eine bestimmte materielle Realisierung determiniert seien. Dies ist nicht nur aus linguistischer Perspektive fragwürdig, sondern erscheint unzutref­ fend für jede soziale Aktivität, deren Typik (und d.h. ihre Produktion, ihr Verständ­ nis und die regelhaften Folgen, die sie nach sich zieht) nur aufgrund ihrer Sinn­ strukturiertheit zustande kommt (vgl. Knoblauch/Tuma in diesem Band). Schon die Frage, was genau mit ‚Materialität‘ gemeint ist, bereitet darüber hinaus Pro­ bleme. Trotz der manchmal positivistisch-physikalistisch anmutenden Diktion ist klar, dass Eigenschaften, die durch eine physikalische Beschreibung zu er­ fassen wären, nicht gemeint sind. Aber was dann? Beobachtungsbegriffe, die das sozial Beobachtbare benennen, legen dieses stets schon auf seine praktischen Relevanzen hin aus (etwa in Bezug auf die Granularität der Beobachtung, die rele­ vanten Eigenschaften des Beobachteten). Eine rein materielle Beschreibung von



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 15

Praktiken ist zumindest im Bereich des sprachlichen, aber wohl auch weiterge­ hend für die meisten leiblichen Praktiken a) nicht möglich und b) trifft sie nicht das, was die Praktik ausmacht. Das gilt schon für relativ beobachtungsnahe, mikroskopische Praktiken, wie die Formen der Fremdinitiierung einer Reparatur. Schegloff (1997a) macht darauf aufmerksam, dass es zwar übliche, vielleicht gar präferenzielle materiale Realisierungsformen gibt, wie eine Reparatur initiiert wird, dass aber weder der Einsatz bestimmter Formen als solcher immer schon eine Instanz der Praktik bedeutet noch umgekehrt eine geschlossene Liste von Formen festzulegen wäre, die benutzt werden müssen, um eine Fremdreparatur zu initiieren. Bestimmte materielle Eigenschaften sind m.a.W. schon bei mikros­ kopischen, oberflächennahen Praktiken kaum einmal als notwendige und hinrei­ chende Bedingungen für deren Realisierung auszumachen. Stattdessen sind die pragmatisch-semiotischen Eigenschaften von sprachlich-kommunikativen For­ men im Kontext maßgeblich für Praktiken. Dies weist nicht nur darauf hin, dass erst die Interpretation von materiellen Formen im Kontext diese auch zu Instan­ zen einer Praktik macht. Es zeigt, dass sich das, was für Aktivitäten als Praktiken konstitutiv ist, oftmals viel mehr auf der Ebene der Interpretation der materiellbeobachtbaren Aktivitäten in einem bestimmten Kontext liegt als auf der Ebene des Beobachtbaren selbst – je nach kontextuellem Bezugsrahmen kann daher das gleiche Verhaltensereignis eine Praktik sein oder nicht (siehe dazu Schmidt in diesem Band). So ist es nicht ein abgespreizter Finger per se, der eine Zeige­ handlung konstituiert, sondern erst sein Einsatz in einer Situation, in der er zu­ meist mit einer referenziell zu verstehenden sprachlichen Äußerung (wie einer NP) und im Kontext der Herstellung gemeinsamer Aufmerksamkeit unter den Bedingungen von Wahrnehmungswahrnehmung mit Bezug auf ein für das ge­ meinsame Handeln in verstehbarer Weise relevantes Objekt benutzt wird (siehe Stukenbrock in diesem Band). Somit kommen aber bedeutungskonstitutive, an­ bahnende und selegierende Präkontexte, Zeit-, Erwartungs-, Projektions-, Vorwis­ sens- und Zweckstrukturen sowie (interaktions- und sozial-)räumliche Konstella­ tionen hinzu, die – dem Analytiker mehr oder weniger bewusst bzw. in den Daten offenbar – für den Vollzug und die Interpretation einer beobachtbaren Aktivität als Praktik maßgeblich sind. Körperliches Verhalten konstituiert per se für die Teilnehmer an einer sozialen Interaktion noch nicht seine eigene Bedeutung. Erst wenn es als wenigstens potenziell kontrollierbares, auf Erwartungserwartungen, begründbare Motive und Intentionen bezogenes Handeln verstanden wird, wird es zu einem sozial zurechenbaren Ereignis – was für seine Interpretation, Wer­ tung und die sozialen Anschlusshandlungen entscheidend ist, die somit nicht einfach als von Verhalten ausgehenden Effekten zu modellieren sind (siehe Schmidt in diesem Band). Deshalb beinhalten, wie auch unsere Übersicht in Abschnitt 3 gezeigt hat, linguistische Praktikenansätze keine Ablehnung des

16 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

Handlungsbegriffs. Vielmehr gehört es zu ihrem Kern, in jeweils spezifischer (und umstrittener) Weise das Verhältnis zwischen Praktiken und Handlungen zu konzeptualisieren und dadurch den Handlungsbegriff zu schärfen. Wenn der Praktikenbegriff hier eine Frontstellung gegen das Konzept der ‚Handlung‘ bein­ haltet, dann die Ablehnung von Konzeptionen von ‚Handlung‘, die die bewusste, zweckrationale Intentionalität des individuellen Akteurs zum grundlegenden Modell allen Handelns machen. Trotz ihrer kritischen Distanzierungen von gewissen praxistheoretischen Posi­ tionen hat die sprachwissenschaftliche Rezeption der Praxistheorie aber auch eine wahrhaft ironische Pointe: Die Linguistik ist methodologisch weitaus besser als die Soziologie darauf vorbereitet, sich als Wissenschaft des Vollzugs von Praktiken zu verstehen. Die empirische Sprachwissenschaft, die sich mit Texten und Inter­ aktionen befasst, hat von Haus aus weniger Probleme als die meisten soziologi­ schen Ansätze, empirische Phänomene in ihren konkreten Details und in der zeit­lichen Struktur ihres Vollzugs zum Gegenstand der Analyse zu machen. Der enorme Erfolg der Konversationsanalyse in der Linguistik und ihre disziplinäre Fortentwicklung zu einer interaktionalen Linguistik legt im Vergleich zur margi­ nalen Position der Konversationsanalyse innerhalb der Soziologie ein beredtes Zeugnis von dieser Asymmetrie ab. Praktikensoziologische Forschungen gehen meist ethnografisch, mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung vor (siehe Hirschauer 2001). Die so entstehenden Beschreibungen sind aber notgedrungen durch die Wahrnehmungsselektionen und Deutungen des Ethnografen geprägt, und im Gegensatz zu Audio- und Videoaufnahmen und anderen Formen der pas­ siven Dokumentation (wie Chatlogs), die linguistische Datengrundlagen bilden, sind ethnografische Beschreibungen hoch aggregiert und nicht in der Lage, die prozessualen Details des Geschehens lückenlos und präzise zu erfassen (vgl. Berg­ mann 1985). Genau dies muss aber ein Praktikenansatz fordern, will er die beson­ dere Konstitutionsweise der durch Praktiken hergestellten multimodalen Voll­ zugswirklichkeit methodologisch einholen. So verwundert es denn auch nicht, dass Untersuchungen gerade im soziologischen Kontext oft eher darauf ausge­ richtet sind, allgemeine Handlungsstrategien herauszuarbeiten, während ein­ zelne Praxisformen eher grobgranular und generisch dargestellt werden (vgl. etwa Bourdieu 1979; Hörning/Reuter 2004). Es steht außer Frage, dass diese Korngröße der Gesellschaftsbeschreibung ihre eigenen Erkenntnispotenziale hat. Will man allerdings mehr über die Konstitution des Sozialen in Echtzeit wissen, dann be­ nötigt man einen methodologischen Zugriff, der die kommunikative Praxis prä­ zise, konstitutionslogisch vollständig hinsichtlich all dessen, was für die Inter­ aktionsteilnehmer im Handlungsvollzug wahrnehmbar ist, so konserviert, dass die volle Reichhaltigkeit des Geschehens der späteren, handlungsentlasteten Analyse soweit wie möglich umfassend und unverfälscht zur Verfügung steht.



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 17

5  Spannungslinien und offene Fragen eines praxistheoretischen Ansatzes (für die Linguistik) Neue Paradigmen kommen oft mit einem usurpatorischen Gestus daher – sie beanspruchen schnell universelle Geltung. Es stellt sich also die Frage, welche sprachlich-kommunikativen Phänomene als Praktiken beschrieben werden kön­ nen und welchen Platz das Praktikenkonzept im Gefüge der linguistischen Kon­ zepte einnehmen soll (vgl. kritisch dazu Gloning in diesem Band). So kann von einzelnen phonetischen oder grammatischen Praktiken ebenso die Rede sein wie von Praktiken im medizinischen Feld (womit dann z.B. Anamnesegespräche gemeint sind). Es ist klar, dass in beiden Fällen nicht mehr das gleiche Konzept von ‚Praktik‘ greifen kann. In Abschnitt 3 haben wir drei Granularitätsebenen ange­ sprochen, auf denen Praktiken (zumindest in den Beiträgen dieses Bandes) in der Linguistik angesiedelt werden. Dabei zeigt sich, dass solche Differenzen nicht nur die Größenordnung der Phänomene betrifft, sondern auch das Verhältnis von Praktiken zu Handlungen: Sind Praktiken Bausteine für Handlungen (wie in der Konversationsanalyse), sind sie umfassendere diskursive Felder oder handelt es sich um einen Überbegriff für alle möglichen pragmatischen, interaktiven und textuellen Phänomene (vgl. dazu Imo in diesem Band)? Damit verbindet sich auch die Frage, ob individuelle Akteure die Träger von Praktiken sind oder ob es sich von vornherein um kollektive Phänomene handelt, wobei sich Praktiken dann stets auf das Zusammenspiel mehrerer Akteure (und ggfs. Objekte) bezie­ hen würden. Eine ähnlich ungeklärte Relation haben Praktiken auch zum Begriff der ‚Konstruktion‘. Beide Konzepte werden z.B. in der interaktionalen Linguistik gern zur Beschreibung grammatischer Phänomene benutzt. Doch ist nicht klar, ob Konstruktionen selbst als Praktiken oder eher als strukturelle, vielleicht gar kognitive Ressourcen für Praktiken verstanden werden. Der Begriff der ‚Konstruk­ tion‘ beinhaltet zumindest in der Regel nicht, dass mit einer Konstruktion als sol­ cher auch schon eine Handlungsfunktion verbunden ist (vgl. etwa Ditransitiv-, Plural-, etc. -konstruktionen), und die genaue grammatische Analyse identifiziert oft eine Vielzahl von Konstruktionen und Konstruktionsvarianten, denen nicht jeweils eine eigene Praktik zu korrespondieren scheint, da die grammatischen Unterschiede nicht eindeutig mit pragmatischen kookkurrieren. Eine weitere, auch mit der Größenordnung von Praktiken in Zusammenhang stehende Dimension ist die der Formbestimmtheit und damit der Spezifik ihrer materiellen Realisierung (vgl. 2.1). Während phonetische Praktiken (Eckert 2000) auf jeden Fall formbestimmt sind, ist dies bei schematischen grammatischen Praktiken schon nicht mehr so eindeutig. Obwohl beispielsweise die Theorie der

18 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

kommunikativen Gattungen stets versucht, Gattungen zumindest auch durch for­ male Merkmale zu bestimmen (siehe Günthner/Knoblauch 1994; Günthner/König in diesem Band), ist dies für viele Gattungen nur prototypisch (z.B. Märchen) und für manche gar nicht (z.B. Beratungsgespräche) möglich: Das Vorkommen bestimmter sprachlicher Formen ist weder notwendig für die Realisierung einer Gattung noch bestimmt es, vielleicht mit Ausnahme von vollständig ablaufdeter­ minierten Ritualen, gar die Realisierung eines Vorkommens der Gattung als gan­ zer. Formale Aspekte erweisen sich somit bestenfalls als prototypisch oder optio­ nal, doch kaum als definitorisch und schon gar nicht als exhaustiv für den Prozess der Verwirklichung von Praktiken zumal höherer Granularität. Praktiken sind dann eher durch die Konstellationen von Handlungen, Themen und Beteiligungs­ strukturen gekennzeichnet – beobachtbare Elemente spielen hier eine Rolle, doch sind pragma-semiotische Aspekte mindestens ebenso wichtig. Die praxistheoretische Betonung der materiellen Realisierung von Praktiken berührt zwei weitere zentrale Probleme, die in der linguistischen Diskussion auch anderer theoretischer Ansätze immer wieder virulent werden. Dies ist zum einen das Verhältnis zwischen beobachtbarem Verhalten und kognitiver Struktur, zum anderen das Verhältnis zwischen situierter Konkretheit (Tokens) und schemati­ scher Allgemeinheit (Types). Der Antimentalismus des Praktikenansatzes wendet sich gegen die zentrale Rolle, die kognitiven Größen in der Handlungstheorie und in den Kognitionswissenschaften zur Erklärung des Handelns zugewiesen wird. Stattdessen wird auf Konzepte des impliziten Wissens, des inkarnierten Wissens und des praktischen Könnens (siehe oben 2.4) rekurriert, um zu erklären, was Akteure mitbringen müssen, um an Praktiken teilnehmen und sie realisieren zu können. Da für die moderne Kognitionswissenschaft und die intentionalistische Handlungstheorie (vgl. etwa Gibbs 1999) ‚Kognition‘ und ‚Wissen‘ ohnehin nicht Reflexivität, Bewusstheit, Propositionalität oder Explizierbarkeit implizieren, son­ dern auf Prozesse referieren, die zumeist unbewusst sind, scheint die Frontstellung zu einer kognitiven Betrachtungsweise mehr die Methodologie (experimentellquantitativ vs. alltagsrekonstruktiv-qualitativ) und das Erkenntnisinteresse (kog­ nitive Prozesse vs. beobachtbare Praxis) zu betreffen als wirklich einen unüber­ brückbaren Gegensatz hinsichtlich der ontologischen Rolle des Mentalen in der Praxis. Ein strikter Antimentalismus (wie bei Coulter 2005) führt zu Aporien und Erklärungslücken, da er nicht plausibel machen kann, welche Voraussetzungen Akteure mitbringen und welche interpretativen Leistungen sie erbringen müssen, um an Praktiken teilnehmen zu können. Es ist vielmehr zu zeigen, das agnos­ tische Ansätze, die kognitive Erklärungen vermeiden wollen, doch unweigerlich kognitive Annahmen machen müssen, um das beobachtbare Handeln von Akteu­ ren als sinnhaftes Handeln beschreiben zu können (vgl. Deppermann 2012).



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 19

Das Problem des Type-Token-Verhältnisses schließlich ist nicht spezifisch für den Praktikenansatz. Es erhält hier aber eine spezielle Färbung, denn Prakti­ kenansätze, v.a. ethnomethodologischer Prägung, heben den unhintergehbar situierten Charakter des praktischen Handelns hervor (vgl. Lynch 2001), und die Betonung des materiellen Charakters von Praktiken sollte eine sehr detaillierte Be­ schreibung der konkreten perzeptiven Details der Realisierung im Hier und Jetzt favorisieren (was allerdings gerade von soziologischer Seite in der Regel gar nicht geleistet wird, siehe Abschnitt 4). Dies wirft einerseits die Frage auf, was das Er­ kenntnisziel praxeologischer Forschung sei, d.h. in welchem Verhältnis die Ana­ lyse situierten Vollzugs zur Herauspräparierung generischer und d.h. immer auch formalerer und von spezifischen materialen Kontingenzen im Einzelfall abstra­ hierenden Strukturen stehen soll. Zum anderen stellt sich die Frage nach der Identität einzelner Praktiken: Welche Grade von Variation, Flexibilität und Offen­ heit sind für eine einzelne Praktik konstitutiv und welche Elemente machen ihren fixen, identitätsstiftenden Kern aus? Damit verbunden ist die Frage nach den Identitätskriterien einzelner Praktiken als solcher, die bisher in der Literatur noch weitgehend unbeantwortet ist und beispielsweise für den in der Konstruk­ tionsgrammatik zentralen Begriff der ‚Konstruktion‘ ganz ähnliche Probleme aufwirft (vgl. Imo 2011). Die nachfolgend in diesem Band versammelten Beiträge tragen dazu bei, die hier aufgeworfenen Fragen zu detaillieren und zu beantworten. Sie werfen aber auch weitere, sich aus der Spezifik der untersuchten Praktiken ergebende, Fra­ gen auf und tragen damit zur einer linguistischen Interpretation des Praktiken­ konzepts bei, welche wiederum in die allgemeinere Diskussion um Konzept und Begriff der ‚Praktik‘ produktiv eingebracht werden kann.

Literatur Androutsopoulos, Jannis (2006): Introduction: Sociolinguistics and computer-mediated communication. In: Journal of Sociolinguistics 10, S. 419–438. Austin, John L. (1972): Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart. Bakhtin, Mikhail (1986): Speech genres and other late essays. (= University of Texas Press Slavic Series 8). Austin. Barton, David/Hamilton, Mary (1998): Local literacies: Reading and writing in one community. London. Benwell, Bethan/Stokoe, Elizabeth (2006): Discourse and identity. Edinburgh. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1966): The social construction of reality: A treatise in the sociology of knowledge. Garden City, NY.

20 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

Bergmann, Jörg (1985): Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit: Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie. In: Bonß, Wolfgang/Hartmann, Heinz (Hg.): Entzauberte Wissenschaft: Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung. (= Soziale Welt. Sonderbd. 3). Göttingen, S. 299–320. Bourdieu, Pierre (1972): Esquisse d’une théorie de la pratique. Précédé de: „Trois études d’ethnologie kabyle“. Genf. Bourdieu, Pierre (1979): La distinction. Critique sociale du jugement. Paris. Bourdieu, Pierre (1980): Le sens pratique. Paris. Bourdieu, Pierre (1997): Méditations pascaliennes. Paris. Bubenhofer, Noah (2009): Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskursund Kulturanalyse. (= Sprache und Wissen 4). Berlin. Coulter, Jeff (2005): Language without mind. In: te Molder, Hedwig/Potter, Jonathan (Hg.): Conversation and cognition. London, S. 79–93. Deppermann, Arnulf (2012): How does ‚cognition‘ matter to the analysis of talk-in-interaction? In: Language Sciences 34, S. 746–767. Deppermann, Arnulf/Günthner, Susanne (2015): Introduction: Temporality in interaction. In: Deppermann, Arnulf/Günthner, Susanne (Hg.): Temporality in interaction. (= Studies in Language and Social Interaction 27). Amsterdam, S. 1–24. Deppermann, Arnulf/Schmitt, Reinhold (2007): Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes. In: Schmitt, Reinhold (Hg.): Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion. (= Studien zur Deutschen Sprache 38). Tübingen, S. 15–54. Eckert, Penelope (2000): Linguistic variation as social practice. The linguistic construction of identity in Belten High. (= Language in Society 27). Oxford. Eckert, Penelope/McConnell-Ginet, Sally (1992): Think practically and look locally: Language and gender as community-based practice. In: Annual Review of Anthropology 21, S. 461–490. Fairclough, Norman (2001): Language and power. 2. Aufl. (= Language in Social Life Series). Edinburgh. Feilke, Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt a.M. Fiehler, Reinhard (2000): Über zwei Probleme bei der Untersuchung gesprochener Sprache. In: Sprache und Literatur 85, S. 23–42. Fiehler, Reinhard et al. (2004): Eigenschaften gesprochener Sprache. (= Studien zur Deutschen Sprache 30). Tübingen. Garfinkel, Harold (1967): Studies in ethnomethodology. Englewood Cliffs, NJ. Garfinkel, Harold/Sacks, Harvey (1970): On formal structures of practical action. In: McKinney, John C./Tiryakian, Edward A. (Hg.): Theoretical sociology: Perspectives and developments. New York, S. 338–366. Gibbs, Ray (1999): Intentions in the experience of meaning. Cambridge. Gibson, James J. (1977): The theory of affordances. In: Shaw, Robert/Bransford, John (Hg.): Perceiving, acting, and knowing. Toward an ecological psychology. Hillsdale, NJ, S. 67–82. Giddens, Anthony (1984): The constitution of society: Outline of the theory of structuration. Cambridge. Goffman, Erving (1981): Footing. In: Goffman, Erving: Forms of talk. Philadelphia, S. 124–159. Goodwin, Charles/Goodwin, Marjorie Harness (2004): Participation. In: Duranti, Alessandro (Hg.): A companion to linguistic anthropology. (= Blackwell Companions to Anthropology 1). Malden, MA, S. 222–244.



