Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs
 9783412217280, 9783412221522

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Heiko Christians, Matthias Bickenbach, Nikolaus Wegmann (Hg.) Judith Pietreck, Josef Ulbig (Redaktion)

HISTORISCHES WÖRTERBUCH DES MEDIENGEBRAUCHS

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien ∙ 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildungen: vorn (von links nach rechts): Alfred Ehrhardt. Titel: „Iberus gualterianus L., Südost-Spanien, 1940/41“. Silbergelatine. © Alfred Ehrhardt Stiftung. Titel: „Epidauros Theater , Greece“. Bild: barbar34/Shutterstock. Radioteleskop Stockert, Bad Münstereifel, 1956. Bild: Telefunken/ Deutsches Technikmuseum Berlin, Sig. I.2.060 COL 57.0015. hinten (von links nach rechts): Rangierbahnhof Nürnberg, August 1957. Bild: DB Museum/Deutsche Bahn Stiftung. Titel: „Parlophon C. Lindström – Schalldose #2, Bild: HPhotowerk, Hendrik Peusch. Titel: „Antique typewriter“. Bild: toadberry/Shutterstock.

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Judith Pietreck, Josef Ulbig, Potsdam Einbandgestaltung: Christina Bretschneider, Potsdam Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Printed in the EU ISBN 978-3-412-22152-2

Inhaltsverzeichnis

  7 Gebrauchsanweisung  11 Begriffsgeschichte als Gebrauchs­g eschichte   33 ABHÄNGEN   47 ADRESSIEREN   55 ARCHIVIEREN   69 AUFZEICHNEN   90 BEDIENEN 105 BENACHRICHTIGEN 125 BILDEN 135 BLÄTTERN 149 BLOGGEN 162 DIGITALISIEREN 179 EDIEREN 195 EINRICHTEN 209 FASZINIEREN 225 FERNSEHEN 241 FILMEN 253 FORMATIEREN 268 FUNKEN 288 GAMEN 297 INSZENIEREN 322 KANALISIEREN 332 KLICKEN 342 KNIPSEN 352 KOMPILIEREN 369 KOPIEREN 382 KRITZELN 393 LESEN 412 LIKEN 429 LÖSCHEN

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445 NACHAHMEN 463 PROTOKOLLIEREN 482 SCHREIBEN 498 SERIALISIEREN 521 SKIZZIEREN 535 SPEICHERN 556 STALKEN 564 SURFEN 573 TELEFONIEREN 585 TEXTVERARBEITEN 596 TIPPEN 612 TWITTERN 621 WIEDERHOLEN 641 WISCHEN 653 ZAPPEN 666 ZEICHNEN 687 ZERSTREUEN 703 ZITIEREN 717 Personenregister

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Gebrauchsanweisung

Nachschlagewerke versprechen einen einfachen Zugang zu Wissen. Effizient und leicht zugänglich, eignen sie sich für die schnelle Orientierung. Weniger selbstverständlich ist, dass unser HISTORISCHES WÖRTERBUCH DES MEDIENGEBRAUCHS nicht als Datenbank publiziert wird, sondern ausgerechnet in Buchform – und das angesichts einer unübersehbaren Vielfalt an Medien. Doch das Format Buch ist nur dort überholt, wo man es als simplen Container für Wissen versteht. Das Buch kann mehr. Die Herausgeber haben sich für das Buch entschieden, weil es handlich ist. Das bezieht sich nicht nur auf das Haptische, sondern auch auf die leichte Verwendbarkeit in bestimmten Kontexten. Das Wörterbuch ist gedacht für die Lehre und das Selbststudium in den vielen Studiengängen im Bereich Medien. Das schließt den nicht-akademischen Leser nicht aus, im Gegenteil. Als Buch soll es den Leser anregen, vom je eigenen Gebrauch der Medien her sich auf eine Geschichte des Mediengebrauchs einzulassen, auf seine vielfältigen Formen, auf seine praktische Definitionsmacht in der Welt der Medien. Das Buch kann einen neuen Blick auf das Bekannte werfen, benachbarte Einträge in Reichweite bringen und so den Leser allererst zum interessierten Leser werden lassen. Dass es dafür keine Garantie gibt, ist den Herausgebern bewusst. Hilfestellung gibt die Struktur der einzelnen Artikel. Alle Lemmata zielen auf einen notwendigen Grad an Abstraktion zwischen bloßer Empirie und überambitionierter Theorie, der im Hinblick auf den Gebrauch die unterschiedlichsten disziplinären Ansätze versammelt. Mediale Gebrauchsweisen werden weder reduziert auf quantitative Messungen und Statistiken noch werden sie wegabstrahiert in das idiosynkratische Vokabular eines Meisterdenkers. Nicht zuletzt: Die Artikel verlieren sich nicht in Details, die allein noch Experten etwas sagen. Der Aufbau der Beiträge folgt einer Heuristik, die zuverlässig auf Problemstellungen und deren politisch-soziale, technische und historische Kontexte hinführt. Als verbindliches Verfahren für alle Artikel gesetzt, ermöglicht diese Heuristik eine vergleichende Beobachtung unterschiedlicher medialer Gebrauchsweisen.

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Jeder Artikel beginnt mit der Anekdote. Das können überraschende und gerade darin aufschlussreiche Erzählungen sein, die ihr Material aus der Literatur, der Politik, der Historie oder dem Alltag nehmen. Als signifikante Story führt diese Geschichte in den Gegenstand ein, erweckt als unerwarteter Fund die Neugierde und regt so zum Weiterlesen an. Das ist der Ort, an dem die Gebrauchsweisen wie nirgends sonst anschaulich werden. Mediale Praktiken sind nicht in simplen Daten und Belegen archiviert, sie sind vielmehr erst aus Geschichten herauszulesen. Zusammen mit der Etymologie der Begrifflichkeit ist die Anekdote – neben den konkreten Gebrauchsformen – der rote Faden des Artikels. Die historische Dimension der jeweiligen Gebrauchsweise wird weiter erschlossen durch die überlieferten (Gebrauchs-) Kontexte des Begriffs und die Konjunkturen, welche Schwankungen im semantischen Feld, aber auch eines technoiden oder (alternativ) alltagsförmigen Sprachgebrauchs anzeigen. Schließlich werden in einem weiteren Schritt Gegenbegriffe zur jeweils untersuchten Praxis abgesteckt und erkundet. Am Beispiel: Wenn es eine medien- und kulturkritische Schimpfrede gegen „zerstreuen“ gibt, dann findet sich immer zugleich das Lob für das dagegen gesetzte „konzentrieren“. Ein Historisches Wörterbuch bleibt nicht im Vergangenen, schließlich wird das Wissen aus der Gegenwart heraus gewonnen. Jeder Artikel führt am Ende die jeweils behandelte Problemlage einer konkreten Medienpraxis bis in die Gegenwart und ihre notorisch unübersichtlichen Verhältnisse. Gebündelt wird das in Überlegungen zu Perspektiven der Anwendbarkeit des vorher versammelten Wissens. An diese Einschätzung knüpft sich die Skizzierung der Forschung, die aus dem Artikel heraus motiviert ist. Literaturempfehlungen regen eine Fortführung der Lektüre an. Verweise orientieren innerhalb des Wörterbuchs, mit einer vollständigen Bibliografie endet jeder Artikel. Das klassische enzyklopädisch-alphabetische Register suggeriert Abgeschlossenheit und Repräsentativität, die es bei den hier zu erschließenden alten und neuen medialen Umgebungen, den sich ständig wandelnden Formen des Gebrauchs, nicht geben kann. Allein durchgängig ist, nach einem Wort Hans Freyers von 1965, eine permanente „Veränderung der Normalitätsgrundlagen des gesellschaftlichen Lebens durch den Einbruch der neuen Technik“. Technik ist nicht nur das in Patente gegossene Wissen des Ingenieurs oder Tüftlers, Technik ist auch die konkrete Handhabung der Maschinen durch Anwender und Nutzer. In der ausschließlichen Konzentration auf die konkreten Formen

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des Mediengebrauchs steckt eine eigenständige analytische Perspektive: Der Gebrauch wird als medienhistorischer Widerpart zur bloßen Maschinentechnik und ihrer bestimmungsgemäßen Verwendung ins Spiel gebracht. Medien sind das, was ihr Gebrauch aus ihnen erst macht. Mit dieser gegen-intuitiven Setzung nehmen wir hier ein altes Buch- und Wissensformat auf, um es den aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Dass die Herausgeber sich für diese Heuristik entschieden haben, hat auch mit der Lage der Medienwissenschaft zu tun. Deren schneller Aufstieg ist unstrittig spektakulär. Doch dieser Erfolg muss erst noch gesichert werden. Vielleicht kann das nun vorliegende HISTORISCHE WÖRTERBUCH DES MEDIENGEBRAUCHS zur Konsolidierung beitragen – als Arbeit an den für jedes Fach unvermeidlichen disziplinären Grundbegriffen. Ganz analog hat sich die Soziologie nach dem Ersten Weltkrieg das „Gerippe“ (Max Weber) solcher Grundbegriffe gegeben. In der Medienwissenschaft gibt es noch keinen Kanon der Grundbegriffe. Ein Kandidat für einen solchen Kanon, so die Arbeitshypothese für dieses Wörterbuch, ist der Begriff des Mediengebrauchs. Mit seiner Hilfe kann es gelingen, die Welt der Medien dort zu beobachten, wo die sprichwörtliche Dynamik der Medien evident wird: in vorderster Linie. „Unterhaltungsindustrie ist in jedem Wortsinn Missbrauch von Heeresgerät.“ Friedrich Kittlers großer Satz zitiert nicht nur den Topos, wonach der ‚Krieg Vater aller Dinge‘ ist. Als Aphorismus mit epistemologischem Mehrwert gelesen, ist Kittlers Satz das historische Exempel auf die definitorische Macht des Mediengebrauchs. Ursprünglich für das Militär ent­ wickeltes Heeresfunkgerät wird umgenutzt zu Unterhaltungszwecken. Statt Befehlen wird Musik übertragen. Medienapparate, so der Lehrsatz Kittlers, lassen sich auch gegensinnig zu einem ersten Verwendungszweck benutzen. Jeder neue und andere Gebrauch kann wieder weitere, nicht minder gewichtige Erfolge zeitigen. Das nun vorliegende Wörterbuch will daher auch nicht die korrekten oder auch nur geläufigen Gebrauchsweisen aufführen oder gar dem Leser als Orientierung empfehlen. Vielmehr soll deutlich werden, dass selbst noch der am weitesten verbreitete Mediengebrauch stets nur eine Möglichkeit ist, mit einem Medium umzugehen. Innovation und Kreativität stecken nicht nur im technischen Apparat, sie gibt es auch auf der Seite des Mediengebrauchs.

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Die einzelnen Beiträge des Wörterbuchs setzen nicht bei der Frage an, was Medien eigentlich sind, wie sich Buch, Schrift oder Videospiel voneinander unterscheiden. Auch interessieren nicht die Grundlagen analoger oder digitaler Kodierung von Medien. Einträge wie Intermedialität oder Information wird man hier vergebens suchen. Stattdessen eröffnet die Verbform den Blick auf die Wechselwirkung zwischen Medien und ihrem Gebrauch. Diese komplexe Relation ist als solche nicht theoriefähig. Machbar ist allein eine historische Analyse von Einzelgeschichten, ohne Anspruch auf einen übergeordneten Zusammenhang. Wir sind überzeugt, dass das vorliegende Wörterbuch zur Aufbereitung eines breit gefächerten medienwissenschaftlichen Wissens das richtige Format darstellt. Die Vorgabe einer verbindlichen Heuristik als Grundgerüst für jeden Einzelbeitrag verlangt eine intensive Kooperation zwischen Beiträgern und Herausgebern. Die Herausgeber und die Redaktion danken den Verfassern, dass sie diese aufwändige Abstimmung auf sich genommen haben. Die Herausgeber

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Begriffsgeschichte als Gebrauchs­geschichte HEIKO CHRISTIANS

ZUR DIDAKTIK  Im Jahr 1938 erschien im renommierten New Yorker Verlag

William Morrow eine umfangreiche revolutionsgeschichtliche Studie des 1933 aus Deutschland vertriebenen Staatsrechtslehrers, Soziologen und Historikers Eugen Rosenstock-Huessy.1 Unter dem Titel OUT OF REVOLUTION. AN AUTOBIOGRAPHY OF WESTERN MAN beabsichtigte der Autor nichts Geringeres, als den Grundstein für ein „dictionary of Europe’s cultural and political language“2 zu legen. Für das Projekt gab er seinen Zeitgenossen eine damals etwas seltsam anmutende Begründung: „This is of immediate practical importance in the days of radio.“3 Rosenstock-Huessy hatte das Buch als Zeichen und Programm seiner Ankunft in der Neuen Welt geschrieben. Er hatte mit ihm aber auch ein neues Kapitel der Universalgeschichtsschreibung in jenem historischen Augenblick aufgeschlagen, in dem der amerikanische Wirtschafts- und Marinehistoriker Robert G. Albion erstmals – wie er eigens betonte – aus rein didaktischen Gründen die Phrase von der Communication Revolution prägte: „in helping the student to visualize and coordinate historical movements and influences“4. Die 1931 noch in Deutschland erschienene Vorgängerschrift von OUT OF 5 REVOLUTION sollte sich aufgrund der radikal gewandelten kulturellen und

1 Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973) hatte von 1923 bis 1933 den Lehrstuhl für Rechts-

geschichte, Bürgerliches Handels- und Arbeitsrecht an der Universität Breslau inne. Nach einer Zwischenstation 1934 als Kuno Francke Lecturer in German Art and Culture an der Harvard University lehrte Rosenstock ab 1935 bis zum Eintritt in den Ruhestand 1957 Sozialphilosophie am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire. 2 Rosenstock-Huessy: Out of Revolution, S. 11. 3 Ebd. 4 Albion: The Communication Revolution. In: The American Historical Review, S. 718. Später konkretisierte er seine Vorstellung: „This ‚revolution‘, which began in the England of George III with canals and turnpikes, later developed the steamboat, railway, telegraph, cable, telephone, automobile, and airplane, and still continues with radio and television.“ [Hall/Albion: A History of England and the British Empire 1937, S. 506]. Vgl. dazu heute Behringer: Im Zeichen des Merkur, S. 643–688. 5 Rosenstock-Huessy: Die europäischen Revolutionen.

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politischen Kontexte Europas in der Neuen Welt schnell als unübersetzbar erweisen. Aber auch der theoretische Kontext hatte sich zwischen 1931 und 1938 gewandelt, wie der Autor selbstkritisch anmerkt: „Though treating the same problem with the old method of the romantic historical school“6. Das neue Buch setzte in theoretischer Hinsicht – stark vereinfacht gesprochen – das Wörterbuch an die Stelle des Volkscharakters. In noch heute faszinierenden Exkursen führt Rosenstock-Huessy den amerikanischen Leser darin in die politische, soziale und ästhetische Sprach- und Ideengeschichte so grundlegender europäischer Wortfelder wie révolution – Revolte – Revolutionär7, mundus – Westen – western world, Topik – Erörterung – debate – discussion, polis – policey – Polizei oder Landschaft – country – county ein. Aber der Autor situierte nun – wie Robert G. Albion – das politische Grundvokabular in einer je spezifischen medialen Umgebung: „Each inspired form of society must reshape its environment before it can begin to influence the world.“8 EPOCHENBILDUNG ODER MEDIALE UMGEBUNG?  Die Einbettung eines

politischen Grundvokabulars in medial geprägte Umgebungen wurde – beginnend mit Harold A. Innis’ in den späten 1940er Jahren gehaltenen Oxforder Vortragsreihe EMPIRE AND COMMUNICATIONS9 – schließlich in unseren Tagen auch zum medienbewussten Standardrepertoire der Kultur-, Sozialund Politikwissenschaften. Kaum eine Studie kommt heute mehr ohne den einleitenden Hinweis aus, dass „wir in einer Welt leben, deren verschiedene nationale und regionale Kontexte durch Staaten und Medien unterschiedlich strukturiert werden“10.

6 Ders.: Out of Revolution, S. 11. 7 Vgl. dazu auch ders.: Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit. 8 Ders.: Out of Revolution, S. 291. Das ist ein Grundgedanke, den Marshall McLuhan wir-

kungsmächtig verbreitete und der heute – ähnlich breit ausgeführt – etwa bei Moran: Introduction to the History of Communication, zu finden ist. 9 Innis: Empire and Communications. Innis diente während des Ersten Weltkriegs in der kanadischen Armee als Artilleriefunker. Zu seiner Biografie und zur Geschichte (und dem Misserfolg) der von Innis gehaltenen Beit-Lectures an der Universität Oxford im Jahr 1948 vgl. Watson: Marginal Man: The Dark Vision of Harold Innis und ders.: General Introduction. In: Innis, Harold A.: Empire and Communications, S. 14f. 10 Appadurai: Die Geographie des Zorns, S. 13.

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Tatsächlich aber ist es nach wie vor schwer, politische und kulturelle Prozesse wie die Nationwerdung oder die Globalisierung und spezifische mediale Praktiken und Infrastrukturen differenziert und produktiv ins Verhältnis zu setzen. Benedict Anderson schrieb 1983, über dreißig Jahre nach Harold A. Innis und fast 20 Jahre nach Marshall McLuhans Klassiker über die GUTENBERG11 12 GALAXIS , mit seinem Werk IMAGINED COMMUNITIES eines der wenigen Erfolgsbücher über die medialen Strukturen, Praktiken und Prozessualitäten, die solchen politischen Großbewegungen zugrundeliegen. Dass etwa Romankultur und politische Kultur im Vermittlungsmodus der (massenhaft ermöglichten) Individuallektüre etwas miteinander zu tun haben, wies Anderson eindrucksvoll am Beispiel der Staats- und Nationwerdung Indonesiens nach. Die Standardisierung einer überregionalen Hochsprache durch den Buchdruck und die gleichzeitige Öffnung eines imaginären nationalen Raumes im Bewusstsein der Leser durch das Identifikationsangebot mit einem Helden, der diesen Raum stellvertretend wahrnimmt und ‚durchwandert‘, waren Konstituenten eines neuen Blicks auf den Nationalismus, den Anderson – im Rückgriff auf McLuhan – einrichtete. McLuhan hatte in Fortführung von Innis’ Werk schon 1964 festgehalten, dass „die politische Vereinigung von Völkerschaften nach Idiom und Sprache ausgerichtet“ undenkbar war, bevor „der Druck jedes Idiom zu einem umfassenden Massenmedium machte“.13 Man ahnt die theoretischen Schwierigkeiten, mit denen ein ähnlich ambitionierter Blick auf die gegenwärtige, diffusdialektische Prozessualität von Globalisierung und medialen Praktiken in Zusammenhang mit dem World Wide Web zu kämpfen hat. Eine bis heute relativ geringe Zahl solcher Studien findet ihre Erklärung darin, dass erfolgreiche Medientechniken bzw. -formate und die Gebrauchsformen oder Umgangsweisen mit ihnen nicht einfach mit epochalen, religiösen, politischen oder philosophischen Ideen und den diese Ideen anzeigenden Begrifflichkeiten zur Deckung zu bringen sind.

11 McLuhan: The Gutenberg Galaxy. Marshall McLuhan war ein Kollege von Harold Innis

an der University of Toronto und schrieb 1964 das Vorwort zur 2. Auflage von Innis’ Werk THE

BIAS OF COMMUNICATION von 1951.

12 Anderson: Imagined Communities. 13 McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, S. 193.

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Kurt Flasch stellte noch vor Kurzem zu seiner und unserer Verwunderung fest, dass verschiedene, renommierte historische Großprojekte im Falle der Frühen Neuzeit gleich ganz auf die Erwähnung Johannes Gutenbergs und des Buchdrucks verzichteten.14 Substantivische Schlagworte für Haltungen oder auch maschinelle Innovationen setzen offenbar leichter Epochen an als verba­lisierte Praktiken in diesen Strukturen. Der Blick auf die Gebrauchsformen und Umgangsweisen aber ermöglicht eine neue Durchlässigkeit zwischen ‚Zeitaltern‘: „Wir würden“, schreibt Lothar Müller, „die Mediengeschichte besser begreifen, wenn wir uns von der starren Opposition von Buchkultur und Internet lösen. Und stattdessen beginnen würden, den Verbindungslinien nachzuspüren – zwischen den Kulturtechniken der Digitalisierung und denen der Papiertechnologie.“15 EIN BEISPIEL  Geht man etwa von den Begriffen der ‚Nachfolge‘ oder ‚imitatio‘

einerseits und dem Prinzip der ‚Nachahmung‘ andererseits aus, ordnen wir das Feld möglicher Materialien und Zusammenhänge (zu) schnell nach religiösen und säkularen Perioden der Geschichte: hier die inbrünstig-weltlose und v. a. handschriftliche Nachfolge des Mittelalters – dort die soziale Anpassung und Überbietung mittels Nachahmung des schon industrialisierten 19. Jhs., wie sie etwa in den Werken von René Girard umfassend analysiert wurde.16 Gehen wir indessen von der Praxis eines sogenannten identifikatorischen Mediengebrauchs, z. B. von jener Praxis des ‚Sich-(lesend-)in-jemanden-Hineinversetzens‘ aus, erblicken wir im Kern ganz verschiedener epochaler Zielbegriffe häufig eine vergleichbare Praxis. Ein Selbstbericht Claude Lanzmanns über seine Sartre-Lektüre hat das noch einmal eindrucksvoll vorgeführt: „Für uns Zwanzigjährige waren ‚Die Wege der Freiheit‘ eine Pflichtlektüre, die nach ‚Nachahmung‘ rufen im gleichen Sinn, in dem der heilige Franz von Sales von

14 Vgl. Flasch: Ideen und Medien. In: Gutenberg-Jahrbuch, S. 27. 15 Müller: Stiller Teilhaber. In: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, S. 66. Vgl. auch die Kapitel

‚Parchment and Paper‘ und ‚Paper and the Printing Press‘. In: Innis: Empire and Communications, S. 141–217. Für eine Anwendung im Zeichen der Metapher Navigation in Informationsfluten zwischen Bücher-Bildung und ‚surfing the internet‘ vgl. Bickenbach/Maye: Metapher Internet. 16 Vgl. Girard: Deceit, Desire, and the Novel.

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der ‚Nachahmung Jesu Christi‘ spricht, einem Übermaß an Hingabe, das sich im Handeln fortsetzen muss, in unserem Handeln.“17 GRUNDBEGRIFFE  Nach dem Zweiten Weltkrieg war es im deutschen Sprach-

raum verschiedenen disziplinären Projekten hervorragender Wissenschaftler vorbehalten, die Anregungen Rosenstock-Huessys systematisch und umfassend auszuarbeiten. Fast zeitgleich mit dem Erscheinen von OUT OF REVOLUTION konzipierte der Historiker Otto Brunner Ende der 1930er Jahre die Umrisse der erst ab 1972 erscheinenden, insgesamt acht ingeniösen Bände der 18 GESCHICHTLICHEN GRUNDBEGRIFFE. Unterstützt wurde er nach dem Krieg dabei zunächst von Werner Conze, der – zeitgleich mit regelmäßigen Gastprofessuren Rosenstock-Huessys an der Universität Münster zwischen 1951 und 1957 – dort tätig war.19 Conze las über neuere amerikanische Geschichte, Rosenstock-Huessy über die ‚Gesetze der christlichen Zeitrechnung‘.20 Die einzelnen Artikel der GESCHICHTLICHEN GRUNDBEGRIFFE wurden so konzipiert, dass man es mit kleinen, äußerst gehaltvollen Monografien zum angeführten Stichwort zu tun hat. Allein der Artikel ‚Gesellschaft, Gemeinschaft‘ von Manfred Riedel ersetzt die Lektüre ganzer Bibliotheken.21 Er hatte seinen berühmtesten Vorgänger wohl in Ferdinand Tönnies’ Beitrag ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘ für das von Alfred Vierkandt 1931 herausgegebene voluminöse HANDWÖRTERBUCH DER SOZIOLOGIE.22 Es war v. a. diese von

17 Lanzmann: Der patagonische Hase, S. 198. 18 Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in

Deutschland, Stuttgart (1972–1997). Vgl. Horn Melton: Otto Brunner und die ideologischen Ursprünge der Begriffsgeschichte. In: Joas/Vogt (Hrsg.): Begriffene Geschichte, S. 124. 19 Vgl. Dunkhase: Werner Conze, S. 68–75. 20 Vgl. Rosenstock-Huessy: Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung und ders.: Das Geheimnis der Universität. 21 Vgl. Riedel: (Art.) Gemeinschaft. In: Brunner et al. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, S. 801–862. 22 Tönnies: (Art.) Gemeinschaft und Gesellschaft. In: Vierkandt (Hrsg.): Handwörterbuch der Soziologie, S. 180–191. Nicht zu unterschätzen für die Vorgeschichte der genannten Wörterbuchprojekte sind Heinrich Wölfflins KUNSTGESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE von 1915. Diese fordern einleitend eine an Alois Riegls Monografie zur ‚Spätrömischen Kunstindustrie‘ von 1901 geschulte „Verfeinerung der begrifflichen Werkzeuge“. [Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. VIII].

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Reinhart Koselleck, dem dritten Herausgeber der GESCHICHT­LICHEN GRUNDBEGRIFFE, in Auseinandersetzung mit den Schriften Ferdinand Tönnies’ und Carl Schmitts Ende der 1960er Jahre dann ausgearbeitete (polemische) asymmetrische ‚Gegenbegrifflichkeit‘ politisch-kultureller Semantiken, die eine spezifische Schubkraft und Aktivität der Begrifflichkeiten selbst voraussetzte.23 Ein Hinweis auf die gemeinschaftsbildende und -entzweiende Kraft medialer Praktiken allerdings fehlte hier wie dort.24 JENSEITS VON FACHWÖRTERBUCH UND REINER THEORIE  Zum gleichen

Zeitpunkt startete Joachim Ritter das HISTORISCHE WÖRTERBUCH DER PHILOSOPHIE, das ebenfalls bis heute seinesgleichen sucht. Auch hier sind umfassende Begriffsgeschichten entstanden. Unser Wörterbuch kann auf seinem Gebiet nicht einmal ansatzweise das leisten, was den genannten Werken auf den ihren gelang, auch wenn wir uns an der Länge und Durchdringungsintensität ihrer Artikel orientieren wollen. Wenn wir aber – nahezu analog zu unserer eigenen Liste – im HISTORISCHEN WÖRTERBUCH DER PHILOSOPHIE einen Eintrag ‚Wiederholung‘25 schon vorfinden, müssten wir uns davon absetzen können. Wir möchten das in dem Bewusstsein leisten, dass – z. B. im Falle der ‚Wiederholung‘ – die substantivierende Verschlagwortung einer Praxis oft genug dazu verführt, unter dem betreffenden Rubrum nur eine paraphrasierend-chronologische Auslegung prominenter Theorien oder Stellen ‚von Kierkegaard bis Deleuze‘ zum Thema zu versammeln. Diese scheinen dann jeweils immer schon bestimmten Epochen anzugehören, deren etablierten Auslegungsprämissen

23 Vgl. Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In:

Weinrich (Hrsg.): Positionen der Negativität, S. 65–104. Vgl. dazu auch Mehring: Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt. In: Joas/Vogt (Hrsg.): Begriffene Geschichte, S. 156f. und Lübbe: Begriffsgeschichte als dialektischer Prozess. In: Archiv für Begriffsgeschichte XIX, S. 8–15. Fast parallel erarbeitet Raymond Williams unter dem Titel CULTURE AND SOCIETY einen weiteren Entwurf der Begriffsgeschichte für den anglo-amerikanischen Raum [Williams: Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte.], der schon wesentlich früher in eine mediengeschichtliche Ansicht transformiert wurde [vgl. ders.: Televison; und ders.: Communications Technologies and Social Institutions. In: Ders. (Hrsg.): Contact, S. 225–238]. 24 Vgl. Koselleck: Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels. In: Bödeker: Begriffsgeschichte, S. 31–47. 25 Vgl Theunissen/Hühn: (Art.) ‚Wiederholung‘. In: Ritter, Bd. 12, Sp. 738–746.

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sie sich dann umso leichter unterwerfen lassen. Dem gegenüber setzen wir mit der Verb- und Gebrauchsform Ansichten des Wiederholens in den Mittelpunkt, die zwar Gemeinsamkeiten aktueller und historischer Erörterungen reflektieren, aber technische Differenzen im Zeichen des Mediengebrauchs ebenso deutlich markieren – jenseits von Fachwörterbuch und reiner Theorie. Ein ‚Wörterbuch‘, das explizit auf die Medien zielt, ist natürlich keine Neuigkeit: Es gibt beispielsweise ein (zweisprachiges) FACHWÖRTERBUCH 26 27 HÖRFUNK UND FERNSEHEN , ein MEDIA AND COMMUNICATION DICTIONARY oder ein DICTIONARY OF COMMUNICATION AND MEDIA STUDIES 28. Es gibt längst medienwissenschaftliche Veröffentlichungen, die sich gleich selbst mit einem umfangreichen ‚Glossar‘ ausstatten.29 Aber was ist im Falle von Wörterbüchern und Handbüchern von 500 Einträgen auf 300 Seiten zu halten, die nicht einmal kategorial unterschieden werden? Was ist im Falle von Fachlexika davon zu halten, dass sie Einträge zu Theorien, Theorieschulen, Au­torennamen, Institutionen und Namen von Konsortien oder Stars auf engstem Raum aneinanderfügen und durcheinandermengen? Welchen Nutzen bieten sie – über ein schnelles informatives Nachschlagen hinaus –, wenn man ein zusammenhängendes historisches Wissen über zentrale, gewachsene und sich weiterentwickelnde mediale Strukturen und Praktiken erwerben will? Natürlich sind dies rhetorische Fragen, aber festzuhalten bleibt zumindest, was es bisher nicht gibt: Ein Wörterbuch, das ‚die Medien‘ systematisch und begrifflich in Ansichten von Formen und Operationen ihres Gebrauchs auffächert, welche gleichzeitig umfassend und womöglich vergleichend historisch hergeleitet werden. Damit kann ein bestimmter Effekt erzielt werden: Mediale Aktivitäten, die normalerweise ganz in der Aktualität eines spezifischen technischen Standards aufzugehen scheinen (bzw. als überkommen gelten), erhalten ihre Geschichte (bzw. ihre Gegenwart) zurück. Durch die Annäherung über die Formen des Gebrauchs wird vermieden, dem Wortfeld schon klar abgezirkelte, theoretische oder historische Konturen zu verleihen und aus solchen Ergebnissen vorschnell Epochen zu konstruieren. 26 Tillmann (Hrsg.): Fachwörterbuch Hörfunk und Fernsehen. 27 Kleinman: The Media and Communication Dictionary. 28 Watson/Hill (Hrsg.): A Dictionary of Communication and Media Studies. 29 Vgl. Engelbert: Global Images, S. 109–171.

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Vielleicht ist die artikelweise Herangehensweise entlang medialer Gebrauchsformen und ihrer Geschichte auch eine Alternative zu den ausführlichen Monografien oder den heterogenen Sammelwerken einerseits und den unzähligen einführenden Klassiker-, Theorie- oder Konzeptübersichten andererseits, die häufig weder die Anwendungsebene noch die historische Grundlegung ihres (sekundären) Blicks auf ‚die Medien‘ besonders wichtig nehmen, nur um die möglichst dichte und konsistente Paraphrase einer ausgewählten und kapitelweise aufbereiteten ‚Theorie‘ nicht zu gefährden. Der Fokus scheint bei ihnen geradezu reflexhaft immer wieder auf die Theorie(n) oder je aktuelle Forschungskontexte zu fallen, die dann als ein den Gegenständen erst Bedeutung verleihender Generalnenner fungieren. Theorien scheinen gegenüber den Formen des Gebrauchs immer noch einen höheren Orientierungswert zu haben, indem sich mit den Namen ihrer Begründer auch Markierungen auf der politisch-ethischen Landkarte der Wissenschaften ergeben. Diese Markierungen erleichtern zweifellos eine Entscheidung im unübersichtlichen Dschungel der Methoden, Theorien und Turns30. Doch auch eine zweite, zunächst naheliegende Alternative soll hier noch verhandelt werden: Was ist mit einer universal oder zumindest überblickshaft angelegten ausführlichen Gesamtmediengeschichte31 oder -chronik32, einer Institutionen- oder Strukturgeschichte33? Wir befürchten, dass hier höchstens noch am Rande Platz fände, was in diesem Wörterbuch gerade als geschichtenförmige Ansicht zentraler, medialer Gebrauchsformen zu Ehren kommen soll.34 Wir setzen deshalb auf eine Mischform der aufklärerischen Tradition

30 Zu diesen Turns gibt es unterdessen ebenso Handbücher wie zu einzelnen ‚Klassikern‘: Vgl.

etwa Bachmann-Medick: Cultural Turns. und Parr (Hrsg.): The Deleuze Dictionary Revisited Edition. 31 Leonhard et al. (Hrsg.): Medienwissenschaft; Hans-Bredow-Institut (Hrsg.): Internationales Handbuch Medien. und Noelle-Neumann/Schulz/Wilke (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik. Vgl. auch Hörisch: Der Sinn und die Sinne. 32 Hiebel et al. (Hrsg.): Große Medienchronik. 33 Segeberg (Hrsg.): Mediengeschichte des Films. 34 Vgl. Wegmann: Der Original-Ton. In: Maye/Reiber/ders. (Hrsg.): Original / Ton, S. 15–24.

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des Dictionnaire und einer ‚Theorie in Geschichten‘, um einmal eine berühmte Formel Wilhelm Schapps wiederzugeben.35 Solche Fall- und Theoriegeschichten36, festgemacht an einer populären Formel des Gebrauchs, vermeiden gerade eine ‚reine Theoriegeschichte‘. Die strikte Gegenüberstellung von Nutzer und Medium, von Theorie und Gegenstandsbereich, von Gebrauch und Gerät, von Geschichte und Gegenwart sowie von Geschichte und Geschichten wird aufgehoben: „Unter diesem Gesichtspunkt“, hält der Historiker Michel de Certeau 1987 fest, „unterscheidet sich der gelehrte Diskurs nicht mehr von den weitschweifigen Erzählungen unserer AlltagsHistoriographie. Er gehört zu jenem System, das mithilfe von ‚Geschichten‘ die gesellschaftliche Kommunikation und die Bewohnbarkeit der Gegenwart organisiert.“37 VOM GEBRAUCH  Es gilt nun den Begriff des Gebrauchs zu situieren: Hier und

da gibt es zwar Schriften, die den Begriff des ‚Mediengebrauchs‘ ausdrücklich in den Mittelpunkt (ihres Titels) stellen, doch zu einer konzeptuellen Gesamtansicht des Medialen wird er nicht ausformuliert.38 Auch die Begriffe der Praktik39, der

35 Vgl. Schapp: Philosophie der Geschichten. 36 Vgl. Lübbe: (Art.) Geschichten. In: Ritter, Bd. 3, Sp. 403f. Zur ‚Fallgeschichte‘ vgl. Bartz:

Publizistische Fallgeschichten. In: Schneider/dies. (Hrsg.): Formationen der Mediennutzung I: Medienereignisse, S. 35–43; Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit. In: Blaseio/Pompe/ Ruchatz (Hrsg.): Popularisierung und Popularität, S. 63–92; Neumeyer: ‚Schwarze Seelen‘. In: IASL, S. 101–132. 37 Certeau: Theoretische Fiktionen, S. 66. 38 Vgl. Schöttker (Hrsg.): Mediengebrauch und Erfahrungswandel oder Nitsch/Teuber (Hrsg.): Vom Flugblatt zum Feuilleton. 39 Der Begriff der medialen Praktiken ruft einerseits die komplexen und voraussetzungsreichen diskurstheoretischen Arbeiten Michel Foucaults auf und er hebt andererseits v. a. auf ein Potenzial der Medien ab, den etablierten modernen Kunstbegriff zu erweitern und die eigene Theoriearbeit dann endgültig an die experimentelle Ästhetik der performative arts anzuschließen. Dann aber wird Theorie zu einem Konzept von Mediengestaltung, dass sich explizit künstlerischen Kriterien verpflichtet sieht, aber nicht mehr nur ein wissenschaftliches Interesse umsetzt. Das Register der Traditionen wird ausgetauscht. Entsprechende Konzeptualisierungen in Forschung und Lehre heißen dann Experimentelle Medienwissenschaft oder Künstlerische Forschung.

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(Medien-)Nutzung40 oder der (Kultur-)Technik41 garantieren keine ausreichende Freiheit von Vorentscheidungen eines übergeordneten Theoriegebäudes, die es ihnen noch erlauben würde, sich diesen „Phantomen“ (M. de Certeau) auf möglichst bewegliche und vorurteilsfreie Weise zu nähern. Über die Möglichkeiten der Fragestellung entscheidet also – wie so oft – schon der Sprachgebrauch mit. Mit dem Begriff des Mediengebrauchs wird daher hier an eine Frage angeknüpft, die sich periodisch stellt, wenn der Umgang mit Medien und das Leben in medialen Umwelten näher analysiert werden soll. José Ortega y Gasset sprach in seiner posthum veröffentlichten Soziologie DER MENSCH UND DIE LEUTE von einem „Ozean von Bräuchen […]. Sie bilden sensustricto unsere Umgebung, unsere gesellschaftliche Umwelt.“42 Für zunehmend (medien-)technisch geprägte Umwelten ist das Konzept von Brauch und Gebrauch insofern besonders geeignet, als es seit den Arbeiten Max Webers – v. a. seit seinem später sogenannten Werkkomplex WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT – eine starke, noch laufende Formalisierung in Richtung auf den Gebrauch erfährt: „Eine tatsächlich bestehende Chance einer Regelmäßigkeit der Einstellung sozialen Handelns“, schreibt Weber 1921, „soll heißen Brauch, wenn und soweit die

40 Vgl. Schneider (Hrsg.): Formationen der Mediennutzung. Der Begriff Mediennutzung sug-

geriert eine Art zielstrebige Realisierung eines (unterhaltungs-)ökonomischen Kalküls mittels Medien oder versucht alternativ gerade mit der nüchternen Semantik der Nutzung (als NichtVerwertung) eine besondere Sachlichkeit des Blicks auf die medialen Verhältnisse zu etablieren. Der Begriff wird – ähnlich wie hier – zwar oft zunächst von anderen Begriffstraditionen abgesetzt, findet seine Beobachtungs-Beschränkung aber häufig in der Fixierung auf das Verhältnis und die Erkenntnisprozessualität zwischen Subjekt und Einzelmedium. 41 Das Konzept der Kulturtechniken versucht einerseits mit dem Synonym ‚Körpertechniken‘ (Marcel Mauss) eine Re-Anthropologisierung der Medienwissenschaft und ist andererseits nicht exklusiv darauf verpflichtet, den Mediengebrauch medienkulturgeschichtlich und fallbeispielhaft zu kontextualisieren, sondern ihn auf basale kulturelle Operationen – wie Rechnen, Schreiben oder Zeichnen – zurückzuführen [vgl. Schüttpelz: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken. In: Engell/Siegert/Vogl (Hrsg.): Archiv für Mediengeschichte, S. 87–110. Dagegen schreibt Siegert: Cacography or Communication? Cultural Techniques in German Media Studies. In: greyroom, S. 27–47. Das Konzept schon resümierend: Maye: Was ist eine Kulturtechnik? In: ZMK, S. 121–135]. Damit entfällt aber streng genommen die Geschäftsgrundlage für das vorliegende Projekt, das eben nicht fixe Sets von Rechenoperationen oder von Schreibdispositiven am Grund der verschiedensten Kulturen ermittelt, sondern eine materialgesättigte polyphone Medienkulturgeschichte des Gebrauchs ansteuert. 42 Ortega y Gasset: Der Mensch und die Leute, S. 263.

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Chance ihres Bestehens innerhalb eines Kreises von Menschen lediglich durch tatsächliche Übung gegeben ist. Brauch soll heißen Sitte, wenn die tatsächliche Übung auf langer Eingelebtheit beruht.“43 Theodor Geiger wird dieses Konzept 1947 in seinen VORSTUDIEN ZU EINER SOZIOLOGIE DES RECHTS aufgreifen und beschreibt (am Leitfaden Max Webers) Sitte und Brauch als „zweckmäßige Gebarensmodelle, die Verhalten und Orientierung in einem jeweils spezifischen Milieu regulieren“44. Allein schon wenn wir die Weberschen Unterbegriffe von Regelmäßigkeit, Übung und Eingelebtheit ­herausgreifen, und Geigers Begriffe Modell, Orientierung und Milieu hinzunehmen, entsteht eine aufsteigende Begriffspalette, die wie von selbst auf die Beschreibung technischer Umwelten und ihrer routiniert-regelhaften Realisierung im Gebrauch hinausläuft. Eingelöst wurde diese Beschreibung dann erstmals 1957 in der auf breiter empirischer Grundlage angelegten industriesoziologischen Studie TECHNIK UND INDUSTRIEARBEIT von einem Team um den Soziologen Heinrich Popitz. Es lieferte – finanziert von der Rockefeller Foun­dation und betreut von Walther G. Hoffmann, Carl Jantke und Reinhart Koselleck – zwischen 1953 und 1954 eine akribische Analyse der „Arbeit als Verhalten zum technischen Gegenstand“ und seiner „einzelnen Grade der Habitualisierung“ am Beispiel der zunehmenden Maschinisierung der Hüttenindustrie.45 Wenige Jahre später sollte die Analyse von Arbeit als ‚Verhalten zum technischen Gegenstand‘ einer erneuten Revision unterzogen werden. Die bis heute zu verzeichnende Veränderung einer maschinellen Umwelt hin zu einer technischen Infrastruktur, in der „bereits ein minimaler Kontakt – ja sogar ein Telekontakt – all das in Bewegung zu setzen vermag, was die fortschrittlichste Technologie dem Computer an Möglichkeiten mitgegeben hat“46, wurde früh registriert. Genauso frühzeitig wurden in genau diesem Zusammenhang auch die Grenzen der Habitualisierungs-Kategorie gesehen. Der Begriff der Habitualisierung47

43 Weber: Soziologische Grundbegriffe, S. 51. 44 Zit.n. Korff: Kultur. In: Bausinger et al.: Grundzüge der Volkskunde, S. 25. Vgl. dazu Geiger:

Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 95ff. 45 Vgl. Popitz et al. (Hrsg.): Technik und Industriearbeit, S. VI, 112, 121. 46 Moles: Design und Immaterialität. In: Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein, S. 169. 47 Den vorgängigen Begriff ‚Habitus‘ hat Josef Pieper philosophiegeschichtlich situiert. Vgl. Pieper: Tugendlehre als Aussage über den Menschen. In: Ders.: Tradition als Herausforderung, S. 154f.

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war auch deswegen in die Diskussion eingegangen, da sich um die alten Begriffe ‚Brauch‘ und ‚Gebrauch‘ – mit der Hinzunahme der ‚Verbrauchs-Kategorie‘ unter dem Schlagwort ‚waste economy‘ – diesseits und jenseits des Atlantiks gerade eine erbitterte Auseinandersetzung um die richtige Charakterisierung der ‚westlichen Zivilisation‘ anbahnte, die einige politische Denker vor dem gänzlichen Aufgehen in Kategorien des Verbrauchs bewahren wollten: „Die Welt, das Haus“, schreibt etwa Hannah Arendt 1958, „das der Mensch sich selbst auf Erden baut und verfertigt von dem Material, das die Natur der Erde ihm in die Hand gibt, besteht nicht aus Gütern, die verbraucht und verzehrt werden, sondern aus Gegenständen und Dingen, die gebraucht werden können.“48 Michel de Certeau erläutert den Zusammenhang von ‚Brauch‘ und ‚Gebrauch‘ 20 Jahre später dann zwar noch einmal mit einem deutlichen Akzent in Richtung auf eine Kritik der Konsumgesellschaft, aber er machte gleichzeitig den Versuch, das ursprünglich volkskundliche Konzept des ‚Brauchs‘ aus seiner Nähe zum ‚Gebrauch‘ heraus zu erläutern. Zumindest damit wird er zu einem wichtigen Anreger des hier vorgelegten Wörterbuchs: Die Formen des Gebrauchs […] bezeichne ich als ‚Bräuche‘, auch wenn dieses Wort meistens die stereotypen Prozeduren bezeichnet, die von einer Gruppe übernommen und reproduziert werden, also ihre ‚Sitten und Gebräuche‘. Das Problem liegt in der Doppeldeutigkeit des Wortes, denn es handelt sich gerade darum, in diesen ‚Bräuchen‘ Handlungen oder ‚Aktionen‘ […] zu erkennen, die ihre eigene Form und Erfindungskraft haben und die insgeheim die ameisenhafte Tätigkeit des Konsums organisieren.49 DIE NATÜRLICHKEIT DER TECHNIK  Webers, Geigers und Popitz’ Konzept

der Habitualisierung wird als ausformulierte Disziplin zuerst von der sich modernisierenden deutschen Volkskunde in den 1960er Jahren aufgegriffen.50 Das verheißungsvolle Konzept der Gebrauchsform war zuvor in den

48 Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 158f. 49 Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 79. Ein Überblick zur riesigen Brauch- und Gebräuche-

Forschung in der Volkskunde liefert Heilfurth: Volkskunde. In: König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, S. 181f. 50 Unbedingt erwähnt werden muss auch Hans-Dieter Bahrs Pionier-Studie ÜBER DEN UMGANG MIT MASCHINEN von 1983. Bahr: Über den Umgang mit Maschinen, S. 151f. u.ö.

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ideologisch-toten Seitenarm der Volksform überführt worden.51 Aus politischer Brauchtumskunde wird eine moderne Gebrauchskunde und Technikforschung.52 Die Webersche Unterscheidung von Übung und Eingelebtheit wird nun gerade produktiv zusammengezogen, um die Natürlichkeit und Umwelthaftigkeit der neuen Technik zu analysieren. „Es wird dann plötzlich klar“, schreibt der Begründer der modernen Volkskunde (als Ethnographie des Alltags) in Deutschland, Hermann Bausinger, daß die ‚Natürlichkeit‘ der Technik nicht daraus entsteht, daß man diese völlig beherrschte, sondern daß sie Ergebnis der Gewöhnung und des Umgangs ist. Jetzt zeigt es sich, daß man den technischen Ablauf nicht durchschaut. Ein Kind erschrickt, wenn es zum erstenmal die Taste des Rundfunkgeräts drückt und Musik antwortet; aber nachdem es sich an diese Antwort gewöhnt hat, erschrickt es ebenso, wenn sie einmal aus irgendwelchen Gründen ausbleibt. In der Lage dieses Kindes befindet sich jeder, sobald ein gewohnter technischer Vorgang, den er im Grunde nicht versteht, aus irgendeiner Ursache unterbrochen wird.53

Greifen wir Bausingers Idee der umweltkonstituierenden eingelebten Undurchschaubarkeit des medientechnischen Gebrauchs auf.54 Es ist die alte Frage, ob man sich technischer Medien lediglich bedient bzw. sie nutzt oder ob der Umgang mit Medien – ähnlich wie der Umgang mit Menschen – das Wesen, den Charakter, die Gattung formt, die sich hier neu stellt.55

51 Vgl. Dexel: Deutsches Handwerksgut, S. 12ff. 52 Vgl. Homepage Kulturwissenschaftliche Technikforschung. Unter: http://technikforschung.­

twoday.net/ [aufgerufen am 27.06.2013] und den wunderbaren Text von Fickers: Design als ‚mediating interface‘. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, S. 199–213. Unter: http://onlinelibrary. wiley.com/doi/10.1002/bewi.200701252/pdf [aufgerufen am 01.07.2013]. 53 Bausinger: Volkskultur in der technischen Welt, S. 43. Derselbe Gedanke (am selben Beispielmedium entwickelt) findet sich schon bei Hagemann: Vom Mythos der Masse, S. 292. 54 Zum Umwelt-Begriff vgl. den Auszug aus einer leider unveröffentlichten Vorlesung Josef Piepers WELT UND UMWELT von 1950. [Pieper: Welt und Umwelt. In: Ders.: Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Grundstrukturen menschlicher Existenz. In: Ders. Werke in 8 Bänden, S. 180–206]. 55 Erstaunlicherweise hat sich die als eigene Forschungsrichtung längst etablierte Environmental History der Umwelt als einer zunehmend medientechnisch geprägten und konstituierten Umwelt noch kaum angenommen [vgl. etwa Simmons: Global Environmental History; Mosley: The Environment in World History; Radkau: Natur und Macht].

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Die Zentrierung um den Gebrauch jedenfalls versperrt die alten Reflexe, Medien pauschal entlang praxisferner Demarkationslinien anzusiedeln. Diese Linien hatten bisher Fortschrittlichkeit (als Interaktivität beispielsweise) von Schädlichkeit (als passive Berieselung) abgetrennt. Damit wäre eine zentrale, kulturindustriell grundierte Unterscheidung aus der (Medien-)Theorie vom Tisch. Aber welche Möglichkeiten, Rückkopplungen und Determinationen erfährt das Denken und Handeln derjenigen Menschen dann, die sich spielerisch-euphorisch, unbewusst oder auch nüchtern-gewinnorientiert einem täglichen Umgang mit der Technik, d. h. mit der Medientechnik, aussetzen? Heutige Entwicklungen, wie das moderne 3D-Kino oder der auf beliebige Oberflächen projizierbare Touchscreen, stellen uns eine (neue) Körperlichkeit des Mediengebrauchs in Aussicht, die in direktem Zusammenhang mit der Leichtigkeit zu stehen scheint, die der User täglich, weltweit und millionenfach an den Tag legt, wenn es beispielsweise darum geht, eine virtuelle Identität in sozialen Netzwerken zu hinterlegen. Wie man heute weiß, hat auch diese Leichtigkeit eine Rückseite: Der Kontrollverlust über die eingestellten Daten droht unmittelbar. Der Schrecken darüber stellt sich beim Benutzer allerdings immer noch plötzlich ein. Der Mediengebrauch ist tatsächlich keine isolierte und temporäre Inanspruchnahme eines technischen Geräts, sondern verschaltet oder verstrickt den Benutzer mit technischen Infrastrukturen, die zunehmend z. B. als gewaltige, aber störungsanfällige, anonyme Daten- und Warenlogistik ins Bewusstsein der User treten. In der Abwesenheit des selbstverständlichen Funktionierens wird plötzlich spürbar, dass wir längst vollständig abhängig sind von einer perfekt organisierten ‚Supply Chain‘, die unser Leben prägt – von der privaten Reiseplanung bis zu den Marktbewegungen ganzer Volkswirtschaften. Die Logistik ist deshalb die DNA einer globalisierten Welt.56

Die kulturwissenschaftliche Forschung – deshalb wird hier eine tagesaktuelle Quelle zitiert – kommt mit den Analysen dieser Verhältnisse nur langsam nach.57

56 Engelke/Osswald: Pantarhei – alles fließt. In: Die Welt, S. 2. Zum Forschungsstand selbst vgl.

Neubert: ‚The End oft the Line‘. In: Bublitz et al. (Hrsg.): Unsichtbare Hände Automatismen in Medien-, Technik- und Diskursgeschichte, S. 191–214; Dommann: Handling, Flowcharts, Logistik. In: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte, S. 75–103. 57 Vgl. aber Laack: Infrastrukturen. In: König (Hrsg.): Alltagsdinge, S. 81–91. 24

Der Mediengebrauch als nur halbbewusste, eingeübte und schließlich eingelebte Interaktionsroutine mit sich wandelnden technischen Umwelten wird aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu einem kulturstiftenden stabilisierenden Gebarensmodell (Th. Geiger) des Menschen. Dass die neueste Geräte-Generation der Computertechnologie den Gebrauch wieder in quasi-natürliche Gesten des Zeigens, Herüberziehens und Nachformens bringt, erscheint wie eine ironische Reminiszenz der Hypertechnologie an die Anthropologie. Die Entwicklung ist hier so rasant, dass sich Begriffe für diese Gebrauchsweisen kaum mehr etablieren: Die sanfte, teilende, wischende oder ziehende Fingerkuppenbewegung auf den Displays der iPhones hat – anders als das Klicken oder Tippen – keinen stabilen Begriff mehr ausgeprägt, bis heute keine einheitliche Benennung mehr erfahren: „Unsere Gewißheiten sind Bestandteile unserer Körper.“58 Umso dringlicher müssen diese Gesten, Techniken, Interaktionen beschreibbar gemacht und historisiert werden.59 Es müssen zwischen der übermächtigen Umwelt und den ungezählten Einzelnen Einübungen, Routinen, Ebenen und Prozesse ausgemacht werden, die weder Anonymität androhen noch Intimität versprechen, sondern Beschreibbarkeit gewährleisten. Unser Wörterbuch will die kultur- und medienwissenschaftliche Beschreibbarkeit ansteuern, die die Phantome (M. de Certeau) der Gebräuche transparenter machen, welche uns mit der Umwelt verbinden – und mit welchen wir unsere Umwelten, einer unausweichlichen materialen Dialektik gehorchend, konstituieren. ANEKDOTEN UND FALLGESCHICHTEN  Solche Aufhebungen von etablierten Unterscheidungen werten auch das Anekdotische auf.60 Es ist für den ehemaligen Artillerieoffizier Eugen Rosenstock-Huessy deshalb weit mehr als ein Detail, dass die Bolschewiki nach ihrem Sieg vom 7. November 1917 in Petrograd schon am 12. November vom (zurück-)eroberten Radio-Sender ZarskojeSelo aus „ihre Leitartikel ‚an alle‘ funken“61. Für Rosenstock-Huessy ist dies

58 Gebauer: Hand und Gewißheit. In: Kamper/Wulf (Hrsg.): Das Schwinden der Sinne, S. 248.

Dazu auch Stingelin/Thiele (Hrsg.): Portable Media; Robben/Schelhowe (Hrsg.): Begreifbare Interaktionen. 59 Für einen beschreibenden Ansatz vgl. Flusser: Gesten. 60 Vgl. Weber: Anekdote. 61 Marcu: Lenin, S. 274. Der vollständige Funkspruch ist abgedruckt in: Lenin: Werke, S. 265. Dazu ausführlicher Figes: Die Tragödie eines Volkes, S. 509ff. Zum (immer noch) „morsealphabetischen“ Funkspruch vom November 1917 vgl. Schrage: ‚Anonymes Publikum‘. In: Gethmann/ 25

eine logische medienstrategische Maßnahme, die sich in einer langen Kette revolutionshistorischer Kontexte stetig wiederholt: „The Russian broadcasts in 1917 ‚to all‘ men are no more universal than the Lutheran pamphlets written for all Christians or the English Great Remonstrance addressed to the public.“62 Dieses Detail der Russischen Revolution ist dem Autor von OUT OF REVOLUTION im Übrigen so wichtig, dass er es 28 Jahre später – wenige Jahre vor seinem Tod – erneut hervorholt, um es noch zu ergänzen und aus ihm die ‚Öffentlichkeit‘ als mediale Praxis abzuleiten: Als die Bolschewiki 1917 ihre Funksprüche an Alle in die Welt funkten, als die deutschen Funker 1918/19 beim Zusammenbruch einen eigenen Funkerstaatssekretär verlangten und zu seiner Erzwingung mit dem Streik drohten, da trat nicht die menschliche Sprache in den einzelnen zurück; vielmehr wurde ein neues Vervielfältigungsmittel dem Buche angereiht und wurde ‚politisch‘ wichtig.63

Dieser neue Posten eines ‚Funkerstaatssekretärs‘ wurde am 1. April 1921 mit dem Ingenieur, Ministerialdirektor im Reichspostministerium und späteren Vorsitzenden der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft Hans Bredow, der in diesem Jahr auch den Begriff ‚Rundfunk‘ prägte, besetzt.64 Schließlich aber wird sichtbar, dass diese aus verschiedenen anekdotischen Beständen rekonstruierte Geschichte, in der sich die Zeitungsredaktion durch den Funkverkehr ersetzt sah, von einigen bolschewistischen Theoretikern, Akteuren und Praktikern selbst schon in geradezu McLuhanscher Manier verstanden wurde: Ein schnelleres, effektiveres Medium hat immer ein anderes älteres und langsameres zum Inhalt und das schnellere hatte sich das langsamere Prinzip als „Mittel zu freier Transformation“65 angeeignet – oder in

Stauff (Hrsg.): Politiken der Medien, S. 179. Die Adressierung des Funkspruchs ‚An alle! An alle!‘ untersucht medienhistorisch Schneider: Radiophone Praktiken des (Selbst-)Regierens in der Weimarer Republik. In: Dies./Otto (Hrsg.): Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung, S. 37f. 62 Rosenstock-Huessy: Out of Revolution, S. 467f. 63 Rosenstock-Huessy: Buch und Funk. In: Hundert Jahre Kohlhammer 1866–1966, S. 253f. 64 Vgl. dazu Lerg: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik, S. 38ff. Zu Funktechnik und Kriegsführung im Ersten Weltkrieg informiert umfassend Kaufmann: Kommunikationstechnik und Kriegsführung 1815–1945, S. 260–278. 65 Valéry: Cahiers/Hefte, S. 23.

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den noch einfacheren Worten Lenins: Man hatte ‚eine Zeitung ohne Papier‘ kreiert, wie dieser am 2. Februar 1920 in einem kurzen Brief an den ehemaligen zaristischen Fernmeldeoffizier und Leiter des ‚Radio-Laboratoriums Nischni-Nowgorod‘ Michail Alexandrowitsch Bontsch-Brujewitsch schreibt: Ich benutze die Gelegenheit, Ihnen für die große Arbeit, die Sie auf dem Gebiet der Radioerfindungen leisten, meine tiefe Dankbarkeit und Sympathie auszudrücken. Die Zeitung ohne Papier und ‚ohne Entfernungen‘, die Sie schaffen, wird eine großartige Sache sein. Ich verspreche Ihnen, Sie bei dieser und bei ähnlichen Arbeiten in jeder Weise und nach Kräften zu unterstützen.66 WORT- UND SACHGESCHICHTEN  Der Leipziger Soziologe und Historiker

Hans Freyer, der als Emeritus zwischen 1953 und 1963 (wiederum zeitgleich mit Conze und Rosenstock-Huessy) an der Universität Münster lehrte, prägte 1959 aus einem konservativen Verständnis der Industriegesellschaft (und gleichzeitig als ein weiterer deutscher Pionier der Industriesoziologie neben RosenstockHuessy67) die kulturkritische Formel vom Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft, um die spezifische etymologische und semantische Dynamik dieses Begriffsfeldes näher zu untersuchen. Dabei nahm sich Freyer das Wort ‚schalten‘ zuerst vor und wechselte damit schon frühzeitig in das von uns favorisierte aktivische Register möglicher Einträge in ein historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. „Es hing noch vor 150 Jahren mit walten zusammen“, beginnt er, um seinen Ausführungen noch eine Klassiker-Lektüre vorschalten zu können, das Subjekt eines Schaltens und Waltens war etwa die züchtige Hausfrau in Schillers Lied von der Glocke, und jedenfalls schaltete man nicht irgend etwas, sondern man schaltete irgendwo, irgendworin, in einem Tätigkeitsbereich, im Raum einer Verantwortung. Heute ist das Verbum schalten klar transitiv geworden, und es hat sich auf technische Verrichtungen konzentriert. […] Der andere, korrelative Prozeß, gleichfalls in allen heutigen Sprachen im Gang, besteht darin,

66 Lenin: Briefe, S. 134. Zu Michail Alexandrowitsch Bontsch-Brujewitsch (1888–1940) vgl.

den gleichnamigen Artikel in Jäger (Hrsg.): Lexikon der Elektrotechniker, S. 49f.

67 Vgl. Rosenstock: Der Lebensraum des Industriearbeiters. In: Fürstenberg (Hrsg.): Industrie-

soziologie I: Vorläufer und Frühzeit 1835–1934, S. 219–228 und ders.: Vom Industrierecht.

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daß Worte, die in der Technik ihren Ursprung haben, weit über sie hinausgreifen und dann z. B. auch seelische Zustände, sittliche Haltungen, soziale Beziehungen und Verhältnisse bezeichnen können. So etwa Einstellung, Leerlauf, Friktion, ankurbeln, auslösen und hundert andere. Beide Prozesse können sich übrigen auch durchdringen und überlagern.68

Diese korrelativen Prozesse der Sprachumbildung in (hoch-)technischen Umgebungen nennt der österreichisch-kroatische Philosoph Ivan Illich 20 Jahre später ‚technische Kreolisation‘.69 Er hebt aus ihnen allerdings noch einmal ‚Schlüsselwörter‘ heraus, denen er – wie etwa der Vokabel ‚Transport‘ – die suggestive, den „Anschein von common sense“ vermittelnde Bezeichnung von „Grundbedürfnissen“70 unterstellt. Beiden Beobachtungen ist unübersehbar ein kulturkritischer Vorbehalt eingeschrieben.71 Wir wollen die produktive Kraft dieser denkerischen Tradition nicht in Frage stellen, sind aber der Meinung, dass wir es hier auch mit der spezifischen Produktivität eines weitverzweigten Diskurses industrieller und postindustrieller Gesellschaften zu tun haben, den man nun zeitgemäß fortsetzen sollte.

68 Freyer: Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriel-

len Gesellschaft. In: Ders.: Gedanken zur Industriegesellschaft, S. 131f.

69 Zu Illichs wissenschaftlicher Biografie vgl. Kaller-Dietrich: Ivan Illich (1926–2002). Eine

problematische Fortsetzung erfährt Illichs Arbeit u. a. in Pörksen: Plastikwörter.

70 Illich: Genus, S. 12. 71 Die beiden Texte von Illich und Freyer haben – auch in ihren Entstehungsbedingungen –

mehr gemein, als man vermuten würde. Freyers gesammelte ‚Gedanken zur Industriegesellschaft‘ erscheinen erst 1970. Illichs Analyse des ‚Transports‘ als eines ‚Schlüsselwortes‘ der Industrialisierung geht zurück auf seine umfassende Analyse des Verkehrs als einer ‚Technologie mit hohem Energieverbrauch‘, die er in seiner Schrift ‚Energie und Gerechtigkeit‘ 1970 und 1971 am Center for Intercultural Documentation in Cuernavaca (Mexiko) entwickelte und 1973 in ‚Le Monde‘ erstmals veröffentlichte. Vgl. Illich: Energie und Gerechtigkeit. In: Ders.: Fortschrittsmythen, S. 73–112. Illichs zweite umfangreiche Schrift aus dieser Periode, TOOLS FOR CONVIVIALITY (1973), legt eine gemeinsame Quelle von Freyers und seinen Überlegungen zu ‚Technik und Industrialisierung‘ nahe: Lewis Mumfords materialreiches Buch TECHNICS AND CIVILISATION (1934) bzw. sein Spätwerk THE MYTH OF THE MACHINE, das zwischen 1967 und 1970 erschien. Vgl. Illich: Selbstbegrenzung, S. 53. 28

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A JANNES SCHWENTUCHOWSKI

ANEKDOTE  Als Ende Januar 2008 zwei wichtige Internet-Seekabel vor der

Küste Ägyptens von einem Schiffsanker durchtrennt werden, verringert sich die Bandbreite im Nahen Osten und in Indien massiv. Die Süddeutsche Zeitung berichtet am 1. Februar auf Seite 1 nicht zuletzt über die akute Beeinträchtigung des Wirtschaftslebens in der Region.1 Ein Folgebericht im Wissensteil beschäftigt sich tags darauf mit der „Verwundbarkeit des Internets“ und den damit einhergehenden Unwägbarkeiten der Globalisierung – allein das Outsourcing von Dienstleistungen amerikanischer und britischer Unternehmen nach Indien habe ein geschätztes jährliches Volumen von etwa 35 Milliarden Euro.2 Schließlich erscheint am 4. Februar eine kurze Agenturmeldung über ein weiteres beschädigtes Datenkabel, dieses Mal vor der Küste Dubais, quasi folgerichtig im Wirtschaftsteil.3 Ungefähr zwei Monate später ist auch eine fiktive Kleinstadt im US-Bundesstaat Colorado plötzlich vom Internet abgeschnitten.4 Unter den Bewohnern von SOUTH PARK bricht Panik aus, zumal die Ursache für den Netzausfall unergründlich scheint: „There’s no Internet to find out why there’s no Internet!“5 Nach Tagen des vegetativen Ausharrens entschließt sich die Familie Marsh, nach Kalifornien aufzubrechen, wo es Gerüchten zufolge noch Internetzugang gibt. Es entwickelt sich eine Parodie von John Steinbecks „Great Depression“Klassiker THE GRAPES OF WRATH (FRÜCHTE DES ZORNS), in der jedoch weniger wirtschaftliche als vielmehr individuell-psychologische Probleme im Mittelpunkt stehen: Tochter Shelly etwa verzweifelt an der vom Internetausfall bedingten Trennung von ihrem Onlinefreund, mit dem sie, als sie ihn schließlich

Anekdote  abhängen

ABHÄNGEN

1 Vgl. Martin-Jung: Asien offline. Vor Alexandria zerreißt ein Anker die Internet-Haupt­

leitung. In: SZ, 01.02.2008, S. 1.

2 Vgl. ders.: Tröpfeln in der Leitung. In: SZ, 02./03.02.2008, S. 22. 3 Vgl. AFP: Weitere Kabelpanne. In: SZ, 04.02.2008, S. 19. 4 Vgl. Parker/Stone: South Park: Over Logging. Season 12, Episode 6. Dt. Titel d. Folge:

Keine Verbindung.

5 Ebd. (Ausgesprochen durch Gerald Broflovski.)

33

Etymologie  abhängen

im kalifornischen Internet-Flüchtlingslager zufällig „offline“ trifft, nicht von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren vermag. Vater Randy hingegen sucht krampfhaft nach einer Möglichkeit, sein Verlangen nach Onlinepornografie zu stillen und verbraucht, nachdem auch ein Internet-Porn-Simulator keine Befriedigung bringt, heimlich die gesamten Internetvorräte des Camps. ETYMOLOGIE  DAS HERKUNFTSWÖRTERBUCH enthält leider keinen eigenen Eintrag abhängen; bei den verwandten Begriffen „Abhang“ und „abhängig“ wird immerhin auf die Stammform „hängen“ verwiesen.6 Zu dieser heißt es:

Das alte gemeingerm. starke Verb *hanhan ‚hängen‘ (mhd. hāhen, ahd. hāhan, got. hāhan, aengl. hōn, aisl. hanga), dessen außergerm. Beziehungen nicht sicher geklärt sind, hat sich in den jüngeren Sprachzuständen mit den von ihm abgeleiteten schwachen Verben (1. ahd. hangēn, mhd. hangen, nhd., mdal. und schweiz. hangen, 2. ahd., mhd. hengen, nhd. hängen, 3. ahd., mhd., nhd. henken) vermischt. Um das Verb ‚hängen‘ gruppiert sich im Dt. eine Reihe von Ableitungen und Zusammensetzungen: […] Abhang ‚abschüssige Stelle, Halde‘ (15. Jh.), abhängig (15. Jh.; zunächst ‚abschüssig, geneigt‘, dann ‚durch etwas bedingt, bestimmt; angewiesen; unselbstständig‘) […].7

Eine ähnlich unklare Ausgangslage wie bei der Etymologie offenbart sich bei der Palette heutiger Verwendungsmöglichkeiten: Im DEUTSCHEN UNIVERSALWÖRTERBUCH finden sich gleich zwei Lemmata abhängen – in Form eines starken sowie eines schwachen Verbs.8 Beiden wird jeweils eine Reihe unterschiedlicher Bedeutungen beigestellt, weshalb hier ein konkreter Schwerpunkt gesetzt wird: Das schwache, transitive Verb abhängen soll, obwohl es in seiner Bedeutung „aus der Verbindung mit etw. lösen“9 im Fall der zerstörten Seekabel indirekt mitschwingt, von geringem Interesse sein. Im Mittelpunkt 6 Vgl. (Art.) Abhang, (Art.) abhängig. In: Duden. Das Herkunftswörterbuch, S. 17. 7 (Art.) hängen. In: Duden. Das Herkunftswörterbuch, S. 315f. 8 Vgl. (Art.) abhängen. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2011), S. 87. Analog

hierzu unterscheidet das GRIMMSCHE WÖRTERBUCH von 1854 noch zwischen einem Intransitivum „abhangen“ und einem Transitivum „abhängen“, „doch die mischung beider formen ist auch bei guten schriftstellern zu tief eingerissen, als dasz sie ganz vermieden oder getilgt werden könnte“ [(Art.) abhangen. In: Grimm. Deutsches Wörterbuch, Sp. 54]. 9 (Art.) abhängen. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2011), S. 87.

34

steht stattdessen das starke, intransitiv verwendete Abhängen, insbesondere im Sinne von „a) durch etw. bedingt sein; jmds. Willen od. Macht unterworfen sein […] b) auf jmdn. od. etw. angewiesen, von jmdm. od. etw. abhängig sein“10. Weiterhin wird der Historie des individuellen „abhängigen“ Mediengebrauchs – und sei dieser, wie in der eingangs erwähnten SOUTH PARK-Folge dargestellt, massenhaft – Vorrang gegenüber der Geschichtsschreibung einer kollektiven, gesamtgesellschaftlichen „Medienabhängigkeit“ eingeräumt. Dabei wird sich schnell zeigen, dass für die Untersuchung die Einführung einer weiteren, zentralen Vokabel unerlässlich ist.

Kontexte  abhängen

A

KONTEXTE  „Das Internet ist aus unserer heutigen Welt kaum mehr wegzuden-

ken. Seit etwa zehn Jahren lässt sich aber auch eine exzessive Computer- und vor allem Internetnutzung beobachten, die mit einer Abhängigkeitsstörung vergleichbar ist“11, heißt es in dem im Mai 2012 von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung herausgegebenen DROGEN- UND SUCHTBERICHT. Kurz darauf warnt der Hirnforscher Manfred Spitzer, auf Platz eins der Bestsellerlisten,12 vor ‚digitaler Demenz‘ und beschreibt titelgebend, ‚wie wir uns und unsere Kinder‘ durch die Nutzung digitaler Medien ‚um den Verstand bringen‘.13 „Schwächere als ich können damit nicht umgehen!“ ist eines der Argumente, die Kathrin Passig in den STANDARDSITUATIONEN DER TECHNOLOGIEKRITIK ausmacht: „Medizinische oder psychologische Studien werden ins Feld geführt, die einen bestimmten Niedergang belegen und einen Zusammenhang mit der gerade die Gemüter erregenden Technologie postulieren. […] Ein Urahn dieser Bedenken ist natürlich die Lesekritik.“14 Im ausgehenden 18. Jh. kulminiert letztere im deutschsprachigen Raum unter dem Schlagwort der „Lesesucht“, das Joachim Heinrich Campe 1809 in sein WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE aufnimmt: „Die Lesesucht,

10 Ebd. 11 Drogenbeauftragte der Bundesregierung (Hrsg.): Drogen- und Suchtbericht. Mai 2012. Un-

ter: http://drogenbeauftragte.de/fileadmin/dateien-dba/Presse/Downloads/12-05-22_DrogensuchtBericht_2012.pdf [aufgerufen am 19.12.2012], S. 42. 12 Vgl. Bestsellerliste. In: Der Spiegel, Nr. 35 (2012), S. 139. 13 Vgl. Spitzer: Digitale Demenz. 14 Passig: Internetkolumne. In: Merkur, S. 1147.

35

Kontexte  abhängen

[…] die Sucht, d. h. die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen. ‚Die Lesesucht unserer Weiber.‘ C. [=Campe, J.S.] Den höchsten Grad dieser Begierde bezeichnet man durch […] Lesewut.“15 Festzuhalten ist, dass zum Zeitpunkt dieser Wortschöpfung die heutige Primärbedeutung des Suchtbegriffs („krankhafte Abhängigkeit von einem bestimmten Genuss- od. Rauschmittel o.Ä.“16) noch nicht existiert. Campe selbst definiert „Sucht“ in seinem Wörterbuch zunächst auch als körperliche Krankheit.17 Weiterhin – und dies ist Grundlage der Komposition „Lesesucht“ – bezeichne der Begriff jedoch „[e]ine anhaltende oder herrschende, sehr heftige und ungeordnete Begierde, welche als eine Krankheit der Seele zu betrachten ist. […] Eifersucht, Geldsucht, Herrschsucht, Rachsucht, Ruhmsucht, Spielsucht […]. In allen diesen ist der Begriff des Tadels und Mißbilligens damit verbunden“18. Als Vorbedingungen dafür, dass das Lesen im späten 18. Jh. in hohem Maße die „Gemüter erregt“, identifiziert Dominik von König in seinem präzisen, hier richtungsweisenden Beitrag zu LESESUCHT UND LESEWUT fünf entscheidende Entwicklungen19: die starke Zunahme der Buchproduktion, insbesondere belletristischer Literatur; den großen Anteil der Kolportage am Vertrieb; eine Beunruhigung durch „das Übergreifen der Literatur in die sogenannten ‚niederen Stände‘“20 sowie miteinander verbunden: das Aufkommen

15 (Art.) Lesesucht. In: Campe (Hrsg.): Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 3, S. 107. 16 (Art.) Sucht. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2011), S. 1711. 17 Vgl. (Art.) Sucht. In: Campe (Hrsg.): Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 4, S. 745. Tat-

sächlich geht der Suchtbegriff auf „siechen“ („krank sein“) zurück [vgl. (Art.) Sucht. In: Duden. Das Herkunftswörterbuch, S. 828.]. In der Bedeutung „Krankheit“ findet es sich heute jedoch nur noch in veralteten Wendungen wie z. B. „fallende S.“ (Epilepsie) [vgl. (Art.) Sucht. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2011), S. 1711]. 18 Vgl. (Art.) Sucht. In: Campe (Hrsg.): Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 4, S. 745. Diese Definition existiert weiterhin in der Bedeutung „übersteigertes Verlangen nach etw., einem bestimmten Tun“ [(Art.) Sucht. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2011), S. 1711]. 19 Vgl. König: Lesesucht und Lesewut. In: Göpfert (Hrsg.): Buch und Leser, S. 94ff. 20 Ebd., S. 94. Das Ausmaß dieser Entwicklung sollte allerdings nicht überschätzt werden [vgl. ebd., S. 95.]. Zur weiter niedrigen Alphabetisierungsrate in dieser Zeit siehe Wittmann: Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts? In: Chartier/Cavallo (Hrsg.): Die Welt des Lesens, S. 425–427.

36

des empfindsamen Lesens und die neuen Literaturinhalte, von denen Goethes WERTHER (1774) besondere Bedeutung zukommt. Die Idee der Lesesucht richtet sich – wir befinden uns in der Spätphase der Aufklärung – also nicht gegen das Lesen im Allgemeinen, sondern das neuartige, zerstreute Vergnügungslesen. So schreibt Campe an anderer Stelle: Es kann mir […] nicht einfallen, das Lesen überhaupt, als etwas Schädliches verwerfen zu wollen. Aber so wie der Genuß der Speisen für die Gesundheit des Körpers zerstörend wird, wenn man theils zu viel, theils zu vielerlei, theils wirklich ungesunde Nahrungsmittel zu sich nimmt: so kann und muß, unter gleichen Bedingen, auch der Genuß der geistigen Speisen, ich meine das übertriebene und unzwekmäßige Lesen, zu einer sehr verderblichen Sache für das Wohlbefinden unsers Geistes, und zu gleicher Zeit für die häusliche und öffentliche Glükseligkeit werden.21

Kontexte  abhängen

A

Nimmt man hinzu, dass es neben der Jugend zumeist die Frauen sind, welchen eine Lesesucht nachgesagt wird22, und verknüpft dies mit der angeb­lichen Gefahr für die ‚häusliche Glükseligkeit‘, so zeigt sich ein moralischer Kern des Diskurses: Tadel und Missbilligung gelten u. a. dem im Lesen ausgemachten Müßiggang der Hausfrau, ihrem – modern ausgedrückt – zeitverschwenderischen „Abhängen“ mit dem Roman; denn, um ein letztes Mal Campe23 zu zitieren, die Art, wie ein Frauenzimmer sich in ihrem Hause zu beschäftigen und in der Abwartung häuslicher Geschäfte ihr Vergnügen zu finden weiß, erhebt die Häuslichkeit zu dem Range einer Tugend […]. Also nicht jene schlaffe Trägheit, welche einige Personen deines Geschlechts bewegt, sich nicht bloß in ihrem Hause, sondern auch in ihrem Zimmer einzusperren, und sich auf ein unthätiges, weichliches und träges Lehnstuhlleben einzuschränken; […] so fliehe, mein Kind,

21 Campe: Von den Erfordernissen einer guten Erziehung von Seiten der Eltern vor und nach

der Geburt des Kindes. In: Ders. (Hrsg.): Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, S. 172f. 22 Vgl. König: Lesesucht und Lesewut. In: Göpfert (Hrsg.): Buch und Leser, S. 97; Wittmann: Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts? In: Chartier/Cavallo (Hrsg.): Die Welt des Lesens, S. 440. Auch sei an das Eigenzitat in Campes Wörterbucheintrag erinnert. 23 Campe zählt zu den besonders vehementen zeitgenössischen Lesesucht-Mahnern [vgl. König: Lesesucht und Lesewut. In: Göpfert (Hrsg.): Buch und Leser, S. 93].