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 21

Günthner, Susanne/Knoblauch, Hubert (1994): „Forms are the food of faith“. Gattungen als Muster kommunikativen Handelns. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 4, S. 693–723. Gumperz, John J. (1982): Discourse strategies. (= Studies in Interactional Sociolinguistics 1). Cambridge. Hanks, William (1990): Referential practice: Language and lived space among the Maya. Chicago. Hanks, William (1996): Language and communicative practices. (= Critical Essays in Anthropology). Boulder. Hausendorf, Heiko (2013): On the interactive achievement of space – and its possible meanings. In: Auer, Peter et al. (Hg.): Space in language and linguistics: Geographical, interactional, and cognitive perspectives. (= Linguae & Litterae 24). Berlin, S. 276–303. Havelock, Eric A. (1981): The literate revolution in Greece and its cultural consequences. Princeton, NJ. Heritage, John (2010): Conversation Analysis: Practices and methods. In: Silverman, David (Hg.): Qualitative research. Theory, method and practice. 3. Aufl. London, S. 208–230. Heritage, John/Clayman, Steven (2010): Talk in action: Interactions, identities, and institutions. New York. Hillebrandt, Frank (2014): Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung. Wiesbaden. Hindelang, Götz (1994): Sprechakttheoretische Dialoganalyse. In: Hundsnurscher, Franz/Fritz, Gerd (Hg.): Handbuch der Dialoganalyse. Berlin, S. 95–112. Hindmarsh, Jon/Heath, Christian (2000): Sharing the tools of the trade: The interactional constitution of workplace objects. In: Journal of Contemporary Ethnography 29, S. 523–562. Hirschauer, Stefan (2001): Ethnographisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung. In: Zeitschrift für Soziologie 30, S. 429–451. Hirschauer, Stefan (2004): Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In: Hörning/Reuter (Hg.), S. 73–91. Hörning, Karl H./Reuter, Julia (2004): Doing culture. Kultur als Praxis. In: Hörning/Reuter (Hg.), S. 9–15. Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hg.) (2004): Doing culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. (= Sozialtheorie). Bielefeld. Imo, Wolfgang (2011): Die Grenzen von Konstruktionen: Versuch einer granularen Neubestimmung des Konstruktionsbegriffs der Construction Grammar. In: Engelberg, Stefan/Holler, Anke/ Proost, Kristel (Hg.): Sprachliches Wissen zwischen Lexikon und Grammatik. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2010). Berlin, S. 113–148. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1985): Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36, S. 15–43. Latour, Bruno (2005): Reassembling the social: An introduction to actor-network-theory. (= Clarendon Lectures in Management Studies). Oxford. Lave, Jean/Wenger, Etienne (1991): Situated learning: Legitimate peripheral participation. (= Learning in Doing). Cambridge. Linke, Angelika (1996): Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart. Linke, Angelika (2007): Das Schielen auf den Dritten. Zur konfigurativen Bestimmtheit von Kommunikation. In: Kiening, Christian (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit. (= Medienwahl, Medienwechsel, Medienwissen 1). Zürich, S. 111–126.

22 

 Arnulf Deppermann/Helmuth Feilke/Angelika Linke

Linke, Angelika (2010): „Varietät“ vs. „Kommunikative Praktik“ – Welcher Zugang nützt der Sprachgeschichte? In: Gilles, Peter/Scharloth, Joachim/Ziegler, Evelyn (Hg.): Variatio delectat – Empirische Evidenzen und theoretische Passungen sprachlicher Variation. (= VarioLingua 37). Frankfurt a.M., S. 255–273. Linke, Angelika (2011): Signifikante Muster – Perspektiven einer kulturanalytischen Linguistik. In: Wåghäll Nivre, Elisabeth et al. (Hg.): Begegnungen. Das fünfte Nordisch-Baltische Germanistentreffen in Sigtuna, 11.–13. Juni 2009. Stockholm, S. 23–44. Linke, Angelika (2012): Körperkonfigurationen: Die Sitzgruppe. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Gespräch, Körpern und Raum vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. In: Ernst, Peter (Hg.): Historische Pragmatik. (= Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte 3). Berlin/Boston, S. 185–214. Linke, Angelika/Feilke, Helmuth (Hg.) (2009): Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. (= Reihe Germanistische Linguistik 283). Tübingen. Luckmann, Thomas (1986): Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen. In: Neidhardt, Fritz et al. (Hg.): Kultur und Gesellschaft. (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 27). Opladen, S. 191–211. Lynch, Michael (2001): Ethnomethodology and the logic of practice. In: Schatzki, Theodore R./ Knorr Cetina, Karin/von Savigny, Eike (Hg.): The practice turn in contemporary theory. London, S. 140–157. Maas, Utz (1985): Konnotation. In: Januschek, Franz (Hg.): Politische Sprachwissenschaft. Zur Analyse von Sprache als kultureller Praxis. Opladen, S. 71–96. Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. (= Phänomenologischpsychologische Forschungen 7). Berlin. [Frz. Originalausg. Paris 1945.] Nevile, Maurice et al. (Hg.) (2014): Interacting with objects. Amsterdam. Ong, Walter H. (1982): Orality and literacy: The technologizing of the word. New York. Pennycock, Alastair (2010): Language as a local practice. London. Reckwitz, Andreas (2003): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. In: Zeitschrift für Soziologie 32, S. 282–301. Ryle, Gilbert (1949): The concept of mind. Chicago. Scharloth, Joachim (2011): 1968. Eine Kommunikationsgeschichte. München. Schatzki Theodore R. (2001): Practice mind-ed orders. In: Schatzki/Knorr Cetina/von Savigny (Hg.), S. 50–63. Schatzki, Theodore R./Knorr Cetina, Karin/von Savigny, Eike (Hg.) (2001): The practice turn in contemporary theory. London. Schegloff, Emmanuel (1996): Confirming allusions: Toward an empirical account of action. In: American Journal of Sociology 102, S. 161–216. Schegloff, Emanuel A. (1997a): Practices and actions: Boundary cases of other-initiated repair. In: Discourse Processes 23, S. 499–545. Schegloff, Emanuel A. (1997b): Whose text? Whose context? In: Discourse and Society 8, S. 165–187. Schmidt, Robert (2012): Soziologie der Praktiken: Konzeptionelle Studien und empirische Analysen. (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 2030). Frankfurt a.M. Schmitt, Reinhold (2013): Körperlich-räumliche Aspekte der Interaktion. (= Studien zur Deutschen Sprache 64). Tübingen. Schulz-Schaeffer, Ingo (2010): Praxis, handlungstheoretisch betrachtet. In: Zeitschrift für Soziologie 39, S. 319–336.



Sprachliche und kommunikative Praktiken 

 23

Schwitalla, Johannes (2002): Kleine Botschaften. Telegramm- und SMS-Texte. In: Osnabrücker Beiträge (OBST) 64, S. 33–56. Scollon, Ron (2001): Mediated discourse: The nexus of practice. London. Scribner, Sylvia/Cole, Michael (1981): The psychology of literacy. Cambridge, MA. Searle, John R. (1971): Sprechakte. Frankfurt a.M. Sharrock, Wes (2012): Regelfolgen: Alles oder nichts? In: Ayaß, Ruth/Meyer, Christian (Hg.): Sozialität in Slow Motion. Theoretische und emprirische Perspektiven. Festschrift für Jörg Bergmann. Wiesbaden, S. 59–70. Streeck, Jürgen (2001): Praxeologie. In: Gruber, Helmut/Menz, Florian (Hg.): Interdisziplinarität in der Angewandten Sprachwissenschaft. Methodenmenü oder Methodensalat? (= Sprache im Kontext 10). Frankfurt a.M., S. 33–56. Street, Brian V. (2000): Literacy events and literacy practices: Theory and practice in the new literacy studies. In: Martin-Jones, Marilyn/Jones, Kathryn (Hg.): Multilingual literacies. Reading and writing different worlds. (= Studies in Written Language and Literacy 10). Amsterdam, S. 17–29. Wittgenstein, Ludwig (1984): Philosophische Untersuchungen. In: Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt a.M. [Originalausg. 1953.]

Praktiken der leiblich-verbalen Interaktion

Margret Selting (Potsdam)

Praktiken des Sprechens und Interagierens im Gespräch aus der Sicht von Konversationsanalyse und Interaktionaler Linguistik1 Abstract: Der Beitrag erläutert zunächst die Verwendungsweise des Begriffs der ‚Praktik(en)‘ im Rahmen der Konversationsanalyse und Interaktionalen Linguistik. Daran anschließend werden Beispiele der Herstellung und Kontextualisierung von emotional beteiligten Höhepunkten konversationeller Erzählungen untersucht, in denen die Erzähler/innen und Zuhörer/innen bestimmte Affekte erkennbar machen: Freude oder Belustigung in Belustigungserzählungen und Ärger oder Entrüstung in Beschwerdeerzählungen. Es wird gezeigt, dass die gleichen Praktiken verwendet werden, um die Interpretation dieser Affekte im sequenziellen Kontext der Erzählungen nahezulegen, dass sich aber die eingesetzten Ressourcen dabei je nach Affekt zumindest teilweise unterscheiden.

1  Einleitung ‚Praktiken‘ werden auch in der Konversationsanalyse (CA) und Interaktionalen Linguistik (IL) untersucht. Generelles Ziel der Konversationsanalyse ist die Beschreibung der Methoden der Erzeugung von Ordnung und Sinn in der sozialen Interaktion, vor allem im Bereich der sequenziellen Organisation sprachlicher Interaktion (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974; Schegloff 2007; vgl. auch Sidnell 2010). Aufbauend auf den Prämissen und Methoden der Konversationsanalyse fokussiert die Interaktionale Linguistik in zwei möglichen Herangehensweisen die beiden Fragen, wie einerseits soziale Interaktion mit sprachlichen (und anderen) Ressourcen hergestellt wird, und wie andererseits linguistische (und andere) Ressourcen in der sozialen Interaktion verwendet werden (Selting/Couper-Kuhlen 2001; Couper-Kuh-

1 Für ihre Kommentare zu einer früheren Version dieses Papiers danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des ‚Kolloquiums zur linguistischen Kommunikationsforschung‘ an der Universität Potsdam, vor allem Dagmar Barth-Weingarten, Bernhard Bielick, Uwe Küttner, Maxi Kupetz, Jana Scheerer, Yuko Sugita und Fabienne Tissot. Außerdem danke ich Yuko Sugita für Hilfe bei den Praat-Analysen, Maxi Kupetz für Hilfe bei der Herstellung der Standbilder.

28 

 Margret Selting

len/Selting 2001, i.Vorb.). Dabei wird das Zusammenspiel verbaler, vokaler und, soweit relevant, visueller Ressourcen in den Blick genommen (vgl. Selting 2013). In der Denkweise der CA und IL steht der Begriff der ‚Praktiken‘ in einem engen Zusammenhang mit anderen Begriffen, die für die Analyse des Handelns in der sozialen Interaktion gebraucht werden. Wir arbeiten mit folgenden Annahmen und Begriffen: –– Interaktionspartner interagieren miteinander, um soziale Handlungen und Aktivitäten zu vollziehen. Eine ‚Handlung‘ (action) ist dabei nach Levinson (2013, S. 107) das, was der ‚main job‘ eines Turns ist, womit die Reaktion sich befassen muss, um als adäquater nächster Turn zu gelten. ‚Aktivitäten‘ (activities) sind demgegenüber größere und komplexere Handlungen, ‚big packages‘, wie z.B. Erzählen, Argumentieren, Beschreiben; das, was im deutschen Forschungskontext auch als ‚kommunikative Gattungen‘ beschrieben wird (vgl. Günthner/Knoblauch 1994; Günthner 2000).2 –– Alle Details des Sprechens und sonstigen Miteinander-Umgehens der Interaktionspartner sind darauf angelegt, Turns (Gesprächsbeiträge) und Turnkonstruktionseinheiten (beitragsbildende Einheiten), zugeschnitten auf den/die Rezipienten, die sequenzielle Position und den Situationskontext, so zu produzieren, dass die damit ausgeführte Handlung erkennbar wird und der Rezipient entsprechend reagieren kann. Hierfür sind ‚Praktiken‘ und ‚Ressourcen‘ relevant. Die Unterscheidung zwischen ‚Handlungen‘ (actions) und ‚Praktiken‘ (practices) wurde v.a. von Schegloff (1997) fokussiert und explizit gemacht. Er untersucht die Verbindungen zwischen „practices of talk-in-interaction and the actions which they accomplish“ (ebd., S. 499; vgl. auch ebd., S. 539). Das heißt, Praktiken werden verwendet, um damit Handlungen auszuführen.3 Als Beispiel verweist Schegloff auf Praktiken des Sprechens, die üblicherweise verwendet werden, um Reparaturen zu initiieren. Im Englischen wären das z.B. das Signal huh?, Fragewörter wie who? usw., und bestimmte Arten von Wiederholungen (repeats). Wenn solche Formen oder Formate zur Initiierung von Reparaturen verwendet werden, dann wird das als Praktik beschrieben.

2 Die Unterscheidung zwischen Handlungen und Aktivitäten bzw. kommunikativen Gattungen differenziert im Bereich dessen, was in älteren Arbeiten noch undifferenziert je nach Forscher/ Forscherin entweder als sprachliche Handlungen oder als Aktivitäten bezeichnet wurde. Gegenüber dem Begriff der Aktivitäten hebt der Begriff der kommunikativen Gattungen stärker die Vorgeformtheit und Verfestigung von komplexeren Handlungsabläufen hervor (Günthner/Knoblauch 1994). 3 Allerdings wird der Begriff Praktik (practices) in der CA nicht ganz einheitlich verwendet. Siehe dazu Levinson (2013, S. 129, Fußnote 9).



Praktiken des Sprechens und Interagierens im Gespräch 

 29

Jedoch können Praktiken, die mit der routinemäßigen Initiierung von Reparaturen assoziiert sind, auch für andere Zwecke benutzt werden. Schegloff gibt folgende Beispiele: huh? oder hm? können auch eingesetzt werden, um nach einer Frage eine zunächst ausbleibende Antwort noch einmal relevant zu machen, oder um eine Erzählung hervorzulocken oder voranzutreiben (vgl. 1997, S. 508 ff.). Diese Beobachtung motiviert die weitere Unterscheidung zwischen der ‚Praktik‘ als routinemäßiger Verwendung der sprachlichen Einheiten, und den sprachlichen Einheiten selbst: den ‚Ressourcen‘, d.h. ‚Formen‘ oder ‚Formate‘, die im Beispielfall der Reparaturinitiierung aus den Partikeln huh?, hm? usw. bestehen, die aber auch für andere Aufgaben verwendet werden können. Der Begriff Praktik soll betonen, dass Sprecher/innen und Handelnde mit der Verwendung von sprach­ lichen Einheiten und Signalen etwas tun, und dass Rezipient/inn/en sie verstehen im Hinblick auf das, was sie tun (vgl. ebd., S. 539; siehe auch Heritage 2010). Wenn wir in der IL diese Unterscheidungen übernehmen, dann fassen wir Praktiken als Verbindung auf zwischen, auf der einen Seite, Ressourcen, d.h. Formen und Formaten, und, auf der anderen Seite, Handlungen: Durch die Verwendung einer für eine bestimmte Handlung designierten Praktik wird diese bestimmte Handlung ausgeführt, deren Erkennen ermöglicht oder deren Interpretation nahegelegt. Die Praktik selbst wird hergestellt durch die rekurrente Verwendung und Kombination bestimmter Ressourcen oder Ressourcenbündel, d.h. sprachliche und nicht-sprachliche Formen und Formate, für die Herstellung und Kontextualisierung einer bestimmten Handlung in einem bestimmten sequenziellen Kontext. Diese Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Praktiken bestimmte generelle Eigenschaften haben: Sie sind kontextsensitiv, also routinisierte Verwendungsweisen von Ressourcen für situierte Handlungen, die flexibel an die je spezifischen Gegebenheiten angepasst werden. Sie sind immer eingebettet in soziale Handlungszusammenhänge, in deren Kontext sie ihre Funktion, ihren Sinn und ihre Interpretation für die Interaktionspartner gewinnen. Sie werden von Inter­ aktionspartnern in ihren spezifischen Beteiligungsrollen verwendet bzw. verstanden, sind also an eine bestimmte Beteiligungsstruktur gebunden (participant framework). Das werden auch die im Folgenden dargestellten Beispielanalysen zeigen (vgl. dazu auch Deppermann/Feilke/Linke in diesem Band). Im Folgenden werde ich zwei Beispiele untersuchen, in denen Praktiken der Nahelegung (der Interpretation) emotionaler Beteiligung verwendet werden zur Kontextualisierung von Höhepunkten konversationeller Erzählungen. Ich werde zeigen, dass innerhalb der Aktivität konversationelles Erzählen für die Handlung der Kontextualisierung von Höhepunkten freudiger oder belustigender und ärger­ licher oder Beschwerdeerzählungen die gleichen Praktiken verwendet, für die Darstellung der jeweiligen Affekte aber z.T. andere Ressourcen eingesetzt werden.

30 

 Margret Selting

2  Praktiken der Kontextualisierung von Höhepunkten von Belustigungs- und Beschwerdeerzählungen Erzählungen sind komplexe Aktivitäten, bei denen Erzähler eine Ereigniskette zugeschnitten auf ihre Rezipienten und den Kontext des Erzählens darbieten und dabei verschiedene Teile ihrer Erzählung erkennbar machen, damit die Rezipienten die Erzählung verstehen und adäquat reagieren können. Dazu gehört, dass der/die Erzähler/in sich in einer Präsequenz aus Ankündigung und Ratifizierung die Zuhörer als Mit-Produzenten des Erzählens sichert, eine Ereigniskette darstellt, in der die angekündigten Ereignisse elaboriert und/oder dramatisiert werden, und schließlich die Erzählung abschließt und ins übergeordnete Gespräch zurückleitet (vgl. auch Sacks 1971, 1986; Jefferson 1978; Goodwin 1984, 1997; Selting 1995b; Quasthoff 2001). In vielen Fällen kulminiert die Elaboration der Ereigniskette in einem Höhepunkt der Erzählung, an dem zugleich auch erhöhte emotionale Beteiligung gezeigt wird. Das Kontextualisieren des Höhepunktes einer Erzählung macht eine Reaktion des Rezipienten relevant, je nach gezeigter Emotion muss diese Reaktion angepasst sein. Als traurig angekündigte Erzählungen verlangen nach mitfühlenden Reaktionen, als freudig oder belustigend angekündigte Erzählungen verlangen Lachen und Mit-Freude usw. Begrifflich werde ich allgemein von ‚emo­ tionaler Beteiligung‘ sowie spezifischer vom Nahelegen der Interpretation der Affekte ‚Freude‘, ‚Belustigung‘ oder ‚Ärger‘, ‚Entrüstung‘ sprechen.4 Oft ist es aber gar nicht der Inhalt, der ein Ereignis als einen Höhepunkt des Erzählens ausmacht, sondern vielmehr dessen Präsentation mithilfe von Praktiken, in denen verbale, vokale und visuelle Ressourcen kombiniert werden, um es als Höhepunkt erkennbar zu machen. Nach einer entsprechenden Ankündigung sind so kontextualisierte Höhepunkte dann konstitutive Teile der Erzählung, die die Zuhörer erwarten, um ihre Reaktionen einzubringen und damit die Erzählung

4 Ich lehne mich an die Definition von Ochs/Schieffelin (1989, S. 7) an, die den Begriff ‚Affekt‘ als weiteren, übergeordneten festlegen, der emotionale Beteiligung im weiteren Sinne umfasst, d.h. ‚emotions‘ (‚Emotionen‘) – einschließlich ‚basic emotions‘, ‚feelings‘ (‚Gefühle‘), ‚moods‘ (‚Stimmungen‘, ‚Launen‘), ‚dispositions‘ (‚Veranlagungen‘, ‚Dispositionen‘) und ‚attitudes‘ (‚Einstellungen‘) (vgl. ebd.). Vieles davon ist in jüngster Zeit auch unter den Begriff ‚stance‘ (‚Haltung‘) subsumiert worden (vgl. Stivers 2008; Goodwin/Goodwin 2000). Manche Autoren verwenden die Begriffe ‚stance‘ und ‚affect‘ auch mehr oder weniger synonym oder als kombiniertes Begriffspaar. Ich stimme mit Local/Walker (2008) überein, den Begriff ‚stance‘ als den generelleren Begriff zu verwenden (vgl. ebd., S. 745), der ‚affect‘ einschließt.



Praktiken des Sprechens und Interagierens im Gespräch 

 31

mitzukonstruieren. Die Verwendung geeigneter Praktiken durch den/die Erzähler/in, um diese Höhepunkte erkennbar zu machen, ist also eine Voraussetzung dafür, dass die Rezipienten richtig reagieren und damit die Erzählung mit-produzieren und zu einem unproblematischen Abschluss bringen können. Emotionale Beteiligung wird bei der Kontextualisierung von Höhepunkten konversationeller Erzählungen mit unterschiedlichen Bezügen erkennbar gemacht: mit Bezug auf rekonstruierte Affekte in der Erzählwelt ebenso wie mit Bezug auf in-situ Affekte im Hier und Jetzt der Erzählsituation (vgl. Günthner 2000). Die beschriebenen Affekte werden immer als ‚Darstellungen‘, als display, aufgefasst; sie müssen nicht unbedingt mit real gefühlten Emotionen übereinstimmen. Ich werde auch von ‚Praktiken des Affektdisplay‘ reden. Das Management von Höhepunkten konversationeller Erzählungen unterscheidet sich danach, ob die Rezipienten mit Affiliation reagieren oder nicht. Nach Stivers (2008, S. 35) meint affiliation, „that the hearer displays support of and endorses the teller’s conveyed stance“, d.h. dass der Zuhörer Bestätigung, Befürwortung und Unterstützung der vom Erzähler vermittelten Haltung signalisiert. Wenn Rezipienten affiliative Reaktionen zeigen, stellen sie damit unproblematische Kooperativität her. Nicht-affiliative Reaktionen der Rezipienten führen dagegen zu weiteren Handlungen der Erzählerin mit verstärkten Affektausdrücken, mit denen sie die Affiliation des Zuhörers und damit unproblematische Kooperativität doch noch zu erreichen sucht. Ich werde zeigen, (1) mit welchen Praktiken im sequenziellen Kontext der Aktivität Erzählen die Erzähler/innen ihre Höhepunkte und ihre affektive Haltung erkennbar machen und damit passende affi­ liative Reaktionen der Rezipient/inn/en relevant machen, und (2) wie die Rezi­ pienten auf diese Höhepunkte reagieren und damit den weiteren Verlauf der Aktivität Erzählen mitgestalten.

2.1  Ziele und Methodologie der Beispielanalysen Meine Analyse basiert auf einem Korpus von Videoaufnahmen natürlicher Gespräche, das vom Projekt „Emotive involvement in conversational storytelling“ im Rahmen des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ an der FU Berlin erhoben wurde (Leitung: Elizabeth Couper-Kuhlen und Margret Selting). Die Daten wurden nach GAT2 (vgl. Selting et al. 2009) transkribiert; eine Zusammenstellung der wichtigsten Notationskonventionen findet sich im Anhang. Meine Methodologie kombiniert Analyseverfahren der Konversationsanalyse (KA), der Interaktionalen Linguistik (IL) und der Multimodalen Analyse (MA) (vgl. u.a. auch Sidnell 2006; Selting 2013). Ich werde zeigen, wie Erzähler/innen die folgenden Arten von Ressourcen in designierten Praktiken der Konstruktion und

32 

 Margret Selting

Kontextualisierung von Höhepunkten von Belustigungs- und Beschwerdeerzählungen in ihren sequenziellen Kontexten verwenden: –– verbale Ressourcen aus dem Bereich der Rhetorik, Lexiko-Semantik, Syntax, Phonetik-Phonologie; –– vokale Ressourcen aus den Bereichen der Prosodie und Stimmqualität; –– visuelle oder sichtbare Ressourcen aus den Bereichen der Körperhaltung und ihrer Veränderung, Kopfbewegungen, Blickverhalten, Handbewegungen und Gesten. Die Höhepunkte von Erzählungen und die Reaktionen darauf werden in der Regel nicht in einer neutralen Art und Weise präsentiert, sondern als emotional involviert, indem vor allem geeignete ‚markierte‘ oder ‚saliente‘ Ressourcen für das verbale, vokale und visuelle Display kombiniert und gleichzeitig verwendet werden. Der ‚markierte‘ oder ‚saliente‘ Gebrauch eines Mittels ist dabei immer ein auffällig gemachter, ein auffälligerer Gebrauch im Vergleich zu seinem ‚unmarkierten‘, ‚unsalienten‘ und unauffälligen Gegenstück (vgl. auch Selting 1995a, 1996). Der kontextsensitive Gebrauch ko-okkurrierender verbaler, vokaler und visueller Ressourcen in ihren sequenziellen Kontexten wird als holistische, ganzheitliche Praktik beschrieben, mit der der Höhepunkt der konversationellen Erzählung als Handlung innerhalb der Aktivität Erzählen erkennbar gemacht wird. Die Analyse wird validiert mit Hilfe der Analyse der Rezipientenreaktion. Aus Platzgründen kann ich nur jeweils ein einziges Beispiel für belustigende und für Beschwerdeerzählungen behandeln; in beiden Fällen reagiert die Rezipientin affiliativ.

2.2  Der Höhepunkt einer Erzählung mit affiliativen Reaktionen Anhand der folgenden Beispielanalyse werde ich die Konstruktion von Höhepunkten von belustigenden Erzählungen mit voll affiliativen Reaktionen nachzeichnen.5 Vor dem Einsatz des Beispiels (1) hatte Sandra eine selbst-ironische Erzählung projiziert. Sie erzählt Emma, wie sie entgegen ihrer Prinzipien dazu kam, ihrer Tochter die Bravo zu kaufen: Nachdem sie sich zuvor geweigert hatte, ihrer Tochter diese Zeitschrift zu kaufen, kam sie eines Tages verspätet von der Arbeit nach Hause und fand einen Zettel ihrer Tochter vor: Hallo Mama, bin im Aldi. Sie suchte ihre Tochter dann im Aldi, wo diese eine halbe Stunde gesessen und die Bravo gelesen hatte.

5 Zu belustigenden Erzählungen vgl. auch Kotthoff (1995, 2006, 2007).



(1)

Praktiken des Sprechens und Interagierens im Gespräch 

 33

LoE_VG_04_Bravo-Geschichten: Ausschnitt ab 17:19

045 San:

nÄchsten tAg komme ich zu spät von der Arbeit nach HAUse, (.)

046

|liegt n ZETtel im |flUr, |((Augenbrauen hoch,| Zeigegeste))|

047

(0.9) |(( mit blankem "Pokerface"gesicht ))| |(( San & Emma sehen sich an )) |

048

(0.9)

049 Emm: 050 San:

|()| | ((lächelnd)) |

|((Daumen hoch, zum Supermarkt Aldi zeigend?))

|=da saß die seit ner ] 052 Emm: [hehe ha]ha haha he 053 054 San:

= [he he ]

055 San:

=|`JA:; |((lächelnd))

056

1. Teil: |((Blick zu Emma)) Evaluation (rekonstr Aff) 057 Emm: [ ] 2. Teil: 058 San: [ weißte,

34 

 Margret Selting

060 061 Emm: 062

] [he: h he ho ]

2. Teil: affiliativ

Die sequenzielle Organisation von Sandras Erzählung und Emmas Reaktionen ist in Tabelle 1 dargestellt. Tab. 1: Sequenzielle Organisation von Sandras Erzählung und Emmas Reaktionen Segmente

Sandras Handlungen

13–14

Ankündigung mögl. Erzählung (nicht gezeigt)

45

Einleitung des analysierten Ereignisses

46–48

Dramatisierung

50

Fortsetzung

51

Höhepunkt (= 1. Teil)

52–53

Emmas Reaktionen

minimal = Fortsetzung abwartend?

Lachen + Bewertung (= 2. Teil)

55

Zustimmung mit Bewertung

56

Evaluation 1 – in Erzählwelt: (= 1. Teil) Explikation der Pointe der Erzählung: moralisches Resultat

Zustimmung + Lachen (= 2. Teil)

58–60

Evaluation 2 – im Hier und Jetzt (= 1. Teil)

Lachen + Zustimmung (= 2. Teil)

2.2.1  Der Höhepunkt von Sandras Erzählung Nach der Einleitung und der Dramatisierung vorheriger Ereignisse in den Segmenten 45–48 präsentiert Sandra in Segment 51 den Höhepunkt ihrer Erzählung: da saß die seit ner . Diesen werde ich genauer untersuchen. Die folgenden Ressourcen werden eingesetzt, um die Turnkonstruktions­ einheit in Segment 51 als Höhepunkt der Erzählung erkennbar zu machen:



Praktiken des Sprechens und Interagierens im Gespräch 

 35

–– Rhetorisch und lexiko-semantisch stellt Sandra das eine halbe Stunde lange Sitzen und Bravo-Lesen ihrer Tochter im Supermarkt mit einer Extremformulierung dar (Pomerantz 1986). –– Syntaktisch konstruiert sie einen komplexen Satz, den sie mit dem topikalisierten Adverb da beginnt. –– Prosodisch realisiert sie einen Tonhöhensprung zu einem hohen Tonhöhengipfel in der extra starken Akzentsilbe der Phrase seit ner ↑!HAL!ben stunde; die Tonhöhe im Rest der Intonationsphrase fällt kontinuierlich, bleibt aber bis zum Schluss relativ hoch. Die drei Akzentsilben in den Wörtern ↑!HAL!ben, Aldi und BRAvo sind rhythmisch organisiert, d.h. die zweite und dritte Akzentsilbe folgen in perzeptiv ähnlichen Zeitabständen auf die jeweils vorherige Akzentsilbe, auch wenn die Akzenteinheiten hier relativ lang sind und aus jeweils fünf Silben bestehen. Das PRAAT-Bild 1 (Abb. 1) zeigt die hohen Tonhöhengipfel im Segment 51; zum Vergleich zeigt das PRAAT-Bild 2 (Abb. 2) die viel niedrigeren Gipfel im späteren Entwurf Version 4 (endgültige Ver) Segment 56. LoE_VG_04_Bravo_Seg51



Abb. 1: PRAAT-Bild 1: Segment 51



36 

 Margret Selting

LoE_VG_04_Bravo_Seg56



Abb. 2: PRAAT-Bild 2: Segment 56





Sichtbar hebt Sandra in Segment 51 ihren Arm und ihren Daumen noch höher als zuvor; sie zeigt immer noch nach hinten. Gleichzeitig mit den Wörtern ↑!HAL!ben stunde hebt sie kurz ihre Augenbrauen, was man im Standbild 1 (Abb. 3) sehen kann. Alle drei Akzentsilben dieser Intonationsphrase werden von leichtem Kopf­ nicken begleitet. Sandras Gesicht zeigt einen amüsierten, lächelnden Ausdruck, bis sie am Ende der Phrase in ein lautloses Lachen ausbricht. Ihr Blick ist die ganze Zeit auf Emma gerichtet. Die Analyse, dass Sandra die beschriebenen Ressourcen zur Kontextualisierung des Höhepunktes ihrer Erzählung einsetzt, wird durch den Einbezug von Emmas Reaktion gestützt: Nachdem Emma schon seit dem Segment 49 gelächelt hat, öffnet sich ihr Gesichtsausdruck im Verlauf des Segments 51 immer mehr. Dabei passt sie ihr zunehmendes Lächeln im Verlauf des Segments 51 genau an Sandras zunehmendes Lächeln an (vgl. auch Jefferson 1979). In Segment 52, gleichzeitig mit dem Ende von Sandras Segment, und unmittelbar nach dem Wort BRAvo, mit dem Sandra das relevanteste Ereignis ihrer Erzählung benennt, bricht Emma in Lachen aus. Das ist im Standbild 2 (Abb. 4) zu sehen. Emmas Lachen reagiert also unmittelbar auf Sandras Erkennbarmachen des Höhepunktes ihrer

tbar in Seg gment ih hren Arm no un nd ihren Sicht Daum men hebt nochSa handra öher als zuv vor; sie51zeig gt immer och nach hinnten. Daum men nochmit htöher zuv vor;sie zeig gt immer no och hinnten. Gleic chzeitig den als Wörte ern !HAL!b ben stunde hebt h nach sie kur rz chzeitig mitten, denPraktiken Wörte ern !HAL!b ben stunde hkann. sieAlle kurerzdrei ihre A Augenbraue was man n im Standb bild 1 sehen nhebt Gleic des Sprechens Gespräch  Sandrras und Emmaas Gesichtsaus sdrücke bei und deer Interagierens Silbe !HAL!imim Segment 51 37 ihre A Augenbraue en, was man n im Standb bild 1 sehen n kann. Alle e drei Akze diaseser Intonatsdrücke tionsphrase von leichtem Sandrentsilben ras und Emma Gesichtsaus bei deerwerden Silbe !HAL !nim Segment 51 Akze entsilben digleitet. eser Intonat tionsphrase von leichtem n, Kopf fnicken beg Sanddras Gesichtt werden zeigt einen nn amüsierten Erzählung mit Hilfe markierter lexikalischer, prosodischer und A Analyse, da ass Sandra d die beschrieb benen Ress ourcen zurEinzelDie Kopf fnicken beg gleitet. Sand dras Gesicht t zeigt einen n amüsierten n, oses lächeelnden Ausd druck, bis siie am Ende der Phrase in visueller ein lautlo Ressourcen, die hier zusammen die ganzheitliche Praktik der Kontextualisierung Die A Analyse, da ass Sandra d die beschrieb benen Ress ourcen zur Erzähl Kont textualisieru ungIhr des Höh hepunktes ihrer ung einsetz zt,oses läche elnden Ausd druck, bis sikie am Ende derZeit Phrase in ein lautlo Lach hen ausbrich ht. Blick ist die gan nze auf Emma des Höhepunktes ausmachen. ihrer Erzählung einsetzzt, Kont textualisieru ung des Höh Reaktion wird durch dender Einbezug EErzählung vvon Lach hen ausbrich ht. Ihr Blick khepunktes istEmmas die gan nze Zeit aufgeestützt: Emma geric chtet. Reaktion geestützt: wird durch den Einbezug E v von Emmas hdem Emmaa schon seitt dem Segm ment 49 gelä Nach chelt hat, öfffnet geric chtet. ffnet Nach chelt öf Emmaasausdruck schon seitim tmdem Segm ment 49 gelänts sichhdem ihr Gesichts Verlauf des d Segmen 51 hat, imme er sich ihr Gesichts sausdruck im m Verlauf des d Segmen nts 51 imme er mehrr. Dabei passst sie ihr zuunehmendess Lächeln im m Verlauf ddes r. Dabei zuunehmendes s Lächeln im mheln Verlauf ddes mehr Segm ments 51pas gesst nausieanihr Sand dras zunehm mendes Läc an (vggl. Segm ments 51 ge nau an Sand dras zunehm mendes Läc heln an (vg gl. auchh Jefferson 1979). 1 In Seegment 52, gleichzeitig g g mit dem E Ende auch 1979). 1gment,Inund Seegment 52, gleichzeitig gr nach demg Wort mit dem E Ende vonhSandras SJefferson Seg unmittelbar BRAv vo, Wort BRAvvo, von S Sandra Seg gment, und nteste unmittelbar r nach dem das relevan mit dem dSandras Ereig gnis ihrer Errzählung das relevan mit d dem Sandra nteste Ereig gnis ihrer Er rzählung beneennt, bricht Emma E in Laachen aus. Das D ist im Standbild S 2 zu bene ennt, bricht Lachen Emma E in La achenalso aus.un Das D ist im au Standbild Suf Sandras2 zu sehen n. Emmas L reag giert nmittelbar sehen n. Emmas Lachen Len des Höh reaghepunktes giert also un nmittelbar au uf Sandras Erkeennbarmach ih hrer Erzählu ung mit Hilffe Erke ennbarmach en des Höh hepunktes ih hrer ung mit Hilffe mark kierter lexik kalischer, pr rosodischer undErzählu visuell er Einzelmark lexik kalischer, pr rosodischer und visueller EinzelResskierter ourcen, die hier zusam mmen die gaanzheitliche Praktik derr Praktik der Ress ourcen, die hier zusam mmen die ga anzheitliche r 51 Kont textualisieru ung des Höh hepunktes der d Erzählun ng ausmach hen. Standdbild 1: 1: Sandras und Emmas Gesichtsausdrücke bei der Silbe !HAL! im Segment Abb. 3: Standbild Kont textualisieru ung des Höhhepunktes der d Erzählun ng ausmachhen. Stand dbild 1:

Standdbild 2: Stand dbild 2: Emma Sandr ras und as Gesichtsaus bei deer letzten Silbe von nt 5151 Abb. 4:  Standbild 2: Sandras und Emmassdrücke Gesichtsausdrücke bei der letzten SilbeSegmen von Segment Sandrras und Emmaas Gesichtsaussdrücke bei deer letzten Silbe von Segmennt 51 Gleichzeitig mit Sandras Lachen, in Segment notiert ist, Emmaiist, in den mitt Sandras Ladas achen, das in i 54 Segment 54gibt notiert Gleicchzeitig Segmenten eine zustimmende positive Bewertung: Sichtbarkeit }47|48 [“Actuellement, il n’y a pas de renvois sur l’Irak, on s’attend à un long voyage avec eux”]51

51

Abb. 7: Revisionen vom Ende der Schnittplatz-Session

Beide Änderungen entsprechen der Leitidee von O.K., ein Flüchtlingsschicksal exemplarisch herauszuarbeiten und dabei auf alle Ablenkung zu verzichten. Im Beitrag sollen die Textrollenträger Flüchtlinge verkörpern, die fliehen mussten, aber sobald wie möglich zurückkehren wollen. Da könnte es dramaturgisch irritieren, dass der Familienvater sich im Asylheim, aus westlichem Blickwinkel, paschahaft verhält und, schlimmer noch, vermutlich als Offizier unter Diktator Saddam Hussein gearbeitet hat. Beides wurde erst während der Dreharbeiten klar. Die Gespräche mit dem Kameramann und später dem Cutter zeigen, dass O.K. vorerst überlegte, diese komplexeren Aspekte mit aufzugreifen, sich dann aber dagegen entschied. „Lustige Bilder“, die zeigen, wie Frau und Tochter im Asylheim Essen kochen, während der Mann bloß dabei zuschaut, werden im Gespräch mit dem Kameramann auf der Fahrt vom Drehort zurück in die Redaktion fallen gelassen, nachdem O.K. zuerst erwogen hatte, sie einzubauen. Ähnlich die Tatsache, dass der Familienvater als Berufsoffizier vor oder sogar während der Zeit von Saddam Hussein, wie O.K. vermutet, zur Oberschicht seines Landes gehörte und, wie sich der Cutter ausdrückt, am Elend vieler mitschuld ist (Abb. 8).