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Konjunkturen  abhängen

zuvörderst und vor allen Dingen den Müßiggang; jenes verderbliche Nichtsthun, welches oft noch schlimmere Folgen, als sogar das Uebelthun, hat.24

Eingebettet ist die Lesesucht in die Diätetik, eine Art ganzheitliche Heilkunde, die „in weiten Teilen noch durchaus vorwissenschaftlich ist“.25 Somit bestätigt sich für diesen Fall gewissermaßen Passigs These der vorgeschobenen medizinischen Studien. Wird schon oben bei Campe das Lesen sprachlich in den Kontext der Nahrungsaufnahme gestellt, sind die Ausführungen des Arztes Hans Caspar Hirzel noch konkreter: Das Gedächtniß kann von den besten Sachen angefüllt seyn: aber, wenn man sich nicht Zeit nimmt, diese genaue zu besehen, und zu zergliedern; sie mit seinen schon vorhandnen Begriffen zu verbinden, und im Zusammenhang zu betrachten; so sind und bleiben sie im Gedächtniß ein unverdauter druckender Klumpe, welcher nur imer schaden, niemal [sic!] nützen kann. [...] Das Gedächtniß gleicht dem Magen, den die Natur zur Zubereitung des Nahrungssafts bestimmt hat.26

Und wie Spitzer heute sorgte sich auch Friedrich Burchard Beneken um den Verstand seiner Mitmenschen, genauer: um den des jungen S., welcher „von der verderblichen Lesesucht angesteckt“27 ist: Wollen Sie Sich durch Ihr unmäßiges Lesen für alle reinen Freuden der Natur und der wirklichen Welt auf immer unfähig machen? Wollen Sie Sich nur in die Bücher-Welt hineinträumen, allen Sinn für wahres Menschenleben auf ewig verlieren, und ein unglücklicher bloßer Buchstaben-Mensch werden?28 KONJUNKTUREN  Mit der Beschreibung der „Opiumsucht“ führt der Medi-

ziner Christoph Wilhelm Hufeland 1836 – zu diesem Zeitpunkt hat die Lesesucht ihren Zenit bereits überschritten29 – die heute bekannte Definition des

24 Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 330f. Für ähnliche zeitgenössische Beiträge

über die Rolle der Frau sei auf König: Lesesucht und Lesewut. In: Göpfert (Hrsg.): Buch und Leser, S. 97ff. verwiesen. 25 Vgl. König: Lesesucht und Lesewut. In: Göpfert (Hrsg.): Buch und Leser, S. 99ff. Zitat: Ebd., S. 100. 26 Hirzel: Neue Prüfung des Philosophischen Bauers, S. 144f. 27 Beneken: Vielleserey. In: Ders. (Hrsg.): Weltklugheit und Lebensgenuß, S. 251. 28 Ebd., S. 253. 29 Ohne jedoch endgültig eliminiert zu sein [vgl. etwa Schenda: Volk ohne Buch, S. 63].

38

Suchtbegriffs ein. Zwar wird dieser 1964 von der Weltgesundheitsorganisation offiziell durch „(Drogen-)Abhängigkeit“ ersetzt30, beinahe synonym verwendet werden beide Begriffe aber weiterhin nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in Fachpublikationen – es sei an den DROGEN- UND SUCHTBERICHT der Drogenbeauftragten erinnert. Ab den 1980er Jahren schließlich kommen im Rahmen der zum Teil erbittert geführten Diskussion31 über „neue, nicht-stoffgebundene Süchte“ auch neue Mediensüchte ins Gespräch. So erklingen allgemeine Warnungen vor der alltäglichen Abhängigkeit von Apparaten und Surrogaten […]: Es ist jetzt die Rede von den Problemen, die die ‚neuen Medien‘ uns bringen werden, von der Breitbandverkabelung, von Bildschirm- und Video-Text […] von Film, Funk, Fernsehen und Video – von Video-Filmen, Video-Automaten, Video-Spielen und von Tele-Spielen … . Es muß auch die Rede sein von der die Menschen voneinander isolierenden Rolle, die Computer nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im Privat- und Freizeitbereich spielen werden […] Gerade wächst ja die erste Generation der ‚Computer-Kids‘ heran.32

Konjunkturen  abhängen

A

Im Hinblick auf das Fernsehen stellt Raphael Gaßmann 1988 fest, „[d]aß allgemein hoher Fernsehkonsum sehr wohl psychische (Isolierung, Antriebslosigkeit, inadäquate Realitätswahrnehmung etc.) als auch im klassischen Sinn medizinische Konsequenzen (Gefährdung der Sehkraft, Schlafstörungen, Folgen von Bewegungsmangel) hervorrufen kann“33. Allerdings gibt er einer Diagnose „Fernsehsucht“ schon zu diesem Zeitpunkt keine Chance mehr, denn angesichts „der bald hundertprozentigen Fernsehgesellschaft[:] Wer wagte sich schon ernsthaft an die Beschreibung einer Sucht, deren Resultat die Konstatierung umfassender Massensucht wäre?“34

30 Vgl. Maes: Der Suchtbegriff zwischen Kommerz und Ideologie. In: Die Berliner Ärztekammer,

S. 733f.

31 Vgl. Gaßmann: Neue Süchte, S. 12. Jochen Maes etwa beklagt bereits 1983 eine „‚Inflation

der Suchtbegriffe‘“ [Maes: Der Suchtbegriff zwischen Kommerz und Ideologie. In: Die Berliner Ärztekammer, S. 733]. 32 Lehmann: Vom Roulette bis zu den Geldspielautomaten. In: Landschaftsverband WestfalenLippe (Hrsg.): Tagungsbericht der Fachtagungen „Neue Süchte“, S. 24. 33 Gaßmann: Neue Süchte, S. 44. 34 Ebd., S. 44f.

39

Konjunkturen  abhängen

Es scheint, als käme die Debatte über die „neuen Süchte“ für das Objekt Fernsehen zu spät. Die von Hasso Spode beschriebenen sehr frühen „Klagen intellektueller ‚Mandarine‘ […], Fernsehen mache Lesen und Denken überflüssig“35 sowie die wenig später auch im „Bildungsbürgertum verstärkte […] Abneigung gegen die phantasietötende ‚Flimmerkiste‘“36 sind trotz der langjährigen Gewöhnung an das Medium vielleicht nicht komplett verschwunden. Eine Pathologisierung des Fernsehverhaltens zur „Sucht“ bietet sich jedoch nicht an, wenn nur eine verschwindend geringe Anzahl „Gesunder“ übrig bliebe. Der Fokus verlagert sich zuletzt dann auch zunehmend auf ein neueres Medium: das Internet. Dass der Übergang dabei gewissermaßen fließend ist, zeigt der Abschnitt DAS INTERNET: DAS FERNSEHEN DES NÄCHSTEN 37 JAHRTAUSENDS? im frühen Internetsucht-Selbsthilferatgeber CAUGHT IN THE NET. SUCHTGEFAHR INTERNET (1999) der US-amerikanischen Psychologin Kimberly Young: Besonders für Kinder wartet das Internet mit vielen Merkmalen auf, die auch das Fernsehen zur Sucht machen können und ihr Wachstum und ihre Entwicklung potenziell gefährden. Auf beiden Bildschirmen wird die Information passiv vermittelt; das Kind liest kein Buch, baut keine Burg aus Klötzchen oder erfindet mit Freunden und Nachbarn Spiele im Freien. […] Abgesehen von den Gemeinsamkeiten unterscheidet sich das Internet ganz wesentlich dadurch vom Fernsehen, dass es eher zu einer technologischen Zeitbombe wird.38

Wie schon einst beim Lesen wird also auch beim Fernsehen (Gaßmann: Antriebslosigkeit) und beim Internetgebrauch (Young: Passivität) der Mangel anderweitiger, lohnenswerter Beschäftigung kritisiert. Und während Gaßmann noch gemäßigt eine „inadäquate Realitätswahrnehmung“ beschreibt, reichen Wolfgang Bergmanns und Gerald Hüthers einleitende Ausführungen über

35 Spode: Fernseh-Sucht. In: Barlösius/Kürşat-Ahlers/Waldhoff (Hrsg.): Distanzierte Verstri­

ckungen, S. 296.

36 Ebd., S. 297. 37 Vgl. Young: Caught in the Net, S. 215–218. Young zitiert in diesem Abschnitt mit Marie

Winns THE PLUG-IN DRUG. TELEVISION, CHILDREN, AND THE FAMILY (New York (1977)), dt. Titel: DIE DROGE IM WOHNZIMMER, auch einen Klassiker der populären Fernsehkritik. 38 Ebd., S. 216f.

40

computersüchtige KINDER IM SOG DER MODERNEN MEDIEN (2006) durchaus an das Pathos Benekens heran: Wer in den Strudel virtueller Welten eintaucht, bekommt ein Gehirn, das zwar für ein virtuelles Leben optimal angepasst ist, mit dem man sich aber im realen Leben nicht mehr zurechtfindet. Der Rest ist einfach: Wer dort angekommen ist, für den ist die Fiktion zur lebendigen Wirklichkeit und das reale Leben zur bloßen Fiktion geworden. Ein solcher Mensch ist dann nicht einfach nur abhängig von den Maschinen und Programmen, die seine virtuellen Welten erzeugen. Er kann in der realen Welt nicht mehr überleben.39

Gegenbegriffe  abhängen

A

Letztlich vervollständigt sich das Spektrum argumentativer Parallelen auf höchst ironische Weise, sobald auch Spitzer, zwar eindeutig metaphorisch und zugleich bezeichnend trivial, in seiner Abrechnung mit digitalen Medien den Vergleich von Geist und Magen bemüht: Nicht nur unser Körper braucht Nahrung, sondern auch unser Geist – geistige Nahrung, d. h. Informationen, die er aufnimmt, um zu wachsen und sich zu bilden. Und auch hier kann die falsche Nahrung viel Schlimmes anrichten. […] So wie unsere Ernährung zu unserer Verdauung passen sollte, muss unsere geistige Nahrung auch zu unserem Geist passen.40 GEGENBEGRIFFE  Es drängt sich eine Überlegung auf, die oben schon kurz

angeklungen ist: Seit den 1990er Jahren hat sich aus der Jugendsprache ein umgangssprachliches abhängen im Sinne von „sich, oft zusammen mit anderen, passiv entspannen und so die Zeit verbringen“41 etabliert. Dabei ist diese Neubedeutung nicht auf das hier bisher vornehmlich behandelte abhängen als „(von Drogen etc.) abhängig sein“ zurückzuführen, sondern eher als Entsprechung des engl. „(to) hang out“ zu verstehen.42 Bringen nun beide Bedeutungen eine

39 Bergmann/Hüther: Computersüchtig, S. 12. 40 Spitzer: Digitale Demenz, S. 135. 41 (Art.) abhängen. In: Herberg et al.: Neuer Wortschatz, S. 1. 42 Vgl. Androutsopoulos: Deutsche Jugendsprache, S. 626. Interessanterweise listet die 6. Auf-

lage des UNIVERSALWÖRTERBUCHS die Neubedeutung noch als Übertragung des auf Schlachtfleisch bezogenen abhängen, die 7. hingegen als eigenständige Bedeutung [vgl. (Art.) abhängen. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2007), S. 86f.; (Art.) abhängen. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2011), S. 87]. 41

Perspektiven  abhängen

Passivität des Subjekts zum Ausdruck, so ist diese im Falle des „passiv entspannen“ immerhin selbst – man könnte sagen: bewusst und aktiv – gewählt. Eine negative Konnotation („Zeit verschwenden“) mag zwar auch hier oft implizit sein43, einer Pathologisierung entspricht diese aber nicht. In gewisser Weise trägt abhängen – zumindest für den Fall des Mediengebrauchs – somit seine eigene Gegenbegrifflichkeit in sich, wobei die verwendete Präposition den Ton angibt. Es sollte, der Gefahr sprachlicher Spitzfindigkeit zum Trotz, dann auch nach dem Verhältnis gefragt werden zwischen dem von Büchern abhängigen Lesesüchtigen und der mit Büchern abhängenden „Leseratte“; dem der Macht des Fernsehens ausgelieferten TV-Junkie und der vor dem Gerät abhängenden „Couch-Potato“44; dem internet- und computerspielabhängigen Jugendlichen und jenem, der in seiner Freizeit (vernetzt mit anderen) in virtuellen Welten oder sozialen Netzwerken abhängt. Der Unterschied könnte im Ausmaß des Gebrauchs liegen; der Psychiater Ivan Goldberg jedoch merkt 1997 hinsichtlich einer Diagnose „Internetsucht“ kritisch an: „To medicalize every behavior by putting it into psychiatric nomenclature is ridiculous. If you expand the concept of addiction to include everything people can overdo, then you must talk about people being addicted to books, addicted to jogging, addicted to other people.“45 Somit blieben Mediensuchtdebatten eher ideologischer, nicht medizinischer Natur – im Mittelpunkt des Interesses stünde die Frage nach einer sinnvollen (Frei-)Zeitgestaltung. Dies würde auch erklären, warum dem Büroangestellten, der den Arbeitstag über vor dem Computer oder am Telefon „hängt“, keine Sucht nachgesagt wird. Seine Abhängigkeit von Medien wird zwar offenbar, sobald die Technik versagt, ist ansonsten aber als notwendig akzeptiert. PERSPEKTIVEN  Wie sich der Themenkomplex der Mediensüchte im medi-

zinisch-psychologischen Bereich entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Mit der exzessiven Nutzung von Online-Computerspielen und sozialen Netzwerken, insbesondere durch Jugendliche, sind es 2012 v. a. spezifische Unterkategorien 43 Vgl. ebd. 44 Hans Magnus Enzensberger etwa bricht die Funktion des Fernsehens herunter auf: „Man

schaltet das Gerät ein, um abzuschalten.“ [Enzensberger: Die vollkommene Leere. In: Der Spiegel, Nr. 20/1988, S. 244]. 45 Zit.n. Wallis: The Talk Of The Town. In: The New Yorker, S. 29.

42

einer verallgemeinerten „Internet-“ oder „Onlinesucht“, die einigen Gesundheitsexperten Sorgen bereiten, bisher jedoch nicht als eigenständige Krankheitsbilder anerkannt sind46 – wie übrigens auch alle weiteren diskutierten Mediensüchte.47 Die Historie des „abhängigen“ Mediengebrauchs lässt jedoch vermuten, dass auch in Zukunft neue Medien bzw. sich verbreitende, neuartige Nutzungsweisen bereits bekannter Medientechniken Suchtdebatten ausgesetzt sein werden. TELEPOLIS-Autor Florian Rötzer schreibt 2000 über die „angebliche Internetsucht“: „Heute mag es ja noch chic sein, von einer möglichen Internetsucht zu sprechen, während man von der Lesesucht, sowieso eine aussterbende, wenn auch einst ebenfalls bedrohlich [sic!] Kulturtechnik, oder Fernsehsucht nicht mehr so gerne spricht. Die Handysucht wartet womöglich noch auf uns“48. Und bei Spode heißt es: „Difficile est satiram non scribere: Apokalyptische Reiter begleiteten auch die Ausbreitung der heute als ‚wertvoll‘ geltenden Medien.“49

Perspektiven  abhängen

A

Eine Satire zeichnen in der Tat die SOUTH PARK-Autoren, wenn sie uns – aufs Schärfste überzogen – eine individuell jeweils unterschiedlich geartete, stets krankhafte Abhängigkeit von der Ressource oder Droge „Internet“ vor Augen führen. An Absurdität kaum zu übertreffen ist jedoch eine Anekdote aus der Fachwelt: Die erste Beschreibung einer „Internet addiction disorder“ geht auf eben jenen New Yorker Psychiater zurück, der oben als Kritiker des

46 Vgl. Drogenbeauftragte der Bundesregierung (Hrsg.): Drogen- und Suchtbericht, S. 42f.

Bzgl. Online-Computerspielen werden u. a. „soziale Spielernetzwerke“ [ebd., S. 42.] als Suchtfaktor gehandelt. Die Prognose der „die Menschen voneinander isolierenden Rolle“ der Computer wirkt in diesem Kontext zumindest fragwürdig. Besondere Aufmerksamkeit in der Diskussion um die Computerspielsucht genießt das MMORPG WORLD OF WARCRAFT [vgl. z. B. Dahlkamp: Stoned vor dem Schirm. In: Der Spiegel, Nr. 12/2009, S. 48–55. Bemerkenswert an diesem konkreten Artikel ist, dass er im Rahmen einer Titelstory über den Amoklauf von Winnenden erscheint. Es sei an Passigs Argument erinnert.]. 47 Überhaupt ist von den „neuen Süchten“ bisher nur die „(Glücks-)Spielsucht“ offiziell anerkannt [vgl. auch Spode: Fernseh-Sucht. In: Barlösius/Kürşat-Ahlers/Waldhoff (Hrsg.): Distanzierte Verstrickungen, S. 303]. 48 Rötzer: Aufmerksamkeit für die angebliche Internetsucht. Unter: http://www.heise.de/tp/ artikel/8/8715/1.html [aufgerufen am 19.12.2012]. 49 Spode: Fernseh-Sucht. In: Barlösius/Kürşat-Ahlers/Waldhoff (Hrsg.): Distanzierte Verstrickungen, S. 303.

43

Forschung  abhängen

Konzepts zitiert wurde: Ivan Goldberg. Die 1995 auf seiner Website veröffentlichten Diagnosekriterien sind lediglich als Scherz gedacht, doch die Idee der „Internetsucht“ entwickelt sich fortan zum Selbstläufer. Goldberg gebührt somit die zweifelhafte Ehre, „Entdecker“ einer Krankheit zu sein, von der er selbst sagt, dass sie gar nicht existiert.50 FORSCHUNG   Wurde hier vornehmlich die individuelle, vermeintlich krankhafte Abhängigkeit von mehr oder weniger spezifischen Einzelmedien (Buch, Fernsehen, Internet, Computerspiel) thematisiert, öffnet eine Ausweitung des Medienbegriffs ein größeres Problemfeld, das es noch zu bearbeiten gilt: Im Hinblick auf das der Jugendsprache entnommene abhängen51 – mit und vor, v. a. aber in Medien – kann der Fokus auch auf mediale Umgebungen, Medien in einem weiteren Sinne, gelegt werden: die Kneipe, das Einkaufszentrum, die Straße, den Park, den Urlaub etc. Zu untersuchen wäre, ob sich in der medizinisch-psychologischen Disziplin auch diesbezüglich Suchtdebatten oder zumindest ähnliche Diskurse anschließen oder das Konzept von „Mediensüchten“ bzw. „krankhaften Medienabhängigkeiten“ sich im Bereich eines sehr eng gefassten, „klassischen“ Medienbegriffs erschöpft. Im Umkehrschluss wäre natürlich ebenso denkbar, allgemein anerkannte Substanzabhängigkeiten in einem anderen Kontext zu betrachten: der Ge- und Missbrauch von Drogen als Schlüssel zu einem medialen Raum; das Abhängen im Rausch; Alkohol, Medikamente, Cannabis, Heroin und Co. als Medien. LITERATUREMPFEHLUNGEN König, Dominik von: Lesesucht und Lesewut.

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50 Vgl. Wallis: The Talk Of The Town. In: The New Yorker, S. 28; Eichenberg/Ott: Suchtma-

schine. In: c‘t Magazin für Computertechnik, S. 106–111.

51 Wobei freilich abzuwarten bleibt, inwiefern diese Bedeutung im allgemeinen Sprachge-

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44

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A ANTON TANTNER

ANEKDOTE  Im Jahr 1770 beginnt in den westlichen Provinzen der Habsbur-

germonarchie ein gigantisches Unternehmen: Aus Zivilbeamten und Militärs zusammengesetzte Kommissionen bereisen noch die kleinsten Dörfer und malen auf die Häuser eine Nummer. Die Aktion dauert mehrere Monate und ist mit einer Volkszählung verbunden; von der Bevölkerung wird sie zuweilen mit Misstrauen und Argwohn betrachtet, als Eingriff in die Integrität ihrer Wohnorte. Am Schluss werden 1.100.399 Häuser nummeriert sein, wobei in jeder Ortschaft die Häuser von Eins an durchnummeriert wurden. Zweck dieser so genannten „Seelenkonskription“ und Hausnummerierung war es nicht, den in den Häusern lebenden Menschen oder Reisenden die Orientierung zu erleichtern bzw. die bessere Zustellung der Briefe durch die Post zu ermöglichen, sondern ein neues Rekrutierungssystem vorzubereiten: Die „Konskriptionsnummern“ sollten den Rekrutierungsoffizieren den Zugriff auf die in den Häusern lebenden wehrfähigen Männer erleichtern, wobei den habsburgischen Behörden bewusst war, dass die Hausnummern auch für andere administrative Zwecke, seien es die Besteuerung oder die polizeiliche Beaufsichtigung der Bevölkerung herangezogen werden konnten. – Die Einführung der Hausnummerierung ist ein im 18. Jh. europaweit feststellbares Phänomen; der „absolutistische“ Staat konstituiert sich, indem er die Subjekte für sich adressierbar macht.1

Anekdote  adressieren

ADRESSIEREN

ETYMOLOGIE  Nach der bisherigen etymologischen Forschung wurde der deut-

sche Begriff adressieren Ende des 16. Jhs. aus dem Frz. adresser im Sinne von „richten an, ausrichten auf, in eine bestimmte Richtung, Ordnung bringen, ordnen, verbessern, ausstaffieren, helfen“2 entlehnt; letzterer wiederum war bereits

1 Vgl. Tantner: Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. 2 (Art.) adressieren. In: Deutsches Fremdwörterbuch, S. 139.

47

Kontexte  adressieren

im 13. Jh. aus dem frühromanischen addirectiare (ausrichten) entstanden.3 1695 führt Kaspar Stieler für Adressiren die Bedeutungen „Anfördern / Empfehlen / an einen Richten / Stellen / Schreiben“4 an, ZEDLERS UNIVERSALLEXICON von 1732 enthält den Eintrag: „Addresser, addressiren, an- oder zuweisen, berichten, übermachen, zusenden; Briefe an einen addreßiren, das ist zusenden; item sich bey einem melden.“5 Für den zunächst v. a. in der Kaufmannssprache gebräuchlichen Begriff Adresse im Sinne von Aufenthaltsort einer Person6 entstand im 17. Jh. die Eindeutschung Anschrift7, gegen die noch 1921 Karl Kraus polemisieren sollte.8 KONTEXTE  Adressieren meint das durch einen Sender vorgenommene Richten

eines Kommunikationsinhalts an einen oder mehrere Empfänger; dies kann bei physischer Nähe von Sender und Empfänger durch eine unspezifische „Anrufung“ – als Beispiel diene hier der von Louis Althusser angeführte Ruf „He Sie da!“9 eines Polizisten – oder durch Nennung des Eigennamens der zu adressierenden Person erfolgen, bei Abwesenheit des Empfängers durch Verwendung eines in der Regel aus Namen und/oder Nummern bestehenden Codes, der seinen Aufenthaltsort – etwa eine Wohnung –, ein in Verfügung des Empfängers befindliches technisches Gerät – ein Mobiltelefon – oder einen durch den Empfänger asynchron abrufbaren elektronischen Speicherplatz – einen E-Mail-Account – angibt. Lange Zeit bedurfte das Adressieren der Angabe eines Orts: „Keine Adresse ohne Ort“10. Bis ins Spätmittelalter war allerdings neben der Verwendung eines Eigennamens – sei es der zu adressierenden Person oder zusätzlich der einer ranghöheren Person, z. B. des „Hausvaters“ – nur eine ungefähre

3 Vgl. Bernecker: (Art.) Adressant/Adressat. In: Ueding, Sp. 119–130; (Art.) Adresse. In: Kluge

online. Unter: http://www.degruyter.com.degruyterebooks.han.onb.ac.at/view/Kluge/kluge.161 [aufgerufen am 10.10.2013]. 4 Stieler: Zeitungs Lust und Nutz, S. 175. 5 (Art.) Adresser, addresiren. In: Zedler, Sp. 465. 6 Vgl. (Art.) Adresse. In: Duden. Deutsches Fremdwörterbuch, S. 135–139. 7 Vgl. (Art.) Adresse. In: Kluge online. Unter: http://www.degruyter.com.degruyterebooks.han. onb.ac.at/view/Kluge/kluge.161 [aufgerufen am 10.10.2013]. 8 Vgl. Kraus: An die Anschrift der Sprachreiniger. In: Ders.: Die Sprache, S. 12–16. 9 Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 142. 10 Serres: Der Mensch ohne Fähigkeiten. In: Transit, S. 199.

48

Ortsangabe (Ortsname, in Städten eventuell Angabe der Wohngegend, des Straßen­namen oder des Namens eines Häuserblocks) zur Adressierung ausreichend, da die meisten Beziehungen auf persönlicher Bekanntschaft beruhten und die Erreichbarkeit des Empfängers damit in der Regel sichergestellt war; noch im Marseille des 14. Jhs. ließen Gläubiger nur rudimentäre Adressen – z. B. den Straßennamen – ihrer Schuldner notieren, da ihnen dies genügte, um im Bedarfsfall der Schuldner habhaft zu werden.11 Präzisere und standardisierte Adressierungen bilden sich im Laufe der Moderne im Zusammenhang mit dem Bevölkerungswachstum und der Entstehung zunehmend komplexerer Gesellschaften heraus; die damit einhergehende Lösung traditioneller Bindungen ließ gelingendes Adressieren zu einem Problem werden, was schon im 17. Jh. in den großen europäischen Metropolen Paris und London zur Gründung so genannter Adressbüros führte: Das 1630 in Paris vom Arzt Théophraste Renaudot eingerichtete Bureau d’adresse und seine Nachfolger dienten vorwiegend der Verkaufs-, Immobilien- und Arbeitsvermittlung und sollten sicherstellen, dass auch bei zunehmender Anonymität Angebot und Nachfrage aufeinandertreffen konnten. Die Namen und Aufenthaltsorte der Klienten wurden dabei handschriftlich in Register eingetragen und bei Bedarf Informationssuchenden gegen Gebühr ausgehändigt; unter der angegebenen Adresse konnten diese dann die Transaktionen – z. B. den Kauf einer Ware, das Ausleihen von Kapital oder das Antreten einer Bedienstung – ­zu einem Ende bringen.12 Ab dem 18. Jh. wurden im Zuge der Regierbarmachung der Bevölkerung und der Entstehung moderner Staaten Adressen zum Bestandteil der bürokratischen Identität der Subjekte13, wozu insbesondere die Eigennamen der Subjekte als auch der Ortschaften standardisiert werden mussten und staatliche

Kontexte  adressieren

A

11 Vgl. Ling: A Stranger in Town: Finding the Way in an Ancient City. In: Greece & Rome,

S. 204–214; Hillner: Die Berufsangaben und Adressen auf den stadtrömischen Sklavenhalsbändern. In: Historia, S. 193–216; Smail: Imaginary Cartographies, S. 220f. 12 Vgl. Tantner: Adressbüros im Europa der Frühen Neuzeit. Unter: http://phaidra.univie. ac.at/o:128115 [aufgerufen am 27.05.2013]. 13 Vgl. Smail: Imaginary Cartographies, S. 192, 220f.

49

Konjunkturen  adressieren

Adressierungssysteme (Hausnummern, aber auch präzise parzellierte Orts­ gemeinden) eingeführt wurden.14 Als rezente Entwicklung gilt die Entstehung ortsunabhängiger Formen der Adressierung von Subjekten: Sender brauchen nicht mehr Bescheid über den Aufenthaltsort einer Person zu wissen, um diese zu adressieren, es reicht die Verwendung einer E-Mail-Adresse oder einer Mobiltelefonnummer, um diese erreichen zu können. Die Lokalisierung erfolgt damit ausschließlich auf technischer Ebene.15 KONJUNKTUREN  Die Wissenschaft hat sich bislang nur zögerlich und zumeist wenig systematisch mit dem Thema des Adressierens und der Adresse befasst; Ansätze dazu gab es ab Ende des 20. Jhs. in der Systemtheorie und in der Medienwissenschaft16: So schlug Peter Fuchs den Neologismus „Adressabilität“ vor und plädierte dafür, diesen zu einen Grundbegriff der Systemtheorie zu machen. Er versteht darunter das Vermögen eines Bewusstseins, Mitteilungen zugerechnet zu bekommen; „adressabel“ zu sein, über eine „soziale Adresse“ zu verfügen, ist für Fuchs „eine Frage des Überlebens“.17 Demgegenüber sind die vom Medienwissenschaftler Friedrich Kittler an verschiedenen Stellen seines Werks angestellten Überlegungen zur Adressierung weniger anthropozentrisch: „Von der Staatspost über das Selbstwahltelefon bis zum Autokennzeichen arbeiten Medien daran, die Leute durch ihre Adressen zu ersetzen.“18 Weiterhin postulierte er: „Auf dem Dreischritt von Adressierung, Verarbeitung und Speicherung beruhen Mediensysteme als solche.“19

14 Vgl. Scott et al.: The Production of Legal Identities Proper to States: The Case of the Per-

manent Family Surname. In: Comparative Studies in Society and History, S. 4–44; Tantner: Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. 15 Vgl. Neubert: Elektronische Adressenordnung. In: Andriopoulos et al. (Hrsg.): Die Adresse des Mediums, S. 34–63; Serres: Der Mensch ohne Fähigkeit, S. 198; Schumacher: Adresse. In: Bartz et al. (Hrsg.): Handbuch der Mediologie, S. 16–21. 16 Vgl. Andriopoulos et al. (Hrsg.): Die Adresse des Mediums; Schumacher: Adresse. In: Bartz et al. (Hrsg.): Handbuch der Mediologie, S. 16–21. Sowie die in der Literaturliste angeführten Arbeiten von Siegert. 17 Fuchs: Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie. In: Soziale Sys­teme, S. 61. 18 Kittler: Die Stadt ist ein Medium. In: Fuchs et al. (Hrsg.): Mythos Metropole, S. 238. 19 Ders.: Draculas Vermächtnis, S. 41.

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A ist das vorhergehende Identifizieren: Es braucht die Vergabe eines Namens oder einer Nummer an ein Subjekt und/oder seinen Aufenthaltsort, um diese ansprechen oder anrufen zu können; benennen und nummerieren sind somit Teil der Schaffung von Adresssystemen und implizieren oft ein Ordnen und Klassifizieren. Diese Kulturtechniken, zu denen auch das Gliedern, Listen, Rastern, Serialisieren und Systematisieren gehören, machen Menschen zu wiederauffindbaren Dingen20 und sollen deren Lokalisieren – ein „Spezialfall [...] der Adressierung“21 – ermöglichen, auf dass an diese Botschaften kanalisiert werden können.

Forschung  adressieren

GEGENBEGRIFFE   Eine Voraussetzung für das Gelingen von Adressieren

PERSPEKTIVEN  Der Begriff des „Adressierens“ eröffnet ein weites Feld, das

so unterschiedliche Bereiche wie die Anrede eines antiken Theaterpublikums, das Nummerieren von frühneuzeitlichen Spitalsbetten oder basale technische Vorgänge in einem Computer umfasst. Er kann einerseits dazu dienen, Lokalisierungsvorgänge zu untersuchen, andererseits geraten mit ihm durch (Massen-) Medien vorgenommene Zuweisungen von Kommunikationsinhalten in den Blick. Für die Medientheorie hängen Medien-Werden und Adressierung eng zusammen: „Technologisch sind die Begriffe der Medialität und der Adressierbarkeit deckungsgleich. Es handelt sich um ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit. Medien sind als Bedingung von Adressierung zu begreifen, und umgekehrt: Adressen als Bedingung von Medien.“22 Eine detaillierte Beschäftigung mit Adressierungen bedeutet demnach auch eine Arbeit am Medienbegriff und kann dazu beitragen, diesen praktikabler zu machen. FORSCHUNG   Die bisherige Forschung zum Thema des Adressierens ist

zumeist sehr theorieorientiert und beruht oft auf nur spärlichem, empirischem Material; demgegenüber wären mehr historisch ausgerichtete Arbeiten wünschenswert, die die Einführung von Adresssystemen (wie Hausnummern,

20 Vgl. Siegert: (Nicht) Am Ort. In: Thesis. S. 92–104; ders.: Passagiere und Papiere. S. 142. 21 Jäger: Die Verfahren der Medien: Transkribieren – Adressieren – Lokalisieren. In: Fohrmann/

Schüttpelz (Hrsg.): Die Kommunikation der Medien, S. 77.

22 Dotzler et al.: Die Adresse des Mediums. Einleitung. In: Andriopoulos et al. (Hrsg.): Die

Adresse des Mediums, S. 13.

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Forschung  adressieren

Straßennamen, standardisierte Familiennamen, Postleitzahlen, IP-Adressen), im Speziellen die Kulturtechnik der Nummerierung und das Funktionieren sowie eventuelle Scheitern von Adressierungsvorgängen näher untersuchen. Bislang sind selbst basale Fragen unklar, so die nach dem Verhältnis von Eigennamen und Adressen, von Benennen und Adressieren:23 Sind Eigennamen die „einfachste Form der Adressenbildung“24? Oder aber gilt: „Namen sind keine Adressen. Namen haben vielmehr Adressen“25? Ein weiteres Forschungsdesiderat wäre eine anhand von konkreten Fallbeispielen vorzunehmende Entfaltung des von Bernhard Siegert konstatierten Vorgangs der „Trennung von Daten und Adressen“. Laut Siegert werden „Personen (private oder rechtliche) [...] Daten, die an Adressen abgespeichert werden, die ihnen logisch und zeitlich vorausgehen“26; Daten benötigen zumindest seit dem Ende der Personenverbandstaaten Adressen; letztere seien „aus den Daten ausgewandert“27. Davon ausgehend wäre nach dem Verhältnis von Daten und Adressen zu fragen: Ist es zutreffend, wie Friedrich Kittler behauptete, dass „ADRESSEN [...] Daten [sind], unter denen andere Daten überhaupt erst erscheinen können“28? Schließlich wären Adressierungen in den Blick zu nehmen, die alternativ bzw. vorgängig zum Postsystem29 bestehen und sich nicht auf Redefiguren in Philosophie und Literatur beschränken:30 Es gab und gibt Kommunikationskanäle, die jenseits der offiziellen Post bestehen, als Beispiele seien die Beauftragung von Kindern mit Botendiensten oder die Essensausträger in Mumbai genannt.31

23 Vgl. Schabacher: Adressenordnungen: Lokalisierbarkeit – Materialität – Technik. In: An-

driopoulos et al. (Hrsg.): Die Adresse des Mediums, S. 21.

24 Stichweh: Adresse und Lokalisierung in einem globalen Kommunikationssystem. In: An-

driopoulos et al. (Hrsg.): Die Adresse des Mediums, S. 25.

25 Neubert: Elektronische Adressenordnung. In: Andriopoulos et al. (Hrsg.): Die Adresse des

Mediums, S. 56.

26 Siegert: Passagiere und Papiere, S. 150. 27 Ders.: Passage des Digitalen, S. 104. 28 Kittler: Die Stadt ist ein Medium. In: Fuchs et al. (Hrsg.): Mythos Metropole, S. 238. 29 Zur Post siehe neben Siegert: Relais; Behringer: Im Zeichen des Merkur. 30 Als Beispiel für eine solche Untersuchung: Allerkamp: Anruf, Adresse, Appell. 31 Vgl. Farge: Das brüchige Leben. S. 77–83; Waldher: Der Weg der vielen Hände. In: Brand

Eins, S. 118–123.

52

A

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Andriopoulos, Stefan et al. (Hrsg.): Die Adresse des Mediums, Köln (2001).

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Tantner, Anton: Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und

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VERWEISE  benachrichtigen |105|, kanalisieren |322|, telefonieren |573|

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27.05.2013].

A DENNIS BASALDELLA

ANEKDOTE   Als Fritz Langs METROPOLIS seine Premiere in Berlin feierte,

dachte wohl niemand daran, dass der Film 83 Jahre später, auf der Berlinale 2010, eine zweite Premiere feiern würde. METROPOLIS, der als einziger Film von der Unesco in das Weltdokumentenerbe aufgenommen wurde, avancierte über die Jahrzehnte nicht nur zu einem der wichtigsten Filme der Kinogeschichte, sondern hat mit seiner spektakulären Wiederentdeckung Geschichte geschrieben und zählt aus filmhistorischer und archivarischer Sicht zu den interessantesten Fällen. Der bis dato wohl teuerste Monumentalfilm der UFA feierte im Januar 1927 seine Premiere. Was jedoch zu Beginn als Angriff auf die Vorherrschaft von Hollywood gedacht war, entpuppte sich als kommerzieller Flop. Der Film fiel beim Publikum und den Kritikern durch und wurde kurz nach seiner Aufführung – wie so oft in diesen Fällen – Opfer von Kürzungen. So galt die vollständige Premierenfassung von 1927 lange Zeit als verloren.1 Während sich die Historiker, in der Hoffnung doch eine vollständige Kopie zu finden in den folgenden Jahrzehnten immer wieder in den Filmarchiven weltweit auf die Suche nach den verlorenen Szenen des Films machten, ahnte keiner, dass eine Kopie der vollständigen Fassung 1928 mit dem argentinischen Verleihchef Adolfo Z. Wilson nach Südamerika gelangt war. Mit den Jahren ging der mittlerweile auf 16mm umkopierte Film in den Bestand des Museo del Cine in Buenos Aires über und wurde dort – also in einem Archiv, dessen genuine Aufgabe es ist, Dinge zu bewahren –, bei genauerer Sichtung der vorhandenen Kopie, als fast vollständige Fassung von METROPOLIS (wieder-)entdeckt.2 Es gehört wohl zu den zentralen Eigenschaften eines Filmarchivs bzw. eines jeden Archivs, dass es sammelt und somit die Möglichkeit bietet ein ganzes kulturelles und historisches Erbe unterschiedlichster Art zu archivieren,

Anekdote  archivieren

ARCHIVIEREN

1 Vgl. Naundorf: Reise nach Metropolis. In: Zeit online. Unter: http://www.zeit.de/2008/28/

Metropolis-Reportage-28/komplettansicht [aufgerufen am 23.08.2013].

2 Vgl. Zeitredaktion: Die Neuentdeckung von „Metropolis“. In: Zeit online. Unter: http://

www.zeit.de/online/2008/27/metropolis-vorab/komplettansicht [aufgerufen am 23.08.2013].

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Etymologie  archivieren

zu bewahren und zugänglich zu machen. Zur gleichen Zeit ist es aber auch wieder eine zentrale Eigenschaft des Archivs, dass es auch wieder „vergisst“, was es bewahren soll und ihm anvertraut wurde. ETYMOLOGIE  Im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch, wie auch die Anek-

dote nahelegt, erscheinen der Begriff des „Archivs“ (genauso wie der des „Filmarchivs“) und der damit zusammenhängende Akt des „Archivierens“ als eindeutig und selbstverständlich. So steht z. B. im DUDEN folgendes zum Archiv: Ar|chiv, das; – s, -e [spätlat. archivum < griech. archeĩon = Regierungs-, Amtsgebäude, zu árchein = regieren, herrschen, zu archē, Architekt]: a) Einrichtung zur systematischen Erfassung, Erhaltung u. Betreuung von Schriftstücken, Dokumenten, Urkunden, Akten, insbes. soweit sie historisch, rechtlich od. politisch von Belang sind […]; b) geordnete Sammlung von [historisch, rechtlich, politisch belangvollen] Schriftstücken, Dokumenten, Urkunden, Akten […].3

Ein ähnlicher Eintrag findet sich auch im ETYMOLOGISCHEN WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE: Archiv n. erw. fach. ‚Aufbewahrungsort für öffentliche Urkunden und Dokumente‘ (< 15. Jh.). Entlehnt aus ml. archīvum, dieses aus spl. archīvum, einer Nebenform von l. archīum, das auf gr. archeĩon ‚Amtsgebäude‘ zurückgeht, einem Nomen loci zu gr. árchein ‚regieren, herrschen‘. Eine Täterbeschreibung ist Archivar; Verb: archivieren.4

Auf den ersten Blick erscheinen die zitierten Definitionen eindeutig und beschreiben genau das, was das Archiv im heutigen Verständnis ist: Ein Ort, an dem relevante historische Objekte aufbewahrt werden. Zur gleichen Zeit sind die Definitionen jedoch unvollständig. Gerade mit ihrem Vermerk auf das „Regierungs- und Amtsgebäude“ und die Begriffe des „Regierens“ und des „Herrschens“, verweisen sie indirekt auf den historischen Ursprung des Begriffs, ohne ihn dabei jedoch genau zu beschreiben. Zweifelsohne erlaubt es der begrenzte Platz eines sprachlichen Wörterbuchs nicht, den Ursprung

3 (Art.) Archiv. In: Duden, S. 250. 4 (Art.) Archiv. In: Kluge, S. 51.

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genauer auszuführen, jedoch erscheint es gerade im Kontext des Archivs wichtig, dies zu tun, weil die Funktion oder besser gesagt das Ziel des Archivs im heutigen Sinne, sich von dem Archiv im Zusammenhang mit einem „Regierungs- und Amtsgebäude“ unterscheidet und erst im Lauf der Geschichte so geworden ist, wie wir es heute verstehen. Das Archiv und der Begriff des Archivierens müssen somit im historischen Kontext betrachtet und nicht auf eine reine Etymologie des Wortes begrenzt werden. Der Begriff des „historischen“ Archivs ist erst aus heutiger Sicht entstanden bzw. auch eng mit der Entwicklung und Nutzung des Archivs gekoppelt. Darüber hinaus werfen die Begriffe der „belangvollen“ Dokumente, wie sie im DUDEN genannt werden, die Frage nach dem „Was archivieren“ auf, die für das Verständnis des Archivs und besonders des Archivierens wichtig ist und genauer diskutiert werden muss.

Kontexte  archivieren

A

KONTEXTE  Wie Aleida Assmann in ihrem Buch ERINNERUNGSRÄUME. FOR-

zum Punkt des Archivs schreibt, kommt „[v]or dem Archiv als Gedächtnis der Historie […] das Archiv als Gedächtnis der Herrschaft“5. Während schon in der griechischen Antike das Archiv als Aufbewahrungsort genutzt wird,6 ist es „[i]n Rom […] die Praxis des Aufschreibens, welche das Archiv hervorbringt. Das, was die Magistrate der römischen Republik zur eigenen Erinnerung notieren, bewahren diese auch auf. Erst privat, dann offiziell“ 7. Dahingehend markiert das Jahr 79/78 v. Chr., wie Cornelia Vismann weiter in ARCHÉ, ARCHIV, GESETZESHERRSCHAFT vermerkt, das Datum, an dem die Notizen in ein zentrales Archiv gebracht wurden, dem Tabularium, um dort aufbewahrt zu werden.8 Das Archiv war somit in seinem Ursprung ein Instrument der Macht und Verwaltung. In diesem physischen Ort lagerten all die – hauptsächlich schriftlichen – Dokumente, Urkunden und Akten, die eine aktuelle Legitimationsfunktion hatten und somit auch als MEN UND WANDLUNGEN DES KULTURELLEN GEDÄCHTNISSES

5 Assmann: Erinnerungsräume, S. 343. 6 Vgl. hierzu u. a. den ausführlichen Aufsatz von Ebeling: Das Gesetz des Archivs. In: Ebeling/

Günzel (Hrsg.): Archivologie, S. 61–88.

7 Vismann: Arché, Archiv, Gesetzesherrschaft. In: Ebeling/Günzel (Hrsg.): Archivologie, S. 96. 8 Vgl. ebd. S. 96.

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Kontexte  archivieren

Beweis für Macht und Besitz dienten.9 Die ursprünglichen Archive waren jedoch nicht nur Aufbewahrungsort für Gesetze, sondern dienten auch – wie Knut Ebeling in DAS GESETZ DES ARCHIVS mit Verweis auf die Archive im Nahen Osten, Mesopotamien und Ägypten schreibt – dazu, ökonomische ­Vorgänge und Prozesse zu dokumentieren.10 Mit dem Aufkommen des späten Mittelalters stieg auch das Aufkommen der geschriebenen Dokumente, so dass sich in den Archiven immer mehr nicht gebrauchte Akten stapelten.11 Diese stark vereinfachte Übersicht der Geschichte des Archivs,12 beschreibt dessen ursprüngliche Funktion, wie sie auch in der Beschreibung der Wörter bereits gesehen wurde. Erst mit der Französischen Revolution wurde das Archiv zu dem, wie wir es heute kennen und begreifen, also zu einem Aufbewahrungsort für vermeintlich historische Spuren und Objekte. Durch den Aufbruch der bis dato bestehende Machtstrukturen und in dem Moment, in dem die Institutionen, die die Dokumente zur Legitimation ihrer eigenen Handlung nutzten, nicht mehr existierten, verloren die aufbewahrten Dokumente ihre ursprünglichen Legitimationsfunktionen und bekamen eine historische Funktion.13 Wenn in diesem Kontext der Begriff „historisch“ genannt wird, ist es notwendig, bereits hier auf zwei grundlegende Punkte zu verweisen, die für das Verständnis des Archivs im heutigen Sinne wichtig sind. Die Tatsache, dass nur bestimmte Dokumente aufbewahrt wurden, ist nicht nur aus rechtshistorischer Sicht wichtig, sondern offenbart ein grundlegendes „Problem“ bzw. eine grundlegende Eigenschaft des Archivs als Aufbewahrungsort (historisch oder nicht), nämlich, dass das Archiv nur das Aussagen kann, was es weiß bzw. „[d]as Gedächtnis des Archivs ist […] nicht allwissend und deshalb nicht göttlich; es weiß nur, was man ihm anvertraut hat“14. Die Aussagekraft 9 Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 343. 10 Vgl. Ebeling: Das Gesetz des Archivs. In: Ebeling/Günzel (Hrsg.): Archivologie, S. 62. 11 Vgl. Vismann: Arché, Archiv, Gesetzesherrschaft. In: Ebeling/Günzel (Hrsg.): Archivologie,

S. 96.

12 Für eine ausführliche Übersicht siehe u. a. Vismann: Akten, Medientechnik und Recht. 13 Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 344; Ernst: Das Archiv als Gedächtnisort. In: Ebeling/

Günzel (Hrsg.): Archivologie, S. 180.

14 Ebeling: Das Gesetz des Archivs. In: Ebeling/Günzel (Hrsg.): Archivologie, S. 82.

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eines Archivs ist somit immer an die Informationen gekoppelt, die es enthält. Betrachtet man nun das Archiv aus einer historischen Sicht, dann bedeutet dies wiederum, dass die Geschichte, die aus ihm gelesen wird, sich nur auf die Fakten bezieht, die dem Archiv entstammen. So schreibt Wolfgang Ernst: „Das Gedächtnis des Forschers nimmt gespeicherte Informationen über bestimmte Episoden auf, ergänzt sie um weitere aus vielleicht ganz anderen Quellen und rekonstruiert so ein vermeintlich originalgetreues Bild“15. Das Archiv selbst gibt keine Geschichte vor oder schreibt sie gar – erst im Nachhinein wird diese geschaffen. Der Forscher, der Nutzer des Archivs fügt die ihm vorliegenden Objekte und Informationen zusammen und formt ein Bild der Vergangenheit. Dabei handelt es sich aber um ein Bild, eine Erinnerung an die Vergangenheit, wie es sie so nicht gegeben hat und nur der Interpretation der vorliegenden Informationen entspringt.16 „Das Archiv erzählt nicht, es registriert. Seine metaphorische Angleichung an Funktionen der menschlichen Erinnerung (also Anthropomorphisierung) findet erst auf der Ebene der Geschichtsschreibung statt“17. Wohl auch in diesem Aspekt, liegt die Tatsache begründet, dass das Archiv Anziehungspunkt für unterschied­liche wissenschaftliche Strömungen ist, die wiederum die Inhalte des Archivs aus ihrem Blickwinkel lesen und eine weitere „Geschichte“ schaffen.18 Es darf an dieser Stelle aber nicht unerwähnt bleiben – auch in Hinblick auf die bisher gemachten Anmerkungen –, dass bereits der vorbereitende Akt zum Archivieren, die Auswahl, die Geschichte die aus dem Archiv gelesen wird, mitbestimmt und vorgibt.

Konjunkturen  archivieren

A

KONJUNKTUREN   Das Filmarchiv, ohne das es eine erneute Premiere der Originalfassung von METROPOLIS nie gegeben hätte, kann stellvertretend für alle Archive gesehen werden. Seine Geschichte reflektiert in gewisser Hinsicht die bereits beschriebene Entwicklung und Spezifika des klassischen Archivs. Im Gegensatz zum einen klassischen Archiv bzw. dem klassischen

15 16 17 18

Ernst: Das Rumoren der Archive, S. 11. Vgl. ebd. Ernst: Das Archiv als Gedächtnisort. In: Ebeling/Günzel (Hrsg.): Archivologie, S. 185. Vgl. Ebeling/Günzel: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Archivologie, S. 19.

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Konjunkturen  archivieren

Aufbewahrungsort, existiert das Filmarchiv jedoch nicht direkt seit der Erfindung des Films und somit seit Beginn des Mediums, das es archivieren soll. Wie Raymond Borde schon auf den ersten Seiten seines Buches LES CINÉMATHÈQUES schreibt, ist der Gedanke des Konservierens und Archivierens von Film keineswegs von Anfang an selbstverständlich. Das zentrale Problem zu Beginn der Filmgeschichte war, dass der Film nicht den gleichen ökonomischen Wert hatte, wie es heute der Fall ist. Film war nicht ein eigenes geschaffenes Werk, das gelagert und immer wieder verwendet wurde, wie es z. B. mit der DVD und Blu-ray der Fall ist. Die Filme der Zeit wurden vielmehr als ein vergängliches, temporäres Produkt angesehen, das aus inhaltlicher Sicht nur dem aktuellen Geschmack und Interesse genützt hat und eben auch nur dafür geschaffen wurde. Weil sich auch der Geschmack der Zuschauer mit der Zeit veränderte, waren die Filme oft nicht mehr interessant und wurden nicht mehr genutzt. Der Gedanke, dass die Filme für zukünftige Generationen interessant sein könnten, war noch nicht ausgeprägt. So passierte es, dass selbst Georges Méliès, einer der Urväter der Kinematographie, im Wissen nicht mehr den Geschmack der Zeit zu treffen, 1923 seine von ihm gelagerten Filmkopien verbrannte und die Negative an einen Pariser Altmaterialsammler vermachte. Wegen dieses Verhältnisses zum Film beziffert sich die weltweite Verlustrate – so Borde – für den Zeitraum von 1895 und 1918 auf 80%.19 Trotz des anfänglichen Unterschieds lässt sich auch im Kontext des Filmarchivs eine Parallele zum Archiv als Legitimationsgrundlage ausmachen. Aus rechtlicher, und somit im Schluss auch ökonomischer, Sicht beginnt die Lagerung von Film in den USA mit Inkrafttreten des Copyright Law, das die Rechte der Autoren schützt. Die Lagerung in diesem Fall ist jedoch nicht aus konservatorischer Sicht eines Archivs zu sehen, sondern einfach nur dazu da, die Urheberschaft des jeweiligen Autors zu beweisen und zu sichern.20 Die erste bekannte Eintragung von Filmen in das Copyright Register ist wohl der wenige Sekunden lange Film EDISON KINETOSCOPIC RECORD OF A SNEEZE von Edison aus dem Jahr 1894.21

19 Vgl. Borde: Les cinémathèques, S. 15ff., 22ff. 20 Vgl. ebd., S. 15f. 21 Vgl. ebd., S. 42.

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Der erste Gedanke einer Sammlung von Filmen ist auf das Jahr 1898 und den Polen Bolesƚaw Matuszewski zurückzuführen. Für Matuszewski, ab 1897 Fotograf des russischen Zaren, bietet sich die Möglichkeit die wichtigen Momente des Besuchs des französischen Präsidenten in St. Petersburg mit der Kamera festzuhalten. Besonders prägend war hier laut Borde, dass der Franzose Félix Faure fälschlicherweise von Bismarck beschuldigt wurde, sich nicht respektvoll gegenüber der russischen Flagge verhalten zu haben. Mithilfe der Filmaufnahmen konnte die Anschuldigung entkräftet werden. Es war somit die in diesem Kontext entdeckte dokumentarische Eigenschaft des Films als Beweismittel, die Matuszewski im Folgenden auch zu seinem Plan führte, ein Archiv von Filmen zu schaffen. In diesem Zusammenhang veröffentlich Matuszewski im Jahr 1898 in Paris ein schriftliches Plädoyer für die Einrichtung eines Lagerortes für Filme.22 Auch in den folgenden Jahren entstanden immer wieder Konzepte für Filmarchive, wie z. B. die des Pariser Stadtrats Henri Turot, der 1906 die Gründung eines Filmarchivs vorschlägt, das dazu dienen sollte, die Filmaufnahmen zu konservieren, die Feste, Paraden und Ereignisse in Paris zu zeigen und zu dokumentieren. Das Problem dieser Idee und der vielen darauffolgenden Vorschläge in der Pariser Stadtverwaltung ist – wie auch im Fall der in den 1910er Jahren in Deutschland entstandenen Militärarchive wie dem der Bufa (Bild- und Filmamt) –, dass sie aufgrund ihrer begrenzten und sehr spezifischen Ausrichtung eben nur diejenigen archivieren, die in das Themenfeld passen und dabei andere Filme außer Acht lassen.23 Das wohl erste Filmarchiv, das sich bewusst zum Ziel gesetzt hat, das Filmerbe im Allgemeinen zu archivieren und zu retten, ist das Svenska Filmsamfundet, das 1933 vom schwedischen Journalisten und Filmhistoriker Bengt Idestam-Almquist initiiert wurde. Es ist somit das erste Archiv, das sich nicht mehr nur auf spezifische Filminhalte beschränkt und damit das Filmerbe im Sinne eines allgemeinen Unterhaltungsmediums versteht und archiviert und sich somit „historisch“ nennen könnte.24

Konjunkturen  archivieren

A

22 Vgl. ebd., S. 30f. 23 Vgl. ebd., S. 35ff. 24 Vgl. ebd., S. 57ff.

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Konjunkturen  archivieren

Jenseits der politischen Bedeutung der Institution ist in diesem kurzen historischen Überblick als Beispiel auch das 1934 von Joseph Goebbels initiierte Reichsfilmarchiv zu nennen, das „neben Filmen aus der Frühzeit des Kinos und den Produktionen der Weimarer Republik vor allem sämtliche Produktionen der UFA [versammelte]“25. Abgesehen von den durch die deutsche Teilung entstandenen Wendungen, bildet das Reichsfilmarchiv die materielle Basis für die Abteilung „Filmarchiv“ des Bundesarchivs, das die Sicherung des deutschen Filmerbes, des kulturellen Gedächtnisses des deutschen Films, zur Aufgabe hat. Die Begriffe „Film“ und Archivieren beziehen sich jedoch nicht nur auf das Filmarchiv, sondern auch auf die Archivierung mit Film. Es ist eine Tatsache, dass jedes zu konservierende Objekt irgendwann dem Verfall preisgegeben ist und damit die Gefahr besteht, dass nicht nur das Objekt/Trägermedium selbst verloren geht, sondern auch die Informationen, die es auf unterschiedlichste Art und Weise gespeichert hat. Die Konservierung des eingelagerten Objekts ist daher ein wichtiges Element der Archivierung. Dahingehend schreibt das Bundesarchiv z. B.: Im Bundesarchiv ist es Aufgabe der ‚Bestandserhaltung‘, das Archivgut vor Gefahren zu schützen, es zu konservieren und zu restaurieren oder, falls die Originalerhaltung nicht mehr möglich ist oder unwirtschaftlich wäre, die Informationen auf neues, haltbareres Trägermaterial zu übertragen.26

Wie das Zitat zeigt, werden die Daten, oder wie im Fall des Filmarchivs die Filme, auch weiterhin auf ihrem Original-Trägermedium konserviert. Dafür werden sie immer wieder auf 35mm bzw. 16mm Film umkopiert. Damit hängt aber auch die grundlegende medienwissenschaftliche Frage nach der Lesbarkeit der jeweiligen Informationen zusammen. Während es im Fall von Schrift – abgesehen von der notwendigen Sprachkenntnis – noch relativ einfach ist, die Information auszulesen, wird es bei anderen Speichermedien, wie z. B. einer Diskette, schwieriger. Um die Informationen der archivierten Diskette lesen zu können, ist es notwendig, auch das dafür vorgesehene Lesegerät mit zu 25 Meiller: Fortlaufende Modernisierung. In: Trajekte, S. 13. Vgl. hierzu auch: Borde: Les ciné-

mathèques, S. 59ff.

26 Bundesarchiv (Hrsg.): Das Bundesarchiv, S. 62. Vgl. hierzu auch: Bundesarchiv (Hrsg.):

­Tätigkeitsbericht 2009/2010, S. 18f.

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archivieren, damit auch in Zukunft die Informationen genutzt werden können. Im Gegensatz zu dieser Art von Speichermedien oder auch den digitalen Informationen ist der Vorteil des Mediums Films, dass nur Licht und das eigene Auge notwendig sind, um die dort gespeicherten Informationen einzusehen. GEGENBEGRIFFE  Im Kontext des Archivierens erscheint es schwierig, von

Gegenbegrifflichkeiten zu sprechen, da es so etwas wie „nicht Archivieren“ als eigenen Begriff streng genommen nicht gibt. Es wäre möglich, zu sagen, dass das Löschen eine Gegenbegrifflichkeit darstellt. Zu argumentieren wäre jedoch, dass das Löschen bereits voraussetzt, dass etwas archiviert wurde und somit durch das Löschen aus dem Speicher gelöscht wird. Letzteres würde wiederum aber im Gegensatz zum eigentlichen Sinn des Archivierens, dem Archivieren als (Auf-)Bewahrung, stehen. Darüber hinaus setzt der Begriff des Löschens auch ein gewisses Maß an Vorsätzlichkeit voraus, während der Akt des „nicht Archivierens“ auch impliziert, dass etwas für die Archivierung einfach nicht in Betracht gezogen bzw. bewusst nicht aufgenommen wird. Es wäre dahingehend vielmehr zu sagen, dass die Gegenbegrifflichkeit zum Archivieren im oder genauer gesagt aus dem Akt des Archivierens selbst entsteht. Wie schon erwähnt, ist kein Archiv allmächtig und allwissend. In diesem Zusammenhang kann es – schon aus rein logistischer Sicht – nicht alles beinhalten, was es zu archivieren gilt. Jedes Archiv braucht daher eine gewisse Richtlinie und Ausrichtung, die bestimmt, was archiviert wird und was nicht. Die Tatsache, dass ein Archiv sich eine bestimmte Ausrichtung gibt, führt jedoch auch unweigerlich dazu, dass bestimmte Objekte zwar archiviert und damit auch konserviert werden, um später als historische Dokumente oder Objekte genutzt zu werden. Zur gleichen Zeit bestimmt die Ausrichtung aber auch, welche Objekte nicht in das Schema passen und somit eben „nicht archiviert“ werden und damit möglicherweise dem Vergessen und Verfall preisgegeben werden.

Perspektiven  archivieren

A

PERSPEKTIVEN  Ein Archiv kann aus mehreren Gründen nur eine begrenzte und

v. a. spezifische Art von Objekten und Informationen archivieren. In Hinblick auf den Zentralen Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland (Barbarastollen im Schwarzwald) – in dem auf Mikrofilmen die Informationen sämtlicher archivierter Dokumente aufbewahrt werden –, wurde des Öfteren der Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ genannt, der im Kontext des Archivierens

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Perspektiven  archivieren

eine wichtige Rolle spielt. Es stellt sich die Frage, was genau dieses „kulturelle Gedächtnis“ ist, das quasi das Erbe einer ganzen Nation umfassen soll. Aleida Assmann unterteilt diesen Begriff in ihrem Text ARCHIVE IM WANDEL DER MEDIENGESCHICHTE wiederum in das Speicher- und Funktionsgedächtnis.27 Sie wählt den Begriff des kulturellen Gedächtnisses, weil dieser zwei Aktionen umfasst: „Erinnern und Vergessen“28. Das Archiv als Speicherort und Gedächtnis bewahrt Objekte und Informationen nicht nur auf, sondern vergisst sie auch. Dieses Vergessen ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen: Zum einen führt die Tatsache, dass bestimmte Elemente in das Archiv aufgenommen und somit auch erinnert werden, zugleich auch dazu, dass andere Elemente nicht aufgenommen und somit (eventuell) vergessen werden.29 Der andere Aspekt des Vergessens bezieht sich auf das bereits zu Beginn erwähnte Beispiel von METROPOLIS und die Tatsache, dass manche Objekte im Archiv nicht verloren sind, sondern einfach nur unzugänglich.30 Speicher- und Funktionsgedächtnis können jedoch erst entstehen, wenn es so etwas wie Speichermedien gibt, die nicht von einzelnen Menschen abhängig sind und, wie es z. B. in Gedächtniskulturen der Fall ist, in denen die Erinnerungen mündlich überliefert werden.31 Diese beiden Formen sind jedoch nicht statisch, so wie es auch nicht das menschliche Gedächtnis ist. Das Funktionsgedächtnis beinhaltet all das, was von einer Gesellschaft ausgewählt wurde und dem ein Wert zugesprochen wird (Kanonisierung). Exemplarisch sind hier der Kanon, aber auch Museen und Monumente. Es handelt sich somit um einen aktiven und aktuellen Diskurs. Vergleichbar wäre dies mit den bereits erwähnten Akten, die zwar – rein logistisch gesehen – an einem Ort (Archiv) aufbewahrt werden müssen, jedoch immer noch einen Legitimationsanspruch, oder genauer, eine aktuelle Wichtigkeit haben, um z. B. einen Gebietsanspruch zu untermauern. Das passive Speichergedächtnis hingegen umfasst all das, was in einer Gesellschaft an Bedeutung verloren hat. Dies wäre somit mit dem

27 Vgl. Assmann: Archive im Wandel der Mediengeschichte. In: Ebeling/Günzel (Hrsg.): Ar-

chivologie, S. 168.

28 Ebd. 29 Vgl. ebd., S. 169. 30 Vgl. ebd., S. 165ff. 31 Vgl. ebd., S. 170f.

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Moment zu vergleichen, in dem die bereits erwähnten Akten ihren Legitimationsanspruch verlieren.32 Exemplarisch sind hier eben die (historischen) Archive. Es gilt jedoch festzuhalten, dass diese beiden Aspekte miteinander verbunden sind, da das ansammelnde Speichergedächtnis notwendig ist, um etwas wie Vergangenheit und somit auch Geschichte in einem aktuellen Diskurs für die Gesellschaft erst möglich machen zu können.33 Der Begriff „Archiv“ und das Archivieren reduzieren sich jedoch nicht nur auf den physischen Ort, an dem die Objekte gelagert werden, sondern beziehen sich auch auf eine nicht-physische Ebene, die mitgedacht werden muss, wenn sich mit dem Begriff des Archivierens befasst wird. Wenn daher vom System die Rede ist, das aus besagtem materiellem Speicherort „Archiv“ Informationen ausliest, so darf der Archivbegriff von Michel Foucault in seinem Werk ARCHÄOLOGIE DES WISSENS nicht unerwähnt bleiben. Der (viel zitierte) Kernsatz im Zusammenhang mit Foucaults Archivbegriff, ist zweifellos: „Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht“34. Das Archiv im foucaultschen Sinne ist somit das System, das es ermöglicht, dass sich die einzelnen gespeicherten Elemente, die Aussagen wie es Foucault beschreibt,35 zusammensetzen und hervorkommen, zugleich können sich dadurch aber auch diese einzelnen Elemente neu transformieren.36 „Es ist das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen“37. Das Problem das sich nun ergibt, folgt man dem Gedankengang von Foucault weiter, ist, dass wir als Betrachter, selbst in einem System, einem Archiv leben: „Es liegt auf der Hand, daß man das Archiv einer Gesellschaft, einer Kultur oder einer Zivilisation nicht erschöpfend beschreiben kann; zweifellos nicht einmal das Archiv einer ganzen Epoche“38. Es ist uns jedoch nicht möglich aus diesem System herauszutreten, um es zu betrachten und darüber

Perspektiven  archivieren

A

32 Vgl. ebd. 33 Vgl. ebd., S. 171f. 34 Foucault: Archäologie des Wissens. S. 187. 35 Vgl. ebd., S. 116f. 36 Vgl. ebd., S. 187f. 37 Ebd., S. 188. 38 Ebd., S. 188f.

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Forschung  archivieren

zu sprechen, „da wir innerhalb seiner Regeln sprechen, da es dem, was wir sagen können – und sich selbst als dem Gegenstand unseres Diskurses – seine Erscheinungsweise, seine Existenz – und Koexistenzformen, sein System der Anhäufung, der Historizität und des Verschwindens gibt“39. Dies würde bedeuten, dass die Deutung von Objekten/Informationen in einem Archiv (hier im klassischen Sinne als Aufbewahrungsort verstanden) und somit auch die daraus resultierende Schaffung von Geschichte, immer durch das System, die Umstände, beeinflusst ist, in dem die Deutung gemacht wurde – somit auch aus zeithistorischer Sicht. Im Umkehrschluss wäre jedoch zu theoretisieren, dass die einzelne Aussage, das einzelne Objekt und die Information in einem Archiv, wiederum auch die Deutung selbst beeinflusst. FORSCHUNG  Ein zweifelsohne wichtiger Aspekt mit dem sich das Archiv

und die Forschung auseinandersetzen muss, ist das Problem oder genauer gesagt die Herausforderungen der zunehmenden Digitalisierung und des Internets. Konferenzen wie z. B. Zugang gestalten!40, die im November 2012 in Berlin u. a. mit Beteiligung von Wikimedia Deutschland e.V. und Vertretern der Archive stattfand, beweisen, dass die Debatte über diese Probleme bereits im Gange ist. Das Problem und die Herausforderungen der Digitalisierung sind auf zwei Ebenen: Zum einen stellt sich die Frage nach der Zugänglichkeit, denn gerade die Digitalisierung bietet die Möglichkeit, dass die Informationen aus einem Archiv, unabhängig vom Ort, theoretisch jederzeit und von jedem ohne Problem eingesehen werden können. Zur gleichen Zeit stellt sich aber auch die Frage nach der Konservierung der eigentlichen Archivobjekte bzw. was mit ihnen passiert, wenn einmal die Informationen des jeweiligen Objektes digital gespeichert wurden. Wie auch die Diskussion bei der Konferenz Zugang gestalten! und der bereits in Hinblick auf das Bundesarchiv erwähnte Prozess der Umkopierung zeigen, wird es auch in Zukunft so sein, dass die archivierten Objekte auf ihrem originalen Trägermedium erhalten werden, zumal es unabdingbar sein wird, eine Ausgangskopie zu haben, von

39 Ebd., S. 189. 40 Vgl. hierzu: Klimpel: iRightsLab Kultur. In: Zugang gestalten. Unter: http://www.zugang-

gestalten.de/dokumentation-2012 [aufgerufen am 23.08.2013].

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der weitere, auch digitale Kopien gemacht werden können. Die Frage nach der Nullkopie, die gesichert und konserviert wird, stellt sich aber bei rein digitalen Archiven, wie z. B. dem Online Portal YouTube41 oder der Fotosammlung Flickr anders, gerade weil es im Fall eines rein digitalen Archivs so etwas wie eine physische Ausgangskopie gar nicht gibt. Eine Ausnahme wäre z. B. wenn das Original eines gespeicherten Fotos noch in physischer Form beim Nutzer liegt. Aber auch hier ist dieses Foto wiederum nicht Teil eines Archivs, weil es nicht dort eingelagert ist. Es wäre daher zu diskutieren, wie sehr sich diese Art von Archiven von den „klassischen“, physischen unterscheiden. Darüber hinaus wäre auch zu fragen, ob es notwendig und machbar ist, von den digitalen Objekten eine physische Kopie zu machen, die dann – genau wie die Informationen im Barbarastollen – wiederum archiviert wird. Diese neue Art von Archiven stellen nicht nur neue Fragen in Hinblick auf die Zugänglichkeit, sondern auch auf die Konservierung und die „Verwaltung“ des Archivs. YouTube oder Flickr bieten die Möglichkeit, dass potenziell jeder Objekte in das Archiv laden kann, teilhaben und somit auch theoretisch mitbestimmen kann, was aufgenommen wird und was nicht. Wenngleich auch hier wieder organisatorische Aspekte eine gewisse Ordnung bringen werden und es somit sicherlich immer eine kleine Gruppe geben wird, die das Archiv federführend betreut, stellt die Digitalisierung das Archiv vor neue Herausforderungen, nicht nur aus logistischer Sicht, sondern auch – gerade weil viel mehr mitbestimmen können, was schlussendlich historisch werden könnte – in Hinblick auf das Verständnis von Geschichte durch ein Archiv und das Archivieren.

Literaturempfehlungen  archivieren

A

LITERATUREMPFEHLUNGEN Assmann, Aleida: Archive im Wandel der Mediengeschichte. In: Ebeling, Knut/Günzel,

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Stephan (Hrsg.): Archivologie. Theorien des

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens,

Berlin (2009), S. 165–175.

Vismann, Cornelia: Akten, Medientechnik und

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Frankfurt/M. (1981).

Recht, Frankfurt/M. (2006).

41 Aufgrund des Inhalts des Portals wäre es z. B. weiterführend zu diskutieren, ob und wie YouTube ein „Filmarchiv“ ist oder nicht.

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Verweise  archivieren

VERWEISE  digitalisieren |162|, filmen |241|, kopieren |369|, löschen |429|,

speichern |535|

BIBLIOGRAFIE (Art.) Archiv. In: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache: in 8 Bde., Mannheim

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Reportage-28/komplettansicht [aufgerufen am 23.08.2013].

68

Zeitredaktion: Die Neuentdeckung von „Me­

tropolis“ (09.07.2008). In: Zeit online. Unter: http://www.zeit.de/online/2008/27/

metropolis-vorab/komplettansicht [aufgeru-

fen am 23.08.2013].

A FLORIAN SCHREINER

ANEKDOTE  Im April 1931 entwirft der Autor und Regisseur Antonin Artaud

einen Inszenierungsplan für das Stück COUP DE TRAFALGAR, das eine neue Form der Orchestrierung von Theatergeräuschen vorsieht. Natürliche Stimmen und Geräusche allein reichen für sein später betiteltes Theater der Grausamkeit nicht mehr aus. Artaud kommt es auf den Effekt als affektive Größe an, der eine Erweiterung der Klangpalette braucht, die nur technisch zu bewerkstelligen ist. Geräusche, Klänge und Musiken, die nicht dem Standard-O-Ton entsprechen, werden sorgfältig ausgewählt, auf Schallplatte aufgenommen und zum richtigen Zeitpunkt zugespielt, denn der Versuch, „mit zehn Statisten den Lärm einer Menge von hunderttausend Menschen nachzubilden“ ist widersinnig. „Hierzu bedient man sich realer, auf Schallplatte aufgezeichneter Geräusche, deren Intensität und Volumen man nach Belieben mit Hilfe von Verstärkern und Lautsprechern, überall auf der Bühne und im Theater verteilt, regulieren kann.“1 1931 noch Vision, wird es im Mai 1935 Realität und etwa von der BLACK MOUNTAIN SHOW2 von John Cage und Freunden im Sommer 1951 beerbt. Aus allen vier Himmelsrichtungen ertönt das schleifende Spiel einer Ondes Martenot, die „tiefen Echos“ der Glocken der Kathedrale von Amiens, reale „Maschinengeräusche“, ein „Metronom, welches das Füßetrippeln der Darsteller verdoppelt; die ebenfalls auf Schallplatte aufgezeichneten Stimmen der Schauspieler [...]: CENCI, CENCI.“3 Es braucht nur noch einen PlattenSpieler oder besser Platten-Wechsler im Off, der die einzelnen Klangfragmente partiturgetreu in den Rhythmus des szenisch-akustischen Spiels einfügt.

Anekdote  aufzeichnen

AUFZEICHNEN

ETYMOLOGIE  Aufzeichnen meint einen einfachen, meist linearen aber manu-

ellen Vorgang auf einen Untergrund oder Träger. Man schreibt oder zeichnet

1 Artaud: Das Alfred-Jarry-Theater, S. 107. 2 Vgl.: Cage: Für die Vögel, S. 205f. Zusammenfassend in: Schreiner: Dramatische Entwick-

lungen im Williams Mix. Unter: http://www.kunsttexte.de/index.php?id=711&idartikel=39793 &ausgabe=39791&zu=121&L=0 [aufgerufen am 10.02.2014]. 3 Artaud: Die Cenci, S. 125.

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Kontexte  aufzeichnen

etwas auf ein Blatt Papier, in ein Heft oder trägt etwas in ein Register ein. Zu aufzeichnen finden sich nur wenige Einträge in einschlägigen Wörterbüchern. Noch recht eindimensional verweist GRIMM auf das neunl. Opteekenen – „merkwürdige begebenheiten aufzeichnen“4. Das WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN GEGENWARTSSPRACHE unterscheidet hingegen schon zwei Ebenen: „1 etw. auf etw. zeichnen“ – eine Skizze auf einen Block oder ein Muster auf einen Stoff aufzeichnen – und „2 etw. (sorgfältig) niederschreiben“ – u. a. alte Volkslieder oder Erinnerungen aufzeichnen.5 Das GOETHE-WÖRTERBUCH nimmt eine ähn­liche Einteilung vor, verzeichnet jedoch zusätzlich das heute unübliche reflexive Verb: „sich jdm a.’: sich jdm sichtbar machen, Gestalt annehmen“6. Eintragen, aufzeichnen und aufschreiben7 unterscheiden sich nicht wesentlich voneinander. In allen Fällen fügt man etwas dem Material hinzu, indem man es mit einem Schriftzug bedeckt, es mit Tinte, Tusche, Blei oder Wachs abdeckt. Das Schreibzeug bestimmt Dichte und Breite dieser Spur. Es wird dem Schreibgrund etwas hinzugefügt, ihm mit der Härte des Schreibzeugs aber auch Gewalt angetan, ihm mit Druck eine tiefere Schicht eingeprägt, die entsprechend anders gelesen werden muss. Mit leichter Führung malt man Buchstaben, Zeichen und Symbole Zeile um Spalte zunächst in einer bestimmten Richtung und zumeist frei mit der Hand. Der augenblickliche Gedanke allein führt den Kiel oder ein anderes Schreibzeug und greift dabei auf die Fähigkeit zurück, „mit der Feder meine Gedanken aufzuzeichnen.“8 KONTEXTE   Aufzeichnen entfaltet deckungsgleiche Kontexte, wie sie ausführli-

cher in den ‚ursprünglichen‘ Worten wie ‚zeichnen‘ oder ‚schreiben‘ behandelt und diskutiert werden. Deshalb soll im Verlauf des Artikels der Fokus explizit auf Tonaufzeichnung gelegt werden.

4 (Art.) aufzeichnen. In: Grimm online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ [aufgerufen

am 23.04.2014].

5 (Art.) aufzeichnen. In: Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (DWDS online). Un-

ter: http://www.dwds.de/ [aufgerufen am 23.04.2014].

6 (Art.) aufzeichnen. In: Goethe-Wörterbuch online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/GWB/

[aufgerufen am 23.04.2014].

7 Vgl. (Art.) aufzeichnen. In: Adelung online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/Adelung/

[aufgerufen am 23.04.2014].

8 (Art.) Aufzeichnen. In: Grimm, Sp. 856.

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Der Gedanke will sich von einer ersten einfachen Geste zu einer prägnanten Gestalt entwickeln und dabei alles Flüchtige des Augenblicks loswerden: Erst aufzeichnen, dann ausarbeiten, bis am Ende eine Erzähllinie erkennbar ist, die Bestand hat oder durch eine Signatur autorisiert ist. Komplexere Gestalten wie Werke oder Musiken werden daher nur behelfsmäßig von der einfachen Linie her entworfen und auch die schulische Schrifterziehung ist nur ein Anfang, ein erstes Maß der Ausführung, das sogleich eine reiche Palette möglicher Richtungen und Formen eröffnet, so wie Paul Klee sie etwa in seinem PÄDAGOGISCHEN SKIZZENBUCH von 1925 vorführt. Es gibt dort: aktive, passive, mediale Linien mit und ohne Richtung, sich selbst beschreibende Linien mit Begleitungsformen, geschichtete, umschlungene oder kreuzende Linien. Mehrere Nebenlinien etwa bilden dann eine imaginäre Haupt- oder Klanglinie, die von Violinen- und Bassschlüssel angeleitet auf und zwischen den Linien Körper mit unterschiedlichem Gewicht, also Noten mit Kopf und Fähnchen aufnimmt, die mal höher mal tiefer neben- und übereinander „wie zwei Körper im Raume“ auf der Leiter sitzen und so eine „leicht erkennbare und hervortretende Ähnlichkeit mit der Bewegung im Raume“9 aufweisen. Die musikalische Stimmführung lässt sich mittels Notation zwar bildlich aufzeichnen, der lebendige Ausdruck der Stimme gelingt aber nur ungefähr, fragmentarisch, skizzenhaft. Interessanterweise löst Klee das Skizzenhafte, Deformierte, den „Infantilismus“ der Gebärden gerade nicht im Vollständigen, in der Detailtreue, im naturalistisch Körperhaften auf. „Ich will hoffen, dass der Laie, welcher in Bildern nach einem von ihm besonders geliebten Gegenstand Jagd macht, im Bereich meiner Umgebung allmählich ausstirbt.“10 Die Analogie ist perfekt. Es braucht zwar immer den Satz, die Ordnung und das Stück, aber nur mittelbar, denn erst unter Mitwirkung des Hörers schließt sich das Werk ab, wie auch der wandernde Blick des Betrachters den visuellen Rahmen des Bildes nach seiner zeitlichen Dimension transzendiert und vervollständigt. Bei plastischen Gegenständen gelingt dies durch Umrundungen. Der Sinn neuerer Werke ist ein Mitwirken zu produzieren, das den immanenten Gedanken vervollständigt, quasi dingfest macht und die Grundlage bildet für

Kontexte  aufzeichnen

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9 Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen, S. 577. 10 Klee: Der Vortrag. In: Minerva, S. 59.

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Kontexte  aufzeichnen

weitere enzyklopädische Operationen des Vergleichens und Rezipierens. Die musikalische Werkaufführung ist dabei ein flüchtiger Moment, denn Erinnerungen zeichnen nur wenig „wahrheitsgetreu“11 auf. Erst die mechanischelektrischen Aufzeichnungen von Walze, Schallplatte, „Film od. Magnetband“ können das Ereignis „festhalten“, „wortwörtlich“12 dingfest machen und dazu ihren dauerhaften Bestand sichern. Waren aber die Noten noch ihre bloßen Zeichen, dann nähert sie sich durch die Nadelkurven der Schallplatten ihrem wahren Schriftcharakter entscheidend sich an. Entscheidend, weil diese Schrift als echte Sprache zu erkennen ist, indem sie ihres bloßen Zeichenwesens sich begibt: unablöslich verschworen dem Klang, der dieser und keiner anderen Schall-Rille innewohnt [...], die hie und da plastischere Figuren ausbildet, ohne dass der Laie ihr anhören könnte, warum.13

Die Schallplatte führt diese fein gekräuselte, gänzlich unleserliche Schrift als geprägte in sich, „darin mag ihr tiefstes Recht gelegen sein, das von keinem ästhetischen Einspruch wider Verdinglichung zu beugen ist.“14 Denn es handelt sich hier weniger um ein Ding als um ein Zeug, es dient seinem Um-zu, dem Gebrauch, worin es verschwindet und seine eigentliche Macht entfaltet: Platte und Spieler sind nomadische Objekte künftigen mobilen Hörkonsums. So steht die Tonaufzeichnung am Anfang vor der optischen Methode und ihrer faktischen Unzulänglichkeit und der Frage: Wie, in welcher Form schreibt sich ein Ton oder Klang auf ? In seinen ENTDECKUNGEN ÜBER DIE THEORIE DES KLANGS unternimmt der St. Petersburger Akustiker und Begründer seines Fachs Ernst Florens Friedrich Chladni um 1800 zahlreiche Versuche, die Bewegung in der Zeit, die sich gewöhnlich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle vollzieht, zum Stillstand zu bringen, um sie so eingehend studieren, d. h. lesen zu können. Er verwendet Stäbe, runde und quadratische Scheiben, die er waagerecht fixiert und mit Sand bestreut. Streicht er nun eine solche Scheibe am Rand mit dem Geigenbogen gleichmäßig an, so zeichnen die Schwingungen des Klangs mit Sand Kreise und Linien auf die Oberfläche. 11 (Art.) Aufzeichnen. In: Meyer, S. 233. 12 Ebd. 13 Adorno: Die Form der Schallplatte. In: Broken Music, S. 47f. 14 Ebd.

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Die Klangfiguren folgen hier dem tönenden Wechsel von Schwingungsbäuchen (Resonanz), die den Sand aufwirbeln, und den zuletzt sichtbaren Schwingungsknoten (Interferenz). Die in der Wahrnehmung stets abwesenden Wellenbewegungen erscheinen als Figuren wie aus dem Nichts und beschreiben dabei doch alle nur ihre eigene Unlesbarkeit. „Oft aber verändern die Linien ihre Lage, trennen oder verbinden sich auf sehr mannigfaltige Art, wobei aber der Ton, ungeachtet der sehr veränderten Richtung der Schwingungen, doch ganz der Nämliche bleibt.“15 Die Figur lässt also keine Rückschlüsse auf den Klang zu, sie zeichnet ihn nicht korrekt auf; sie bleibt unleserliche Skizze, Entwurf, strukturierter Sandaufwurf. Wider die Komplexität des Klangs erfolgte 20 Jahre später die erste lesbare Aufzeichnung eines einfachen Tons. In drei Lectures über Sound beschreibt Thomas Young 1807 die experimentelle Anordnung hierzu:

Kontexte  aufzeichnen

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The situation of a particle at any time may be represented by supposing it to mark its path, on a surface sliding uniformly along in a traverse direction. Thus, if we fix a small pencil in a vibrating rod, and draw a sheet of paper along, against the point of the pencil, an undulated line will be marked on the paper, and will correctly represent the progress of the vibration.16

‚Will be marked‘ heißt bei Young von Hand der schwingenden Gabel geschrieben, die die Führung des Stifts übernimmt und ihn der Frequenz entsprechend hin und her bewegt in Form einer ersten und einfachen Sinusschwingung. Hermann von Helmholtz macht diese Einfachheit zur Grundlage seiner epochalen Unterscheidung von Ton, Klang und Geräusch und in seinem Standardwerk der modernen und technischen Akustik als Vibrografie nachvollziehbar. Der Bogen Papier im vibrografischen System heißt dort B, die Stimmgabel A, der Stift b, Anfang und Ende der Aufzeichnung und damit die tönende Strecke cd.17 Ruht die Gabel auf dem Papier bei gleichzeitiger Bewegung desselben in Schreibrichtung nach rechts, zeichnet das System die alleinige Bewegung des Papiers und nur eine gerade Linie auf. Schwingt die Gabel hingegen, wird 15 Chladni: Entdeckungen über die Theorie des Klangs, S. 30. 16 Vgl. Young: A Course of Lectures on Natural Philosophy and the Mechanical Arts, S. 369. 17 Vgl. Helmholtz: Fig. 5. Unter: http://www.uni-leipzig.de/~psycho/wundt/opera/helmhltz/

toene/Fig05.htm [aufgerufen am 10.02.2014].

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Kontexte  aufzeichnen

diese Linie virtuell und zur geometrischen Spiegelachse der abwechselnd sich hinziehende Berge und Täler. Würde die Aufzeichnung nur eine Sekunde lang dauern, könnte man die konkreten Perioden und somit die Frequenz exakt auszählen. Mit dem Schriftzug endet dann der Ton. „Diese Linie, nachdem sie auf das Papier gezeichnet ist, bleibt stehen als ein Bild von derjenigen Art der Bewegung, welche das Ende der Gabel während der tönenden Schwingungen ausgeführt hat.“18 Ein halbes Jahrhundert später konstruierte Édouard-Léon Scott de Martinville das erste Gerät zur wortwörtlichen Aufzeichnung oder besser: Zur Verschriftlichung der Stimme, deren Sinn in der Lesbarkeit, nicht im potenziell nachträglichem Abspielen besteht. Hierzu ist im Jahr 2008 ein Medientransfer mittels sonification nötig, „or the transformation of nonsonic data into audible sound.“19 Er bespannte also eine Glastrommel mit berußtem Papier, versetzte die Trommel mit einer Kurbel in gleichförmige Rotation und besprach über eine Art Trichter eine Membran, deren vertikale Exkursionen eine Schweinsborste antrieb, welche die Information durch den Ruß in das Papier schrieb, also eindrückte. Das Prinzip dieser vertikal modulierten Rille des Phonautographen von Leon Scott, deren Tiefe sich entsprechend den Auslenkungen der Membran änderte, ist dem Phonographen von Thomas Alva Edison nicht unähnlich, nur schreibt jener in Zinnfolie und später in Wachs und will das Ergebnis auch abhören. Die heute vertraute lateral modulierte Rille wird dann eine Erfindung von Emil Berliners Schallplatte sein. Jedenfalls stellt Alexander Graham Bell, der eigentliche Star von Telefonie und Mikrofonie bereits 1874 einige grundlegende Experimente über die Analyse des Aufbaus von Vokalen an, die wie Helmholtz 1857 nachgewiesen hatte, aus einem Grundton und seinen ganzzahligen Vielfachen, den sogenannten Obertönen bestehen. Bell erliegt zunächst der Crux des Phonautographen, wenn er verschiedene Vokale in unterschiedlicher Höhe in den Trichter singt und diese nach dem obigen Prinzip selbsttätig (das griech. autos in Phonautograph) aufzeichnen lässt und dann versucht, die einzelnen Vokale lesend zu unterscheiden, mit dem Ergebnis:

18 Ders.: Die Lehre von den Tonempfindungen, S. 33. 19 Stern/Akiyama: The Recording that never wanted to be heard and other Stories of Sonifica-

tion. In: The Oxford Handbook of Sound Studies, S. 545.

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1. Vowel sounds uniformly produced periodic curves, whatever pitch of voice was employed. 2. The form of vibration was not a constant characteristic. 3. Different vowels sung to different pitches often seem to produce similar curves. 4. Different vowels sung to the same pitch traced curves of different shapes, but they were not sufficiently marked to enable the vowels to be certainly identified.20

Die harmonische Ordnung der Vokale ist nach Helmholtz, auf den sich Bell hier zumal bezieht, grundsätzlich mittels genau abgestimmter Resonatoren analysierbar und mit einigen elektrischen Hilfsmitteln auch synthetisierbar. Da der quasi stationäre Verlauf der Vokale schon der Leserlichkeit ermangelt, ist die noch komplexere Gestalt der Konsonanten, deren steiler Frequenzgang auch spätere Aufnahmen und Übertragungen sprengen musste, nur nachhörend und unter ganz konkreten Bedingungen verständlich. Das Abspielen des Kinderlieds MARY HAD A LITTLE LAMB, das der fast taube Edison am Abend des 6. Dezember 1877 in den Schalltrichter seines neuen Phonographen brüllt, klingt nur echt, wenn sich die Geschwindigkeit im Verhältnis zu der der Aufnahme nicht ändert. Erste und eingehende Versuche Bells mit Edisons Phonographen zeigen dies:

Kontexte  aufzeichnen

A

A vowell was sung into the phonograph in a high-pitched voice, while the cylinder was turned at a uniform but high rate speed. When the sound was reproduced, the cylinder was started at a high rate of speed and allowed to come gradually to rest. At once the nature of the vowel change became manifest. The vowel aah changed by insensible degrees to awe, oh, and finally to oo.21

Edison bediente sich dieses Effekts schon bald zu Verkaufszwecken und spielte seinem Publikum die Erkennungsmelodie von Menlo Park bald schneller, bald langsamer oder rückwärts vor, was dieser Apparat mit Handbetrieb problemlos leistete. Für den künftigen Markt von 7”, 10” und 12” Records, den Emil Berliner mit seinen leichter zu kopierenden Schallplatten begründet, war allerdings eine automatische, mechanische oder elektrische Regulierung der Geschwindigkeit durch Federwerk und Motor notwendig, so wie auch das Tonbandgerät seine Standards braucht und im November 1952 erhält.

20 Bell: Vowell Theories. In: The American Journal of Otology, S. 173. 21 Ebd., S. 176f.

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Kontexte  aufzeichnen

Noch 1924 wollte ein Besucher von Berliner diesen Effekt der Geschwindigkeit auf die Tonhöhe (Berliner Lautarchiv, SU 15055, ID 8277)22 nicht recht glauben, dass nämlich eine männliche Stimme durch anatomisch korrekte Quinttransposition (3/2-fache Abspielgeschwindigkeit der Aufzeichnung entspricht dem Längenunterschied männlicher und weiblicher Stimmbänder) in eine weibliche Stimme verwandelt werden könne und er ruft spontan aus: „Das klingt doch gerade wie meine Schwester.“ Synchronlauf ist für Verständlichkeit elementar, besonders wenn eine zweite Spur hinzukommt, die anderen Laufgesetzen folgt als der Ton: die intermittierende Bildaufnahme. Edison hatte schon 1895 für seine talking motion pictures sein Filmstudio mit Kamera und Phonographen ausgestattet und konnte so beide Spuren synchron aufzeichnen; allein das Zusammenspiel von acoustic phonograph und motion picture projector blieb eine apparative Herausforderung, wie die erste Aufführung des Jahres 1913 zeigt: The horns are located behind the screen and electrically connected by wires with the elecrical reproducer. [...] A system of belts and pulleys running from one end of the theater to the other was used to secure synchronisation with the projector in the booth. [...] Thus there is no problem of synchronisation in reproducing except to set the needle on the disc at the proper point of before starting.23

Der Ton gehört dem Bild, wie Adorno korrekt feststellt, „nicht umsonst wird der Ausdruck Platte, ohne Zusatz, in Photographie und Phonographie gleichsinnig gebraucht. Er bezeichnet das zweidimensionale Modell einer Wirklichkeit, die sich beliebig multiplizieren, nach Raum und Zeit versetzen und auf dem Markte tauschen lässt.“24 In diesem Modell haben also zwei Wirklichkeiten Platz: Bild und Ton, und sie verfügen über einen gemeinsamen Träger. Ein entsprechend optisches Verfahren war der Tönende Film der Berliner Triergon Klangfilm A.G., der mit Materialien aus dem Weltkrieg noch vor der Einrichtung des Deutschen

22 o.A.: Text der Aufnahme, Emil Berliner (SU 15055). Unter: http://www.sammlungen.hu-

berlin.de/dokumente/8807/ [aufgerufen am 10.02.2014].

23 Stoller: Synchronisation and Speed Control of Synchronized Sound Pictures. In: The Bell

System Technical Journal, S. 184.

24 Adorno: Die Form der Schallplatte, S. 47.

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Rundfunks die Tonereignisse auf einen Filmstreifen fotografierte. Die Tonschwankungen werden hier in Lichtintensitäten übersetzt und als „Schwärzungen der Bromsilberschicht auf den lichtempfindlichen Streifen“25 fixiert. Nach der Entwicklung zeigt die Tonspur eine Reihe von mehr oder minder hellen und dünnen vertikalen Strichen. Zur Wiedergabe führt man den Streifen vor einer Fotozelle vorbei, die die Teilamplituden des Klangs (Grade der Schwärzung) und seine Frequenzen (Dichte der Linien) aufnimmt und in entsprechende elektrische Spannungsänderungen übersetzt, welche der Lautsprecher als Luftdruckschwankungen hörbar macht. Die Aufzeichnung von Bild und Ton läuft synchron, das Zusammenkopieren auf den gemeinsamen Träger zeitlich versetzt, da sich der Bildtransport ruckweise bewegt, während der Klang den gleichmäßigen Transport braucht. Nur so ist Gleichlauf ohne Tonschwankungen möglich. Der große Vorteil dieses Verfahrens gegenüber dem Nadel- oder Plattenton lag bei der weitgehend störungsfreien Aufnahme und er zeitigte mit einer Frequenzhöhe von 11.000 Hz schon zur Zeit seiner Premiere im Jahr 1922 annähernd Hifi-Qualität. Diese Lichttonstreifen waren wie ein gewöhnlicher Film schneidbar und mit einiger Übung auch lesbar. Der Filmpionier und Begründer des Absoluten Films Walter Ruttmann machte sich für seinen 10-minütigen „tönenden Film“ WEEKEND diese Vorzüge zunutze und montierte 1930 kurzerhand die erste Musique Concrète. Auf die Sammlung und Aufzeichnung folgte am nächsten Tag das Auslesen des Materials und so lernt man „Töne, Geräusche abzulesen von ihrem Tonbild. Sirene – haarscharfe dünne Striche, das Tönen eines Hammers breitere Striche, ganz dunkle schwere Striche das Heranrollen einer Lokomotive. Aber obschon sich Ruttmann auskennt in seinen Tonbildern, gibt natürlich das Abhören den Ausschlag.“26 Die Montage muss schließlich stimmen. Die Filmtonaufzeichnung mit Lichtton war bis in die 1950er Jahre weitgehend Standard, wird aber Ende der 1940er Jahre vom Magnetton eingeholt, der im deutschen Radiofunkbetrieb seit 1942 das alleinige Aufzeichnungsinstrument für Wort- und Musiksendungen war und sukzessiv die alten Wachs- und Schellackplatten ablöste.

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25 Engl: Der Tönende Film, S. 5. 26 Goergen: Walter Ruttmann, S. 131.

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Den Medientransfer in die USA machte der Zweite Weltkrieg möglich. Mit der Kriegsbeute Magnetophon und Tonband aufgerüstet wechselten die USA 1946 unter der Führung der Ampex Corp. RCA und 3M zum Tonband und verabschiedeten sich so vom alten Drahtton, dem Klassiker der magnetischen Tonaufzeichnung seit Oberlin Smith (1888) und Valdemar Poulsen (1900), den man weder schneiden noch montieren konnte. Ab 1950 setzt sich dann allgemein der Magnetfilm durch. Anfangs hatten die Schnittmeister noch Probleme mit dem non-visuellen Schnitt des Magnetbandes, weshalb zwischenzeitlich auf Lichtton umkopiert, geschnitten und dann wieder auf Magnetfilm zurückkopiert wurde. Der unmittelbare Magnettonschnitt setzte sich erst 1953 durch und wird auch von Video nicht eingeholt. KONJUNKTUREN  Die ersten Radiosendungen des Jahres 1906, ob in Deutsch-

land im militärisch-hoheitlichen Umfeld von AEG und Telefunken oder im eher amateurgeprägten Amerika mit De Forestscher Audion-Röhre und Kristallempfänger, speisten sich mit Aufnahmen von Caruso, also mit Musik aus der Konserve. Schon Mitte 1917 kam eine rudimentäre Moderation hinzu, als der Gefreite, Ex-Telefunken-Chefingenieur und spätere Ministerialdirektor Hans Bredow, dem 1919 die Leitung und Neuorganisation des Reichs-Funkwesens im Postministerium übertragen wurde, lange vor dem ersten Blaupunkt-Autoradio von 1932, seinen früheren Mitstreiter Georg Graf von Arco mit Begleiter „auf dem Versuchsfeld in der Champagne [...] spazieren fährt, und im Auto hören die drei: Grammophonmusik und nette Grußworte aus der nahegelegenen Experimentier-Baracke.“27 Eine ähnliche Sendegestaltung hört man beim Start der ersten offiziellen Radiosendung am 29. November auf Mittelwelle 400m aus dem Vox-Haus Berlin, die mit Vox-Schallplatten ideale Eigenwerbung betreibt. Die erste offizielle Rundfunkübertragung in Deutschland erfolgte im Oktober 1923 aus einem kleinen Studio [Vox-Haus am Potsdamer Platz, Berlin], das nur provisorisch für die Übertragung hergerichtet worden war. An den Wänden hingen Pferdedecken, dahinter befand sich zusammen-geknülltes Seidenpapier

27 Hagen: Das Radio, S. 65.

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als Schallschluckmaterial, Vorhänge an den Wänden und teilweise abgehängt von der Decke sowie dicke Teppiche auf dem Fußboden. Für die Schallaufnahme wurde ein Reiß’sches Mikrofon verwendet sowie ein Phonograph, der den Schall durch den Trichter direkt in das Mikrofon abstrahlte.28

Die produktive Verbindung von Radio und Aufzeichnungsformaten wie Wachs-, Schwarz-, Schellack- und Schallplatte ist nicht die einzige mediengeschichtliche Konjunktur, die bis heute Bestand hat, denn es macht bei der Gestaltung von Radio einen wesentlichen Unterschied, ob es sich um Zuspiel oder aber um Direktübertragung handelt, die dann auf der Hörerseite durch das Nadelöhr des monophonen Radioempfängers hindurch muss: Eine weit verbreitete Situation, die kaum das hohe Ideal der Klanggüte im bestens ausgerüsteten Abnahmeraum des Senders reproduzieren kann und daher nach Sendeformaten verlangt, denen solche Beschränkungen nichts anhaben können: radiophone Werkformen wie das Hörspiel oder der Hörbericht, die Reportage. Beide brauchen sowenig den realen binauralen Hörraum wie eine Wochenschau im Kino die Farbe. Es ist schon allein interessant zu beobachten, wie sich das Geschehen auf der Leinwand mit Leben füllt, sobald der Ton einsetzt. Beiden Wahrnehmungsformen reicht die gebotene Detailarmut zumeist hin, bei Musik etwa von Übertragungen aus dem Konzertsaal über Kabel oder Funk ist das schon anders. Erste Hörerfahrungen mit geteilten Kanälen und ohne Zwischenspeicherung machte man bereits im Jahr 1881 auf der Elektrischen Ausstellung in Paris mit der dichotischen Reproduktion und Übertragung einer Bühnenperformance in mehrere Räume des Ausstellungskomplexes. Mit zwei Telefonhörern ausgerüstet, die nicht nur dasselbe Signal auf zwei Ohren (diotisch) übertrugen, sondern ein geteiltes Frequenzband, konnte man den virtuellen Bewegungen auf der Bühne leicht und mit Effekt nachhorchen. Die Hörsituation blieb experimentell und war ab dem Jahr 1914 Gegenstand langer Versuchsreihen am Psychologischen Institut der Berliner Universität unter der Leitung von Carl Stumpf und seinen Mitarbeitern Max Wertheimer, Erich von Hornbostel und Stefan Baley. Eine hochwertige Klangübertragung oder electrical copy

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28 Völker: Akustik und Aufnahmetechnik in den ersten Rundfunkstudios in Deutschland. In:

50 Jahre Stereo-Magnetbandtechnik, S. 183.

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gelang erst an jenem denkwürdigen 27. April 1933 in Washington D.C. unter der Führung von Harvey Fletcher (Bell Telephone Laboratories, New Jersey) und Leopold Stokowski (Philadelphia Orchestra). Die Pick-Up-Stage der Academy of Music in Philadelphia nimmt am Abend ein accurate acoustic facsimile auf, das in real auditory perspective in der Constitution Hall, Washington D.C. mit kaum merklicher Verzögerung zugespielt wird. Das im Radio geschulte Hören ist zwar gut und „in this electrical era it does not seem very remarkable.“ Aber in der Entscheidung über die technische Entwicklung des Hörens gibt allein die Musik die Richtung vor: „Between good reproduction and perfect, however, there is a very wide gap.“29 Und ein Künstler führt diesen Gedanken fort: „Everything evolves constantly, and is always perfectible, both as to the thing itself as to the standards of judgement of the people using it.“30 Eine Übertragung 1:1 gelingt nur zwischen zwei der Größe und Form nach identischen Räumen, die von einem Senderaum gespeist werden. Zwischen Philadelphia und Washington D.C. lag eine beachtliche Volumendifferenz, und manche Auditorien sind das Verhältnis von Direktund Raumschall betreffend auch heute noch problematisch. Aufnahme- und sendetechnisch in der Folge nicht minder diffizil waren die steuertechnischen Einrichtungen von Open-Air-Auditorien mit zusätzlichen Lautsprechern wie etwa in der Hollywood Bowl von 1948: „The Operator blends the amplified sound with the actual sound for the best results, which, in this case, means adding just enough of the amplified sound to permit comfortable listening without the audience realizing that the concert is being reinforced.“31 Es bleibt ein Habitus technischer Geräte, dass sie nur assistieren und idealerweise im Gebrauch verschwinden, so wie hier der zugespielte im direktem Sound. Dabei ist schon früh eine Tendenz des Klangs zur Streuung und eine Multiplikation der Kanäle erkennbar, die nicht allein dem Distributionsins­ trument Radio geschuldet ist. Immerhin wird das deutsche Radio, insbesondere die Berliner RRG und die AEG das Aufzeichnungsmedium Tonband gemeinsam zur Reife und ab 1941 zu höchster Hifi-Qualität führen. Und es gilt die

29 Fletcher: The Reproduction of Orchestral Music in Auditory Perspective. In: Bell Laborato-

ries Record, S. 254.

30 Chavez: Toward a new music, S. 75. 31 Schneider: Sound Reinforcing Systems. In: Audio Engineering, S. 53.

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historische Forderung Stereo zu erfüllen, damit die Aufgaben „schichten und steuern“ folgen können. Erste stereophone Aufzeichnungen beginnen Mitte 1943 und bis Herbst 1944 sind rund 250 Stereo-Musikaufnahmen erstellt, darunter fünf vollständige Opern, so etwa aus Bayreuth Richard Wagners TANNHÄUSER und MEISTERSINGER. Während die UFA-Jubiläumsproduktion von 1943 – Josef von Bákys MÜNCHHAUSEN – noch mono lief, die zweite Spur war für den Pilotton als Steuersignal für die Synchronisation von Bild- und Tonspur reserviert, hatte Walt Disney in Zusammenarbeit mit dem Raumklangexperten Dr. Stokowski 1940 seinen „Fantasound“ für FANTASIA bereits auf vier Spuren (und auf Triergon-Lichtton) aufgezeichnet und setzte so den Standard für folgende CinemaScope-Filme der Twentieth Century-Fox. Ab 1943 sind vier Magnetspuren, Kanäle links, Mitte, rechts und „surround“ obligatorisch. Die Magnetspuren wurden separat aufgezeichnet (separate magnetic track, SEPMAG) und dann auf einen Träger kopiert (COMMAG), wobei man noch eine fünfte MonoSpur mit Lichtton als „back-up“ (dann auch für kleinere Kinos geeignet) in Reserve hielt. Es verwundert daher nicht, wenn John Cage 1952 aus dem Geist der magnettechnischen Zeit seinen WILLIAMS MIX in acht Spuren komponiert und 1953 in Chicago über acht Tonbandmaschinen in den Raum spielt: Eine „Magnetrillion“ für den ultimativen Surround-Klang, nur noch gesteigert vom ‚Elektronischen Gedicht‘ von Edgar Varèse für den Philips-Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung 1958, vermittelt von Le Corbusier. Der Pavillon selbst war die in Betonschalen gegossene Musik METASTASIS seines Pariser Assistenten Iannis Xenakis. Varèse und Philips „komponierten“ die Schallrouten dieses 8-minütigen POÈME ÉLECTRONIQUE auf zwei Bändern, von denen das eine drei Spuren Audiomaterial trug und das andere 15 Spuren Steuersignale für die 350 im Raum verteilten Lautsprecher, Lichter und Projektoren; „und jeder der 15 Wiedergabeköpfe liefert eine Überlagerung von 12 Signalen, die mittels selektiver Verstärkung in ihre Komponenten zerlegt“32 werden. Oder allgemein: Mit der magnetischen „Steuerung können nicht nur Ein- und Ausschaltvorgänge bzw. der Drehrichtungswechsel von Motoren festgehalten und reproduziert werden, sondern auch Geschwindigkeitsänderungen aufgezeichnet werden. Es kann also hiermit jeder beliebige Bewegungsvorgang festgehalten

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32 Tak: Verwirklichung des „Elektronischen Gedichtes“ im Philips-Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung. In: Philips Technische Rundschau, S. 78.

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Gegenbegriffe  aufzeichnen

werden.“33 Der Synchronlauf beider Bänder oder 35mm-Filme war, wie in der Kinopraxis der Zeit üblich, durch Perforation und einen schnellstartenden Synchronmotor gewährleistet: Eine 8-minütige Konjunktur von Klang, Raum, Architektur und Bewegung. GEGENBEGRIFFE  Zum Schreiben gehört das Lesen, zum Sprechen das Hören,

zum Aufzeichnen das Abspielen, Übertragen und Senden. Und doch bleibt es nicht bei dieser Komplementarität. Etwas mit Tinte schreiben, heißt immer auch, wie man früh lernt, Geschriebenes wieder löschen zu können. Bleistiftspuren werden ausradiert, Kreide von der Tafel gewischt, eine andere Handbewegung wischt den Sand von Chladnis Klangscheibe oder den Ruß von Leon Scotts Glaszylinder und die Aufzeichnung kann von vorne beginnen; allerdings bleibt bei Scott der von Schriftspuren gezeichnete Papierbespann als schwacher Gedächtnisträger doch bestehen. Für permanentere Druck-Schriftspuren hilft Tipp-Ex, dann ist es ein Löschen durch Überschreiben oder aber man muss die Oberfläche abschleifen wie Tonspuren in Wachs. Generell gilt hier, je tiefer die Spur, desto dauerhafter und weniger anfällig gegenüber zufälligen Störungen ist das mechanische Gedächtnis. Im Radiobetrieb erneuerte man früher den Tonträger durch das Abziehen der oberen Wachsschicht. Der Grund hierfür war, dass die Wachsplatte der Aufzeichnung höchste Klangtreue brachte, die Spielbarkeit dagegen auf nur einige wenige Male beschränkte. Es wurden daher meist zwei Aufzeichnungen geschnitten, eine zur Kontrolle für den Künstler und eine für die Sendung. „Zur Sendung kamen Wachsplatten also nur, wenn die Aufzeichnungen nicht erhalten werden sollten.“34 Danach wurden sie mit einer speziellen Wachsplatten-Abdrehmaschine plan geschabt und ‚gelöscht‘. Konkret: „im ersten Arbeitsgang wurde zunächst die Wachs­ oberfläche mit einem Stahlmesser abgezogen, dann mit einem geschliffenen Saphirmesser absolut eben und auf Hochglanz getrimmt.“35 Erst das galvanoplastische Kopieren auf Schallplatte machte die Spur der Aufzeichnung dauerhaft und archivierbar, jedoch unter Vorbehalt des Qualitätsverlustes, der

33 Schmid: Automatologie, S. 227. 34 Engel/Kuper/Bell: Zeitschichten, S. 157. 35 Ebd.

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mit jeder weiteren Pressgeneration zu weiteren Dynamikverlusten führt. Wie auch beim Magnetband kommt hier das Eigenrauschen des Trägers mehr und mehr zum Vorschein und macht das Signal schwächer, klangärmer, tonloser, bis es am Ende völlig maskiert und ‚gelöscht‘ ist. Der für das Kino entwickelte Lichtton hinterließ eine permanentere, da fotografische Spur, die man nicht löschen und neu bespielen konnte und die noch über Nacht entwickelt werden musste. Ein entscheidender Vorteil des künftigen Magnettons war da das unmittelbare Abhören der Aufnahme. Der Einsatz von Magnetton im Kino hinkt dem puren Audiobereich etwas hinterher, was das Primat des Audio betont – und die Macht der Gewohnheit. Audioschnitt ist also unproblematisch, das Gerät ein Idealinstrument für jeden Sendebetrieb, „da es jetzt kein Problem mehr war, die gewünschten Passagen aus der Originalaufnahme entweder herauszuschneiden oder zu kopieren und das Ganze in wenigen Minuten zu einem ‚Sendeband‘ zu montieren.“36 Beim modernen Videoband gelingt Schnitt und Montage nicht so elegant, wenn nicht seine charakteristisch diametrale oder „helical-scan“-Schrägspuraufzeichnung den Schnitt überhaupt unmöglich macht, und sich das Reel-toreel-Band daher wunderbar in das Kassettenformat fügt. Das Umkopieren, Überspielen und ein zeitversetztes Playback von Reels und Kassetten bleibt die eigentliche Funktionalität von Video.

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PERSPEKTIVEN   Das Erstellen eines privaten Audio-Tapes ist ein einfacher

Vorgang, der dem offiziellen Radiobetrieb abgelauscht ist und zu den in den 1950er Jahren populär werdenden ersten DIY-Produktionen führt, wie „making a featuretape, […] speech and music, sound effects and announcements at will“37 oder einfach: Amplify your Party fun with tape. Zuerst trifft man eine Auswahl, was auf das Band gehört: „the sorting could be done in advance, with tunes arranged in a sensible sequence, lengthened or shortened at will, and with the precious old 78’s stowed safely out of harm’s way when the job was done.“38 Für eine dauerhafte und unhörbare Montage verschiedener Bandabschnitte gelten 36 Ebd., S. 177. 37 Amphlett: Making a feature Tape. In: Tape Recording and Reproduction Magazine, S. 11. 38 Field: Amplify your Party Fun with Tape. In: Tape Recording and Reproduction Magazine,

S. 16f.

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zwei Regeln: das auslaufende Schneiden und das Hinterkleben des Bandes. Und es müssen die richtigen Bandstellen für den Schnitt aufgefunden werden. Die zu schneidende Stelle wird in die Umgebung des Hörkopfes gebracht, wobei das ruhende Band durch ruckartiges Ziehen von Hand eine hörbare Wiedergabespannung erzeugt, die bei einiger Übung als zum akustischen Bild des Vorganges gehörend zu erkennen ist. Die so gefundene Bandstelle kann dann über dem Hörkopfspalt durch einen Bleistift markiert und leicht geschnitten warden.39

Falls das Material einen detaillierteren Schnitt fordert, hilft es, da die Treffsicherheit von der Bandlänge des Schallereignisses abhängt, das Band auf eine niedrigere Bandgeschwindigkeit zu kopieren, quasi die Zeitlichkeit des Ereignisses zu raffen, zu schneiden und dann auf die Standardgeschwindigkeit zurückzuspielen. Nur gilt, dass hier Verluste lauern, da Qualität und Tonspektrum proportional zur Bandgeschwindigkeit ansteigen und abfallen. Auch häufiges Umkopieren von einer Spur auf die nächste, wie es frühe Kassetten-Heimproduktionen der 1980er DIY-Ära zum sukzessiven Spuraufbau nötig machten, birgt die Gefahr des ansteigenden Rauschpegels; zweimaliges Umkopieren ist dagegen unproblematisch und effektiv. „In the course of this re-recording, we can use all the ressources of electrical transmission. We can amplify all or parts of the sound, correct the tempo, give accents, or weaken certain passages.“40 Neben Autonomie (home taping is killing music, so ein bekannter Slogan der Musikindustrie) und verhältnismäßig günstigen Preisen für das Home Equipment bedeutete die leicht auswechselbare Kassette v. a. einen ungeheuren Zuwachs an Mobilität. Es sind sozusagen Go-anywhereportables gegenüber den nur transportablen Geräten der 1950er Jahre. Batteriebetriebene Geräte wie der Messeschlager der Berliner Funkausstellung des Jahres 1963 machen das Musikhören und -aufzeichnen wahrlich mobil. Der EL 3300 mit Trageriemen, Mikrofon von Philips/Sony heißt noch nicht „Walkman“, aber ist schon ab 1967 ein mobile stereo (EL 3312). Mit der Wende zum mobilen Gebrauch allein, etwa mit dem Modell 2600 des gleichen Jahres als Ersatz

39 Enkel/Schütz: Zur Technik des Magnettonbandes. In: Technische Hausmitteilungen des

NWDR, S. 17.

40 Chavez: Toward a New Music, S. 102.

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für das Autoradio wird eine auch dem iPod von 2001 auferlegte funktionelle Reduktion vorbereitet: Just playback only. 1966 nutzt der Cut-up-Spezialist William S. Burroughs die ganze Funktionsbreite des Geräts für seine mobile Audio-Stadt-Guerilla. Sie brauchen einen Philips Kassetten-Recorder – Es ist ein handliches Gerät, um auf der Straße aufzunehmen oder abzuspielen – Um aufzunehmen können Sie es unter Ihrem Mantel tragen, beim Abspielen sieht es wie ein Transistorradio aus – Abspielen auf der Straße zeigt Ihnen den Einfluss eines Tonbands in Aktion – Natürlich ist es am unauffälligsten, Straßenaufnahmen zu spielen – Die Leute merken es nicht – Die Stimmen von gestern, das Phantom­auto – Löcher in der Zeit – Geschehen in der Vergangenheit spielt in der  – Bremsenquietschen, das laute Hupen eines abwesenden Autos können hier einen Unfall herbeiführen.41

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Nicht weniger subtil und doch stiller im Gebrauch ist der Walkman, der 1980 auf den Markt kommt und den Siegeszug der mobile stereos einleitet. Und darin sind sich die ‚Sound Studies‘ einig: Nach Einführung von Radio, Lautsprecher und Tonband verändert sich ein weiteres Mal die akustische Umgebung oder Soundscape, und damit die kommunikative oder audio-topische („audiotopia“ nach Michael Bull zusammengesetzt aus audio und topos: Ort, Raum, Gegend) Befindlichkeit. „Like a landscape, a soundscape is simultaneously a physical environment and a way of perceiving that environment; it is both a world and a culture constructred to make sense of that world.“42 Klang ist Bewegung, Lied und Lautstärke schließen den Raum ab und Rhythmus setzt ihn in Bewegung. Lautstärke ist zudem eine extrem taktile Erlebnisweise, die den Hörer ganz an das Gerät anschließt, ihn aber auch wissentlich schädigt und zudem jegliche materielle Präsenz von Tonträgern oder Abspielgeräten vergessen macht. Man schwimmt frei im Raum. Das toxische Risiko von Hörschädigung wäre zumindest durch den Einsatz von Interferenzsystemen etwa der QuietComfort Serie der Firma Bose zu lindern. Michael Bull argumentiert hier gegen den kontinuierlichen und für einen freieren Gebrauch. Der Freiburger Technikphilosoph Martin Heidegger etwa,

41 Burroughs: Die Unsichtbare Generation. In: Der Job, S. 154. 42 Thompson: Sound, Modernity and History. In: The Sound Studies Reader, S. 117.

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Forschung  aufzeichnen

der intensiv über das Hören nachdachte, gerne vor dem Radio saß und die Illusion der Macht über das Gerät (Zapping, das Springen von einer Welle auf die nächste) schon früh als machtlose Zerstreuung enttarnte, empfiehlt eine gesunde Gelassenheit zu den vielfältigen Anschlüssen an die technische Welt, denn lassen können wir nicht von ihr. „Wir sind auf die technischen Geräte angewiesen; sie fordern uns sogar zu einer immerzu steigernden Verbesserung heraus.“43 FORSCHUNG  Wir brauchen Aufzeichnungen, wir hören Gebrauchsmusik,

sobald wir als Konsumenten in den breiten Markt populärer Musikangebote eintreten, und sie schulen unser Hören wirksamer als die zahlreichen Gesten und Posen unserer Idole und Heroen auf Konzerten, in Festivals und dort ‚zum Anfassen nahe‘ auf der Bühne. Das Maß des Hörens gehört der Schallplatte (oder CD), dem Tonband, wenn es um high resolution und intensive Wahrnehmung geht, vermutlich weniger der Playlist und dem mp3. Es dreht sich also zunächst um die Frage, „whether or not electronic media can present music in a so viable a way as to threaten the survival of the public concert.“ Und Glenn Gould antwortet gleich dort selbst: „Whether we recognize it or not, the long-playing record has come to enbody the very reality of music.“44 Jede neue Aufzeichnungstechnik verändert das Hörgeschehen und die gültige Auffassung von Musik, und sie folgt dem Credo von higher Fidelity, das den Musikmarkt mehrmals auf die Sprünge brachte. Es ist dies ein Ideal, und heute ein binärer Näherungswert. „The aim of the system is to achieve ‚fidelity‘ between the input and output signals, that is, to make them indistinguishable, at least ideally.“45 Truax führt hier gegen die Geräuscharmut und Stille digitaler Techniken das Rauschen der Lüftungssysteme oder die digital soundscapes der Pachinko-Hallen und Computerspiele ins Feld, die streng genommen designte, sonifizierte Signal-Icons sind und keine Aufzeichnungen. Das Musikerlebnis mag heute Hifi sein, wie Michael Bull argumentiert, seine Technik ist allerdings Lofi. Sampling rates und bit sizes werden nach unten skaliert, billigste

43 Heidegger: Zum Atomzeitalter. Schallplatte, S. 2. 44 Gould: The Prospects of Recording. In: High Fidelity Magazine, S. 47. 45 Truax: Acoustic Communication, S. 8.

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Lautsprecher adressieren den Sound an den Hörer, der „entranced by the novelty and convinced of the inevitable progress of technology, tolerates the new arrivals to the soundscape without listening to them.“46 Vinyl knistert, Tonband rauscht, beide zeitigen Noises, die das Mediale hörbar und lokalisierbar machen. Diese Noises, die einst den Betrieb analoger Aufzeichnungen begleiteten und somit graduell zu tolerierende „Störungen“ waren, sind nach ihrer Überführung in digitale Kontexte selbst zu akustischen Emblemen geworden, die auf ihre jeweiligen medienhistorischen Ursprünge verweisen und dadurch zu einer Qualität sui generis geworden sind. Offensichtlich führt hier die Unterscheidung analog/digital zu komplementären Medientechniken des Gebrauchs, wenn man alle Formen des (meist vorläufigen) „Missbrauchs“ vom Inching (Burroughs), Scratching (DJ Culture), Sampling (Hip Hop), das Beatles-Mashup von The Residents, den Remix von Christan Marclay oder die Plunderphonia von John Oswald und Chris Cutler beiseite stellt. Mobil hören wir Lofi, stationär lieber Hifi, und ‚richtig‘ nur mit den eigenen Ohren. Ist also mit der Hörschulung der Higher Fidelity die Fidelity selbst fragwürdig geworden, oder zum stilisierten Retro-Fetisch? Inzwischen hat sich ein breiteres Interesse medienkulturgeschichtlicher Forschung hinsichtlich der Geschichtlichkeit des Klangs entwickelt. Die Frage nach dem charakteristischen „Sound des Jahrhunderts“47 steht auf der Agenda von Zeithistorikern wie Medienhistorikern. Die digitale Archivierung ermöglicht dabei einen Zugriff auf akustische Quellen, der es zunehmend interessant macht, diese nicht nur als atmosphärische Belege für eine vergangene Epoche heranzuziehen. Viel mehr als vordergründigen Inhalt und eine ihre Historizität belegende akustische Patina enthalten Aufzeichnungen Wissen über ihre Gebrauchszusammenhänge, deren Etappen in Form von Medien- als Kulturgeschichte zu erforschen sind.

Forschung  aufzeichnen

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46 Ebd., S. 141. 47 Paul/Schock (Hrsg.): Sound des Jahrhunderts.

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BEDIENEN

Anekdote  bedienen

MARKUS KRAJEWSKI

ANEKDOTE  Auf den ersten Blick sieht sie aus wie eine gewöhnliche Obstschale.

Das braune Mahagoni-Holz, wahlweise mit 40 oder 45 cm Durchmesser, vermittelt zusätzlich zur geölten und polierten Oberfläche einen edlen Eindruck. Der zweite Blick legt die technischen Details frei, ein kugelge­lagertes Chassis etwa erlaubt die stufenlose Rotation der Schale auf dem Tisch oder Büfett, um ganz ohne Interventionen eines menschlichen Aufwärters die Tischgesellschaft mit den unterschiedlichen Gerichten oder Getränken während einer (mehrgängigen) Mahlzeit zu versorgen. Vor allem aber zeigt dieser Blick neben der Preisgestaltung ein außerordentlich weitreichendes Versprechen, das die Hersteller mit dem Objekt verbinden: „$ 8.50 forever seems an impossibly low wage for a good servant; and yet here you are; Lazy Susan, the cleverest waitress in the world, at your service! The mahogany tray (16” in diameter) mounted upon base, revolves on ball bearings—to help you serve things easily.“1 Vorderhand könnte diese Lazy Susan als ingeniöse Verkaufsbezeichnung für einen einfachen hölzernen Tischaufsatz durchgehen. Was jedoch hier in der Dezemberausgabe 1917 jenes populären Magazins, das sich überaus treffend nach William Thackerays Roman Vanity Fair benennt, vom New Yorker Warenhaus Ovington’s an der Fifth Avenue beworben wird, erweist sich als Symptom eines weitreichenden Ersetzungsprozesses. So schlicht diese ‚Erfindung‘ zunächst wirkt, so paradigmatisch steht sie dennoch für jene Veränderung ein, der die Organisation der Dienst-Aufgaben in den Haushalten um die Jahrhundertwende 1900 unterliegt. Im Herbst 1917, kurz vor dem Kollaps der alten Weltordnung, in den letzten Monaten der mitteleuropäischen Monarchien, mit deren Untergang ganze Hofstaaten und die dort angestellten Diener von einem Tag auf den anderen in die Beschäftigungslosigkeit abgleiten, sind nicht nur (männliche) Bediente wie der Butler infolge des Krieges, sondern das Dienstpersonal in den bürgerlichen Haushalten insgesamt knapp geworden. Aufgrund des eingeschränkten Angebots,

1 Werbeanzeige in der Vanity Fair, Dezember 1917.

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Etymologie  bedienen

für den eigenen Komfort überhaupt noch Domestiken ‚halten‘ zu können, sieht man sich daher gezwungen, nach neuen Mitteln zu suchen, um die gewohnt bequeme Versorgung der Herrschaften durch geeignete mechanische Gerätschaften zu ersetzen. Aus welchen Gründen, so könnte man fragen, erscheint das Versprechen einer Ersetzung von Menschen durch Maschinen oder andere technische Geräte überhaupt möglich oder gar jenseits ökonomischer Zwänge wünschenswert? Was trägt dazu bei, dass sich potenzielle Kunden in Midtown Manhattan zur Weihnachtszeit 1917 eher von neuartigen Service-Objekten gut bedient fühlen, statt von klassischen Dienstsubjekten, so dass das Versprechen einer Ersetzung plausibel wird? Eine etwas umfassendere Antwort auf diese Frage macht einen ausgreifenderen Blick in die Geschichte des Service und des Aufwartens erforderlich, die hier zunächst mit der Wortgeschichte von bedienen eröffnet sei. ETYMOLOGIE  Bedienen nimmt sich etwas übersichtlicher aus im Vergleich

zu dem sowohl semantisch als auch kulturgeschichtlich ungleich mächtigeren Begriff dienen, von dem er erst in der zweiten Hälfte des 16. Jhs. abgeleitet wird. Im Gegensatz zum dienen mit seiner Herkunft vom ahdt. ‚dionôn‘ sowie von ‚dio‘ (Knecht, servus) besitzt bedienen also weder eine alt- noch mhdt. Verwendungstradition. Der Begriff erscheint vielmehr im frühneuzeitlichen Gebrauch einem leichten Bedeutungswandel unterzogen: Wo zuvor dienen mit dem Dativ einer Person stand, taucht nun bedienen auf im Akkusativ und als Objekt wird nicht nur eine Person, sondern auch eine Sache adressierbar, also statt exklusiv ‚dem Fürsten zu dienen‘, bezeichnet das Wort nunmehr auch Tätigkeiten wie ‚den Schalter bedienen‘. Der Begriff steht fortan weniger für das primär personenbezogene Wortfeld des lat. servire, sondern eher für ein – nicht zwangsläufig – weniger devotes, aber etwas sachlicheres ministrare. Während servire vom lat. Wort für Sklaven abgeleitet ist und den willfährigen Dienst an einem Höheren bezeichnet, referenziert ministrare vorzugsweise den Kontext des Aufwartens und An-die-Hand-Gehens, also eine etwas weniger dem Leib und der Leibeigenschaft verbundene, ent-persönlichte Tätigkeit. Zusätzlich zu den beiden Modi des Bedienens, einer Person wie einer Sache, tritt noch die reflexive Form hinzu, abgeleitet vom frz. s’en servir, wobei es zumeist darum geht, sich mit diesem Akt der Selbstbedienung einen kleinen Vorteil

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Etymologie  bedienen

zu ergattern. Und schließlich bezeichnet die inzwischen wenig gebräuchliche partizipiale Konstruktion ‚bedient sein‘, aus deren aktiver Verwendung auch das Substantiv ‚Bedienter‘ als Synonym für Diener herstammt, den Umstand, jemandem behilflich zu sein.2 Kaum notwendig zu erwähnen, dass sich diese klassischen Verwendungsweisen seit der Erstauflage von GRIMMS WÖRTERBUCH von 1854 gewandelt haben. Das DIGITALE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE etwa listet zusätzliche Bedeutungsebenen wie | 1  „den Gang von etwas überwachen, regeln, steuern“, also zum Beispiel eine Mähmaschine, | 2  „eine Verkehrsverbindung betreiben“ sowie | 3  drei Sonderbedeutungen auf, namentlich den Vorgang des Bedienens im Fußball, beim Kartenspiel sowie – etwa nach allzu verlustreichem Spiel – dem Bedienen eines Kredits bei einer Bank.3 Bedienen bezeichnet in seiner aktiven Verwendung eine neuzeitliche Tätigkeit, die von einer seitens eines Gebieters oder Kunden erteilten Anweisung oder einem vereinbarten Auftrag ihren Ausgang nimmt, einem zuvor festgelegten Ablauf folgt, um auf diese Weise eine bestimmte Leistung zu erbringen. Diese Tätigkeit unterliegt zumeist einem Machtgefälle, d. h., derjenige, der bedient, befindet sich – ohne Aufbegehren – in einer subordinativen Lage gegenüber demjenigen, der bedient wird. Die Revolution findet nicht statt. Diese Machtfrage ist demnach keineswegs statisch zu verstehen und bedarf stets einer genaueren Überprüfung. Wenn die Werbeanzeige aus der Vanity Fair nicht nur verspricht, eine Person durch ein Ding zu ersetzen, sondern auch ‚to help you serve things easily‘, dann ist damit ein zweifacher Wechsel auf den Begriff gebracht. Denn das Gerät bietet nicht nur eine Hilfe zum Bedienen, sondern offeriert ebenso einen ganz anderen Mediengebrauch, nämlich eine Möglichkeit zum Sich-selbst-Bedienen, der dann von Gästen einer Festgesellschaft am Büfett ebenso bereitwillig gefolgt wird wie von Managern bei der Zuteilung ihrer Aktienpakete, wobei es in beiden Fällen nicht selten eine Tendenz zur Eskalation von Bescheidenheitsüberwindungsgesten zu beobachten gibt. Mit dem eigenhändigen

2 Vgl. (Art.) bedienen. In: Grimm, Sp. 1230. 3 Vgl. (Art.) bedienen. In: DWDS online. Unter: http://www.dwds.de/ [aufgerufen am

18.09.2013].

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Kontexte  bedienen

Rotieren der Schale durch die Herrschaften ereignet sich derweil für den Akteur einerseits eine Transformation vom passiven Bedientwerden hin zum aktiven Bedienen. Zugleich markiert diese Handhabung andererseits einen Wechsel hin zum reflexiven Gebrauch einer Selbstbedienung. Der Begriff Faule Susanne scheint also äußerst treffend gewählt, kann sich die menschliche Hausangestellte doch demzufolge anderen, müßigeren Tätigkeiten zuwenden als immerzu den Herrschaften bei Tisch aufzuwarten. Doch was hat es eigentlich mit der Bezeichnung Lazy Susan auf sich? KONTEXTE  Wie kommt eine Mahagoni-Schale zu dem Namen Faule Susanne? Die Namen der Geräte, die man anstelle der im Verschwinden begriffenen Dienstboten zu positionieren sucht, orientieren sich an den Bezeichnungen jener Agenten, auf deren tatkräftige Hilfe man befürchtet, alsbald nicht mehr zurückgreifen zu können. Die vormals auch als ‚server‘ bezeichneten humanoiden Aufwärter bei Tisch etwa erscheinen daher in erstarrter Form, als hölzerne Konstrukte, die ihren Dienst so bescheiden, stumm und ungehört versehen wie es ihren Widerparts aus Fleisch und Blut nur im Idealfall gelingt. Was liegt also näher, als einen rotierenden Tischaufsatz in Reminiszenz an widerwillig aufwartende Bediente kurzerhand Lazy Susan zu taufen? Beide Worte jener eigentümlichen Bezeichnung verweisen jedes für sich auf die lange Problemgeschichte der Diener im Haushalt. Während lazy ohne Zweifel eine notorische Beschwerde referenziert, der sich Bedienstete immer schon ausgesetzt sehen, spielt der Name Susan auf eine für das 18. Jh. in England typische Sammelbezeichnung an. Analog zu der Praxis etwa in Goethes Haus am Frauenplan, wo die über die Jahre wechselnden Diener konstant ‚Carl‘ genannt werden, leugnet diese Anrufungsform auch anderswo die Subjektivität der Subalternen, um ihnen stets gleich gehaltene Rufnamen wie ‚Susan‘, ‚Lisette‘, ‚Picard‘, ‚Mary‘, ‚Johann‘ oder ‚James‘ aufzuerlegen. Das in Vanity Fair nicht ohne einen despektierlichen Beigeschmack als Lazy Susan bezeichnete Ding ist freilich alles andere als eine neue Er­findung. Bis zu den Anzeigen von 1917 firmiert ein solches Tischobjekt jedoch unter dem ungleich älteren Begriff ‚dumb-waiter‘ oder stummer Diener, wobei es seinen Platz nicht nur neben so verschiedenen Gegenständen wie Garderobenständerkonstruktionen und dreh-, schwenkoder fahrbaren Beistelltischchen oder Lastenaufzügen für Speisen und

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Kontexte  bedienen

Getränke behauptet. Zusammen mit diesen anderen Utensilien reiht es sich vielmehr noch ein in jene lange Tradition in Sachen Haushaltshilfen, die – so weiß es das OXFORD ENGLISH DICTIONARY – spätestens seit der Mitte des 18. Jhs. für dieses Ensemble an Dingen die Bezeichnung ‚dumb-waiter‘ gebraucht.4 Der Grund, warum auf den ersten Blick so disparate Dinge wie ein Kleiderständer, ein Tischaufsatz, eine mobile Regalanordnung oder ein kleiner Lastenaufzug allesamt unter der Sammelbezeichnung ‚stummer Diener‘ rubriziert werden können, scheint offenkundig. Bieten all diese Objekte doch in ihrer geduldigen, starren Art den Benutzern die Möglichkeit einer willfährigen Handhabung, die zumindest vordergründig frei von den vielfältigen Störungen oder Widrigkeiten bleibt, die im Umgang mit menschlichen Dienern stets zu erwarten sind. Die eingängige Bezeichnung funktioniert dabei als ein Überbegriff für allerhand klassische Tätigkeiten von Subalternen, deren Ausführung, beispielsweise den Mantel in Empfang zu nehmen, Mahlzeiten zu servieren oder umstandslos die Privilegierten im Salon mit den Arbeitern im Souterrain in Verbindung zu bringen, man nunmehr unbeseelten Objekten überantwortet. In manchen herrschaftlichen Haushalten, die zu ihrer Bequemlichkeit selbstverständlich Dienstboten beschäftigen, geht das vorrangige Interesse dahin, die Subalternen v. a. ‚auf Abstand zu halten‘. Einer der berühmtesten Vertreter dieser Spezies, die im Bedienten eine beständige Quelle für Störungen aller Art sehen, ist der dritte Präsident der Vereinigten Staaten und der maßgebliche Autor der Unabhängigkeitserklärung, die unter diesem Gesichtspunkt mithin in einem anderen Licht erscheinen mag. Für Thomas Jefferson, der als Erfinder und Verbesserer diverser technischer Gerätschaften wie beispielsweise einer Makkaronipresse, einer Kopiermaschine oder einer Pflugschar nicht zuletzt eine besondere Passion für seine eigene Unabhängigkeit von menschlichen Medien wie den Dienern entwickelt, misstraut seinen schweigenden Domestiken derart, dass er sie im Nahbereich vollständig – abgesehen von den weiblichen, die ihm zu anderen Dingen

4 Vgl. (Art.): dumb-waiter, n. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/view/Entry/58397?

redirectedFrom=dumb-waiter#eid [aufgerufen am 15.05.2014].

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When he had any persons dining with him, with whom he wished to enjoy a free and unrestricted flow of conversation, the number of persons at table never exceeded four, and by each individual was placed a dumb-waiter, containing everything necessary for the progress of the dinner from beginning to end, so as to make the attendance of servants entirely unnecessary, believing as he did, that much of the domestic and even public discord was produced by the mutilated and misconstructed repetition of free conversation at dinner tables, by these mute but not inattentive listeners.6

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Kontexte  bedienen

dienen – durch nicht-mensch­liche Akteure zu ersetzen sucht. „Nothing is a greater restraint on the freedom of conversation, which, to me, is the chief pleasure of the social board, than the attendance of a number of servants“5, bemerkt Jefferson gegenüber seiner Zeitgenossin Margaret Bayard Smith. Die Freiheit der Unterhaltung darf tunlichst nicht durch politisch liberalisierte, stille, nichtsdestoweniger höchst aufmerksame Individuen gestört werden. Smith erinnert sich:

Ein Besuch auf dem Landsitz des Präsidenten in Monticello in Virginia macht es augenscheinlich: Um ein bequemes Abendessen mit Gästen, jedoch ‚ohne Bediente‘ absolvieren zu können, finden sich neben den vier Beistelltischen verschiedene weitere Vorrichtungen im Speisezimmer installiert, die dazu dienen, die Domestiken auf Distanz zu halten und das Aufwarten telematisch zu erledigen. So gelangt der Nachschub an geistigen Getränken über einen anderen Subtyp des ‚stummen Dieners‘, den Lastenaufzug, direkt aus dem Weinkeller nach oben ins Zimmer der Abendgesellschaft, während die einzelnen Gänge des Menüs mithilfe einer Spezialkonstruktion in den Raum befördert werden, die verhindert, dass überhaupt ein Subalterner das Zimmer je betreten muss. Auf der Rückseite einer vorderhand konventionellen Tür verbirgt sich ein Regalsystem, das die nunmehr entfernten Aufwärter von der anderen Seite befüllen oder leeren, um sodann diese zentral aufgehängte sogenannte ‚revolving

5 Smith: A winter in Washington, S. 184. 6 Dies.: President’s House Forty Years Ago. In: Smith (Hrgs.): The First Forty Years of

­Washington Society, S. 387f.

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Kontexte  bedienen 96

serving door‘ zu schwenken und das Speisezimmer auf diese Art wahlweise mit einem neuen Gang oder dem Anschein einer geschlossenen Tür zu versorgen, an der die Diener zudem wegen des Regals nicht mehr so leicht lauschen können. Ähnlich wie bei Tapetentüren in barocken Schlossanlagen erschließt sich der Doppelcharakter dieser Wandschleuse erst auf den zweiten Blick. Im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Tür kennt dieses sonderbare Bauelement jedoch drei Zustände. Zum einen handelt es sich selbstredend um eine herkömmliche Tür, die man im geschlossenen Zustand von ihren konventionellen Geschwistern nicht zu unterscheiden vermag. Passieren lässt sie sich jedoch lediglich im halb geöffneten Zustand, einen hinreichend schmalen Körperbau vorausgesetzt, indem man zwischen der mittig aufgehängten Drehachse und dem Rahmen hindurchschlüpft. Und schließlich verwandelt sie sich vollends in ein Regal, das zum Tischlein-Deck-Dich-Spiel im Speisezimmer beiträgt, sobald sie von hinten angefüllt und reichlich mit Speisen versehen in ihren dritten Zustand einrastet. Diese Tür funktioniert als eine semipermeable Durchreiche, die trennt und zugleich eröffnet, die verbirgt und serviert, wenn sie nicht gerade in ihrem hybriden Zwischenzustand die Blockung beider Seiten aufgibt und einen Zugang gestattet. Sie operiert als ein Medium der Bedienung in drei verschiedenen Modi: halb Durchgang, halb Verschluss und vollständiges Regal. Zugleich implementiert Jeffersons ‚revolving serving door‘ dabei den abwesenden Aufwärter in dinglicher Gestalt; ein nicht-menschliches Wesen wird an den Platz des sprechenden und (vermeintlich be-)lauschenden Domestiken gesetzt. An die Stelle des humanoiden Dieners ist ein technisches Gerät getreten, stumm und sperrig, hochspezialisiert und doch flexibel genug, um zur Freude seines Herrn allerhand Speisen zu servieren oder unmerklich abzuräumen. Bruno Latours Antwort in seiner SOZIOLOGIE EINES TÜRSCHLIESSERS auf die Frage, woraus eine Gesellschaft besteht, findet in der Anordnung von Jeffersons Tischgesellschaft und ihrer Umgebung, mit dem Ensemble aus Gastgeber, Gästen und allerhand ‚stummen Dienern‘ eine beispielhafte Umsetzung. „Wir haben es mit Figuren, Delegierten, Repräsentanten oder – schöner ausgedrückt – mit ‚Leutnants‘ (aus dem Frz. ‚lieu‘ und ‚tenant‘, d. h. jemand, der den Platz für jemanden frei oder von jemandem besetzt hält) zu tun, einige figurativ, andere nichtfigurativ,

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Kontexte  bedienen

einige menschlich, andere nicht-menschlich, einige kompetent, andere inkompetent.“7 Freilich heißt das nicht, dass die menschlichen Domestiken aus Jeffersons Tischgesellschaft ganz verschwunden wären. Nur aus dem Wahrnehmungsbereich der Tafelnden sind sie verbannt, weil ihre exklusive Tätigkeit des Aufwartens mit dem Misstrauen einer zusätzlichen Dienstleistung, dem Abhören für einen Dritten, nicht vereinbar ist. Das Defizit dieser Zusatzleistung kennt die maschinisierte Variante des Aufwärters nicht. Der ‚stumme Diener‘ verfügt im Gegenteil über eine spezifische Qualifizierung, die ihn gegenüber den menschlichen Medien aufwertet: Durch seine Spezialisierung auf einige rein mechanische Tätigkeiten, verbunden mit einer Ausblendung sensorischer Kanäle – welcher nicht-menschliche Domestike könnte jenseits der Robotik tatsächlich hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen –, gerät der ‚dumb-waiter‘ zur Erlösung aus einer Zwangslage, die Diskretion an starre Mechanismen delegiert. Nochmal Latour: „Maschinen sind Lieutenants; sie halten Plätze und die ihnen delegierten Rollen“8. Mit dieser Delegation der Handlungsmacht von Menschen an die Dinge geht zugleich eine Beförderung der Dinge in eine privilegiertere Position einher. So wie dem in seinen Rechten beschränkten Subalternen vor der Aufklärung, bevor er zum Dienstsubjekt und das Domestikentum zur Profession erhoben wird, eher ein Objektstatus zukommt, so verlagert sich dieser Dienstobjektstatus vom menschlichen Bedienten auf die Dinge. Beistelltische oder Lastenaufzüge, ‚dienende Drehtüren‘ oder Kleiderständer ersetzen die Handlungen vormals menschlicher Medien und werden zu Delegierten, die permanent, mit der unablässigen Geduld von Aufwärtern im Abwarten, erstarrt zu hölzernen oder mechanischen Konstruktionen die Positionen jener Menschen besetzen, die in die fernere Umgebung wie Küchenkeller oder Korridore verbannt sind. Der menschliche Diener agiert damit buchstäblich als Fernbedienung, während die Nahbedienung durch die Dinge oder ‚stummen Diener‘ absolviert wird.

7 Johnson (= Latour): Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen. In: Belliger/

Krieger (Hrsg.): ANThology, S. 254.

8 Ebd., S. 255.

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Konjunkturen  bedienen

Für die Befehlenden macht dieser epistemische Wechsel allerdings kaum einen Unterschied. Für den Gebieter ist der Effekt seiner Bedienung, sieht man von minimalen Veränderungen in der Bedienbarkeit seiner Helfer ab, stets derselbe. Aus der Herrenperspektive, im kalten Blickwinkel des Benutzers, ist die fragliche Differenz zwischen Subjekt und Objekt, ob der Diener nun eine Maschine sei oder aber ein Dienst immer schon maschinell erfolgt, ohnehin längst kollabiert. Für Eduard von Keyserling ist der Unterschied in seiner PSYCHOLOGIE DES KOMFORTS von 1905 einerlei: „Alles, was bedient, Mensch und Sache, nimmt wieder die stumme Präzision des Mechanismus an. […] Das Instrument wird gleichgültig, nur auf den Effekt kommt es an.“9 Vom Kellner wird nicht unbedingt verlangt, dass er eine schillernde Persönlichkeit sei. KONJUNKTUREN Wenn bedienen traditionellerweise die Verlaufsform inner-

halb einer der fundamentalsten Sozialrelationen, d. h. im Verhältnis von Herr und Diener, bezeichnet, so erfolgt diese Praktik keineswegs aus sich heraus, sondern ist üblicherweise an den Gebrauch eines Mediums gebunden. Dieses Medium verkörpert für die längste Zeit seiner historischen Entwicklung vorzugsweise ein menschlicher Diener, durch den sich die Bedienung vollzieht. Schließlich zählt zu den Generaltugenden eines guten Dieners die paradoxe Situation, trotz körperlicher Anwesenheit seine Dienste so zu verrichten, als wenn er abwesend wäre. Seine Tätigkeiten geschehen idealerweise verborgen für den Gebieter und nehmen sich daher als genuin mediale Praktiken aus und zwar weil sie im Ergebnis kaum mehr wahrnehmbar sind. „Medien machen lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit der Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden.“10 Die mediale Praktik des Bedienens scheint strukturell über lange Zeiträume stabil zu sein: Jemand absolviert eine Dienstleistung zugunsten eines anderen. Die Konjunkturen dieser Tätigkeit sind daher weniger in der Praktik selbst zu suchen als in den sich verändernden historischen Kontexten, seien es soziale, politische oder auch epistemologische. So erfährt das Bedienen

9 Keyserling: Zur Psychologie des Komforts. In: Ders.: Werke, S. 564. 10 Engell/Vogl: Vorwort. In: Pias et al. (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur, S. 10.

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Konjunkturen  bedienen

etwa eine erkenntnisgeschichtliche Aufwertung, sobald im 17. Jh. Labordiener ihren virtuosen Gentlemen nicht nur die Suppe auftragen, sondern für sie auch chemische Flüssigkeiten zusammenmischen, um deren Reaktionen miteinander fein säuberlich zu protokollieren.11 Die Labordiener bedienen durch diese Experimentiertätigkeiten das Erkenntnisinteresse ihres Herrn. Ebenso unterliegt der Begriff des Bedienens sowohl einer sprachlichen Konjunktur als auch einer semantischen Erweiterung, wenn im 19. Jh. zahlreiche männliche Bediente ihren Dienst im bürgerlichen Haushalt quittieren, um fortan als Arbeiter eine Maschine in den neuen Industrieanlagen zu bedienen. In vergleichbarer Weise wird der Begriff umkodiert, wenn einerseits mit dem Ende des Feudalismus der Service bei Hofe sich auf bürgerliche Beschäftigungsverhältnisse verlagert und wenn andererseits die technischen Geräte selbst eine Bedienung(-sanleitung) erfordern. Es scheint kaum eine Epoche oder historische Phase zu geben, in der dem Bedienen keine Relevanz zugekommen wäre. Wichtig und für eine analy­tische Rekonstruktion unverzichtbar bleibt es daher, den Fokus verstärkt auf die Übergänge, Schnitt- und Bruchstellen zu verlagern, die sich innerhalb einer längeren Transformationsgeschichte des Dieners abzeichnen. Eine der tiefsten Zäsuren wird dabei durch die allmähliche Durchsetzung der Selbstbedienung markiert, von der die Einführung der Lazy Susan nur ein Symptom von vielen darstellt. Mit dem Wechsel von einer Bedienung durch Domestiken oder sonstige „Service-Kräfte“ auf eine rigorose Selbstbedienung und dem damit untrennbar verknüpften Einsatz von technischen Gerätschaften wird auch eine weitere Unterscheidung, nämlich zwischen Nähe und Ferne möglich. Während der klassische Kammerdiener für gewöhnlich stets im Nahbereich der Herrschaft operiert, erlaubt es das einmal etablierte Paradigma einer Selbstbedienung, im Zusammenspiel mit technischen Medien das Bedienen in die Ferne zu rücken. Mit anderen Worten, mit dem erfolgreichen Einzug der Elektr(on)ik in die Arbeitsbereiche, mit der verstärkten Technisierung der Haushalte eröffnet sich der Telematik oder Fernbedienung ein neues Feld.

11 Vgl. Shapin: The Invisible Technician. In: American Scientist, S. 554–563.

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Gegenbegriffe  bedienen

So wie Jefferson seinen illustren Gästen abfordert, sich an seiner ‚revolving serving door‘ (selbst) zu bedienen, so wie die Faule Susanne dieses eigenhändige Rotationsprinzip in die bürgerlichen Haushalte einführt, so wird das klassische humanoide Medium, der Diener, ersetzt durch eine technische Apparatur oder Maschine, die fortan die Bedienung zu übernehmen verspricht. Diese Stellvertretung der Dinge setzt sich auch in den virtuellen Welten der Gegenwart fort. Nicht umsonst heißen die kommunikativen Schnittstellen im Hintergrund des Internets ‚server‘, was noch im elisabethanischen Zeitalter ein Synonym für den menschlichen Diener bezeichnete. GEGENBEGRIFFE  Kein Diener kommt ohne sein Gegenstück, den Herrn, aus

und kein Servicevorgang ohne das Element, das sich bedienen lässt. Dementsprechend eindeutig sind die Gegenbegrifflichkeiten von bedienen zu benennen: Beherrschen, Dominieren. In gewisser Weise ließe sich auch noch die passivische Form des Bedient-Werdens als Gegenstück begreifen, wobei es jedoch zwischen einer herrschaftlichen (Un-)Tätigkeit im Sinne müßigen Verhaltens und dem Dominieren im Sinne einer aktiven Machtausübung weit mehr als graduelle Unterschiede zu verzeichnen gäbe. PERSPEKTIVEN   Der ‚stumme Diener‘ als prototypisches Medium der (Selbst-)Bedienung steht sowohl symbolisch als auch ganz praktisch ein für jenen weitreichenden Übersetzungsprozess, im Zuge dessen die störenden Domestiken zu Geräten werden. So wie dem ‚humble servant‘, also dem ‚untertänigsten Diener‘ gleichermaßen wie dem linkischen, ungelenken, unbeholfenen Subalternen zu einer weiteren Stufe seiner Sinnestrübung verholfen wird, indem er zum Mechanismus verstummt, so hält in die mechanisch wie elektrisch allmählich aufgerüsteten Zimmer eines zunehmend technisierten Haushalts am Ende des 19. Jhs. ein neues Paradigma seinen Einzug, das die (Tisch-)Gesellschaft zu einer soziotechnisch vermittelten Gemeinschaft verbindet. Das Bestreben des amerikanischen Präsidenten Jefferson, seine Untergebenen mithilfe zahlreicher ‚dumb-waiter‘ aus dem unmittelbaren Gesichtsfeld zu verbannen, stellt trotz seiner sonderbaren Invention keineswegs eine Ausnahme dar. Das Störungspotenzial durch Subalterne scheint sich aufseiten der Herrschaften im viktorianischen Zeitalter zu einer regelrechten Paranoia auszuwachsen. „Die

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Perspektiven  bedienen

Speisen werden schnell auf- und abgetragen, man kann den Wein nicht genießen, der beste Bissen bekommt Flügel, sowie man nur einen Augenblick wegschaut oder mit dem Nachbar spricht“12, beklagt sich ein ungarischer Diplomat, dem die Ehre eines habsburgischen Galadinners mit Kaiser Franz Joseph zuteilwird. So nimmt es nicht wunder, dass die Klage über Dienstboten zum Topos der höheren Gesellschaft gerät und sich in die Unmittelbarkeit von Bedienungen nunmehr verschiedene Zwischenstationen in Form technischer Medien einschalten. Überträgt man diesen Topos von der Jahrhundertwende 1900 in die Gegenwart und überprüft ihn an der leichten Bedienbarkeit von technischen Geräten, der Flüchtigkeit ihrer Dienste oder der Nachhaltigkeit im Umgang mit ihnen, so lässt sich vergleichsweise leicht erkennen, wie weit die Klage über das Störungspotenzial der stummen und elektronifizierten Diener immer noch reicht. Mit der Ersetzung menschlicher Dienstagenturen durch ihre technischen Pendants, die mit der Terminologie des ‚stummen Dieners‘, der ‚Strickliesel‘ oder der Lazy Susan eine unzweideutige Erinnerung an ihre humanoiden Ursprünge weitertragen, bleibt ein doppeltes Versprechen verbunden. Einerseits scheint die unirritierbare Dienstfertigkeit, die man von seinen zuverlässigen Aufwärtern gewohnt ist, beim Betrieb der neuen Gerätschaften ebenso gewährleistet zu bleiben wie andererseits ein ungeschmälerter Komfort, dessen mögliche Einbuße den Innovationsbestrebungen des modernen Haushalts oder den Anforderungen der Arbeitswelt zuwider liefen. Dieses zweifache Versprechen trägt derweil zu nicht geringen Teilen dazu bei, dass die (einstigen) Herren weniger ihre Subalternen selbst als lediglich die Referenten ihrer Bedienung auswechseln. Ein Butler oder ‚valet‘ mag entlassen werden, die Abhängigkeit von Agenturen der Bedienung aller Art bleibt dabei jedoch ungebrochen bestehen; sie verschärft sich sogar, weil die Freiheitsgrade der Bedienbarkeit, wie sie im gesprochenen Wort gegen den humanoiden Untergebenen noch wirksam sind, durch die limitierten Handlungsprogramme, die in den Gerätschaften implementiert sind, entsprechend stark beschränkt werden. Während ein Aufwärter bei Tisch gelegentlich ebenso als Briefträger einzusetzen ist, fällt es schon schwerer, die eigene Post – allen elektronischen Agenten und Spracherkennungsprogrammen wie Siri zum Trotz – durch einen ‚stummen Diener‘ zustellen zu lassen.

12 Cachée: Die Hofküche des Kaisers, S. 48.

101

Forschung  bedienen

Das Angewiesensein auf Zuarbeit oder eine vermeintliche Arbeitserleichterung in Form technischer Gerätschaften täuscht daher nur allzu leicht darüber hinweg, dass mit der Durchsetzung dienstbarer Dinge im domestikalen Kontext, aber auch im professionellen Bereich die tatsächliche Bedienung durch die Geräte keineswegs so allumfassend oder vollständig vonstattengeht wie zu Zeiten eines ‚full service‘ mihilfe humanoider Subalterner. Sei es durch diverse Unvollkommenheiten in ihrer Handhabung oder durch allenthalbe Störungen während des Betriebs oder sei es durch eine ungenügende Arbeitsersparnis, die mit den technischen Neuerungen einhergeht, die Geräte fordern den Benutzern gleichsam ihrerseits eine Verbeugung vor dem Apparat ab. Mit dem verstärkten Einzug der Technik in die Haushalte und Arbeitswelten ab 1900 ist für die Bürger ‚nolens volens‘ ein neues Paradigma der Selbstbedienung verknüpft, deren Unausweichlichkeit die verheißungsvollen Innovationen einer Herrschaft der Mechanisierung allenfalls zu Beginn noch überspielen können. Weitestgehend unbemerkt – zumindest werden etwaige kritische Stimmen vom Diskurs einer überwiegend wohlmeinenden bis euphorischen Technikaffirmation und Fortschrittsemphase überlagert – etabliert sich das neue Paradigma einer Selbstbedienungsmentalität, die von der fröhlichen Freiwilligkeit bestimmt ist, sich den Handlungsprogrammen der mechanischen und elektronischen Dienstagenturen unterzuordnen, die deren Entwickler wiederum in die Geräte eingeschrieben haben. Im routinierten Gebrauch von Haushaltsgeräten wie der Lazy Susan oder einer Universalküchenmaschine namens Kitchen (M)Aid®, einer ‚revolving serving door‘ oder einer Modelleisenbahn zu Tisch wie beispielsweise in Buster Keatons Film ELECTRIC HOUSE von 1922 wird offenkundig, dass man statt wie zuvor den Dienern nunmehr den Dingen unterworfen ist. Alles hängt von der richtigen Bedienung der ‚stummen Diener‘ ab, die nun allerdings von den Damen und Herren selbst erwartet wird. Die Abhängigkeit bleibt damit konstant, an Widerstand ist kaum zu denken. Denn der Weg zurück in einen ‚status quo ante‘ erweist sich dabei als zunehmend verbaut durch die feinmaschigen Netze der Elektrizität (und später: der Elektronik), die sich immer weiter entspinnen und sich längst schon in den von huma­noiden Gehilfen entvölkerten Gemächern ausgebreitet haben. FORSCHUNG  Die Erkenntnisse, die sich aus dem Studium der historischen Praktiken des Bedienens gewinnen lassen, können nun ihrerseits dazu dienen,

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Forschung  bedienen

Struktur, Funktion und Logik der Bedienung auf aktuelle Problemstellungen zu übertragen. Zwei Aspekten könnte dabei eine besondere Aufmerksamkeit zukommen, zum einen die Frage nach den kommunikativen Schnittstellen, mit deren Hilfe der Befehlsfluss zwischen Benutzer und Benutztem erfolgt. So ließe sich etwa nach dem Sensorischen der dienstbaren Medien fragen, also zum Beispiel, inwiefern auch im Umgang mit den elektronischen Geräten diese mit dem Eigenschaftswort ‚stumm‘ treffend charakterisiert sind. Oder aber, in welchem Verhältnis dienstbare Agenten, und zwar unabhängig von ihrem Status als Subjekte oder Objekte, seit jeher zur Stummheit stehen. Träfe das Attribut ‚taub‘ nicht eher zu auf jene Unzulänglichkeit, die willige Dinge im Gegensatz zu ihren humanoiden Widerparts zu verbessern versprechen? Hier lassen sich auch zahlreiche Anknüpfungspunkte an die Robotik und künstliche Intelligenzforschung finden, zumal wenn schon um 1900 die Lazy Susan als die ‚cleverest waitress in the world‘ bezeichnet werden konnte. Zum anderen stellt sich im täglichen Umgang mit der Elektronik eine alte Problematik erneut ein: Wer behält im dynamischen Wechselspiel der Bedienung von Geräten, zum Beispiel eines ‚intelligenten‘ Mobilfunkgeräts oder eines PDA, eines ‚personal digital assistant‘, aber auch bei der Bedienung von Software eigentlich die Oberhand? Mit anderen Worten, wer bedient eigentlich wen, auch wenn man als Benutzer sich ganz getreu der Bedienungsanleitung beugt? Und schließlich könnte man auch den Unterhaltungscharakter in den verschiedensten Spielformen des Bedienens weitergehend analysieren. Denn den dienenden Dingen wohnt, Eduard von Keyserlings PSYCHOLOGIE DES KOMFORTS von 1905 zufolge, nichts weniger als ein spezifisches Moment des Trosts inne, das den antiken Herrn jenseits aller Schwierigkeiten in der Konfrontation mit allzu redseligen Bedienten zu besänftigen weiß: „die stummen Sachen mußten ihn unterhalten. Viele Geräte beengten ihn, aber die[,] welche ihn umgaben, mußten unterhaltend sein“13. In welcher Weise die technischen Geräte der Gegenwart vornehmlich zur Unterhaltung dienen und dabei zugleich die Benutzer beherrschen, bedarf noch weiteren Nachdenkens.