Vom vielschichtigen Planen 

 451

0297 O.K.: oui mais pour sortir huit mille dollars 0298 pour payer un passeur 0299 tu vois 0300 Cutter ouais faut l’faire 0301 O.K.: c’est pas tous les bagdadis qui peuvent faire ça hein 0302 Cutter: mmh 0303 mais j’veux dire faut pas être naïf et penser que c’est un uniquement un pauvre réfugié 0304 0305 il a vu peut-être0306 heu bah rendre d’autres gens malheureux aussi 0307 O.K.: y a pas d’doutes quoi 0308 mais on sait pas hein 0309 il aurait pu aussi cacher 0310 tu vois 0311 dire moi j’étais heu commerçant 0312 j’étais heu0313 tu vois s’inventer une autre identité 0314 lui au moins il a l’honnêteté d’dire

0315

ben voilà j’étais militaire

Abb. 8: Transkript des Gesprächs von Journalist und Cutter

O.K. findet die Information zwar bemerkenswert für den Einzelfall, aber nicht für das allgemeine Flüchtlingsschicksal, das dieser Einzelfall verkörpern soll, und zum Auswählen und Aufbereiten eines neuen Falles ist es jetzt zu spät. Also beschließt er, den früheren Beruf des Vaters nur beiläufig zu erwähnen. In der letzten Session, in der Sprecherkabine, findet das Umformulieren auf das übergeordnete Ziel, auf die klare Geschichte hin, seinen Abschluss. Am Ende des Beitrags ergänzt O.K. „in den Irak“, sodass der letzte Satz mit dem letzten Wort jetzt dorthin führt, wo die Geschichte hinweist: ins Herkunftsland, wohin die Flüchtlinge zurückkehren wollen. „Dans l’immédiat, la confédération n’envisage pas de renvoyer ces familles en Irak.“

4.5  Zwischenfazit Der ganze Textproduktionsprozess zeigt sich also als flexibles und vielschichtiges Umplanen und Umformulieren innerhalb eines Masterplans, den O.K. ganz zu Beginn formuliert. In allen Sessions bleibt O.K. offen für Unerwartetes: etwa für den vielschichtigen Berufshintergrund des Flüchtlings, für dessen Verhalten in der Küche, aber auch für Feinheiten der Bild­sprache, die erst im Gespräch

452 

 Daniel Perrin

mit dem Cutter deutlich werden. Jedes Mal, wenn O.K. Unerwartetes wahrnimmt, überlegt er, den Plan anzupassen. Er ändert die Planung dort, wo es der Aufgabe dient, wie er sie sich ganz zu Beginn des Textproduktionsprozesses gesetzt hat: Die Komplexität der damaligen Flüchtlingswelle am Einzelfall aufzuzeigen und das Ferne in der Nähe begreifbar zu machen. Dort, wo es ablenken könnte von diesem Vorhaben, verzichtet O.K., oft nach ausführlicher und gemeinschaftlicher Abwägung mit Kollegen, auf an sich bemerkenswerte Aspekte der Geschichte. Aus Forschungsperspektive erweisen sich kleinste Formulierungsänderungen in ihren skalierenden Kontexten als „Rich Points“ (siehe Kap. 4) von Praktiken vielschichtigen Planens. Der so rekonstruierbare Sinn des Zusammenspiels von Defining the task, Goal setting und Planning: Das Große bleibt, sobald es sich im gegebenen Zeitrahmen nicht mehr ändern lässt, das Kleinere aber wird bis ganz zuletzt überdacht und wenn nötig umgeplant und umgebaut, damit das Ganze am Ende in sich stimmt in einem Umfeld, das zu Beginn des Prozesses nur teilweise überblickbar war. Am Schluss wichtig ist die klare, im Ganzen stimmige Aussage; störende zufällige Nebenaspekte (siehe 2.5) werden nach dramaturgischer Abwägung geopfert. So wirkt O.K. zugleich als „Regisseur“ und als „Notfallarzt“, um auch Anspruchsvolles leicht zugänglich und verstehbar zu machen für ein Publikum, das auf dieses Fenster in die Welt angewiesen ist (siehe 4.1).

5  Sinn: Der Mehrwert empirisch erforschter Praktiken O.K. ist in seiner Fähigkeit, Praktiken der Festlegung zu skalieren, nicht allein. Alle der bisher untersuchten erfahrenen Journalisten zeigten, im Gegensatz zu den unerfahrenen, elaborierte Repertoires solcher Praktiken. Textproduktion wird, als Produkt wie als Prozess, zielführend und flexibel geplant. Die Schreibenden ersparen sich Umwege und Sackgassen, indem sie früh Vorstellungen für den Sinn und die grobe Struktur von Prozess und Produkt entwickeln. Zugleich aber bleiben sie offen für Unerwartetes und stellen sich auf Veränderungen im Auftrag oder Überraschungen in der Recherche ein. Auch wenn der Plan dadurch rollend weiter entwickelt werden muss, werden sie rechtzeitig fertig – und in aller Regel ohne merkliche Reibungsverluste durch Stress. Im Gegensatz zu den erfahrenen Journalistinnen kämpfen viele der unerfahrenen immer wieder mit zu starren Repertoires an Praktiken in den Feldern Comprehending the task, Goal setting und Planning. Aus solchen Einsichten lassen sich, im Forschungs­-



Vom vielschichtigen Planen 

 453

rahmen erweiterter Ethnografie (siehe 2.1), empirisch basierte Prototypen von „guten“ Praktiken ableiten für die Schulung in beruflicher Textproduktion (z.B. Perrin 2012b). Die hier vorgestellte Analyse natürlicher Schreibpraktiken zeigt aber auch, dass Textproduktion dynamischer und komplexer ist, als in traditionellen Modellen angenommen, und dass es theoretisch reizvoll ist, sowohl das Konzept der Textproduktionsphase wie auch dasjenige der Praktiken, die in den jeweiligen Phasen vorherrschen, als skalierend zu modellieren. Um zu verstehen, was Praktiken sind, lohnt es sich, im scheinbaren Chaos natürlicher Textproduktion nach Mustern zu suchen, und zwar auf allen Ebenen. So tauchen plötzlich Praktiken etwa der Festlegung (Goal setting, Task Comprehending the task) beim Schreiben auf, die in einer jahrzehntelangen ersten Phase empirischer Text­ produktionsforschung von prominenten Modellen ausgeklammert worden sind, obwohl sie zentrale kommunikative Funktionen erfüllen. Auch Praktiken der Erforschung von Praktiken sind eben, im Super-Kontext (siehe 2.2) vorherrschender Forschungsparadigmen, der kritischen Reflexion und Weiterentwicklung durch die (Forschungs-)Praxis nur schwer zugänglich. Oder anders: Erst neue Praktiken der Forschung lassen uns die Praktiken im Forschungsfeld umfassender erkennen, verstehen und weiterentwickeln. Das macht das Konzept der Praktik doppelt stark.

Literatur Agar, Michael (2004): We have met the other and we’re all nonlinear. Ethnography as a nonlinear dynamic system. In: Complexity 10, 2, S. 16–24. Agar, Michael (2011): Making sense of one other for another. Ethnography as translation. In: Language & Communication 31, S. 38–47. Bazerman, Charles (2002): Rhetorical research for reflexive practice. A multi-layered narrative. In: Candlin, Christopher N. (Hg.): Research and practice in professional discourse. Hongkong, S. 79–93. Cameron, Deborah et al. (1992): Researching language. Issues of power and method. London. Carter, Bob/Sealey, Alison (2000): Language, structure and agency. What can realist social theory offer to sociolinguistics? In: Journal of Sociolinguistics 4, S. 3–20. Feilke, Helmuth (2012): Was sind Textroutinen? Zur Theorie und Methodik des Forschungsfeldes. In: Feilke, Helmuth/Lehnen, Katrin (Hg.): Schreib- und Textroutinen. Theorie, Erwerb und didaktisch-mediale Modellierung. (= Forum Angewandte Linguistik 52). Frankfurt a.M., S. 1–31. Flower, Linda S./Hayes, John R. (1981): A cognitive process theory of writing. In: College Composition and Communication 32, S. 365–387. Goodwin, Charles (2000): Action and embodiment within situated human interaction. In: Journal of Pragmatics 32, S. 1489–1522.

454 

 Daniel Perrin

Grésillon, Almuth (1997): Slow: Work in progress. In: Word & Image 13, S. 106–123. Günthner, Susanne/Knoblauch, Hubert (1994): „Forms are the food of faith“. Gattungen als Muster kommunikativen Handelns. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46, S. 693–723. Hanks, William (1996): Language and communicative practices. (= Critical Essays in Anthropology). Boulder. Jakobs, Eva-Maria/Perrin, Daniel (2014): Introduction and research roadmap. Writing and text production. In: Jakobs, Eva-Maria/Perrin, Daniel (Hg.): Handbook of writing and text production. (= Handbook of Applied Linguistics 10). Berlin/New York, S. 1–24. Jones, Deborah/Stubbe, Maria (2004): Communication and the reflective practitioner. A shared perspective from sociolinguistics and organisational communication. In: International Journal of Applied Linguistics 14, S. 185–211. Kellogg, Ronald T. (1996): A model of working memory in writing. In: Levy, C. Michael/Ransdell, Sarah (Hg.): The science of writing. Theories, methods, individual differences and applications. Mahwah, NJ, S. 57–72. Larsen-Freeman, Diane/Cameron, Lynne (2008): Complex systems and applied linguistics. 2. Aufl. (= Oxford Applied Linguistics). Oxford. Luckmann, Thomas (1986): Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen. In: Neidhardt, Friedhelm/Lepsius, Reiner M./Weiß, Johannes (Hg.): Kultur und Gesellschaft. René König zum 80. Geburtstag gewidmet. (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 27). Opladen, S. 191–211. Pawson, Ray/Tilley, Nick (1997): Realistic evaluation. London. Pennycook, Alastair (2010): Language as a local practice. London. Perrin, Daniel (2003): Progression analysis (PA). Investigating writing strategies at the workplace. In: Journal of Pragmatics 35, S. 907–921. Perrin, Daniel (2012a): Coming to grips with complexity. Dynamic Systems Theory in the research of newswriting. In: Bazerman, Charles et al. (Hg.): International advances in writing research. Cultures, places, measures. Fort collins, S. 539–558. Perrin, Daniel (2012b): Shaping the multimedia mindset. Collaborative writing in journalism education. In: Thaiss, Chris/Bräuer, Gerd (Hg.): Writing programs worldwide. Profiles of academic writing in many places. Fort Collins, S. 389–400. Perrin, Daniel (2013): The linguistics of newswriting. (= AILA Applied Linguistics Series 11). Amsterdam/Philadelphia. Perrin, Daniel/Wildi, Marc (2012): Modeling writing phases. In: Torrance, Mark (Hg.): Learning to write effectively. Current trends in European research. Bingley, S. 395–398. Pogner, Karl-Heinz (1999): Schreiben im Beruf als Handeln im Fach. (= Forum für FachsprachenForschung 46). Tübingen. Prior, Paul (2015): Becoming a biologist. Sociocultural trajectories of literate activity and disciplinarity across the lifespan. Paper presented at the Guest lecture, Zurich University of Applied Sciences, Department of Applied Linguistics. Schegloff, Emanuel A. (1997): Practices and actions. Boundary cases of other-initiated repair. In: Discourse Processes 23, S. 499–545. Schön, Donald A. (1983): The reflective practitioner. How professionals think in action. New York. Scollon, Ron (1998): Mediated discourse as social interaction. A study of news discourse. (= Language in Social Life). London. Scollon, Ron (2001): Mediated discourse. The nexus of practice. London.



Vom vielschichtigen Planen 

 455

Sealey, Alison/Carter, Bob (2004): Applied linguistics as social science. (= Advances in Applied Linguistics). London u.a. Severinson-Eklundh, Kerstin/Kollberg, Py (1996): Computer tools for tracing the writing process. From keystroke records to S-notation. In: Rijlaarsdam, Gert/van den Bergh, Huub/Couzijn, Michael (Hg.): Theories, models and methodology in writing research. (= Studies in Writing 1). Amsterdam, S. 526–541. Sharples, Mike (1999): How we write. Writing as creative design. New York. Sharples, Mike/van der Geest, Thea (1996): The new writing environment. Writers at work in a world of technology. London u.a. Tavory, Iddo/Timmermans, Stefan (2009): Two cases of ethnography: Grounded theory and the extended case method. In: Ethnography 10, S. 243–263. Varela, Francisco J./Thompson, Evan/Rosch, Eleanor H. (1991): The embodied mind. Cognitive science and human experience. Cambridge. Wenger, Etienne (1998): Communities of practice. Learning, meaning, and identity. (= Learning in Doing). Cambridge. Zampa, Marta/Perrin, Daniel (i.Ersch.): Arguing with oneself. The writing process as an argumentative soliloquy. In: Journal of Argumentation in Context.

Thomas Gloning (Gießen)

Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft. Fallbeispiele und sieben Thesen zum Praktiken-Konzept, seiner Reichweite und seinen Konkurrenten Abstract: Fragen der sprachlichen Praxis sind in der Sprachwissenschaft seit lan­ gem, in vielerlei Gestalt, in Bezug auf ganz unterschiedliche Kommunikations­ bereiche und in einer bunten Vielfalt theoretischer Ansätze fest verankert. Im vorliegenden Beitrag diskutiere ich von einem handlungstheoretischen Stand­ punkt aus, der auch sprachhistorisch-evolutionäre und mediale Erweiterungen umfasst, Vorschläge zur Rolle des Praktiken-Begriffs bzw. (im weiteren Sinne) des Praktiken-Konzepts. Ich formuliere zunächst sieben mehr oder weniger kritische Thesen zu einem Ausschnitt der Praktiken-Literatur, den ich studiert habe, suche dabei auch nach Konsens und Dissens. In ausgewählten Fallbeispielen stelle ich dann Befunde zu Veränderungen in der Wissenschaftskommunikation seit der Erfindung des Buchdrucks dar und frage dabei, ob handlungstheoretisch orien­ tierte Beschreibungen durch die Anwendung des Praktiken-Begriffs gewonnen hätten. Das Resultat fällt eher skeptisch aus.

1  Einleitung Die Herausgeber dieses Bandes haben den „Praktiken“-Begriff bzw. die Frage nach unterschiedlichen „Praktiken“-Begriffen ins thematische Zen­trum gestellt und die Beiträger/innen im Vorfeld der Jahrestagung beauftragt, die Reichweite des Praktiken-Konzepts bzw. unterschiedlicher Praktiken-Konzepte für die Sprach­ wissenschaft zu diskutieren, Anwendungsperspektiven auszuloten und auch Fragen der The­oriekonkurrenz mit anderen linguistischen Grundbegriffen und mit darauf bezogenen Beschreibungs- und Analyseumgebungen darzulegen (vgl. auch Deppermann/Feilke/Linke in diesem Band). Für die Bewältigung dieser Auf­ gabe werde ich einen doppelten Weg einschlagen. (i) Zum einen will ich aus einer eigenen Theorie-Perspektive kritische Anmer­ kungen zur Praktiken-Diskussion machen, zu ihrem sachlichen Gehalt, aber auch zu Aspekten der Diskursdynamik. Die eigene Perspektive ist ein Theo­ riegeflecht, das sich aus Wittgensteins Sprachspielidee und weiteren Ansät­

458 

 Thomas Gloning

zen der sprachanalytischen Philosophie, aus der linguistischen Handlungs­ theorie, Ansätzen zu einer Gebrauchstheorie der Bedeutung, des Meinens und des Verstehens, Formen einer integrativen Betrachtung von Kommuni­ kation und Grammatik, spezifischen Entwicklungen zu textuellen und münd­ lichen Kommunikationsformen und einigen anderen Elementen speist und zusammensetzt. Hinzu kommt die Verlängerung und weitere Fundierung die­ ser Elemente in sprachhistorischer und sprachgebrauchshistorischer sowie in einer medialen und multimodalen Perspektive. Diese Ansätze und Ent­ wicklungen, denen eine Orientierung an der sprachlichen Praxis seit langer Zeit eigen ist, bilden den Diskussions- und Beurteilungshintergrund. (ii) Der zweite Zugriff auf die gestellte Aufgabe sind Fallbeispiele aus einem spe­ zifischen Praxisfeld, der älteren und jüngeren Geschichte der Wissenschafts­ kommunikation in Phasen medialer Umbrüche. Dabei möchte ich zum einen erkunden, ob der/ein Praktiken-Begriff für kommunikations- und mediennut­ zungsgeschichtliche Entwicklungen dieser Art eine wesentliche Rolle spielen müsste oder könnte. Darüber hinaus möchte ich aber auch fragen, inwiefern sich im Vergleich der Konzeptionen fruchtbare Anregungen für die eine oder die andere Konzeption ergeben.

2  Der Praktiken-Begriff, seine Reichweite und seine Konkurrenz. Sieben Thesen Ich möchte zunächst sieben kritische Thesen zum Praktiken-Begriff, zur aktuellen Diskussion um das Praktiken-Konzept in der Sprachwissenschaft und auch zum Verhältnis bzw. zur Theorienkonkurrenz mit handlungstheoretischen Alternati­ ven formulieren und erläutern. 1. Eine funktionale, evolutionäre und mediensensitiv unterfütterte Theorie der Sprache und des Sprachgebrauchs auf einer handlungstheoretischen Grund­ lage1 ist eine Theorie der kommunikativen Praxis und der in den soziokultu­ rellen Handlungsbereichen genutzten Praktiken. In einer solchen Theorieumgebung sind wesentliche theoretisch-methodische Elemente angelegt, die man sowohl im Hinblick auf systematische Fragen der

1 Vgl. aus einer durchaus biografisch geprägten Perspektive hierzu die im Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten u.a. von Bucher, Fritz, Gloning, Heringer, Keller, Muckenhaupt, Schröder und Strecker.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 459

Theoriebildung als auch im Hinblick auf viele Gesprächsformen, Texttypen, his­ torische und kommunikationsdynamische Entwicklungen benötigt. Hier ist aus meiner Sicht inzwischen ein fortgeschrittener Stand der Theorie- und MethodenEntwicklung sowie der empirischen Beschreibung erreicht. Soweit ich sehen kann, ist das komplexe Geflecht an Grundannahmen und Beschreibungsmitteln bislang nicht an einer Stelle und im Zusammenhang dargestellt. Und vielleicht sind auch in einem handlungstheoretischen Rahmen unterschiedliche Zuschnitte einer Gesamtdarstellung denkbar und erwartbar. Aber diesen Zustand teilt un­ sere Wissenschaft von der sprachlich-kommunikativen Praxis (im Rahmen eines handlungstheoretischen Zuschnitts) mit anderen Zweigen der Praxistheorie (vgl. Reckwitz 2003, S. 283 f.). Man kann deshalb mit einem gewissen Recht fragen, was es bei diesem Stand einer fortgeschrittenen Entwicklung bringt, in programmatischer Weise auf die Überlegungen z.B. von Bourdieus „Entwurf einer Theorie der Praxis“ hinzuwei­ sen, die 1972 veröffentlicht wurde und von der es in der deutschen Ausgabe auf Seite 8 heißt: „Dem zweiten Teil, der für die französische Ausgabe 1972 geschrie­ ben wurde, liegen Aufzeichnungen aus den Jahren 1960 bis 1965 zugrunde“. Bourdieus Gegner ist hier u.a. die Saussure’sche Systemlinguistik, gegen die er das Wechselspiel von Sprachsystem und Sprechen als Praxis setzt (2012, S. 151 ff.). Das ist im Kern richtig, aber inzwischen als Programm nicht mehr originell. Unter Stichwörtern wie „Verfestigung“, „Traditionen des Sprechens“ (Schlieben-Lange 1983; Coseriu 1958, S. 25 f.), „invisible hand“-Prozesse (Keller 1990, 1995), „Spra­ che als soziale Gestalt“ (Feilke 1996) und anderen sind inzwischen unterschied­ liche Auffassungen verbreitet, die den Zusammenhang von verfestigtem, „ge­ ronnenem“ Sprachgebrauch als Grundlage für sprachliche Strukturen, die dann ihrerseits wieder die Grundlage für neue Sprachgebräuche sind, anerkennen. In systematischer Perspektive tut man bei einem inzwischen gut entwickel­ ten Stand der linguistisch-pragmatischen Theoriebildung wohl gut daran, die aktuellen Beiträge und die Klassiker der Praxis-/Praktikentheorie selektiv zu nutzen und im Hinblick auf einzelne Teilfragen und Aufgaben der Konzeptua­ lisierung von sprachlichen bzw. kommunikativen Gegenständen jeweils zu fra­ gen, ob und ggf. wie sie im Hinblick auf den jeweils aktuellen fachsystematischen Diskussionsstand fruchtbar gemacht werden können. 2. Verfechter des Praktiken-Begriffs verengen teilweise die Vielfalt der linguisti­ schen Traditionen und schaffen damit einen Strohmann, den sie dann mit dem Praktiken-Begriff erfolgreich bekämpfen. Das ist vor dem Hintergrund von weit entwickelten pragmatischen, funktionalen, evolutionären, soziolin­ guistischen usw. Denktraditionen in der Sprachwissenschaft ärgerlich und dämpft den Rezeptionsappetit.