13 Keyserling: Zur Psychologie des Komforts. In: Ders.: Werke, S. 557.

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BENACHRICHTIGEN

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ANEKDOTE  Wir befinden uns im späten 17. Jh. Einige Freunde treffen zusam-

men und tauschen sich in der geselligen Runde über aktuelle Ereignisse aus. In der Sprache der Zeit handelt es sich dabei um „neue Zeitungen“, diverse Ereignisberichte, die mündlich, schriftlich oder gedruckt zirkulieren. Die Versammelten geraten sogleich in einen Disput über die Neugierde. Das menschliche Bedürfnis, ständig im Austausch mit anderen das Neue erfahren zu wollen, ist ein umstrittenes Begehren:

Anekdote  benachrichtigen

HEDWIG POMPE

Als die Gesellschaft beyeinander / und die gewöhnliche Bewillkommens Ceremonien vorbey [war] / wahr / wie gemeinlich geschicht / die erste Frage: Was man gutes Neues habe? Eduard fing hierauff mit lächelndem Munde an; Ich weiß nicht woher ihr Teutsche so sehr nach den Neuen Zeitungen fraget; Ihr könnet so bald einer den andern nicht begegnen / so ist das erste Wort: Was hat man Neues? Wir Engelländer sind weit anders gesinnet / wir bekümmern uns umb kein ander Neues / als was unserm König und Vaterland / oder den Zustand unserer Handlungen an diesen oder jenen Ohrten angehet […] [.] [D]enn es stehet meines Erachtens nur Weibisch / wenn man so fürwitzig / und auff Neue Zeitungen so verpichtet ist / daß man alles wissen will was dieser oder jener thut; und muß ich in Wahrheit lachen über die Thorheit einiger Leute hiesiger Gegend / die ein Stund oder etzliche auffpassen könen biß die Post kömpt / damit sie das Neue am ersten vernehmen mögen / sollten sie auch ihre Geschäffte darüber versäumen.1

Die von „Eduard“ in einer Männerrunde mit spöttisch-satirischem Unterton vorgetragene Kritik an der Neugierde (sie sei doch eher ein „weibisches“ Verhalten) wird natürlich nicht so stehen gelassen. Wir lesen einen Text aus der

1 Frisch, Johann: Erbauliche Ruh-Stunden / Das ist: Merkwürdige und nachdenkliche Un-

terredungen / darin allerhand nützliche und erbauliche Materien abgehandelt / zugleich auch jedesmal die vornehmste Begebenheiten gegenwertiger Zeiten kürtzlich eingeführet werden. Denen Liebhabern der Geschichte / und anderer Curieusen Sachen / insonderheit aber der anwachsenden Jugend zu Nutz verfertigt, Hamburg (1676.), zit. n.: Blühm/Engelsing: Die Zeitung, S. 48.

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Anekdote  benachrichtigen

Zeit der Frühaufklärung und so liefert diese Kritik den anderen Gesprächsteilnehmern eine Vorlage, um sich ausführlich über den Nutzen (der Zirkulation) des Neuen, dessen Formen und Medien zu unterhalten. Jeder Mensch, so die dabei verfochtene Grundthese, erfährt durch Berichte über das Neue Wissenswertes, das ihm im täglichen Leben nützen kann. Das fiktive Gespräch erscheint 1676 in einem Wochenblatt, ist also seinerseits publizistisch gerahmt von dem Medium, das seit dem frühen 17. Jh. die Geschichte des Neuen in der Druckkultur in großem Maße mitbestimmt: die ‚periodische Zeitung‘.2 Im Gesprächsverlauf tauchen neben ‚Neue Zeitungen‘ noch weitere Kennwörter auf, die Formen und Medien des Neuen, der ‚Information‘ bezeichnen: ‚Berichte‘ und ‚Historien‘. In dieses Umfeld historischer Semantik des 17. Jhs. gehören noch weitere Begriffe wie ‚Novellae‘, kleine Nachrichten, und schließlich ‚Nachricht‘. Die Anekdote führt vor, dass Zeitungen, Berichte, Historien oder Nachrichten kommunikative Handlungen sind, die immer im Kontext stattfinden. So ist auch das ‚Gespräch‘ seinerseits eine Wissen vermittelnde Form und es gibt den Lesern des Blattes möglicherweise Informationen an die Hand, die diesen neu sind. Eduard, der Kritiker der Neugierde, schließt nicht grundsätzlich aus, dass man neues Wissen auf verschiedenen Kommunikationswegen in Erfahrung bringen solle, doch verweist er auf bestimmte Einschränkungen seiner Zeit: Den Wissbegierigen solle nur interessieren, was ‚König und Vaterland‘ oder die eigenen ‚Handlungen‘ beträfe. Damit spielt er auf vielschichtige Rahmenbedingungen an, die insbesondere die publizistische Weitergabe von Informationen, etwa in den historisch-politischen Zeitungen, betreffen. Diese Blätter weisen eine Ereignisberichterstattung auf, die auf die ‚große‘ Geschichte, an der die höheren Stände beteiligt sind, zielt und die das politische Staatswesen als Ganzes betrifft. In den „Handlungen“ werden weitere Hintergründe des publizistischen Informationsumlaufs im 17. Jh. angesprochen: Sie meinen die Geschäfte von bürgerlichen Zivilpersonen wie Kaufleute und Gelehrte. Neben den politischen sind auch ihre Handlungen von öffentlichem Interesse und beide Stände sind gleichfalls an der publizistischen Distribution des Neuen

2 Ein Überblick über die Geschichte der Zeitungen und Zeitschriften bei Wilke: Grundzüge

der Medien- und Kommunikationsgeschichte.

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ETYMOLOGIE  Die Geschichte des Begriffs ‚Nachricht‘ beginnt erst im 17. Jh.

Es sind zwei Bedeutungsakzente, die das Wörterbuch der Brüder Grimm für den Begriffsgebrauch von Nachricht für das Jahrhundert verzeichnet. Nachricht meint (a) einen informationshaltigen Text in einem allgemeinen Sinne: „überhaupt mittheilung einer begebenheit u. s. w., zur kenntnisnahme derselben, […] gegebene oder erhaltene mündliche oder schriftliche kunde von einer person oder sache, meldung, anzeige, überlieferung“4. Die Sprache des 17. Jhs. besitzt eine Vielzahl von Termini, die auf die Funktion eines Textes oder auch Bildes verweisen, Informationen für jemanden bereitzustellen. Das Neue ist in dieser Perspektive nichts anderes als eine Information: Wer einen Text aus Gründen der Kenntnisnahme liest oder ein Bild daraufhin betrachtet, geht implizit davon aus, dass das darin bereitgestellte Wissen für ihn jetzt einen Unterschied macht. In der Pragmatik einer Nachricht wird dieser generelle Sinn von Kommunikation erkennbar: Vorhandenes Wissen wird durch neues in altes Wissen verwandelt und Wissen unterliegt durch Informationsfluss ständiger Veränderung. Der zweite Akzent (b), den das GRIMMSCHE WÖRTERBUCH für den Begriff Nachricht im Wortgebrauch des 17. Jhs. ausmacht, trägt diesem Umstand, dass es mit Nachrichten um adressierte Informationen für jemanden geht, noch stärker Rechnung. Eine Nachricht ist nur dann eine solche, wenn sie für Anschlusshandlungen sorgt: Nachricht ist eine „mittheilung zum darnachrichten und die darnachachtung“5. Der neue Begriff ersetzt das ältere „Nachrichtung“,

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Etymologie  benachrichtigen

interessiert. Hier sind es die Anzeigenblätter und Journale, mit welchen spezifische Informationen in öffentlichen Umlauf kommen. Die Geschichte der Herstellung, Distribution und Rezeption von Nachrichten als Produktionsstätten des Neuen ist seit dem 17. Jh. eng verknüpft mit periodischer Publizistik, die ihrerseits von politischen, sozialen, kulturellen und technischen Rahmenbedingungen abhängt.3 Und so ist auch die kommunikative Handlung, jemanden über etwas zu benachrichtigen, Teil dieser Geschichte.

3 Vgl. Bauer/Böning (Hrsg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. 4 (Art.) Nachricht. In: Grimm, Bd. 13, Sp. 103. 5 Ebd. Ein Vergleich mit dem Verb ‚berichten‘ zeigt ebenfalls, dass in benachrichtigen der Ak-

zent auf die Reaktion auf Nachrichten gelegt wird.

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Etymologie  benachrichtigen

welcher seit dem 16. Jh. zu finden ist und der noch bis in das 18. Jh. parallel in Gebrauch bleibt. „Nachrichtung“ bringt die Rolle des auf Informationen Reagierenden, des Informierten, noch stärker zum Ausdruck. Das zur Nachricht gehörende Verb benachrichtigen verweist in diesem Sinne sowohl auf die Produktion von Informationen als auch auf die damit verbundene Absicht, einen anderen als Kommunikationspartner gezielt zu adressieren, über etwas in Kenntnis zu setzen, zu instruieren. Dies kann in einer mündlichen Interaktion ebenso geschehen wie in der Kommunikation unter Abwesenden, die durch Publizistik ermöglicht wird. Das Neue, das eine Nachricht bereitstellt, gewinnt im Zusammentreffen mit der periodischen Publizistik eine charakteristische Form: Es handelt sich in der Regel um Ereignisberichte. Die Nachricht wird hier zu einem standardisierten Textformular.6 Mit der Nachricht in der periodischen Zeitung wird die Praxis, jemanden zu benachrichtigen, der durch den Buchdruck erzeugten Öffentlichkeit zugeführt und an regelmäßiges Erscheinen gebunden. Die Begriffsgeschichte des Wortes Zeitung weist dabei enge logische Beziehungen zu Nachricht und benachrichtigen auf. „Zeitung“ ist ein im 16. Jh. in der kölnisch-flämischen handelssphäre in der form zîdinge, zîdunge begegnendes wort, das aus diesem grunde als ein lehnwort aus mnd., mnld. tîdinge, f., botschaft, nachricht angesehen wird. die grundbedeutung folgt aus dem verhältnis des ags. tidung, f., nachricht […] zu dem ags. verbum tidan sich ereignen, so dasz z[eitung] also ursprünglich so viel wie ‚bericht von einem ereignis‘ besagt. indessen erweisen einige fälle noch bewahrung der urbedeutung ereignis.7

Die Konstellation aus standardisierter Ereignisberichterstattung, periodischer Publizistik und adressierter Information für den individuellen und kollektiven Gebrauch kennzeichnet die politischen, kaufmännischen und gelehrten Nachrichtenkulturen im 17. Jh. Diese stützen den öffentlichen, und das heißt nun publizistisch institutionalisierten, regelmäßigen Informationsfluss durch ihre Periodika und deren Nachrichten. Die politischen Personen,8 die Kaufleute 6 Vgl. zu Vorgängen von Standardisierung und Homogenisierung in der frühen periodischen

Publizistik Schröder: Die ersten Zeitungen.

7 (Art.) Zeitung. In: Grimm, Bd. 31, Sp. 591. 8 Koopmans (Hrsg.): News and Politics in Early Modern Europe (1500 – 1800).

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Etymologie  benachrichtigen

und Gelehrten werden so zu ihren eigenen Nachrichtenkonsumenten, die sich mehr und mehr in ihren Handlungen von der benachrichtigenden Publizistik abhängig wissen. Nur wer sich über das Neue gut und ausreichend informiert, kann seine Anschlusshandlungen überlegen: Der Politiker kann seine Pläne fassen und ausführen, der Kaufmann die Warenströme verfolgen und auf neue Absatzmärkte kalkulieren, der Gelehrte mit den neuen Erkenntnissen in den Wissenschaften und schönen Künsten bei seinen eigenen Forschungen und Publikationen Schritt halten. In der Korrelation von politischen, gelehrten und kaufmännischen Nachrichten geht es um die Objektivierung von Weltwissen, um die sachliche Berichterstattung, um den Wert einer Information als realitätshaltige Aussage. So ist das Verb benachrichtigen auch die Verdeutschung des lat. certiorem facere, jemanden einer Sache sicher machen. ‚Benachrichtigung‘ ist eine weitere Übersetzung von lat. significatio. Dies kann auch mit ‚Anzeige‘ übersetzt werden, welcher Begriff wiederum in den Titeln der deutschen Anzeigenblätter des 18. Jhs. zu finden ist. Der historische Einsatzpunkt der pragmatischen Textsorte Nachricht und der Akt der Benachrichtigung in der periodischen Publizistik werden darüber hinaus von weiteren Begrifflichkeiten begleitet, die auf die weit zurückreichende Genealogie des Informationsbegriffes verweisen: „spätmhd. informieren ‚unterrichten‘ (14. Jh.), aus lat. informare in seiner übertragenen Bedeutung ‚durch Unterweisung bilden, befähigen, unterrichten‘ entlehnt […]. Information f. für ‚Auskunft, Benachrichtigung‘ (15. Jh.), lat. informatio […]. Informator m. ‚wer in Kenntnis setzt, benachrichtigt, unterrichtet‘“9. Bereits bei den ersten periodischen Zeitungen geht das Textformular Nachricht mit dem Medium Zeitung eine konstitutive Beziehung ein. Dieser Umstand trägt dazu bei, dass in späterer Zeit die Zeitung als Nachrichtenmedium sui generis verstanden wird. Im 17. Jh. findet man hingegen noch eine Medienvielfalt, die der engen Verbundenheit aus Ereignisberichterstattung und periodischer Zeitung Konkurrenz macht. Auch Flugblätter, Flugschriften, Chroniken, Kalender u. a. m. informieren ihre Leser über Ereignisse.10 Auf eine noch schwankende Einschätzung der Aufgaben der periodischen Publizistik

9 (Art.) informieren. In: Pfeifer, S. 580. 10 Vgl. Faulstich: Medien zwischen Herrschaft und Revolte.

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Kontexte  benachrichtigen

verweist auch die hierfür verwendete Begrifflichkeit von Novellae, Relation oder Bericht und Aviso oder Anzeige. Erst allmählich werden diese Begriffe von dem Markennamen ‚Zeitung‘ verdrängt, der eng mit dem Textformat Nachricht und der darin publizistisch fokussierten Funktion, jemanden zu benachrichtigen, verbunden ist. KONTEXTE  Die Geschichte der Herstellung und Weitergabe von Informati-

onen ist so ursprünglich wie die menschliche Kommunikation, ihre Artefakte und Medien. Gleichwohl gab und gibt es symbolische Arrangements, die die Vorstellung, dass Menschen sich wechselseitig informieren, indem sie sich benachrichtigen, präzisieren. Blickt man nur auf die europäische Kultur der gerichteten Adressierung mittels Benachrichtigung zurück, auf die griechischrömische Antike, so gibt es hier den Botenbericht, die Technik des Signalfeuers für die schnelle Übermittlung von wichtigen Ereignissen oder den Brief unter Freunden, die sich wechselseitig über die Ereignisse in ihrem Leben auf dem Laufenden halten. Jede Art von Geschichtsschreibung versteht sich seit der Antike als Überlieferungsträger für Ereignisse, die künftige Generationen über Vergangenes benachrichtigt. Dies geschieht in einer historiografischen Narration oder mit der frühneuzeitlichen Chronik, die die Ereignisse auf der Welt ‚in den Jahren des Herrn‘ verzeichnet. Die symbolische Präzisierung, die die publizistische Nachricht seit dem 17. Jh. mit sich bringt, mündet in eine neue Nachrichtenkultur. In den historischen Begrifflichkeiten zeichnet sich ab, dass benachrichtigen auf einer späten Stufe im Deutschen der semantischen Ausstellung eines textgebundenen Kommunikationsaktes dient, der insbesondere im Rahmen von Publizistik erfolgt. Hierbei wird ein rationalistisch definiertes Ziel verfolgt: eine Information an jemanden weiterzugeben, um damit Anschlusshandlungen zu stimulieren. Dieser Zweck ist allerdings so allgemein, dass sich darin das Gelingen von Kommunikation überhaupt abzeichnet.11 Funktional gesehen, decken deshalb im 17. Jh. die Begriffe ‚informieren‘ und 11 Niklas Luhmann unterscheidet in diesem generellen Sinne differenztheoretisch zwischen

dem, was bei einer Kommunikation nur als Mitteilung wahrgenommen, aber nicht weiter beachtet wird, und dem, was darin als Information dient, die eine Anschlusskommunikation hervorbringt. Siehe: Luhmann: Soziale Systeme.

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Kontexte  benachrichtigen

benachrichtigen denselben Horizont kommunikativen Handelns ab. Hierbei geht man von der Tatsächlichkeit des Berichteten aus. Der Akt der druckschriftlichen Veröffentlichung beinhaltet, dass es sich bei einer Nachricht um etwas Bemerkenswertes handelt, das Aufmerksamkeit bei vielen finden sollte. Nachrichten, die als Informationen behandelt werden können, sind dabei von Rahmungen abhängig, die Glaubwürdigkeit erzeugen. So bringt die grundständige Funktion von Kommunikation, Information für andere zur Verfügung zu stellen, ein neues historisches Einverständnis über den publizistisch gerahmten Nachrichtentransfer mit sich. Dieser Vorgang zeitigt im Ergebnis eine Kultur der öffentlichen Benachrichtigung, die ihren Weltbezug auf verschiedenen Ebenen reguliert: | 1  Jemanden zu benachrichtigen, verlangt nicht nur nach individuellen, sondern zunehmend nach kollektiv einsetzbaren Formaten für die Adressierung. Das Textformular ‚Nachricht‘ in der periodischen Zeitungspublizistik wird seit dem 17. Jh. als ein dafür geeignetes Mittel angesehen. | 2  Die Wirklichkeit der Welt ist der Referenzbereich von Nachrichten. | 3  Publizistische Nachrichten sind gerahmt von Wahrheitsansprüchen, die in Politik, Recht, Wissenschaft und Technik ausgearbeitet werden. | 4  Publizistische Nachrichtenkulturen etablieren eigene Techniken für die Erzeugung von Glaubwürdigkeit des Wissens, das sie kolportieren. | 5  Insbesondere über Nachrichten in Zeitungen lässt sich ein öffentlicher Konsens darüber herstellen, was als objektives und kollektives Weltwissen gelten kann und soll. | 6  Sich benachrichtigt zu wissen oder zu fühlen, heißt, sich an die glaubwürdigen Formate der Nachrichtenkultur zu gewöhnen und Nachrichten als einen Normalfall von neuem Wissen zu interpretieren. | 7  Mit der publizistischen Normierung von Nachrichten ergibt sich eine neue (politische) Möglichkeit für die ‚Lüge‘ wider besseres Wissen. | 8  Die strukturelle Kopplung von Nachrichtentext und Periodikum Zeitung implantiert in den auf das Neue zielenden Kommunikationsakten den komplementären Effekt der regelmäßigen Veraltung von Wissen. Diese Facetten prägen die symbolischen Praktiken von öffentlichen Nachrichtenkulturen seit dem 17. Jh. Sie bestimmen, bei allen historischen Varianten, im Kern das Verständnis von Nachrichtenproduktion und -rezeption bis heute.

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Konjunkturen  benachrichtigen

KONJUNKTUREN   Die frühneuzeitlichen Primärkontexte, in denen die

Benachrichtigung ihre publizistischen Konturen gewinnt, sind Politik, Handel und Gelehrsamkeit. Hier entstehen mit Zeitungen, Anzeigenblättern und Journalen diverse Medien für die Information der Öffentlichkeit über das Neue in der Wirklichkeit. In den historisch-politischen Zeitungen zeichnet sich im engeren Sinne eine absolutistische Nachrichtenpolitik ab. Diese ist mit dem Rechtswesen verbunden und kontrolliert die öffentliche Nachrichtenherstellung und -verbreitung.12 Die periodische Publizistik eröffnet den Herrschenden einen Schauplatz für ein gelenktes Nachrichtenwesen im Ständestaat. Unter den Bedingungen von Vor- und Nachzensur wird sie ein politisches Dispositiv für Nachrichten ‚von oben an das Volk‘. Aus der Historiografie kommend wird das standardisierte Textformular Nachricht so in die politische Pragmatik eingebunden und fester Bestandteil bei der Erzeugung von kollektiv verbindlicher ‚Wirklichkeit‘. Die absolutistische Nachrichtenpolitik veröffentlicht für ihre Untertanen nicht nur wahre Informationen, sondern ebenso geschönte Berichte oder sogar Falschmeldungen. Diese lassen sich politisch instrumentalisieren, weil sie, ununterscheidbar für Untergebene, im Format ‚wahre Nachricht‘ veröffentlicht werden. Außerdem kann die kollektive Benachrichtigung über Ereignisse, die das Gemeinwesen betreffen, nach politischem Ermessen auch ausgesetzt werden. Diese erste publizistische Öffentlichkeit des 17. Jhs. ist als administriertes Weltwissen mit den Zwecken des Arkanen, den vor den Untertanen ‚geheim‘ gehaltenen Absichten der Herrschenden verbunden. Hier entsteht eine in sich widersprüchliche Konstellation aus publizistisch getragener, aber politisch stark kontrollierter Öffentlichkeit. Dieser Widerspruch bleibt in der Folgezeit erhalten. Er prägt bis heute nicht nur die öffentlichen Nachrichtenkulturen unter den politischen Bedingungen von Diktaturen, sondern löst auch in demokratischen Gesellschaften immer wieder Reflexionen über die ‚wirkliche‘ Freiheit der Presse aus. Historisch setzt eine nachhaltige Beobachtung der politischen Freiheit, die Öffentlichkeit über Wichtiges benachrichtigen zu können, erst im 18. Jh. ein. Hier werden die Beziehungen von nachrichtentechnisch behandelten

12 Vgl. Fischer (Hrsg.): Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts.

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Konjunkturen  benachrichtigen

Wahrheiten zu Lügen und von Fakten zu Fiktionen ein wichtiges Thema der aufkommenden bürgerlichen Öffentlichkeit. Diese ‚literarische‘ Öffentlichkeit setzt zunehmend auch auf die politischen Möglichkeiten von publizistischen Nachrichten, um etwa die Herrschenden unter Beobachtung zu stellen.13 Literarisch-publizistische Öffentlichkeit richtet sich damit auch gegen die Nachrichtenkontrolle von oben. Bürgerliche Publizistik wird zum Operator zentraler Utopien der Aufklärung wie die von jeglicher Vormundschaft befreite individuelle Urteilsfindung und Meinungsbildung. Letztere beruhen auf der Voraussetzung, wissen zu können, was geschieht, und zwar in allen Bereichen. So wird eine ‚freie‘ Kultur der Benachrichtigung gegen Ende des 18. Jhs. Teil der europaweit eingeforderten Pressefreiheit in allen Stücken. Diese wird mehr und mehr als Garant von politischer und übergreifender kultureller Willensbildung angesehen. Nachrichten, mittels welcher man sich wechselseitig informiert, gehören mit zu Prozessen der Demokratisierung. Benachrichtigung sorgt für den kommunikativen Anschluss von Menschen an wichtiges Wissen und lebt von den Möglichkeiten eines liberalisierten Zugangs zu Nachrichten. Der zweite Bereich, in dem im 17. Jh. die Weichen für nachfolgende Nachrichtenkulturen gestellt werden, ist der Handel. Die Intelligenz- und Anzeigenblätter der Kaufleute zeigen das Interesse dieses Standes an aktuellen, regelmäßigen, verlässlichen politischen und berufsspezifischen Informationen. Die engen organisatorischen Bezüge zwischen neuzeitlichen Verkehrswegen, Warenströmen und Informationsflüssen tragen zur Ökonomisierung und Professionalisierung des Nachrichtenwesens bei.14 Aktuelle Nachrichten werden selbst eine Ware und es entstehen neue Berufe wie die Zeitunger, die als Korrespondenten, Zulieferer und Drucker von Nachrichten und Zeitungen tätig sind und die ihre länderübergreifenden Informationsnetze entlang der Handelswege ausbauen und Korrespondenten in den Städten haben.15 Eine dritte grundlegende Form des Umgangs mit Nachrichten lässt sich in den Gelehrten- und Wissenschaftskulturen seit dem 17. Jh. verfolgen. Gelehrte streben ihrerseits danach, zu definieren, was als wahres Wissen gelten soll und wie die Zugänge dazu nach eigenen Kriterien zu regulieren sind. Gelehrte 13 Vgl. Koselleck: Kritik und Krise; Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. 14 Vgl. Behringer: Im Zeichen des Merkur. 15 Vgl. Requate: Journalismus als Beruf.

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Konjunkturen  benachrichtigen

schreiben im 17. Jh. vornehmlich für andere Gelehrte. Die ‚gelehrten Journale‘ verfolgen entsprechend die interne wechselseitige Benachrichtigung über den Stand des Wissens, die gelehrten Irrtümer und die wissenschaftlichen Erfolge. Diese Gruppe wiederum begegnet der im späten 17. Jh. einsetzenden publizistischen Ausweitung des Wissens und der damit einhergehenden Teilnahme neuer Leser mit Misstrauen. Doch ist die Ausdifferenzierung der Zeitungspublizistik dann nicht mehr aufzuhalten. Fortwährend werden nun neue Adressaten für die Benachrichtigung über Wissenswertes erschlossen. Populäre Zeitschriften tragen zur Versorgung von neuen Publika mit Nachrichten bei. Gleichzeitig entsteht auf der Grundlage aller Zeitungstypen das ‚allgemeine Publikum‘, eine generalisierte Adresse in den publizistischen Nachrichtenkulturen. Sie wird für Nachrichten mit kollektivem Anspruch aus verschiedenen Bereichen, wie Politik, Wissenschaft, Kunst oder Ökonomie, benutzt. Die Ausdifferenzierung spezieller Formen der Benachrichtigung und die kollektive Adressierung von ‚allen Menschen‘ gehen seit dem 18. Jh. Hand in Hand.16 Erhalten bleiben in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen die Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen, die mit den Akten der Benachrichtigung verbunden sind. Es geht dann nicht nur darum, diese drei Größen für das zu benachrichtigende Kollektiv kommunikativ zu aktivieren, sondern es entstehen seit 1800 Beobachtungen des je anderen Umgangs mit den Möglichkeiten der Benachrichtigung. So kann Wissenschaft etwa feststellen, dass politisch lancierte Wahrheiten andere Zwecke in der und für die Wirklichkeit im Blick haben als dies im eigenen Bereich der Fall ist, wo es um Nachrichten über Naturwahrheiten und wissenschaftliche Objektivität der Welt geht. Auch beim Vergleich von Wissenschaft und Kunst zeigt sich, dass Nachrichten über verschiedene Auffassungen von wirklichkeitshaltigem Wissen Zeugnis ablegen. In der Wissenschaft kann der eigene Fakten- und Tatsachenglaube qua Benachrichtigung einer interessierten Öffentlichkeit weiter ausgebaut werden. Kunstdiskurse, die sich publizistischer Mittel der Benachrichtigung bedienen, können hingegen darüber informieren, dass Nachrichten- als Kommunikationskulturen erkenntnistheoretisch und ästhetisch zu befragen sind, etwa ob hier

16 Vgl. zur Ausdifferenzierung der Medien im 18. Jh.: Fischer/Haefs/Mix (Hrsg.): Von Alma-

nach bis Zeitung.

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Konjunkturen  benachrichtigen

nicht zeitanfällige Konstruktionen von Wahrheiten und Wirklichkeiten vorliegen. So informieren Politik, Wissenschaft und Kunst ebenso die Allgemeinheit wie sich selbst über ihr jeweiliges Verständnis von Wirklichkeit und benachrichtigen über das Neueste aus ihren Bereichen. Neben die Textnachricht tritt in der Publizistik des 19. Jhs. das Bild als benachrichtigendes Format. Neue Herstellungsverfahren im Zeitungs- und Buchdruck ermöglichen den gleichzeitigen Druck von Texten und Bildern und so wird das ein Ereignis dokumentierende Bild Bestandteil der historiografischen Nachrichtenkulturen. Die bildliche Darstellungsweise hält zugleich Sinnüberschüsse bereit, die nicht in der Funktion, sachlich zu benachrichtigen, aufgehen. Damit trägt das publizistische Bild zur Dramatisierung und Emotionalisierung von Nachrichten bei und steigert deren Unterhaltungswert. Die Information, die unterhält, verliert etwas von der in der Benachrichtigung ­vermittelten Handlungsanweisung ‚richte Dich nach mir‘: Rezipienten nehmen vieles zur Kenntnis, ohne sich sogleich ‚danach zu richten‘. Dies wird als der Unterhaltungswert von publizistischen Textnachrichten schon im späten 17. Jh. beobachtet. Mit der ‚belustigenden Zerstreuung‘, die nicht nur die Literatur, sondern auch eine Lektüre von Zeitungsnachrichten freisetzen kann, wird die rationalistische Ökonomie der zielgerichteten Benachrichtigung unterlaufen.17 Leser suchen stattdessen die Abwechslung in vielerlei Richtungen, berichten doch auch Nachrichten über diverse Möglichkeiten in anderen Lebenszusammenhängen als den eigenen. Zeitungsleser gehen mit den vielen publizistischen Informationen verschwenderisch um, indem sie diese nur flüchtig aufnehmen und womöglich gleich wieder vergessen. Die Vermehrung des publizistischen Informationsaufkommens seit dem 18. Jh. treibt sowohl die Informiertheit von Lesern als auch die Unterhaltungsbedürfnisse an. Die Evolution von publizistischen Textsorten und Bildern in der aufkommenden Massenpresse des 19. Jhs. bringt dann eine Vielzahl neuer Spielräume für die Nachrichtenkulturen mit sich, die rezeptionsästhetisch gesehen sowohl der ‚Information‘ wie der ‚Unterhaltung‘ von Lesern dienen.18

17 Für Konzepte von Unterhaltung um 1700: Vgl. Eybl/Wirtz (Hrsg.): Delectatio. 18 Zu der generellen Ausrichtung der modernen Massenmedien an der Differenz Information/

Unterhaltung: Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien.

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Konjunkturen  benachrichtigen 116

Öffentliche Debatten über die Pressefreiheit reflektieren angesichts der massenhaften Produktion von Informationen über den Sinn, der einem breiten öffentlichen Wissenstransfer zugemutet wird. Mit der aus dem 18. Jh. stammenden Utopie kommunikativer Beteiligung aller Menschen am Gemeinwesen werden die Realitäten praktizierter Nachrichten- und Unterhaltungskulturen verglichen: Mehr Nachrichten, so zeigt die Erfahrung, erzeugen nicht einfach nur mehr wissensbasierte Freiheiten für alle. Sondern sie sind ebenso Zeugnis für den Zuwachs von immer mehr weniger wichtigen Informationen für alle. Mit der unaufhaltsamen Vermehrung von publizistischen Nachrichten, die als solche auf die generelle Informiertheit von allen Menschen zielen, stellt sich zudem die Erkenntnis ein, dass mit der durch ein statistisches Mehr Bedeutung gewinnenden Massenpresse eine medial ausgezeichnete Wirklichkeit erzeugt wird. Sie tritt neben die ‚erste‘ Wirklichkeit, von der Nachrichten ebenfalls Zeugnis ablegen sollen. Neben Politik, Religion und Wissenschaft wird im späten 19. Jh. die Presse als die ‚vierte Macht‘ im Staat gesehen, die seine politisch-kulturellen Geschicke mitverantwortet. Ihre Medien-Macht besteht nicht nur darin, dass sie möglicherweise Meinungen von Einzelnen als kollektiv verbindliche ‚Nachrichten‘ lanciert, sondern ebenso darin, dass ihre Präsenz andere Wirklichkeiten, die neben ihr existieren, zu überlagern oder ganz zu verdrängen droht. Eine Publizistik, die öffentliche Aufmerksamkeit nach ihrem Dafürhalten zuteilt, hält allein das für bemerkenswert, was sie veröffentlicht. Dasjenige, was keinen Weg in die massenmedialen Nachrichtenkulturen mehr findet, wird implizit so behandelt, als ob es nicht wichtig oder sogar nicht geschehen sei. Dies stellt sich als Folge der enormen statistischen Erweiterung der Verbreitung von und der Zugangsmöglichkeiten zu Nachrichten und Wissen heraus. Es zeigt sich hier ein moderner Widerspruch in der medial erzeugten Öffentlichkeit: Je mehr Informationen über die Welt öffentlich ausgegeben werden, umso mehr bleibt zugleich aus der publizistischen Dokumentation der Wirklichkeit ausgeschlossen. Das Bündnis zwischen Publizistik, Wissen und Wirklichkeit tritt damit in eine historisch neuartige Phase ein. Dieses Bündnis zwischen der Wirklichkeit der Welt und den sie veröffentlichenden Massenmedien wird im 20. Jh. mehr und mehr technisch verstärkt. Neben der Zeitungspublizistik tragen weitere neue Medien dazu bei: Tonträger wie Schallplatte und Rundfunk und elektronische Bildmedien wie das Fernsehen. Sie machen der Zeitungspublizistik, die zuerst für die kollektive

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Konjunkturen  benachrichtigen

Benachrichtigung aller Menschen zu sorgen hatte, seit dem frühen 20. Jh. Konkurrenz. Dies weniger, weil sie die Idee der relevanten Nachricht und adressierten Benachrichtigung im Kern verändern, sondern weil sie technische Modifikationen in die Nachrichtenkulturen einbringen. So geht es beispielsweise darum, wie schnell der Informationstransfer in den jeweiligen Medien erfolgt und wie groß die Reichweiten der Benachrichtigung sind. Wie die Zeitung partizipieren auch Radio und Fernsehen an der operativen Fiktion, dass Nachrichten sich direkt auf ‚die Wirklichkeit‘ beziehen. Schon unter den Bedingungen der publizistischen Öffentlichkeit konnten Rezipienten sich bei verschiedenen Zeitungen über die Wirklichkeit informieren. Nun können sie sich anhand diverser Medien auf entsprechend vielen Wegen über die Welt benachrichtigen lassen. Stößt man dabei auf die Vielzahl unterschiedlicher Nachrichten, so bleibt die Frage, wonach man sich zu richten habe, desto mehr eine offene. Dennoch wird der machtvolle Schulterschluss zwischen Informationsproduktion und technischen Massenmedien gerade nicht in Frage gestellt, sondern mündet in einen forcierten Wettlauf um die Aufmerksamkeit von Nachrichtenkonsumenten. Die bislang letzte historische Stufe der technisch beschleunigten und erweiterten Medienkommunikation, die Digitalisierung der benachrichtigenden Informationen über und für die Welt, hält daran fest. Auch die Netzkultur belegt, dass es weiterhin darum geht, die Realitätseffekte von Nachrichten an alle Menschen für alle Menschen verbindlich zu machen. Der Handel mit der Ware ‚öffentliche Information‘, der im 17. Jh. einsetzt, verläuft nun auf den digitalen Verkehrswegen von Weltkommunikation. Im Verbund von Information und Werbung zeigt sich dabei die ausgreifende Kapitalisierung von Weltwissen und Aufmerksamkeit. Der historische Konzeptbegriff ‚Nachricht‘ und die historische Pragmatik der ‚Benachrichtigung‘ werden parallel dazu von dem heute universalistisch verwendeten Informationsbegriff in Wissenschaft und Gesellschaft an den Rand gedrängt: Wenn alles in der Kommunikation potenziell eine Information darstellt, die Anschlusshandlungen motiviert, ist die historisch besondere Konstellation, die Nachricht und Benachrichtigung zwischen Produzenten und Rezipienten von Informationen etabliert haben, in Frage gestellt. Der spezifische Kernbestand der Beziehung Nachricht – Benachrichtigung im Rahmen der Publizistik des 17. Jhs. wurde für die Geschichte der nachfolgenden

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Gegenbegriffe  benachrichtigen

Nachrichtenkulturen hervorgehoben: Verbindliches Wissen mit kollektiver Adresse wird ausgegeben, damit man sich danach richtet. Diese Idee eines pragmatisch gerahmten Wissenstransfers hat immer Nachrichten von kollektiver ‚Wichtigkeit‘ ausgezeichnet. Die heute gängige Rede von der ‚Wissens- und Informationsgesellschaft‘ scheint dagegen in eine Tautologie zu führen: Wo alles den Status der Information besitzt, werden die symbolischen Grenzen für kollektiv wichtige Nachrichten nivelliert. GEGENBEGRIFFE   Gegenbegriffe zu Nachricht und Benachrichtigung ent-

stammen denselben historischen Kontexten wie diese. Seit der Antike wird in Rhetorik, Geschichtsschreibung und Dichtung über das Verhältnis zwischen den res factae und res fictae, den tatsächlichen und erfundenen Dingen und Ereignissen, nachgedacht. Deren Referenzbereiche und Unterschiede in der Darstellung werden dabei mit ethischen Hinsichten verbunden. So soll etwa der Geschichtsschreiber darauf achten, dass er nach bestem Wissen und Gewissen nur erzählt, was wirklich geschehen ist. Konterpart ist die Poesie, die den Bereich der Fiktionen verwaltet und die Räume des Möglichen in der Schriftkultur erschließt. So hat Aristoteles in seiner POETIK19 die auf die Wirklichkeit verpflichtete Geschichtsschreibung und die auf die ‚höhere‘ Wahrheit des Möglichen setzende Dichtkunst kategorial voneinander unterschieden. Die Pragmatik der Konstellation Nachricht/Benachrichtigung setzt hier an. Sie besteht darin, verlässliches Wissen mit Wirklichkeitsreferenz öffentlich zu distribuieren. Dies beinhaltet im 17. Jh. eine stilistische Reduktion in der Darstellung von Ereignissen. Der einfache Bericht über die res factae, die Ereignisse, orientiert sich an den rhetorischen Vorschriften für die Ordnung eines Textes, im engeren Sinn für eine sachlich strukturierte historiografische Narration, die den Fragen wer, wann, wo und wie folgt. Auf diese Weise wird zuerst in den historisch-politischen Zeitungen ein Textformular für die Nachricht stilbildend etabliert. Der Zeitungsmacher des 17. Jhs., der berichtet, was geschehen ist, enthält sich dabei der Frage nach dem Warum der Ereignisse. Mit der Beantwortung dieser Frage würden Übergänge zu Formen der Interpretation und Kommentierung geschaffen, was in Zeitaltern der Zensur

19 Aristoteles: Poetik.

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B

Gegenbegriffe  benachrichtigen

politisch höchst brisant ist. In der Berichtsform ‚Nachricht‘ werden so typenbildend für die Zeitung historiografische Wahrheitsansprüche gegenüber der Wirklichkeit fokussiert. Diese kondensierte Form der Nachricht als ‚reiner‘ Ereignisbericht findet sich noch heute in den Nachrichten der Agenturen, die ihre Meldungen den Massenmedien für die weitere Berichterstattung zur Verfügung stellen. Und bis heute profilieren sich öffentliche Benachrichtiger aller Art damit, dass sie nur das veröffentlichen, was ist, weil es sich ereignet hat. In der frühen Neuzeit verlaufen die Grenzen zwischen historiografischen und poetischen Praktiken aber kaum so trennscharf, dass es nicht zu Vermischungen ihrer Formen bei Texten und Bildern käme.20 In diesen komplexen Umfeldern etabliert sich die Nachricht in der periodischen Publizistik mit ihrer Stringenz des einfachen Ereignisberichts, der sich von anderen Darstellungsweisen, etwa polemischer Flugblattpublizistik, abgrenzt. Die Konkurrenz zu anderen Darstellungsverfahren hat auch Nachrichtenkulturen der Folgezeit immer wieder dazu angeregt, über ihr Selbstverständnis, ihre Formen und ihr Dasein als symbolische Praxis Rechenschaft abzulegen. In der Konfrontation von Nachricht/benachrichtigen mit ihrem (vermeintlich gänzlich) Anderem werden soziologische, epistemologische und ästhetische Aspekte von Kommunikation und Darstellungsverfahren berührt. So wurde schon darauf hingewiesen, dass die Zeitungen des 17. Jhs. die nachrichtliche Falschmeldung als legitimes Mittel obrigkeitlicher Nachrichtenpolitik kennen. Bereits die gelehrten Zeitungstheoretiker des späten 17. Jhs. denken da­rüber nach, inwiefern Herrscher zur publizistischen Lüge wider (eigenes) besseres Wissen greifen dürfen (aber nicht der gemeine Mann) und ob die öffentliche Informationspolitik tatsächlich nur zum Nutzen des Gemeinwesens beiträgt oder doch auch Schaden anrichtet, durch eine allgemeine Verwirrung über das, was nun wirklich geschehen ist.21 Die in Gelehrsamkeit und Poesie ventilierten Grenzverläufe zwischen Wahrheit, Lüge und Fiktionen sind dabei in dem ersten Zeitungsjahrhundert noch vielfach beweglich. Darauf verweist der Umstand, dass sowohl Merkur, der Botschaften auf zügigen Wegen ans Ziel

20 Vgl. Knape: ‚Historie‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. 21 Vgl. das Buch von Kaspar Stieler, der die Ansichten über die Zeitungspublizistik seiner Zeit

zusammenträgt. Stieler: Zeitungs Lust und Nutz.

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Gegenbegriffe  benachrichtigen

bringt,22 als auch Fama die allegorischen Schutzgottheiten der periodischen Publizistik und ihrer Nachrichten sind.23 Fama ist nicht nur die Göttin des öffentlichen Ruhms und Nachruhms (gloria), sondern auch des zirkulierenden Gerüchts (rumor). Die Zeitungskritik der Frühaufklärung warnt entsprechend davor, dass in Zeitungen neben fundierten auch vielfach ungesicherte Nachrichten aus obskuren Quellen veröffentlicht werden. Dies entspricht einer mündlichen Gerüchtekultur, und so ermahnen die Kritiker die Zeitungsleute zur sorgfältigen Prüfung ihrer Quellen. Die Profession wiederum verwehrt sich dagegen, dass sie Gerüchte verbreiten würde. Dabei argumentieren Journalisten bei unsicheren Nachrichten oder solchen, die sich nachträglich als Falschmeldungen erweisen, auch mit dem Zeitdruck, unter dem sie arbeiten, wenn sie für die zügige Information der Menschen über das Neue Sorge tragen. Sie verweisen ebenso ‚in aller Unschuld‘ auf ihre Vermittlungsfunktion: Sie und ihre Zeitungen und Nachrichten berichteten nur, was ihnen andere berichtet hätten. Auf diese Weise werden zwischen wahren und falschen Nachrichten und öffentlichen Lügen diskursiv verstärkt Grenzen gezogen. Die erfundenen Geschichten, die Fiktionalitäten der Dichtung, gehen von anderen Voraussetzungen aus. Sie gründen ihre Legitimität im Unterschied zu den Nachrichtenkulturen gerade nicht auf einem Rechtstitel gegenüber der Wirklichkeit, sondern darin, dass ihre Art der Darstellung das Mögliche aufzeigt. Die Zeitungskritik wird gleichwohl schon früh darauf aufmerksam, dass auch Publizistik in vergleichbarer Weise ihren Lesern ‚Scheinwirklichkeiten‘ vorführt, die der Realität nicht entsprechen. Die historische Etablierung des publizistischen Textformulars ‚Nachricht‘ und die Professionalisierung der Benachrichtigung läuft auf dieser dreifachen Spur von erst allmählich durchgeführten Abgrenzungen: Von Lügen und Fiktionen, die keinen Anhalt in der Wirklichkeit haben, und poetischen Erfindungen, die Geschichten aus anderen Gründen als jemanden zu benachrichtigen darbieten. Die Vorwürfe gegenüber alten und neueren Nachrichtenkulturen: Leichtfertigkeit bei der Veröffentlichung kaum geprüfter Quellen, Erzeugung von Scheinwirklichkeiten, manipulative Berichterstattung, finden

22 Vgl. Behringer: Im Zeichen des Merkur. 23 Vgl. Pompe: Famas Medium.

120

PERSPEKTIVEN   Noch halten sich Nachrichten und der damit verbundene

kommunikative Akt des Benachrichtigens in traditionsbewussten Medien wie Zeitung, Rundfunk und Fernsehen, aber auch in der Netzkultur. Die Seriosität von Nachrichtenkulturen beruht auf einem Konsens: über die Verlässlichkeit von Informanten (wie Journalisten, Publikationsorgane) und über das Erscheinungsbild von Darstellungsformen, die Sachgehalt und Tatsächlichkeit demonstrieren. Das Vertrauen, das Rezipienten den Nachrichtenkulturen entgegenbringen, ist konstitutiv für diese. Vertrauen ist immer ein Mitspieler von Wissen. Vertrauen und Wissen kommen in den Kommunikationsketten, die Nachrichten stiften, zum Zuge. Die Digitalisierung der Benachrichtigung bringt neue symbolische Interaktionen in der kollektiven Normierung von Nachrichten mit sich. Daneben gibt es eine Vielzahl neuer Möglichkeiten der individuellen Weitergabe des Wissenswerten (SMS, Twitter, Chat, Blog etc.). Auch hier spielt die soziale Ressource ‚Vertrauen‘ eine große Rolle und diese kann eben deshalb auch missbraucht werden (Stichwort ‚Internetbekanntschaften‘). An den Schnittstellen von kollektiven und individuellen Möglichkeiten des Nachrichtentransfers zeichnet sich heute ab, dass die Nachrichten- als Informationskulturen mehr und mehr über die technischen Möglichkeiten in der globalen Kommunikation bestimmt werden. Daneben ist es der Wissenschaftsdiskurs, der zur Durchsetzung des Informationsbegriffs beiträgt. ‚Information‘ lässt sich als das funktionale Zentrum jeder Art von ‚Benachrichtigung‘ verstehen. Damit wird der politische Impact, den die Nachricht als Träger relevanter Informationen mit den sozio-kulturellen Ordnungen der Benachrichtigung seit dem 17. Jh. eingegangen ist, sachlich

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Perspektiven  benachrichtigen

sich gleichwohl bis heute. Und natürlich hat es die Dichtung zu allen Zeiten verstanden, ihr poetisches Spiel mit den Wahrheits- und Wirklichkeitsansprüchen von Nachrichten zu treiben.24 Und erfundene Nachrichten verwirren ihrerseits gerne für alle die Grenzen zwischen den Fakten und Fiktionen.25

24 Hier ist u. a. an die Berliner Abendblätter bzw. die Novellistik von Heinrich von Kleist zu

denken.

25 Vgl. etwa die US-amerikanische satirische Zeitung The Onion (dt. Pendant: Der Postillon),

deren ‚Nachrichten‘ weltweit von anderen Zeitungen oft als wahre Meldungen übernommen werden.

121

Perspektiven  benachrichtigen

neutralisiert. ‚Informationen‘ produziert jeder kommunikative Akt und alle sind immer schon ‚informiert‘. Das Verb benachrichtigen bekennt sich demgegenüber dazu, dass Informationen Einfluss auf das kommunikative Handeln von Adressaten nehmen. Versteht man dagegen die Informationsvermittlung als neutralen Akt, so geht dieses Wissen der historischen Nachrichtenkulturen verloren. Solange diese allerdings mit asymmetrischen Wegen in der Bereitstellung von Informationen verbunden waren oder sind, stellt sich die Vervielfältigung von Zugängen zu und Verbreitungswegen von Informationen immer noch als Zugewinn an Demokratie dar. Darüber geht aber die informationstheoretisch fundierte Tautologie, die Information und Wissen aneinander angleicht, bereits hinaus. Die Bezeichnung einer von Kommunikationen erzeugten Welt als ‚Informations- und Wissensgesellschaft‘ scheint aus den bislang noch faszinierenden Möglichkeiten der digitalen Medien abgeleitet zu sein. Alles, was diese als kommunikative Anschlusshandlung hervorbringen, ist zuallererst eine digital kodierte Information, die unablässig weitere nach sich zieht. Damit diese aber human lesbar bleiben, werden sie in analoge Symbolsprachen übertragen.26 Technisch gesehen, sind beim Informationsgebrauch alle Beteiligten ‚unschuldige Benachrichtiger‘, die weitergeben, was sie erhalten haben. Alle, die hier mitspielen, vermehren unaufhörlich, was als Information oder Wissen im Umlauf ist. Damit stellt sich die Frage, was eine Information, die eine Nachricht für die Benachrichtigung in Umlauf gibt, von anderen Informationen noch unterscheidet? Könnte es sein, dass die kommunikative Handlung, jemanden zu benachrichtigen, in dem Akt, jemanden zu informieren, völlig verschwindet? Und verschwindet in der kollektiven Ausrichtung auf unbegrenzte Informationen nicht die Wichtigkeit einer einzelnen Nachricht, die für die kollektive Orientierung veröffentlicht wird?27 Sind die mehr und mehr zerstreuten Kollektive der Wissenden und Informierten der Ausweis neuer Nachrichtenkulturen? Gleichwohl gibt es noch Traditionsbestände, die aus der Geschichte von Nachricht und Benachrichtigung, aus den alten in die neuen Medien herüberreichen. So taucht gerade auch in den Netzkulturen der Hinweis auf solche Wissensbestände auf, die

26 Vgl. Schröter/Böhnke (Hrsg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? 27 Vgl. Brokoff et al. (Hrsg.): Die Kommunikation der Gerüchte.

122

FORSCHUNG  Aus diesen Fragen ergeben sich Forschungsperspektiven nicht

nur für die Zusammenhänge zwischen Wissen, Kommunikation und Medien in einem generellen Sinne, sondern auch für die Analyse von Notwendigkeiten, Überlebensmöglichkeiten oder das mögliche Ende von Nachrichtenkulturen. Die historischen Praktiken der Nachricht und des Benachrichtigens in den ‚alten‘ Medien sind unter soziokulturellen und ästhetischen Hinsichten von Geschichts-, Literatur-, Kommunikations- und Medienwissenschaften vielfach gut erforscht worden. Die angesprochene technische wie epistemologische Konfiguration aus Information und Wissen mit ihrer neuartigen Affinität zu einer funktionalen Tautologie verweist dagegen auf aktuelle Herausforderungen, die einem auch unter den Stichworten von globalen Folgeabschätzungen von digitalen Kulturen begegnen. Zu untersuchen wäre dabei auch, ob die überkommenen Formen und Funktionen von Nachricht und Benachrichtigung bereits nachgeordnete Aspekte der Weltgesellschaft als Informations- und Wissensgesellschaft sind.

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Literaturempfehlungen  benachrichtigen

kaum Eingang in die allgemeine Kommunikation finden, sondern, etwa im Rahmen von politischen Handlungsspielräumen, der Öffentlichkeit bislang ‚vorenthalten‘ werden (z. B. ist der Einsatz von Wikileaks davon motiviert). Komplementär stehen auch weiterhin die Freiheitsgrade von Informationen, die den Weg in die Öffentlichkeit finden, auf dem Prüfstand und werfen mit ihrer Veröffentlichung alt-neue Fragen auf: Wer darf was veröffentlichen? Wer hat die Rechte an Datensätzen, die über jeden Einzelnen bereits existieren? Wo endet die öffentliche Informationsgewalt über den Bürger, wo das wirtschaftliche Interesse an Kundeninformationen? Wo gibt es noch vor aller Öffentlichkeit geschützte private Daten? Darf man sich dem Konsens verweigern, dass digitale Informationszirkulation und dieses öffentliche Wissen mit einer demokratisch verfassten Gesellschaft unabdingbar zusammenhängen?

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123

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Verweise  benachrichtigen

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VERWEISE  adressieren |47|, bloggen |149|, digitalisieren |162|, zer-

streuen |687|

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BILDEN

B

ANEKDOTE   „We have big ideas“1, sagt Newt Gingrich (von 1995 bis 1999

Sprecher des amerikanischen Repräsentantenhauses) und meldet sich mit diesem Anspruch auch zum Thema Bildung, live aus einer Problem-Schule in Chicago. Hilfe verspricht er sich nicht von zusätzlichen Lehrern oder neuen Reformen, Gingrich setzt vielmehr auf sein überraschendes Angebot: Jeder Schüler dieser Schule erhält von ihm persönlich $3 für jedes Buch, das ganz gelesen worden sei. Das ist die Botschaft, und Gingrich ist sich sicher, dass das draußen im Lande jeder versteht, weil er nur sagt, was alle wissen. Und das meint nicht die republikanischen Wähler, sondern das Volk der Mediennutzer. Geld gibt es demnach nicht für die Lektüre eines besonders gehaltvollen Buchs, sondern für das schiere Buchlesen. Doch diese Lektüre muss „richtig“ ausgeführt werden: Belohnt wird nicht beliebiges Rumblättern oder bloßes Anlesen, sondern allein die vollständige Lektüre, von der ersten bis zur letzten Seite. Das bricht mit der Vorstellung, wonach der bildende Wert eines Buches in einer ihm inhärenten Bedeutung steckt und seine Lektüre dem Herausnehmen von bevorzugten Inhalten aus einem Aufbewahrungscontainer gleicht. Gingrichs Präferenz für das Buch als Bildungsmedium stützt sich dagegen auf dessen technische Eigenheiten und Vorgaben. Werden sie korrekt ausgeführt, entstehen aus dem Mediengebrauch heraus positive, als Bildung und Erziehung wiedererkennbare Effekte.

Anekdote  bilden

NIKOLAUS WEGMANN

ETYMOLOGIE  Die Wortbedeutung von bilden (mhdt. bilden, ahdt. bilidōn)

steht für „gestalten, Form geben, dann auch abbilden, nacheifern“2. Das DEUTSCHE WÖRTERBUCH der Grimms referiert ein reiches Wortfeld, das eine

1 Ferguson: What Does Newt Gingrich Know? In: NYT Magazine. Unter: http://www.

nytimes.com/2011/07/03/magazine/what-does-newt-gingrich-know.html?pagewanted=all&_ r=0 [aufgerufen am 27.03.2014]. 2 (Art.) bilden. In: Kluge online. Unter: http://www.degruyter.com/view/Kluge/kluge.1241? rskey=NiW0Xp&result=7&dbq_0=bilden&dbf_0=kluge-fulltext&dbt_0=fulltext&o_0=AND [aufgerufen am 31.03.2014].

125

Etymologie  bilden

deutliche Bewegung erkennen lässt: Vor 1800 steht bilden v. a. im Kontext von handwerklicher Geschicklichkeit („der töpfer bildet näpfe“3). In der zweiten Hälfte des 18. Jhs. wird die Wortbedeutung ausgeweitet auf den „genius“ des Künstlers, der einer „todten masse […] leben und seele“4 zu geben vermag. Der Künstler wiederum ist das Muster für jedes bildungsfähige Individuum, das sich in einem universalen Wechselverhältnis zwischen innerer und äußerer Welt eine anspruchsvolle Form gibt: „den dichter und den mensch überhaupt bilden natur und kunst, die welt bildet ihn und wiederum er bildet die welt“5. In seiner pädagogischen und idealistischen Bedeutung macht Bildung und bilden – als sich bilden (Prozess der Bildung) wie gebildet sein (Zustand der Bildung) – zwischen 1770 und 1830 in Deutschland eine außerordentliche Karriere.6 Im Kontext von Neuhumanismus und Klassik avancierte um 1800 die Idee einer zweckfreien Bildung zur Humanität zu einer universalen Zielmaxime für das Individuum wie die Gesellschaft insgesamt. Gleichzeitig wird der praktische Bildungsbegriff der Aufklärung, der „Ökonomie und Nützlichkeit, die Berufserziehung und die Technik“7 umfasst, abgewertet. In der Verbindung mit einem philosophisch-ästhetisch aufgeladenen Kulturbegriff wird Bildung – trotz oder gerade wegen der Überfülle idealistischer Bedeutungen – zu einem „Deutungsmuster“ (Bollenbeck) des deutschen Bürgertums: Kultur als Medium der Bildung ist eine „spezifisch deutsche semantische Innovation“8. Ihre anhaltende Wirkung in der deutschen Ideengeschichte belegt der vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebene Bildungsauftrag des öffentlichrechtlichen Rundfunks. Als staatlich geregelte Institution muss das duale Mediensystem der Bundesrepublik ein Programmangebot im Bereich Kunst, Kultur und politischer Information garantieren, das sowohl das demokratische Gemeinwohl wie die persönliche Bildung des Mediennutzers fördert.9

3 (Art.) bilden. In: Grimm online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ [aufgerufen am

27.03.2014].

4 Ebd. 5 Ebd. 6 Vgl. Lichtenstein: (Art.) Bildung. In: Ritter, Sp. 921. 7 Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 99. 8 Ebd., S. 96. 9 Vgl. Eckhardt: Wie erfüllt der öffentlich‑rechtliche Rundfunk seinen Kulturauftrag? In: Ar-

beitspapiere des Instituts für Rundfunkökonomie an der Universität zu Köln, S. 1–15.

126

gegen eine idealistische Bildungsphilosophie, dass Bildung aus dem Vollzug von Kulturtechniken entsteht. Der bildende Effekt des Bücherlesens steckt bereits in der Steigerung der Konzentrationsfähigkeit. Schon allein der serielle Ablauf des Schriftbildes – wenn die Strecke nur lang genug ist – generiert beim Leser eine beständige Aufmerksamkeit. Genau diese Qualität kann in der Gegenstellung zum ‚konsumeristischen Zappen‘ des Mediums Fernsehen als positiver Bildungswert ausgeflaggt werden. Gingrichs Vorschlag recycelt altes Wissen, wonach kein anderes Medium einen so großen bildenden Mehrwert hat wie das Buch, wenn nur richtig gelesen wird. Denn das „Feld der Lektüre ist heut zu Tage so groß“, heißt es in einer typischen Leselehre vom Ende des 18. Jhs., „daß es manchem höchst gefährlich ist, wenn er glaubt, sich darin selbst zurecht finden zu können.“10 Erst der Experte weiß, wie ein Leser, „welchem es um Bildung des Verstandes und Herzens zu thun ist“11, lesen muss: Man lese „das Buch zum erstenmal, fern von aller Zerstreuung und in angestrengter Aufmerksamkeit, frage sich oft […] was habe ich gelesen?“ Danach „schreite man zur zweten [sic!] Lesung […] nun mit der Feder in der Hand, zeichne sich Kapitel und Ordnung des Vortrages auf, bemerke sich das auffallende, schwierige und besonders neue und gewichtige, zeichne eigene Gedanken, Einfälle und Zweifel daneben.“12 Wer wiederholt liest und dabei zugleich schreibt, d. h. exzerpiert, kommentiert und weiterführt, kann mit hinreichender Gewissheit auf den bildenden Mehrwert des Bücherlesens rechnen. Dass Bilden mit einem genau geregelten technischen Gebrauch eines Mediums einhergeht, ist im 20. Jh. die Grundüberlegung für die Entwicklung und den Einsatz von Lern- oder Unterrichtsmaschinen. Das Buch wird als Gutes Buch noch immer als bildendes Medium hochgeschätzt,13 doch neue Technologien sollen es noch übertreffen. Schon Anfang des 20. Jhs. wurden in Rochester (USA) zum ersten Mal Filme als Lehr-Medien verwendet. Für Thomas Edison, Erfinder und Geschäftsmann, stand fest, dass das Buch durch

10 11 12 13

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Kontexte  bilden

KONTEXTE   Das Beispiel aus den USA zeigt in seiner polemischen Wendung

Beseke: Ueber Lektüre und Selbststudium, S. 360. Ebd., S. 362. Ebd., S. 365. Vgl. Altenberg: Vom Lesen und von guten Büchern, S. I–XVI.

127

Kontexte  bilden

ungleich effizientere Bewegtbilder ersetzt würde.14 Technische Apparate sollten einem grundsätzlichen Problem abhelfen: Erziehung (engl. education) galt als ein wenig effizienter Prozess, gemessen am Aufwand war der Wirkungsgrad zu gering. Nur ein arbeitswissenschaftlich optimierter Lehrbetrieb konnte dem abhelfen.15 Sidney L. Pressey baute 1924 in den USA eine erste Lehrmaschine, die Erziehungs- und Bildungsprozesse unter Kosten-Nutzen Kalkülen entscheidend verbessern sollte. „Teaching machines are unique among instructional aids“, so Pressey über die Vorzüge seiner Erfindung, „in that the student not merely passively listens, watches, or reads but actively responds. And as he does so he finds out whether his response is correct or not.“16 Der Fortschritt sollte in der jetzt explizit in den Gebrauch der Lernmaschine hineinkonstruierten Feedback-Schleife liegen. Doch Effizienz allein garantiert noch nicht die allseitige Entfaltung der in diesen optimierten Lehr- und Lernprozessen involvierten Individuen. Seit der Digitalisierung der Medien wird verstärkt nach einem effektiveren Gebrauch von Maschinen-Technik in Bildungsprozessen gesucht. Unter dem Kürzel MOOC – Massive Open Online Course – ersetzen vielerorts netz-gestützte Lehr- und Lernformen die bewährten, aber kostenintensiven Seminare und Vorlesungen. Die mit der neuen, smarten Digitaltechnik einhergehenden Innovationen verheißen v. a. positive Skalierungseffekte: Da jeder, unabhängig von Einkommen und Wohnort, an dieser als open access konzipierten Technologie teilnehmen kann, wird endlich auch jeder sich bilden können. Bildungsutopie, Versprechen auf Effizienzsteigerung und Kostenreduktion sowie aggressives Marketing für Technologiefirmen gehen Hand in Hand, auch wenn Beweise für die behaupteten Zugewinne fehlen.17 Naiv an dieser aktuellen Begeisterung für digitale Formen des distant learning ist der Glaube, dass es formfreie Bildungsinhalte geben könne: „Es gibt keine 14 Vgl. Pias: Automatisierung der Lehre. In: FAZ online. Unter: http://www.faz.net/

aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/automatisierung-der-lehre-eine-kurze-geschichte-derunterrichtsmaschinen-12692010.html [aufgerufen am 27.03.2014]. 15 Vgl. ebd. 16 Pressey: History of Instructional Design. Unter: http://www.timetoast.com/timelines/­ history-of-instructional-design--2 [aufgerufen am 27.03.2014]. 17 Vgl. Oppenheimer: Computer Delusion. In: Atlantic Monthly. Unter: http://www. theatlantic.com/past/docs/issues/97jul/computer.htm [aufgerufen am 27.03.2014].

128

Inhalte, die sich unverändert einem Medium entnehmen und in ein anderes einpflegen lassen.“18

B

KONJUNKTUREN  Für den Gebrauch von Medien in Erziehungs- und Bil-

Konjunkturen  bilden

dungskontexten gibt es keinen klar datierbaren Anfang, einen ersten Originalgedanken oder sonstige genau datierbare Patentschriften. So ist das allgemeine Wissen über die bildenden Effekte der Lektüre – und das meint sowohl was als auch wie gelesen wird – ein zeitloser medienkultureller Topos. Diese unspektakuläre Dauerkonjunktur kontrastiert mit einem ingenieurwissenschaftlichen Verständnis von Bildungsmedien.19 Im Glauben an die Durchschlagskraft apparatetechnischer Innovationen ist jeder neue Apparat potenziell auch schon der Start für einen neuen Konjunkturzyklus. So wurde in den 1950ern in den USA, zehn Jahre später in Deutschland, das Sprachlabor als technische Großinnovation eingeführt. Fremdsprachen sollten jetzt schneller erlernt werden können, allein durch die jetzt um ein Mehrfaches erhöhte individuelle Sprechzeit. Sprechzeit hieß jedoch Zeit zur Nachahmung (des Lehrers). An die kommunikative Einübung der neuen Sprache hatten Ingenieure wie Lernpsychologen nicht gedacht. Da sich die versprochenen Effizienzgewinne nicht einstellten, ebbte die Begeisterung ab und schon Mitte der 70er Jahre schien das Sprachlabor eine „Fehlinvestition“20. In einer Gesellschaft, die sich selbst als Mediengesellschaft beschreibt, ist der Nexus von Bildung und Medien eine selbstverständliche Gewissheit. So gibt es an 26 deutschen Universitäten und Fachhochschulen medienpädagogische Studiengänge mit in der Regel mehreren Professuren (Stand Anfang 2014).21 Hinter dieser Professionalisierung des Themas steht die Überzeugung, dass nur der gebildet ist, der sich in der Welt der Medien souverän zu bewegen weiß. Media Literacy heißt das Schlagwort, das bis hinauf zur Unesco zum Programmtitel für eine aufwendige media policy geworden ist: 18 Pias: Automatisierung der Lehre. In: FAZ online. Unter: http://www.faz.net/aktuell/

feuilleton/forschung-und-lehre/automatisierung-der-lehre-eine-kurze-geschichte-derunterrichtsmaschinen-12692010.html [aufgerufen am 27.03.2014]. 19 Vgl. ebd. 20 Jung/Haase (Hrsg.): Fehlinvestition Sprachlabor? 21 Vgl. Webseite der Gesellschaft für Medienpädagogik und Medienkultur. Unter: http://www. gmk-net.de/index.php?id=376 [aufgerufen am 27.03.2014].

129

Gegenbegriffe  bilden

Media Literacy aims to empower citizens by providing them with the competencies (knowledge and skills and attitude) necessary to engage with traditional media and new technologies. It includes the following elements or learning outcomes: • • • • •

Understand the role and functions of media in democratic societies; Understand the condition under which media can fulfil their functions; Critically evaluate media content; Engage with media for self-expression and democratic participation; and Review skills (including Information, Communication and Technology skills) needed to produce user-generated content.22

Die Semantik von „Literacy“, ursprünglich nur die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, bricht mit der alten, auf universale Werte und ideale Normen ausgelegten Bildungsphilosophie des 19. Jhs. Sich bilden heißt jetzt, sich im Gebrauch von Medien sachkundig zu machen. Bildungsziel ist ein Verständnis der Eigenrealität der Medien, da es nur mittels „Medienkompetenz“ gelingen kann, Medien für die eigenen Interessen zu gebrauchen.23 GEGENBEGRIFFE Bildung ist in der deutschen Ideengeschichte ein Impe-

rativ: Jeder soll sich bilden und das meint eine anspruchsvolle Selbstformung mit grundsätzlich positiven Folgen für das Individuum wie für die Gesellschaft. Was diesen hehren Imperativ behindert, kommt auf die offene Liste der Gegenbegriffe: Konsum, Unterhaltung, Zerstreuung, Kulturindustrie (Standardisierung), Banausentum etc. Exzessiver Mediengebrauch soll das, was an Bildung, Demokratie und Gemeinwohl bereits erreicht worden ist, zerstören.24 Eine zweite Begriffsbildung findet innerhalb der Semantik von Bildung statt. Der Form nach ist das ein Streit zwischen verschiedenen Versionen von Bildung. Eine wahre Bildung wird als eigentliche und deshalb auch jedem anderen Verständnis überlegene Version behauptet. So hat Ted Nelson sein

22 UNESCO: Communication and Information. Media Literacy. Unter: http://www.unesco.

org/new/en/communication-and-information/media-development/media-literacy/ [aufgerufen am 27.03.2014]. 23 Vgl. Baacke: Kommunikation und Kompetenz. 24 Vgl. Reiter: Dumm 3.0.

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Hypertext-Projekt Xanadu ausdrücklich als ein anarchisch-libertinäres GegenProjekt zu allen Bildungsinstitutionen propagiert.25

B

PERSPEKTIVEN  Die medienwissenschaftliche Thematisierung der bildenden Effekte des Mediengebrauchs steht in Konkurrenz zu rivalisierenden Erklärungsansprüchen. So beklagt die Kulturkritik als Folge einer Herrschaft der Medien den Verfall der einzig wahren, weil auf Kunst und Kultur gegründeten, Bildung. Klicken, gamen, surfen oder textverarbeiten werden nur als simple mechanisch-technische Operationen im Kontext von Unterhaltung oder der Steigerung ökonomischer Rationalität, ohne bildenden Mehrwert, gehandelt.26 Umgekehrt proklamiert die Medienindustrie für ihre neuen Medienapparate wie E-Book oder Tablet-Computer auch ohne den Nachweis durch eine neutrale Forschung einen signifikanten Bildungswert.27 Benutzerfreundliche Medientechnik – und nicht länger eine idealisierte, exklusive Kunst und Kultur – soll jetzt bildende Effekte zeitigen: Interactive learning, social networking oder hypermedia learning stehen für ein neues Paradigma.28 Genuin medienwissenschaftliches Interesse konzentriert sich dagegen auf den Sachgehalt bildender Kulturtechniken. So ist in den letzten Jahren z. B. umfangreich über gelehrte, in der Regel vor 1800 entwickelte und im Kontext von Erziehung und Selbstbildung gebrauchte Kulturtechniken geforscht worden. Im Fokus steht insbesondere das Zusammenspiel von intellektuellen Arbeitstechniken und Zettelkästen, Lektüreverfahren oder Exzerpier-Regeln als eigensinnigen Medienpraktiken.29 In vergleichender historischer Perspektive sind die digitalen Kulturtechniken längst nicht so neu wie es der Hype behauptet: „The transition from print to digital media“, ist nach Jerome J. McGann, „less a

Perspektiven  bilden

25 Vgl. Wolf: The Curse of Xanadu. In: WIRED. Unter: http://www.wired.com/wired/

archive/3.06/xanadu.html [aufgerufen am 27.03.2014].

26 Vgl. Horkheimer/Adorno: Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug. In: Dies.: Dialek-

tik der Aufklärung, S. 148–196.

27 Vgl. Barnes: A Tablet for Children That Comes With Its Own Penguins. In: NYT online. Unter:

http://www.nytimes.com/2014/01/03/business/media/a-tablet-for-children-that-comes-withits-own-penguins.html?&_r=0 [aufgerufen am 27.03.2014]. 28 Vgl. Rennie/Morrison (Hrsg.): e-learning and Social Networking Handbook. 29 Vgl. Fohrmann (Hrsg.): Gelehrte Kommunikation.

131

Forschung  bilden

revolution than it is a convergence.“30 Der Zusammenhang von Medien und Bildung ist demnach zu keinem Zeitpunkt ein unbeschriebenes Blatt, sondern allein historischer Forschung zugänglich. Auch was aktuell geschieht, ist entgegen der behaupteten radikalen Neuheit, die „Geschichte unserer digitalen Gegenwart“31. FORSCHUNG   Die Forschung über Medien und Bildung, Medienpädago-

gik oder Medienkompetenz ist längst unüberschaubar, zumal diese Themen inzwischen weltweit diskutiert werden. Auch ein Ordnungsversuch nach weltanschaulich motivierten Großtheorien bleibt ergebnislos. Theorien gibt es so nicht mehr. Selbst dort, wo explizit zu „Bildungsmedien“ geforscht wird, fallen Begriffsdefinitionen so allgemein aus, dass keine Konturen zu erkennen sind: „In einem weiten Verständnis dienen alle Medien der Fundierung, Stärkung und Verbreitung von Bildung“32. In dieser Situation verdient ein Vorschlag von David Edgerton (Prof. für History of Technlogy am King’s College London) Interesse. Er schlägt ein Forschungsdesign vor, das sich auf das konzentriert, was Signifikanz hat, d. h. auch tatsächlich relevante Effekte generiert.33 Dieser Lackmustest könnte auch bei der allzu oft unterschiedslos vorgehenden Medienforschung im Bereich Erziehung und Bildung angewandt werden. Doch wie ist Signifikanz zu bestimmen? Reicht eine quantitative Vermessung oder braucht es eine qualitative Technikfolgeabschätzung medialer Operationen? Zählt nur Neuheit und Innovation wie im Fall der Lernmaschinen oder entscheidet die Beharrungskraft, mit der eine Kulturtechnik wie die Wiederholungslektüre sich über sehr lange Zeit halten kann? Sollte sich die medienkulturwisssenschaftliche Forschung an dieser Heuristik34 orientieren, dann ist das kein grundstürzender Paradigmenwechsel. Aber die nur scheinbar so

30 McGann: The Amoderns: Towards Philology in a New Key. A Feature Interview with Jerome

J. McGann. Unter: http://amodern.net/article/interview-with-jerome-mcgann/ [aufgerufen am 31.03.2014]. 31 Mejias: Es ist lächerlich, das Internet erklären zu wollen! In: FAZ online. Unter: http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/evgeny-morozov-im-gespraech-es-ist-laecherlich-dasinternet-erklaeren-zu-wollen-12614255.html [aufgerufen am 27.03.2014]. 32 Kübler: Bildungsmedien, S. 40. 33 Vgl. Edgerton: The Shock of the Old, S. 1–27. 34 Vgl. ders.: Technology, or History, S. 680–697.

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B

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BLÄTTERN

B

ANEKDOTE  In seinen Anweisungen, wie man die HEILIGE SCHRIFT lesen soll,

stellt der protestantische Schriftgelehrte Matthias Flacius Illyricus eine einfache Regel auf: Der Leser sei zufrieden, wenn er den einfachen und eigentlichen Sinn der Heiligen Schrift, zumal derjenigen Stellen, die er gerade liest, erfaßt. Und er soll nicht Schemen nachjagen oder Träumen von Allegorien oder Himmelsgleichnissen anhangen, wenn es sich nicht offensichtlich um eine Allegorie handelt und der buchstäbliche Sinn anderswie untauglich oder absurd ist.1

Anekdote  blättern

HARUN MAYE

Gegen diese einfache Vorschrift – den buchstäblichen immer dem übertragenen Sinn vorzuziehen, solange das Gegenteil nicht angenommen werden muss – sei von „den Päpstlichen“ immer wieder verstoßen worden, denn diese haben die HEILIGE SCHRIFT angeblich sehr selten gelesen, und auch wenn sie sie gelesen haben, so haben sie nur Sinngehalte nach ihrem Gutdünken herausgepflückt und diese außerdem nach ihrem Belieben miteinander in Verbindung gebracht. Nicht anders pflücken auch spielende Mädchen nach ihrem Gefallen Blumen auf den Wiesen, und dann flechten sie daraus Kränze oder irgend etwas anderes nach ihrem Geschmack.2

Im gelehrten Kontext heißen solche zusammengepflückte Sträuße Florilegien. Ein Florilegium, gebildet aus floris (Blüten) und legere (Lesen), ist die lat. Übersetzung der griech. Anthologie und bezeichnet ursprünglich eine Sammlung vorbildlicher Sentenzen oder von Bibelstellen und ihrer Kommentierung. Das Durchblättern von Büchern und Herauspflücken von Stellen heißt dementsprechend Blümeln: „Durch Herausreißen einer Stelle aus ihrem Zusammenhange in der Nachahmung wird sie eben Blume, Manier. Alles Blümeln

1 Flacius Illyricus: Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift, S. 89f. 2 Ebd., S. 107f.

135

Anekdote  blättern

ist Produkt einer nachahmenden Unfähigkeit das Individuelle aufzufassen.“3 Die Blumen- und Wiesenmetaphorik bei Flacius und Schleiermacher ist also keineswegs neutral, sondern eine abschätzig eingesetzte Rhetorik. Die metaphorische Blütenlese ist mit der Kulturtechnik des Blätterns sachlich und metaphorisch eng verbunden und kann – als uneigentlicher Sprachgebrauch – leicht die Diskurse wechseln. Casanova gibt davon ein gleichzeitig anschauliches und anzügliches Beispiel, wenn er in seinen Memoiren Frauen mit Büchern vergleicht: Die Frau ist wie ein Buch, von dem, ob gut oder schlecht, zunächst die Titelseite gefallen muß; bietet sie keinen Anreiz, so erweckt sie auch nicht die Lust zum Lesen, und diese ist nur so stark wie das Interesse, das sie einflößt. […] Nun sind die Leute, die viele Bücher gelesen haben, sehr darauf gespannt, auch neue zu lesen, selbst wenn sie schlecht sind; ebenso geschieht es, daß ein Mann, der viele bildschöne Frauen geliebt hat, schließlich so weit kommt, daß er auch auf häßliche neugierig ist, wenn sie nur neu sind. […] Es kann sein, sagt er sich, daß dieses Buch gar nicht so übel ist; es kann auch sein, daß es diese lächer­ liche Künstelei überhaupt nicht nötig hat. Er versucht, es rasch zu überfliegen, er möchte es durchblättern; aber das ist unmöglich. Das lebende Buch widersetzt sich, es will regelrecht gelesen werden; und der Lesewütige wird zum Opfer der Koketterie, des furchtbaren Quälgeistes aller, die der Liebe leben.4

Diese kunstvolle Verschränkung von Vielleser und Verführer, die Casanova in seinen Memoiren darstellt, lässt nicht nur die moralische Aufladung des Lesens im 18. Jh. erkennen, sondern spricht generell für den prominenten Stellenwert, den Leser und Lesen in der Epoche Rousseaus und Casanovas eingenommen haben. Das Wie der Lektüre ist keine vergleichsweise junge Fragestellung der Leseforschung, sondern beschäftigt bereits das 18. Jh. in einem nicht zu unterschätzenden Ausmaß.5 Vor allem das Lesen aus bloßem Vergnügen, die lustvolle, blätternde Lektüre, war als Lesebegierde ein Motiv in der Literatur selbst. 3 Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik. In: Ders.: Kritische Gesamtaus-

gabe, S. 27.

4 Casanova: Geschichte meines Lebens, S. 244. 5 Siehe dazu die Analyse und Kommentierung der Leseanleitungen, moralischen Abhandlun-

gen und Diätetiken um 1800 in Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlung des Lesers.

136

umschlagen, zumal um sich flüchtig mit dem Inhalt bekannt zu machen“, bezeichnet eine Form des Mediengebrauchs, die vom „Aufblättern“ über das „Abblättern“ und „Verblättern“ bis zum „Hin-und-Her-Blättern“ reicht und dem Durchlesen eines Buchs oder einer Schrift von vorne bis hinten entgegengesetzt ist.6 Die Kulturtechnik des „Blätterns“ ist also nicht nur vom „Blatt“ abgeleitet, sondern auch metonymisch mit ihm verbunden. Das Blatt, Blättchen oder Blätterchen ist ein „platter Körper von geringer Dicke bei verhältnismäßig größerer Ausdehnung in der Länge und zumal in der Breite“7, der sowohl das Blatt einer Pflanze als auch ein Stück Papier bezeichnen kann.8 Das Wort steht allerdings auch in „zahlreichen übertragenen Verwendungen für flache Gegenstände“ überhaupt ein – vom Blätterteig bis zum Schulterblatt.9 Das Blatt, ahdt. und mhdt. blat, ist gleichbedeutend mit dem lat. folium und kann daher je nach Kontext das „grün gefärbte Organ höherer Pflanzen“ oder eben Blätter aus Papier meinen: „Schon in althochdeutscher Zeit wird mit Blatt auch das Papier-, Pergamentblatt und die einzelne Seite eines Buches benannt. Als Bezeichnung für Zeitung wird Blatt Anfang des 19. Jhs. allgemein üblich“10. Diese Übertragung stammt von den sogenannten Fliegenden Blättern oder Flugblättern frühneuhochdeutscher Zeit, die die Vorläufer der Zeitungen waren.11 Die Operation des Blätterns ist der Zeitung eingeschrieben, es ist der ihr adäquate Mediengebrauch. Vor allem die vermischten Nachrichten ‚unter dem Strich‘, die ‚losen Blätter‘ des Feuilletons, stehen paradigmatisch für eine zerstreute Form der Lektüre ein. Auch im Frz. wird das deutlich: feuille (Blatt) und feuilleter (blättern) sind metonymisch verbunden. Die Zeitung und v. a. das Feuilleton (von frz. „Blatt“ oder „Blättchen“) wird auf- und durchgeblättert.

B

Etymologie  blättern

ETYMOLOGIE  „In einem Buch, in Schriften“ zu blättern, bzw. „die Blätter

6 7 8 9 10 11

(Art.) Blatt. In: Sanders: Wörterbuch der Deutschen Sprache, S. 155. Ebd., S. 153. Vgl. (Art.) Blatt. In: Grimm, Sp. 73–76. Vgl. (Art.) Blatt. In: Kluge, S. 116. (Art.) Blatt. In: Pfeifer, S. 145f. Vgl. den ausführlichen und materialreichen (Art.) Blatt. In: Sanders: Wörterbuch der Deutschen Sprache, S. 153–155.

137

Kontexte  blättern

KONTEXTE  Die Bedingung der Möglichkeit für das Durchblättern von Texten

war die Evolution der Manuskripte. Solange Schriften auf Schreibtafeln oder Rollen aus Papyrus gelesen wurden, war Blättern streng genommen unmöglich. Texte, die auf Rollen gewickelt sind, lassen sich nicht durchblättern, sondern nur im Schriftfluss abrollen. Die sogenannte scriptura continua war zudem nur mit einer speziellen Ausbildung lesbar, denn in der Antike gab es weder Satzzeichen noch Spatien zwischen den Wörtern.12 Leerzeichen zwischen den Wörtern und auch Interpunktionen, die einen komplexen Satzaufbau ermöglicht und das Lesen von Texten deutlich erleichtert haben, wurden erst im Mittelalter gebräuchlich. Da das antike Lesen zudem ein lautes Lesen und Vorlesen war, in dem der Text eher wie „eine musikalische Partitur“13 aufgeführt wurde, war das Blättern oder Springen im Text während des Vortrags unmöglich. Erst in der Spätantike und im Mittelalter, als der Wechsel von der Schriftrolle zum Kodex beobachtet werden kann, wurde das Blättern innerhalb eines Texts möglich; nicht nur weil in einem Kodex die Pergamentseiten buchförmig angeordnet sind, sondern auch weil das Schriftbild insgesamt revolutioniert wurde. Im Gegensatz zu den antiken Schriftrollen, bei denen von einem Schriftbild im eigentlichen Sinne keine Rede sein kann, gab es hier einen logisch gegliederten Umbruch des Textes, hervorgehobene Lettern, Leerzeichen zwischen den Wörtern, regelmäßige Interpunktion, Großbuchstaben am Satzanfang, deutlich kenntliche Titel und Zwischentitel sowie bei gelehrten Werken zunehmend auch Anführungszeichen, Quellenangaben, Inhaltsverzeichnisse und Register. So wurde es möglich, einzelne Absätze und Stellen zu finden und vom Textganzen isoliert wahrzunehmen, ohne eine ganze Schriftrolle von Anfang bis Ende lesen zu müssen. In einem Kodex konnten zudem nicht nur mehrere Schriften eines Autors, sondern auch ganz heterogene Schriften versammelt werden, so dass ein ‚wildes‘ oder ‚wilderndes‘ Lesen sich aus dem Mediengebrauch fast automatisch ergab. Ein Buch, in dem mehrere Bücher und eventuell auch Kommentare und Erwiderungen zu diesen Büchern enthalten sind,

12 Zum Übergang von der scriptura continua zur Handschrift mit Worttrennung und Inter-

punktion siehe Parkes: Pause and Effect; Saenger: Space Between Words.

13 Cavallo: Vom Volumen zum Kodex. In: Cavallo/Chartier (Hrsg.): Die Welt des Lesens, S. 110.

138

B

Kontexte  blättern

ist wohl kaum noch zur Lektüre geeignet, sondern eher zum Durchblättern, Nachschlagen oder Zitieren bestimmter Stellen vorgesehen. Die Stellen eines Buchs konnten jetzt untereinander oder mit Stellen aus anderen Texten verglichen und in eine kommentierende Beziehung gesetzt werden. Der Buchdruck hat diese Tendenz noch verstärkt, indem durch die beweglichen Lettern Gutenbergs nicht nur eine bessere Lesbarkeit und Einheitlichkeit des im Kodex bereits ausdifferenzierten Schriftbilds erreicht werden konnte und eine enorme Vervielfältigung und Dissemination von Büchern bei unterschied­lichen Leserschichten und Lesertypen einsetzte.14 Lesen ist seitdem nur noch selten eine auditive, gemeinschaftliche Tätigkeit, sondern das Lesen „wird zu einer individualistischen Tätigkeit, zu einem Hin und Her zwischen einem Selbst und einer Seite. Jetzt durchblättert der Leser das Buch.“15 Um die Handhabung der voluminösen Kodizes und Bücher zu erleichtern, sind eine Vielzahl an Lesemöbeln konstruiert worden. Das waren hauptsächlich Klapppulte, Drehpulte und Stehpulte; es gab aber auch spezielle Tische mit aus- oder hochklappbaren Lesepulten und sogenannte Leseräder die als Lesemaschinen in höfischen Bibliotheken und im Umfeld wohlhabender Privatgelehrter für die wissenschaftliche Arbeit mit mehreren Büchern oder als Katalogmaschinen in Gebrauch waren.16 Ein solches rotierendes Lesepult erlaubt ein bequemes Arbeiten mit mehreren Büchern gleichzeitig, „­[d]enn mit dieser art Machinae, kann man eine grosse menge Bücher / ohne auffstehen und verenderung eines Orts sehen / und zugleich umbwenden“17. Diese Lesemöbel sind geradezu darauf angelegt, das Blättern und die parallele Lektüre mehrerer Bücher als gelehrte Praxis zu befördern. Das Gegenteil von gelehrten Schreibtischen, Leserädern oder Pulten waren bürgerliche Lesestühle, die um 1800 in Mode waren. Das Lesen aus einer halbliegenden Position heraus ist von vornherein auf Entspannung von der Schreibtischarbeit und eine flüchtige Lektüre ausgelegt, wie eine Anzeige im JOURNAL DES LUXUS UND DER MODEN unter der Überschrift Langer Stuhl zum Lesen eingerichtet deutlich macht:

14 Vgl. Eisenstein: The Printing Press as an Agent of Change. 15 Illich: Im Weinberg des Textes, S. 86. 16 Ausführlich dazu Hanebutt-Benz: Die Kunst des Lesens. 17 Agostino Ramellis LE DIVERSE ET ARTIFICIOSE MACHINE von 1588 wurde 1620 ins Dt.

übertragen und mit neuen Illustrationen versehen. Hier zit. n. Rinck: Lesen, S. 26.

139

Konjunkturen  blättern

Oft hat man, wenn man krank ist, oder lange am Schreibetische mit zusammengedrückten Unterleibe gesessen hat, Ruhe und der Körper eine liegend ausgestreckte Stellung nöthig. Man will in dieser Stellung vielleicht gern einen Quartband einer neuen Reisebeschreibung, den man nicht in den Händen halten kann lesen, oder ein naturgeschichtliches Kupferwerk und dergl. zur Erholung durchblättern. Hier ist ein bequemer Lesestuhl dazu eingerichtet.18

Im Sitzen oder halbliegend werden aber nicht nur Romane, Reisebeschreibungen oder naturgeschichtliche Bildbände durchgeblättert, sondern v. a. die Zeitungen und Zeitschriften. Die periodisch erscheinende Zeitung hat die Verbreitung der extensiven und blätternden Lektüre enorm befördert, denn auch wenn man sie in regelmäßiger Wiederholung wöchentlich oder sogar täglich liest, ist sie als Textmedium darauf angelegt, nicht von vorne bis hinten durchgelesen zu werden. Die Zeitung wird geblättert, man liest hier und da, was gefällt oder interessiert. Diese Form des Lesens ist bis heute dominant und bestimmt auch die Rezeption digitaler Medien. Im Cyberslang wird das Sammeln von Informationen im Internet oft als browsen bezeichnet, denn als Synonym für Blättern, Stöbern oder Überfliegen verweist to browse auf das Durchblättern von Büchern. Ob das Surfen durch das Internet allerdings tatsächlich als eine Form des Blätterns vorgestellt werden kann, ist trotz der Hypertextmetaphorik fraglich. Zumindest in der deutschen Sprache legt das Durchklicken von web site zu web site die falsche Assoziation mit der Seite (page) nahe. Es geht beim Browsen aber eigentlich darum, Orte anzusteuern. Diese Orte findet man nicht mehr durch das Blättern in einem Buch, sondern nur in den realen Operationen einer Steuermannskunst, die nicht nur einzelne Seiten liest, sondern sich in einem Meer der Informationen orientieren kann. In Datenbankprogrammen und wissensbasierter Software wird daher nicht umsonst eher eine nautische Metaphorik gebraucht.19 KONJUNKTUREN   Eine Konjunktur und differenzierte Bewertung erfährt

das Blättern als Auslegen, Herausreißen und Sammeln von Stellen in der

18 Anonymus: Ameublement. In: Journal des Luxus und der Moden, S. 107. 19 Siehe dazu ausführlich Bickenbach/Maye: Metapher Internet.

140

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Konjunkturen  blättern

zweiten Hälfte des 18. Jhs. Denn obwohl das Sammeln und Auswerten von schönen, erbaulichen oder vorbildlichen Stellen fest in der gelehrten Praxis verankert war, wird die Stellenlektüre im ausgehenden 18. Jh. zunehmend von einem kritischen Diskurs begleitet, der vor den Gefahren einer Zerstreuung des Bewusstseins und einem Kontrollverlust der Lektüre durch Blättern und flüchtiges Lesen warnt. Der Versuch einer hermeneutischen Kontrolle der Stellenlektüre rekurriert auf die Unterscheidung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, mit der die alteuropäische Gesellschaft im Anschluss an Aristoteles sich selbst beschrieben hat.20 Die Denkfigur von dem Ganzen und seinen Teilen beschreibt die Paradoxie einer Einheit, die zugleich Vieles und Eines ist; denn wenn das Ganze tatsächlich mehr als die Summe seiner Teile sein sollte,21 dann lässt sich nicht nur eine organische Einheit der Welt, Gesellschaft oder eben auch eines Textes behaupten, sondern v. a. der Vorrang dieser Einheit vor seinen Bestandteilen: „Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden“22, so lautet der folgenreiche Einspruch Schleiermachers gegen das Herausreißen von Stellen aus ihrem Zusammenhang. Nur aus der Perspektive des Ganzen soll sich also die einzelne, dunkle oder schöne Stelle adäquat verstehen lassen – nicht andersherum. Schön, lehrreich oder vorbildlich kann eine einzelne Stelle oder gar eine ganze Sammlung von Stellen dann per Definition nicht mehr sein, denn ebenso wie das Kunstwerk selbst ist auch dessen Schönheit, Moral oder Idealität nicht mehr in eine Vielzahl von Teilen auflösbar, sondern nur noch als Einheit denkbar.23 Doch der einfache Gegensatz zwischen einer scheinbar flüchtigen Stellenlektüre und einer methodisch kontrollierten Interpretation trügt. Selbst Schleiermacher, der bedeutendste Protagonist der romantischen Universalhermeneutik und ein erklärter Gegner der traditionellen Stellenhermeneutik,24 20 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 912–931. 21 Vgl. Aristoteles: Metaphysik, S. 177 (1041 b). 22 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 97. 23 Siehe dazu auch Jacob: Kleine Stellenkunde. In: Braungart/Jacob: Stellen, schöne Stellen,

S. 11–63.

24 Der historische Übergang von der Stellenhermeneutik zur Universalhermeneutik wird

nachvollzogen in den Vorlesungen von Szondie: Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 7–191.

141

Konjunkturen  blättern

hat die Hybridität dieser Unterscheidung anerkannt, wenn auch mit Schamgefühlen. Seine Reflexionen zu diesem Problem gipfeln in der Feststellung: [S]o kann selbst die sonst eher verdammlich erscheinende Neigung, ehe man mit einem Buch ernstlich anbindet, darin zu blättern, dem, der Glück hat oder Geschick, von bedeutendem Nutzen sein […]. Doch ich schäme mich fast, dieses geschrieben zu haben, wenn ich bedenke, wie das ganze Altertum, das doch verurteilt war, nach denselbigen Regeln wie wir zu verstehen, von solchen Hilfsmitteln nichts wußte.25

Um „einen Überblick des Ganzen zu erhalten“, sind „Inhaltsanzeigen“ oder „Blättern“ für Schleiermacher also durchaus legitime hermeneutische Mittel der Exegese, die sogar „der genaueren Auslegung vorangehen“ sollen.26 Auch ist nicht „jede zusammenhängende Rede in gleichem Sinn ein Ganzes […], sondern oft nur eine freie Aneinanderreihung von Einzelheiten, und dann ist ein Verstehen des Einzelnen aus dem Ganzen gar nicht aufgegeben“27. Dieser Hinweis von Schleiermacher wurde von seinen philosophischen Auslegern entweder überlesen oder kaum erstgenommen, fand dafür aber in der empirischen Leseforschung Bestätigung: Während für den ungeübten Leser schnelles und flüchtiges Lesen tatsächlich zusammenfallen, […] vermag der geübte Leser durch kursorische Lektüre viel mehr zu erreichen als der ungeübte durch gründliche. […] Ja, es muß gesagt werden, daß umfassende Leistungen in Dichtung und Wissenschaft ohne die Koinzidenz von qualitativer und quantitativer Leseintensität in den meisten ­Fällen schwerlich hätten gelingen können.28

Das Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen ist eben kein hierarchisches Verhältnis, wie beim Fragment, das als Bruchstück immer auf ein abwesendes Ganzes verweist und daher ohne Verweis auf dieses imaginäre Ganze gar nicht ausgelegt werden kann. Die Stelle kann dagegen sehr wohl

25 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 332. 26 Ebd., S. 97, 332. 27 Schleiermacher: Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F.A. Wolfs Andeutungen

und Asts Lehrbuch. In: Ders.: Hermeneutik und Kritik, S. 332

28 Engelsing: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, S. 114f.

142

GEGENBEGRIFFE Dem Blättern als Stellenlektüre und wilderndes Lesen ist

die intensive Lektüre entgegengesetzt, in der wenige Bücher oder auch nur ein einziges Buch mit großer Aufmerksamkeit und wiederholt gelesen werden. In der historischen Leseforschung unterscheidet man eine traditionelle Wiederholungslektüre, die bis zum Ende des 18. Jhs. vorherrschend war, von einer intensiven Lektüre, die schon als Antwort auf eine extensive Lektüre verstanden werden muss, in der viele Bücher oft nur ein einziges Mal gelesen oder auch nur durchgeblättert werden.29 Die traditionelle Wiederholungslektüre war äußerlich durch einen Mangel an Büchern bedingt. Bücher wurden in kleinen Auflagen gedruckt, waren teuer in der Herstellung und außerhalb von Großstädten schwer erhältlich. Solange es keine Leihbibliotheken oder Lesegesellschaften gab, war das Lesen auf Bücher beschränkt, die in Familienbesitz waren: die Bibel, Gesangsbücher, Andachtsbücher und Hauskalender. Diese moralisch-religiöse Erbauungsliteratur wurde gelesen um überweltliche Wahrheiten und kanonisches Wissen zu festigen und sich im andauernden Dialog mit diesen Wahrheiten der eigenen Identität zu vergewissern.30 In Abgrenzung dazu entsteht gegen Ende des 18. Jhs. ein neuer Lesertypus, den man in der Forschung als einen „extensiven Leser“ oder auch „profanen Leser“ charakterisiert hat.31 Seine Lektürehaltung ist durch das einsame, stille Lesen von vielen verschiedenen Büchern und nicht mehr durch das wiederholende oder laute Vorlesen in einem kanonischen Buch gekennzeichnet. Die äußeren Bedingungen dieser bis heute dominanten extensiven Lektüreform waren die Ausweitung der Schulpflicht und der Alphabetisierung, die

B

Gegenbegriffe  blättern

für sich bestehen und auch gedeutet werden. An das Schriftganze muss man glauben, wenn man die Hermeneutik als eine allgemeine Kunst des Verstehens betreiben will, denn lesen lassen sich nur Stellen und Passagen.

29 Die Unterscheidung einer intensiven von einer extensiven Lektüre geht zurück auf die Ar-

beiten von Engelsing: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten.

30 Vgl. Assmann: Die Domestikation des Lesens. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und

Linguistik, S. 95–110.

31 Vgl. Engelsing: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, S. 122; Schlaf-

fer: Lesesucht. In: Neue Rundschau, S. 102.

143

Perspektiven  blättern

Modernisierung und Verbilligung des Buchdrucks sowie die Einrichtung von Lesegesellschaften und Leihbibliotheken. Als Reaktion auf diese Quantität des Lesens und der Lesestoffe wird die intensive Lektüre auch auf neue literarische Gattungen – v. a. auf das Lesen der Romane – ausgeweitet. Die Intensität des Verstehens und Erlebens von Literatur soll sich durch die Intensität des Lesens einstellen. Doch diese so vernünftig scheinende Maxime bleibt die Wunschkonstellation weniger professioneller Leser, die verschweigen, dass das Gegenteil der Regelfall ist. Nicht im intensiven Lesen, sondern in einer extensiven Stellenlektüre haben Leser ihr Erlebnis der Dichtung. Diese Stellenlektüre „blättert, sie sucht sich heraus, was ihr paßt, fixiert sich auf die ansprechende, auf Anhieb überzeugende Passage.“32 PERSPEKTIVEN  Parallel zum Höhenkamm der hermeneutischen Diskussion

entsteht auch eine nicht geringe Zahl an Lesepropädeutiken, die als Diätetiken oder Lectiolehren den Gebrauch der Literatur regulieren und Anleitungen zum regelgerechten Lesen geben wollen. Diese Lesepropädeutiken können als ein Versuch betrachtet werden, das extensive, scheinbar ungebundene Lesen um 1800 zu regieren.33 In einer Regierungskunst (M. Foucault) des Lesens geht es darum, das Leseverhalten in einen Zusammenhang mit anderen sozialen, kulturellen und politischen Fragen zu stellen und indem man auf das Lesen einwirkt, auch unmerkliche Effekte auf diesen anderen Feldern zu bewirken. Nicht die autoritäre Etablierung einer normativen Regulierung des Lesens und seiner sozialen Folgeerscheinungen ist das vorrangige Ziel, sondern dessen Normalisierung. Die Sorge um den Leser, die in der Debatte über Medienwirkung bis heute virulent ist, hat hier ihren Ausgang. „Man müsste“, schreibt Rudolph Gottlieb Beyer in einer Abhandlung zum Thema, „mehr indirecte, als directe zu Werke gehen, ohne sich eine sonderliche Besorgnis merken zu lassen, und ohne den Verdacht zu erregen, als wolle man die Freyheit der Leser einschränken, und ihnen gerade die 32 Stanitzek: Brutale Lektüre, „um 1800“ (heute). In: Vogl (Hrsg.): Poetologie des Wissens um 1800, S. 254. 33 Siehe dazu ausführlich Maye: Volk ohne Oberhaupt. In: Balke/ders./Scholz (Hrsg.): Ästhetische Regime um 1800, S. 101–118.

144

B

Perspektiven  blättern

Lektüre entziehen, die sie vielleicht am liebsten haben“34. Der Kantianer Johann Adam Bergk bestimmt DIE KUNST, BÜCHER ZU LESEN im Vorwort seiner bekanntesten Abhandlung sogar ganz direkt als eine Regulierung und Regierung des Lesens: „Welche Vergnügungen werden uns zu Theil, wenn wir dieses Instrument (nämlich das Bücherlesen) geschickt zu regieren wissen, und welche Aussichten eröffnen sich uns, wenn wir Herren der mannichfaltigen Materialien werden, die aus der Geister- und Körperwelt in Büchern angehäuft sind!“35. Die Mittel dieser Herrschaft über das flüchtige Lesen sind die hermeneutische Unterscheidung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, zwischen dem Hauptgedanken und den Nebengedanken einer Schrift. Geschult an Kant und Schleiermacher hat diese neue Pädagogik um 1800 die beständige „Verknüpfung der Theile zu einem Ganzen“36 während der Lektüre zum Gegenstand ihrer Fürsorge und Aufmerksamkeit gemacht und spielt somit eine wichtige Rolle in der Dissemination der idealistischen Philosophie in die Praktiken der häuslichen Lektüre und des Schulunterrichts. Dem Blättern werden hier nicht nur deutliche Schranken gesetzt, sondern es kommt als Lektüreform kaum noch vor. Die Sorgen um den Leser und die Lektüre haben bis heute nicht abgenommen. Die Stiftung Lesen finanziert eine Lese- und Medienforschung, die zahlreiche Publikationen und wissenschaftliche Tagungen zu Themen wie ZUKUNFT DES LESENS , VORLESEN UND ERZÄHLEN ALS BILDUNGSINVESTMENT oder EVALUATION IN DER LESEFÖRDERUNG hervorbringt.37 Auch hier zählt das Blättern – kaum überraschend – nicht als Bildungsinvestment. Wer gebildet ist und viele Bücher liest, so will man 1998/99 noch glauben, „tut dies eher ohne etwas auszulassen als weniger Gebildete bzw. weniger Lesende. […] Die (dem ‚Zappen‘ beim Fernsehen vergleichbare) Gewohnheit: Ich blättere manchmal

34 Beyer: Ueber das Bücherlesen, in so fern es zum Luxus unsrer Zeiten gehört, S. 29. 35 Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, S. V. 36 So formuliert es ganz direkt der evangelische Theologe, bayerische Landtagsabgeordnete und

Erfinder der Lautiermethode Stephani: System der öffentlichen Erziehung, S. 251.

37 Institut für Lese- und Medienforschung. Unter: https://www.stiftunglesen.de/institut-fuer-

lese-und-medienforschung [aufgerufen am 20.03.2014].

145

Forschung  blättern

nur, lese Stellen an und picke mir nur das Interessanteste heraus“38, soll angeblich nur bei 8% der Vielleser und nur bei 20% der Wenigleser ausgebildet sein. Mit anderen Worten: Viellesen soll paradoxerweise vor dem Blättern schützen und unmerklich zur Bildung beitragen. Dass dieses erhobene Datenmaterial die Realität des Lesens im Medienzeitalter widergibt, kann sowohl aus der Perspektive einer Geschichte des Lesens als auch aus Gründen der Erfahrung mit der methodischen Anlage solcher Erhebungen bezweifelt werden. FORSCHUNG  Blättern als Mediengebrauch und Kulturtechnik ist ein Desi-

derat der historischen Leseforschung. Es gibt nur eine Handvoll Publikationen, die Blättern explizit thematisieren. Über die Gründe dieser Nichtbeachtung kann nur spekuliert werden. Zum einen gehört Blättern zum täglichen Handwerk von Geistes- und Kulturwissenschaftlern und ist als solches kaum sichtbar. Jeder professionelle Leser blättert, überfliegt Seiten, sucht sich Stellen aus mitunter voluminösen Abhandlungen heraus, die zu lesen er gar keine Zeit hat: „Als jemand, der an der Universität Literatur unterrichtet, kann ich mich der Verpflichtung, Bücher zu kommentieren, die ich in den meisten Fällen gar nicht aufgeschlagen habe, nur schwer entziehen“39, schreibt Pierre Bayard, Professor für Französische Literatur an der Universität Paris VIII. Aber solche Verhaltensroutinen können nur mit großer Mühe artikuliert und zum Gegenstand expliziter Analysen oder theoretischer Diskussion werden. Zum anderen schreibt sich vermutlich die Marginalisierung und mitunter auch die Ächtung dieses Mediengebrauchs fort. Insgesamt muss man feststellen, dass die Darstellung der Geschichte des Blätterns erst in Ansätzen erforscht ist und anhand von Fallbeispielen historisch und systematisch erweitert werden sollte.

38 Schön: Zur Zukunft des Lesens im Medienzeitalter. In: Eversberg/Segeberg (Hrsg.): Theodor

Storm und die Medien, S. 394. Der Aufsatz von Schön beruht auf Studien und statis­tischen Erhebungen der Stiftung Lesen, die er entsprechend auswertet. 39 Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 9.

146

B

LITERATUREMPFEHLUNGEN man nicht gelesen hat, München (2007).

Braungart, Wolfgang/Jacob, Joachim: Stellen,

schöne Stellen. Oder: Wo das Verstehen be-

ginnt, Göttingen (2012).

Fliethmann, Axel: Stellenlektüre. Stifter, ­Foucault, Tübingen (2001).

Gunia, Jürgen/Hermann, Iris (Hrsg.): Literatur als Blätterwerk. Perspektiven nichtlinearer

Lektüre, St. Ingbert (2002).

Stanitzek, Georg: Brutale Lektüre, „um 1800“ (heute). In: Vogl, Joseph (Hrsg.): Poetolo-

gie des Wissens um 1800, München (1999),

S. 249–265.

VERWEISE  kompilieren |352|, lesen |393|, surfen |564|, zappen |653|,

zerstreuen |687|

Bibliografie  blättern

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148

ders.: Kritische Gesamtausgabe, zweite Ab-

nehmen wollen, zweite verbesserte und wohl-

Szondie, Peter: Einführung in die literarische

Hermeneutik, hrsg. v. Jean Bollack/Helen Stierlin, Frankfurt/M. (1975).

BLOGGEN

B

ANEKDOTE  Am 5. Februar 2010 belegt der Blogger Deef Pirmasens in einem

Posting unter dem Titel AXOLOTL ROADKILL: ALLES NUR GEKLAUT? auf seinem Weblog DIE GEFÜHLSKONSERVE. DEEF PIRMASENS AS SEEN IN REAL LIFE, dass die junge Autorin Helene Hegemann in ihrem Roman AXOLOTL ROADKILL verschiedene Sätze und Beschreibungen aus STROBO, der Buchversion von Partyaufzeichnungen des Bloggers Airen, übernommen hat, ohne dies zu kennzeichnen. Die anschließende Skandalisierung der vorgeblichen Plagiatorin Hegemann, die in den Vorwochen teilweise von denselben Vertretern des Printfeuilletons noch gefeiert wurde, zeigt zweierlei: Erstens sind Blogger inzwischen in ausreichender Weise vernetzt, um in kürzester Zeit sowohl in der Blogosphäre als auch in den Printmedien ein Thema zu setzen und dabei selbst als Experten aufgerufen zu werden. Zweitens legte Pirmasens’ Scoop offen, dass jüngere Autoren und Autorinnen wie Hegemann sich inzwischen selbstverständlich am vielfältigen und frei verfügbaren Wissen der Blogosphäre bedienen und darüber in einem Printmedium wie dem Buch ironisch berichten: „Es ist also nicht von dir?“, fragt die Ich-Erzählerin Mifti gleich zu Beginn, und ihr älterer Bruder Edmond erklärt ihr, woher er seine guten Ideen hat: „Nein. Von so ’nem Blogger.“1

Anekdote  bloggen

THOMAS ERNST

ETYMOLOGIE  Der Begriff des Weblogs wurde in einer Phase des Internet

begründet, als v. a. nautische bzw. maritime Metaphern wie das Surfen, das Datenmeer oder der Datenstrom zur Beschreibung des (Verhaltens im) Internet genutzt wurden,2 neben die sich inzwischen v. a. Metaphern der Vernetzung (z. B. Schwarmintelligenz) gestellt haben. Im Kompositum ‚Weblog‘ vereinen sich diese beiden Metaphernfelder; es setzt sich zusammen aus den Begriffen Web und Log. Im Begriff ‚(World Wide) Web‘ findet sich sowohl der Bezug auf die materiell-technischen Grundlagen der Weblogs als auch der Verweis auf die Vernetzung innerhalb der Blogosphäre, also der Gesamtheit aller Weblogs.

1 Hegemann: Axolotl Roadkill, S. 15. 2 Vgl. Bickenbach/Maye: Metapher Internet.

149

Etymologie  bloggen

Das ‚Logbuch‘ entstammt zwar der maritimen Metaphorik, bezieht sich jedoch zugleich auf die zeitlich-prozessuale und literaturhistorisch eher randständige kleine Form des Tagebuchschreibens. Ganz in diesem Sinne ist die geläufigste Bestimmung von Weblogs, dass es sich um eine (un-)regelmäßig aktualisierte Webseite handelt, deren Einträge in umgekehrt chronologischer Reihenfolge gegliedert sind.3 Rund um diese Minimaldefinition finden sich noch weitere zentrale Merkmale, die in Varianten mal stärker, mal schwächer als konstitutiv zugeschrieben werden. Die erste Bestimmung ist die inhaltliche Kürze und Aktualität ihrer Einträge, die schnell auf Ereignisse oder Erlebnisse reagieren können, deren Informationswert sich jedoch rasant verringern kann, was teilweise durch spätere Korrekturen oder Ergänzungen kompensiert wird. Dies markiert zugleich den prozessualen Charakter von Blogs. Zweitens wird die intermediale Vernetzung von Weblogs, beispielsweise durch die Bereitstellung favorisierter anderer Blogs in der Blogroll und durch die Nutzung von Hyperlinks in den Einträgen, hervorgehoben. Drittens bieten Weblogs Formen der organisierten und interaktiven Kommunikation an, indem zum Beispiel Leser die Blogeinträge kommentieren und der Blogger wiederum auf diese Kommentare antwortet sowie teilweise Einträge nach Hinweisen modifiziert oder eine neue Version erstellt. Ein vierter Punkt sind die technisch-materiellen und Software-Grundlagen von Weblogs. Hierzu zählt ein Rechner mit Internetzugang (PC, Tablet, Smartphone etc.), ein Provider mit entsprechendem Webspace, ein FTP (File Transfer Protocol)-Zugang zum Webserver, ein Datenbankmanagementsystem (wie MySQL), ein Content-Management-System (wie Joomla oder WordPress), ein Theme bzw. Template (vorgefertigte Seitendesigns, die im Regelfall zweioder dreispaltig gehalten sind) und etwaige Funktionserweiterungen (Plug-ins). Insbesondere durch die gemeinsame Entwicklung spezifischer Open-SourceProgramme, freie Angebote zum Weblog-Hosting sowie die Verbesserung von WYSIWYG-Editoren (‚What You See Is What You Get‘), die das Betreiben

3 Vgl. Herring et al.: Bridging the Gap. Unter: http://www.computer.org/csdl/proceedings/

hicss/2004/2056/04/205640101b.pdf [aufgerufen am 17.05.2013], S. 1.

150

B

Kontexte  bloggen

eines Weblogs einfach und günstig machen, konnte sich das Format seit den frühen 2000er Jahren weltweit so massiv verbreiten. Fünftens sind die formatierten Elemente von Weblogs zu nennen. Hierzu zählen: der Blog-Titel; die jeweiligen Einträge (Postings) mit Titel, Datum, Autornamen und dem (oft multimedialen) Inhalt; der Permalink, der dem jeweiligen Eintrag eine dauerhafte Adresse zuweist; zumeist auch die (vom Blogger moderierte) Kommentarfunktion, die von den Lesern genutzt werden kann; sowie Grafikelemente. In einer separaten Spalte befinden sich im Regelfall: Kategorien, denen die jeweiligen Postings zugeordnet werden; eine chronologische Archivreihung mit der Möglichkeit, auf frühere Postings zuzugreifen; die Tag-Cloud (Schlagwort-Wolke), die die Einträge unter spezifischen Stichwörtern verfügbar macht (und damit zugleich markiert, mit welchen Inhalten das Blog sich primär beschäftigt); die Blogroll, in der andere Blogs empfohlen werden; sowie ggf. eine Kontaktmöglichkeit und ein Link zum Impressum (wie es für nicht-private Weblogs vorgesehen ist). Hinzu kommen sechstens zusätzliche Funktionen, die die Verfügbarkeit des Weblogs kontrollieren (Pings), über Bezugnahmen von anderen Weblogs informieren (Trackback) oder News-/RSS-Feeds, die als digitales Abonnement auf einer externen Seite die Aktualisierungen eines Weblogs anzeigen. Schließlich gibt es die Notwendigkeit für Weblogs, der spezifischen Aufmerksamkeitsökonomie des Internet zu entsprechen und Programme zur Suchmaschinenoptimierung bzw. zum Selbstmarketing zu nutzen. Verschiedene Plug-ins ermöglichen eine Kontrolle des Blog Traffic, also eine Übersicht, von welchen Seiten oder welchen Suchbegriffen welche Nutzer mit welchem Browser wie lange auf welchen Seiten oder Einträgen landeten und verblieben. Die Tätigkeit des Bloggens besteht somit aus der technischen Einrichtung sowie v. a. der inhaltlichen und gestalterischen Entwicklung eines Weblogs. Dazu zählen das Anlegen und Umgestalten fester Seiten, das Posten und Taggen von (multimedialen) Postings, ggf. auch die Reaktion auf Kommentare und die aufmerksamkeitsökonomische Kontrolle und Optimierung des Weblogs. KONTEXTE   Zwar teilen alle Weblogs per definitionem die chronologische

Anordnung der Postings, textlich entsprechen sie jedoch inzwischen nur in den selteneren Fällen der Gattung ‚Diary‘, vielmehr adaptieren und modifizieren sie literarische Genres wie Anekdote, Essay, Manifest und kurzprosaische

151

Konjunkturen  bloggen

Formen oder (meinungsstarke) journalistische Gattungen, die sie zudem mit grafischen und audio-visuellen Elementen verbinden. Diese verschiedenen Gattungstraditionen aus unterschiedlichen Medien sind ein konstitutives Merkmal von Weblogs, die auch bestimmt werden als „a hybrid of existing genres, rendered unique by the particular features of the source genres they adapt, and by their particular technological affordances“4. Eine konkretere Vorgeschichte des Bloggens lässt sich entdecken in der „Konversations- und Pamphletkultur des 18. Jahrhunderts“5. Indem sich jedoch das Internet als Alltagsmedium in seinen verschiedenen Nutzungsarten etabliert hat, nimmt auch die Relevanz metaphorischer Begriffe ab. Inzwischen haben sich Eigenbegriffe des Mediengebrauchs wie ‚Bloggen‘, ‚Posten‘ oder ‚Twittern‘ durchgesetzt, deren metaphorische Bezüge (Logbuch schreiben; Post senden; wie ein Vogel zwitschern) hinter die Klarbedeutung zurückgetreten sind. KONJUNKTUREN  Der Begriff des Weblogs wird erst 1997 von Jorn Barger

geprägt für Webseiten, die eine Übersicht über andere interessante Webseiten bieten.6 Mit seinem Aufsatz ANATOMY OF A WEBLOG sorgt Cameron Barrett ab 1999 für eine größere Verbreitung des Begriffs,7 der dann – auch in der Kurzform ‚Blog‘ – zunehmend von den traditionellen Massenmedien aufgegriffen wird. Ein Zeichen für die Professionalisierung und Etablierung von Weblogs in Deutschland ab spätestens 2005 ist die Verleihung des Grimme Online Awards an Blogs wie BILDBLOG (2005), RIESENMASCHINE (2006) oder SPREEBLICK (2006). Während es 1997 nur wenige Blogs gibt, werden schon Mitte der 2000er Jahre weltweit Millionen Weblogs geführt – der Begriff wird 2006 auch in den DUDEN aufgenommen. In der deutschen Sprache wird anfangs auch das Maskulinum ‚der Blog‘ genutzt, in der deutschsprachigen Blogosphäre hat sich inzwischen das Neutrum ‚das Blog‘ durchgesetzt.

4 Ebd., S. 10. 5 Dünne: Weblogs. In: PhiN-Beiheft. Unter: http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft2/b2t04.

htm [aufgerufen am 17.05.2013], S. 63.

6 Vgl. Schmidt: Weblogs, S. 13. 7 Vgl. Littek: Wissenschaftskommunikation im Web 2.0.

152

B

Konjunkturen  bloggen

Mit seiner Etablierung setzte jedoch auch die Relativierung des Medienformats ‚Weblog‘ ein. Soziale Medien wie Facebook oder das MicrobloggingPortal Twitter erhöhen die Intensität und Schnelligkeit der digitalen Kommunikation deutlich und ersetzen eine vernetzte, aber noch immer autorzentrierte Form der Kommunikation durch Community-Netzwerke, in denen Kommunikation durch privilegierte Beziehungen (Kontakte bzw. Follower) strukturiert wird. Viele Nutzer sozialer Medien verwenden ihre Weblogs jedoch weiterhin als informationelle ‚Homebase‘, auf der sie ausführlichere Postings veröffentlichen, auf die sie wiederum von den einschlägigen sozialen Medien verweisen. Weblogs werden dabei zu den besonders „aufmerksamkeitsstarken Social-Media-Anwendungen“ gezählt, wenngleich sie nur von „[k]onstant 7 Prozent der Onliner“8 genutzt werden, diese sind allerdings zur Hälfte besonders aktive Nutzer und selbst Teil der Blogosphäre. Seit den Anfängen des Bloggens haben sich verschiedene Typisierungen von Bloggern und von Weblogs entwickelt. Blogger können nach ihrem Selbstverständnis als „Linkers“ vs. „Thinkers“ differenziert werden.9 Zwischen diesen Polen, die auch als ‚Wissensvermittler‘ vs. ‚Selbstdarsteller‘ bezeichnet werden, kennt das Social Web allgemein auch noch ‚Selbstvermarkter‘, ‚Weltverbesserer‘ und ‚Entertainer‘.10 Blogger werden auch nach ihrer Relevanz in der Blogosphäre kategorisiert: Während die Beiträge von ‚A- bzw. Alpha-Bloggern‘ quantitativ breit und auch in den traditionellen Massenmedien rezipiert werden (in Deutschland zählen hierzu etwa Sascha Lobo oder Stefan Niggemeier), werden die Seiten von ‚B-Bloggern‘ nur durchschnittlich häufig und jene von ‚C-Bloggern‘ kaum frequentiert. Wenn man Formen der Blog-Autorschaft differenziert, kann man die soziale Position des Bloggers bestimmen (persönliche Weblogs, Expertenblogs, Firmen-/Unternehmens-/Corporate Blogs, Blogs von Institutionen), seinen gesellschaftlichen Bekanntheitsgrad (Star, Person des öffentlichen Lebens,

8 Busemann/Gscheidle: Web 2.0. In: Media Perspektiven. Unter: http://www.ard-zdf-online-

studie.de/fileadmin/Onlinestudie_2012/0708-2012_Busemann_Gscheidle.pdf [aufgerufen am 17.05.2013], S. 386. 9 Vgl. Hoffmann: Von mobilen Logbüchern und vermeintlichen Ja-Sagern. In: Gebhardt/ Hitzler (Hrsg.): Nomaden, Flaneure, Vagabunden, S. 167. 10 Vgl. Altmann: User Generated Content im Social Web, v. a. S. 200–227.

153

Gegenbegriffe  bloggen

Vertreter einer Institution, Privatperson) oder, ob es sich um ein Einzel- oder Kollektivblog (wie SPREEBLICK oder RIESENMASCHINE) handelt. Am wichtigsten ist jedoch die thematische Differenzierung von Weblogs. Grob lassen sich unterscheiden: Experten- und Wissensblogs wie Wissenschaftsblogs, J-Blogs (journalistische Blogs), Politblogs bzw. politische Analyseblogs, Watchblogs, Edublogs, Lawblogs, Finanzblogs, Testblogs, Warblogs bzw. Milblogs (militärische Blogs); Blogs über Blogs und Internet wie netzpolitische Blogs, Metablogs oder Linkblogs; künstlerische Blogs wie Litblogs, Artblogs, Comicblogs; unterhaltende oder populäre Blogs wie Boulevard-Blogs, Fashionblogs, Funblogs, Sportblogs oder Werbeblogs; sowie private Blogs wie Diaries oder Reiseblogs, wobei natürlich viele Mischformen bestehen. Eine weitere Differenzierungsmöglichkeit von Weblogs ist jene nach der medialen Form ihres Inhalts: Textblogs, Vlogs (Videoblogs), Audioblogs, Fotoblogs oder Tumblelogs (gemischte Medien). Auch die für das Bloggen genutzte Medienapparatur kann ein Blog prägen, zum Beispiel im Fall von Moblogs (hier wird von Mobilgeräten aus gebloggt) oder Typecast Blogs (hier werden mit der Schreibmaschine geschriebene Texte gescannt und dann online gestellt). GEGENBEGRIFFE   Während das Internet in den 1990er Jahren v. a. genutzt

wurde, um entweder auf einer Homepage relativ statische Informationen bereitzustellen und mit E-Mails oder in Chatrooms mit anderen Einzelpersonen privat zu kommunizieren, wird das Internet in den 2000er Jahren – unter dem Schlagwort ‚Web 2.0‘ – als ein interaktives, intermediales und prozessuales Medium verstanden, in dem die Nutzer zu ‚Prosumenten‘ werden, die ‚User Generated Content‘ produzieren, der allgemein rezipiert werden kann und öffentliche Anschlusskommunikationen evoziert. Weblogs markieren dabei eine Übergangsform vom frühen World Wide Web mit seinen kommunikativen Einbahnstraßen auf der einen Seite zu den interaktiven und offenen Social Media Plattformen des ‚Web 2.0‘ auf der anderen Seite, indem sie zwar einerseits stark auf den ‚Content‘ der Blogger konzentriert sind, jedoch andererseits auch Kommentare und Interaktionen zulassen. Dies ist in den diversen Social Media Portalen allerdings in gesteigerter Form der Fall, da hier mitunter – wie zum Beispiel in Wikis (also kollektiv produzierten Wissensplattformen wie der Wikipedia) – die Autornamen

154

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Gegenbegriffe  bloggen

verschwinden bzw. in einer kollektiven Autorschaft aufgehen. In sozialen Netzwerken (wie Facebook oder Google+), auf sozialen Video-Plattformen (wie YouTube oder MyVideo) oder auf sozialen Foto-Plattformen (wie Flickr) wird in ganz ähnlicher Weise wie bei Weblogs kommentierbarer Content bereitgestellt, allerdings auf fremd-kontrolliertem Webspace, der auf eine intensive Verweis- und Bewertungsstruktur innerhalb einer spezifischen Community hin angelegt ist. Eine Mischform von sozialen Netzwerken und Weblogs sind Microblogging-Formate, bei denen innerhalb einer formatierten und sozial hochgradig vernetzten Struktur die Microblogger eine begrenzte Zeichenzahl für ihre Postings (bzw. Tweets) zur Verfügung haben, z. B. im Fall von Twitter maximal 140 Zeichen. Auf Blog-Aggregatoren (wie Rivva oder Virato) werden die Diskussionen der Blogosphäre sortiert, indem Algorithmen die besonders stark kommentierten oder verlinkten Postings erfassen. Nun ließe sich eine Medienevolution des Internet in der Form ‚Web 1.0/ Homepages‘ zum ‚Web 2.0/Weblogs‘ und von dort wiederum zum ‚Internet als sozialem Medium‘ beschreiben, die die Bedeutung des Online-Medienformats Weblog relativieren würde. Der Blogger Sascha Lobo hat allerdings 2012 kons­tatiert: „Daten auf sozialen Netzwerken müssen unter allen Umständen so behandelt werden, als könnten sie jederzeit verloren gehen. […] Social Media ist ohne Zweifel der aktuelle Stand des Internets. […] Aber wer auf seine digitale Freiheit Wert legt, für den bleibt […] nur […] die selbst kontrollierte Webseite, also das Blog.“11 Weblogs blieben somit als autonome Veröffent­lichungsplattformen neben den sozialen Medien bestehen. Nicht nur die Innovation durch Social Media, auch die literarischen Traditionen im Medium Buch werden gegen das Bloggen als digitales Schreiben ins Feld geführt: Noch immer behaupten bekannte Gegenwartsautoren, dass sich mit analogen Schreibgeräten eine reflektiertere Literatur schreiben lasse. Peter Handke thematisiert seit seiner GESCHICHTE DES BLEISTIFTS (1982) – und inzwischen auch in einer (selbstironischen) Abgrenzung gegen den Computer – seine Präferenz für das Schreibmedium Bleistift: „Man lässt sich gehen mit dem Bleistift, hackt nicht die Sätze herunter wie auf der Maschine, ich

11 Lobo: Euer Internet ist nur geborgt. In: Spiegel online. Unter: http://www.spiegel.de/

netzwelt/web/0,1518,druck-827995,00.html [aufgerufen am 17.05.2013].

155

Perspektiven  bloggen

weiß nicht, Computer habe ich nie benützt, Gott soll mich davor bewahren, und das ist vielleicht auch mein Problem geworden.“12 Auch einige führende Intellektuelle der Gutenberg-Galaxis konstatieren kulturpessimistisch, die Schnelligkeit, Kürze und Multimedialität der Kommunikation in sozialen Medien sorgten für einen „Kontrollverlust des Denkens“ (Frank Schirrmacher 2009) oder einen Zustand der „Hypnose“ (Roland Reuß 2012). PERSPEKTIVEN  In autoritären Staaten sind Weblogs häufig eine ideale Mög-

lichkeit für Dissidenten, um Informationen zu verbreiten – sie müssen mit ihren Untergrundblogs jedoch die politische Zensur und technische Schranken umgehen. Gerade in Zeiten politischer Umstürze durch heterogene und dezentrale Bewegungen erscheinen Weblogs als angemessenes Medium. Die tunesische Sprachwissenschaftlerin und Bloggerin Lina Ben Mhenni, deren Blog A TUNESIAN GIRL während des Arabischen Frühlings bekannt wurde, fasst diese idealisierte Haltung zusammen: „Ein Blogger oder eine Bloggerin ist tausend Mal schlagkräftiger, schneller [als eine Organisation]. Es gibt keine Hierarchie. Alle können sich am Entscheidungsprozess beteiligen.“13 In demokratischen Gesellschaften bedienen Weblogs die vielfältigen und zersplitterten Öffentlichkeiten der digitalen Welt. Einerseits ermöglichen Weblogs die Interaktion auch über abwegigste Themen für eine globale Zielgruppe, wie klein sie auch sein mag. Andererseits vergrößern sich für soziale Minoritäten durch Weblogs ihre Möglichkeiten zur Einschreibung in die (Print-)Mediendiskurse, da die Blogosphäre strukturell mit den institutionalisierten Formen der Politik bricht.14 In Absetzung von den traditionellen Printmedien werden Weblogs daher auch als Teil des Online-, Bürger- oder Graswurzeljournalismus diskutiert. Dabei lässt sich ein Übergang vom Gatekeeping zum Gatewatching beschreiben.15 Weblogs werden allerdings auch zum Gegenstand vielfältiger rechtlicher Auseinandersetzungen, bei denen es u. a. um die Aufdeckung der Identitäten

12 Kastberger/Schwagerle: Ich wollte nie Romane schreiben. In: Die Presse. Unter: http://

diepresse.com/home/spectrum/literatur/485004/print.do [aufgerufen am 17.05.2013].

13 Ben Mhenni: Vernetzt Euch!, S. 8. 14 Vgl. Schmidt: Weblogs, S. 129. 15 Vgl. Katzenbach: Weblogs und ihre Öffentlichkeiten, S. 117–120.

156

B

Perspektiven  bloggen

anonymer Blogger oder die Sanktionierung von Geheimnisverrat oder schmähenden Meinungsäußerungen geht. Trolls und Shitstorms sind weitere Beispiele für spezifische Phänomene der sozialen Medien, die ihre Idealisierung zu utopischen Kommunikationsräumen konterkarieren. Münker konstatiert zwar für die sozialen Medien einerseits „eine Praxis der partizipatorischen Mediennutzung, die […] fast immer demokratischer ist, als wir es von früheren Medien gewohnt waren“16, zugleich zeige sich jedoch andererseits, dass die sozialen Medien an sich keinen utopischen und emanzipatorischen Raum eröffnen. Auf dem Feld der Netzliteratur sind Litblogs spezifische Formate. Unterschiedliche Typen von Litblogs lassen sich abhängig davon bestimmen, ob ein erfolgreicher Buchautor nun auch noch ein Weblog anlegt oder ein Blogger auch literarische Texte anbietet; ob es sich um ein Textblog handelt oder intensiv intermediale Formen genutzt werden; ob das Litblog nur temporär oder als zentraler Publikationsort genutzt wird; ob es zum Gegenstand feuilletonistischer Debatten und literarischer Preisverleihungen wird oder öffentlich eher unbeachtet bleibt; ob es von einem Einzelautor oder einer Autorencommunity betrieben wird.17 Beispiele für diese sehr unterschiedlichen Formen von Litblogs sind auf der einen Seite die nicht oder nur bedingt interaktiven Blogprojekte von Rainald Goetz und Elfriede Jelinek, die allerdings noch mehr der Buchkultur als der Blogosphäre zugehörig sind.18 Eher schon zeigt Alban Nikolai Herbst auf DIE DSCHUNGEL. ANDERSWELT, wie man die interaktiven und intermedialen Möglichkeiten des Blogformats mit hybriden Kurzgenres nutzen kann, außerdem legt er eine KLEINE THEORIE DES LITERA19 RISCHEN BLOGGENS (2011) vor. Auf der anderen Seite hat die mehrfach preisgekrönte Autorengruppe um das Blog RIESENMASCHINE mit u. a. Holm Friebe, Sascha Lobo und Kathrin Passig gezeigt, wie ein kollektives und

16 Münker: Emergenz digitaler Öffentlichkeiten, S. 132. 17 Vgl. Ernst: Weblogs. In: Amann/Mein/Parr (Hrsg.): Globalisierung und deutschsprachige

Gegenwartsliteratur, S. 294–298.

18 Vgl. Goetz: Abfall für alle; Goetz: Klage; Jelinek: NEID. 19 Vgl. Herbst: Das Weblog als Dichtung. Unter: http://die-dschungel.de/ANH/txt/pdf/

weblog_dichtung.pdf [aufgerufen am 17.05.2013]. Später auch als Buch: Alban Nikolai Herbst: Kleine Theorie des Literarischen Bloggens, Bern (2011).

157

Forschung  bloggen

intermediales Weblog mit literarischen Elementen funktionieren kann; Mit-Autor Wolfgang Herrndorf schrieb in seinen letzten Lebensjahren auf dem eindrucksvollen Weblog ARBEIT UND STRUKTUR über sein Leben mit der schweren Erkrankung.20 Gerade die intermedial und interaktiv angelegten Litblogs zeigen, dass sich ein neuer Typus der „Online-Autorschaft zwischen Personenkult und Dissoziierung“21 etabliert. Ramón Reichert hat allerdings darauf hingewiesen, dass die Aufmerksamkeitsökonomie der Blogosphäre eine spezifische Form des ‚Selbstmanagements‘ erfordere, im ‚Web 2.0‘ würden „biografische Erzählformen zum Spielmaterial ökonomischer Kalkulation und Evaluation“22. Inwiefern die auf kurzfristige Aufmerksamkeitsgewinne angelegten Hybridgenres beispielsweise in Litblogs auch einen Stellenwert jenseits der Gebrauchsliteratur erlangen, kann erst später bewertet werden. FORSCHUNG  Während die Sozial- und Medienwissenschaften bereits etli-

che Studien zu Weblogs vorgelegt haben, hat sich die Literaturwissenschaft gegenüber den digitalen Medien und ihren Formaten nur zögerlich geöffnet, da sie sich in enger Anlehnung an das Trägermedium Papier bzw. Buch entwickelt hat.23 Erstens bleibt eine fundamentale Frage dabei, wie überhaupt mit der Prozessualität bzw. der Unabgeschlossenheit von Blogs und Postings methodologisch umgegangen werden und ein jeweiliger (verflüssigter) Gegenstand der Analyse konturiert werden kann. Zweitens entstehen durch das Bloggen ganz neue intermediale und interaktive Genrehybride. Hier wird noch intensiver zu klären sein, inwiefern diese neuen Formen – es kursiert bereits der Begriff einer ‚Twitteratur‘ mit max. 140 Zeichen Länge – das bisherige Verständnis von ‚Werken‘ und ‚Literatur‘ überhaupt transformieren werden.

20 Das Weblog wurde posthum auch in Buchform veröffentlicht und schnell zum Bestseller, vgl.

Herrndorf: Arbeit und Struktur.

21 Hartling: Der digitale Autor, S. 263. 22 Reichert: Amateure im Netz, S. 57. 23 Einige frühe Ausnahmen sind u. a. Arnold (Hrsg.): Digitale Literatur, Text + Kritik; Heibach:

Literatur im elektronischen Raum; Schäfer: Text-Spiele. In: Sprache und Literatur, S. 76–87; Segeberg/Winko (Hrsg.): Digitalität und Literalität.

158

B

Forschung  bloggen

Drittens unterminieren soziale Medien und Weblogs, insbesondere im Kontext von Wissenschaft und Unterricht (bzw. Digital Humanities und E-Learning), die klare Abgrenzung von ‚Experten‘ und ‚Laien‘, wodurch sich auch die Frage stellt, „ob bzw. wie sich durch das Publizieren im Netz das wissenschaftliche Schrifttum überhaupt verändern wird“24. Notwendig wird dadurch eine generelle Analyse, wie neue Autorschaftsmodelle entwickelt und wieder modifiziert werden. Schließlich ist offen, welche Geschäftsmodelle des Bloggens überhaupt funktionieren, gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Delegitimation des ‚geistigen Eigentums‘ und der Erlösmodelle des Buchmarkts durch die Möglichkeiten der digitalen Kopie. Viertens muss erst noch eine Kulturtheorie des Bloggens entwickelt werden. Es ist eine wichtige Aufgabe für die Wissenschaft, die neuen medialen Möglichkeiten und ihre Formate sowohl zu begrüßen und für die eigene Arbeit produktiv zu machen als auch aus dem eigenen theoretischen und historischen Wissen heraus kategorial zu analysieren und mehr als „Elemente einer kritischen Internetkultur“25 zu entwickeln. Schließlich bieten Weblogs vielfältige Möglichkeiten zur Überschreitung sprachlicher, kultureller, politischer und sozialer Grenzen; wichtig wären daher auch komparatistische Untersuchungen zum globalen Medienformat Weblog mit seinen möglichen nationalkulturellen Eigenarten. Sicher scheint jedenfalls, so Stefan Münker: „Andere Öffentlichkeiten als digitale wird es […] auf absehbare Zeit nicht mehr geben.“26

24 Dünne: Weblogs. In: PhiN-Beiheft, S. 35–65. Unter: http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft2/

b2t04.htm [aufgerufen am 17.05.2013], S. 25.

25 Lovink: Zero Comments. Elemente einer kritischen Internetkultur. 26 Münker: Emergenz digitaler Öffentlichkeiten, S. 134.

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welt (albannikolaiherbst.twoday.net); BILD-

das brandneue Universum (riesenmaschine.

de); Sascha Lobo (saschalobo.com/category/

blog. Ein Watchblog für deutsche Medien

blog); Schröder & Kalender (blogs.taz.de/

Zintzen: in|ad|ae|qu|at : Literatur, Medien,

com); Stefan Niggemeier (stefan-niggemeier.

(bildblog.de); Carta (carta.info); Christiane

Radiokunst, Photographie (zintzen.org); Jens Berger: Der Spiegelfechter (spiegelfechter.

com); NachDenkSeiten – Die kritische Web-

site (nachdenkseiten.de); Riesenmaschine –

schroederkalender); Spreeblick (spreeblick.

de); Udo Vetter: law blog (lawblog.de); Wolf-

gang Herrndorf: Arbeit und Struktur

(wolfgang-herrndorf.de).

VERWEISE archivieren |55|, liken |412|, schreiben |482|, surfen |564|,

twittern |612|

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161

DIGITALISIEREN JAN DISTELMEYER

D

Anekdote  digitalisieren

ANEKDOTE   Das Jahr 2010 sollte mit der Einführung eines ‚wirklich magi-

schen und revolutionären Produkts‘1 beginnen. So lautete das Versprechen von Steve Jobs, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden des Computerkonzerns Apple, als er am 27. Januar 2010 im Yerba Buena Center for the Arts in San Francisco die Vorstellung des iPad begann. Nach einer kurzen Vorrede präsentierte Jobs dem jubelnden Publikum den erwarteten Tablet-Computer mit Touchscreen und hielt das tragbare Gerät triumphierend einhändig in die Höhe. „Very thin!“2, pries Jobs, bevor er seinen Überblick über die Vorzüge des iPad begann, unterstützt durch eine Leinwandpräsentation hinter ihm, der obligatorischen „Rückendeckung“3 durch Videoprojektion. Nachdem das erste Großbild dieser Hintergrundshow das TouchscreenInterface mit den aufgereihten App-Symbolen zeigte, demonstrierte das zweite noch einmal den geringen Durchmesser des Geräts, und mit „It’s very thin!“4 begann Steve Jobs die Aufzählung der Qualitäten, die gleich nach dem Lob der Schlankheit das der Variabilität folgen ließ: „You can change the background screen, the home screen to personalize it any way you want; people put their own photos on it, I’m sure, but we shipped a few and you can make it anything you want.“5 Die betonte Freiheit, alles den eigenen Wünschen anzupassen, sollte auch die nächsten Minuten der Präsentation dominieren, in denen Jobs die eingebauten Fertigkeiten beschrieb – „it’s phenomenal to see a whole webpage right in front of you that you can manipulate with your fingers […] and you can turn iPad any way you want, up, down, sideways, it automatically adjusts however you want to use it“6 – , und deren Nutzung 1 iPad introduction. In: YouTube. Unter: http://www.youtube.com/watch?v=jj6q_z2Ni9M

[aufgerufen am 16.09.2013].

2 Ebd. 3 Holert: Und hinter ihr/ihm in wesenlosem Scheine, S. 3. 4 iPad introduction. In: YouTube. Unter: http://www.youtube.com/watch?v=jj6q_z2Ni9M

[aufgerufen am 16.09.2013].

5 Ebd. 6 Ebd.

162

ETYMOLOGIE   Das Verb digitalisieren bezeichnet den Prozess, Objekte in

einen digitalen Zustand zu versetzen. Wie sehr der Begriff „digital“ bis heute mit Versprechungen und Ängsten und schlichtweg Relevanz aufgeladen ist, zeigt nicht nur die Apple-Präsentation, auf die später noch einmal eingegangen wird, sondern auch sein Gebrauch zur Epochen-Bestimmung. Wer heute (nicht nur in Bezug auf Medien) „gegenwärtig“ meint und dabei die Rolle des Computers betonen will, spricht vom „digitalen Zeitalter“7. Obschon also mit digital derzeit nicht weniger als ein historischer Weltzustand bezeichnet wird, führt der lat. Wortstamm zunächst zu Kleinteiligerem: zum Finger und seinen Maßen. Das LATEIN WÖRTERBUCH des Compact-Verlags von 2010 übersetzt „digitalis“ mit 1. „Finger-, zum Finger gehörig“ und mit 2. „(finger-)dick“8, das Wörterbuch Latein-Deutsch des Pons-Verlags von 2007 beschränkt sich auf „fingerdick“9. Zwei Einträge führt das FREMDWÖRTERBUCH des Duden von 2001: Unter „digital (lat.)“ steht unter Rückführung auf die Kategorie Medizin „mit dem Finger“, unter „digital (lat.-engl.)“: „Signale, Daten in Ziffern (d. h. in Schritten u. nicht stufenlos bzw. analog) darstellend od. dargestellt; digitalisiert; Ggs. analog“.10 In der Brockhaus-Ausgabe des Jahres 1982, als mit der CD das erste weltweit erfolgreiche digitale Speichermedium eingeführt

D

Etymologie  digitalisieren

live vorführte. Dafür nahm er in einem voluminösen Sessel Platz, entzog so im vertrauten Umgang das Gerät den Publikumsblicken fast vollständig und wiederholte mehrfach ein Lob der Unmittelbarkeit, gespiegelt in den projizierten iPad-Screen-Ereignissen auf der Leinwand: „Right there, holding the internet in your hands, it‘s an incredible experience.“ Diese wohldurchdachte Inszenierung führte nicht nur das iPad ein und vor. Sie ist zugleich Ausdruck dominanter Vorstellungen, was das Ergebnis von Digitalisieren sein soll.

7 Vgl. dazu u. a. Mitchell: Das Leben der Bilder, S. 196; Mosco: The Digital Sublime, S. 32;

Neumann: Ohne Urheber keine kulturelle Vielfalt. Unter: http://www.bundesregierung.de/ Content/DE/_Anlagen/BKM/2011-12-28-positionspapier-neu.pdf ?__blob=publicationFile [aufgerufen am 15.08.2013]. 8 (Art.) digitalis. In: Müller (Hrsg.): Latein Wörterbuch, S. 130. 9 (Art.) digitalis. In: Hau (Hrsg.): PONS-Wörterbuch für Schule und Studium Latein – Deutsch, S. 261. 10 (Art.) digital (lat.); digital (lat.-engl.) In: Duden. Fremdwörterbuch, S. 225.

163

Etymologie  digitalisieren

wurde, das den Musikmarkt radikal verändert und den allgemeinen Eindruck des Digitalen in den 1980er Jahren mitbestimmen sollte, sind unter „digital“ ebenfalls zwei Erklärungen zu lesen: Erstens „den Finger betreffend, mit dem Finger“, zweitens „stufenförmig, in Einzelschritte aufgelöst“. Die zweite Erklärung wird noch durch „Gs.: analog (stufenlos, stetig)“ ergänzt, woran sich drei Sätze zur näheren Erläuterung anschließen: „Bei der Informationsverarbeitung werden Daten digital oder analog dargestellt. Bes. wichtig ist digitale Darstellung durch binäre Zeichen. Veränderungen von digital dargestellten Werten erfolgen in Sprüngen (z. B. Digitaluhr).“11 Damit ist eine Grundüberzeugung und -problematik zum Adjektiv „digital“ und dem Verb digitalisieren benannt, die bis heute ihren Gebrauch prägt: die Gegensatzbildung analog/digital. Der Weg dorthin führt über die erstgenannten Erklärungen, über den Finger und seinen Sinn, das Tasten. Die technischen Prozesse der Digitalisierung als Umwandlung analoger in digitale Signale werden im dt. Sprachraum in der Regel mit drei Schritten erklärt: Abtastung, Quantisierung und Codierung.12 Während das Abtasten in festgelegten Intervallen dafür sorgt, die stufenlosen, zeit- und wertkontinuierlichen Signale durch gleichmäßige Erfassung in zeitdiskrete und wertkontinuierliche Signale zu zerlegen, werden durch die Quantisierung auch die Werte diskretisiert, um sie im Prozess des Codierens binär darzustellen. Fingerhaft, um zum lat. Wortstamm zurückzukehren, werden hier also Werte ermittelt: Sie werden abgetastet, um hernach verwandelt zu werden. Der Finger, das Tastende, wird Symbol einer bestimmten, schrittweisen und momentanen Erfassung, die eine erste technische Bedingung dafür bietet, analoge Signale und Informationen in Daten zu verwandeln, die für Computer verarbeitbar sind. In diesem Sprachgebrauch beginnt der Prozess der Digitalisierung mit einer fingerhaften Praxis, um am Ende Werte zu produzieren, die auf der Basis der An-/Aus-Logik des Computers eine Eindeutigkeit herstellen, auf die auch beim Zählen mit Fingern gezählt wird, bei dem verlässlich einem Finger je genau ein Wert zugeschrieben wird. 11 (Art.) digital. In: dtv-Brockhaus-Lexikon, S. 176. 12 Vgl. Meinel/Sack: Digitale Kommunikation, S. 216; Mühl: Einführung in die elektrische

Messtechnik, S. 85; Kammer: Geschichte der Digitalmedien. In: Schanze (Hrsg.): Handbuch der Mediengeschichte, S. 535.

164

KONTEXTE  Der DUDEN erklärt das Verb digitalisieren damit, „analoge Sig-

D

Kontexte  digitalisieren

nale, Daten in digitale Werte (meist Binärziffern) um[zu]wandeln“13. An diese Wandlung sind, wie die Debatte um die Digitalisierung von Bibliotheken gezeigt hat, sowohl Hoffnungen (eine „überall verfügbare Web-Seite ist zugänglicher“14) als auch Ängste („Ende der alten Bibliotheken“15) geknüpft. Wie Simone Loleit zur Wort- und Begriffsgeschichte von „digital“ dargelegt hat, ist das Adjektiv „in zwei Schritten ins Deutsche übernommen worden“16: Erstens seit dem 19. Jh. als Ableitung des Adjektivs digitalis und „Derivat von lat. digitus (‚Finger‘, ‚Zehe‘)“, was „seit dem Mittelalter Bestandteil des Gelehrtenlateins“ gewesen war, und zweitens Mitte des 20. Jhs. „entlehnt aus engl. digital “ mit Bezug auf Computertechnik.17 In diesem Sinne wurde der Begriff erstmalig am 10. Januar 1938 in der Patentschrift für eine von Charles Campbell entwickelte Rechenmaschine aktenkundig, in der von „twelve digital conducting spots“18 die Rede ist. Bis heute haben die Verwendungskontexte des Verbs digitalisieren mit dem zweiten Schritt und damit in erster Linie mit der Verarbeitung analoger Texte, Bilder und Töne zu tun: also mit dem Einscannen von Bild und Schrift, der Digitalisierung von Filmen oder der Verwandlung von Tönen auf Schallplatte und Musikkassette in z. B. WAV- oder MP3-Dateien für den Computer. So ist die Konjunktur des Verbs digitalisieren und seine Bedeutung in der Alltagssprache mit der Verbreitung entsprechender Geräte wie etwa dem „ScanJet“ verknüpft, der als erster Scanner der Firma Hewlett Packard im Jahr 1987 auf den Markt kam und die Umwandlung von Analogem in Digitales am heimischen PC ermöglichte.19 Die Differenz zwischen analog und digital, die Jens Schröter als „die medienhistorische und -theoretische Leitdifferenz der zweiten Hälfte

13 (Art.) digitalisieren. In: Duden Fremdwörterbuch, S. 225. 14 Lischka: Digitale Bibliotheken. In: Spiegel online. Unter: http://www.spiegel.de/netzwelt/

netzpolitik/digitale-bibliotheken-der-staat-spart-google-digitalisiert-a-753229.html [aufgerufen am 15.08.2013]. 15 Herwig: Die entleibte Bibliothek. In: Der Spiegel, S. 186. 16 Loleit: The Mere Digital Process of Turning over Leaves. In: Böhnke/Schröter (Hrsg.): Analog/Digital – Opposition und Kontinuum?, S. 194. 17 Ebd. 18 Vgl. ebd, S. 205. 19 Vgl. Beeler: HP revamps Laserjet Plus, adds high end-unit. In: Computerworld, S. 4.

165

Kontexte  digitalisieren

des 20. Jahrhunderts“20 bezeichnet hat, wurde so seit den 1980er Jahren im Akt des „Digitalisierens“ auch für Massen relevant. Zwei miteinander verbundene und ebenfalls zu dieser Zeit entstandene Verwendungskontexte dieser Leitdifferenz sollen hier erwähnt werden: Zum einen die medienwissenschaftliche Debatte um den Status des Computers als Medium, die in der Entwicklung der Medienwissenschaft in Deutschland eine wichtige Rolle gespielt hat21; zum anderen die Bedeutung des Computers und der sogenannten „digitalen Revolution“ für die Konturierung neuer ökonomischer Modelle, die im Begriff der New Economy der 1990er Jahre ihren offensichtlichsten Ausdruck fand.22 Seitdem besteht eine – durchaus umstrittene23 – Grundüberzeugung für den Sinn und Zweck des Digitalisierens darin, dass „das ‚Universalmedium‘ Digitalcomputer“, wie es Till A. Heilmann formuliert hat, aufgrund der „numerischen Codierung und der maschinellen Berechenbarkeit von Zahlen die algorithmierten Weisen des Speicherns, Übertragens und Verarbeitens aller anderen, älteren, sogenannt analogen Medien – genügend Rechenkapazität und -geschwindigkeit vorausgesetzt – durch Sampling und Simulation repräsentieren kann“24. Das darin eingebettete Verständnis von „digital“ führt zum Finger zurück: Indem Heilmann erklärt, digital sei, „was sich als ganze Zahl an einzelnen Fingern abzählen lässt“ und „digitale Maschinen“ seien entsprechend „diejenigen, die durch diskrete (nicht notwendigerweise binäre) Zahlen codierte Information verarbeiten“25, reaktiviert er implizit genau jene Wortverwendung, die bereits im 18. Jh. in ZEDLERS UNIVERSAL-LEXIKON festgehalten wurde. „Digiti“, ist dort vermerkt, „heissen bey einigen die Zahlen von 1. bis 9. oder die Simplen Einheiten in der decadischen Rechnung, weil man

20 Schröter: Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? In: Böhnke/ders. (Hrsg.): Analog/

Digital – Opposition und Kontinuum?, S. 9 [Herv. i. O.].

21 Vgl. dazu: Mersch/Nyíri (Hrsg.): Computer, Kultur, Geschichte; Bolz/Kittler/Tholen

(Hrsg.): Computer als Medium; Winkler: Docuverse.

22 Vgl. dazu: Negroponte: Total digital; Tapscott: Die digitale Revolution; Tapscott: Wikino-

mics.

23 Vgl. Winkler: Medium Computer. In: Engell/Neitzel (Hrsg.): Das Gesicht der Welt, S. 207–

208.

24 Heilmann: Digitalität als Taktilität. In: ZfM, S. 128. 25 Ebd., S. 133.

166

solche gemeiniglich am Fingern abzuzehlen pfleget, daher man sie auch Finger – Zahlen im Deutschen nennen konte.“26

ten oder dem Zählen assoziieren, ändert wenig an den seit Jahren wesentlich geläufigeren Konstanten im populären Diskurs zu dem, weshalb digitalisieren sinnvoll und nützlich ist. Für diese Elemente des Common Sense und seine Konsequenzen für die Frage, was eigentlich die viel zitierte „digitale Welt“ ausmacht, fällt erneut die binäre Opposition analog/digital ins Gewicht, der in der Medienwissenschaft inzwischen mit Vorsicht begegnet wird. Exemplarisch hat Hartmut Winkler 2008 diese Unterscheidung problematisiert und daran erinnert, dass das „Phänomen des Digitalen“ nur „im Symbolischen“ existiert, während „die reale Welt [...] irreduzibel analog“ bleibt: „Weil auch der menschliche Sinnesapparat analog funktioniert, müssen alle digitalen Botschaften irgendwann wieder ins Analoge umgesetzt werden (CDs sind digital, digitale Lautsprecher aber gibt es nicht).“27 Zur Problematik des Unterschieds zwischen analog und digital gehört die Tendenz, das Digitale auf eine irreführende Weise zu definieren, die auch den beliebten Ausweichbegriff „Neue Medien“ bzw. „New Media“ prägt. Zu Recht sind seit Beginn der 1990er Jahre immer wieder der Hype „der Digitalität“28, die „Rhetorik des ‚Neuen‘“29 und der mythische Status und Gebrauch des Begriffs „digital“ kritisiert worden, der als buzzword nicht nur „auf diffuse Weise ‚neu‘, ‚fortschrittlich‘ und ‚computer-technisch‘“30 meinen soll, sondern zugleich bestimmte „Vorstellungen der Machbarkeit und Beherrschbarkeit“31 anspricht. Einen frühen Einblick in den Charakter dieser Vorstellungen gab 1990 Vilém Flusser zur Frage der Zukunft des Schreibens.

D

Konjunkturen  digitalisieren

KONJUNKTUREN  Ob wir die fingerhafte Praxis nun direkt mit dem Abtas-

26 (Art.) Digiti. In: Zedler, S. 905 [Herv. i. O.]. 27 Winkler: Basiswissen Medien, S. 129. 28 Mersch: Digitalität und Nicht-Diskursives Denken. In: Ders./Nyíri (Hrsg.): Computer,

­Kultur, Geschichte, S. 109–126.

29 Winkler: Docuverse, S. 11. 30 Schröter: Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? In: Böhnke/ders. (Hrsg.): Analog/

Digital – Opposition und Kontinuum?, S. 7.

31 Holert: Globodigitalizität. Unter: http://www.khm.de/kmw/kit/pdf/holert.pdf [aufgerufen

am 15.08.2013].

167

Konjunkturen  digitalisieren

Flussers Ausgangspunkt war dabei die Vorstellung, die Praxis des Digitalisierens habe bereits weltweit triumphiert. Seiner Annahme, „die gesamte Weltliteratur sei bereits digital umcodiert, in künstliche Gedächtnisse gelagert und in ihrer ursprünglich alphabetischen Form ausgelöscht worden“32, folgte die Vision eines neuen Umgangs mit diesen Bildschirmtexten. Nun gehe es nicht mehr um „ein passives Auflesen (Aufklauben) von Informationsbrocken“, sondern um ein „aktives Knüpfen von Querverbindungen zwischen den verfügbaren Informationselementen“33. Bei dieser „Informationsproduktion verfügt der ‚Leser‘“, so Flusser, „über verschiedene Knüpfmethoden, die ihm von der künstlichen Intelligenz vorgeschlagen werden (gegenwärtig ‚Menüs‘ genannte Abrufmethoden)“34. Flusser formuliert hier eine Abgrenzung zu früherer Passivität, die im Diskurs zum Komplex des Digitalen seit Ende der 1980er Jahre üblich ist und im Laufe der 1990er Jahre dominant wird. Die hier waltende Logik gehört wesentlich zum anhaltenden Druck der Digitalisierung und erläutert, zu welchem Zweck analoge Informationen überhaupt „umcodiert“ und hier konkret Texte digitalisiert werden sollen. Sie lautet: Analoge Medien machen passiv, digitale aktiv. Die Form dieser Aktivität, die uns Kontrolle verspricht, wird von Flusser als Menüs, Abruf- sowie Knüpfmethoden skizziert. Es geht also um jene computerbasierte Interaktivität als Entsprechung von Befehlen und Gehorchen, die sich traditionell in einer Ordnung der Auswahl präsentiert, in der wir aus und mit dem wählen, was uns als Nutzer einer Website, eines Computerprogramms, eines Videospielmenüs, einer App-Übersicht usw. dazu gegeben ist.35 Den Begriff der Interaktivität hat Lev Manovich 2001 als ebenso mythisch kritisiert wie das Adjektiv „digital“.36 Beides, digital und interaktiv, gehören in den Diskussionen so eng zusammen, dass digitalisieren hier – siehe Flusser – auch damit übersetzt werden könnte, etwas interaktiv verfügbar zu machen. Das Verb digitalisieren ist unauflösbar mit dem Zweck einer darauf

32 Flusser: Die Schrift, S. 150f. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Vgl. dazu Distelmeyer: Freiheit als Auswahl. In: Möller/Sternagel/Hipper (Hrsg.): Zur Pa-

radoxalität des Medialen, S. 69–90.

36 Vgl. Manovich: The Language of New Media, S. 55–61.

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Konjunkturen  digitalisieren

beruhenden und als dezidiert „anders“ ausgewiesenen Medienpraxis verbunden, die über den Akt des Umcodierens weit hinausgeht. „Die neuen Medien sind interaktiv“, hat Don Tapscott 1997 in DIE DIGITALE REVOLUTION kurz und bündig postuliert, „[d]er Benutzer hat sie unter Kontrolle.“37 Jens Schröter und Christian Spies zählen zu den „Phantasmen“, die Ende der 1980er Jahre „[m]it der angeblichen ‚digitalen Revolution‘ und der so genannten virtuellen Realität“ aufkamen, zuallererst jene Aktiv/PassivDichotomie, die zugunsten der digitalen Medien und ihrer Kontrollfunktion aufgemacht worden ist.38 Wie dominant derartige Überzeugungen auch in der Medienwissenschaft gewesen sind, ist u. a. bei Norbert Bolz39, Steven Johnson40, Jay David Bolter41 und John Belton42 nachzulesen. „Das Versprechen der digitalen Ästhetik“, hat dies 2000 Timothy Murray auf den Punkt gebracht, „ist ihr erweiterter Bereich von ‚Interaktivität‘, durch welche der Eintritt der User in den Kreis der künstlerischen Präsentationen ihre eigenen Fantasien, Virtualisierungen und Erinnerungen in Verbindung mit der künstlerischen Darstellung simuliert oder projiziert.“43 Russell Richards zog 2006 mit „dem digitalen/interaktiven Zeitalter“44 die kategoriale Konsequenz. Seit Mitte der 2000er Jahre ist zu beobachten, wie der Interaktionsbegriff in seinem Stellenwert immer stärker durch den Begriff der Partizipation abgelöst wird. Den Wirkungskreis erweiternd verlinkt der Partizipationsbegriff das Interaktive und Variable computerbasierter Medien v. a. mit jenen (dadurch ermöglichten und bedingten) Vernetzungspraktiken, die als social media eine neue, programmierbare und entsprechend restringierte Idee des Sozialen realisieren und aufführen. Eine wichtige Rolle im akademischen Diskurs hat

37 Tapscott: Die digitale Revolution, S. 352. 38 Vgl. Schröter/Spies: Interface. In: Neitzel/Nohr (Hrsg.): Das Spiel mit dem Medium, S. 105. 39 Bolz: Interaktive Medienzukunft. In: Zacharias (Hrsg.): Interaktiv, S. 120–126; Bolz: Das

ABC der Medien, S. 41.