460 

 Thomas Gloning

Alastair Pennycook schreibt in „Language as a Local Practice“ (2010, S. 6): In order to construct itself as a respectable discipline, linguistics had to make an extensive series of exclusions, relegating people, history, society, culture and politics to a role exter­ nal to languages.

Das Bild, das an solchen Stellen von der Sprachwissenschaft gezeichnet wird, ist unzureichend und verfälscht. Man kann im Gegensatz dazu sagen, dass in ganz unterschiedlichen Konzeptionen der Sprachwissenschaft viele Elemente des Sprachgebrauchs, der sprachlichen Praxis, der sozialen Einbettung des Sprach­ gebrauchs, der geschichtlichen Entwicklung von Sprachen in ihren sozio-kultu­ rellen Kontexten, Fragen der Etablierung von Strukturen und Gebrauchsweisen usw. inzwischen sehr gut verankert sind und in der Geschichte des sprachwissen­ schaftlichen Denkens seit langem präsent waren: Hermann Paul (1920), Marcel Cohens „Sociologie du Langage“ (1956), die von Dell Hymes begründete „Ethno­ graphy of Speaking“ (Hymes (Hg.) 1964; Bauman/Sherzer (Hg.) 1974), die Rezep­ tion anthropologischer Arbeiten (u.a. Malinowski 1923, 1984; Frake 1961, 1964), Beschreibungen von Handlungsformen mit Labov (1972) oder stärker losgelöst von sozialen Kontexten (Austin 1956/1957), Gebrauchstheorien der Bedeutung (Glo­ ning 1996), das Werk von Daniel Everett (2005, 2012) sind nur einige Beispiele. Die insgesamt wenig befriedigende Darstellung der Vielfalt in der sprach­ wissenschaftlichen Diskussionslandschaft in manchen Arbeiten der PraktikenLiteratur wird noch deutlicher, wenn man auch einzelne Theorieelemente be­ trachtet. Konzeptionelle Elemente wie z.B. das sprachliche Handeln, Formen der Sequenzierung des Handelns, der Zusammenhang von grammatisch-lexikalischer Struktur und kommunikativem Handlungspotenzial (Kompositionalität), das ge­ meinsame Wissen, eine Vielzahl von Konzeptionen im Umkreis kommunikativer Gattungen, Aspekte der sozialen und kulturellen Differenzierung im Sprach­ gebrauch, Formen der Multimodalität in mündlichen, schriftbasierten oder hybri­ den Umgebungen, Diskussionen und Erklärungsmodelle zur Dynamik von Formen des Sprachgebrauchs, die Diskussion um die Rolle kommunikativer Maximen usw. haben eine je eigene Theoriegeschichte. „Die“ Linguistik besteht jedenfalls nicht nur aus de Saussure und Chomsky. 3. Die soziologischen Beiträger zur Praktiken-Diskussion haben eine andere „Gefechtslage“ als die Linguisten. In der Soziologie stehen eigene Probleme auf der Tagesordnung, für die der Praktiken-Begriff ggf. gute Dienste leistet, z.B. bei der Vermittlung der Ebenen des Individuellen und übergeordneter sozialer Strukturen. Aber das heißt nicht, dass man den Begriff auch in der Sprachwissenschaft dringend braucht oder dass man verwandte Grundbe­ griffe und Denkfiguren nicht schon hätte.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 461

Eine prominente Gruppe von Autoren, die im Positionspapier der Jahrestagung als grundlegend für den Praktiken-Begriff bzw. für praxistheoretische Ansätze vorgeschlagen wurde, sind Soziologen wie z.B. Theodore R. Schatzki (1996, 2001, 2002), Andreas Reckwitz (2003) oder Anthony Giddens (1995). Exempla­ risch möchte ich zwei Anmerkungen zu den Arbeiten von Theodore Schatzki machen, die den Wert solcher Arbeiten einerseits unterstreichen, dann aber auch relativieren. (i) Zunächst kann man sagen, dass die primäre Motivation der drei Beiträge von Schatzki (1996, 2001, 2002) die Frage nach einer soziologischen Konzeption ist, die unterschiedliche Ebenen und Aspekte des Sozialen integriert. Praktiken stellen in dieser Sichtweise einen systematischen Zusammenhang her zwischen der individuellen Perspektive und den überindividuellen gesellschaftlich-sozia­ len Einheiten: „Both social order and individuality, in other words, result from practices“ (1996, S. 13). Im Bereich der Sprachtheorie und der Theorie der Sprachentwicklung sind es unter anderem Invisible-Hand-Konzeptionen (Keller 1990), aber auch andere, z.B. stärker regional orientierte Sprachdynamik-Konzeptionen (Schmidt 2010, Kap. 3), die den Zusammenhang von individuellem Handeln, Sprachbiografien in ihren individuellen Zusammenhängen und überindividuellen Strukturen model­ lieren. Im Hinblick auf das Verhältnis des Individuellen und des Sozialen im Bereich der Sprache und der Kommunikation wird es also unter anderem da­ rum gehen, den Diskussionsstand in den unterschiedlichen praxistheoretischen Ansätzen abzugleichen mit dem Diskussionsstand in genuin sprachwissenschaft­ lichen Ansätzen. (ii) Im Hinblick auf die Schriften Ludwig Wittgensteins (1984), die für Schatz­ kis Konzeption der zentrale Bezugspunkt sind, und ihre Bedeutung für unter­ schiedliche Theorien des sprachlichen Handelns kann man sagen, dass dieser Rezeptionsstrang auch in der sprachwissenschaftlichen Tradition seit langem sehr gut ausgebaut ist. Wesentliche Teile der Wittgenstein’schen Sprachspiel­ konzeption, seine Überlegungen zum Meinen und Verstehen, zum Bedeutungs­ begriff, zur Rolle von Handlungszusammenhängen usw. wurden auch in der Sprachwissenschaft thematisiert und schon vor der oder parallel zur Rezeption in der Soziologie fruchtbar gemacht. Für das Buch von Anthony Giddens (1995) und auch für den Praktikenan­ satz von Hanks (1987, 1996, S. 3), den man im Schnittbereich von Anthropologie und Soziologie ansiedeln kann, gelten im Hinblick auf sprachwissenschaftliche Fra­gestellungen und Konzeptionalisierungsaufgaben im Jahr 2015 ver­ gleichbare Befunde: Die Werke sind anregend, sie können aber die fachsyste­ matischen Werkzeuge der Sprachwissenschaft in ihrem Zusammenhang nicht ersetzen.

462 

 Thomas Gloning

4. Der Praktiken-Begriff wird derzeit uneinheitlich verwendet. Es fragt sich, in welcher Version er ggf. für die Sprachwissenschaft weiter fruchtbar werden könnte. Man kann hier zunächst eine Gruppe von sprachwissenschaftlichen Arbeiten nennen, in denen ein Praktik(en)-Begriff halbwegs klar erkennbar und begriff­ lich bestimmt ist: Im Beitrag von Fiehler (2003) zum Beispiel sind Praktiken nicht unähnlich den kommunikativen Aufgaben und den Äußerungsformen, die dafür gebraucht werden, konzeptualisiert. Wir befinden uns hier also im Bereich des Zusammen­ hangs von Kommunikation und Grammatik. In einem kurz darauf veröffentlichten Beitrag (Fiehler et al. 2004 zu Eigen­ schaften gesprochener Sprache) werden Praktiken definitorisch aber ganz anders bestimmt, als Textsorten bzw. Gesprächsformen. Daneben gibt es in dem Buch von 2004 aber auch Textstellen, an denen Einheiten als Praktiken bezeichnet werden, die keine Textsorten und auch keine Gesprächsformen, sondern medialtechnische Formate sind. Ein Brief zum Beispiel ist keine Textsorte, sondern ein mediales Format, das funktional ganz unterschiedlich genutzt werden kann. Wir haben also zwei Veröffentlichungen, die im Abstand von einem Jahr erschienen sind, in denen der Praktiken-Begriff ganz unterschiedlich gebraucht wird, in der späteren Veröffentlichung darüber hinaus terminologisch nicht konsistent. Das erleichtert die Diskussion natürlich nicht. Ein anderer, relativ klar bestimmter Praktiken-Begriff stammt aus der eth­ nomethodologisch orientierten Konversationsanalyse (vgl. z.B. Heritage 2011; Schegloff 1972, 1997). Hier sind u.a. einzelne Gesprächsverfahren gemeint, die jeweils eine klar bestimmbare Gesprächsfunktion aufweisen, z.B. das oh-pre­ facing, Verfahren der Gesprächsbeendigung, Verfahren des Sprecherwechsels oder situativ angepasste Ortsangaben. Im Hinblick auf diese Praktiken kann man sagen, dass sie seit langem im Kernbereich der sprachwissenschaftlichen Gesprächsforschung etabliert sind. In anderen Arbeiten wird der Praktiken-Begriff eher undeutlich, andeutungs­ artig und diffus in eine pragmatische Richtung deutend verwendet. Manchmal kann man umschreiben: Praktiken sind „Formen des Handelns“, „Aktivitäten“. Schließlich: Was ist der Unterschied zwischen „Praxis“ und „Praktik(en)“? In einem Beitrag von Robert Niemann lesen wir in einer Fußnote, dass der Autor die Begriffe „gleichbedeutend“ verwendet (Niemann 2015, S. 248 Fußnote  14). Ich bin nicht sicher, ob man diesem Sprachgebrauch für alle Komplexitätsstufen des sprachlichen Handelns – von den Formulierungsmustern bis zu hochkom­ plexen Kommunikationsformen – folgen sollte.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 463

Wenn man schließlich den Praxis-/Praktiken-Begriff in einer übergeordneten Weise nutzt, um möglichst viele relevante „Bestimmungsstücke“ des Handelns und seiner Vollzugs- und Verstehensbedingungen in einen Zusammenhang zu bringen, wie dies im Positionspapier von Deppermann/Linke/Feilke (2014/2015) und nun in der Einleitung des Bandes in beeindruckender Breite systematisiert wurde, dann erkennt man andererseits aber auch, dass die einzelnen Aspekte zum Teil klare Wurzeln in Teilbereichen des sprachlichen Handelns haben und zum Teil für andere Bereiche nur eingeschränkt oder auch gar nicht anwendbar sind. Der Aspekt „Vollzugscharakter“, der sich u.a. auf die zeitliche Strukturiertheit von Praktiken bezieht, spielt in Gesprächen eine ganz andere Rolle (vgl. Deppermann 2007, S. 34 f., 46 ff.) als etwa beim Erstellen und Aufstellen eines Warnschilds. Ressourcen wie Gestik, Mimik, körperliche Orientierung und andere Aspekte der Leiblichkeit (u.a. Mon­dada/Schmitt (Hg.) 2010) wiederum spielen in vielen schriftbasierten Formen der Kommunikation gar keine oder eine allenfalls instru­ mentelle Rolle (der Finger, der die Taste drückt). So stellt sich die Frage, ob das Praktiken-Projekt, verstanden als der Ver­ such, ein allgemeines Tableau für die zusammenhängende Beschreibung von Formen der Verständigung in den ganz unterschiedlichen sozialen, kulturellen und me­dialen Zusammenhängen zu erstellen, am Ende dann doch wieder bei den spe­zielleren Theorien (zu den Gesprächen, Texten, multimodalen Kommunika­ tionsangeboten, zur sprachlichen Höflichkeit, zur Fachkommunikation usw.) ankommen wird. 5. Unterschiedliche Praktik(en)-Begriffe und die Positionen einzelner Vertre­ ter/innen bzw. Gewährsleute sind untereinander nur schwer verträglich. Manche Konzeptionen sind darüber hinaus für sprachwissenschaftliche Ziele und Aufgaben nur bedingt oder auch gar nicht anschließbar. In seinem weit gespannten Überblick über das Feld der Praxistheorien nennt Reckwitz (2003) eine Vielzahl von Autor/innen, bei denen nicht ohne Weiteres klar ist, ob und ggf. wie die jeweils erkennbaren Grundannahmen und das jeweils verwendete Basisvokabular verträglich sind. Zu den genannten Autor/innen ge­ hören Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger, Judith Butler, Michel Foucault, Gilles Deleuze und andere. Wenn man aus einer handlungstheoretischen und sprachhistorisch unterfütterten Perspektive auf die Autoren- und Konzeptionen­ liste schaut, dann gibt es zunächst mehr Differenzen als Übereinstimmungen in den Grundannahmen, in der Darstellungsart und auch in den Zielsetzungen. Man kann natürlich einwenden, dass eine solche Reserve auch für viele andere ‚traditionelle‘ Grundbegriffe der Sprachwissenschaft und der Lehre vom sprachlichen Handeln gilt. Das entbindet aber die Teilnehmer/innen an der Prak­

464 

 Thomas Gloning

tiken-Diskussion nicht von der Aufgabe, die einzelnen Traditionslinien in fach­ systematischer Hinsicht zu sichten und zu bewerten. Wenn man dies tut, wird man feststellen, dass die ‚brauchbaren‘ Gewährsleute bereits fest im sprachwis­ senschaftlichen Quellenraum verankert sind. 6. Der Praktiken-Begriff ebnet schon erreichte Differenzierungen für die ganz unterschiedlichen Aspekte des kommunikativen Handelns, seiner sprachli­ chen Realisierung, von Graden der Schematisierung, der historischen Verfes­ tigung usw. sowie Klärungen ihres Zusammenhangs ein. Zumindest liegt hier ein Gefahrenpotenzial. Ob der Praktiken-Begriff auch ein spezifisches Inte­ grationspotenzial hat, bleibt abzuwarten. Nehmen wir versuchsweise an, wir wollten die bisherigen Resultate und begriff­ lichen Grundlagen der Sprachwissenschaft im Bereich der (historischen) Pragma­ tik, der Textlinguistik, der Gesprächsforschung, der Sprach- und Verständigungs­ theorie, der Multimodalitätsforschung usw. im Lichte eines Praktiken-Begriffs „umfrisieren“ und integrieren: Würden dabei nicht auch wesentliche Differenzie­ rungen verloren gehen? Und wenn man sie erhalten wollte: Wäre man dann nicht wieder bei den spezifischeren Diskussionsständen in den ursprünglichen Diszi­ plinen (siehe auch These 4)? Ich denke hierbei etwa an die frühen Arbeiten von Paul Grice (1989) aus den späten 1950er („Meaning“, 1957) und 1960er Jahren zu Fragen der Bedeutung, des Meinens und des Verstehens. Oder an Differen­ zierungen und Erklärungsmuster aus dem Bereich der Sprachwandeltheorie und der Historischen Semantik. Oder an Forschungen zu spezifischen Texttypen, Ge­ sprächsformen, medialen Angeboten und ihrer Nutzung, zu bestimmten gram­ matischen Konstruktionen und ihrer kommunikativen Nutzung, zur Lehre von der Themenorganisation und den Verfahren des Themenmanagements usw. Ich sehe und teile das Bedürfnis nach einer integrativen Gesamtdarstellung und Organisation all dieser und vieler anderer Aspekte des sprachlichen Han­ delns bzw. der Verständigungpraxis im weitesten Sinne. Ich sehe aber noch nicht, dass dieses Versprechen in der Praktiken-Literatur bislang eingelöst wurde. Wenn man die Frage nach dem Zusammenhang und der Zusammenführung unterschiedlicher Aspekte der sprachlichen Praxis stellt, bietet sich als Alter­native eine netzwerkartige Darstellung der Grundannahmen und der darauf bezogenen Grundbegriffe an, dabei wäre die wesentliche Grundlage begriffliche und konzep­ tuelle Vielfalt, die der Vielgestalt des Gegenstandsbereichs besser angemessen ist. Die Arbeit an einer stärkeren theoretischen Integration von Aspekten des sprachlichen Handelns bzw. der kommunikativen Praxis in ganz unterschiedli­ chen Bereichen ist jedenfalls eine Aufgabe, die Praktiken-Theorie(n) und die Theorie(n) des sprachlichen Handelns teilen.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 465

7. Es wäre gut, wenn man zwei Dinge besser auseinanderhalten würde: den einen (wenn auch diffusen) Praktiken-Begriff und die Vielfalt unterschied­ licher praxeologischer bzw. an spezifischen sprachlich-kommunikativen Praxisfeldern bzw. Praxiselementen orientierter Forschungsansätze. Ein vereinheitlichender Praktiken-Begriff birgt, wie erwähnt, die Gefahr, dass bereits ausgearbeitete Differenzierungen in ganz unterschiedlichen Bereichen der sprachwissenschaftlichen Theoriebildung wieder eingeebnet werden. Die oben in These 6 formulierte Präferenz von Vielfalt und gegenstandsspezifischer Begriffsbildung ist aber dennoch gut verträglich mit einer praxeologischen Per­ spektive, also einer Forschungsausrichtung, die an den unterschiedlichen Zu­ sammenhängen und den zum Teil spezifischen Bedingungsfaktoren im Rahmen einzelner sprachlich-kommunikativer Praxisfelder und ihrer soziokulturellen Einbettung im weitesten Sinne interessiert ist (vgl. z.B. Streeck 2001, in diesem Band). Ich wähle als ein Beispiel2 und zur Verdeutlichung dieses Punkts die gerade erschienene Arbeit von Anja Stukenbrock (2015) über die Nutzung von Gesten in face-to-face-Interaktion. Die Untersuchung versteht sich programmatisch als eine praxeologische Arbeit (2015, S. 1, 12 f., 493), aber der Begriff der „Praktik“ kommt im ganzen Buch nur viermal vor (ein paar zitierte practice-Belege kommen hinzu), der Ausdruck trägt an den betreffenden Stellen keine theoretische Last, er wird nicht terminologisch eingeführt, er kommt auch im Register nicht vor, verwandte Ausdrücke sind u.a. „Verfahren“, für das Zeigen selbst kommt „Zeigehandlung“ dagegen sehr häufig vor. Der Ausdruck „Praxis“ ist auch eher selten verwendet, zum einen zur Bezugnahme auf die kommunikative Praxis in einem allgemeinen Sinn, sodann für eine Gesprächsform, das „Petzen“, hierfür variierend auch „kommunikative Gattung“, sodann eine Wendung wie „Praxis des Zeigens“, die wiederum mit „Zeigehandlung“ näher verbunden ist. Daneben finden wir eine gewisse Vielfalt von weiteren Begriffen wie „Interaktion“, „Ressource“, „Zeige­ geste“ usw. In dieser sehr überzeugenden und ertragreichen Arbeit steht ein spezifischer Bereich der kommunikativen Praxis, die Verfahren, Funktionen, Bedingungen, Typen usw. der Nutzung von Gesten im Zusammenhang mit sprachlichen Äuße­

2 Im Beitrag von Angelika Linke (2011) zur Rolle von Musterbildungen auf unterschiedlichen sprachlichen Beschreibungsebenen in einer kulturgeschichtlichen Perspektive wird der Prakti­ ken-Begriff ebenfalls nur variierend gebraucht. Aus meiner Sicht ist es einleuchtend, z.B. für Aspekte der Kollokationen, der Phraseologismen usw. auch die Unterscheidungen und Be­ schreibungsmittel zu nutzen, die in den darauf bezogenen Forschungsbereichen speziell ent­ wickelt wurden.