40 Johnson: Neue Intelligenz, S. 74. 41 Bolter: Die neue visuelle Kultur. In: Bollmann (Hrsg.): Hollywood Goes Digital, S. 86–87. 42 Belton: Das digitale Kino – eine Scheinrevolution. In: montage/av, S. 13f. [Herv. i. O.]. 43 Murray: Digital Incompossibility: Cruising The Aesthetic Haze Of The New Media. In:

CTheory. Unter: http://www.ctheory.net/articles.aspx?id=121 [aufgerufen am 15.08.2013, Übers. JD]. 44 Richards: Users, Interactivity and Generation. In: New Media & Society, S. 536 [Übers. JD].

169

Gegenbegriffe  digitalisieren

dabei die von Henry Jenkins gefeierte „participatory culture“45 gespielt, die an Jenkins’ Faszination für „Interactive Audiences“46 anschließt. Interaktivität reloaded: Partizipation gilt als ein Schlüsselkonzept der gegenwärtigen, computerbasierten Medienpraktiken, das, wie Mirko Tobias Schäfer 2011 betont hat, die Transformation des ehemaligen Publikums in „active participants and agents of cultural production on the internet“47 bezeichnen soll. GEGENBEGRIFFE   Von der wirkungsmächtigen Gegenbegrifflichkeit des

Analogen ist bereits die Rede gewesen. Die Bedeutung von „digital“ und die damit verbundenen Versprechungen von Interaktivität, Mobilität, Immaterialität, Flexibilität und Kontrolle sowie die daran geknüpften Hoffnungen auf Ermächtigung und Freiheit bauen auf gegenteilige Assoziationen hinsichtlich der analogen Welt. Einerseits existieren dazu Ängste vor dem Verlust vermeintlich fester Größen, die mit dem Analogen verbunden werden: Sicherheiten, ausgedrückt als Stabilität, Authentizität, Originalität und Natürlichkeit im Gegensatz zur willkürlich verkürzten Präzision des Digitalen.48 Natürlichkeit bezieht sich hier v. a. auf die Sinneswahrnehmungen analoger Materialität, die als Gegensatz zur Immaterialität digitalisierter Objekte betont wird, wobei die spezifische Materialität digitaler Medien missachtet zu werden droht. Auch wenn unbestritten ist, dass z. B. die sich nur auf einem Bildschirm zeigenden Seiten eines eBooks nicht in der gleichen Weise zu berühren und benutzen sind, wie die Seiten eines gedruckten Buchs, kann nicht davon die Rede sein, dass digitale Medien nicht haptisch wären. Ihre Erscheinungsweise wäre vom Gegenbegriff des Analogen hingegen insofern genauer als „virtuell“ abzugrenzen, als digitale Objekte nur unter den bestimmten Bedingungen der Computertechnologie und deren Materialität existieren. Andererseits sollen digitale Medien dabei helfen, Defizite und Grenzen analoger Zustände zu überwinden. Auf dieser Gegenüberstellung basiert

45 Jenkins: Fans, Bloggers, and Gamers. 46 Ders.: Interactive Audiences? In: Harries (Hrsg.): The New Media Book, S. 157–170. 47 Schäfer: Bastard Culture!, S. 10. 48 Vgl. Robinson: (Art.) Analog. In: Fuller (Hrsg.): Software Studies, S. 21.

170

besonders der mythische Status von „digital“ – die Überhöhung und Verklärung eines Begriffs, der sich weit vom Finger und Zählen entfernt hat.

bietet sich der Begriff der Digitalizität49 an. Dies bedeutet eine strategische Absetzbewegung und eine Annäherung zugleich. Ein eher verstörender als versichernder Begriff soll dabei helfen, die Strahlkraft des mythischen Begriffs „digital“ zu verhandeln. Roland Barthes’ Vorschlag folgend, auf mythische Begriffe mit Neologismen zu antworten, führt der seit dem Ende der 1980er Jahre dominant gewordene Gebrauch des Begriffs „digital“ zum Begriff der Digitalizität, mit dem dieser Gebrauch als Realisierung eines Mythos beschrieben werden kann. Neben und mit dem Versprechen der Aktivierung durch computerbasierte Medien und ihrer spezifischen Verfügbarkeit durch ermächtigende Interaktivität/Partizipation prägen bis heute v. a. zwei weitere Versprechen die Digitalizität: Basierend auf der Interaktivität/Partizipation ist dies – erstens – das Versprechen der Flexibilität, die das Variable computerbasierter Medien als nutzungsabhängige Vielfalt und Wandelbarkeit betont. Daran gekoppelt ist – zweitens – das Versprechen der Loslösung von der „Schwere“ und räumlich-zeitlicher Fixierung analoger Materie. Die Idee der Überwindung starrer Materialität auf der Grundlage interaktiver Flexibilität dessen, was im Computer geschieht (in dem ich z. B. in der Textdatei dieses Artikels so lange virtuelle Veränderungen, Verschiebungen etc. durchführen kann, bis der Text gedruckt und gebunden vor mir liegt), steigerte sich v. a. durch die Vernetzung von Computern zum Versprechen der Überwindung von Zeit und Raum.50 Wie klar indes Digitalizität bereits vor der Etablierung des Internets mit den Versprechungen von Interaktivität, Flexibilität, Immaterialität und darauf gründender Freiheit, Ermächtigung und Kontrolle assoziiert worden ist, haben v. a. die Veröffentlichung zu und von Nicolas Negroponte gezeigt, dem berühmten Gründer des Media Lab

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Perspektiven  digitalisieren

PERSPEKTIVEN   Um über diesen Mythos angemessen sprechen zu können,

49 Vgl. dazu: Holert: Globodigitalizität. Unter: http://www.khm.de/kmw/kit/pdf/holert.pdf

[aufgerufen am 15.08.2013]; Distelmeyer: Das flexible Kino, S. 173–179.

50 Vgl. Mosco: The Digital Sublime, S. 2f.

171

Perspektiven  digitalisieren

am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dass dieser diskursiven Entwicklung eine bis in die frühen 1980er Jahre dominante Überzeugung vorausging, nach der „der Computer als Rechner“, als „riesiger Kalkulator“ durch „schematische Technik“ beherrschbar und „mechanisch erklärt werden“ könne, hat Sherry Turkle betont und als „modernistische computerbasierte Ästhetik“ bezeichnet.51 1987 brachte Stewart Brand mit MEDIA LAB seine euphorische Besuchsbeschreibung des MIT heraus, in der Negroponte die zentrale Rolle spielt. „Digitalität“ beschrieb Brand dort beispielhaft mit den Worten Nicolas Negropontes als ein „geräuschloses Medium mit eingebauter Fehlerkorrektur“52, das, wie er am Beispiel der frühen E-Mail zeigte, „die Tyrannei des Raums […] und bis zu einem gewissen Grad der Zeit“53 aufhebe. Wenige Jahre später pries Negroponte in BEING DIGITAL „die digitale Welt“, bei der es um „Kostenersparung“ und „Machtzuwachs“ ginge und die durch „wirklich interaktive Medien“54 ermöglicht werde. Seinen Optimismus bezog Negroponte dabei in allererster Linie „aus der Befähigung zum Handeln, die die Digitalzeit mit sich bringt“55. Die aktuelle „Maker-Bewegung“56, die seit Ende der 2000er Jahre mit 3D-Druckern die Produktivität digitaler Technologie für analog-stoffliche und nicht länger nur computerbasiert existente Objekte nutzt, führt den offerierten Machtzuwachs auf eine andere Ebene. Diese Entwicklung bleibt künftig zu beobachten: Wenn digitalisieren für viele nicht länger der erste Schritt zur Verfügbarkeit auf der Grundlage des Computers sein wird, sondern zur dreidimensionalen (Re-)Materialisierung jenseits des Computers, könnte dies die bewährte Differenz analog/digital ins Wanken bringen. Was an dieser Stelle in Veränderung begriffen zu sein scheint, ist insofern eine Anwendungsperspektive, als die digitale Form von Objekten hier nicht länger das Ziel des Umgangs ist, so dass sie z. B. in die Cloud ausgelagert und leichthin auf mobile Computer transferiert werden können. „Digital“ könnte stattdessen als Zwischenzustand

51 Turkle: Ich bin wir? In: Bruns/Reichert (Hrsg.): Reader Neue Medien, S. 506. 52 Brand: Media Lab, S. 40. 53 Ebd., S. 47. 54 Negroponte: Total digital, S. 82. 55 Ebd., S. 279. 56 Anderson: Das Internet der Dinge: die nächste industrielle Revolution, S. 32.

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FORSCHUNG  Eine aus der hier dargestellten Perspektive resultierende Auf-

gabe besteht in der Analyse des Verhältnisses, das die konkreten Erscheinungsweisen digitaler Medien zu den genannten Aspekten der Digitalizität eingehen. Kurze Bemerkungen zum iPad sollen zeigen, in welche Richtung hier zu denken wäre. Zuallererst etabliert das iPad als Fortsetzung der mit dem iPhone populär gewordenen Touchscreen-Technologie eine neue Beziehung zwischen Digitalisierung und Finger. Digitales soll nun, wie Steve Jobs zum iPad betont, mit dem Finger kontrolliert und gehandhabt werden. Eine Unmittelbarkeit suggerierende Variante der Ermächtigung wird mit dem mehrfach wiederholten ‚holding the internet in your hands‘ auf den Punkt gebracht. So erscheint das iPad als bemerkenswerter Balanceakt zwischen der Ausstellung von Hardware, von neuer materieller Gerätschaft, einerseits und der Betonung des Verschwindens eben dieser Materialität andererseits. Die Präsenz des Internets in meinen Händen, über das ich mit meinen Fingerspitzen verfügen kann, soll das Gerät, das hier verkauft wird, in gewisser Weise zur Auflösung oder doch zumindest in den Hintergrund bringen. Kein Zufall, dass Jobs die Schlankheit des iPad betont und es auf seinem Schoß nahezu unsichtbar macht – im Gegensatz zur Videoprojektion der „Ergebnisse“. Alle Interaktivität und Partizipation, die Steve Jobs mit dem iPad vorführt, soll als Interaktivität und Partizipation weniger mit dem Gerät, sondern vielmehr mit den Programmen und ihren Inhalten selbst verstanden werden.

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Forschung  digitalisieren

gelten, der letztlich auf eine Analogisierung abzielt, die ganz neue Umgangsund Speicherfragen herausfordert. Noch aber prägt ein Amalgam von Kontrolle, Flexibilität und mobilisierender Immaterialität sowohl die gegenwärtigen Versprechen der Digitalizität, die in den letzten Jahren exemplarisch in den Apple-Kampagnen zu iPhone, iPad und iCloud sichtbar geworden sind, als auch die gegenwärtigen Ängste vor digitalem Missbrauch. Letzteres wurde z. B. im Skandal um die durch Edward Snowden aufgedeckte weltweite Datensammlung des US-Geheimdienstes NSA deutlich, dessen gängige Bezeichnung als „NSA-Abhörskandal“ genau jene computerbasierten Prozesse nicht mitspricht, die im Zentrum der Ängste stehen.

173

Forschung  digitalisieren

Hier zeigt sich die Dialektik der gegenwärtigen und nicht nur von Apple protegierten Form von Digitalizität, mit der Einführung neuer Hardware zugleich auch die Geste des Verschwindens von Hardware zugunsten unmittelbarer Partizipation zu verbinden. Diese Dialektik hat sowohl 2012 die Einführung des Tablet-Computers Surface von Microsoft geprägt als auch 2013 die Ankündigung der Spielkonsole Xbox One, in der auf der Basis der Kinect-Technologie eine unsichtbare Kamera die Steuerung durch Gesten ermöglicht. Dass diese Freiheitsversprechen mit Restriktionen der Herstellerseite einhergehen, hat im Fall von Apple bekanntlich für breite Proteste und Verstimmung gesorgt.57 Die Rolle der Überwachungskamera der Xbox One ist schon vor ihrer Einführung im Hinblick auf Datenschutz problematisiert worden.58 Auf bemerkenswerte und widersprüchliche Weise betont die Digitalizität so zunehmend das Gegenteil der programmatischen Stellungnahme Friedrich Kittlers ES GIBT KEINE SOFTWARE von 1993.59 Besonders interessant beim iPad (und weiteren Touchscreen-Varianten) ist dabei, wie das Partizipations-, Kontroll- und Unmittelbarkeitsversprechen „holding the internet in your hands“ unerfüllt bleibt. Natürlich kann kein Kunde ein dynamisches Computernetzwerk, in dem und um das massiv sowie permanent um Kon­ trollmöglichkeiten gerungen wird, in Händen halten – diese Ermächtigungsphantasie ist prinzipiell utopisch. Konkret problematisch aber ist v. a., dass die gegenwärtige Touchscreen-Technologie nur in eingeschränkter Weise den Tastsinn adressiert und niemanden in die Lage versetzt, Internetseiten, Fotos, Filme oder sonstige digitale Erscheinungen zu berühren. Der Touchscreen ermöglicht keinerlei haptische oder taktile Erfahrung mit diesen Inhalten; berührt wird stattdessen immer wieder nichts anderes als eine gleich bleibende Hardware-Oberfläche.

57 Vgl. dazu: Moorstedt: Scharfkantige Datensplitter. In: SZ, S. 11; Schirrmacher: Die Poli-

tik des iPad. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung online. Unter: http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/debatten/digitales-denken/apples-macht-die-politik-des-ipad-1229376.html [aufgerufen am 15.08.2013]; Payne: On the iPad. Unter: https://al3x.net/2010/01/28/ipad.html [aufgerufen am 15.08.2013]. 58 Vgl. dazu: Stöcker: Microsoft kann jetzt Ihr Sofa sehen. In: Spiegel online. Unter: http:// www.spiegel.de/netzwelt/games/microsoft-konsole-xbox-one-kinect-kamera-schafftdatenschutz-probleme-a-900397.html [aufgerufen am 15.08.2013]. 59 Vgl. dazu Kittler: Draculas Vermächtnis, S. 225–242.

174

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Verweise  digitalisieren

In diesem Sinne kann die Touchscreen-Technologie mit Nanna Verhoeff als „literal enactment of performative looking“60 verstanden werden, bei dem, wie Timo Kaerlein betont, nicht nur die Enttäuschung zu erfahren ist, „dass sich alle Touchscreens gleich anfühlen“61, sondern sich auch „ein und derselbe Touchscreen“ gleich anfühlt, „ungeachtet der aktuellen Nutzung“62. Damit potenziert sich die Problematik jener Verschleierungstaktik in der dominanten Präsentationsstrategie digitaler Medien, die Marianne van den Boomen „Depräsentation“63 nennt: das v. a. durch Programmsymbole und App-Zeichen nahegelegte Verkennen, bei dem die Funktionsweisen und Vernetzungen komplexer Computerprozesse in auswählbaren Symbolen auf- und zugleich untergehen. Indem diese depräsentierenden Symbole nun wie beim iPad als unmittelbar und greifbar ausgestellt werden, wird nicht nur die Hardware vermeintlich in Software verwandelt, um ihre physisch-analoge Starre demonstrativ in virtuell-digitale Flexibilität zu verbessern. Zugleich legt die Berührbarkeit der Symbole nahe, man habe nun direkten Kontakt, was die Wirksamkeit der Depräsentation auf eine Weise festigt, die das Gegenteil von Ermächtigung und Kontrolle zur Folge hat. Inwiefern das Versprechen auf Fühlungnahme tatsächlich also eher das Unfassbare digitaler Medien unterstützt, wäre weitere Forschungen wert. LITERATUREMPFEHLUNGEN Bruns, Karin/Reichert, Ramón (Hrsg.): Reader

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[aufgerufen am 15.08.2013].

EDIEREN ULRICH BREUER | CHRISTOPHER BUSCH | MATTHIAS EMRICH

sches ‚Handwerk‘ verstanden worden, das sich in konkreten Szenarien vollzieht und mit je individuellen Problemlagen konfrontiert ist. Es kann daher nicht verwundern, dass sich um die Medien- und Kulturtechnik des Edierens seit jeher zahllose Anekdoten versammelt haben. Eine verbreitete EINFÜHRUNG IN DIE EDITIONSPHILOLOGIE führt nicht weniger als 74 Fallbeispiele an, beschränkt sich dabei aber weitgehend auf kanonische Texte.1 Aus der Perspektive einer Geschichte des Mediengebrauchs bietet sich ein weniger bekanntes Beispiel an. Mit ihm lässt sich das intrikate Verhältnis von Autor, Text, Editor, Interpret und Leser illustrieren, das für alle Fälle stellvertretender Lektüre typisch ist. Am Anfang der Lessing-Edition Friedrich Schlegels steht ein Ordnungsbegehren, das in medienhistorischer Perspektive auf einen frühen Versuch Friedrich Nicolais und Johann Joachim Eschenburgs reagiert, Lessing zu edieren. Während die Berliner Aufklärer ihren Freund Lessing in 30 Bänden dem Publikum vorlegen, erscheint dem frühromantischen Theoretiker Schlegel dieses Vorgehen als diffus und unzweckmäßig; ihm kommt es darauf an, zu reduzieren. Dazu will er Lessings wertvollste Schriften sichern, bündeln und in geeigneter Form – d. h. maximal dreibändig – präsentieren. Er belässt es aber nicht bei der Selektion von Textmasse durch Reduktion, sondern versucht gleichzeitig seine Singularisierungsstrategie zu rechtfertigen. In eigenen Essays, die Lessings Texte umrahmen, reflektiert Schlegel die editoriale Praxis des Herausgebers, wie auch die mediale Situation der Zeit um 1800, in der zahlreiche Editionen und Herausgaben zirkulieren. Sie werden im einleitenden, von Schlegel verfassten Text abwertend als ‚allgemeine Masse‘2 bezeichnet, in der das Lessingsche Œuvre zu versinken drohe. Um dem entgegen zu wirken, greift Schlegel stark in die Texte Lessings ein; kürzt und pointiert, nicht ohne zu behaupten, Lessings Texte forderten genau diese Eingriffe und er,

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Anekdote  edieren

ANEKDOTE Das Edieren von Texten ist immer wieder primär als philologi-

1 Vgl. Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur, S. 6. 2 Schlegel: Lessings Geist aus seinen Schriften, oder dessen Gedanken und Meinungen, S. 3.

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Etymologie    edieren

Schlegel, helfe dabei, ihre wahre Gestalt hervorzukehren. Schlegels privative und idiosynkratische Verfahrensweise ist nicht nur von philologischer Seite gerügt worden; man hat immer auch vermutet, der notorisch verschuldete Intellektuelle habe bloß aus pekuniärem Interesse (aus ‚niedrigen Motiven‘) gehandelt und daher einige Lessing-Texte, aus lang bekannten Ausgaben zusammengeklaubt, neu drucken lassen. Dagegen spricht sicherlich der Anteil an eigens für diese Ausgabe geschriebenen, originären Schlegel-Texten, die das Aggregat von Lessing-Texten kommentierend neu kontextualisieren. Dagegen spricht ferner eine charakteristische Auswahl und Präsentation derjenigen Schriften Lessings, die im zeitgenössischen Diskurs zwar präsent waren, doch durch und in Schlegels Sammlung zu neuer Virulenz gelangten, etwa, wenn Schlegel den schon bekannten Freimaurergesprächen Lessings ein weiteres an die Seite stellt und so ERNST UND FALK zu Ende schreibt – Fanfiction avant la lettre im Gewand einer Edition. Dieses Vorgehen und seine explizite Thematisierung machen das Edieren als einen Mediengebrauch mit Eigenlogik begreifbar, dessen Aufgabe auch bzw. schon um 1800 darin bestand, „[to] regulat[e], institutionaliz[e], and stabiliz[e] the category of literature in an age of too much literature.“3 ETYMOLOGIE  Edieren bezeichnet eine Form des Mediengebrauchs, mit der Hervorbringungen aller Art, in besonderer Weise aber geordnete Zeichenfolgen (Schriften, Noten), für unterschiedliche kulturelle Zwecke ausgewählt und gebrauchsfertig gemacht werden. Das dt. Verb edieren wird im 16. Jh. aus dem Lat. entlehnt.4 Es geht auf das lat. edere zurück, das ‚herausgeben‘ im Sinne von ‚gebären‘, ‚von sich geben‘, ‚bekannt machen‘, ‚liefern‘ und ‚beschließen‘, aber auch ‚in die Höhe bringen‘ bedeutet.5 Über seine Etymologie ist edieren mit naturhaft-ungesteuerten Prozessen des Zeugens und Gebärens, des Entäußerns und der Elevation verbunden. Der etymologisch greifbare Hintergrund äußert sich in verbreiteten Topoi, die das Hervorbringen insbesondere von Texten unterschiedlich akzentuieren. Schrifttexte figurieren einerseits –

3 Piper: Dreaming in Books, S. 54. 4 Vgl. (Art.) edieren. In: Pfeifer, S. 260. 5 Vgl. (Art.) edieren. In: Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch,

Sp. 2336–2338.

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Etymologie    edieren

singularisierend – schon in der Antike als Kinder, die von ihren Autoren zur Welt gebracht werden.6 Sie können aber auch andererseits – wenn sie en masse konsumiert werden – den Organismus verstimmen und müssen dann erbrochen werden: Nach der Allegorie des Martianus Capella aus dem 5. Jh. muss Philologia die Masse des Gelesenen von sich geben, damit sie Merkur heiraten und die sieben freien Künste hervorbringen kann.7 Der Vorgang des Edierens bewegt sich also seit jeher zwischen exklusiver, ja autoritativer Singularität (die BIBEL als ‚das eine Buch‘) und enervierender Multiplikation.8 Das dt. Verb ediren hat die Vielfalt der Bedeutungsvarianten von edere9 um 1800 medial verengt und auf „herausgeben, bekannt machen; ausliefern“ (von Büchern) reduziert.10 Das ist bereits den Zeitgenossen aufgefallen, denn Friedrich Schlegel hält fest: „Schon der Begriff Ediren ist modern und zielt auf absolute Popularisirung.“11 Edieren bezeichnet nun gleichermaßen das Publizieren eigener Werke (als Autor) wie auch die Aufbereitung der Werke anderer (als Herausgeber) für den Druck.12 V. a. im zweiten Fall handelt es sich um eine Form stellvertretender Lektüre. Die Funktionen des Autors und des Editors verselbstständigen sich um 2000 unter dem Einfluss der elektronischen Datenverarbeitung – nicht zuletzt in technischer Hinsicht. Nun kann im Dt. zwischen edieren und dem aus dem Engl. entlehnten editieren unterschieden werden, wobei edieren auf ein fixiertes Endprodukt, das zum kulturellen Gedächtnis gehört und seine Vorstufen teils mehr und teils weniger unsichtbar macht, verengt wird (‚Ausgaben machen‘ – in Form von Büchern), während editieren im Sinne von ‚Daten eingeben, löschen, ändern‘ einen grundsätzlich offenen, nicht länger dominant auf das Medium Buch bezogenen Prozess der

6 Vgl. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 143 f., 552f. 7 Vgl. Capella: Die Hochzeit der Philologie mit Merkur / De nuptiis Philologiae et Mercurii,

S. 77, Buch II, S. 135–138.

8 Vgl. Prediger 12, 12: „denn des vielen Büchermachens ist kein Ende“. 9 Die ältere rechtssprachliche Bedeutung ‚Prozessdokumente vorlegen‘ verwendet noch der

junge Goethe: Vgl. (Art.) edieren. In: Goethe-Wörterbuch, Sp. 1372.

10 Vgl. Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrun-

genen fremden Ausdrücke, S. 320.

11 Müller: Friedrich Schlegel: Hefte zur Philologie, S. 118. 12 Kittler: Literatur, Edition und Reprographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur-

wissenschaft und Geistesgeschichte, S. 210f.

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Erstellung und beliebigen Bearbeitung von Datenmaterial bezeichnet.13 Es bietet sich daher an, die Mediengebrauchsform des Edierens im Anschluss an rezente Diskussionen über den Zusammenhang von Schreiben und Edieren14 als Einheit der Differenz von Edieren und Editieren zu fassen.

Kontexte    edieren

KONTEXTE  Die etymologische Vorzeichnung verdeutlicht das Problem, dem

das Edieren begegnet: Angesichts der Masse des Hervorgebrachten werden Strategien nötig (Coping-Strategien), diese Masse zu sichten, zu filtern und lediglich ausgewählte Hervorbringungen dauerhaft vorzuhalten. Betrachtet man unter diesen Voraussetzungen das Edieren als Kulturtechnik15, dann muss zunächst zwischen institutionellen, eher privativen und ökonomischen Formen unterschieden werden. Universitäten, Akademien und Seminare sind der Ort einer stärker institutionell kontrollierten Ausübung, während etwa der Home-PC einer ‚wilderen‘ Form des Edierens oder Editierens Raum gibt; das Edieren der Verlage schließlich untersteht den Gesetzen des Marktes. Diese Unterscheidung bleibt gleichwohl analytisch; realiter konvergieren die Formen in mehreren Punkten. Edieren nämlich meint und meinte stets die Ausbildung von Metazeichen und Praktiken (aufschreiben, wegschneiden, kompilieren, kritisieren, kommentieren), die der Differenzierung von diffuser Textualität dienen. Dem kuratierten Text wird dabei ein kultureller, nicht selten kanonischer Wert beigemessen, der den Differenzierungsprozess allererst in Gang setzt, mit dem Ziel die Werthaftigkeit des Erzeugnisses zu prolongieren.16 Bereits die alexandrinischen Philologen entwickelten ein solches Set von Techniken, das die Domestikation und Elevation der sich in Alexandria anhäufenden Textmassen gewährleisten sollte. Seit Zenodot von Ephesos um 300 v. Chr. durch Ptolemaios I. zum Vorsteher der berühmten Bibliothek gemacht worden ist, konzentriert sich die editoriale Tätigkeit auf die

13 Vgl. (Art.) editieren. In: Duden, S. 260. 14 Vgl. Neumann: Schreiben und Edieren. In: Zanetti (Hrsg.): Schreiben als Kulturtechnik,

S. 187–213.

15 Vgl. Kelemen/Szabó/Tamás: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Kulturtechnik Philologie, S. 9–18. 16 Diesem Ziel dient auch die Kanonisierung von Texten, die ihrerseits deren Editionswür-

digkeit begründet. Vgl. Kammer: Interferenzen und Korrektive. In: Nutt-Kofoth et al. (Hrsg.): Text und Edition, S. 303–321.

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Kontexte    edieren

Erfindung von Zeichen, die den diffusen, mit unechten Versen durchsetzten Text der homerischen Epen reinigen und allererst lesbar machen sollten.17 Dabei belässt Zenodot die prekären Stellen im Manuskript, der Text wird in der Regel nicht eigenhändig verbessert. Auf diese Weise fungiert das Zeichen nicht nur als textinterner Differenzmarker, sondern darüber hinaus auch als Kommunikationsofferte, die das Lesen einerseits ermöglicht, es zugleich aber auch irritiert und auf Anschlussselektionen hin konditioniert.18 Spätestens in der Schülergeneration, bei Aristophanes von Byzanz und Aristarch von Samothrake, wird sichtbar, dass die editoriale Semiose im Sinne der Regulierung von Zeichenmassen neue, abermals zu regulierende Zeichen produziert, soll doch vermerkt werden können, wo die jungen Philologen von der Meinung ihres Lehrers Zenodot abweichen. Mit dem Aufkommen der ersten Homerkommentare wird es ferner dringlich, die Stellen im edierten Manuskript mit den sie erklärenden in der separat gelagerten Kommentarrolle zu verlinken.19 Dergestalt induziert das zu edierende Material seine Massierung und es werden Techniken nötig, diese Tendenz zu kanalisieren. Kallimachos von Kyrene erfindet zu diesem Zweck ein Katalogsystem, das den Bestand der Bibliothek überschaubar macht. Topisch wird die Klage über die zu vielen Bücher dann spätestens in der Frühen Neuzeit. Die Bücherflut wird nach 1450 als Folge jener Medienrevolution erkannt, in deren Zentrum die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern steht. Damit verknüpft ist die Sorge um die massenhafte Verbreitung schlecht, weil ‚falsch‘ edierter Klassikertexte. Mehr denn je sind jetzt Mechanismen der Verbesserung, Singularisierung und Selektion vonnöten, um dem ‚information overload‘ zu begegnen.20 Als frühe Form des Copy/Paste kann das Ausschneiden und erneute Zusammenkleben von für wichtig befundenen

17 Vgl. Pfeiffer: Geschichte der Klassischen Philologie, S. 135ff.; Montanari: Kritische Zeichen.

In: Der Neue Pauly, Sp. 853f.; Ehlers: Antike und klassisch-philologische Editionsverfahren. In: Roloff (Hrsg.): Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick, S. 10f. 18 Vgl. Pfeiffer: Geschichte der Klassischen Philologie, S. 147. 19 Vgl. Montanari: Kritische Zeichen. In: Der Neue Pauly, Sp. 853. 20 Vgl. Blair: Reading Strategies for Coping with Information Overload ca. 1550–1700. In: Journal for the History of Ideas, S. 11–28; Scholz: Die Industria des Buchdrucks. In: Kümmel/ Scholz/Pompe (Hrsg.): Einführung in die Geschichte der Medien, S. 15f.

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Kontexte    edieren

Textpassagen gelten.21 Kompilationen werden zu Florilegien, indem man den zusammengesetzten Text mit Anmerkungen, Vor- und Nachworten versieht und anschließend in den Druck gibt. Edieren ist in Zeiten des Buchdrucks also auch ein Kompilieren fürs Publikum. Überdies ist der frühneuzeitliche Gelehrte mit beträchtlichem philologischen Wissen ausgestattet und zwar dergestalt, dass sich der philologisch gebildete ‚corrector‘ gegen den ungebildeten ‚corruptor‘ polemisch in Szene setzen kann.22 Letzterer nämlich verunstaltet im Verbund mit den unwissenden Schreibern den klassischen Text, der daraufhin einer erneuten Prüfung unterzogen werden muss. Dem Gelehrten steht dabei ein umfangreiches Repertoire an kritischen Zeichen zur Verfügung, wie ein Blick in Alsteds ENCYCLOPAEDIA belegt.23 Der ‚corrector‘ hat ferner einen Platz im frühneuzeitlichen ‚Typographeum‘24und ist insofern direkt an der Verarbeitung und Distribution von Editionen beteiligt. Seine mediale Ausdifferenzierung und politisch-kulturelle Aufwertung erfährt das Edieren während der zweiten Leserevolution seit dem Ende des 18. Jhs. Editionen, oftmals publiziert als ‚Gesammelte Werke‘, sind Prestige­ objekte, die der kulturellen und nationalen Selbstreflexion dienen und im Kontext des ‚nation building‘ stehen.25 Die Wiederentdeckung der volkssprach­ lichen literarischen Tradition und die Auffassung, dass diese einer ‚Erneuung‘ (L. Tieck) bzw. ‚Verjüngung‘ (F. Schlegel) bedarf, zieht eine Flut von Bearbeitungen, Übersetzungen und Editionen nach sich. Im Jahr 1824 beschwert sich Karl Hartwig Georg Meusebach in einem Brief an die Grimms: „Es ist jetzt eine schlimme Zeit, verehrteste Herren, Alles will herausgeben! immer nur drucken lassen auf Presz! Man musz alles doppelt und dreifach verschlieszen, sonst stehlen sie einem Alles weg!“26

21 Vgl. ebd., S. 25. 22 Vgl. Vanek: Ars corrigendi in der frühen Neuzeit, S. 155ff.; Grafton: Correctores corrupto-

res? In: Most (Hrsg.): Editing Texts – Texte edieren, S. 54–76.

23 Vgl. Alsted: Encyclopaedia, S. 2215f. 24 Vgl. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. 25 Vgl. Anderson: Imagined Communities; Cahn: Opera Omnia. In: Chemla (Hrsg.): History

of Science, History of Text, S. 81–92.

26 Zit.n. Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten. In: Fohrmann/Voßkamp (Hrsg.): Wissen-

schaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, S. 60.

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Kontexte    edieren

Gleichzeitig entstehen einflussreiche Theorien, die den medialen Status der Edition reflektieren und Auswirkungen auf die biblionome Gestalt der Edition zeitigen. Nachdem Karl Lachmann die Defizienz aller Drucke und Manuskripte gegenüber ihrem Archetypus zum (ungeschriebenen) Gesetz und Leitfaden editorialer Tätigkeit erklärt hatte, waren Editoren um und nach 1800 darum bemüht, möglichst alle Varianten zu verzeichnen und diese dem konstituierten Text in respektvollem Abstand – etwa im Fußnotenapparat – beizugeben. Seitdem meint Edieren „constructing […] typographical borders.“27 Diese Grenzziehung verpflichtet das Edieren auf die visuelle ­Differenzierung der Instanzen Autor und Editor. Beide treten im 19. Jh. auseinander. Der Editor ist nun mehr und mehr ein Professor der Philologie und als solcher gezwungen, sich gegen Dilettanten, Liebhaber und Materialhuber, die wie er einer philologischen Sammelleidenschaft frönen, zur Wehr zu setzen.28 Analog zur Verwissenschaftlichung der Nationalphilologien im 19. Jh. vollzieht sich die Professionalisierung der editorialen Tätigkeit; dabei wird auch auf die Wissensbestände der Frühen Neuzeit zurückgegriffen.29 Um 1800 kommt es einerseits zu einer medialen Verengung des Begriffs im Deutschen; andererseits erfolgt im neu konturierten terminologischen Feld (‚Bücher machen‘) eine Diversifizierung, die vom Vollzug der philologischen Tätigkeit bis zur verlegerischen Publikation eines Buches reicht. Hatte schon Benjamin Hederich um die Mitte des 18. Jhs. den editor libri als Herausgeber einer Zeitschrift bzw. eines Buches vorgestellt 30, so gehört ab ca. 1800 auch die buchhändlerische Distribution zum Bedeutungsumfang des Verbs edieren.31 Damit ist das Edieren als Teil einer zirkulatorischen Logik identifiziert, die den ‚Ideenumlauf ‘ 32 den ab 1800 disziplinär gegründeten Versuchen der Fixation von Signifikanten und Bedeutungen an die Seite stellt.

27 Piper: Dreaming in Books, S. 95. 28 Vgl. Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten; Plachta: Dilettanten und Philologen. In: Falk/

Mattenklott (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung und Edition, S. 59–72.

29 Vgl. Timpanaro: Die Entstehung der Lachmannschen Methode. 30 Vgl. (Art.) herausgeber, m. In: Grimm, Sp. 1033. 31 Vgl. Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrun-

genen fremden Ausdrücke, S. 320.

32 Vgl. Stanitzek/Winkler: Eine Medientheorie der Aufklärung. Vorwort. In: Gosch: Frag-

mente über den Ideenumlauf, S. 7–34.

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Kontexte    edieren

War dieses Verhältnis seitdem lange Zeit unproblematisch oder nur latent spannungsreich – Editionsphilologen, die Texte emendieren, konjekturieren und konstituieren, sowie Herausgeber von Zeitschriften, Zeitungen und Büchern hier, die Leser und Rezipienten dieser Erzeugnisse da –, kommt es in jüngster Zeit zu Überlagerungen und Hybridformen, die mit dem Prozessieren der Differenz edieren/editieren zusammenhängen. Die im Vergleich zu antiken oder mittelalterlichen Texten ungleich bessere Überlieferungslage der neuzeitlichen Literatur machte es erforderlich, umfangreiche Apparate zu erstellen, die einen Vergleich von Fassungen und Varianten ermöglichten. Damit schlägt die Geburtsstunde der historisch-kritischen Edition. Mit diesem Ausgabentypus sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass im Zeitalter der prominent von Wilhelm Dilthey eingeforderten archivalischen Verwaltung von Schriftstellervor- wie -nachlässen33 nicht nur Überlieferungsvarianten (Schreiber- resp. Setzerfehler), sondern auch Entstehungsvarianten (Skizzen und Werkpläne des Autors) zu berücksichtigen sind. Am Anfang des 20. Jhs. vollzieht sich eine „radikale Wende“34 in der Editionstechnik, insofern handschriftlich dokumentierte (und nun auch erstmals problemlos reproduzierbare) Entstehungsvarianten wichtiger werden als die Ausgaben letzter Hand. Dem Interesse an den materialen Prozessen des Schreibens, seiner kreativen und kognitiven Eigenlogik, verdankt sich die Gründung einer Forschergruppe am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris Ende der 1960er Jahre. Im Zentrum dieser Forschungsrichtung mit dem Namen ‚critique génétique‘ steht die Rekonstruktion des Schreibvorgangs, ohne dabei auf die Fixation des Textes in Gestalt einer historisch-kritischen Edition abzuzielen.35 Gleichwohl hat diese Konzentration auf die konkrete mediale Realisation des literarischen Textes in allen seinen Formen den Blick geschärft für die medienpolitischen Strategien und Versäumnisse der bisherigen editorialen Praxis. So hat Almuth Grésillon darauf hingewiesen, dass der Editionsphilologie seit dem letzten Drittel des 19. Jhs. die Möglichkeit zur Verfügung stand, Manuskripte fotografisch zu reproduzieren und sie

33 Vgl. Dilthey: Archive für Literatur. In: Deutsche Rundschau, S. 360–375. 34 Vgl. Kittler: Literatur, Edition und Reprographie, S. 229. 35 Vgl. Hay: Le texte n’existe pas. In: Poétique, S. 146–158.

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Konjunkturen  edieren

dem edierten Text beizugeben.36 Die Auffassung vom arkanen Geschäft des Edierens verhinderte eine frühere Verschwisterung von Philologie und avancierter Medientechnik. In der Germanistik erhob erst der gelernte Grafiker D. E. Sattler mit der Frankfurter Hölderlin Ausgabe (1975–2008) fotografische Faksimilierung und typografisch differenzierte Umschrift zum editorischen Standard. Damit einher ging die Forderung, die Pluralität der Überlieferung nicht separiert in Text- und Apparatbänden zu präsentieren, sondern sie den Benutzern in ihrer materialen Form zugänglich zu machen, um sie in die Lage zu versetzen, die Entscheidungen des Editors nachzuvollziehen und ggf. zu revidieren. Dieser Ansatz wird ergänzt und begünstigt durch die seit den 1990er Jahren forcierte Erforschung digitaler Architekturen für editorische Projekte.37 Aufgrund ihrer Affinität zu dezidiert bildlicher Repräsentation bei gleichzeitiger Offenheit für individualisierte Rezeptionswege zielen digitale Editionen auf die Ablösung des ‚Lesers‘ durch den ‚Benutzer‘ und machen so auf die medial induzierten Interferenzen von tendenziell textfixierendem Edieren und tentativem, prozessorientiertem Editieren aufmerksam: „Gegen das Entweder-oder des Buchdrucks setzen digitale Techniken das Sowohlals-auch multipler, multiperspektivischer Präsentationen“38. KONJUNKTUREN  Es gehört zu den wenig überraschenden Einsichten einer Mediengeschichte des Edierens, dass die von neuen Medientechniken induzierte Multiplikation der Schriften und Texte den kulturellen Strategien der Verknappung und Singularisierung des massenhaft Produzierten stets vorausgeht. Orientiert man sich daher an der Abfolge von Aufschreibesystemen39, so lassen sich drei Umbrüche der Mediengebrauchsform edieren unterscheiden. Ihnen folgen die Konjunkturen der Begrifflichkeit. Der erste Umbruch vollzieht sich um 1800 im Kontext der zweiten Leserevolution und der Automatisierung von Druckverfahren. Zu den Strategien der Singularisierung gehört neben der Zuwendung zur mündlichen

36 Vgl. Grésillon: Literarische Handschriften, S. 179. 37 Vgl. Nutt-Kofoth: Editionsphilologie. In: Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft,

S. 5f.

38 Sahle: Zwischen Mediengebundenheit und Transmedialisierung. In: editio, S. 29. 39 Im Sinne von Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900.

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Gegenbegriffe  edieren

und schriftlichen Überlieferung im Fokus des Konzepts der Nation auch die Kunstautonomie, die zwischen ästhetisch wertvollen Büchern und der Masse der Unterhaltungs- und Trivialliteratur zu differenzieren erlaubt. Nicht zuletzt präformieren und restringieren die räumlichen Reglementierungen der Zeitschriften im 19. Jh. die Textproduktion.40 Um 1900 kommt es zu einem zweiten Umbruch, der angesichts neuer Medientechniken wie der Fotografie und der Schallaufzeichnung ein neues Interesse an der Entstehung von Texten nach sich zieht.41 Entstehungsvarianten, die den Gang ins Archiv und das intensive Studium der Handschrift verlangten, wurden nun zunehmend interessanter als Überlieferungsvarianten. Eine ‚Augenphilologie‘ löst die bisher dominante ‚Ohrenphilologie‘ ab.42 Zur Singularisierung tragen die immensen Kosten von groß angelegten Werkausgaben bei, die das Engagement von Staat und Politik erforderlich machen. Es kommt zu einer Integration politischer Akteure, insbesondere der öffent­ lichen Hand, in Editionsvorhaben, die erst seit den 1990er Jahren weitgehend als beendet gelten kann.43 Der um 2000 beobachtbare dritte Umbruch verkürzt durch die Bereitstellung digitaler Techniken den Weg vom Schreiben zum Publizieren. Das wird durch den Ausdruck editieren angezeigt. Zu den Konsequenzen für das Edieren elektronisch hergestellter (editierter) Texte gehört, dass die Differenz zwischen Entstehungs- und Überlieferungsvarianten unklar wird. Parallel kommt es zu einer Neukonstellation des Buchhandels und der Verlage, bei der traditionelle Formen der Produktion und des Vertriebs von Texten durch alternative, insbesondere digitale Publikationsformate ergänzt werden. Singularisierungsstrategien lassen sich nicht mehr im nationalen Maßstab, sondern allenfalls noch durch international vernetzte Expertengruppen legitimieren. GEGENBEGRIFFE   Klar konturierte Gegenbegriffe sind für die Medien­

gebrauchsform des Edierens und Editierens nicht belegt. Lässt sich hier also ein anthropologisches Radikal vermuten? Dem immer schon zur Hervorbringung

40 Vgl. Nutt-Kofoth: Editionsphilologie als Mediengeschichte. In: editio, S. 8. 41 Vgl. Kittler: Literatur, Edition und Reprographie, S. 219ff. 42 Vgl. Hurlebusch: (Art.) Edition. In: Ricklefs (Hrsg.): Fischer Lexikon Literatur, S. 481. 43 Vgl. Nutt-Kofoth: Editionsphilologie. In: Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft, S. 3.

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Gegenbegriffe  edieren

tendierenden homo loquens (Herder), homo faber (Marx), homo symbolicus (Cassirer), homo creator (Landmann) oder homo pictor ( Jonas) wäre dann der homo editor hinzuzufügen. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass zwar kaum das Hervorbringen als solches, wohl aber der Umfang oder der Zeitpunkt der Verbreitung und Erhaltung des Hervorgebrachten verschoben, eingeschränkt oder mit Verboten belegt werden kann. Es ist also mit kulturellen Praktiken der Annihilation zu rechnen.44 Die radikalste Praktik ist sicherlich das Vernichten und Zerstören von Schriften. Dieser ‚Biblioklasmus‘ kann natürliche oder intentionale Ursachen haben und die Form der Vernichtung eigener oder diejenige der Vernichtung fremder Schriften annehmen. Natürliche Ursachen wie das Verrotten, Vermodern oder Verschimmeln von Trägermaterialien haben zu massenhaften Verlusten von alten Manuskripten, aber auch zu so genannten ‚Verderbnissen‘ bei unsachgemäß gelagerten Buchbeständen geführt. Hinsichtlich der intentionalen Vernichtung eigener oder fremder Schriften ist im ersten Fall das Resultat durchgreifender als im zweiten, in dem aufgrund von Abschriften oder hinreichend vielen Druckexemplaren nahezu immer nur von einer symbolischen Vernichtung gesprochen werden kann. Die bekanntesten Formen einer intentionalen Zerstörung von Schriften sind das Abschaben und Überschreiben (Palimpsest) aus Mangel an Schreibmaterialien, das Zerreißen und Einstampfen von Büchern (Makulatur) zur Herstellung neuen Papiers oder zur Bereinigung (Deakzession) von Bibliotheksbeständen sowie die Bücherverbrennung. Der Vernichtung fremder Bücher können einzelne Exemplare, die Schriften bestimmter Autoren oder ganze Bibliotheken bzw. Teile ihrer Bestände zum Opfer fallen. Die bekannteste Form des intentionalen Biblioklasmus ist die Bücherverbrennung. Während die Quellenlage zum Brand der Bibliothek von Alexandria widersprüchlich ist45, finden Bücherverbrennungen in Europa einen ersten Höhepunkt im Zuge der ersten Leserevolution und der Reformation, insbesondere im Kontext der Inquisition.46 Die kultisch-rituell inszenierten Bücherverbrennungen in 22 deutschen Universitätsstädten am 44 Vgl. Körte/Ortlieb (Hrsg.): Verbergen – Überschreiben – Zerreißen; Fuld: Das Buch der

verbotenen Bücher.

45 Vgl. ebd., S. 57–60. 46 Vgl. ebd., S. 64–67, 119–123.

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Perspektiven  edieren

10. Mai 1933 waren Bestandteile einer rassenpolitisch motivierten Aktion, zu der die Deutsche Studentenschaft aufgerufen hatte.47 Verbrannt wurden Bücher von jüdischen, marxistischen und pazifistischen Schriftstellern. Zur Annihilation von Büchern trägt nicht zuletzt die Zensur bei.48 Mit dem Ende der DDR entfiel eine von der Zensur erzeugte Bücherordnung und es entstand Büchermüll, der dann fallweise als Kulturgut gerettet worden ist.49 Zu den wichtigsten Zensurfaktoren der Gegenwart gehört neben dem Persönlichkeits- und dem Jugendschutz v. a. die Gesundheitsvorsorge.50 Bücher, in denen geraucht oder getrunken wird, haben es fortan schwer. PERSPEKTIVEN  Die Praxis des Edierens sieht sich heute mit dem Umstand

konfrontiert, dass jedem beliebigen Schreiber – unabhängig von der Reichweite seines Singularisierungsbegehrens – ein digitaler Editor zur Verfügung steht, der ihn unterstützt. Das führt zu einer fundamentalen Veränderung im Bereich der Editionsszenarien. Den Versuch einer produktiven Verschränkung von Edieren und Editieren unternimmt das 1999 begründete digitale Editionsprojekt zu Karl Gutzkow.51 Ziel des Projektes ist eine Gesamtausgabe der Werke und Briefe des Autors in Form einer unterschiedliche Medien koppelnden Hybrid-Ausgabe. Texte und Kommentare werden sukzessive online veröffentlich, in die digitale Gesamtausgabe eingepasst und bei Bedarf auch wieder revidiert. Für die Revisionen werden nach strengen Regeln Herausgeberrechte vergeben. Das Editieren wird damit als tendenziell unabschließbare Dynamisierung des Edierens greifbar, eine Öffnung, die strukturell aufgefangen werden muss. Neben den selektierenden und distribuierenden Funktionen des Edierens geraten angesichts der Möglichkeiten, die das Editieren eröffnet, auch seine koordinierenden und konstruktiven Leistungen in den Blick. So erlaubt es

47 Vgl. ebd., S. 90–103. 48 Vgl. Plachta: Zensur. 49 Vgl. Wegmann: Bücherlabyrinthe, S. 92–96. Zu Bücherverboten in der DDR vgl. Fuld: Das

Buch der verbotenen Bücher, S. 262–280.

50 Vgl. ebd., S. 329. 51 Siehe: Editionsprojekt zu Karl Gutzkow. Unter: http://projects.exeter.ac.uk/gutzkow/

Gutzneu/index.htm [aufgerufen am 03.08.2014].

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Forschung  edieren

etwa die digitale Briefedition, einzelne Texte, deren Überlieferungsträger häufig diffus auf unterschiedliche Archive verteilt bewahrt werden, als Elemente eines kommunikativen Zusammenhangs zu präsentieren. Die digitale Brief­ edition konstituiert eine Konfiguration von Einzeltexten, die als Grundlage für die Analyse distinkter kultureller Formationen dienen kann. Für die deutsche Romantik etwa bietet sich eine solche Edition geradezu an.52 Die dynamische Einheit der Differenz von Edieren und Editieren ist heute auch auf der Ebene einiger Studiengänge zur leitenden Perspektive geworden.53 An der Bergischen Universität Wuppertal wird etwa der Master-Studiengang Editions- und Dokumentwissenschaft angeboten, der philologische und informationswissenschaftliche Themen und Inhalte integriert.54 In diesem Studiengang werden in klassischer Weise editionswissenschaftliche Grundlagen vermittelt (Text-, Werk- und Autorbegriff, Ausgabentypologie, etc.) und Methoden und Praktiken des Edierens eingeübt. Zu den Wahlpflichtmodulen des Studiengangs gehören aber auch das elektronische Publizieren, die Edition von multimedialen Dokumenten und die digitale Medienproduktion. FORSCHUNG   Eine Geschichte der Mediengebrauchsform edieren hätte in systematischer Perspektive nach den Regularitäten zu fragen, die über die einzelnen, historisch belegten und in auffälliger Weise durch technische Entwicklungen motivierten Einschnitte im Prozess des Edierens hinaus den Zusammenhang von Singularisierung und Multiplikation des Hervorgebrachten bestimmen. Dabei geht es v. a. um „die Funktions- und Gegenstands­ bedingtheit der Edition.“55 In einer eher praxeologischen Perspektive wären die medialen Settings und Voraussetzungen des Edierens eingehender zu analysieren.56 Welches Material wurde wie gebraucht? Wie sahen Editionsszenen aus? So macht

52 Vgl. am Beispiel der Korrespondenz Jean Pauls: Böck: „Der wahre Brief ist seiner Natur nach

poetisch“ (Novalis). In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, S. 146–175.

53 Vgl. Nutt-Kofoth: Editionsphilologie. In: Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft, S. 4. 54 Vgl. Homepage der Editions- und Dokumentationswissenschaft der Bergischen Universität

Wuppertal. Unter: http://www.edw.uni-wuppertal.de [aufgerufen am 03.08.2014]. 55 Nutt-Kofoth: Editionsphilologie. In: Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft, S. 7. 56 Vgl. Kammer: Konjekturen machen (1690–1770). In: Bohnenkamp et al. (Hrsg.): Konjektur und Krux, S. 53–84.

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Literaturempfehlungen  edieren

es etwa einen Unterschied, ob ein Text in Ton, auf Papyrus, Pergament oder Papier überliefert ist, ob er geritzt, geschrieben oder getippt wurde. In Zeiten der Digitalisierung erfährt auch das Phänomen der ‚Materialität‘ neue editionstheoretische Aufmerksamkeit. Dabei kann sich die editoriale Praxis einerseits auf ein Spezialwissen von den „chemischen und/oder im weitesten Sinne physikalischen Eigenschaften der (Bestandteile der) Überlieferungsträger“57 berufen, über das sie seit jeher verfügt (Realienkunde). Andererseits gilt es mit Blick auf die digitalen Architekturen, wie auf die medienkulturwissenschaftliche Öffnung der Philologien solche editorischen Auszeichnungen von Materialität zu entwickeln, die eine kultur- und sozialgeschichtlich orientierte Kontextforschung unterstützen. Nicht zuletzt würde eine kultur- und medienhistorisch informierte Geschichte des Edierens die aktuellen Bemühungen um eine Historisierung der Editionsphilologie sinnvoll ergänzen.58 LITERATUREMPFEHLUNGEN Kelemen, Pál/Szabó, Ernő Kulcsár/Tamás, Ábel (Hrsg.): Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten, Heidelberg

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EINRICHTEN CHRISTINA BARTZ

mäßigen Fernsehprogramms in Deutschland, veröffentlichen Karl Tetzner und Gerhard Eckert unter dem Titel FERNSEHEN OHNE GEHEIMNISSE einen Ratgeber zum richtigen Mediengebrauch. Die Publikation adressiert den nicht professionellen Fernsehinteressierten, dem sie u. a. einen Einblick in den Umgang mit dem zu diesem Zeitpunkt noch eher unbekannten Empfangsgerät gibt und das Für und Wider einer Anschaffung erläutert. Einer der ersten Hinweise betrifft dabei die richtige Positionierung des Gerätes: Wenn Ihr Rundfunkhändler Ihnen einen Fernsehempfänger in die Wohnung bringt, überlegen sie sich gut, wo er ihn hinstellen soll. [...] Er darf nicht so stehen, daß Ihre spielenden Kinder bei jeder Gelegenheit mit dem Ellenbogen in die Bildröhre geraten [...]. Er darf vor allem nicht so stehen, daß Sie nichts richtig sehen können. [...] Eine alte Erfahrung lehrt, daß man einen vollkommenen Eindruck vom Fernsehen hat, wenn der Empfänger nicht mitten im Zimmer steht [...], sondern an einer Wand. [...] Wenn Sie also eine freie Stelle an der Wand gefunden haben, an die Sie den Empfänger stellen wollen, sollten Sie darauf achten, daß Sie ohne große Mühe auch die erforderlichen Stühle und Sessel in richtiger Entfernung in der Nähe haben. [...] Seien Sie so klug und wählen Sie den Platz für Ihren Empfänger gleich von Anfang an so, daß Sie ohne umständliche Umbauten in Ihrer Wohnung die Fernsehsendungen verfolgen können. Es ist auch gut, wenn ein kleines Tischen irgendwo in greifbarer Nähe ist. Denn schließlich muß ja der Aschenbecher irgendwo stehen. [...] Lassen Sie sich aber einen guten Rat geben: benützen Sie dieses Tischen [...] nicht etwa dazu, um Ihr Abendessen einzunehmen. [...] [D]ie Hausfrau schätzt es verständlicherweise gar nicht, wenn Sie den von ihr zubereiteten Mahlzeiten so wenig Ehre antun.1

E

Anekdote  einrichten

ANEKDOTE  1954, also zwei Jahre nach dem offiziellen Sendestart eines regel-

Der Ratgeber diskutiert also Fragen der Gestaltung des Wohnzimmers angesichts des Einzugs des Fernsehens, dem – so legen es viele Formulierungen im

1 Tetzner/Eckert: Fernsehen ohne Geheimnisse, S. 14–16.

195

Etymologie  einrichten

Text nahe – mit einem starken Empfinden von Fremdheit begegnet wird. Der Ratgeber dokumentiert damit zum einen die Irritation angesichts des neuen Gerätes im eigenen Haus und damit mittelbar auch die Investition, die damit verbunden ist, das Fernsehen selbst zu einem gewohnten und nicht mehr eigens reflektierten Gegenstand des häuslichen Milieus zu machen; seine Gegenwart und seinen Gebrauch also mit dem Moment der Natürlichkeit auszustatten.2 Zum anderen zeigt er, wie der Mediengebrauch in Abhängigkeit von der Einrichtung der Medienumgebung im Sinne eines Zusammenspiels von Raumfunktion, Möbeln, Mediennutzer und eben Medienapparatur gedacht bzw. praktiziert wird und im Zuge dessen wie sich Gewöhnung und Habitualisierung des Umgangs mit dem Gerät mittels einer passenden, verstanden als Störung reduzierenden Anordnungen vollzieht. Tetzner und Eckerts Buch kann als ein solches Dokument des praktizierten Umgangs mit dem Fernsehen gelesen werden, da es an die häuslichen Routinen der Adressaten anschließen will, indem Alltagsszenen (spielende Kinder) sowie gängige Bedürfnisse (Rauchen) aufgegriffen werden und weil es durch eine direkte Ansprache des Lesers Vertrautheit schafft. Der Adressat des Textes ist jedoch rein männlich, denn die Hausfrau wird als Bestandteil der häuslichen Umwelt des Gerätes entworfen. Sie ist hier ein Element des häuslichen Ensembles, auf das beim Einrichten der Wohnung Rücksicht zu nehmen ist.3 Im Mittelpunkt der Einrichtungsfrage angesichts neuer Medien steht also die Idee eines spezifischen, hier männlichen, Rezipienten sowie einer bestimmten Rezeptionsweise, die durch die Gestaltung der Medienumgebung gewährleistet werden soll. ETYMOLOGIE  Das Wort einrichten meint maßgeblich, einen Raum mit

Einrichtungsgegenständen, Möbeln und Geräten ausstatten, ist aber nicht auf diese Bedeutung beschränkt.4 So hat es seinen Ursprung im medizinischen Bereich, in dem es im Sinne von ‚einrenken‘ verwendet wird, also: „ein

2 Vgl. Elsner/Müller: Der angewachsene Fernseher. In: Gumbrecht/Pfeiffer (Hrsg.): Materia-

lität der Kommunikation, S. 392f.

3 Vgl. Bartz: Normativité et normalité du discours allmand sur la télévision dans les années

1950. In: Berton/Weber (Hrsg.): La Télévision du Téléphonoscope à YouTube, S. 197–211. 4 Vgl. (Art.) einrichten. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, S. 467; vgl. (Art.) einrichten. In: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 970.

196

E

Kontexte  einrichten

verrenktes Glied wieder in seine gehörige Lage bringen.“5 In dieser Bedeutung geht es auf das Verb ‚richten‘, das meint „recht, gerademachen, in eine Richtung bringen [...], in Ordnung bringen“, aber auch „gestalten, herrschen, regieren, Recht sprechen“6, zurück und wird in vielen Kontexten wie Hausbau und Rechtssprechung verwendet. Insofern bedeutet ‚einrichten‘ auch die Gestaltung bzw. Umformung eines Ensembles im Hinblick auf einen „Endzweck“ bzw. eine „gehörige Richtung“7 und konnotiert damit auch ‚passend anordnen‘. Passend ist hier gleichermaßen normativ als auch normalistisch zu verstehen: Es geht also gleichermaßen um eine Handlungsanweisung, die sich auf ein zu erreichendes Ideal oder Ziel (z. B. der intendierten Mediennutzung) bezieht, wie um eine Vorgabe, die sich aus bisherigen Handlungen und Gewohnheiten herleitet. Diese normative wie normalistische Bedeutung – also: das richtige Arrangement wählen – verliert sich bis heute nicht im Zusammenhang mit der Gestaltung von Innenräumen; steht hier doch die Anordnung des Mobiliars im Sinne der Funktionsbestimmung des Raumes im Mittelpunkt. Für die Analyse des Mediengebrauchs ist gerade dieser Aspekt von zentraler Bedeutung, wie der eingangs eingeführte Titel von Tetzner und Eckert deutlich macht: Vorgestellt wird eine Anordnung, die auf die Praktikabilität beim Mediengebrauch bei gleichzeitigem Erhalt der bisherigen Funktionsbestimmung des Wohnzimmers als Ort des familiären Zusammentreffens abhebt. KONTEXTE   Einrichten verstanden als Arrangement von Raumelementen

bezieht sich jedoch nicht nur auf den privaten Wohnbereich, sondern ist gleichermaßen anwendbar auf den Arbeitskontext inkl. der dazugehörigen Speicher- und Kommunikationsmedien, die unter der Maßgabe der zu erfüllenden ökonomischen und bürokratischen Aufgabe angeordnet werden8 – ein in der Medienwissenschaft bisher wenig bearbeitetes Feld. Daneben bezieht sich einrichten aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive auf öffentliche

5 (Art.) einrichten. In: Adelung, Sp. 14.129; siehe auch: (Art.) einrichten. In: Grimm, Sp. 250. 6 (Art.) richten. In: Pfeifer, S. 1126. Siehe auch (Art.) richten. In: Duden. Herkunftswörter-

buch. Etymologie der deutschen Sprache, S. 674f.

7 (Art.) einrichten. In: Adelung, Sp. 14.129. 8 Vgl. o.A.: Kulturgeschichte des Büros. In: Stolte (Hrsg.): Museumsführer, S. 80–95.

197

Kontexte  einrichten

Räume der Medienrezeption wie Kino und Theater. Hier ist das Wort zwar nicht gleichermaßen gebräuchlich, markiert jedoch eine wichtige Praxis der Raumgestaltung hinsichtlich eines bestimmten Ziels. Zu denken ist dabei beispielsweise an die Schaffung eines aufwendigen Interieurs von Kinosälen in den 1910er Jahren mit dem Ziel, das Kino mit einem dem Theater gleichwertigen Prestige auszustatten.9 In diesem Zusammenhang deutet sich darüber hinaus die Bedeutung von einrichten bezogen auf Institutionen an und meint dann in etwa ‚etablieren‘ oder ‚institutionalisieren‘. Der letzte medienwissenschaftlich interessante Verwendungskontext ist die Bezeichnung der Anpassung von Medienapparaturen an die Bedürfnisse des Nutzers, so das Einrichten des Computers10 durch das Installieren von Programmen. Während sich die Begrifflichkeit des Installierens dabei eher auf die einzelnen Programme, die geladen werden, bezieht, richtet sich einrichten verstärkt auf den Rechner als Zusammenspiel von Hardware und Software.11 Zugleich lassen sich beide Wörter nicht klar unterscheiden, scheint es sich doch bei einrichten um eine Übersetzung des englischen ‚to install‘ zu handeln, das zunächst mit ‚installieren‘ wiedergegeben wird. So findet das Wort einrichten erst Mitte der 1980er Jahren Eingang in die Beschreibungen der Handhabung des Computers,12 während das deutsche ‚installieren‘– wenn auch sehr selten – bereits in den späten 1970er Jahren in deutschsprachigen Computerdebatten präsent ist, wie eine Sichtung der frühen Ausgaben der Zeitschrift Chip, die erstmalig 1978 erscheint, zeigt.13 Geht es dagegen um die Anpassung des Computers an die Bedürfnisse des Nutzers, wird zunächst eher das Wort ‚einstellen‘ verwendet, aber auch dies anfänglich nur vereinzelt.14

9 Vgl. Merritt: Nickelodeon Theatres 1905–1915. In: Balio (Hrsg.): The American Film In-

dustry, S. 97–100; siehe auch Butsch: From Storefronts to Theaters. In: Ders. (Hrsg.): The Making of American Audiences, S. 158–172. 10 Vgl. (Art.) einrichten. In: Duden. Deutsches Universalwörterbuch; siehe als Beleg bspw. Knight: Einrichten eines neuen PC. Unter: http://windows.microsoft.com/de-de/windows7/ take-the-hassle-out-of-getting-started-setting-up-a-new-pc [aufgerufen am 18.09.2013] 11 Vgl. (Art.) Installation. In: Bachmann (Hrsg.): Kleines Lexikon der Computerfachbegriffe, S. 114. 12 Vgl. o.A.: Btx im Arbeitsspeicher. In: Chip (1985), S. 86. 13 Vgl. o.A.: Spielpartner Computer. In: Chip (1979), S. 36. 14 Vgl. o.A.: Apple III. In: Chip (1981), S. 26.

198

KONJUNKTUREN   Die Praxis des Einrichtens findet sich durchgängig und

15 16 17 18

E

Konjunkturen  einrichten

wird mit der Einführung je neuer Medien des Heimgebrauchs zum Thema entsprechender Begleitdebatten – so auch beim PC, der sich unauffällig in „die häusliche Umgebung einfügen“15 soll. Dass dann aber ab 1985 zusätzlich von einrichten im Hinblick auf die Installation und Einstellung von Software die Rede ist, lässt sich vermutlich auf die gleichzeitige Einführung von Innovationen im Bereich der Software und Benutzeroberflächen zurückführen. So arbeitet zu dieser Zeit nicht nur die Firma Apple an der Entwicklung sogenannter integrierter Operationssysteme, die einzelne, vom Anwender ausgewählte Programme zusammenführt. Eine Leistung dieser Systeme besteht u. a. in der Vereinheitlichung des Zugriffs auf die Programme, dass also „ähnliche Kommandos für ähnliche Funktionen“ benötigt werden, was „das Erlernen einer solchen Software wesentlich erleichtert.“16 Die so erreichte Benutzerfreundlichkeit der Anwendung wird beim Macintosh durch den sogenannten Desktop-Manager als eine Kombination der „Maus-Symbol-Technik“ (die Möglichkeit, Symbole per Maus anzuklicken, anstatt einen Befehl per Tastatur einzugeben) und „Fenstertechnik“ (die Möglichkeit, verschiedene Dateien gleichzeitig auf dem Bildschirm anzuzeigen), gesteigert.17 Die auf dem Bildschirm erscheinenden Symbole orientieren sich dabei an der Einrichtung des Büros, wie gerade anhand des Papierkorb-Symbols immer wieder verdeutlicht wird. Aber auch „Arbeitsmittel – Notizblock, Taschenrechner, Bleistift, Radiergummi und Ablage – werden nachgebildet, und zwar so, daß er [der Anwender] für die Bedienung des Computers nichts Neues lernen muß.“18 Es lässt sich vermuten, dass dieser Skeuomorphismus – also die Orientierung des (Interface-)Designs an vertrauten Objekten, in diesem Fall an den Dingen des Büros – auch sprachliche Effekte hat, insofern Begrifflichkeiten zur Benennung von bürogebundenen Tätigkeiten, wozu auch das Einrichten des Arbeitsplatzes gehört, auf die Anwendung von Computerprogrammen übergreifen, so dass sich die Formulierung vom Einrichten des Computers verstanden als die weitgehend nutzerangepasste Installation von Software durchsetzt. o.A.: Verschiedene Ziele angepeilt. In: Chip (1984), Nr. 4, S. 6 Kulzer: Fenster, Mäuse und Symbole. In: Chip (1984), Nr. 6, S. 60. Ebd., S. 56f. o.A.: Verschiedene Ziele angepeilt. In: Chip (1984), Nr. 4, S. 65.

199

Gegenbegriffe  einrichten

GEGENBEGRIFFE  Eine Gegenbegrifflichkeit zu einrichten zu benennen, die

eine entgegengesetzte Praxis meint, ist nur schwer möglich. Der Grund ist, dass sich die Praxis des Einrichtens immer auf ein Ziel, einen bestimmten zu erreichenden Zustand bezieht. Ein mögliches Gegenteil ist damit über ein konträres Ziel bzw. die Ablehnung des benannten Zwecks bestimmt. Letzteres impliziert dann auch die Aufhebung der angestrebten Ordnung im Sinne von durcheinander bringen, chaotisieren oder auch stören der Ordnung. PERSPEKTIVEN  Inwiefern der Mediengebrauch in direktem Zusammen-

hang mit dem Einrichten, also der Gestaltung und Möblierung von Räumlichkeiten steht, lässt sich anhand des Fernsehapparates als Bestandteil der Wohnzimmereinrichtung zeigen: Das Wohnzimmer der 1950er Jahre ist ein paradoxer, weil eher funktionsloser Raum. Die Funktionslosigkeit steht zum einen im Gegensatz zu der geringen Größe der meisten Wohnungen der Zeit und zum anderen zu seiner zentralen Bedeutung. Die Bedeutsamkeit des Wohnzimmers begründet sich darin, dass bis ins beginnende 20. Jh. Wohnungen häufig keine Funktionszuschreibungen zu einzelnen Räumen kennen, sondern ein Raum alle Funktionen vereint. Dies ändert sich erstens mit der Auslagerung der Arbeit aus dem Wohnbereich, der nun dem Privatem vorbehalten ist, und zweitens der Trennung von Wohn- und Schlafraum, wobei die dazugehörigen Inventarstücke im Schlafzimmer verbleiben und das Wohnzimmer weitgehend leer sowohl die Möblierung als auch die Funktion betreffend zurückbleibt. Die Trennung dieser beiden Räume wird auch in den beengten Wohnverhältnissen der Nachkriegszeit beibehalten, u. a. durch tägliches und geschicktes Umbauen des Zimmers gemäß der Tag- und Nacht-Funktion, so dass die jeweils andere Funktion unsichtbar wird.19 Dieses Vorgehen wird auch für den Fernseher relevant, der in den 1950er Jahren meist in eigenen Truhen und Schränken untergebracht und so dem Auge während des Nicht-Gebrauchs entzogen wird. So wie das Bett tagsüber durch die Unterbringung hinter einer Verkleidung invisibilisiert werden soll, wird auch der Fernseher während der Nicht-Nutzung verdeckt

19 Vgl. Warnke: Zur Situation der Couchecke. In: Habermas (Hrsg.): Stichwort zur ‚Geistigen

Situation der Zeit‘, S. 674; sowie Dresler: Hauptsache gemütlich! (DVD).

200

E

Perspektiven  einrichten

(was verwundert, handelt es sich beim Fernsehgerät in den 1950er Jahren doch um ein Prestigeobjekt, das Wohlstand zum Ausdruck bringt, und es liegt damit eher nahe, es zur Schau zu stellen). Hier manifestiert sich ein Beharren auf die Funktionszuschreibung von Räumen jenseits der faktischen Wohnumstände, das dazu führt, dass wandelbare Möbel in der Zeit so üblich sind, dass auch das Fernsehen in diese Mode eingefügt wird. In großen Wohnungen erfolgt eine letzte Funktions- und Möbelentleerung des Wohnzimmers mit dem Auszug des Esstischs in das Esszimmer. Nicht zuletzt das Zitat von Tetzner und Eckert mit seinem Hinweis auf die Essen hereinbringende Hausfrau macht aber deutlich, dass in den 1950er Jahren diese Funktionstrennung eher ein Ideal denn Wohnrealität ist. Solchen Gegensätzen von Wohnvorstellungen und -realität zum Trotz wird das Wohnzimmer als ein Raum bzw. Raumteil gesehen, dem nichts außer Wohnen zukommt. Diese Wohnsondersphäre, der anfänglich weder Funktion noch Möbel zugeordnet sind, wird durch die Couchecke gefüllt. Sie ist eine in sich „geschlossene Zelle“20, die etwas zurückgezogen in Wandnähe positioniert und z. B. durch einen Teppich und durch ein Bild visuell als eigene Sphäre markiert wird. Diese gegen die Außenwelt abgegrenzte Sondersphäre soll Behaglichkeit und Geborgenheit bereithalten. Ihr Inventar bestehend aus Sofa, Stühlen und Tisch entnimmt die Couchecke dem Salon des 19. Jhs., dessen Einrichten unter der Maßgabe der Organisation der Kommunikation geschah (– ein Aspekt, der sich auch in der Folge im Kontext der Wohnungseinrichtung nicht verlieren wird). Dort waren sie kommunikative, dem Raum zugewandte und zum Teil auch mobile Möbel und insofern sie Kommunikation organisieren auch Medien. Ihre Mobilität verlieren diese Möbel weitgehend mit der Couchecke. Die kommunikative Funktion der Möbel bleibt unterdessen erhalten, dient sie doch nun dem kommunikativen Haushalt der Familie. Damit ist jedoch weniger ein entsprechendes Bedürfnis benannt, vielmehr handelt es sich um eine Art Übungsrahmen, der sich „aus der Erfahrung jener Dingkonstellation“21 ergibt. Das Einrichten der Couchecke geschieht also unter der Prämisse, dass sie als 20 Warnke: Zur Situation der Couchecke. In: Habermas (Hrsg.): Stichwort zur ‚Geistigen Si-

tuation der Zeit‘, S. 675; vgl. auch Häußermann/Soebel: Soziologie des Wohnens, S. 54f.

21 Warnke: Zur Situation der Couchecke. In: Habermas (Hrsg.): Stichwort zur ‚Geistigen Si-

tuation der Zeit‘, S. 677.

201

Perspektiven  einrichten

Kommunikationsgebot fungiert und Ausdruck von Behag- und Gemütlichkeit ist. Letzteres manifestiert sich gerade in der geringen Höhe der Anordnung, die im Gegensatz zur korrekten und aufrechten Sitzhaltung am Esstisch steht. Der Sitz- und Verhaltensmodus ist bequem und zurückgelehnt. Der Fernseher, genauer seine Anordnung im Raum, korrespondiert damit: Die Höhe der freistehenden Geräte und Fernsehtruhen wird an die Couchgarnitur angepasst. Insofern ist das sogenannte passive ‚Lean back‘22 des Fernsehens, das sich inzwischen als mediale Interaktionsroutine habitualisiert hat und dessen Ende angesichts der Rezeption von Bewegbildinhalten mittels Computer gefeiert wird, der Übertrag der Funktionslogik der Couchecke auf das Fernsehen, das dort positioniert wird. Ein spezifischer Verhaltensmodus der Umwelt des Fernsehens, der durch die Raumgestaltung gefordert wird, formiert dessen Gebrauch.23 Zugleich stellt das Fernsehen eine Herausforderung für die Anordnung der Couchecke dar, kaum dass sie sich in den 1950er Jahren etabliert hat, da es ihre Geschlossenheit aufbricht, indem die Sitzmöbel nun in Richtung des Empfangsgerätes ausgerichtet werden. Diesen Prozess der Öffnung – also der Neuordnung der Wohnungseinrichtung angesichts des Fernsehens – hat prominent Günther Anders unter dem Schlagwort ‚negativer Familientisch‘ beschrieben. Er beklagt damit, „daß das soziale Symptommöbel der Familie: der massive, [...] die Familie um sich versammelnde Wohnzimmertisch seine Gravitationskraft einzubüßen“24 beginne, so dass sich die Familie nun nicht mehr vermittelt über den Tisch einander zuwende und in einen Austausch trete, sondern sich zum Fernsehen ausrichte. Diese kulturkritische Klage erhält mit Rekurs auf die Geschichte der Wohnmöbel und ihrer Anordnung eine eigenartige Wendung, ist doch das von Anders sogenannte Symptommöbel Wohnzimmertisch gerade das, was den Einschluss der Familie in das eigene Heim repräsentiert. Der Wohnzimmertisch ist gerade Symptom des

22 Vgl. O’Rourke: TV Vieving on the Rise: Get Editing! In: Videomaker, S. 8. 23 Vgl. in diesem Zusammenhang Walter Seitters Überlegungen zur medialen Qualität von

Möbeln: Seitter: Möbel als Medien. In: Hackenschmidt/Engelhorn (Hrsg.): Möbel als Medien, S. 19–32. 24 Anders: Die Welt als Phantom und Matrize. In: Ders: Die Antiquiertheit des Menschen 1, S. 105f.

202

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Forschung  einrichten

Einschlusses der Familie, für die er das Übungs- und Lehrsetting bereithält. Bemerkenswert ist jedoch v. a., dass aufgrund der spezifischen Umorganisation des Wohnzimmers das Fernsehgerät dort seinen Platz findet und darüber an die Couchecke gebunden wird. Wohnzimmer bzw. Couchecke dienen in den 1950er Jahren ausschließlich der Kommunikation und im Übrigen der Aufbewahrung von Nippes. Mit dem Fernsehen erhält das Wohnzimmer eine neue Funktion, nämlich als eine Art Mediennutzungszimmer – finden doch auch weitere Medien wie der Schallplattenspieler dort ihren Platz. Dieser wird ggf. noch angereichert mit einer umfangreichen Schallplattensammlung, die – so weiß man spätestens seit der Umstellung auf CD – entscheidend zur Wohnatmosphäre beiträgt und als aussagekräftiges Dekorelement der Wohnungseinrichtung wirkt. Das funktions- und möbelreduzierte Wohnzimmer wird mittels Medien des Heimgebrauchs wieder gefüllt und dabei werden die Medien und Möbel zu einem passenden Setting zusammengefügt. Spielkonsolen verändern das Ensemble erneut, denn mit ihrem Einzug entwickelt das Fernsehen gleichsam selbst eine Gravitationskraft, insofern mittels des Kabels für den Controller die Couchecke zu dem Gerät zusammengezogen wird. Eine Gegenbewegung findet mit der Einführung der bewegungsintensiven Wii statt, die gerade einen Freiraum vor dem Fernsehapparat benötigt und damit die Sitzmöbel wieder auseinander oder an den Rand des Zimmers drängt.25 Solche Entwicklungen sind aber selbst wieder eingeschrieben in Veränderungen des Wohnzimmers, das zunehmend in Auflösung begriffen ist. Mediengebrauch verstanden als habitualisierte Interaktionsroutine ist also zum einen nicht unabhängig von Praktiken des Einrichtens zu denken, gerade wenn man Medien als technische und gestaltete Apparate versteht. Zum anderen – so hat das Beispiel des Tisches gezeigt – manifestiert sich in der Einrichtung aber auch die mediale Funktion von Möbeln. FORSCHUNG  Die Praxis des Einrichtens findet – gerade als Einzelmedien

übergreifenden und den Mediengebrauch bestimmenden Untersuchungsgegenstand – bisher kaum medienwissenschaftliche Beachtung. Wohl gibt es

25 Vgl. Giddings/Kennedy: „Incremental Speed Increases Excitement“. In: Television & New

Media, S. 166f.

203

Forschung  einrichten

Studien zu Einzelmedien, die deren Gestaltung fokussieren.26 Andere bieten einen Überblick zu Einzelmedien und gehen im Zuge dessen auch auf die Positionierung im Raum ein.27 Darüber hinaus sind erstens die feministischen Arbeiten von Lynn Spigel hervorzuheben, die sich mit den Entwürfen und Praktiken des familiären Zusammenlebens in amerikanischen Vorstädten der Nachkriegszeit sowie deren Veränderungen durch das Fernsehen befassen. Dazu zieht Spigel Haushaltsmagazine für Frauen heran und befragt sie u. a. danach, welche Einrichtungsvorschläge sie für Probleme, die im Zusammenhang mit Familie und Fernsehen debattiert werden, enthalten.28 Wie im eingangs eingeführten Beispiel steht auch in Spigels Arbeit das Fernsehen als Störung des häuslichen Zusammenlebens im Mittelpunkt. Im Zuge des Versuchs der Überwindung der Probleme mittels der Veränderung des heimischen Interieurs werden gemäß Spigel ‚Gebrauchsweisen‘29 des Fernsehens definiert. Zweitens ist der ethnografisch orientierte Domestizierungsansatz zu nennen, wie er federführend von Roger Silverstone, Eric Hirsch und David Morley im Projekt Household Use of Information und Communication Technology entwickelt wurde und der Medienaneignungsprozesse im Kontext alltäglicher häuslicher Routinen, wie sich u. a. in der Wohnungseinrichtung manifestieren, untersucht.30

26 Vgl. Schönhammer: Telefon-Design. In: Bräunlein/Flessner (Hrsg.): Der sprechende Kno-

chen, S. 59–82; Konwisorz: Design – Radio als Möbel. In: Boehncke/Crone (Hrsg.): Radio Radio, S. 53–62; Ketterer: Radio, Möbel, Volksempfänger; Lavin: TV Design. In: Geller (Hrsg.): From Receiver to Remote Control: The TV Set, S. 84–89. 27 Vgl. z. B. zum Fernsehen Hickethier: Der Fernseher. In: Rupper (Hrsg.): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank, S. 172–177; Ellis: Fernsehen als kulturelle Form. In: Adelmann et al. (Hrsg.): Grundlagentexte der Fernsehwissenschaft, S. 46f.; Newman/Levine: Fernsehbilder und das Bild des Fernsehens. In: montage AV, S. 21–28. 28 Vgl. Spigel: Make Room for TV: Television and the Family Ideal in Postwar America; siehe auch dies.: Media Homes: Then and Now. In: International Journal of Cultural Studies, S. 385– 411; dies.: Fernsehen im Kreis der Familie. In: Adelmann et al. (Hrsg.): Grundlagentexte der Fernsehwissenschaft, S. 214–256; dies.: Welcome to the Dreamhouse; dies.: TV by Design. 29 Vgl. dies.: Fernsehen im Kreis der Familie. In: Adelmann et al. (Hrsg.): Grundlagentexte der Fernsehwissenschaft, S. 215. 30 Vgl. Morley/Silverstone: Domestic communication – technologies and meaning. In: Media, Culture & Society, S. 31–55; Siehe auch zu einer Übersicht Hartmann: Roger Silverstone: Medienobjekte und Domestizierung. In: Hepp/Krotz/Thomas (Hrsg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies, S. 304–315; Röser: Der Domestizierungsansatz und seine Potenziale zur Analyse alltäglichen Medienhandelns. In: Dies (Hrsg.): MedienAlltag, S. 15–30.

204

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Literaturempfehlungen  einrichten

Insbesondere Morley sieht dabei teilweise dezidiert von Medieninhalten oder Produktions- wie Verbreitungsformen ab. Er versteht die Empfangsgeräte als ‚physische Präsenz‘31 mit symbolischem Gehalt und als möbelgleichen Bestandteil der kulturell geprägten Wohnungseinrichtung.32 Unter einer solchen Perspektive gerät dann auch beispielsweise die Fernsehanschaffung von Sri Lankern, deren Haushalte nicht über eine Stromversorgung verfügen, in den Blick.33 Produktiv zu machen für die Frage des Wechselverhältnisses von Wohnungseinrichtung und Medien des Heimgebrauchs ist neben den Arbeiten Spigels und Morleys des Weiteren die jüngere Designforschung, die sich mit der historischen Entwicklung des Interieurs beschäftigt und dabei fordert, Gestaltung als Dinggebrauch sowie als alltägliche Praxis zu verstehen und an die material culture studies anzuschließen, die Artefakte als symbolische und soziale Praktiken untersuchen.34 Die Designforschung in dieser Modellierung ist von Interesse, da sie die Betrachtung von Medienapparatur nicht als Ausgangspunkt der Untersuchung wählt, sondern konsequent von der Frage des Einrichtens ausgeht. Darüber lässt sich – wie im Anwendungsbeispiel deutlich wurde – ein neuer Zugriff auf Fragen des Mediengebrauchs gewinnen. LITERATUREMPFEHLUNGEN Attfield, Judy: Design as Practice of Modernity. A case for the Study of the Coffee ­Table in

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FASZINIEREN BRIGITTE WEINGART

ANEKDOTE   In den Notizen für ein Seminar über Proust und die Photogra-

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Anekdote  faszinieren

phie, das er aufgrund seines Unfalltods nicht mehr halten sollte, formuliert der französische Literaturwissenschaftler und Semiologe Roland Barthes ein für den akademischen Kontext ungewöhnliches didaktisches Programm: Das „tiefere, ernsthafte Interesse“1, das die Beschäftigung mit Paul Nadars (Sohn des berühmten Künstlerfotografen) Porträts von Personen leiten sollte, die Marcel Proust persönlich gekannt hatte, richte sich nämlich nicht etwa auf eine „begriffliche Arbeit“2, sondern darauf, „eine Intoxikation hervorzurufen, eine Faszination, eine dem Bild eigentümliche Wirkung“3. Das ist offenbar nicht nur so dahingesagt – Barthes weiß, wovon er spricht, wenn er dafür plädiert, dass sich die Teilnehmer von den Bildern, denen das Seminar gewidmet ist, faszinieren lassen: Das Ziel des Seminars ist kein intellektuelles: Sie sollen sich dem Zauber, dem schleichenden Gift einer Welt ergeben, so wie ich mich von diesen Bildern und Proust sich von seinen Originalen verzaubern ließ. Fasziniert sein = nichts mehr zu sagen haben: ‚Man scheitert daran, über das zu sprechen, was uns fasziniert.‘4

Mit dem Stichwort des „Zaubers“ wird nicht nur die Herkunft des Wortes ‚Faszination‘ aus dem Diskursfeld der Magie angesprochen; auch die ‚schleichende Vergiftung‘ hat in den historischen Bemühungen, die magische Übertragung auf okkulte (d. h. ‚im Dunkeln liegende‘), als solche jedoch grundsätzlich nachvollziehbare Ursachen zurückzuführen, einen festen Platz. Dass Barthes die Faszination überdies als spezifische Wirkung des Bildes beschreibt, wird ebenfalls durch die Geschichte des Begriffs bestätigt, auch wenn sich diese Kopplung an visuelle Medien im Wortgebrauch der Gegenwart tendenziell verflüchtigt hat. 1 Barthes: Proust und die Photographie. In: Ders.: Die Vorbereitung des Romans, S. 466. 2 Ebd., S. 463. 3 Ebd., S. 466. 4 Ebd.

209

Etymologie  faszinieren

ETYMOLOGIE  Etymologisch ist faszinieren dem lat. fascinare (behexen,

bezaubern) entlehnt, das wiederum auf das griech. Verb baskaíno (βασκαίνω) rückverweist. Als Substantiv wurde baskanía (βασκανία) außer für die ‚üble Nachrede‘ für Phänomene der ‚Behexung‘ generell, insbesondere aber für die ‚Verzauberung durch den bösen Blick‘ verwendet; dieser wurde in der Antike vornehmlich auf den Neid zurückgeführt. Die Verbindung mit der Vorstellung vom „Augenzauber“5 wird durch die Verwendung von Amuletten zur Abwehr des bösen Blicks bestätigt, deren phallusförmige Variante als fascinum bezeichnet wird. Das Verb fascinare bezieht sich demnach gleichermaßen auf die visuelle Verzauberung wie auf die ihrerseits ‚magischen‘ Gegenmaßnahmen; überdies gehört der Gebrauch von Amuletten zu den seltenen Fällen, in denen das Faszinieren als mediale Praxis affirmiert (und nicht nur Anderen – etwa vermeintlichen Hexen, aber auch Tieren wie dem legendären Basilisken oder der Klapperschlange – als destruktive Fähigkeit unterstellt) wird. Die mög­liche Skepsis gegenüber solchen Vorstellungen und Praktiken als ‚Aberglauben‘ sowie die Konnotationen des ‚Banns‘ und der ‚Fesselung‘ – „[d]er Faszinierte ist wie mit unsichtbarer Schlinge gebunden“6 – begünstigen, dass die Rede von der fascinatio mitunter ins Metaphorische changiert. Mit der Entwertung von magischem Denken und dem Glauben an Hexerei im Zuge der Aufklärung setzt im ausgehenden 17. Jh. eine generelle Überlagerung der buchstäblichen Bedeutung des Begriffs durch seinen metaphorischen Gebrauch ein: Wie das gesamte Begriffsfeld des ‚Zaubers‘ steht die Faszination nun vornehmlich für Phänomene einer ‚unerklärlichen Anziehung‘ ein, die außer von Personen auch von Objekten und nicht zuletzt von Kunstwerken ausgehen kann und die sich – ganz im Sinne von Barthes’ Eingeständnis, ‚nichts mehr zu sagen [zu] haben‘ – ihrer diskursiven Einholung widersetzt. Eine Verwendung im engeren Sinne der magischokkulten Bedeutung als „Augenzauber“ wird in der Moderne zum Privileg von Spezialdiskursen, etwa über den Mesmerismus oder die Hypnose, die im Engl. und Frz. häufig als ‚fascination‘ bezeichnet wird.

5 Vgl. Seligmann: Der böse Blick und Verwandtes, S. XV, 4f. 6 (Art.) Faszination. In: Hoffmann-Krayer/Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des

deutschen Aberglaubens, Sp. 1264.

210

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Kontexte  faszinieren

Die eigenwillige begriffsgeschichtliche Entwicklung – vom visuell induzierten Schadenszauber mit Krankheits- oder gar Todesfolge zur eher positiv konnotierten sinnlichen Überwältigung – kann allerdings die Ambivalenzen, die mit dem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Fasziniertem und Faszinosum einhergehen, nicht vollständig verdecken. Entsprechend lassen sich auch im modernen Wortgebrauch negative Verwendungsweisen beobachten, wobei sich diese häufig auf eine v. a. in den dämonologischen Diskursen und Hexereitraktaten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit etablierte Bedeutungsfacette beziehen, die die fascinatio mit den ‚teuflischen‘ Machenschaften der Augentäuschung und ‚Verblendung‘ assoziiert. Als Symptom für die anhaltende Resonanz seiner weniger harmlosen Vorgeschichte kann auch der volksetymologische Kurzschluss des Faszinationsbegriffs mit dem des Faschismus gelten, der jedoch von jenem ‚Rutenbündel‘ (lat. fascis: Bündel) der Liktoren abgeleitet wird, welches diese als die obersten Machthaber des Römischen Reiches ausweist. Allerdings kommt auch diesem ebenso phallischen wie abschreckenden Objekt, das die Ausübung konkreter Gewalt in Aussicht stellt – zusammen mit einem Beil werden die Ruten von einem Band zusammengehalten, das auch zur ‚Fesselung‘ verwendet werden kann – durchaus ein Faszinationspotenzial im buchstäblichen Sinne zu. KONTEXTE  Kennzeichnet den vormodernen Faszinationsbegriff seine magi-

sche Bedeutung als visuelle Verzauberung, so bezieht sich dies vornehmlich auf den bösen (und insbesondere neidischen), mitunter aber auch auf den erotischen Blick; in diesem Fall wird in der Regel die körperlich-sexuelle Begehrlichkeit eines geradezu ‚übergriffigen‘ Blicks hervorgehoben, dem im platonischen Denken und seinen Filiationen der als ‚vergeistigt‘ idealisierte Liebesblick gegenübergestellt wird. So wird etwa bei Marsilio Ficino, als einem der einflussreichsten Vertreter einer neoplatonisch geprägten magia naturalis, die „gemeine Liebe“ (amor vulgaris) auf die fascinatio bzw. das mal d’occhio zurückgeführt und als Ergebnis einer körperlichen Ansteckung (contagio) konzeptualisiert, als deren Übertragungsmedium die aus dem Auge austretenden „Lebensgeister“ (spiritus) zu gelten hätten.7 In dieser Idee des

7 Vgl. Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, VII. 4–12, S. 320–349.

211

Kontexte  faszinieren

ansteckenden Blicks hat Barthes’ metaphorischer Kurzschluss der Faszination mit der „Intoxikation“ durch ein „schleichendes Gift“ einen buchstäblichen Vorläufer. Schon Plutarch hatte in seinem Tischgespräch über die baskanía eine kanonische Beschreibung der Faszination als Kontagion vorgelegt und ihre fatalen Folgen mit der pneumatheoretisch bzw. humoralpathologisch unterfütterten Idee ‚gewisser Ausströmungen‘ begründet, die – wie bereits in Platons PHAIDROS beschrieben – zwischen Betrachter und Betrachtetem einen buchstäblichen Kontakt herstellen.8 Für eine solche natürliche Erklärung des vermeintlichen ‚Augenzaubers‘ stellen antike Sehtheorien insofern ideale epistemische Bedingungen bereit, als der Blick als Medium nicht nur optischer Informationen, sondern auch der Affektübertragung gilt. Generell stellt sich das Kausalitätsproblem, das die bascanía/fascinatio als rätselhaftes Phänomen der Fernwirkung für diejenigen ihrer Verteidiger aufwirft, die sich nicht tout court auf die ‚Magie‘ des Phänomens (d. h. hier: auf seine Unerklärlichkeit) berufen, als Medialitätsproblem dar. Die Frage nach der Übertragung zwischen Subjekt und Objekt des Sehens provoziert entsprechend unterschiedliche Hypothesen über das Medium des Blicks im physikalischen Sinne, ist doch die Plausibilisierung der actio in distans auf den nachvollziehbaren Nachweis einer Vermittlungsinstanz (bzw. -substanz) angewiesen. Damit wird gleichzeitig die Bestimmung als Fernwirkung als solche entkräftet, die ja gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass ein einwirkender Körper (agens) „auf einen von ihm räumlich getrennten Körper (patiens) ohne Vermittlung eines dazwischenliegenden Körpers (medium) eine Wirkung ausüben [kann]“.9 Die Vorstellung vom faszinierenden Blickkontakt als Kontagion – vorzugsweise durch die von starken Affekten in Bewegung versetzten, mitunter ‚verdorbenen‘ spiritus, die wiederum mit anderen okkulten Kräften in Verbindung stehen – erweist sich diesbezüglich als besonders hartnäckiger Erklärungsansatz. Weit über die Entkräftung der Vorstellung vom ‚aktiven Auge‘ hinaus gestalten sich die Versuche, die fascinatio auf natürliche Ursachen zurückzuführen und damit zu entmystifizieren

8 Vgl. Plutarch: Vermischte Schriften, V.7, S. 192–199; Platon: Phaidros. In: Sämtliche Werke,

S. 539–609, 250d–252c (S. 572–574).

9 Jammer: (Art.) Fernwirkung. In: Ritter, Sp. 933.

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Kontexte  faszinieren

bis ins 18. Jh. vornehmlich als Variationen der Ansteckungshypothese, deren Plausibilitätsanspruch überdies von Girolamo Fracastoros 1546 vorgelegter Theorie der Ansteckung durch unsichtbare Krankheitskeime (seminaria contagionis) profitieren konnte. Doch nicht nur Renaissance-Magi wie Agrippa von Nettesheim, Paracelsus oder Giambattista della Porta, deren Interesse an einer natürlichen Begründung der visuellen Verzauberung dem Selbstverständnis als Vertreter einer magia naturalis entspricht, greifen auf dieses Erklärungsmodell zurück. Auch in dämonologischen Traktaten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in denen die durch den Blick vermittelte Fernwirkung als ‚schwarze Magie‘ denunziert wird, die sich dem Bund mit dem Teufel verdankt, wird für ihre Plausibilisierung ein enormer argumentativer Aufwand betrieben: Da dem Teufel und seinen dämonischen Helfershelfern die Macht abgesprochen wird, tatsächliche, also ‚übernatürliche‘ Wunder zu vollbringen (die allein Gott vorbehalten ist), müssen sich ihre Machenschaften innerhalb der Grenzen der natürlichen Ordnung bewegen und können bestenfalls ‚präternatürliche‘ Wirkungen zeitigen. Entsprechend wird der Teufel nicht nur als natürlicher, sondern auch als optischer Magier und fascinator dargestellt, der sich vorzugsweise der ‚Augentäuschung‘ bedient und die vermeintlichen Wunder nur simuliert. Erscheint bereits in einem autoritativen Kommentar Thomas von Aquins zum Thema die fascinatio als eine Aktivität, die sich der Übertragung durch „vergiftete“ spiritus verdankt, wie sie vorzugsweise von boshaften alten Weibern auf zarte Kinderkörper ausgeht, so wird bereits an dieser Stelle eine Beteiligung der Dämonen an diesem Vorgang insinuiert – eine Spekulation, die nicht nur in dem berüchtigten HEXENHAMMER (Malleus Maleficarum, 1486), sondern auch in anderen ideologischen Kampfschriften im Dienste der Hexenverfolgung als Tatsache dargestellt wird.10 Dass faszinieren in der christlichen Dämonologie auch im Sinne von ‚verblenden‘ verwendet wird, unterstreicht den Befund, dass sich die Irritationen und Ängste, die in den vormodernen Diskursen über die fascinatio zum Ausdruck

10 Vgl. Aquin: Summa theologica I.117; Institoris (= Kramer): Der Hexenhammer – Malleus

Maleficarum, I.2, S. 158ff. Für die Kritiker des Hexereiglaubens vgl. Wier (= Weyer): De praestigiis, bes. II.17–22; Scot: The Discoverie of Witchcraft, XVI.8–10.

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Kontexte  faszinieren

kommen, letztlich auf einen verstörenden Anblick des Anderen beziehen, dessen affektive Wirkungen kompensatorisch dessen (bösem oder anderweitig irritierendem) Blick zugeschrieben werden. Die Tradition dieser Verwechslung lässt sich bis zum Mythos der Medusa zurückverfolgen, geht doch von ihrem schrecklichen Anblick eine petrifizierende Macht auf den Betrachter aus, welche in der Rezeptionsgeschichte als Effekt ihres feindseligen, bösen Blicks umgedeutet wurde. Dass sich Perseus des abgeschlagenen Medusenhaupts dann seinerseits als eines ‚faszinierenden‘ Schreckbilds bedient, verweist auf die mediale Logik des Amuletts, in der Barthes’ Beschreibung der Faszination als einer ‚dem Bild eigentümlichen Wirkung‘ bereits in nuce angelegt ist. Der paradigmatische Status des Visuellen – in den Worten Francis Bacons: „Fascination is ever by the eye“11 – ist auch für die moderne Verwendung des Faszinationsbegriffs zu veranschlagen, obwohl sich bereits in den dämonologischen Debatten eine Ausweitung auf andere Sinneskanäle beobachten lässt und auch Wort, Klang und Berührung als Medien der fascinatio diskutiert werden. Die Verflüchtigung der im engeren Sinne magischen Bedeutung des Begriffs, die im 18. Jh. mit einem Rückgang seines Gebrauchs zugunsten der unspezifischeren Metaphorik des ‚Zaubers‘ einhergeht, leitet die bis heute gängige Verwendung im Kontext ästhetischer, sinnlicher und medial vermittelter Erfahrungen ein. Aus der aufklärerischen Perspektive Immanuel Kants stellt sich die fascinatio als „Augenverblendnis“ dar, die der Widerspruch von sinnlicher Wahrnehmung und Verstandesurteil kennzeichnet und die als „Betrug“ von der als solche durchschauten Illusion unterschieden wird12 – eine Definition, die die negativen Konnotationen des Begriffs im Kontext der Ideologiekritik des 20. Jhs. antizipiert. Die Literatur der Romantik setzt solches „Blendwerk der Sinne“ (Kant) vorzugsweise als Effekt optischer Medien bzw. der „natürlichen Magie der Einbildungskraft“13 in Szene, wobei die Einsicht in die Natürlichkeit der Vorgänge ihr epistemisches und emotionales Verstörungspotenzial nicht notwendig relativiert. Das romantische Projekt einer ‚Wiederverzauberung‘ der Welt bezieht sich insofern auch auf den faszinierenden 11 Bacon: Sylva Sylvarum. In: Montague (Hrsg.): The Works of Francis Bacon, S. 129. 12 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 13, S. 37ff. 13 Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft. In: Sämtliche Werke, S. 195–

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Blickkontakt, als dieser als durchaus unheimliches Phänomen evoziert wird, in dem sich die optische mit einer affektiven (und häufig erotischen), in jedem Fall aber nicht vollständig erklär- und kontrollierbaren Übertragung verbindet, wie insbesondere die Szenarien visueller Verzauberung bei E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck verdeutlichen. Dabei wird die Vorstellung einer durch den An-/Blick induzierten unwiderstehlichen Anziehung nicht zuletzt durch die Revitalisierung des Magnetismus durch Franz Anton Mesmer gestützt, zu dessen spektakulären Heilmethoden neben dem Handauflegen (‚Manipulation‘) die Hypnose gehört. Als Bezeichnung für einen hypnotischen Zustand, der Manipulationen im ideellen Sinne begünstigt, begegnet der Faszinationsbegriff in der einflussreichen Massenpsychologie Gustave Le Bons wieder, auf die sich auch Sigmund Freud bezogen hat. Gibt Le Bon zu bedenken, dass die „geistige Ansteckung“ (contagion mentale) innerhalb der „Menge“ womöglich durch „Ausströmungen, die von ihr ausgehen“14, übertragen werden könnte, so kommt Freud bei der Suche nach dem „Bindemittel“15, das die Individuen in der Masse zu einer Einheit verknüpft, sein multifunk­tionales Libido-Konzept zugute. Dass er zur Plausibilisierung seiner Theorie der Massenfaszination dennoch gelegentlich auf die Idee einer „psychischen Infektion“16 zurückgreift, weist darauf hin, dass die Beschreibung der Faszination als Kontagion bzw. Vergiftung nun ihrerseits jenen metaphorischen Status erreicht hat, den Barthes’ Rede von der ‚Intoxikation‘ belegt. Freuds Bestimmung der Faszination als „verliebte Hörigkeit“17 unterstreicht neben der libidinösen Komponente die konstitutive Asymmetrie des zugrundeliegenden Machtverhältnisses und dokumentiert den zunehmend passivischen Gebrauch des Begriffs, wohingegen die zugehörige Aktivität der emotionalen Ansteckung im (para-)psychologischen Kontext eher mit dem „Zauberwort der Suggestion“18 beschrieben wird. Noch die massenpsychologischen Bemühungen, die Medialität der rätselhaften Übertragung als „Bindemittel“ zu bestimmen, weisen, obwohl sie nicht mehr

Le Bon: Psychologie der Massen, S. 18. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: Studienausgabe, S. 68. Ebd., S. 100. Ebd., S. 106. Ebd., S. 83, Herv. i. O.

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primär auf die optischen Effekte gerichtet sind, insofern strukturelle Analogien zur Verwechslung von Blick und Anblick auf, als sie die Wirkung der medialen Inszenierung von Macht und des ‚gewaltigen Auftritts‘ weitgehend vernachlässigen (das gilt auch für die bekannte Analyse des nationalsozialistischen „Massenwahns“ im Anschluss an Freud als kollektive Ersetzung des Ich-Ideals durch den ‚Führer‘19). Aus religionsgeschichtlicher Perspektive hat Rudolf Otto 1917 eine Beschreibung der für die Begegnung mit dem Heiligen charakteristischen ‚überbegrifflichen‘ Gefühlsreaktionen vorgelegt, die sich rationaler Erklärungsversuche enthält und „das Fascinans“20 als Widerpart des ‚Schauervollen‘ (tremendum) bestimmt, mit dem es eine „seltsame Kontrast-harmonie [sic!]“21 eingeht. Mit der Grundierung der von der Übermacht des Numinosen ausgehenden Anziehung durch den Schrecken setzt Otto zwar erneut die genealogisch verbürgten Ambivalenzen des Faszinationsbegriffs ins Recht. Indem er jedoch die Faszinierbarkeit als religiöses Urgefühl zum Anthropologicum erklärt, wird sie der Funktionsbestimmung im Kontext konkreter Machtverhältnisse ebenso enthoben wie der Analyse ihrer medialen Bedingungen. Gegen solche Verklärung, mit der auf einer säkularen Ebene die „Verinnerlichung äußerer Gewalt“22 und keineswegs ‚naturgegebener‘ Herrschaftsbeziehungen korreliert, richten sich – nicht zuletzt unter dem Eindruck der „Faschisierung des bürgerlichen Subjekts“23 – die Bemühungen marxistischer Prägung um eine ideologiekritische Perspektive. Sie zielen darauf ab, Faszination als Ergebnis von Manipulationen im Dienste der von Marx beschriebenen „Kapitalmystifikation“24 zu entlarven, wie sie sich u. a. in der Logik des Warenfetischs manifestiert. Die „neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst“25, auf die Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG die „Regression der Massen“ zurückführen, ist 19 Vgl. Mitscherlich/Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. 20 Otto: Das Heilige, S. 14. 21 Ebd., S. 42. 22 Türcke: (Art.) Faszination. In: Haug et al. (Hrsg.): Historisch-Kritisches Wörterbuch des

Marxismus, Sp. 189.

23 Haug: Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts. 24 Marx: Das Kapital, S. 405. 25 Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 43.

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demnach das Produkt einer protofaschistischen und ‚betrügerischen‘ Kulturindustrie, deren charakteristische Verfahrensweisen als „Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt“26, beschrieben werden. Im Einklang mit dieser Aktualisierung der Täuschungs- und Manipulationssemantik wird im Kontext einer KRITIK DER WARENÄSTHETIK die Fähigkeit zu faszinieren zum zen­ tralen Operationsmodus einer „Technokratie der Sinnlichkeit“27 erklärt: „Wer die Erscheinung beherrscht, beherrscht vermittels der Sinne die faszinierten Menschen“28. Indem sie den ‚mittelbaren‘ Zugriff auf Subjekte fokussiert, rückt diese Perspektive mit der Ästhetik von Waren auch die Verfahren ihrer medialen Inszenierung als Sinnessteuerung durch die „Illusionsindustrie“29 in den Blick; Faszination meint dann „nichts anderes, als dass diese ästhetischen Gebilde die Sinnlichkeit von Menschen gefangen halten“30. Auch seitens der Ideologiekritik wird die Faszination, die Barthes ausdrücklich als Wirkung des Visuellen bestimmt, also zumindest implizit als Adressierung des Sehsinns gedacht. Bei Barthes jedoch wird die Entmächtigung des faszinierten Subjekts – ‚sich dem Zauber ergeben‘, heißt es in den Vorlesungsnotizen – nicht etwa den Steuerungsinteressen eines Systems und seiner Agenten zugeschrieben, sondern dem (Bild-)Medium selbst unterstellt. Dieses Kontingenzmoment, das Barthes der faszinierenden Wirkung des Bildes bzw. des Visuellen auch an anderen Stellen seines Werks zuschreibt und das die Fiktion einer vollständigen Manipulierbarkeit und Kontrolle konterkariert, kennzeichnet, dass es weder auf Seiten des Subjekts noch auf der des Objekts eindeutig zu verorten ist. Wie seine Bild- und Blickauffassung generell lässt sich das eigentümliche Changieren der Faszinationseffekte zwischen subjektiver Empfänglichkeit einerseits und der spezifischen Wirkung des wahrgenommenen Objekts andererseits auf das Erbe der Lacanschen Psychoanalyse und das Theorem der „Spaltung von Auge und Blick“31

26 Ebd., S. 129. 27 Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 72. 28 Ebd., S. 30. 29 Ebd., S. 189. 30 Ebd., S. 72. 31 Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 73.

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Kontexte  faszinieren

zurückführen, das Lacan unter expliziter Bezugnahme auf die Idee des „fascinums“ entwickelt hat.32 In Lacans als subjektkonstitutive Disposition entworfenem Szenario überkreuzt sich das Sehen mit dem Gesehenwerden, wobei der ‚Blick zurück‘ vom Augenmotiv entkoppelt wird und als objet a auf die „Kehrseite des Bewusstseins“33 verweist. Aus dieser Perspektive erscheint die Faszination als Erfahrung eines Gegen-Blicks, der – als Platzhalter eines verlorenen, unmöglichen Objekts, das den Fluchtpunkt subjektiven Begehrens markiert – ebenso Erfüllung verheißt, wie er auf einen fundamentalen Entzug verweist. Da sich Auge und Blick jedoch notwendig ‚verfehlen‘, erweist sich jede Befriedigung, die sich aus ihrer vermeintlichen Koinzidenz ergibt, als ‚trügerisch‘34 – eine Schlussfolgerung, die mit der Diagnose einer für den Blickkontakt konstitutiven Verkennung wiederum die Semantik der Verblendung bestätigt. Wenn Barthes in seinem späten Fotografie-Traktat DIE HELLE KAMMER die Wirkung des „punctums“ einer Fotografie beschreibt als „jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)“35, so klingen darin nicht nur die vormodernen Vorstellungen eines buchstäblichen Blickkontakts an, sondern auch Lacans Konzept des Blicks. Ob als punctum, als ‚dritter Sinn‘, der den Fotogrammen Eisensteins abgelesen wird36 oder als „filmische Faszination“37: Bei Barthes verbindet sich die Bereitschaft, sich durch Medien faszinieren zu lassen, mit dem Eingeständnis eines Kontingenzmoments und eines Mehrwerts, der sich – als unerklärliches ‚gewisses Etwas‘ – der semiologischen Analyse entzieht. Wiederum ideologiekritisch gewendet, begegnet das psychoanalytische Blickmodell hingegen in der feministischen Analyse der phallozentrischen „Faszinationsmuster“ des klassischen Erzählkinos.38 Demnach resultiert die „Magie des Hollywood-Stils“ aus der „Manipulation der

32 Ebd, S. 125. 33 Ebd., S. 90. 34 Vgl. ebd., S. 109. 35 Barthes: Die helle Kammer, S. 36. 36 Vgl. Barthes: Der dritte Sinn. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn,

S. 47–66.

37 Barthes: Beim Verlassen des Kinos. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache, S. 375. 38 Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Weissberg (Hrsg.): Weiblichkeit als Maske-

rade, S. 48, 53.

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KONJUNKTUREN  Dass die fascinatio als Vorstellung und vermeintliche Pra-

xis in den christlichen Dämonologien eine Konjunktur erfährt, verdeutlichen die Differenzierungsbemühungen, die der Jesuit Martín del Rio in seinem viel rezipierten Magietraktat vornimmt: Der populären fascinatio als bloßem Aberglauben an den bösen Blick und der natürlichen ‚Ansteckung‘, bei der es sich nur um eine metaphorische Verwendung des Begriffs handele, wird hier als die ‚eigentliche‘ Bedeutung die dämonische Faszination gegenüberstellt.42 Noch in medizinischen Traktaten des 17. Jhs. kursiert die fascinatio als prominente Ursache ‚angezauberter‘ Krankheiten.43 Del Rios Versuch, die Semantik des Begriffs um die seines Erachtens illegitime, weil ebenfalls nur metaphorische Verwendung für Augentäuschung und Illusionierung zu bereinigen, kann nicht verhindern, dass seine weiteren Konjunkturen mit Neuerungen im Bereich der optischen Magie und der (audio-)visuellen Medien zusammenfallen: Steht Kants Kommentar zur fascinatio als ‚Augenverblendnis‘ unter dem Einfluss der spektakulären laterna magica-Projektionen, die schon in der jesuitischen Medienpraxis zum Einsatz kamen, um buchstäblich den Teufel an die Wand zu malen und mittels derer im 18. Jh. berüchtigte Geisterbeschwörer wie Johann

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Konjunkturen  faszinieren

visuellen Lust“,39 die mit der Gegenüberstellung des mit der Kameraperspektive kurzgeschlossenen, aktiven männlichen Blicks einerseits und der passiven Position der „Frau als Bild“40 andererseits operiert. Im Unterschied zu solchen vergleichsweise präzisen Verwendungsweisen kursiert der Begriff gegenwärtig vornehmlich als „Unsagbarkeitstopos“, d. h. er dient ganz im Sinne von Barthes’ Vorlesungsnotiz zur „Betonung der Unfähigkeit, dem Stoff gerecht zu werden“41 – eine rhetorische Funktion, die insofern an die ‚Unerklärlichkeit‘ der magischen Übertragung anschließt, als sie ermöglicht, einen Gegenstand als attraktiv auszuweisen, ohne dafür Gründe zu nennen.

39 Ebd., S. 50f. 40 Ebd., S. 55. 41 Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 168. 42 Vgl. Rio: Disquisitionum magicarum libri sex, III.1.4.1, S. 164–171. 43 Vgl. stellvertretend Sennert: Practica medicina VI: Partis Nonae/Teil 9, S. 376–449; From-

mann: Tractatus de fascinatione novus et singularis; Martius: Unterricht von der wunderbaren Magie und derselben medicinischem Gebrauch.

219

Gegenbegriffe  faszinieren

Joseph Gaßner, Johann Georg Schröpfer und Cagliostro die Toten auferstehen ließen, so ist es im 19. Jh. die Fotografie, die zur Konjunktur sowohl okkulter Medialitätsvorstellungen als auch magischer Bild- und Blickauffassungen Anlass gibt. Auch in den Reaktionen auf den frühen Film und das „Kino der Attraktionen“44 werden die Wirkungen des seinerzeit neuen Mediums auf die Zuschauer häufig als ‚faszinierend‘ beschrieben und mit der Hypnose verglichen.45 Mit Bezug auf das Fernsehen setzt sich eine Verwendung des Begriffs durch, die von kulturkritischen Diagnosen eines passifizierenden, womöglich gar ‚verdummenden‘ Gebrauch dieses Mediums dominiert wird – eine Tendenz, die im aktuellen Diskurs über digitale Medienangebote (insbesondere Computerspiele) anhält. In der gegenwärtigen Medienkultur hat sich als Prototyp des faszinierten Subjekts der Fan etabliert, dessen Verhältnis zum bewunderten Objekt als unkritische Hingabe seinerseits häufig Gegenstand von Kritik ist. Gegen dieses Negativimage des Fans, der in seiner Faszinierbarkeit als besonders anfällig für die kommerzielle Ausbeutung durch kulturindustrielle Inszenierungen und Manipulationen gilt, richtet sich die Aufwertung des Fantums insbesondere im Pop-Diskurs und den Cultural Studies als einer subversiven Form der Medienaneignung. In diesem Zusammenhang ist es symptomatisch, dass Barthes in seiner positiven Wendung des Faszinierens zum didaktischen Programm das Publikum als Fangemeinde adressiert, indem er sein Seminar für „die Marcellisten“46 bestimmt. GEGENBEGRIFFE  „‚Nicht-Marcellisten unerwünscht‘ [...]; das Seminar kann

sie nur abgrundtief langweilen“47, so Barthes in seinen Vorlesungsnotizen. Begegnet die Langeweile als Gegenbegriff der Faszination auch im soziologischen Diskurs der 1970er Jahre über „populäre Medien“ und die Wirkung von „Monopolprodukten“48, so ist beiden Zuschreibungen die Unterstellung einer grundsätzlichen Passivität des Rezipienten gemeinsam. Demgegenüber ist es der magischen Genealogie des Faszinationsbegriffs als ‚unerklärlicher‘

44 Gunning: The Cinema of Attractions. In: Elsässer (Hrsg.): Early Cinema, S. 56–62. 45 Vgl. Andriopoulos: Besessene Körper. 46 Barthes: Proust und die Photographie. In: Ders.: Die Vorbereitung des Romans, S. 465. 47 Ebd. 48 Prokop: Faszination und Langeweile, S. 34.

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PERSPEKTIVEN  Wenn Barthes in seinen Vorlesungsnotizen annonciert, sich

bei der Vorführung der Fotografien jeglicher Theoretisierungsversuche zu enthalten und der Unsagbarkeit der Faszination mit einem ‚Beiseite-Sprechen‘ zu begegnen,50 so widerspricht dies nicht zuletzt seinen eigenen Annäherungen an jene vermeintlich ‚unerklärlichen‘ Wirkungen visueller Artefakte (und insbesondere der Fotografie), wie er sie andernorts in seinen Schriften unternommen hat. Sein Beharren auf der Tatsache, dass sich Faszinationseffekte wie das punctum oder der „dritte Sinn“ sowohl auf Verfahren der Inszenierung seitens des Objekts wie auf subjektive Zuschreibungen zurückführen lassen, kann dabei als Korrektiv gegenüber solchen zeitgenössischen Bild- und Visualitätstheorien gelten, in denen die Lacansche These, dass sich „im Bild mit Sicherheit immer etwas Blickhaftes [manifestiert]“51, mitunter Züge eines veritablen Bildanimismus annimmt.52 Des Weiteren hat nicht zuletzt die von Lacans Blicktheorie inspirierte medienwissenschaftliche Forschung gezeigt, inwiefern sich die faszinierende Wirkung auf den Rezipienten etwa der die

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Perspektiven  faszinieren

Fernwirkung des Visuellen geschuldet, dass sich die weiteren Gegenbegriffe vornehmlich auf die als ‚vernünftig‘ und rational nachvollziehbar geltenden Reaktionen auf die Macht des (An-)Blicks beziehen. Aus heutiger Perspektive kontraintuitiv, fungiert im vormodernen Diskurs über die fascinatio auch die von Barthes synonym verwendete ‚Ansteckung‘ insofern als Antonym, als sie zur Plausibilisierung des vermeintlichen ‚Zaubers‘ bemüht wird. Mit Bezug auf die moderne Semantik der ‚unwiderstehlichen Anziehung‘, die von Personen und Objekten bzw. medialen Artefakten ausgeht, sind es v. a. Modi der kritischen Reflexion und Distanzierung, wie sie einer aktiven, mündigen, selbstbeherrschten, kurz: ‚aufgeklärten‘ Mediennutzung zugutegehalten werden, die dem ‚bloßen‘ Sich-Faszinieren-Lassen gegenüberstehen (weshalb ein Begriff wie „Faszinationsanalyse“49 als Oxymoron gelten kann).

49 Weingart: Faszinationsanalyse. In: Echterhoff/Eggers (Hrsg.): Der Stoff, an dem wir hän-

gen, S. 19–29.

50 Vgl. Barthes: Proust und die Photographie. In: Ders.: Die Vorbereitung des Romans, S. 467. 51 Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 107. 52 Vgl. etwa Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an; Mitchell: Das Leben der Bilder;

Bredekamp: Theorie des Bildakts.

221

Fetischisierung begünstigenden Arretierung des Bildflusses in der Großaufnahme, der identifikationsstiftenden ‚Vernähung‘ („suture“) des Subjekts mit dem Gezeigten, der Erzeugung trancehafter Zustände durch mediale Rückkopplungseffekte oder der gezielten Inszenierung von „Glamour“ verdanken.53

Forschung  faszinieren

FORSCHUNG  Die Kultur- und Mediengeschichte des Faszinierens ist

bislang weitgehend unerforscht. Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Gebrauchs des Faszinationsbegriffs als Unsagbarkeitstopos verspricht eine genealogische Perspektive, die seine eigentümliche Geschichte im Sinne einer visuellen ‚Verzauberung‘ mit einbezieht, konkrete Aufschlüsse über Magie als Theorie und Praxis medienvermittelten Affektmanagement und zum Ineinandergreifen von Okkultismus und Mediengeschichte. Gleichzeitig kann eine so perspektivierte Forschung zu einer Genealogie jenes Phänomens beitragen, das in der gegenwärtigen Diskussion unter dem Schlagwort ‚Macht der Bilder‘ verhandelt wird. Auffälligerweise bildet die Vorstellung, dass Bilder sich ihrer Betrachter auf spezifische Weise ‚bemächtigen‘ (und dies zum Leidwesen der Verfechter des Wortes angeblich stärker als Texte), einen gemeinsamen Fluchtpunkt sowohl wissenschaftlicher wie populärer Diskurse über Medienwirkung. Wenn in diesem Kontext das Potenzial von Bildern bzw. (audio-)visuellen Artefakten, ihre Rezipienten ‚in ihren Bann zu ziehen‘, nahezu ‚beschworen‘ wird, so ist dieser ontologisierenden Indienstnahme des Faszinationsbegriffs eine Differenzierung entgegenzusetzen, die mit den jeweiligen situativen und medialen Bedingungen dieser Effekte nicht zuletzt ihre Geschichtlichkeit ins Recht setzt. Einer solchen Programmatik kommt nicht zuletzt zugute, dass die „begriff­liche Arbeit“, die (ausgerechnet) Roland Barthes in seiner Fotografie-Vorlesung zugunsten der faszinierenden Wirkung des Gegenstandes suspendieren wollte, in der Ursachenforschung, die dem verstörenden Phänomen gewidmet ist, als Maßnahme seiner Bewältigung bereits seit der Antike betrieben wird.

53 Vgl. stellvertretend zur Arretierung: Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino; zur „suture“:

Silverman: The Subject of Semiotics, S. 194–236; zur Trance: Holl: Kino, Trance & Kybernetik; zum Glamour: Weingart: „That Screen Magnetism“: Warhol’s Glamour. In: October, S. 33–48.

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Anekdote  fernsehen

hilfe einer technischen Apparatur, einem großen Spiegel, überall in der Welt sehen zu können, was dort im gleichen Moment geschah, als eine Utopie, die ihrem Erfinder Albert Robida1 den Vorwurf eintrug, er sei ein Phantast und seine Vision nichts anderes als eine Spinnerei, obwohl es schon technische Ideen gab, die von „sehenden Maschinen“2 handelten, die sich „Fernsehen“ nannten. Robidas Apparatur, die er in seinem Buch LE XXE SIÈCLE erstmals beschrieb, stand im „Telephonoscope“, einem öffentlichem Raum, ähnlich dem Theater, in der ein großes Bild von einem Publikum betrachtet wurde, auch zum Bild bereits Töne zu hören waren und die Bilder auch schon durch die Betrachter beeinflusst werden konnten. Was als Vision eines veränderten Mediensystems insgesamt erschien,3 nahm viele der späteren Entwicklungen der Medien vorweg, hatte aber in der damaligen Zeit viel stärker einen Bezug zu dem nur zehn Jahre nach Robidas Idee von 1886 entstehenden Kinomedium. Ein Jahrhundert nach Robidas Visionen sind ‚Maschinen‘, die den Menschen in ihre Wohnstuben Bewegtbilder und Töne von den Ereignissen in der Welt liefern, längst alltäglich geworden, außerdem haben sie sich durch das Internet weiter verändert. Vom spektakulären Sehereignis ist der Apparat zu einem vielfältig genutzten Alltagsinstrument und einer gesellschaftlichen Institution geworden. ETYMOLOGIE  Das Wort fernsehen taucht als „fernsehend“ bereits im DEUT-

SCHEN WÖRTERBUCH der Brüder Grimm auf, hier in der Bedeutung von „fern-

sichtig“ („longe prospicieus, fernschauend“), womit ein Sehen in die Zukunft gemeint ist. Neben der Bedeutung von „proheta“ wird es auch bereits im Sinne

1 Vgl. Rottensteiner: Die Zukunft des fin de siècle. In: Burmeister/Steinmüller (Hrsg.): Streif-

züge ins Übermorgen, S. 81–94.

2 Ries: Sehende Maschinen. 3 Vgl. Daniels: Kunst als Sendung, S. 77ff.

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Etymologie  fernsehen

von „telescopium“, über zehn Meilen hinweg sehend, verwendet.4 Goethe nutzt das Adjektiv ‚fernsehend‘ leicht ironisch, um im Bergbau eine „über empirische Beobachtung hinausgehende Sehergabe des Geognosten“ und damit eine Fähigkeit zur Antizipation nachfolgender Befunde“ (im Bergwerk) zu bezeichnen.5 Seit etwa 1900 wird der Begriff nur noch im technischen Sinn verwendet, um als „electrisches Fernsehen“ (oder auch „telegraphisches Sehen, elektrisches Sehen“) eine Wiedergabe von technischen Bildern über weite Entfernungen zu bezeichnen.6 Seit den 1950er Jahren hat sich den Begriff des ‚Fernsehens‘ in zahlreichen Wortverbindungen etabliert, die auf den dominanten Einfluss des Mediums als Leitmedium der gesellschaftlichen Kommunikation zurückführen lässt. So kennt Heinz Küpper in seinem WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN UMGANGSSPRACHE bereits 1958 16 verschiedene Wortzusammensetzung mit „Fernseh-“, wie „fernsehbummeln“ („der Berufsarbeit wegen einer Fernsehübertragung fernbleiben“), „fernsehhocken“ („leidenschaftliches Fernsehzuschauen“) oder „fernsehschnorren“ („Bekannte wegen des Fernsehens zu besuchen, ohne sich selbst einen Fernsehapparat zuzulegen“).7 Diese Wortverbindungen sind jedoch sehr kurzlebig gewesen und stark von bestimmten Erscheinungen in der Zeit der Etablierung des Fernsehens als Massenmedium abhängig. Das Fernsehen ist das Ergebnis einer ‚Technikgeschichte‘ des 19. und 20. Jhs., die davon ausging, dass die Natur wie ein großes Buch lesbar und durch immer neue Technik grenzenlos beherrschbar sei. So entstand auch die Vision, mittels technischer Apparaturen überall hin schauen zu können. Dazu bedurfte es, so die ersten Überlegungen, einer Technik, die Bilder schnell über weite Strecken transportieren konnte. 1884 meldete der Student der Signaltechnik Paul Nipkow in Deutschland das erste Patent auf eine Idee an, Bilder in Lichtpunkte zu zerlegen und diese auf elektrischem Wege über große Distanzen zu vermitteln. 1891 veröffentlichte der Techniker Raphael Edmund Liesegang eine Broschüre über das „electrische Fernsehen“8. Gleichwohl brauchte es fünfzig

4 5 6 7 8

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(Art.) fernsehend. In: Grimm, Sp. 1839f. (Art.) fernsehend. In: Goethe-Wörterbuch, Sp. 668. (Art.) Fernsehen. In: Brockhaus, S. 577. Küpper: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, S. 103ff. Liesegang: Beiträge zum Problem des electrischen Fernsehens.

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Etymologie  fernsehen

Jahre, bis das Fernsehen als ein öffentlich ausgestrahltes Programm regelmäßig auf Sendung ging. Die Vorläufer waren in der Signaltechnik zu finden, doch die Entwicklung des neuen Mediums – wobei es am Anfang nicht klar war, dass es sich um ein Medium handeln sollte – geschah im Kontext der Erfindung anderer neuer Medienerfindungen, die in der Folge die Vorstellungen vom Fernsehen beeinflussten. War zunächst beim Fernsehen vom „Telephotographen“ die Rede (man strebte zunächst die Fernübertragung stehender Bilder an), so wurde nach der Erfindung des Kinos vom „Fernkinematographen“, vor dem Hintergrund der Erfindung des Funks vom „Bildfunk“ und nach der Etablierung des Rundfunks vom „Bildrundfunk“ gesprochen. Mit dem Begriff des Bildrundfunks wurden Ende der 1920er Jahre auch die Vorstellungen von einem Programmmedium übernommen, also einer Kette von unterschiedlichen Angeboten (Sendungen), die von einer gesellschaftlich kontrollierten Institution produziert und ausgestrahlt wurden. Der Begriff des Fernsehens setzte sich durch, weil er sich deutlich genug von Hörfunk-Begriff abhob, den Gegensatz zum Hören betonte und immer wieder das Versprechen eines grenzenlosen Sehens in Erinnerung rief. Dabei wurde und wird jedoch der Fernsehzuschauer nicht als ‚Fernseher‘ bezeichnet, dieser Begriff blieb dem technischen Empfangsapparat vorbehalten, sondern zumeist nur als Zuschauer, womit auch hier das Schauen und Sehen als wichtigstes Merkmal der Fernsehnutzung betont wird. Seit den 1970er Jahren hat sich neben dem Begriff des Fernsehens der ‚Begriff des Fernsehrezipienten‘ durchgesetzt. Er betont das Moment des Empfangens des Gesendeten durch den Zuschauer. Dahinter steht die letztlich eine Auffassung, die den Gebrauch des Fernsehens durch den Zuschauer als einen passiven Vorgang sieht, obwohl wahrnehmungspsychologisch gilt, dass jede Wahrnehmung eines Fernsehangebots einen aktiven Vorgang darstellt. Ist von einem „interaktiven Fernsehzuschauer“ die Rede, soll offenbar das Passive des Zuschauens durch ein besonderes Zuschauerhandeln überwunden werden, so als würden die Menschen dadurch aufmerksamer sehen. Doch ist ein direktes Eingreifen in das Bildschirmgeschehen technisch bislang nicht möglich. Deshalb ist der „interaktive Zuschauer“ eine Wunschvorstellung, die viele heute eher im Internet als im Fernsehen realisiert sehen.

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Kontexte  fernsehen

KONTEXTE  Beim Fernsehen lassen sich unterschiedliche Gebrauchsformen

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unterscheiden. Neben dem Gebrauch, den die Zuschauer als individuelle Nutzer vom Fernsehapparat und seinen Angeboten machen, gibt es auch Verwendungen des Mediums, die die Gesellschaft, vertreten durch ihre Institutionen, entwickelt hat. Diese zeigen sich darin, wie die technische Erfindung, die das Fernsehen von seiner Apparatur her darstellt, gesellschaftlich verfasst wird, welche Erwartungen an das Medium bzw. Befürchtungen ihm gegenüber bestanden und bestehen. In den ‚Formen der gesellschaftlichen Organisation eines Mediums‘ gehen Vorstellungen vom Gebrauch eines Mediums ein, auch wenn sie den Nutzungsvorstellungen einzelner Zuschauer konträr gegenüberstehen. So hat sich mit dem Beginn eines kontinuierlich ausgestrahlten Fernsehprogramms (zuerst ab 1935 durch den Fernsehsender Witzleben in Berlin, ab 1936 durch die BBC in London) die Form verfestigt, wie das Fernsehen als Medium zu betreiben sei. Nicht als ein Instrument zum verbesserten Sehen einzelner (etwa wie ein Fernrohr), sondern als eine gesellschaftliche Institution wie ein Kino oder wie der Hörfunk. Fernsehen wurde deshalb bereits vor Programmbeginn als Rundfunkmedium definiert, das einer Rundfunkins­ titution zugeordnet ist und damit in Deutschland anfangs dem staatlichen Funkmonopol unterstand. Ursache hierfür war die technische Form der Verbreitung von audiovisuellen Angeboten über Radiowellen, vergleichbar der Verbreitung von Hörfunksendungen. Aufgrund der geringen Zahl von Übertragungsfrequenzen (das Fernsehen wurde zumeist im Bereich der UKW-Wellen ausgestrahlt) musste geregelt sein, wer auf diesen Frequenzen überhaupt senden konnte, um kein akustisches und visuelles Chaos zu erzeugen. Weil aufgrund dieser Technik auch eine Fernsehbotschaft von einem Ort aus potenziell alle Menschen in einem Empfangsgebiet im Augenblick der Ausstrahlung erreichte, konnten Sendungen sofort Wirkung zeigen und Macht über die Köpfe der Zuschauer gewinnen. Den Regierungen der Weimarer Republik war deutlich in Erinnerung, dass die Soldaten aus den Funkereinheiten des Heeres 1918 vom Wolffschen Telegraphenbüro in Berlin aus per Funk zur Revolution aufgerufen hatten. Der Aufruf hatte wenig Wirkung gezeigt, nicht zuletzt weil die Bevölkerung zu

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Kontexte  fernsehen

diesem Zeitpunkt noch keine Radioempfangsräte besaß.9 Vom Hörfunk wie vom Fernsehen drohte also den politischen Mächtigen potenziell eine Gefährdung, deshalb schien es in den 1920er Jahren den europäischen Regierungen geboten, die Rundfunkmedien von Seiten des Staates stark zu kontrollieren. Das neue Medium Fernsehen wurde, als es Anfang der 1930er endlich sendebereit war, der bereits staatlichen Organisation des Hörfunkmediums (in Deutschland der Reichsrundfunkgesellschaft) angegliedert und unterstand in der NS-Zeit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und damit Joseph Goebbels.10 Es wurde nur deshalb noch nicht im großen Maßstab (wie Kino und Hörfunk) zu Propagandazwecken eingesetzt, weil das Fernsehen zu diesem Zeitpunkt technisch noch nicht ausgereift war. Nach verschiedenen Versuchen von kollektiven Empfangsformen (wie z. B. in öffentlichen Fernsehstuben in der NS-Zeit, in denen sich bis zu 30 Personen abends kostenfrei eine Stunde Programm ansehen konnten) hat sich weltweit der ‚individuelle Empfang‘ in den privaten Räumen der Menschen durchgesetzt. Erst diese Form hat zur raschen massenhaften Ausbreitung des Mediums nach dem Zweiten Weltkrieg geführt, sodass in Deutschland nach dem Start des ARD-Fernsehprogramms 1952 bereits fünf Jahre später, 1957 die erste Million angemeldeter Geräte zu verzeichnen war und 1970 bereits 80% aller Haushalte ein Fernsehgerät besaßen. In der Fernsehgeschichte nach 1945 hat in unterschiedlichen Formen der gesellschaftlichen Organisation (öffentlich-rechtlich, staatlich, privat-rechtlich) diese Orientierung des Fernsehens am Vorbild des Hörfunks mit seinen verschiedenen Sendeformen zu zahlreichen Angebotsformen, Genres und Gattungen geführt; von Nachrichtensendungen, Dokumentationen, Ratgebern, Live-Übertragungen, Sport- und Unterhaltungssendungen bis zu fiktionalen Formen wie Fernsehspielen und Spielfilmen. Die Vielfalt der Formen und das Prinzip, ein ständig wechselndes Angebot zu liefern, haben zum Eindruck beigetragen, dass das Fernsehen ein umfassendes Bild von der Wirklichkeit liefert.11 In den 1950er bis 1970er Jahren stellt das Fernsehen mit den ab 1963 empfangbaren zwei, später drei Programmen ein ‚familienzentrierendes Angebot‘ 9 Vgl. Dahl: Radio, S. 15ff. 10 Vgl. Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 36. 11 Vgl. ebd., S. 142ff.

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Kontexte  fernsehen

dar, das zudem die Häuslichkeit der Familienmitglieder unterstützte. Fernsehen wurde zunächst und v. a. gemeinsam im Kreis der Familie angesehen. Es dauerte zunächst täglich 2–3 Stunden, ab Mitte der 1950er Jahre nahm der Programmumfang ständig zu und betrug in den 1970er Jahren täglich etwa 18 bis 20 Stunden. Mitte der 1960er ging die Zuschauerforschung davon aus, dass die Fernsehzuschauer durchschnittlich jeden Tag eine Stunde und zehn Minuten fernsahen. Dabei wurde das Fernsehen als neues Medium seit den frühen 1950er Jahren von heftiger Kritik v. a. von kirchlicher, intellektueller und bürgerlicher Seite überzogen, galt es doch als ein Verdummungsinstrument, das die Menschen zerstreue und vom Wesentlichen abhalte. Es galt als ein kulturindustrielles Phänomen, das die ‚eigentliche‘ Kultur vernichte, weil es sie vereinfache und technisch vervielfache. Gerade den vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen bemühten kulturell anspruchsvollen Sendungen wie Theaterübertragungen, dramatische Fernsehspiele etc. wurde von den Kritikern eine Nivellierung der Kultur nachgesagt, weil sie viele kulturelle Hervorbringungen nun tendenziell allen Menschen zugänglich machte und im Programm, im Ablauf des täglich Neuen das jeweils Unvergleichliche und Besondere zerstöre. Gleichwohl erfreute sich das Fernsehen wachsender Beliebtheit bei einem breiten Publikum, war es doch gerade in dieser Verbreitungsfunktion von Kultur ein zutiefst demokratisches Medium, das – nach einem Wahlspruch von sozialdemokratisch geprägten Kulturdezernenten wie Hermann Glaser oder Hilmar Hoffmann „Kultur für alle“ – zu vermitteln versuchte. Der Alltag vieler Zuschauer richtete sich mit Beginn der Fernsehausstrahlung nach und nach auf das Fernsehprogramm aus. Zunächst war dies nur auf den Nachmittag und den Abend beschränkt. Die feste Programmstruktur machte den Zuschauern zeitliche Vorgaben und hatte auf das Zuschauerverhalten einen disziplinierenden Effekt. Wer etwas sehen wollte, musste die Zeiten der Ausstrahlung der Sendung einhalten, individuell war – bis zur Einführung von Videorecordern in den Haushalten in den 1970er Jahren – keine Sendung wiederholbar. Das Fernsehen wurde zum „sozialen Zeitgeber“12. Der Beginn der Hauptnachrichtensendung, der Tagesschau, um 20 Uhr galt als Eröffnung

12 Neverla: Der soziale Zeitgeber Fernsehen. In: Medien und Zeit, S. 1f.

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Kontexte  fernsehen

des Abendprogramms, einzelne Tage mit ihrem stets ähnlich wiederkehrenden Angebot (das tägliche Vorabendprogramm mit der Werbung, Freitagabend der Kriminalfilm, sonnabends die Unterhaltungsshow, sonntags der Frühschoppen, montags das Nachrichtenmagazin usf.) führten zu einer Ritualisierung des Zuschauens. Um 20 Uhr jemanden unangekündigt zu besuchen oder auch nur anzurufen, galt in den 1960er Jahren als ein Sakrileg.13 Das Fernsehen gewann für viele einen quasiliturgischen Charakter. Von einer „medialen Diesseitsreligion“ sprach der Fernsehwissenschaftler Jo Reichartz14, weil auch die Anordnung der Zuschauer vor dem von innen leuchtenden Fernsehapparat dem Empfang einer Verkündigung entsprach. Die Etablierung des Fernsehens führte auch zu räumlichen Veränderungen im privaten Bereich. Das Wohnzimmer, in dem der Fernsehapparat zumeist aufgestellt wurde, organisierte sich um: Die Sitzgelegenheiten um den Wohnzimmertisch wurden zum Fernseher hin geöffnet, das gemeinsame abendliche Zusammensein häufig auf den Fernsehapparat hin ausgerichtet.15 Wurde am Anfang das Fernsehgerät häufig durch ein entsprechendes Dekor an die altdeutsche Wohnzimmereinrichtung angepasst, so verzichteten die Zuschauer nach und nach auf solche Kaschierungen der Technik. Das hinderte jedoch viele nicht, den Fernsehapparat auch zu anderen Zwecken als zum Fernsehen zu benutzen: Der Apparat wurde mit Deckchen und Blumenvasen verziert und diente als Abstellfläche für andere Dinge. Man wollte damit das Technische des Apparates verhüllen und seine eigene private Umgebung nicht durch eine derart als kalt empfundene Technik gefährden. Das Fernsehen suggeriert seit den 1950er Jahren durch seine Sendungen eine Teilhabe an dem, was die Gesellschaft insgesamt bewegt. Dieser Eindruck wurde v. a. durch seinen potenziellen Live-Charakter, den die Übertragungstechnik hervorgebracht hatte, gefördert, dass alles, was das Fernsehen zeigte, im Augenblick der Aufnahme auch tatsächlich geschehen konnte. Damit hatte, gefördert auch durch entsprechende Ankündigungen des Mediums

13 Vgl. Hickethier: Der Fernseher. In: Ruppert (Hrsg.): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank, S. 162–

187.

14 Vgl. Reichartz: Die frohe Botschaft des Fernsehens. 15 Vgl. Warnke: Zur Situation der Couchecke. In: Habermas (Hrsg.): Stichworte zur ‚Geistigen

Situation der Zeit‘, S. 673–687.

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Kontexte  fernsehen

selbst, der Zuschauer den Eindruck, nicht bei Filmaufnahmen, die immer bereits Vergangenes zeigen, sondern bei einem realen Geschehen dabei zu sein. Schien doch gerade die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Vermittlung, vom Empfang und Rezeption jede Beeinflussung der gezeigten Bilder zu verhindern, sprach gerade der Live-Charakter der Bilder für eine gesteigerte Authentizität des Gezeigten. Bis heute werden deshalb Fernsehbilder von vielen Zuschauern nicht für Bilder, sondern für die Wirklichkeit selbst gehalten. Dieser Realitätseffekt kann als ein Merkmal des Dispositivs Fernsehen angesehen werden.16 Fernsehen ermöglichte es, durch seine Verbreitung an potenziell alle Menschen, die ein Empfangsgerät besaßen, auch über das Gesehene am nächsten Tag in den Alltagsgesprächen informiert zu sein und mitreden zu können. Das stiftete Gemeinsamkeiten, ein Gefühl von Zugehörigkeit, erzeugte Identität. Fernsehen vermittelte ein Gefühl von Orientierung in der Welt. In den 1950er Jahren auch mit der Metapher „Fenster zur Welt“ bezeichnet, erzeugte fernzusehen durch die Vielfältigkeit der einzelnen Programmangebote eine medial geprägte und zugleich umfassendere Vorstellung von der Welt. Denn es lieferte durch seinen Programmumfang eine Weltanschauung, die das Kino mit seinen Bildwelten bis dahin nicht geboten hatte. Das Fernsehen überbot den Umfang der vom durchschnittlichen Mediennutzer gesehenen Kinoinformationen zeitlich und inhaltlich um ein Vielfaches, es konnte damit differenzierter und ausführlicher wirken. Der Effekt der Vermittlung von Informationen über die Welt beschränkte sich nicht nur auf die Informations- und Dokumentationssendungen, sondern umfasste auch die Unterhaltungsformen. Teilhabe an der Gesellschaft hieß auch ein gemeinsames Erleben, auch wenn das Publikum nicht räumlich zusammen, sondern zerstreut, dispers war, wie der Kommunikationswissenschaftler Gerhard Maletzke es definierte.17 Die Zuschauer wussten darum, dass Tausende, ja Millionen gleichzeitig auch fernsahen. Fernzusehen schuf eine virtuelle Gemeinschaft. Als 1962 ca. 80% aller Fernsehteilnehmer den mehrteiligen

16 Vgl. Hickethier: Dispositiv Fernsehen. In: montage/av, S. 63–84; auch Stauff: Das neue Fern-

sehen.

17 Vgl. Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation.

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Kontexte  fernsehen

Kriminalfilm DAS HALSTUCH sahen, ging eine Welle der Empörung durch das Land, als der Kabarettist Wolfgang Neuss vor der letzten Folge verriet, wer der Mörder war. Viele Zuschauer fühlten sich um ihr Erlebnis betrogen. Die Fernsehzuschauer betrieben damit in neuer Weise ihre eigene Vergesellschaftung, das Fernsehen wurde zum zentralen Instrument der Medialisierung der Wahrnehmung. Vielfach erschien das im Fernsehen Gezeigte auch wirklicher als die Wirklichkeit zu sein. Wenn etwa bei einer Live-Übertragung eines Fußballspiels dem Zuschauer Bilder aus den unterschiedlichsten Winkeln gezeigt wurden, konnte dieser vom Spiel mehr sehen als wenn er im Fußballstadion selbst anwesend ist. Zudem können durch eine ständig verbesserte Aufnahme- und Bearbeitungstechnik heute in die Live-Bilder Videoaufzeichnungen eingeblendet werden und ein Tor kann mehrfach nacheinander aus verschiedenen Positionen gezeigt werden. Außerdem können in Sekundenbruchteilen grafische Rekonstruktionen über das fotografische Bewegtbild gelegt werden, sodass der Zuschauer mehr vom Spiel erfährt. Das immer noch vom Zuschauer als authentisch geglaubte fotografische Live-Bild ist damit zu einem künst­ lichen technischen Bild geworden, das nur noch begrenzt mit der abgebildeten Wirklichkeit zu tun hat. Mit der Zulassung kommerzieller Fernsehsender neben den öffentlichrechtlichen ab 1984 (dieses Nebeneinander wird seit 1985 als ‚Duales Rundfunksystem‘ bezeichnet) nahm die Zahl der Programme sowie deren zeitlicher Umfang zu (Anfang der 1990er Jahren wurden zahlreiche Fernsehprogramme zu 24-Stunden-Programmen). Diese Sender wurden nun nicht mehr nur terrestrisch (analog über Antenne), sondern auch über Kabel und Satellit ausgestrahlt. Mit der gleichzeitig stattfindenden Durchsetzung der Fernbedienung veränderte sich der Fernsehgebrauch. Das Fernsehen verlor mit der Vervielfachung seiner Angebote seine zentrierende und damit auch gesellschaftlich integrierende Funktion. Die Zuschauer konnten nun nicht mehr sicher sein, dass alle mehr oder weniger das gleiche Angebot sahen. Jeder konnte nun ganz unterschiedliche Zuschauerinteressen verfolgen. Viele Zuschauer entwickelten ein anderes Fernsehverhalten. Sie wechselten mit Hilfe der Fernbedienung in rascher Folge, zappten sich durch die Programme, immer auf der Suche nach noch spannenderen Momenten. Daraus sprach zum einen eine gewisse Müdigkeit an den in der Struktur immer ähnlichen

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Kontexte  fernsehen

Angeboten, zum anderen auch eine gesteigerte Fernseherfahrung, weil durch den umfangreichen und intensiven Gebrauch des Mediums die Zuschauer immer schneller sofort erkannten, welche Angebote ihnen präsentiert wurden. Einige Zuschauer betrieben ein solches Zappen und Switchen zwischen den Programmen in einer kreativen Form und zur eigenen Unterhaltung, bildete sich doch aus der Zappingmontage eine ganz neue eigene Fernsehwelt, in der es zu überraschenden, nicht intendierten Kombinationen von Bildsequenzen kam.18 Der Zuschauer war in solchen Fällen immer auf der Suche nach einer spontan sich ergebenden Addition von Höhepunkten. Das Fernsehen wurde als Sehnsuchtsmaschine genutzt. Und weil nichts schlimmer ist als Langeweile, ist die Kritik an dem Tag für Tag stundenlang genutzten Medium wegen seiner Mittelmäßigkeit, seiner angeblichen Gleichförmigkeit fortdauernd. Viele Zuschauer sahen, so ergab eine Beobachtung des Zuschauerverhaltens kaum noch eine Sendung zu Ende.19 Das Fernsehen wurde offenbar von vielen Zuschauern als eine Unterhaltungsform sich ständig neu wiederholender und gleichzeitig sich überbietender Reize verstanden. Unterhaltungsformen wie Musikvideos oder die schnelle Schnittfolge rasanter Actionfilme reagierten auf derartige Nutzungsformen der audiovisuellen Bilder und integrierten schnelle Schnitte, neue Bildturbulenzen und rasante Kamerafahrten. Zwar gab und gibt es immer noch die Suggestion beim Zuschauer, teilzuhaben an der Kommunikation der Gesellschaft über die Welt, doch verstand man seit den 1990er Jahren den Gebrauch des Mediums als ein Sich-Ankoppeln des Zuschauers an eine Kommunikation, die im Fernsehen stattfand.20 Denn egal wann man als Zuschauer den Fernsehapparat anschaltete und welches Programm man wählte, immer geschah etwas im Programm, wurde diskutiert, gehandelt, etwas gezeigt. Der Zuschauer kam hinzu, durfte dabei sein. In den 1990er Jahren wurde gesellschaftlich ein Problem diskutiert, dass die Dauer der Fernsehnutzung unterschiedlich umfangreich war. Den ‚Wenigsehern‘, die vielfältig auch andere kulturelle Medien nutzten, standen ‚Vielseher‘ gegenüber, die über viel freie Zeit verfügten, die das Fernsehen absorbierte. Dazu 18 Vgl. Winkler: Switching Zapping; auch Jäckel: Fernsehwanderungen. 19 Vgl. Buß: Formen der Programmnutzung. In: Weiß (Hrsg.): Aufgaben und Perspektiven des

öffentlich-rechtlichen Fernsehens, S. 144–154.

20 Vgl. dazu auch Luhmann: Die Realität der Massenmedien.

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Kontexte  fernsehen

zählten nicht nur Hausfrauen und Rentner, sondern auch zahlreiche Arbeitslose. Das Fernsehen hatte hier offensichtlich auch die Funktion, gesellschaftlich überschüssige Zeit abzuschöpfen und damit eine Befriedungsfunktion auszuüben. War es doch bei ähnlich hohen Arbeitslosenzahlen am Ende der 1920er Jahre (und bei zugegeben sehr viel schlechteren Lebensverhältnissen) zu zahlreichen Demonstrationen und Protesten gekommen, die vergleichbar in den 1990er Jahren nicht entstanden. Das Fernsehen zeigte vielen Zuschauern, denen es sozial schlecht ging, v. a. durch die zahlreichen ‚Daily Talks‘ in den privatrechtlichen Programmen, die tagsüber ausgestrahlt wurden und in denen sich die Teilnehmer Gehässigkeiten an den Kopf warfen, dass es anderen Menschen offenbar noch schlechter als ihnen ging. Das trug zu einer Befriedung bei und sicherte das soziale Klima. Die Vervielfachung der Zahl der Fernsehprogramme in den 1990er Jahren führte auch dazu, dass die Fernsehnutzung immer individueller wurde, auch wenn die Hauptprogramme (in Deutschland ARD, ZDF, die Dritten Programme, RTL, Sat1 und ProSieben) immer noch den Hauptanteil der Programmnutzung ausmachen. Fernsehen wurde nun zu einer vereinzelnden Mediennutzung. Damit wurde auch der einmal intendierte Programmzusammenhang aufgesprengt, kaum ein Zuschauer konnte und kann noch das Gemeinsame eines Programmangebots eines Senders als eine gestaltete Einheit erkennen. Damit trat die Bedeutung einzelner Sendungen deutlicher hervor, die Zuschauer nutzten Sendungen vielfach als ‚Marken‘, die sie erkannten. Sie sahen Fernsehsendungen nun nicht nur auf den Fernsehapparaten, sondern auch zunehmend im Livestream auf ihren Computern oder indem sie sich die Sendungen aus den verschiedenen SenderMediatheken abriefen. Das Fernsehen als Zuschauerhandlung konzentrierte sich bei einem solchen ‚Abruffernsehen‘ stärker darauf, nur noch Bekanntes und Vertrautes wahrzunehmen und das Medium nicht mehr zu nutzen, um neue Dinge über die Welt zu erfahren. Fernsehen wurde seit den 1990er Jahren verstärkt zu einem hauptsächlich zu Unterhaltungszwecken genutzten audiovisuellen Angebot. Dazu trugen mit dem Übergang von den analogen schweren Glaskolben-Fernsehgeräten zu den leichteren digitalen Flachbildschirmen die tendenzielle Vergrößerung der Bildschirme und ihre Anpassung an ein Breitbildformat bei. Hinzu kam eine bessere Bildauflösung durch die Digitalisierung der Fernsehübertragung und Fernsehbilderzeugung, die die Bilder – kinofilmähnlich – in HD- und sogar in

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Konjunkturen  fernsehen

3D-Techniken und damit eine stärkere Illusionierung der Zuschauer ermöglichte. Damit wurde das Fernsehen – nicht zuletzt auch durch angeschlossene Zusatzgeräte wie einen DVD-Player – zu einem Heimkino und Kinoersatz. Gleichzeitig bildete sich auch für die spezifischen Fernsehereignisse, z. B. Live-Übertragungen von Fußballmeisterschaften, seit 2006 neue Formen des kollektiven, öffentlichen Zuschauens heraus, die – als „Public Viewing“ bezeichnet – in der Sommerzeit auf öffentlichen Plätzen stattfinden. Für dieses auch als „Rudelgucken“ ironisch bezeichnete kollektive Fernsehen wurde im Deutschen mit „Public Viewing“ ein Wort gefunden, das im Engl. eine öffentliche Präsentation etwa im Sinne einer öffentlichen Aufbahrung eines Toten meint. Doch das Fernsehen ist nicht tot, sondern erfreut sich größter Lebendigkeit. KONJUNKTUREN  War das Fernsehen im Dualismus von öffentlich-recht­lichem

und privatrechtlichem Fernsehen noch heftig umstritten, so erschien es mit der Durchsetzung des Computers und des Internets v. a. seit den 1990er Jahren nur noch ein Angebot neben anderen Bewegtbildangeboten. Hinzu kamen etwa seit 2005 Fernsehprogramme, die als IPTV (Internet Protocoll Television) das Internet zur Verbreitung ihrer Programme nutzten, ohne dass die Zuschauer es immer wissen. Dennoch breitete sich trotz der starke Zunahme der Internet-Verbreitung auch die konventionelle Fernsehnutzung weiter aus. In Deutschland besaßen 2012 98% aller Haushalte ein Empfangsgerät für das Fernsehen und jeder Bundesbürger von einem Alter ab 14 Jahre sah – im statistischen Mittel – jeden Tag dreidreiviertel Stunden fern.21 Insgesamt kam es, allen pessimistischen Prognosen vergangener Jahrzehnte zum Trotz, nicht zu einer Vereinheitlichung der Angebote von Kino, Fernsehen und Computer in einem einzigen Medium der „Audiovision“22, wie Siegfried Zielinski 1989 noch prognostizierte, sondern stattdessen zu einer Diversifizierung der Empfangs- und Abspielgeräte und zu einer Differenzierung der Funktionen im Umgang mit digitalen Text- und Bewegtbildangeboten. Viele Übergänge zwischen den Medien wurden möglich, das Verhalten der Zuschauer im Gebrauch ihrer Geräte flexibler und mobiler, sie wurden souveräner im

21 Vgl. Media Perspektiven Basisdaten: Daten zur Mediensituation in Deutschland 2012, S. 66. 22 Zielinski: Audiovisionen.

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Perspektiven  fernsehen

aktiven Gebrauch ihrer Apparaturen, ohne dass es dabei immer auch zu in der Öffentlichkeit viel beschworenen interaktiven Formen des Gebrauchs der Fernsehangebote kam. Personal Computer, Laptops, dann auch Tablet-PCs, Smartphones und andere Geräte können heute Fernsehsendungen zeigen, die Fernsehbenutzer sind nicht mehr an ein Standgerät im Wohnzimmer gebunden. Das Fernsehen ist in neuer Weise mobil geworden und kann heute fast überall – zumindest dort, wo Übertragungssignale empfangbar sind – angeschaut, genutzt und gebraucht werden. Gegenüber den auf Vergrößerung der Bilder ausgerichteten Fernsehpräsentationsformen hat auch eine Miniaturisierung der Angebote stattgefunden, die v. a. für die Nutzung schneller Informationsvermittlung verwendet wird: Fernsehen kann der Mediennutzer auch mit seinem Smartphone und technisch hochgerüsteten Handy abrufen und damit die Angebote in vielen mobilen Kommunikationssituationen gebrauchen. Die Bedeutung des Fernsehens liegt deshalb heute – nicht zuletzt aufgrund seiner institutionellen und ökonomischen Macht – v. a. in der Herstellung von journalistisch aufbereiteten und abgesicherten Informationsangeboten und von spezifischen Unterhaltungssendungen. Damit ist es weiterhin ein unverzichtbarer Bestandteil der gesellschaftlichen Kommunikation und des Alltags der Menschen. GEGENBEGRIFFE  Der Gegenbegriff zum Fernsehen ist ‚nah sehen‘. Ist vom

Medium des Fernsehens die Rede, liefern die anderen Medien Tätigkeiten und Praktiken mit ‚Gegenbegriffen‘ wie Radio hören (das eine Tätigkeit des medialen Sehens ausschließt), ist das Sehen bewegter Bilder mit fernsehen gemeint, ist das Sehen von Filmen im Kino eine Tätigkeit, die einen Gegenbegriff impliziert. Gegenbegriffe und alternative mediale Tätigkeiten lösen sich jedoch mit einer zunehmenden Konvergenz der Medien auf. PERSPEKTIVEN  In der gesellschaftlichen Anwendung lassen sich nach dem

Zweiten Weltkrieg in der Organisation des Fernsehens drei Grundformen feststellen: die staatliche Organisation eines durch Steuern finanzierten Fernsehsystems, die privatrechtliche Form eines v. a. durch Werbung finanzierten Mediums und die öffentlich-rechtliche Konstruktion eines durch Gebühren finanzierten Fernsehens, wie es die britische BBC als Modell vorlebte und wie

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Perspektiven  fernsehen

es dann ab 1948 auch in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt wurde. Gemeinsam ist allen drei Grundmodellen, die es weltweit in unterschied­lichen Variationen gibt, dass die Kommunikation vorwiegend in eine Richtung ausgerichtet ist, dass dem Zuschauer ein Programm angeboten wird, auf das er nur indirekt Einfluss (durch Aus-Einschalten des Programms, durch Leserbriefe im Nachhinein usf.) nehmen kann. Die staatliche Form, beispielhaft am Fernsehen in der DDR zu beobachten, zielt darauf, das Fernsehen als ein Instrument der Information und Organisation der Gesellschaft im Sinne des Staates bzw. der jeweils herrschenden Gruppen zu nutzen. Abweichende, kritische Meinungen oder Darstellungen werden dabei, abhängig vom jeweiligen politischen System, in der Regel nicht zugelassen. Die kommerzielle Form des Fernsehens (auf privatrechtlicher Basis) nutzt das Fernsehen dazu, mit den Angeboten Gewinne zu machen und dient – so jedenfalls in den westeuropäischen Staaten – auch dazu, eine Konsumkultur zu propagieren und zu fördern. Sie suggeriert häufig eine Teilhabe und Mitbestimmung der Angebote durch die Zuschauer, aber nur insoweit als sich dadurch die Gewinne für die Medienunternehmer steigern lassen. Die öffentlich-rechtliche Form soll dagegen – weil die Aufsichtsgremien des Fernsehens aus Vertretern der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen zusammengesetzt sind – dazu dienen, der Gesellschaft überparteilich Information zu liefern, dem Gemeinwohl zu dienen und damit zugleich eine neutrale Instanz für die Beachtung der gesellschaftlichen Belange zu sein. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist gesellschaftlich stark umkämpft, weil es für die kommerziellen TV-Medien letztlich eine starke Konkurrenz darstellt. Nach langen gesellschaftlichen Debatten ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren durch das Bundesverfassungsgericht und seit den 1980er Jahren durch die Rundfunkgesetzgebung geschützt.23 In der bundesdeutschen Praxis wird die hier verankerte Neutralität gelegentlich unterlaufen (indem politisch Einfluss auf Sendungen genommen wird oder verdeckte Werbung in Sendungen, ‚Product Placement‘, platziert wird), doch führt dies in den meisten Fällen in der öffentlichen Diskussion zu einer Skandalisierung und wird danach durch schärfere gesellschaftliche

23 Vgl. Bausch: Rundfunkpolitik nach 1945, S. 429ff.

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Kontrollen unterbunden. Insgesamt hat sich die Form des öffentlich-recht­ lichen Fernsehens bewährt und auch nach der Einführung des kommerziellen Fernsehens in Deutschland 1984 als Form behauptet. FORSCHUNG   Die Forschungen zum Fernsehen sind umfangreich und fin-

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Verweise  fernsehen

den in vielen Disziplinen unter unterschiedlichen Aspekten statt. Fernsehen als Handeln wird v. a. unter dem Ansatz der Rezeptionsforschung innerhalb der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Kommunikationswissenschaft betrieben, dort werden auch institutionelle Aspekte untersucht. Als kulturelle Tätigkeit wird fernsehen insbesondere in der empirischen Kulturwissenschaft (Volkskunde) erforscht. Die Medienwissenschaft beschäftigt sich v. a. mit dem medialen Produktformen (Fernsehgenres, serielle Formen, Dokumentarformen und fiktionale Formen im Bereich des Fernsehfilms) und ihrem Gebrauch. Ökonomische Aspekte werden besonders in den Wirtschaftswissenschaften untersucht, für die juristischen hat sich in den Rechtswissenschaften der Bereich des Medienrechts etabliert. Wirkungsmechanismen des Fernsehens untersucht die Psychologie. Im Bereich der Medienpädagogik hat das Inte­ resse am Fernsehen gegenüber dem am Internet nachgelassen. Zunehmend wird Fernsehen im Zusammenhang mit anderen Medien untersucht, die medienüberschreitenden Aspekte stehen angesichts von Intermedialität, Transmedialität und Crossmedialität vieler Probleme und einstmals als nur fernsehspezifisch geltender Phänomene im Vordergrund. LITERATUREMPFEHLUNGEN Bausch, Hans: Rundfunkpolitik nach 1945, München (1980).