466 

 Thomas Gloning

rungen in face-to-face-Interaktionen im Vordergrund. Der Praktiken-Begriff spielt dabei keine nennenswerte Rolle, der theoretisch-begriffliche Werkzeugkasten um­ fasst ältere und jüngere Bestandteile gleichermaßen und folgt den spezifischen Anforderungen des Gegenstandsbereichs, ohne dass der praxeologische Charak­ ter der Arbeit dadurch in irgendeiner Weise zweifelhaft würde.

3  Fallbeispiele: Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft Ich werde nun einen bestimmten Typ von historischer Entwicklung und seine Beschreibung in den Vordergrund rücken und ausgewählte Veränderungen in der Wissenschaftskommunikation diskutieren, die im Gefolge neuer medialer Möglichkeiten entstanden sind. Diejenigen Theorieelemente und Beschreibungs­ werkzeuge, die man für die Beschreibung dieser historischen Kommunikations­ formen benötigt, sind in einer funktionalen, evolutionär und lebens­form­orien­ tierten sowie mediensensitiv aufgerüsteten Handlungstheorie schon vorhanden. Ich werde deshalb an einigen Stellen Hinweise geben und Aspekte diskutieren, die für die Praktiken-Diskussion fruchtbar sein könnten, und Konsens und Dis­ sens zwischen den Konzeptionen immerhin andeuten. Ich betrachte diese Art der Beschreibung als eine praxis-orientierte Beschreibung, die aber nicht zentral auf dem Praktiken-Begriff beruht, sondern ihre zentralen Beschreibungswerkzeuge von den Erfordernissen des Gegenstands her auswählt.

3.1  Ausgangspunkte und Fragestellung Wenn neue Medien verfügbar werden, verändern sich die kommunikativen Hand­ lungsspielräume. An Beispielen aus dem Bereich der Wissenschaftskommuni­ kation lässt sich der grundlegende Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit neuer Medien, der Entstehung neuer medial-technischer Formate, der Entste­ hung von kommunikativen Nutzungspotenzialen der neuen Formate sowie die Frage nach ihren tatsächlichen Nutzungsweisen aufzeigen. Im Folgenden gebe ich in gebotener Kürze3 Fallbeispiele aus Geschichte und Gegenwart der Wissenschaftskommunikation. Die zentrale Fragestellung dabei

3 Die Fallbeispiele werden in einer ausführlicheren Online-Veröffentlichung, die später erschei­ nen wird, genauer und materialreicher dargestellt und erläutert.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 467

ist, ob der Praktiken-Begriff für die Analyse von Gegenständen dieser Art eine nennenswerte Rolle spielen kann und welches Anregungspotenzial ggf. für ein­ zelne Aspekte davon ausgeht.

3.2  Mediale Formate, kommunikative Handlungsspielräume und ihre tatsächliche Nutzung Ausgangspunkt für die Frage nach dem Zusammenhang von medialen Forma­ ten, kommunikativen Handlungsspielräumen und der tatsächlichen Nutzung dieser Spielräume sind tiefgreifende Veränderungen im Bereich einer digitali­ sierten, globalen Medienkommunikation, die auch weite Teile der Wissen­ schaftskommunikation betreffen und die mit Stichwörtern wie Social software, Web 2.0, Interaktivität, user generated content, participatory culture adressiert wurden. Digitale Formate sind zunächst nur technisch-medial bedingte Arrange­ ments, die für ganz unterschiedliche funktionale Nutzungen offen sind. Beispiele für solche medial-technischen Arrangements sind etwa: Mailingliste, Blog, Wiki oder (andere Arten von) Webseiten. Formate dieser Art stellen einen technischen Gestaltungsrahmen dar, der im Hinblick auf kommunikative Ziele und die verschiedenen Aspekte der Interaktion sehr unterschiedlich genutzt werden kann. Formen der kommunikativen Nutzung von medialen Formaten sind von funk­ tionalen Parametern geprägt. Hierzu gehören insbesondere die Funktion(en), die Handlungsstruktur, Aspekte der Themenorganisation und des Themenmanage­ ments, typische Äußerungsformen, spezifische Kommunikationsmaximen, typi­ sche Formen des Wissensaufbaus, der Beteiligungsstruktur, usw. Beispiele für etablierte Formen der kommunikativen Nutzung von Formaten in der Wissen­ schaft sind z.B.: Rezension, Fachaufsatz, fachliche Monografie, Lehrbuch, Hand­ buch, wissenschaftlicher Nachruf, Call for Papers und mehrere andere. Vor allem im Bereich neuerer multimodaler Kommunikationsangebote in Printmedien und in digitalen Umgebungen finden sich zahlreiche Angebote, in de­ nen sich der Gebrauch einzelner Ressourcen wie z.B. der Farbe oder des räumli­ chen Arrangements nicht auf konventionelle oder auch nur mehr oder weniger schwach routinisierte Praktiken zurückführen lässt. Solche neuartigen Verwen­ dungen sind eine wichtige Quelle der Innovation, sie können dann Gegenstand der Selektion und der zunehmenden Verfestigung im Lauf weiterer kommuni­ kativer Nutzungen werden. Das folgende Beispiel zeigt eine spontane Konstellation aus einem Posting einer Mailingliste, einem Blog-Beitrag, einem systematischen Wiki und einer

468 

 Thomas Gloning

Zotero-Gruppe. Die Funktion der Nutzung einer solchen Formatkonstellation4 ist die kollaborative Erstellung einer fachlich spezifischen Literaturübersicht. Aus­ gangspunkt ist ein Posting an die Humanist-Liste, eine der ältesten Mailinglisten überhaupt und thematisch spezialisiert im Bereich der Computernutzung in den Geisteswissenschaften. Das Posting an die Mailingliste hat folgenden Text: To: [email protected] Subject: Digital Classics Bibliography [apologies for cross posting] Dear Humanists, ... I’m working on a literature review on the theme Classics and Computers. In order to allow other people with any interest in this to contribute to my initial list I created an open group on Zotero called _digital­ classics_. To find out more please check out my recent blog post http://www. stoa.org/archives/1216 . Thanks in advance, Matteo In diesem Posting wird auf einen ausführlicheren Blog-Beitrag verlinkt. Folgt man diesem Link, dann kann man im Blog-Beitrag folgende Ausführungen lesen: For the time being, in order to allow anyone with any interest in this to con­ tribute I created a group on Zotero called digitalclassics. The group is open (i.e. my authorisation is not needed to join) so please join it and start contrib­ uting your entries to the list. I’m thinking in particular of publications that I have unintentionally neglected and/or publications in other languages that I was not aware of. [...] As soon as the bibliography will reach a reasonably stable shape I will update the page I have already created on the Digital­ Classicist wiki. Insgesamt haben wir es hier also mit einer spontanen, funktional motivierten Verknüpfung von vier unterschiedlichen Formaten zu tun, die jeweils unter­ schiedliche Aufgaben im Hinblick auf das übergeordnete Ziel haben. Die Mailing­ liste und der Blog dienen der Verbreitung des Anliegens und der Gewinnung von Mitarbeiter/innen, die Bookmarking-Gruppe bei Zotero dient der kolla­ borativen Sammlung von Literaturtiteln, das Wiki dient der systematischen Ergebnisdokumentation. Im Hinblick auf den Zusammenhang von neuen Medien, neuen medialen Formaten und ihrer kommunikativen Nutzung stellen sich in einer evolutionären Perspektive folgende kommunikations- und mediengeschichtlichen Leitfragen:

4 Zum Begriff ‚Formatkonstellation‘ vgl. Fritz/Bader (2010, S. 341 ff.).



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 469

a) Welche medialen Formate sind zu einem bestimmten Zeitpunkt (in einer Nutzergemeinschaft/einem Fachgebiet) verfügbar? b) Wie werden einzelne mediale Formate zu einem bestimmten Zeitpunkt (in einer Nutzergemeinschaft) kommunikativ genutzt? c) Wie entwickeln sich Darstellungsformen/Genres, wenn ein neues Format verfügbar ist? Welche Rolle spielen traditionelle Genres? d) Welche kommunikativen Formen der Interaktivität, der Kollaboration, der Partizipation sind in einem medialen Format vorgesehen, welche sind mög­ lich, welche werden tatsächlich genutzt? e) Wie ist das Zusammenspiel individueller Handlungen und kollektiver Resul­ tate zu modellieren, z.B. im Hinblick auf die Ausbildung von Netzwerken, von intertextuellen Gefügen oder für die Etablierung neuer Genres? f) Wie verlaufen und welche Rolle spielen reflexive Medien- und Mediennut­ zungsdiskussionen?5 g) Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für eine evolutionäre Theorie und die Geschichte der Wissenschaftskommunikation (als Praxis)?  

Man sieht an dieser Form der thematischen Exposition und auch an der Formulie­ rung der Leitfragen, dass dabei eine klare Perspektive auf die kommunikative Praxis zugrunde liegt, dass aber nicht der Praktiken-Begriff eine zentrale Rolle spielt, sondern eine Mehrzahl von Grundbegriffen, die sich aus dem handlungs­ theoretischen und dem medientheoretischen Vokabular speisen. Ich möchte den Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit neuer Medien bzw. neuer medialer Technologien, neuen medialen Formaten, ihrem Nutzungs­ potenzial und ihren tatsächlichen Nutzungen anhand von vier historischen Bei­ spielen veranschaulichen.

3.3  Der Buchdruck bedingt Veränderungen in der Lehr-/ Lern-Kommunikation der frühen Universitäten Um die Mitte des 15. Jahrhunderts entwickelte Johannes Gutenberg in Mainz den Druck von Texten mit Hilfe von einzeln kombinierbaren Metall-Lettern. Eine wichtige Folge, die sich aus der Nutzung dieser neuen medialen Technologie er­

5 Wenn neue Medien verfügbar werden, findet häufig eine reflexive Diskussion des Mediums und von Formen seiner Nutzung statt. Die Zeitungsdebatte des 17. Jahrhunderts, Diskussionen um den frühen Film, aber auch Themenstränge wie der Zusammenhang von Gewalt und Fern­ sehen sind historische Beispiele solcher Formen der Reflexion.

470 

 Thomas Gloning

gab, betraf die Lehr-/Lern-Kommunikation an den frühen Universitäten. In der neuen buchgestützten Lehr-/Lern-Konstellation bedingt die Tatsache, dass die Studenten in der Vorlesung bereits im Besitz der Texte sind, Veränderungen der Handlungsstruktur. Im Mittelpunkt steht nun nicht mehr die Vervielfältigung eines handschriftlich verfügbaren Texts, sondern die Erläuterung eines bereits vorliegenden Texts (Giesecke 1991, S. 217 ff.). Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war die neue Lehrpraxis offenbar etabliert. In den Statuten des Freiburger „Collegium Sapientiae“ (1497), einer Art Studien­ stiftung, ist die neue Praxis bereits als Regelfall festgeschrieben: Jeder Inwohner unseres Hauses ›zur Weisheit‹ höre – wenn er nicht durch ein gerechtfertig­ tes Hindernis aufgehalten ist – seine Vorlesungen, vor allem die gewöhnlichen, sorgfältig und ohne irgendwelche Unterbrechung, mit einem eigenen oder ihm zu bequemlichem Gebrauch gegebenen Buche (ex libro proprio vel commode ad vsum sibi dato); es schöpft nämlich Wasser mit dem Sieb, wer ohne Buch lernen will. (Statuta Collegii Sapientiae 1497 [1957], S. 82 f.; Hervorh. TG).

Auch in die Bildrepräsentation der Freiburger Statuten ist die neue Lehr-/LernKonstellation eingegangen: Den Studenten der in Abbildung 1 wiedergegebenen Magister-cum-discipulis-Szene liegen die Texte vor, die in der Vorlesung behan­ delt werden. Der Finger, der im Bild auf eine Textstelle im Buch zeigt, ist ein physischer Hinweis auf die Aspekte der Aufmerksamkeit und der textuellen Bewegung während der Vorlesung.

Abb. 1: Magister-cum-discipulis-Szene aus den Freiburger „Statuta Collegii Sapientiae“ (1497 [1957])



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 471

Die Abbildung des mit dem Finger im Text folgenden Zuhörers deutet darauf hin, dass die Veränderung des kommunikativen Arrangements auch Veränderungen im körperlichen Betragen mit sich gebracht hat, die sehr eng mit Fragen der Auf­ merksamkeit, der Aufmerksamkeitssteuerung und möglicherweise auch mit Ver­ fahren der thematischen Bewegung zusammenhingen. Vorlesungen dieser Art sind eine face-to-face-Interaktion, bei denen man die Fragen nach dem körper­ lichen Benehmen (u.a. der „mitlesende“ Finger, Dynamik der Blickrichtung, Dynamik der körperlichen Ausrichtung) und seiner Rolle für die Organisation der Interaktion mit großem Recht stellen kann. Aus der Praktiken-Perspektive kann man die Frage nach dem veränderten körperlichen Benehmen in den „neuen“ Vorlesungen vom Ende des 15. Jahrhunderts also mit Recht hervorheben, auch wenn sie sich aufgrund der beschränkten Quellenlage vielleicht nur schwer beantworten lassen wird. Die wesentlichen Aspekte der Veränderung lassen sich aber mit bereits verfügbaren Beschreibungsmitteln (u.a. Handlungsstruktur, Interaktionsrollen, Themenmanagement) einer sprachwissenschaftlichen Geschichte von Kommu­ nikationsformen analysieren und rekonstruieren.

3.4  Formen der Textnutzung in wissenschaftlichen Zeitschriften des späten 17. und 18. Jahrhunderts Eine weitere grundlegende Veränderung in den Wissenschaften ist mit der Ent­ stehung allgemeiner und fachlich spezialisierter Zeitschriften seit dem späten 17. Jahrhundert und dann vor allem im 18. Jahrhundert verbunden, die Thomas Habel in seiner Studie „Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung“ (2007) aufgearbeitet hat. Im Hinblick auf den Zusammenhang neuer Medien und neuer kommunika­ tiver Möglichkeiten ist vor allem die Entstehung neuer Darstellungsformen, neuer Texttypen hervorzuheben. Eine wichtige Darstellungsform in Zeitschriften dient dazu, eigene neue Forschungsergebnisse in Aufsatzform darzustellen. Hier liegen die Wurzeln des modernen wissenschaftlichen Zeitschriftenartikels, der soge­ nannten Originalarbeit, zu denen historische Studien z.B. von Ylönen (2001) und Gross/Harmon/Reidy (2002) vorliegen. Als Beispiel führe ich hier eine Passage aus der Vorrede des von F.A.C. Gren ins Leben gerufenen „Journal der Physik“ (1790 ff.) an. In der programmatischen Vorrede zu dieser neuen Zeitschrift, die damals auch wesentliche Gegenstände dessen, was heute zur Chemie gehört, umfasste, äußert sich Gren auch zum Spek­ trum der Darstellungsformen, der Texttypen:

472 

 Thomas Gloning

Mein Zweck bey der Herausgabe dieses Journals ist, die Entdeckungen der Aus- und Innlän­ der im mathematischen und chemischen Fache der Naturlehre bekannt zu machen, neuere Lehrmeynungen, neuere Erfahrungen, Beschreibungen und Abbildungen dazu gehöriger Werkzeuge ... mitzutheilen ... Das Werk enthält 1) eigenthümliche Abhandlungen, um Natur­ forschern Gelegenheit zu geben, ihre Beobachtungen, Entdeckungen und Bemerkungen, die sie zur Förderung der Naturlehre bekannt machen wollen, frühzeitig mittheilen zu können. [...] Da die Anschaffung der Denkschriften von Societäten und Akademien der Wis­ senschaften dem Privatmanne oft nur gar zu schwer fällt, so hielt ich es für nöthig 2) vollständige Auszüge der physikalischen Abhandlungen der Academien und Societäten der Wissenschaften zu geben; und eben so hoffe ich auch 3) durch die Auszüge und Abhandlungen ausländischer Journale ... die Anschaffung der letztern entbehrlich zu machen. 4) Die litterarischen Anzeigen haben nicht sowohl die Beurtheilung, als die Bekanntmachung der Bücher zum Zweck. (F.A.C. Gren (Hg.), „Journal der Physik“, Bd. 1, 1790, Vorrede)

Man erkennt in dieser Passage des Vorworts zu einer neuen Zeitschrift eine Art von systematischer Planung und Begründung der genutzten Darstellungsformen bzw. Textsorten, die drei funktionale Schwerpunkte abdeckt: (i) Darstellung und Mitteilung eigener, neuer Forschungsergebnisse; (ii) Information über neue wis­ senschaftliche Publikationen; (iii) Bewertung und Beurteilung neuer wissen­ schaftlicher Publikationen. Im Jahr 1790 konnte sich Gren bei dieser Profilierung der Darstellungsformen auf bereits etablierte Muster stützen; die „eigenthüm­ lichen Abhandlungen“ sind jedenfalls als eine der zentralen Darstellungsformen erwähnt. Neben den Rezensionen und den Originalabhandlungen sind Zeitschriften auch eine wesentliche Basis für Veränderungen im Bereich der Struktur wissen­ schaftlicher Kontroversen. Die älteren wissenschaftlichen und religionspolitischen Kontroversen der Frühen Neuzeit beruhen auf dem Austausch mehr oder weniger umfänglicher Streitschriften. Dieses Modell wird im 17. und 18. Jahrhundert zunehmend ab­ gelöst von einem Kontroversenmodell, das eine Mehrzahl von intertextuell ver­ knüpften Beiträgen umfasst, die zum Teil unterschiedlichen Darstellungsformen zuzuordnen sind. Ein Beispiel dafür ist der deutsche Zweig der Phlogiston-Kontroverse, der sich in den Jahren 1786 ff. vor allem in den Zeitschriften entfaltete. Diese Aus­ einandersetzung ist gekennzeichnet durch ein Mehr-Autoren-Netzwerk, deren deutschsprachige oder ins Deutsche übersetzte Beiträge ein fortlaufend anwach­ sendes Netz von Text/Text-Zusammenhängen bilden. Die veränderte Kontroversen-Dynamik ist gekennzeichnet vor allem durch Mehr-Parteien-Konstellationen, die Nutzung einer Vielfalt von etablierten und auch von ad-hoc-Darstellungsformen sowie von vielfältigeren intertextuellen Bezügen, die über den direkten Bezug zu einem Gegner hinausgehen.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 473

Manche Gesichtspunkte unserer Analysen hierzu ließen sich übersetzen in bzw. beziehen sich auf die Bestimmungsstücke des Praktiken-Begriffs. Darin läge aber noch kein eigener theoretischer Gewinn. Man kann an dieser Stelle anderer­ seits davon ausgehen, dass eine stärkere Berücksichtigung des Zusammenhangs von textuell-kommunikativen Praktiken und fachwissenschaftlichen Praktiken, z.B. Formen und Möglichkeiten des chemischen Experimentierens, durchaus fruchtbar wären. Eine solche Erweiterung der textuellen Forschung würde aller­ dings die Beteiligung von Fachleuten der jeweiligen Gegenstandsbereiche, z.B. aus der Chemiegeschichte, voraussetzen.

3.5  Mikrofotografien in der Medizin-Kommunikation: Robert Koch fotografiert erstmals Bakterien ... Robert Koch (1843–1910) gehört zu den wichtigsten Pionieren der frühen Bakte­ riologie. Im Hinblick auf die Identifikation und die genaue Beschreibung von Erregern spielten mehrere technische Verfahren zusammen, v.a. die Nutzung von Färbe-, Isolierungs- und Konservierungsmethoden sowie die Mikrofotogra­ fie, deren Zusammenspiel Koch in einem eigenen Beitrag diskutiert (1877). Soge­ nannte „Photogramme nach der Natur“ schufen damals eine veränderte und verbesserte Argumentations-Grundlage in der damals jungen Bakteriologie, sie ermöglichten die Visualisierung und damit die Überprüfbarkeit von experimen­ tellen Befunden bei der Untersuchung von Gewebe und von Kulturen. Techno-Bilder dieser Art prägen inzwischen weite Teile der medizinischnaturwissenschaftlichen Kommunikation der Moderne. Sie sind auf das engste verbunden mit der Frage nach dem epistemischen Status von theoretischen Gegenständen, der Frage nach der Rolle von Visualisierungen in den Wissen­ schaften und auch mit der Frage nach den medial-technischen Grundlagen von Darstellungsformen und Darstellungsmitteln in den Wissenschaften in ihrer his­ torischen Entwicklung. Man kann von all diesen Möglichkeiten, Handlungsweisen und kommunikati­ ven Verfahren natürlich als von „Praktiken (der Bildverwendung)“ sprechen, aber der Begriff trägt nicht mehr zur Konzeptualisierung dieses spezifischen Bereichs bei als der Begriff „Verfahren“. Wenn man die Bestimmungsstücke des PraktikenBegriffs nutzt, um spezifische Ausprägungen von Parametern wie z.B. „(Mediale) Realisierungsbedingungen“ zu beschreiben, wird man wieder bei einer spezielle­ ren Theoriekomponente landen, die im besten Fall wesentliche Errungenschaften früherer Konzeptionen integriert, die aber in vielen Aspekten nicht vom allge­ meinen Praktiken-Begriff gespeist wird, sondern von den spezifischen Erforder­ nissen des Gegenstandes und von bereits vorhandenen Theoriekomponenten.

474 

 Thomas Gloning

3.6  Die Multimodalisierung wissenschaftlicher Darstellungsformen Betrachten wir ein modernes Lehrbuch, z.B. das Biologie-Lehrbuch von Camp­ bell/Reece (2011), dann sehen wir eine sehr vielgestaltige Form der Nutzung mul­ timodaler Ressourcen und ihres Zusammenspiels. Zu den genutzten Ressourcen gehören u.a. Farbe, z.B. im Rahmen von Farbleitsystemen, Typografie, räumli­ ches Arrangement, die klassische Ressource Text, die Nutzung ganz unterschied­ licher Arten von Abbildungen in Verbindung mit Texten, Formen der Koordi­ nation von Text und Bild mit Hilfe von Siglen, die Nutzung von Icons, Linien, farbigen Flächen und anderen Ressourcen. Auch wenn die koordinierte Nutzung multimodaler Ressourcen seit vielen Jahrhunderten verfügbar ist,6 kann man gleichwohl sagen, dass die systemati­ sche und großflächige Nutzung multimodaler Kommunikationsangebote in den Wissenschaften seit dem 20. Jahrhundert stetig zunimmt und dass dabei auch deutliche Unterschiede in den verschiedenen Wissenschaftsdomänen zu erken­ nen sind. Die geisteswissenschaftliche Monografie ist zum Beispiel auch heute noch textlastig und überwiegend linear, während zum Beispiel in medizinischen Lehrbüchern schon früh mit Formen der Text/Bild-Koordination, mit Farbdruck, mit unterschiedlichen Spielarten der Typografie, mit Raumarrangements gearbei­ tet wurde, weil es dafür einen sinnvollen kommunikativen Einsatz gab. Auch dieser Befund verdeutlicht, dass man die zu einer Zeit verfügbaren technisch-medialen Potenziale unterscheiden muss von den tatsächlichen Nut­ zungsweisen und Nutzungsfrequenzen, die zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten fachlichen Domäne üblich waren. Die Geschichte multimodaler An­ gebote in den Wissenschaften, ihrer Gestaltungsprinzipien und -spielarten sowie ihrer Nutzung in den Teildisziplinen ist noch nicht geschrieben. Soweit aber ak­ tuell zu sehen, kommen wesentliche Anregungen zur Erforschung textbasierter multimodaler Angebote nicht aus der Praktiken-Diskussion, sondern etwa in den im Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten von Bateman, Bucher, Kress oder Steinseifer wiederum aus spezifischeren Diskussionszusammenhängen wie z.B. der Text/Bild-Theorie, der Theorie der kommunikativen Verständigung, der Theo­ rie der Medienkommunikation usw.

6 Vgl. etwa Gloning (i.Ersch.) zu Leonhart Thurneyssers Buch über die Erdgewächse (1578).



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 475

3.7  Digitale Ressourcen und ihre kommunikative Nutzung in den Wissenschaften Mit der Verfügbarkeit von Digitalmedien und vor allem mit der zunehmenden Nutzung des Internets für kommunikative Zwecke hat sich das Gefüge der Inter­ aktionsformen und ihrer medialen Grundlagen in den Wissenschaften nachhaltig verändert. In den folgenden Abschnitten möchte ich drei Beispiele geben für neue digitale Formate und für ihre kommunikative Nutzung in den Wissenschaften.

3.7.1  Mailinglisten: Formen der Nutzung und Entwicklungen Mailinglisten gehören zu den medialen Formaten, die relativ früh in unterschied­ lichen wissenschaftlichen Teildisziplinen genutzt wurden. Im Rahmen des Gie­ ßener Projekts „Interactive Science“ haben wir auch eine Studie zur Nutzung von Mailinglisten in unterschiedlichen Fachzonen durchgeführt, deren Resultate in einem online zugänglichen Open-Access-Band – auch dies eine neue digital gestützte Möglichkeit – dokumentiert sind (Bader et al. 2011). Mailinglisten gibt es verstärkt seit den 1990er Jahren. Sie weisen fachlichthematisch ein breites Spektrum auf. Unser Korpus umfasste z.B. die B-Greek-, die Shakesper-, die Luhmann-, die Ansax- und viele andere Mailinglisten. Das funktionale Profil dieser Listen bewegte sich im Rahmen von drei Schwerpunk­ ten, die jeweils in unterschiedlichen Gewichtungen vertreten waren: zum einen Information und Service (z.B. Calls for Papers, Stellenausschreibungen), sodann Formen der Kollaboration (z.B. Bitten um Literaturhinweise) und schließlich For­ men der Kritik und der Diskussion. Für den dritten großen Funktionsbereich, Kritik und Kontroverse, haben wir im Gießener Projekt unter anderem eine Kontroverse auf der Linguist-Liste un­ tersucht, deren Ursprung auf eine Rezension zurückgeht und die sehr schnell wesentliche Grundsatzfragen der Grammatikschreibung berührte (Fritz 2011a, S. 198 ff.; Fritz/Gloning 2012). In der Mukherjee-vs.-Huddleston/Pullum-Kontro­ verse aus dem Jahr 2002 ging es um zwei Hauptkritikpunkte an einer neuen Grammatik des Englischen: die Wahl nur eines theoretischen Modells und die fehlende Korpus-Basierung. Die Rezension ist Ausgangspunkt einer Kontro­ verse, in der unterschiedliche Verfahren der Kritik und der Verteidigung ange­ wendet wurden. Als Ergebnis der Kontroverse, die sich in nur wenigen Wochen ereignete, kann man festhalten: (i) Die Kontroverse erlaubte eine schnelle Klärung unter­ schiedlicher Positionen und Sichtweisen (auch wenn keine „Einigung” erzielt wird). (ii) Die Kontroverse eröffnet den Verfechtern eines Standpunkts „attention

476 

 Thomas Gloning

space“ für ihre Auffassungen. (iii) Die Kontroverse ermöglicht es, wesentliche Grundsatzfragen in der Grammatikschreibung zu thematisieren; (iv)  Auseinan­ dersetzungen dieser Art haben auch einen besonderen Nutzen für Newcomer im Feld: Sie können schnell unterschiedliche Positionen, ihre Verfechter und auch Argumente pro und contra kennenlernen. Besonders hervorzuheben sind die Geschwindigkeit und auch die Reichweite der Auseinandersetzung auf einer Liste, der mehrere Tausend Sprachwissenschaftler/innen auf der ganzen Welt angehören. Immer wieder beobachtet man auf Mailinglisten auch Versuche, durch Ver­ änderungen an interaktionalen Parametern mit neuen Formen der Formatnut­ zung zu experimentieren. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte RoundTableFormat, das auf der Shakesper-Liste im Jahr 2006 entwickelt und erprobt wurde (dazu Bader/Fritz 2011, S. 67–71). Ausgangspunkt war das Bedürfnis, den Dis­ kussionen auf der Liste für bestimmte Fragen eine strengere und systemati­ schere Form zu geben, das der Moderator der Liste formuliert: The idea of these RoundTables is to provide a forum for members to use the Internet in such a manner as to enable academic discourse in an alternative platform to conferences, jour­ nals, and such. Thus, RoundTable discussions will be conducted on a more formal level than ordinary list discussions: contributors will be expected to reflect upon their offerings [...] before submitting them and to be knowledgeable of the subject under discussion. (Hardy M. Cook, 9.12.2006)

In der Umsetzung wird das technisch-mediale Format neuartig genutzt, indem neue „Spielregeln“ eingeführt und bestimmte interaktionale Parameter festge­ schrieben werden. So gibt es etwa in der Rollenkonstellation neue Vorgaben für einen Gastmoderator und Qualitätsvorgaben für die Vorbereitung der Teilneh­ mer. Die Untersuchungen, auf die ich mich hier beziehe, sind alle auf die kom­ munikative Praxis in den Wissenschaften und ihre Entwicklung bezogen, aber ohne expliziten Bezug zu einem Praktiken-Konzept. Im Hinblick auf das Praktiken-Konzept ist dabei besonders wichtig: Wir blicken hier gleichsam ins Laboratorium der kommunikativen Neuerung, des Experimentierens mit neuen medialen Möglichkeiten, der zeitweisen Verfesti­ gung aber auch der Aufgabe von kommunikativen Optionen. Handlungstheore­ tische Konzeptionen stützen sich für die Modellierung solcher Entwicklungen vor allem auf Invisible-Hand-Modelle, in denen auch Innovationen und kom­ munikativen „Eintagsfliegen“ der gebührende Raum gewährt wird. Historischdynamische Denkfiguren im Rahmen der Praktiken-Theorie beziehen sich vielfach auf ähnliche Traditionen, allerdings scheint mir, dass dort eher der Gesichts­ punkt der Reproduktion und der Variation bereits vorhandener Praktiken im Vordergrund steht.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 477

Die Mailinglisten-Befunde werfen dagegen ein etwas anderes Licht auf die Auffassung, dass Praktiken „emergente“ Produkte wiederholten, routinierten Han­ delns sind. Unsere Beispiele zeigen, dass einzelne Handlungsweisen bzw. kom­ munikative Nutzungsweisen medialer Formate intentional konstruiert wurden mit spezifischen kommunikativen Zielsetzungen und in Kenntnis der Variations­ parameter und der kommunikativen Folgen ihrer Veränderung.7 Wenn Praktiken als „soziale Strukturen“, als „sozial konsentierte Routinen, die sedimentiert sind“ gefasst werden, dann fällt eigentlich der sprachhistorisch und in evolutionärer Hinsicht besonders interessante Bereich der Innovatio­ nen, der kommunikativen Versuche, der Eintagsfliegen und der kommunikativen Holzwege aus der Betrachtung heraus.8 Die kommunikative Mechanik der Inno­ vation und der Variation mit all ihren Spielarten muss aber ein zentraler Bestand­ teil der Lehre vom etablierten Sprachgebrauch und seiner Entstehung sein, in welcher Umgebung auch immer.

3.7.2  Qualitätssicherung und Kritik im Open Peer Review und Möglichkeiten des Kommunikationsdesign Qualitätssicherung und Kritik gehören zu den grundlegenden Aufgaben der Wis­ senschaftskommunikation. Im Rahmen der digitalen Wissenschaftskommunika­ tion sind auch in diesem Funktionsbereich neue Interaktionsweisen eingerichtet worden. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Open Peer Review-Verfahren der digi­ talen Open Access-Zeitschrift „Atmospheric Chemistry and Physics“ (ACP), das Gerd Fritz in einem Beitrag zum Band „Digitale Wissenschaftskommunikation“ untersucht hat (Fritz 2011b; siehe Abb. 2). Die Besonderheiten dieses Begutachtungs- und Diskussionsverfahrens beste­ hen darin, dass neben zwei anonymen Gutachter/innen auch sogenannte „Short comments“ von Wissenschaftler/innen der Gemeinschaft sowie Author comments möglich und erwünscht sind, die Diskussion findet öffentlich statt, die Gutachten und alle anderen Beiträge sind also jederzeit zugänglich, schließlich ist auch der Diskussions- und Qualitätssicherungsbereich (ACPD) zitierbar, alle Beiträge blei­ ben langfristig verfügbar und durch stabile Adressen ansteuerbar. Auch wenn ein Manuskript nicht für die Veröffentlichung in ACP akzeptiert wird, so bleiben doch die eingereichten und diskutierten Versionen verfügbar, auch die Stellung­ nahmen bleiben verfügbar und zitierbar.

7 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Nyre (2014). 8  Vgl. zu dieser Perspektive auch Gloning (2013).

478 

 Thomas Gloning

Abb. 2: Open-Peer-Review-Verfahren von ACP; Quelle: Fritz (2011b, S. 149), vgl. Pöschl (2010)

Am Beispiel der Makarieva-Kontroverse, in der es um grundlegende Fragen der Theorie der Hurrikane ging, hat Fritz (2011b) gezeigt, wie in einem vergleichs­ weise kurzen Zeitraum von acht Wochen die weitreichende These, dass die etab­ lierte Theorie der Hurrikane den Gesetzen der Thermodynamik widerspricht, im digitalen ACPD-System intensiv diskutiert wurde (vgl. auch Fritz/Gloning 2012, S. 219 ff.). An der Diskussion beteiligen sich die Autor/innen, drei Gutachter, vier weitere Teilnehmer und der Herausgeber mit einem breiten Spektrum von kom­ munikativen Zügen, so zum Beispiel mit Einwänden, die sich auf die physikali­ schen Grundlagen des Manuskripts beziehen („paper contains bad physics“). Im Hinblick auf das Praktiken-Konzept bietet diese Teilbeschreibung des Open Peer Review in „Atmospheric Chemistry and Physics“ ein weiteres Bei­ spiel für die intentionale Konstruktion von kommunikativen Verfahren, die wohl auf älteren Schemata aufsitzen, aber in wesentlichen Punkten modifiziert sind. Wenn man die Perspektive weiterführt und voraussetzt, dass das Ziel des Open-Peer-Review-Prozesses neben der Entscheidung über die Annahme zur Publikation vor allem auch die Optimierung eingereichter Manuskripte darstellt, dann kann man als weiteren Ausgangspunkt die Frage stellen, wie sich dieses Optimierungsverfahren noch weiter optimieren ließe. Ein erster Vorschlag könnte darin bestehen, ein thematisches Schema für Reviewer einzuführen, in dem eine Batterie von Beurteilungsaspekten und -kri­ terien aufgeführt ist, die ein Gutachter daraufhin überprüfen kann, ob sie für die Beurteilung eines bestimmten Manuskripts relevant sind.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 479

Ein weiterer Parameter ist die Frage nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Gutachten. In der gegenwärtigen Praxis wird ein Gutachten veröffentlicht, sobald es vorliegt. Der spätere Gutachter kennt also Tenor und Inhalt seines Vor­ gängers. Man kann sich nun fragen, ob es nicht sinnvoller wäre, die Gutachten erst dann zu veröffentlichen, wenn alle Gutachten vorliegen. Diese Veränderung könnte Folgen haben vor allem für die Unabhängigkeit der Beurteilung, aber auch für die eigenständige Entwicklung von kritischer Substanz. Im Hinblick auf die thematische Portionierung und die Kennzeichnung von kritischen Punkten kann man von den frühneuzeitlichen Streitschriften lernen. Dort war es üblich, dass die Beiträger die kritische Substanz der Kontroverse jeweils in „Punkte“ organisierten, die klar abgrenzbar und über Formen der Nummerierung auch ansprechbar waren. Es wäre technisch nicht schwer, ein digitales Gegenstück für diese frühneuzeitliche Form der Buchführung über kri­ tische „Punkte“ und den jeweiligen Stand ihrer Beantwortung einzurichten. Man kann also beim Verfahren der systematischen Variation interaktionaler Parameter auch historische Praktiken als Anregung nutzen. Sowohl die Betrachtung des ACP-Peer-Review-Verfahrens als auch meine Überlegungen zu Formen von „Kommunikationsdesign“, bei dem interaktionale Parameter gezielt und in Anlehnung an historische Praktiken im Hinblick auf kommunikative Ziele und Aufgaben verändert werden, zeigen, dass neue Hand­ lungsmöglichkeiten (Praktiken) auch geplant und ggf. intentional installiert wer­ den können. Sie sind dann nicht das ungeplante Resultat einer kollektiven sozia­ len Praxis. Gleichwohl müssen sich auch geplante kommunikative Neuerungen in der Praxis bewähren und ggf. etablieren. Die hier besprochenen Verfahren des digitalen Open Peer Review und auch viele andere digital gestützte Formate werfen weiterhin die Frage nach der Loka­ litätsthese und nach dem Raumbezug von Praktiken auf, wie sie u.a. von Penny­ cook (2010) und von Giddens (1995) vorgebracht wurden. In den meisten Fällen weiß man nicht, wo ein digitales Angebot ausgearbeitet und aufgesetzt wurde. Und man muss es auch nicht wissen. Es ist auch nicht wichtig, wo die Server stehen und welche Wege der Datenfluss nimmt. Ist es erheblich, von welchem Ort aus Mails oder andere digitale Beiträge etwa zu einem Open-Peer-ReviewVerfahren abgeschickt wurden und an welchem Ort sie gelesen werden? Ich meine nicht. Wenn man sich hier in die Redeweise von einem digitalen Raum flüchten wollte, dann wäre es nicht mehr der ursprüngliche Raumbezug mit seinen Bezügen zur Körperlichkeit, sondern eine Form der Metaphorik, die tiefgreifende Unter­ schiede etwa zu Formen der leiblichen Kopräsenz in Gesprächen verdecken würde. Das Lokale, der Raumbezug, auch das Körperlich-Leibliche verdient in der Prak­ tikendiskussion im Licht rasanter medialer Entwicklungen eine Neubestimmung.

480 

 Thomas Gloning

3.7.3  Digitale Sprachdaten und digitale Werkzeuge für die Forschung In den beiden vorhergehenden Abschnitten wurden exemplarisch mediale For­ mate und kommunikative Nutzungsweisen vorgestellt, die im Rahmen der Wis­ senschaftskommunikation instrumentell eingesetzt werden. Daneben gibt es aber auch ein weiteres Resultat, das als Konsequenz der Digitalisierung aufzufassen ist, die zunehmende Nutzung von digitalen Sprachdaten und von darauf bezo­ genen Werkzeugen, bei denen Sprache nicht das Mittel, sondern der Gegenstand der Forschung ist. Im Unterschied zur evolutionären Entwicklung von Interak­ tionsformen des Alltags werden – wie im Abschnitt 3.7.2 schon angedeutet – auch solche technisch-medialen Forschungsarrangements in der Korpuslinguistik oder in vielen Bereichen der Digital Humanities gezielt entworfen und hergestellt. Als ein Beispiel dafür, wie eine neue medial-technische Infrastruktur auch den Status und die Natur des Forschungsprozesses verändern kann, sei hier das Projekt Reproducible Research/Open Science genannt, dem sich z.B. das „Pots­ dam Mind Research Repository“ zuordnet. Die Grundidee ist es, neben den Arti­ keln mit wissenschaftlichen Resultaten auch die zugrundeliegenden Forschungs­ daten inklusive der digitalen Auswertungsprogramme und -routinen öffentlich zur Verfügung zu stellen, zu dokumentieren und Forschung damit dauerhaft reproduzierbar und ggf. auch modifizierbar zu machen: Seite: 36 The Potsdam Mind Research Repository (PMR2) provides access to peer-reviewed publica­ tions along with data and scripts for analyses and figures reported in them. We refer to these units as „paper packages“. We hope to achieve the following goals: – Document data and analyses used in our publications in a public forum. – Invite readers (a) to reproduce our analyses/figures, (b) to try out and possibly publish alternative analyses, or (c) to adopt our scripts for their own data. – Receive feedback about our scripts, both about necessary corrections of errors and more elegant alternative code. (http://read.psych.uni-potsdam.de/pmr2)

Infrastrukturprojekte wie CLARIN-D (Common Language Resources and Tech­nology Infrastructure, Deutschland) zielen darauf, digitale Ressourcen in einer nachhalti­ gen Web- und Zentren-Infrastruktur bereitzustellen und nach Möglichkeit zu inte­ grieren (http://de.clarin.eu). Auch die gezielte Integration von Sprachdaten und die planmäßige Kombinierbarkeit von digitalen Werkzeugen in aufgabenorientierten Toolchains (z.B. WebLicht) gehört genauso wie z.B. die „federated content search“,9

9 www.clarin.eu/content/federated-content-search-clarin-fcs.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 481

an der auch das Institut für Deutsche Sprache beteiligt ist, zu den Aspekten der Ent­ wicklung neuer Formate auf digitaler Grundlage. Im Lichte einer Praxisperspektive kann man sagen, dass die Werkzeugent­ wicklung im Bereich der eHumanities eine Art von Praxis ist, die neue Praktiken erarbeiten und auf wissenschaftliche Zielsetzungen beziehen soll. Man könnte hier vielleicht von einer Praktiken-Generierungs-Praxis sprechen. Viele Projekte im Bereich der eHumanities-Forschung dienen im Kern auch diesem Zweck. Die Frage, wie die Konstruktionsarbeiten an neuen digital gestützten Handlungs­ möglichkeiten bzw. Praktiken im wissenschaftlichen Alltag tatsächlich verlaufen, ist eine eigene Aufgabe für die Ethnografen dieses Handlungsbereiches.

4  Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag diskutiere ich von einem handlungstheoretischen Stand­ punkt aus, der auch sprachhistorisch-evolutionäre und mediale Erweiterungen umfasst, Vorschläge zur Rolle des Praktiken-Begriffs bzw. (im weiteren Sinne) des Praktiken-Konzepts. In einem ersten Schritt formuliere ich sieben eher kritische Thesen zu einem Ausschnitt der Praktiken-Literatur, den ich studiert habe, suche dabei auch nach Konsens und Dissens. In einem zweiten Schritt stelle ich Be­ funde zu ausgewählten Veränderungen in der Wissenschaftskommunikation seit der Erfindung des Buchdrucks bis hin zu aktuellen Entwicklungen im Zeichen der Digitalisierung dar und frage dabei, ob die bisher verfügbaren, handlungs­ theoretisch orientierten Beschreibungen durch die Anwendung des PraktikenBegriffs gewonnen hätten – eine Frage, die in weiten Teilen verneint werden muss. Leitperspektiven der Diskussion waren u.a. die Unterscheidung des Prakti­ ken-Begriffs von einer allgemeineren Praxis-Perspektive, die Frage nach der wis­ senschaftsgeschichtlichen Tradition und der Neuheit von Aspekten der Prak­ tiken-Diskussion für die sprachwissenschaftliche Forschung, die Frage nach dem Format einer integrierten sprachgebrauchsorientierten Konzeption und auch ausgewählte Aspekte des zeitlich und disziplinär differenzierten Verlaufs der praxis- bzw. praktiken-orientierten Diskussion. Das Resultat aus beiden Teilen ist eine gewisse Skepsis, ob der PraktikenBegriff die Vielfalt der bisherigen pragmatischen Konzepte und Werkzeuge inte­ grieren kann, ob seine Anwendung den vielfältigen aktuellen und historischen Kommunikationsbereichen und auch den darauf bezogenen Forschungstradi­ tionen und neuen Aufgaben gerecht wird.

482 

 Thomas Gloning

Literatur Austin, John L. (1956/1957): A plea for excuses. In: Proceedings of the Aristotelian Society 57, S. 1–30. Bader, Anita et al. (2011): Vom Überleben einer bedrohten Spezies. Untersuchungen zur Entwicklung der Nutzung wissenschaftlicher Mailinglists. In: Gloning/Fritz (Hg.), S. 87–116. Bader, Anita/Fritz, Gerd (2011): Zur Entwicklung von Formaten und Kommunikationsformen in der digitalen Wissenschaftskommunikation – eine evolutionäre Betrachtungsweise. In: Gloning/Fritz (Hg.), S. 55–86. Bateman, John A. (2008): Multimodality and genre. A foundation for the systematic analysis of multimodal documents. Basingstoke. Bauman, Richard/Sherzer, Joel (Hg.) (1974): Explorations in the ethnography of speaking. London/New York. Bourdieu, Pierre (2012): Entwurf einer Theorie der Praxis: Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. 3. Aufl. Frankfurt a.M. [Frz. Erstveröffentl. Genf 1972.] Bucher, Hans-Jürgen (1999): Sprachwissenschaftliche Methoden der Medienforschung. In: Leonhard, Joachim-Felix (Hg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. 1. Halbbd. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 15.1). Berlin/New York, S. 213–231. Bucher, Hans-Jürgen (2000): Formulieren oder Visualisieren? Multimodalität in der Medienkommunikation. In: Richter, Gerd/Riecke, Jörg/Schuster, Britt M. (Hg.): Raum, Zeit, Medium – Sprache und ihre Determinanten. Festschrift für Hans Ramge zum 60. Geburtstag. (= Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission 20). Darmstadt, S. 661–691. Bucher, Hans-Jürgen (2007): Textdesign und Multimodalität. Zur Semantik und Pragmatik medialer Gestaltungsformen: In: Roth, Kersten Sven/Spitzmüller, Jürgen (Hg.): Textdesign und Textwirkung in der massenmedialen Kommunikation. Konstanz, S. 49–76. Bucher, Hans-Jürgen (2010): Multimodalität – eine Universalie des Medienwandels: Problemstellungen und Theorien der Multimodalitätsforschung. In: Bucher/Gloning/Lehnen (Hg.), S. 41–79. Bucher, Hans-Jürgen/Gloning, Thomas/Lehnen, Katrin (Hg.) (2010): Neue Medien – neue Formate. Ausdifferenzierung und Konvergenz in der Medienkommunikation. (= Interaktiva 10). Frankfurt a.M./New York. Campbell, Neil A./Reece, Jane B. (2011): Biologie. 8., aktual. Aufl. München. Cohen, Marcel (1956): Pour une sociologie du langage. Paris. Coseriu, Eugenio (1958): Sincronía, diacronía e historia. El problema del cambio lingüístico. Montevideo. [Dt. Ausg.: Synchronie, Diachronie und Geschichte. München 1974.] Deppermann, Arnulf (2007): Grammatik und Semantik aus gesprächsanalytischer Sicht. (= Linguistik – Impulse & Tendenzen 14). Berlin/New York. Everett, Daniel (2005): Cultural constraints on grammar and cognition in Piraha. Another look at the design features of human language. In: Current Anthropology 46, S. 621–646. Everett, Daniel (2012): Language: The cultural tool. London. Feilke, Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt a.M. Fiehler, Reinhard (2003): Was sind Grundeinheiten gesprochener Sprache? Ein altes Problem und ein neuer Lösungsvorschlag. In: Sprachtheorie und germanistische Linguistik 13, S. 145–172.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 483

Fiehler, Reinhard et al. (2004): Eigenschaften gesprochener Sprache. (= Studien zur Deutschen Sprache 30). Tübingen. Frake, Charles O. (1961): The diagnosis of disease among the Subanum of Mindanao. In: American Anthropologist 63, S. 113–132. Frake, Charles O. (1964): How to ask for a drink in Subanum. In: American Anthropologist 66, 6.2, S. 127–132. Fritz, Gerd (2010): Controversies. In: Jucker, Andreas/Taavitsainen, Irma (Hg.): Handbooks of pragmatics. Bd. 8: Historical pragmatics. Berlin/New York, S. 451–481. Fritz, Gerd (2011a): Lehrreiche wissenschaftliche Kontroversen im Internet? In: Gloning/Fritz (Hg.), S. 193–204. Fritz, Gerd (2011b): Wirbelstürme im digitalen Open-Peer-Review-Verfahren. Die MakarievaKontroverse in Atmospheric Chemistry and Physics (2008/09) – Eine Fallstudie. In: Gloning/Fritz (Hg.), S. 143–174. Fritz, Gerd (2013): Dynamische Texttheorie. Gießen. Internet: http://geb.uni-giessen.de/geb/ volltexte/2013/9243/ (Stand: 15.9.2015). Fritz, Gerd/Bader, Anita (2010): Digitale Formate in der Wissenschaftskommunikation. Konstellationen und Konvergenzen. In: Bucher/Gloning/Lehnen (Hg.), S. 337–355. Fritz, Gerd/Gloning, Thomas (2012): Critique and controversy in digital scientific communication. New formats and their affordances. In: Van Eemeren, Frans H./Garssen, Bart (Hg.): Exploring argumentative contexts. (= Argumentation in Context 4). Amsterdam/Philadelphia, S. 213–231. Giddens, Anthony (1995): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. (= Theorie und Gesellschaft 1). Frankfurt a.M. Giesecke, Michael (1991): Der Buchdruck in der frühen Neuzeit: Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.M. Gloning, Thomas (1996): Bedeutung, Gebrauch und sprachliche Handlung. Ansätze und Pro­ bleme einer handlungstheoretischen Semantik aus linguistischer Sicht. (= Reihe Germanistische Linguistik 170). Tübingen. Gloning, Thomas (1999): The pragmatic form of religious controversies around 1600. A case study in the Osiander vs. Scherer & Rosenbusch controversy. In: Jucker, Andreas H./Fritz, Gerd/Lebsanft, Franz (Hg.): Historical dialogue analysis. (= Pragmatics & Beyond 66). Amsterdam/Philadelphia, S. 81–110. Gloning, Thomas (2008): „Man schlürft Schaupielkunst...“. Spielarten der Theaterkritik. In: Hagestedt, Lutz (Hg.): Literatur als Lust. Begegnungen zwischen Poesie und Wissenschaft. Festschrift für Thomas Anz zum 60. Geburtstag. (= Reihe Theorie und Praxis der Interpre­ tation 6). München, S. 59–86. Gloning, Thomas (2013): Historischer Wortgebrauch und Themengeschichte: Grundfragen, Corpora, Dokumentationsformen. In: Hafemann, Ingelore (Hg.): Perspektiven einer corpus­ basierten historischen Linguistik und Philologie. Berlin, S. 317–370. Internet: http://edoc. bbaw.de/volltexte/2013/2448 (Stand: 15.9.2015). Gloning, Thomas (i.Ersch.): Textkomposition und Multimodalität in Thurneyssers Buch über die Erdgewächse (1578). Eine Erkundung. In: Schuster, Britt-Marie/Dogaru, Dana (Hg.): Wirksame Rede im Frühneuhochdeutschen. Syntaktische und textstilistische Aspekte. Festschrift für Monika Rössing-Hager. Frankfurt a.M. Gloning, Thomas/Fritz, Gerd (Hg.) (2011): Digitale Wissenschaftskommunikation. Formate und ihre Nutzung. Gießen. Internet: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2011/8227 (Stand: 15.9.2015).

484 

 Thomas Gloning

Gren, Friedrich Albrecht Carl (Hg.) (1790): Journal der Physik. Jahr 1790. Erster Band. Halle/ Leipzig. Grice, Herbert P. (1989): Studies in the way of words. Cambridge, MA/London. Gross, Alan G./Harmon, Joseph E./Reidy, Michael (2002): Communicating science. The scientific article from the 17th century to the present. Oxford. Habel, Thomas (2007): Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung: Zur Entstehung, Entwicklung und Erschliessung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. (= Presse und Geschichte 17). Bremen. Hanks, William F. (1987): Discourse genres in a theory of practice. In: American Anthropologist 14, S. 668–692. Hanks, William F. (1996): Language & communicative practices. (= Critical Essays in Anthropo­ logy). Oxford/Boulder. Heringer, Hans Jürgen (1999): Das höchste der Gefühle. Empirische Studien zur distributiven Semantik. (= Stauffenburg Linguistik 15). Tübingen. Heringer, Hans Jürgen et al. (1977): Einführung in die Praktische Semantik. Heidelberg. Heritage, John (2011): Conversation analysis: Practices and methods. In: Silverman, David (Hg.): Qualitative research. Issues of theory, method and practice. 3. Aufl. Los Angeles, S. 208– 230. Hymes, Dell (Hg.) (1964): Language in culture and society. A reader in linguistics and anthro­ pology. New York/Evanston/London. Keller, Rudi (1990): Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. Tübingen. Keller, Rudi (1995): Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens. Tübingen/Basel. Koch, Robert (1877): Untersuchungen über Bacterien. VI. Verfahren zur Untersuchung, zum Conserviren und Photographiren der Bacterien. In: Cohn, Ferdinand (Hg.): Beiträge zur Biologie der Pflanzen. Bd. 2. Breslau, S. 399–434. Tafeln Photogramme im Lichtdruck XIV, XV, XVI. Kress, Gunther (2009): What is mode? In: Jewitt, Carey (Hg.): The Routledge handbook of multimodal analysis. London/New York, S. 54–67. Labov, William (1972): Rules for ritual insults. In: Sudnow, David (Hg.): Studies in social inter­ action. New York, S. 120–169. Linke, Angelika (2011): Signifikante Muster – Perspektiven einer kulturanalytischen Linguistik. In: Wåghäll Nivre, Elisabeth et al. (Hg.): Begegnungen. Das 8. Nordisch-Baltische Germanistentreffen in Sigtuna, 11.–13.6.2009. (= Stockholmer germanistische Forschungen 74). Stockholm, S. 23–44. Malinowski, Bronislaw (1923): The problem of meaning in primitive languages. In: Ogden, Charles K./Richards, Ivor A.: The meaning of meaning: A study of the influence of language upon thought and of the science of symbolism. New York, S. 296–336. Malinowski, Bronislaw (1984): Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea. Frankfurt a.M. [Engl. Erstveröffentlichung London 1922.] Mondada, Lorenza/Schmitt, Reinhold (Hg.) (2010): Situationseröffnungen. Zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion. (= Studien zur Deutschen Sprache 47). Tübingen. Muckenhaupt, Manfred (1986): Text und Bild. Grundfragen der Beschreibung von Text-BildKommunikationen aus sprachwissenschaftlicher Sicht. (= Tübinger Beiträge zur Linguistik  271). Tübingen.



Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft 

 485

Muckenhaupt, Manfred (1999): Die Grundlagen der kommunikationsanalytischen Medienwissenschaft. In: Medienwissenschaft. In: Leonhard, Joachim-Felix (Hg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. 1. Halbbd. (= Hand­ bücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 15). Berlin/New York, S. 28–57. Niemann, Robert (2015): Attributive Junktion in der Wissenschaftssprache. Eine praxistheore­ tische Betrachtung. In: Hennig, Mathilde (Hg.): Junktion in der Attribution: Ein Komplexitätsphänomen aus grammatischer, psycholinguistischer und praxistheoretischer Perspektive. (= Linguistik – Impulse & Tendenzen 62). Berlin, S. 239–282. Nyre, Lars (2014): Media design Method: Combining Media Studies with Design Science to make New Media. In: The Journal of Media Innovations 1, 1, S. 86–109. Paul, Hermann (1920): Prinzipien der Sprachgeschichte. 5. Aufl. Halle a.d.S. [Erstveröffentl. Halle a.d.S. 1880.] Pennycook, Alastair (2010): Language as a local practice. London/New York. Pöschl, Ulrich (2010): Interactive Open Access Publishing and Peer Review: The Effectiveness and Perspectives of Transparency and Self-Regulation in Scientific Communication and Evalutation. In: Liber Quarterly 19, S. 293–314. Reckwitz, Andreas (2003): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32, S. 282–301. Schatzki, Theodore R. (1996): Social practices. A Wittgensteinian approach to human activity and the social. Cambridge. Schatzki, Theodore R. (2001): Introduction. In: Schatzki, Theodore R./Knorr Cetina, Karin/von Savigny, Eike (Hg.): The practice turn in contemporary theory. London, S. 1–14. Schatzki, Theodore R. (2002): The site of the social. A philosophical account of the constitution of social life and change. University Park, PA. Schegloff, Emanuel A. (1972): Notes on a conversational practice: Formulating place. In: Sudnow, David (Hg.): Studies in social interaction. New York, S. 325–345. Schegloff, Emanuel A. (1997): Practices and actions: Boundary cases of other-initiated repair. In: Discourse Processes 23, S. 499–545. Schlieben-Lange, Brigitte (1983): Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung. Stuttgart. Schmidt, Jürgen Erich (2010): Language and space: The linguistic dynamics approach. In: Auer, Peter/Schmidt, Jürgen Erich (Hg.): Language and space. An international handbook of linguistic variation. 1. Halbbd.: Theories an methods. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 30.1). Berlin/New York, S. 201–225. Schröder, Thomas (2003): Die Handlungsstruktur von Texten. Ein integrativer Beitrag zur Texttheorie. Tübingen. Statuta Collegii Sapientiae (1497 [1957]). Faksimile, mit einer Einführung hrsg. v. J.H. Beckmann. Lat. Text besorgt und ins Deutsche übers. von R. Feger. Lindau/Konstanz 1957. Steinseifer, Martin (2011): Die Typologisierung multimodaler Kommunikationsangebote – Am Beispiel der visuellen Aspekte seitenbasierter Dokumente. In: Habscheid, Stephan (Hg.): Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Berlin/New York, S. 164–189. Strecker, Bruno (1987): Strategien des kommunikativen Handelns: Zur Grundlegung einer Grammatik der Kommunikation. (= Sprache der Gegenwart 73). Düsseldorf. Streeck, Jürgen (2001): Praxeologie. Neue Wege materialistischer Sprachwissenschaft. In: Gruber, Helmut/Menz, Florian (Hg.): Interdisziplinarität in der Angewandten Sprachwissenschaft. Methodenmenü oder Methodensalat? (= Sprache im Kontext 10). Frankfurt a.M., S. 33–56.

486 

 Thomas Gloning

Stukenbrock, Anja (2015): Deixis in der face-to-face-Interaktion. (= Linguae & Litterae 47). Berlin/München. Thurneysser zum Tuhrn, Leonhart (1578): Historia Vnnd Beschreibung Jnfluentischer/ Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen/ Aller fremden vnnd Heimischen Erdgewechssen/ auch jrer Subtiliteten/ sampt warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen ... Berlin. Wittgenstein, Ludwig (1984): Werkausgabe. Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. Ylönen, Sabine (2001): Entwicklung von Textsortenkonventionen: Am Beispiel von Originalarbeiten der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW). (= Leipziger FachsprachenStudien 15). Frankfurt a.M.