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­Geschichte, Reinbek b. Hamburg (1989).

VERWEISE  abhängen |33|, inszenieren |297|, serialisieren |498|,

zappen |653|, zerstreuen |687|

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FILMEN JÖRG STERNAGEL

ANEKDOTE  Einige Jahre nach seiner Rückkehr aus New York schreibt der

F

Anekdote  filmen

Medienphilosoph und Technikpessimist Günther Anders (1902–1992) in Wien Anfang der fünfziger Jahre (als Gunther Anders-Stern) einen Brief an die Herausgeber der Zeitschrift Philosophy and Phenomenological Research, in dem er die Ausdrucksmittel des dreidimensionalen Films hinterfragt und kritisiert. Augenscheinlich wie Adorno entnervt von der US-amerikanischen Kulturindustrie und dem eigenen Exil in finanziell schwierigen Verhältnissen, die ihn zwischen 1936 bis 1950 neben Lehraufträgen an der New Yorker New School an Fließbändern und in Requisitenkammern in Los Angeles bzw. Hollywood arbeiten lassen, bringt Anders seine Erfahrungen auf Papier, vielleicht auch unmittelbar inspiriert von einem Besuch des Streifens Das Kabinett des Professor Bondi (House of Wax, André de Toth, 1953) mit Vincent Price in der Hauptrolle in einem Wiener 3D-Kino.1 Der Brief wird von der Redaktion der Zeitschrift der International Phenomenological Society 1954 veröffentlicht2 und stellt grundsätzliche Fragen nach den Ausdrucksmitteln des Films, die hier v. a. auf die Tiefenwahrnehmung des Zuschauers zielen, die seiner Meinung nach auch mit der bloßen Abdeckung eines Zuschauerauges mit Hilfe eines Stückes Milchglas hätte erreicht werden können, als zyklopischer, einäugiger Effekt, vergleichbar mit den „aus der Mode gekommenen“3 Experimenten zur Tiefenschärfe im Angesicht von Gemälden des Barock. ETYMOLOGIE  Ausgewählte Vorschläge des OXFORD ENGLISH DICTIONARY

online erhellen von diesen Verwendungskontexten ausgehend eine etymologische Verflechtung des Begriffs filmen, in der vielfältige Gebrauchsweisen

1 Tagebucheintragungen zur Zeit in Los Angeles finden sich unter dem Titel „Leichenwäscher

der Geschichte“ in: Anders: Tagebücher und Gedichte, S. 1–10.

2 Anders-Stern (= Anders): 3 D Film and Cyclopic Effect. In: Philosophy and Phenomenolo-

gical Research, S. 297.

3 Ebd.

241

Etymologie  filmen

und unterschiedliche Verweisungszusammenhänge ans Licht kommen, die auf weitere Begriffe hinweisen und andere Kontexte eröffnen, in unzähligen semantischen Flüssen, in denen Wörter nicht für sich erstarrt auf andere Wörter verweisen:4 Filmen leitet sich vom Substantiv film aus dem altengl. filmen oder fylmen ab und gehört zur Gruppe der alteng. starken und neutralen Deklinationsklassen. Es finden sich dazu keine Einträge im DEUTSCHEN WÖRTERBUCH VON JACOB UND WILHELM GRIMM (Entstehungszeit ab 1852), im ETYMOLOGISCHEN WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE von Friedrich Kluge (1882) und in JOHANN HEINRICH ZEDLERS GROSSES VOLLSTÄNDIGES UNIVERSALLEXICON

(1750 abgeschlossen). Die Begriffe Film, f ilmen, verf ilmen tauchen jedoch im ETYMOLOGISCHEN WÖRTERBUCH DES DEUTSCHEN auf, wie es in den 1980er Jahren unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer an der Berliner Akademie der Wissenschaften der DDR entwickelt wurde.5 Der Begriff bezeichnet vermutlich vom 5. Jh. an eine Membran (ne. membran), ein dünnes Häutchen, wie die Vorhaut des Penis (ne. prepuce), oder auch ein Netz (ne. caul), vielfach gebraucht im Sinne einer organischen (sowohl tierischen als auch pflanzlichen) Hülle oder Haut, unter anderem für die eines Eis, im Alteng. ǽg felma, eines Hühnereis beispielsweise, in unmittelbarer Nachbarschaft zu felmen, einem Fell, wie wahlweise das eines Wolfs.6 In Entlehnung aus dem Lat. caput galeatum umschreibt es als Netz zudem verbleibende Reste der Fruchtblase auf dem Kopf eines neugeborenen Menschen, der v. a. im Mittelalter sogenannten Glückshaube, einem Hautnetz, unter dessen eiweißhaltiger Schicht das Gesicht weißlich durchschimmert ALLER WISSENSCHAFFTEN UND KÜNSTE

4 Vgl. zur nicht isolierbaren Bedeutung eines Wortes im Zusammenhang von Sprache, Welt

und Wörterbüchern: Levinas: Die Bedeutung und der Sinn. In: Ders.: Humanismus des anderen Menschen, S. 11–15. 5 Vgl. die 2. Auflage des Akademie-Verlags von 1993, die fortlaufend von Pfeifer aktualisiert wird und online im Rahmen des DIGITALEN WÖRTERBUCHS DER DEUTSCHEN SPRACHE zugänglich ist. Pfeifer greift in seinem Eintrag offensichtlich auf die Überlegungen aus dem OXFORD ENGLISH DICTIONARY zurück, das den Begriff Film, wie hier entwickelt, herleitet. 6 Vgl. (Art.) film, n. In: Oxford English Dictionary online (im Folgenden zitiert als OED online). Unter: http://www.oed.com/viewdictionaryentry/Entry/70246 [aufgerufen am 10.10.2013]. Unter Etymology: in Verwandtschaft mit filmene im Altfriesischen: ‚Haut‘.

242

F

Etymologie  filmen

und dem Kind eine Sicht über die alltägliche Welt hinaus ermöglicht, das Kind sehend und seherisch werden lässt. Oft wird die Membran so als Haut oder Rinde für die von der Oberfläche des Körpers ausgehenden Emanationen in Reflexionen über die Natur der Dinge verwickelt. Das Wörterbuch aus Oxford führt zusätzlich Lukrez und seine Überlegungen zur Welt der Atome und den menschlichen Sinneswahrnehmungen in der Antike an: „es gibt, was wir der Dingwelt Abbilder heißen, die sind als eine Art zu benennen von Haut oder Rinde (quae quasi membranae), weil das Bild eine Form und Gestalt dem ähnlich genau zeigt, aus dessen Körper es sich ergießt und klärlich umherschweift.“7 Anders gewendet: Haut oder Rinde sondern sich als Abbild von den Oberflächen der Dinge ab, treffen auf die Sinnesorgane und vermitteln die Eigenschaften der Dinge wie Farben, Formen und Gerüche. Die wahrnehmende Erschließung der Welt über eine Membran korrespondiert in der Folge in großen zeitlichen Sprüngen im OXFORD ENGLISH DICTIONARY online bis 1845 mit Angeboten aus dem Bereich der frühen Fotografie, in dem film zunächst eine dünne Emulsionsschicht oder Schicht von Kollodium benennt, eine Gelatine, die auf Fotopapier oder Fotoplatten aufgetragen und verteilt wird. Das dünne, flexible und v. a. transparente Material besteht aus einem Kunststoffuntergrund oder einer Kunststoffunterstützung, zunächst Zelluloid, dann verbreiteter Zelluloseazetat und wird auf einer Seite mit einer oder mehreren Lagen Emulsion ummantelt und als aufgerollter Streifen oder in einzelnen Blättern vertrieben. Einzelne Rollen des Materials erlauben eine kleine Anzahl von Aufnahmen in der Standbildfotografie oder gelangen in großer Anzahl zur Anwendung in der Kinematografie, der Aufzeichnung von Bewegungen. Filmen gibt als transitives Verb auf dem Weg zum Objekt die Richtung an, im Sinne eines Fotografierens bzw. Abbildens für die Verwendung im Kino („to photograph for use in a cinema“) und eines Zeigens bzw. Darstellens als kinematographische Produktion („to exhibit as a cinematographic production“): „Churchmen are invited to write thrilling Biblical scenarios to be filmed for

7 Lukrez: De rerum natura, S. 257; vgl. (Art.) film, n. 2.a. In: OED online. Unter: http://www.

oed.com/viewdictionaryentry/Entry/70246 [aufgerufen am 10.10.2013].

243

Kontexte  filmen

exhibition at afternoon services.“8 Als intransitives Verb ist filmen Handlung, Ausdruck, Aktivität: „This incident should film well.“9 KONTEXTE  Über vier Jahrzehnte vor Anders, in der Frühphase des Films, macht sich der Literaturrezensent Kurt Pinthus (1886–1975), als einer der ersten professionellen Filmkritiker, vergleichbare Gedanken zu den Ausdrucksmitteln des Films und fragt 1913 in DAS KINOSTÜCK: „Was also will [der Mensch] im Kino? Ins Kino treibt den Menschen die Gier: den Kreis seines Wissens und Erlebens auf einfachste und schnellste Weise zu erweitern.“10 Filmen lässt sich in Diskussion von Pinthus als Begriff erfassen, der einen künstlerischen und technischen Prozess beschreibt und über die Produktion und Nachbearbeitung auf dem Weg ins Kino drei sich überkreuzende Verwendungskontexte zwischen Mensch, Leben und Technik eröffnet:11 Der Begriff verweist auf Phänomene technischer Art, die in ihrer Vielfalt, mehrere Geschehnisse verknüpfend, erspielt und animiert, mit und ohne Ton, zwei- oder dreidimensional, in Bewegung, Zeit und Raum verortet werden. Der Rhythmus des Tons und des Bildes, die Montage von Geräuschen und Tönen organisieren sich in ihrer zeitlichen und räumlichen Anordnung vor dem Zuschauer.12 Er bezieht sich auf den Menschen und sein Geschick, der die filmischen Möglichkeiten umsetzt, sie gebraucht, unter anderem aus der Position des Regisseurs, Produzenten oder Schauspielers heraus. In expressiver Verkörperung vermag der auftretende Mensch die Blicke auf sich zu ziehen und sie zu steuern. Er zeigt sich in Bewegung und Zeit, im Anschluss der Bilder, ihrer Montage, im Fokus der Kamera,

8 In: Glasgow Herald 11, 07 September 1920, zit. n. (Art.) film, v. 3. In: OED online. Unter:

http://www.oed.com/viewdictionaryentry/Entry/70247 [aufgerufen am 10.10.2013].

9 In: Punch 246/3, 31 March 1920, zit. n. (Art.) film, v. 4. In: OED online. Unter: http://www.

oed.com/viewdictionaryentry/Entry/70247 [aufgerufen am 10.10.2013].

10 Pinthus: Das Kinostück. In: Denk (Hrsg.): Texte zur Poetik des Films, S. 12–23. 11 Vgl. zur Einführung in diesen auch anthropologischen Kontext: Waldenfels: Phänomenologie

und Phänomenotechnik. In: Jonas/Lembeck (Hrsg.): Mensch – Leben – Technik., S. 367–380.

12 Simone Mahrenholz bietet an dieser Stelle weitere Einblicke in analoge und digitale Varia-

tionen, auch im Hinblick auf eine Logik der Bilder. Vgl. Mahrenholz: Analogisches Denken. In: Mersch (Hrsg.): Die Medien der Künste, S. 75–91.

244

F

Kontexte  filmen

unterstützt von Geräuschen und Tönen im Off und wird wieder und wieder entdeckt im Bild.13 Der Begriff beschreibt Phänomene affektiver Art, die dem Prozess des Filmens immer vorausgesetzt sind, die ihr Zweck sind, ihr Ziel, die auf die Leinwand und Tonspur gebracht werden: die „Erregung, das Wunderbare, Ungewöhnliche, Unerhörte“. Gleichsam ermöglicht der spielende Mensch damit die Zirkulation von Kräften sowohl im Bild als auch außerhalb des Bildes, überträgt Affekte, generiert diese, differenziert sie aus und macht sich damit auf vielfältige bildliche und leibhaftige Weise bekannt. Alle Modalitäten des Films haben Sinn, besitzen Sinnvermögen und stiften Sinn; sie agieren in wechselseitiger Bezugnahme.14 In Rekurs auf diese Verwendungskontexte konstatiert Pinthus als verbindendes Element den Menschen und sein Geschick: „Der handelnde Mensch, das Menschenschicksal, knüpft aus Milieu, Bewegung und Situation das Kino­stück. Stärksten Anteil nimmt der Mensch erst am Film, wenn er seinesgleichen, den welchen er liebt oder haßt, in den Landschaften, in den Stuben, in den gefährlichsten und grotesken Situationen und Bewegungen erblickt.“15 W.H. Thornthwaite verwendet 1845 den Begriff f ilmen in seinem Handbuch zur Fotografie für die Beschreibung der Verbreitung, der Kopie von Bildern, die im Verfahren der Daguerreotypie entstehen: Jedes Bild, das kopiert werden soll, wird mit einem dünnen Film Gold bedeckt, der nach zwei bis drei Stunden abgelöst wird und die Kopie im reflektierenden oder übertragenden Licht sichtbar macht: „When successful, the film of isinglass, now indurated, peels off, and will be found to bear a minute copy of the original, and can be examined either by reflected or transmitted light.“16 Der Film trägt das Bild und ermöglicht dessen Vervielfältigung. Auf der Oberfläche des Films erscheinen die Beobachtungen des Fotografen. Diese kopieren nach Thornthwaite die Natur, erlauben Erkenntnis über ihren

13 Vgl. Sternagel: Vom Körperausdruck zum Ausdruckskörper. In: Alloa/Fischer (Hrsg.): Leib

und Sprache: Zur Reflexivität verkörperter Ausdrucksformen, S. 222–232.

14 Vgl. zur filmischen Erfahrung die grundlegende Studie von Morsch: Medienästhetik des

Films, speziell S. 183–187.

15 Pinthus: Das Kinostück. In: Denk (Hrsg.): Texte zur Poetik des Films, S. 21. 16 Thornthwaite: A Guide to Photography, S. 52f.

245

Konjunkturen  filmen

Detailreichtum und erhöhen so die Möglichkeit von Entdeckungen im Experiment, das Kunst und Wissenschaft Hand in Hand gehen lässt.17 Die Beschaffenheiten des in der Folge abrollenden Films ermöglichen die kinematografische Repräsentation einer Geschichte, eines Dramas, einer Episode oder eines Ereignisses, während der Aufführung im Kino.18 Filmen als Begriff verweist auf weitere Begriffe, die ein Handeln voraussetzen, ein Tun, ein Tätig-Werden. Wir sehen nicht nur etwas, wir sehen das Gesehene zugleich als Ausdruck eines Sehens. Jedes Entflammen der Zündschnür, das vom Rachsüchtigen auf der Leinwand vorgenommen wird, ist die Transkription einer Handlung, ist selbst Geste. Die Aktion des Schauspielers vor der Kamera, die Inszenierung von Handlung, die im Bild gezeigt wird, verleiht der Darstellungsfläche des Bildes selbst „die Körperlichkeit, die Temporalität und ikonische Dichte einer konkreten Situation.“ 19 Filmen als bild- und tongebende Praxis eröffnet ein Handlungspotenzial und setzt dieses ins Bild, auf die Tonspur: Auch leibliche Erfahrungen und erspielte Aktionen des Schauspielers in den gefährlichsten und grotesken Situationen und Bewegungen zeigen sich piktorial, werden im Off gehört. Sie ereignen sich mit Blick auf sinngebende Setzungen im Bildlichen und auf der Tonspur und nehmen teil an der transformativen Kraft visueller und auditiver Präsenz.20 Stimme, Bewegung, Rhythmus, Mimik und Gestik rücken, in einem Vorverständnis der Rolle, vor einer intellektuellen Konstruktion oder Identifikation, in das Zentrum der Wahrnehmung.21 KONJUNKTUREN  Der Prozess des Filmens bringt Elemente ins Bild und

auf die Tonspur, die unsere Sinne locken:

17 Ebd., S. 7. 18 (Art.) film, n. 2.c. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/viewdictionaryentry/

Entry/70246 [aufgerufen am 10.10.2013]

19 Schwarte: Einleitung: Die Kraft des Visuellen. In: Ders. (Hrsg.): Bild-Performanz, S. 14f. 20 Vgl. einführend zur Sinnentstehung im Kino: Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel,

S. 287–298.

21 Vgl. weiterführend zur leiblichen Aktion im Film und zum Bild-Akt des Films: Stern/Kou-

varos: Introduction: Descriptive Acts. In: Dies. (Hrsg.): Falling for You, S. 2f.

246

Bewegungen in doppelter Bedeutung, als Geste und als Tempo, auch vom Leib des Schauspielers ausstrahlend: Der filmende und gefilmte Mensch verbindet mit seinem Geschick diese Elemente, zeigt sie auf, stellt sie dar, visualisiert sie und bringt Phänomene sowohl technischer als auch affektiver Art in die Welt, auf den Film und ins Kino. Die wahrnehmende Erschließung der Welt über den Film, in Kreisen des Erlebens und Wissens, in Akten verkörperter Wahrnehmung, die im Film sichtbar gemacht werden, korrespondiert in der Abfolge darüber hinaus mit den etymologischen Verflechtungen des Films.

F

Perspektiven  filmen

Jeglicher fährt in der Eisenbahn, aber er erlebt nicht wie der Zug durch unbekannte, exotische Länder rast, wie der Zug plötzlich über Flur und Gebirg’ fliegt, oder gar wie ein ahnungslos auf den Schienen spielendes Kind gerettet wird, weil es gerade einem Schmetterling nachläuft. Man hat es noch nie gesehen, und lacht darum unbändig, wenn es tatsächlich vorgeführt wird, daß Leute plötzlich auf den Köpfen stehen, ein Wagen in stürzendes Geschirr fährt oder eine Schwiegermutter über die Dächer der Häuser flieht.22

GEGENBEGRIFFE  In der hier vorgeschlagenen phänomenologischen Refle-

xion über Film wird filmen als Ausdruck von Erleben durch Erleben begriffen, als Verlockung der Sinne, als Herstellen somatischer Verbindungen zweier wahrnehmender Subjekte, Film und Zuschauer, als Erschaffen von Situationen intersubjektiver Filmerfahrungen. Die bild- und tongebende Praxis des Filmens bringt Szenen auf den Film. Dem entgegen steht eine vergleichbare Szene, die auf die Bühne gebracht wird: das In-Szene-setzen geschieht dort, für ein Gegenüber, für die Zuschauer, die erzittern, in einer Situation der Zwischenleiblichkeit, während das Ins-Bild-bringen für die Kamera, zwar unter Anwesenheit des Filmregisseurs und anderen geschehen kann, jedoch den Verlust der leibhaftig anwesenden Zuschauer nach sich zieht. Die Warnehmungssituation verändert sich. Die Filmerfahrung ist eine andere als die Theatererfahrung. PERSPEKTIVEN Filmen heißt verbinden, verknüpfen, wahrnehmbar, sichtbar machen, perspektivieren, ins Bild setzen, Effekte schaffen, Affekte erzeugen,

22 Pinthus: Das Kinostück. In: Denk (Hrsg.): Texte zur Poetik des Films, S. 18.

247

Forschung  filmen

berühren, anrühren, erlebbar machen. Filmen heißt damit auch, sichtbare Verbindungen zwischen alltäglichen und theatralen, stilisierten und virtuosen Bezügen, Ausdrucksformen, Gesten zu knüpfen, sie in bestimmte, aufeinanderfolgende Korrelationen zu setzen, ihre bildliche Seite zur Aufführung kommen zu lassen: „Gestures often migrate between everyday life and the movies, but where the gestural often goes unnoticed in the everyday, in the cinema (where it travels between the quotidian and the histrionic) it moves into visibility.“23 Das Bild begegnet uns mit Lesley Stern in einem performativen Zug als visuelles Ereignis. Das Bild macht etwas wahrnehmbar, was es ohne sein Tun nicht gibt. Es begegnet als dasjenige, was es verbürgt oder bezeugt, was es sichtbar macht. In Verschränkung von leiblicher Erfahrung mit künstlerischer Praxis, übertragen in einem Dreiklang zwischen Bild, Mimesis und Alterität, können hier über die Performanz des Bildes Konzepte zur Responsivität in den Vordergrund rücken, die Überlagerungen in alltäglicher Wahrnehmung als responsives Zwischengeschehen bearbeiten, in dem sich Spielräume eigener und fremder Möglichkeiten zwischen Bild und Betrachter eröffnen und Bedeutungen verschieben. FORSCHUNG Filmen versucht, Körper und Dinge als zeitlich ablaufendes

Ereignis in Bewegung zu inszenieren, sodass auch ein Umsetzen, ein Adaptieren einer literarischen Vorlage von beispielsweise Charles Dickens erspielt werden kann, in der das Gesicht eines David Copperfield unter der etymologisch verorteten Glückshaube, dem Hautnetz in Nahaufnahme, in einem Stumm- oder Tonfilm, in einer Rückblende, in Schwarzweiß oder Farbe durchschimmern und uns eine Sicht über die alltägliche Welt hinaus ermöglichen würde, uns sehend und seherisch werden ließe: Ich kam in einem Hautnetz zur Welt, das später um den niedrigen Preis von fünfzehn Guineen in den Zeitungen zum Verkauf ausgeschrieben wurde [...] Das Hautnetz wurde zehn Jahre später in unserer Gegend in einer Lotterie unter fünfzig Personen ausgeknobelt [...] Ich selbst war gegenwärtig und erinnere

23 Stern: Paths That Wind through the Thicket of Things. In: Critical Inquiry, S. 328; vgl. auch

dies.: Dead and Alive: The Body as Cinematic Thing.

248

mich, wie unbehaglich und verlegen mir zu Mute war, als ein Teil meines eignen Selbsts auf diese Weise veräußert wurde.24

F

Forschung  filmen

Ausgehend von einer literarischen Vorlage wie dieser und den hier vorgestellten medienphilosophischen Reflexionen ließe sich die performative Kraft des filmischen Bewegungsbildes mit seinen spezifischen Besonderheiten herausarbeiten. Als Schwerpunkte können beispielhafte Reflexionen über Leiblichkeit und Schauspielkunst im Film entwickelt werden, die Aufschlüsse über das Handlungspotenzial des Films eröffnen. Konzepte zur Leiblichkeit und Schauspielkunst wären im Zuge dieser Bild-Akte einführend zum Beispiel mit Siegfried Kracauer und Emmanuel Levinas, Ansätze zur Performanz des Bewegungsbildes weiterführend mit Gertrud Koch und Lesley Stern diskutierbar. Gerade frühe Überlegungen zum Film wie die von Anders und Pinthus oder von unter anderem Hugo Münsterberg25 und Béla Balázs26 eignen sich im Lichte ihrer Faszination und mit ihrer Suche nach einer Sprache für den Film im Besonderen dazu, technische und affektive Phänomene des Films erneut zu durchdenken. Weniger ist mit ihrer Hilfe daher auch eine Historisierung des Films von Interesse, als vielmehr die Überprüfung der argumentativen Relevanz ihrer Überlegungen für eine deskriptive Annäherung an den Film, an den Prozess des Filmens, von der Vergangenheit bis in die Gegenwart. Ist in Zeiten des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm das Gesicht einer Filmschauspielerin bloßes Gesicht-Objekt, wie Roland Barthes über das Gesicht Greta Garbos schreibt?27 Ist es bewunderungswürdig und mit seiner Schminke, in seiner »schneeigen Dichte« Maske: nicht gemalt, sondern gipsartig, verschlossen, ephemer, kompakt, weiße, unbewegliche Haut?28 Bekommt es nicht gerade in dem von Barthes angesprochenen Film QUEEN CHRISTINA (Rouben Mamoulian, 1933) auch ein Gegenüber, im Spiel mit Antagonisten, im Schuss-Gegenschussverfahren, im Gespräch, in der Auseinander-Setzung,

24 Dickens: Die Lebensgeschichte, Abenteuer, Erfahrungen und Beobachtungen David Cop-

perfields des Jüngeren, S. 4f.

25 Siehe: Münsterberg: Das Lichtspiel. 26 Siehe: Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. 27 Vgl. Barthes: Das Gesicht der Garbo. In: Ders.: Mythen des Alltags, S. 73–75. 28 Vgl. ebd., S. 73.

249

Forschung  filmen

wird bewegliche Haut, Träger des Blicks, der mehr ist als geschriebenes Gesicht, leere Fläche, weißes Papier und Schwarz der Inschrift, über die Großaufnahme hinaus? Wie verhält es sich mit der Mimik Brad Pitts, die in THE CURIOUS CASE OF BENJAMIN BUTTON (David Fincher, 2008) über den Computer in gleich drei andere Gesichter in Farbe eingeschrieben, von seiner eigenen Haut damit abgelöst, geradezu enthäutet wird? Gesichtszüge, die wie in einem biome­ trischen System mit bestimmten Daten seines Gesichts erfasst werden, im Herausarbeiten entsprechender Referenzdaten oder Landmarken, weswegen die kopierten, digitalen Erscheinungsweisen seines Gesichts, auf künstlicher Haut, geradezu mikroskopisch genaue Ausdrucksvarianten beinhalten, die jede kleine Falte oder jedes tiefe Grübchen von Brad Pitt berücksichtigen und damit maximale Ähnlichkeit forcieren. Im Spiel zwischen Bildverfahren, Sichtbarmachungen und Gebrauchsweisen rücken in unterschiedlichen Bildformaten und Bildprozessen auf diese Weise die Schauspieler in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.29 Sie eröffnen Perspektiven im Prozess des Filmes, die Aktualitäten und Habitualitäten des Leibes miteinander verschränken. Garbo und Pitt haben darüber hinaus Gewohnheiten, die nicht nur das sind, was sie im Hier und Jetzt in den Metro-Goldwyn-Mayer Studios in Culver City (Garbo) oder vor einer grünen Leinwand in Burbank bei Warner Bros. und Paramount (Pitt) tun, sondern auch das, was ihnen zur Verfügung steht, was ihr Habitus ist. Ihre auch wiederholten Handlungen lagern sich ab, sie sedimentieren sich im Bild, durch die Filmgeschichte hindurch. Beide lernen, so wäre die Perspektivierung mit Hilfe von Husserls genetischer Phänomenologie, in der Welt zu agieren, zu spielen, zu filmen, zu wohnen, sie lernen, dass für sie eine Welt überhaupt erst entsteht. Ihre Situation, in der sie sich befinden, wie gleichsam unsere, verweist damit stets auf mehr als auf das, was hier und jetzt gegeben ist. Sie enthüllt sich als welthaft, verweist über sich hinaus, auf eine Vergangenheit des Erlernens oder auf zukünftige Möglichkeiten.30 29 Vgl. hierzu als Einführung in mannigfaltige, performative Spielräume des Sehens: Stern:

Always Too Small or Too Tall: Rescaling Screen Performance. In: Sternagel/Levitt/Mersch (Hrsg.): Acting and Performance in Moving Image Culture, S. 11–48. 30 Vgl. Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 110f.

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Mit Husserl und seinem Studenten Anders schließen sich in diesem Kontext von Situation, Lebenswelt und Bild weitere Reflexionen zum Bereich der Dinge an, in dem eine Schraube, die George Clooney als Astronaut in dem 3-D-Film GRAVITY (Alfonso Cuarón, 2013) aus der Hand rutscht und uns nahezu aus dem Bild heraus entgegenschwebt, im aktuellen und habituellen Zusammenhang seines und unseres persönlichen und kulturellen Erlernens steht und damit auch auf eine Werkzeug- und Produktionsgeschichte verweist, somit eine vielfältige Geschichte bekundet, wie gleichsam das Filmen in 3D von Anders bis in die Gegenwart.31

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FORMATIEREN SUSANNE MÜLLER

ANEKDOTE  Im Jahr 2006 feierte eine Veranstaltung mit dem Titel PowerPoint-

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Anekdote  formatieren

Karaoke ihr Debüt. Ausgerichtet wurde der Wettbewerb von der Zentralen Intelligenz-Agentur (ZIA), einer Vereinigung von Künstlern und Journalisten, die sich selbst als „Schnittstelle von Journalismus, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst“1 bezeichnet. Das Konzept ist einfach: Frei verfügbare PowerPointPräsentationen werden mutigen Interpreten aus dem Publikum zur Verfügung gestellt. Diese haben die Fundstücke aus dem Internet noch nie gesehen und versuchen sich im Stegreifvortrag an der ‚Strategischen und operativen Steuerung durch Balanced-Scorecardbasierte Führungsinnovationssysteme‘ oder am ‚Pelletspeicher mit Sonnen-Pellet Maulwurf‘. Der originellste Vortrag gewinnt.2 Wenn eine Folien-Präsentation derart aus ihrem Kontext gerissen und für Unterhaltungszwecke missbraucht wird, dann zeigt das – neben Improvisationstalent und Komik – wie sehr ein Dateiformat ein wissenschaftliches Format dominieren (oder formatieren) kann.3 Schließlich verändert PowerPoint nicht nur Botschaften, sondern auch das Image der Sprecher. Schon im Jahr 2003 konstatiert der Kommunikationswissenschaftler Edward R. Tufte, dass ­PowerPoint böse ist. „PowerPoint is a competent slide manager and projector. But rather than supplementing a presentation, it has become a substitute for it.“4 Man darf darüber streiten, ob der Frust der Zuhörer häufiger von schlechten Inhalten oder von formalen Misslichkeiten ausgeht; im Zweifelsfall dürfte es höflicher sein, die Technik zu verdammen. Allerdings sind es gerade die vielen Nutzern als Idiotie erscheinenden Grundeinstellungen der Software, die das denkende Schreiben einschränken. Sie haben „PowerPoint den Ruf eines Mediums eingebracht [...], das manipulativ auf seinen Nutzer wirkt

1 Website der ZIA. Unter: http://www.zentrale-intelligenz-agentur.de [aufgerufen am 10.07.2012]. 2 Vgl. Dambeck: PowerPoint-Karaoke. In: Spiegel online. Unter: http://www.spiegel.de/

netzwelt/web/0,1518,398488,00.html [aufgerufen am 10.07.2012].

3 Vgl. Hrachovec: Wortbild, S. 264f. 4 Tufte: PowerPoint is Evil. In: Wired. Unter: http://www.wired.com/wired/archive/11.09/

ppt2.html [aufgerufen am 10.07.2012].

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Etymologie  formatieren

und ihn zwingt, unterkomplex zu schreiben und zu denken“5. Hinzu kommen formale Abscheulichkeiten, die jedem Vortragenden schon im Vorfeld Alpträume bereiten: Ständig kommt es zu Konflikten mit anderen Dateiformaten oder älteren Versionen, es gibt Inkompatibilitäten zwischen Windows und Apple, Videos starten ohne Ton oder gar nicht.6 Kurz gesagt: Wer Daten oder Datenträger formatiert, begibt sich in ein Minenfeld. Das Formatieren ist eine mediale Praxis mit erheblichem Einfluss auf die (Medien-)Kultur. ETYMOLOGIE   Formatieren, abgeleitet von Format bzw. formen, ist lat.

Ursprungs (formare für bilden, formen). Die einschlägigen Wörterbücher führen den Begriff erst seit den achtziger Jahren des 20. Jhs. Vorher wird auf das Format (lat. Forma für das Geformte, die Gestalt) verwiesen. Format und Formatieren können nicht getrennt betrachtet werden, weshalb das Format in die nachfolgende Begriffsgeschichte mit einbezogen wird. Ganz allgemein ist damit die Art und Weise gemeint, wie ein Datenträger beschaffen ist, wobei neuerdings auch Darstellungsformen in den Massenmedien Format genannt werden.7 Die Ursprünge der Verwendung gehen auf den frühen Buchdruck zurück. Als Formatieren können das Anpassen eines Datenträgers an einen bestimmten Verwendungskontext sowie das „Anordnen und Zusammenstellen von Daten“8 bezeichnet werden. KONTEXTE  Nach dem LEXIKON DES GESAMTEN BUCHWESENS (1987ff.) ist der

Begriff Format seit 1634 in der Buchdruckersprache nachweisbar. Er „bezeichnet im buchkundlichen Sinn die Größe des Papierbogens […] wie auch diejenige des gefalzten (gebrochenen) und beschnittenen Druckbogens, die das Buchf. […] bestimmt.“9 Die angegebene Jahreszahl sollte nicht als historischer Moment betrachtet werden, denn schon vor der Einführung des Buchdrucks 5 Grasshoff: Die Geschichten der Berater, S. 66. 6 Vgl. Rebensburg: Worst Practice mit PowerPoint, S. 113. 7 Auch der Rang oder die Charaktergröße eines (prominenten) Menschen wird als Format be-

zeichnet. Diese Bedeutung wird hier nicht weiter verfolgt, wobei eine medienwissenschaftliche Betrachtung sicher lohnenswert wäre – immerhin ist das Format hier Bestandteil bzw. Resultat einer medialen Inszenierung. 8 (Art.) Formatieren. In: Brockhaus (1988), S. 463. 9 Weismann: (Art.) Format. In: Severin (Hrsg.): Lexikon des gesamten Buchwesen, S. 630.

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Kontexte  formatieren

bezeichnet man die Abmessungen eines Datenträgers als Format. Buchformate wie Folio, Quart, Oktav oder Duodez weisen jedoch eine Besonderheit auf: Ihre Größen bilden ein Verhältnis. Bestenfalls lassen sich aus dem Format eines Druckbogens alle weiteren Formate durch ein- oder mehrmaliges Falten ableiten. Beim Formatieren handelt es sich um ein Phänomen, das schon beim Druck der ersten Gutenberg-Bibel eine Rolle gespielt hat. Vor dem Anordnen der Kolumnen, dem so genannten ‚Ausschießen‘, musste das Manuskript ‚berechnet‘ werden.10 Das Resultat dieser Bemühungen bezeichnet ZEDLERS UNIVERSALLEXIKON (1732) als Format. Gemeint ist „bey denen Buchdruckern die Grösse derer Columnen, und bey denen Buchbindern die äusserliche Gestallt und Grösse eines Buchs.“11 Fast wortgleich sind die Ausführungen in KRÜNITZ’ 12 OEKONOMISCHER ENCYKLOPAEDIE (1773ff.). 1854 weist das DEUTSCHE WÖRTERBUCH von Jacob und Wilhelm Grimm darauf hin, dass der Begriff Format „auch auf andere sachen angewandt“13 werden kann. In der 13. Auflage der BROCKHAUS-Reihe (1884) werden schließlich noch vor den Buchformaten die Papierformate genannt: „In neuester Zeit wird im Deutschen Reiche die Einführung bestimmter Papiergrößen in 12 Normalformaten betrieben, von denen Nr. 1 (33 x 42 cm) zugleich das offizielle Reichsformat ist.“14 Beim Reichsformat handelt es sich um einen der vielen vergeblichen Versuche, das heillose Durcheinander der Papierformate zu entwirren. In HERDERS KONVERSATIONSLEXIKON (1953) wird Format auf alle möglichen Datenträger erweitert. Gemeint ist das „Verhältnis der Hauptausdehnungen eines Körpers od. einer Fläche, z. B. eines Buches, eines Bildes“15. In MEYERS ENZYKLOPÄDISCHEM LEXIKON schließlich, das ab 1979 erscheint, wird Format das erste Mal in einen Zusammenhang mit Rechenmaschinen und Datenverarbeitung gebracht. Unter dem Eintrag ‚Format‘ findet sich das Stichwort ‚Formatanweisung‘, eine „in

10 Vgl. Boghardt: Formatbücher und Buchformat, S. 84. 11 (Art.) Format. In: Zedler, S. 1494. 12 (Art.) Format. In: Krünitz online. Unter: http://www.kruenitz1.uni-trier.de/ [aufgerufen am

15.10.2013].

13 Vgl. (Art.) Format. In: Grimm, Sp. 1900. 14 (Art.) Format. In: Brockhaus’ Conversations-Lexikon, S. 6. 15 (Art.) Format. In: Der große Herder, Sp. 1091.

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Kontexte  formatieren

einem (problemorientierten) Rechenanlagenprogramm enthaltene Schaltanweisung, die die Interpretation einer Zeichenfolge beschreibt.“16 In der BROCKHAUS ENZYKLOPÄDIE von 1988 taucht erstmals der Eintrag Formatieren auf, wobei er ausschließlich auf digitale Datenträger bezogen wird. Gemeint ist das „Anordnen und Zusammenstellen von Daten nach verbindlich vorgegebenen Vorschriften […] oder – in gewissen Grenzen – nach den Bedürfnissen des Benutzers […] Plattenförmige Datenträger […] lassen sich ebenfalls formatieren.“ Die Formatierung, so der BROCKHAUS, dient dem Informationsmanagement. Man hat die „Möglichkeit, direkt und in kürzester Zeit auf bestimmte Informationen zurückgreifen zu können, ohne alle gespeicherten Daten von Anfang an absuchen zu müssen.“17 Fortan enthalten die meisten Wörterbücher neben dem Eintrag zum Format auch das Stichwort Formatieren. Die Bedeutung wird dabei ständig erweitert. So führt das LEXIKON DES GESAMTEN BUCHWESENS das Formatieren als Grundlage für das „Aufzeichnen und Aufsuchen von Daten auf Speichermedien“ ebenso auf, wie die „Festlegung von Daten- bzw. Dateistrukturen“ und die „Festlegung des Erfassungs-/Eingabeformates“.18 Der BROCKHAUS von 1997 vollendet den Brückenschlag zur eingangs beschriebenen PowerPoint-Karaoke: „In der Textverarbeitung wird mit F. oftmals die Textgestaltung hinsichtlich des Zeilenumbruchs, der Absätze, Ränder u. Ä. verstanden.“19 In der MICROSOFT ENCARTA (2005) fallen die Ursprünge des Begriffs Format im Buchdruck ganz weg. Es handelt sich „in der Computerwissenschaft [um] die Struktur oder das Erscheinungsbild einer Ansammlung von Daten – etwa einer Datei oder der Felder im Datensatz einer Datenbank, einer Zelle in einem Arbeitsblatt oder des Textes in einem Textverarbeitungsprogramm.“ Vom Formatieren spricht man, wenn „die Anwendung von speziellen Formaten auf Arbeitsblattzellen oder Texten bezeichnet [wird], um das entsprechende Erscheinungsbild zu verändern. Eine Diskette oder Festplatte zu formatieren

16 (Art.) Formatanweisung. In: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, S. 163. 17 (Art.) Formatieren. In: Brockhaus (1988), S. 463. 18 Henrichs: (Art.) Formatierungsarbeiten. In: Corsten (Hrsg.): Lexikon des gesamten Buch-

wesen, S. 631f.

19 (Art.) Formatieren. In: Brockhaus (1997–99), S. 417.

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KONJUNKTUREN  Wenn Begriffe ‚Konjunktur‘ haben, dann geht damit zumeist

eine Erweiterung oder Verschiebung ihrer Bedeutung einher. Ausgehend von dieser These werden Format und Formatieren nachfolgend in vier historische Kontexte eingeordnet. Innerhalb dieser Abfolge zeigt sich, wie aus der Praktik eines Handwerks erst ein medientechnisches Phänomen, dann eine Kulturtechnik und später ein Schlüsselbegriff der Medienwissenschaft wird. Die Datierung der ersten Konjunktur, nämlich das Aufkommen der Begriffe, ist nicht ganz unproblematisch. Wenngleich das LEXIKON DES GESAMTEN 22 BUCHWESENS das Jahr 1634 als erste Erwähnung aufführt, kann es sich zu dieser Zeit um keine neuen Phänomene gehandelt haben. Bereits um 1550 hat es (nach Angaben desselben Lexikons) in Europa Format-Reihen gegeben, nach denen sich die Buchdrucker richten sollten. Zudem spielen Formate auch beim handgeschriebenen Codex eine Rolle. Dies jedoch als Größenangabe und nicht im Sinne eines Verhältnisses. Tatsächlich dauert es bis ins 17. Jh., bis mit den so genannten Formatbüchern23 gedruckte Aufzeichnungen zum Formatieren vorliegen. Das früheste dieser Bücher, die ORTHOTYPOGRAPHIA von Hieronymus Hornschuch, erscheint im Jahr 1608.24 Es handelt sich um eine lateinische Schrift, die sich weniger an Drucker als vielmehr an Autoren und Gelehrte richtet. „Spätestens ab der Mitte des 17. Jahrhunderts entstand dann [...] die Tradition der Formatbücher, die für die Setzertätigkeit des

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Konjunkturen  formatieren

[…] bedeutet, dieses Speichermedium für den Gebrauch vorzubereiten.“20 Die jüngste BROCKHAUS-Ausgabe (2006ff.) verweist unter dem Stichformat Format nicht nur auf das Buchwesen und die Papierformate, sondern auch auf Rundfunkformate. Demnach handelt es sich um eine „Darstellungsform in Hörfunk und Fernsehen […] F. besitzen einen hohen Wiedererkennungswert und dienen damit den Rezipienten als Orientierungshilfe im ständig wachsenden Medienangebot.“21

20 Microsoft: (Art.) Format (Computer). In: Microsoft Encarta. 21 (Art.) Format. In: Brockhaus (2006–), S. 476. 22 Vgl. Weismann: (Art.) Format. In: Corsten (Hrsg.): Lexikon des gesamten Buchwesen, S. 630. 23 Lehrbücher für die Buchdruckerkunst, Vorläufer der typografischen Handbücher, vgl. Bog-

hardt: Formatbücher und Buchformat, S. 79f.

24 Vgl. Hornschuch: Orthotypographia.

257

Konjunkturen  formatieren

Ausschießens der Kolumnen in den verschiedenen Formaten schematische Anleitungen gaben.“25 Das erste Formatbuch, das den Begriff im Titel trägt ist das FORMATBÜCHLEIN von I[ohann] L[udwig] V[ietor] von 1653.26 „Schon Vietor [...] bringt alle üblichen Formate von 2° bis 128° [...] und schon er bringt auch das Ausschießen von halben und Viertel-, von Drittel- und SechstelBögen. Wie sollte er auch nicht? Die Sache war ohnehin viel älter.“27 Es bleibt also die Frage, warum mehr als 150 Jahre vergehen mussten, ehe es Leitfäden fürs Druckhandwerk gab, die das Formatieren thematisieren. Ein Grund dürfte in der Geheimhaltung liegen. Das Druckhandwerk erforderte enorme Präzision, ausdifferenzierte Kenntnisse und hohe Anfangsinvestitionen. Offenbar gab man das Wissen um dieses Handwerk nicht gerne preis.28 Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Fragt man sich, warum Bücher überhaupt ein Format brauchen, so liegt die Antwort bereits auf der Hand: Formate sind notwendig, damit auf ein und derselben Druckerpresse eine große Anzahl unterschiedlicher Druckerzeugnisse hergestellt werden kann. 29 Das 17. Jh. ist eine vorindustrielle Zeit, die Menschen sind noch keine ‚Rädchen‘ im Getriebe, dennoch wird mit althergebrachten Verkaufs- und Vertriebsformen gebrochen. Manufakturen entstehen, die Arbeit wird erleichtert, Stückzahlen werden erhöht. „Man produzierte für den anonymen Käufer eines freien Marktes.“30 Es wird Ordnung geschaffen – auch in den Formaten. Dass darüber 150 Jahre vergehen, ist nicht ungewöhnlich. Ereignis und Standard, schreibt Stefan Heidenreich, „stellen [zwar] zwei Seiten ein und derselben Geschichte der Technik dar“, doch während Ereignisse von Fortschritten berichten, die einen stabilen Zustand aufbrechen, halten Standards Punkte der Irreversibilität fest. Ereignisse mögen spektakulär sein, doch erst „in der Norm gerinnt der Stand der Technik, die Entwicklung wird – zumindest für eine gewisse Zeit – angehalten und irreversibel.“31 Wenngleich man von einer Vereinheit-

25 Boghardt: Formatbücher und Buchformat, S. 79. 26 V[ietor]: Formatbüchlein. 27 Boghardt: Formatbücher und Buchformat, S. 83. 28 Vgl. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 67, 69. 29 Vgl. ders.: Von den Mythen der Buchkultur, S. 56. 30 Ebd., S. 67f. 31 Heidenreich: Flipflop, S. 73.

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Konjunkturen  formatieren

lichung der Formate im 17. Jh. weit entfernt war, so finden sich genau hier Standardisierungstendenzen, die die Begriffe Format und Formatieren erst konturieren. Eine zweite Konjunktur findet an der Wende zum 20. Jh. statt. Einerseits wird eine Erweiterung des Formatbegriffs geläufig, auch in Film, Fotografie oder bildender Kunst wird zunehmend von Formaten gesprochen. Andererseits durchziehen Vereinheitlichungstendenzen alle Lebensbereiche. Es setzt sich das Bewusstsein durch, dass jedem Format die mediale Praxis der Formatierung vorausgeht. „Das Format ist die Abgrenzung des Schönen gegen den ganzen übrigen Raum“32, schreibt der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt programmatisch, und tatsächlich geht es dem Autor um das, was mit medialen Produkten ‚gemacht‘ wird. Sein Text richtet sich gegen das Beschneiden von Gemälden, ist also ein Plädoyer gegen das (Um-)Formatieren. Zudem zeigt er, dass das Formatieren weit mehr ist als eine Sache der Äußerlichkeiten. „Das Format ist nicht das Kunstwerk, aber eine Lebensbedingung desselben, viel mehr bedingend als der Maßstab [...]. Die Wirkung des herrlichsten Kopfes kann verdorben werden, wenn von diesem scheinbar gleichgültigen Raum oben eine Handbreit abgeschnitten wird.“33 Wer formatiert, der manipuliert; Formatierungen haben sinnstiftendes Potenzial. Formate werden am Beginn des 19. Jhs. zunehmend das Resultat von Normierungsbestrebungen. Wozu das führt, zeigt Markus Krajewski, indem er minutiös die Geschichte einiger Weltprojekte um 1900 nachzeichnet. Eines dieser Projekte ist das so genannte Welt-Format. „Zwar ist die Vereinheitlichung der Formate eine alte Geschichte [...], doch diese Normen wie etwa das ‚amtliche Reichsformat‘ für den Schriftverkehr von und innerhalb der Behörden leiden v. a. an mangelnder Konsequenz hinsichtlich ihrer Verbreitung und Akzeptanz.“34 Es ist ganz einfach: „Kein Weltformat funktioniert ohne eine Welt, die sich dessen annimmt.“35 Das Welt-Format des Naturforschers Wilhelm Ostwald, ein ehemaliger Hochschulprofessor, der für dieses Projekt den sicheren Boden des institutionalisierten Wissens verlässt, umfasst am 32 Burckhardt: Format und Bild (1886), S. 248. 33 Ebd., S. 248f. 34 Krajewski: Restlosigkeit, S. 103. 35 Ebd., S. 107.

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Konjunkturen  formatieren

Ende alles: Jedes Druckwerk, vom Merkzettel über die Visitenkarte bis zum Buch, aber auch Sofakissen und Handtücher.36 Eine „restlose Normierung der Gedanken“37 ist das und man staunt, dass am Ende tatsächlich eine Institution gegründet wird, die sich die Vereinheitlichung der Papierformate auf die Fahnen geschrieben hat. Dadurch inspiriert gründet sich 1917 der Normenausschuß der deutschen Industrie (NDI), der sich 1926 in Deutscher Normenausschuß (DNA) umbenennt. Daraus geht später das Deutsche Institut für Normung (DIN) hervor. Im Jahr 1921 wird die DIN 476 mit der berühmten ‚Vorzugsreihe A‘ festgeschrieben. „Die Wirtschaft basiert nunmehr auf einem gleichgerichteten Papierformat und erhält dadurch eine neue, spezifische Produktivkraft“38. Die Durchformatierung sämtlicher Lebensbereiche gipfelt in der dritten Konjunktur, der Etablierung digitaler Rechenmaschinen in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. Das Format umschreibt zwar immer noch die Beschaffenheit eines Datenträgers, die Formatierung nach wie vor dessen Einrichtung, doch können die neuen digitalen Datenträger unterschiedlichster Natur sein. Ihre physische Größe bildet weder ein Verhältnis noch sagt sie etwas über die ständig zunehmende Speicherkapazität aus. Gleichsam wird die Tätigkeit des Formatierens so populär, dass sie Einzug in die Wörterbücher findet.39 Formatieren wird in dreierlei Hinsicht zu einer Kulturtechnik, die jeder beherrschen sollte: Es umfasst das Lesbarmachen von Datenträgern, das Verfügbarmachen von Daten im ‚richtigen‘ Dateiformat und die Gestaltung von Inhalten, zumeist Texten, am Personal Computer. Die anfangs skizzierte PowerPoint-Debatte spiegelt das Machtpotenzial dieser Tätigkeit: „Die Nutzung oberflächlicher Strukturierungselemente wie Vorlagen, Aufzählungen oder Bewegungseffekte übertüncht die nachlässiger werdende Auseinandersetzung mit der Thematik und zwingt komplexe Themen in ein formales Korsett.“40 Eine vierte Konjunktur fügt dem Begriff Format eine neue Bedeutung hinzu. Seit der Einführung des Privatfernsehens in Deutschland wird in der Programmplanung zunehmend von Formaten gesprochen, wobei der Begriff

36 Vgl. ebd., S. 64, 130. 37 Ebd., S. 108. 38 Ebd., S. 127. 39 Vgl. u. a. (Art.) Formatieren. In: Brockhaus (1988), S. 463. 40 Bieber: Ist PowerPoint böse?, S. 131.

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GEGENBEGRIFFE  Normen und Standards bilden die Rückseite des For-

matierens. Sie erzeugen vereinheitlichte Datenströme, die Möglichkeiten einschränken und Mediennutzer formatieren. Ein Potenzial, das auch dem Deutschen Institut für Normung vertraut ist: „Vielfach besteht die Befürchtung, daß die Normung die individuelle Gestaltungsfreiheit einschränkt. Vergessen wird aber, daß einmal Genormtes nicht wieder ›erfunden‹ werden muß und die kreativen Kräfte sich dank der Normung auf das Neue konzentrieren können.“43 In der Anmerkung manifestiert sich eine Grundregel von Medialität: Immer gehen neue Medien mit dem Heilsversprechen einher, erweiterte Freiheiten zu gewähren (und sei es nur eine Freisetzung des Geistes). Immer ist, nachdem sich ein bestimmter Standard etabliert hat, das Gegenteil der Fall. Natürlich setzen Normen kreative Kräfte frei (z. B. solche, die sich auf das Umgehen von Normen konzentrieren) – doch in der Realität überwiegt die gleichmachende Wirkung. „Der Mensch neigt dazu, nicht mehr zu wissen, was er will“, schreibt der Künstler Florian Thalhofer. „Er fühlt sich von der Auswahl der Möglichkeiten überfordert.

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Gegenbegriffe  formatieren

mit ‚Genre‘ gleichgesetzt zu werden scheint.41 Eine umfassende theoretische Reflektion zu dieser Art des Formats gibt es bisher nicht. Ganz allgemein handelt es sich um ein zielgruppenorientiertes Produkt, mit dem man international Handel betreiben kann. Kennzeichnend sind „die unveränderlichen, strukturellen Elemente einer seriellen Produktion wie Moderation, Dramaturgie, Kennungen, Logos, Sendungsdesign, optische und akustische Signale, Sendeplatz etc., die sicherstellen sollen, dass einzelne Sendungen als Episoden einer Serie erkennbar werden.“42 Da die Rundfunkformate so gut wie nichts mehr mit den Buchformaten verbindet, fallen sie etwas aus der Reihe der Konjunkturen heraus. Jedoch ist gerade dieser Begriffswandel für die Medienwissenschaft von Bedeutung, denn einerseits geht jedem Fernsehformat eine Formatierung voraus und andererseits zeigt sich hier erhebliches Potenzial für weitere Forschungsperspektiven.

41 Vgl. u. a. Döveling/Mikos/Nieland: Orientierungsangebote im Spannungsfeld von Normen

und Leistungen, S. 8.

42 Bucher et al.: Medienformate, S. 20. 43 Krieg: Normenanwendung, S. 23.

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Perspektiven  formatieren

Die Welt in der man machen kann, was man will, stellt sich eher langweilig dar. Vollkommene Freiheit liegt auf der Achse cool bis langweilig ziemlich nah an langweilig.“44 Tatsächlich befreit die Auswahl zwischen zwei oder mehr Alternativen viel weniger von Zwängen als von der Lust, überhaupt kreativ tätig zu werden. PERSPEKTIVEN   Vor diesem Hintergrund verliert die anfangs dargestellte PowerPoint-Kritik an Originalität. PowerPoint 1.0 kommt im April 1987 auf den Markt, um „Overheadfolien mit verschiedenen Zeichensätzen über einen Laserdrucker in Schwarzweiß auszugeben“45. PowerPoint 2.0 (1988) verfügt dann über einen Modus für farbige Dias – die Daten können per Modem an ein Belichtungsstudio übermittelt werden, welches Dias erzeugt. PowerPoint 3.0 (1992) ist schließlich in der Lage, ein Videosignal zu erzeugen, um einen Projektor anzusteuern. Mit zunehmender Weiterentwicklung wachsen somit neben den Möglichkeiten, die das Programm offenbart, auch die formalen Zwänge. Kann man beim Overheadprojektor noch einfach eine Folie weglassen, so sind Diaprojektionen weit weniger flexibel (dafür aber eindrucksvoller). Mit einer PowerPoint-Folie, wie wir sie heute kennen, ist im Prinzip alles möglich. Die Freiheit erschöpft sich aber oft in Standardelementen – eigene Anpassungen sind möglich, haben aber Seltenheitswert.46 Die Essenz der Debatte ist dennoch ein alter Hut: „Die Form folgt dem Inhalt nicht, sie übertrumpft ihn.“47 Das Schöne dabei ist, dass PowerPoint der Medienwissenschaft einen hilfreichen Beitrag leistet. Eigentlich handelt es sich um eine Oberfläche, die Folien präsentieren soll. Stattdessen zeigt uns das Programm eine Metainformation, die Marshall McLuhan 1964 schon programmatisch verkündet hat. „Die ‚Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.“48 Inhalte sind nachgeordnet, es geht um das Format.

44 Thalhofer: If Then. Unter: http://www.thalhofer.com/korsakow/ksy/pages/udk_thalhofer_

DEU.html [aufgerufen am 10.07.2012].

45 Müller-Prove: Slideware, S. 48. 46 Vgl. ebd., S. 48f. 47 Bieber: Ist PowerPoint böse?, S. 137. 48 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 18.

262

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Forschung  formatieren

Aus dem Formatieren ist eine Kulturtechnik, d. h. eine wichtige Kompetenz im Mediengebrauch, geworden. Gewiss mag es Berufsgruppen geben, für die keinerlei Computerkenntnisse erforderlich sind – aber die Vorlage einer formatierten Bewerbung ist für jede Tätigkeit unabdingbar. Auch das typische Setting bei Vortragssituationen – Notebook, Beamer, Leinwand, Redner, Publikum – zeigt eine gewisse Erwartungshaltung an die Formatierungskompetenzen des Vortragenden. Man darf darüber streiten, ob das eine positive Entwicklung ist – doch jenseits jeder Kulturkritik eröffnen neue Formate auch Perspektiven. EVERYTHING BAD IS GOOD FOR YOU! heißt es programmatisch bei Steven Johnson. In seinem gleichnamigen Buch erklärt er, warum wir durch Computerspiele und TV klüger werden. Das ist angesichts der Untergangsszenarien, die das Feuilleton beim Auftauchen neuer Medien gerne zeichnet, eine erstaunliche These. Dabei ist Johnsons Vorgehensweise ganz logisch: Er vergleicht alte Fernsehserien mit neuen und weist erhebliche Komplexitätssteigerungen nach. Natürlich trainiert das Fernsehen nicht hauptsächlich die Fähigkeit, Buchstaben mit Sinn zu füllen, und es regt die Vorstellungskraft bestimmt nicht in gleichem Maße an wie eine rein textbasierte Kulturform. Doch bei allen anderen Formen des geistigen Trainings, die mit dem Lesen in Zusammenhang gebracht werden, bietet das Fernsehen immer größere Herausforderungen.49

Ein Aufwärtstrend, der wie Johnson treffend feststellt, schon ausreicht, all jene zu überraschen, die immer nur Berichte über Fernsehformate lesen, anstatt selbst fernzusehen. Analog dazu könnte man fragen, wie sich PowerPoint zu einer Overhead-Folie oder zu einem klassischen Tafelbild verhält und ob bzw. wie es die Schlüsselkompetenzen seiner Benutzer verändert hat.50 FORSCHUNG  Aus diesen Überlegungen resultiert eine klare Forschungspers­ pektive, die sich in aller Kürze formulieren lässt: Denken wir gründ­licher über mediale Formate nach! Das gilt insbesondere für wissenschaftliche Formate,

49 Johnson: Neue Intelligenz, S. 76. 50 Vgl. Bieber: Ist PowerPoint böse?, S. 139. Vgl. weiterführend: Warnke: Computerscreen und

Tafelbild. Unter: http://www.academia.edu/6104267/Computerscreen_und_Tafelbild [aufgerufen am 15.04.2014].

263

Forschung  formatieren

denn wenngleich sie mehr oder weniger professionell benutzt werden, existiert eine Vortragsforschung nur in Ansätzen.51 Davon abgesehen besitzt die Kategorie mediales Format methodisches Potenzial für die Medienwissenschaft. Gemeint sind damit nicht die kommerziellen Fernsehformate, mit denen international Handel betrieben wird, sondern unterschiedliche Ausformungen innerhalb einer Gattung, die man auch Form-Inhalt-Kopplungen nennen kann (z. B. Tageszeitungen, Wochenmagazine, Fachzeitschriften oder illustrierte Zeitschriften im Rahmen der Printmedien).52 Das mediale Format ist ein Gestaltungsspielraum mit hohem Wiedererkennungswert. Wir wissen intuitiv, ob wir einen Wetterbericht oder eine Nachrichtensendung sehen. Wir können ein Telefonbuch von einen Branchenbuch, ein Kursbuch von einem Flugplan, einen Reiseführer von einem Reisebericht unterscheiden. Das funktioniert, weil das mediale Format Merkmale aufweist, die jenseits der Inhalte zu finden sind. Behandelt man solche Darstellungsformen als ‚Textsorten‘, dann blendet man einen Großteil ihrer Identität aus. Medien sind mehr als bloße ‚Behälter‘, die Inhalte vom Sender zum Empfänger transportieren.53 Somit birgt das mediale Format ein analytisches Potenzial. „Medienwandel ist immer auch ein Formatwandel. Deshalb ist die Analyse von Medienformaten und ihren Wandlungsprozessen auch ein Schlüssel zur Mediengeschichte“54. Natürlich kann man die Tatsache, dass neue Medien neue Formate ausprägen banal finden. Doch daraus resultieren zahlreiche Fragen: „Welche Formate entstehen, welche setzen sich durch und welche nicht? Auf welche Weise entstehen neue Formate – als Modifikation oder Verschmelzungen bereits bestehender, als Erfindungen? Welche Konsequenzen haben neue Formate für die alten?“55 Zwar kann man dem Format-Begriff eine gewisse Unbestimmtheit vorwerfen, doch ist es gerade diese Offenheit, „die ihn für eine Beschreibung medialer Wandlungsprozesse attraktiv macht.“56 Damit ermöglicht er eine umstandslose Annäherung an die Populärkultur, d. h. an ein Forschungsfeld,

51 Vgl. Peters: Vortrag als Performance. 52 Vgl. Bucher et al.: Medienformate, S. 19. 53 Vgl. Müller: Die Welt des Baedeker, S. 23. 54 Bucher et al.: Medienformate, S. 11. 55 Ebd., S. 9. 56 Ebd., S. 21.

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das lange ein Schattendasein geführt hat. Eine Theorie des medialen Formats, die das Phänomen mit all seinen Facetten in der Medienwissenschaft platziert, wäre ebenso zu schreiben wie eine Medienkulturgeschichte, die Format und Formatieren historisch verortet. Würden diese Lücken geschlossen, so stände nicht nur ein Instrumentarium zur Verfügung, mit dem Einschnitte in der Mediengeschichte besser erklärbar werden, auch dem Formatieren als umfassende mediale Praxis und als Schlüsselbegriff der Medienwissenschaft käme man so näher.

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FUNKEN KAI STEFFEN KNÖRR

ANEKDOTE

Anekdote  funken

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Durch den Réaumurschen Brief aufmerksam gemacht, begann Abbé Nollet bald mit einer ‚Bouteille de Leyde‘, wie er sie nannte, zu experimentieren, wobei es ihm nicht erspart geblieben war, ähnliche schlagversetzende Wirkungen zu erfahren. Zudem meinte er, daß die verstärkte Elektrizität auch an einer ‚communicierenden Personenkette‘ wirksam sein müsse. Der großartigste Schauversuch dieser Art fand am 13. April 1746 vor Ludwig XV. und seinem Hofstaat im Schloß von Versailles statt: Nollet ließ zu diesem Zweck 180 Soldaten der Königlichen Garde im Kreis aufstellen und sich untereinander die Hände geben. Unerwartet versetzte er dann der Personenkette einen gehörigen Schlag, wobei alle Soldaten, zum Gelächter der Anwesenden, fast gleichzeitig in die Luft sprangen. Kurze Zeit darauf wiederholte er dieses Experiment in Paris mit 700 Kartäusermönchen.1

Einige Monate zuvor, um die Jahreswende 1745/46,2 hatte zwei Forscher unbeabsichtigt und unabhängig voneinander der Schlag getroffen. Ewald Jürgen von Kleist (1700–1748), pommerscher Adeliger und Domdekan von Cammin, und Pieter van Musschenbroek (1692–1761), Mediziner und Naturforscher in der holländischen Universitätsstadt Leiden, hatten dabei eindrücklich erfahren, wie sich die kleinen, durch Reibung an einer rotierenden Glaskugel entstehenden Fünkchen zu einem großen Funken „verstärken“ lassen. Bei Versuchen über elektrische Wirkungen auf Flüssigkeiten hatten beide mit gefüllten Glasflaschen hantiert, in die ein Nagel bzw. Eisendraht versenkt wurde. Nachdem das Ende des Metalls

1 Prinz (Hrsg.): Feuer, Blitz und Funke, S. 51. 2 Die Angaben in der Sekundärliteratur zum genauen Zeitpunkt des Experiments sind un-

einheitlich. Da die Leydener Flasche Anfang 1746 beschrieben wird, dürfte das geschilderte Schauexperiment kurz darauf stattgefunden haben. In der Veröffentlichung seiner Experimente wies Nollet bereits auf die prinzipiell unbegrenzte Wirksamkeit der neuen Kraft hin: „Es ist mir dieses mit 200 Personen wol von statten gegangen, welche 2. Reihen formirten, deren jede mehr als 150 Schuhe betrug, und ich zweifle gar im geringsten nicht, es werde auch mit 2000 und mehrern derselben eben so gut angehen.“ [Nollet: Des Herrn Abts J. A. Nollet […] Versuch einer Abhandlung von der Elektricität der Cörper, S. 164].

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Anekdote  funken

eine Weile mit dem Elektrisierapparat in Kontakt gewesen war, schlug bei der Annäherung an das nun von der Maschine getrennte Ende ein kräftiger Funke in die freie Hand ein. „Wird währenden [sic!] Electrisiren der Finger oder ein Metall an den Nagel gehalten, so ist der Schlag so stark, daß Arm und Achseln davon erschüttert werden“3, berichtete Kleist. Versehen mit der einleitenden Warnung „es nicht selbst zu versuchen“ erregte Musschenbroeks Laborbericht besondere Aufmerksamkeit und animierte Wissenschaftler in ganz Europa zu zahlreichen Wiederholungen und Variationen der Stromstoß-Experimente mit dem Gerät, das nun als Leydener bzw. Leidener Flasche4 bezeichnet wurde. 1729 hatte der englische Textilfärber Stephen Gray (1666–1736) bei Experimenten festgestellt, dass sich feuchte Seidenschnüre besonders gut für die Fortleitung von Elektrizität eignen und für dieses Phänomen den Begriff communication gebraucht.5 Durch Nollets Funkendemonstration kamen jetzt völlig neue Erfahrungen von Unmittelbarkeit und (scheinbarer) Gleichzeitigkeit hinzu. Im Aufspringen der Soldaten offenbarten sich charakteristische Eigenschaften elektrischer Medien: die Körper der Teilnehmer dienten hier als lebende Indikatoren. Mit Motiven überspringender Liebeskraft und leidenschaftlicher Entflammung hatten „Funkenzieher“ ihr Publikum einst in abgedunkelten Salons unterhalten. Die neuen, starken Funken bereicherten die Experimentalkunst nun auch bei Tageslicht und in großen Auditorien um Phantasmen (prä-)sadistischer Entladungslust – auf den elektrischen Kuss folgte der elektrische Schlag.6 Die Experimente setzten eine Wissensexplosion um das Wesen der neuen Kraft in Gang. Der literarische Begriff der ‚Empfindsamkeit‘ erhielt durch die

3 Briefbericht Kleists v. 19.12.1745, veröffentlicht im Anhang zu: Krüger: […] Geschichte der

Erde in den allerältesten Zeiten, S. 178.

4 Beide Bezeichnungen existieren parallel, wobei im deutschen Sprachraum wohl die Schreib-

weise ‚Leidener Flasche‘, im englischsprachigen ‚Leyden Jar‘ dominant ist.

5 Die zeitgenössischen Vorstellungen von der „elektrischen Materie“ als strömendem Fluidum

legten nahe, sich eines Begriffs zu bedienen, der in der Strömungsmechanik bzw. Hydrologie bereits etabliert war. Vgl. auch Hagen: „Stürmische Plötzlichkeiten“. In: Müller-Helle/Sprenger (Hrsg.): Blitzlicht, S. 104f. 6 Zu derart erotisch aufgeladenen Schauversuchen durch den einflussreichen Wittenberger Physiker Georg Matthias Bose siehe z. B. Feldhaus: Die Erfindung der Elektrischen Verstärkungsflasche durch Kleist: Zur Geschichte der Funkentelegraphie, S. 18f.

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Etymologie  funken

Funken aus der Flasche plötzlich seine Referenz in der Experimentalphysik.7 Schmerzhafte Selbstversuche gehörten bis weit in das 19. Jh. zur unumgänglichen Forschungspraxis.8 Als unsichtbares Fluidum sollte die Elektrizität imstande sein, tierische bzw. menschliche Körperenergien und auch den Fluss der Körpersäfte zu beeinflussen. Elektrische und magnetische Anwendungen, gekoppelt auch an einen bürgerlichen Unterhaltungs-, heute würde man es vielleicht Wellness-Bedarf nennen, begründeten den Diskurs der Elektrotherapie.9 Sie wird zum Scharnier zwischen theoretischer Physik und medizinischer Praxis. Die physikalischen Entdecker werden zu „Schutzpatronen“ medizinischer Anwendungen: Galvanisation, Faradisation, Franklinisation. ETYMOLOGIE Funken ist ein uraltes dt. Wort, dessen Bildung sprachwissen-

schaftlich als Konversion oder ‚merkmalloser Wortartwechsel‘ beschrieben wird, da das Verb unmittelbar aus dem Stamm des (noch älteren) Sub­stantivs gebildet wird.10 Voraussetzung dafür ist ein einfaches und semantisch aussagekräftiges Stammwort. Das Substantiv Funke(n) konnte laut Theorie in ein Verb funken überführt werden, weil es kein Kompositum ist und keine Affixe, also Anhängsel, wie -heit oder -ung besitzt. „Feuer-Funcken, scintillae, sind die einzelnen glüenden Theilgen, die ein feuriger Cörper von sich wirft, besonders aber nennet man Feuer-Funcken die kleinen glüenden Kügelein, die herausspringen, wenn man einen Stahl an einen Feuer-Stein schläget.“11 Diese Terminologie aus ZEDLERS LEXIKON von 1735 prägte bis in das 20. Jh. die Beschreibung nichtelektrischer Funken in deutschsprachigen

7 Vgl. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 36–39, der auf die Bezüge zwischen Lite-

ratur, Physiologie und Experimentalphysik im Kontext von ‚Sinnlichkeit‘ und Affekten hinweist.

8 Vgl. z. B. Ritter: Reizexperimente an Sinnesorganen. In: Ders.: Entdeckungen zur Elektro-

chemie, Entdeckungen zur Elektrochemie, Bioelektrochemie und Photochemie, S. 86ff.

9 Vgl. Gernet/Habrich: Unter Strom, S. 3ff. 10 Funke oder Funken – die Wörterbücher nennen beide Schreibweisen des Substantivs parallel,

wobei ‚Funken‘ (als Singular) i.d.R. als Nebenform zu ‚Funke‘ gesehen wird. Vgl. (Art.) Funke(n). In: Heyse: Handwörterbuch d. dt. Sprache (1833), S. 487; (Art.) Funke. In: Weigand: Deutsches Wörterbuch, Sp. 599; (Art.) Funke. In: Paul: Deutsches Wörterbuch, S. 301. Umgekehrt bei (Art.) Funken. In: Augst: Wortfamilienwörterbuch der dt. Gegenwartssprache, S. 425f. Zum Stand der Wortbildungstheorien vgl. an dieser Stelle Vogel: Wortarten und Wortartenwechsel, S. 1–6. 11 (Art.) Feuer-Funcken. In: Zedler, Sp. 751.

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Etymologie  funken

Nachschlagewerken. Funken werden wohl als einzelne Teilchen erkannt, treten aber in der Realität (außerhalb metaphorischer Darstellung) nicht einzeln auf. Entweder sind sie nur passiv beobachtbar als natürliche bzw. göttliche Erscheinung „einer gewissen Heftigkeit“12 oder aber sie werden hervorgerufen im Gebrauch von Technologie. Dann werden sie „geschlagen“ und sind Anzeichen einer Kraftentfaltung, die intendiert und gerichtet ist. Von nichts Geringerem als der Domestizierung des Feuers handelt der Perspektivwechsel zwischen dem ersten und dem zweiten Vorgang. Im Umfeld der Funken ist somit die Startoperation der menschlichen Kulturgeschichte zu verorten.13 Die Entstehung des Verbs funken könnte man in gewisser Weise als Reprise dieser kulturellen Aneignung auf sprachlicher Ebene beschreiben, die eine schrittweise Dynamisierung und Instrumentalisierung mit sich bringt. Als ursprünglich „kleinster Teil eines Feuers“ wird der Funke oder das Fünklein schlechthin als „ein kleiner Teil, ein Wenig, als Anfang oder Überrest einer größeren Menge oder Kraft“14 gesehen, so bei HEYSE 1833. Dass es sich allerdings nicht um irgendeine Kraft, sondern um diejenige eines archaischen Grundelements handelt, zeigt sein metaphorisches Potenzial: Bereits der „zündende Funke“ beinhaltet das bezeichnete Feuer im Ganzen. So genügt „ein Fünkchen Muth, Ehre, Liebe, Hoffnung“15 als Zeichen des Beseeltseins. In der christlichen Mystik des 13. Jhs. rückte das „Seelenfünklein“16 als scintilla animae in den Fokus religiöser Texte, wobei das Bild auf die Vorstellungen der antiken Philosophie zurückgeht.17 Seneca spricht in seinem DE OTIO von Funken des Himmels, die auf die Erde gesprungen sind und der menschliche Verstand nach dieser Art der Übertragung „von einem anderen Ort“ göttlichen Ursprungs sei. Der Funke liefert jenes Quantum heiliger Inspiration, welche zu Selbstvergewisserung und Urteilskraft befähigt.18

12 (Art.) Funken. In: Meyers Konversationslexikon, S. 787. 13 Vgl. die Dissertation von Weissmann: Sonne, Gral, Dämonen, S. 34–37. 14 (Art.) Funke. In: Heyse: Handwörterbuch d. dt. Sprache, S. 487. 15 Ebd. 16 Seneca: De otio [Über die Muße], V.5. 17 Vgl. Heidrich: (Art.) Fünklein; Seelenfünklein. In: Ritter, S. 1138. 18 Vgl. Fell et al: Erziehung, Bildung, Recht, S. 235f.

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Etymologie  funken

Funke(n) geht auf ein ahdt. funcho oder funko (laut PFEIFER nachgewiesen um 1000) zurück.19 „Fon, Fun, Feuer, und funa [heißt] brennen, im Ißländ. Fun, Feuer, im Griech. φανειν, leuchten. Die letzte Sylbe ist vielleicht das niedersächsische Zeichen des Diminutivs -ken, hochd. -chen, so daß Funken ein kleines Feuer bedeuten würde.“20 In der Bedeutung von Feuer wird das gotische fōn auf ein indoeuropäisches *peuor zurückgeführt.21 Daraus wiederum scheint das griech. pyros für ‚Feuer‘ sowie das umbrische pir bzw. das lat. purus für ‚rein‘ hervorgegangen zu sein. Gneist, Glim und Glunst waren Synonyme für ‚Funke‘, die im Dt. längst untergegangen sind. Allerdings hat sich in den skandinavischen (nordgerman.) Sprachen das Wort gnist (Dän.) bzw. gnista (Schwed.) erhalten. In der gemeinsamen ahdt. Wurzel ganchaista/ gneista/cneista liegt hier der Ursprung von ‚Knistern‘ als (offenbar nicht lautmalerischer) Begleiterscheinung des ‚Funkens‘ und sinnverwandter Vorgänge.22 „Im Alemannischen ist Funke in der Bedeutung ‚Freudenfeuer‘ verbreitet; daher Funkensonntag für den Sonntag nach Aschermittwoch, an dem von allen Höhen Freudenfeuer den Frühling begrüßen.“23 Im Schlesischen wurde ein ‚witziges Kind‘ als Funken/Funka bezeichnet, einen ‚raffinierten Mensch‘ hieß man auch Funkus.24 Witzig und verschmitzt treten auch die Funken im Kölner Karneval auf. Deren grellrote Uniformen zitieren die mittelalterlichen Stadtsoldaten, die sich wiederum auf die elf tropfenförmigen Flammen im Stadtwappen beziehen sollen.25

19 Vgl. (Art.) Funke. In: Pfeifer, S. 487. Zu Belegen in den Sprachstufen s. (Art.) funken, m. In:

Grimm – Neubearbeitung (2006), Sp. 1281 sowie (Art.) funken. In: Götze: Trübners Deutsches Wörterbuch, S. 477. Mhdt. vunke, mittelnl. vonke, neunl. vonk, (evtl.) mittelengl. fonke, woraus sich engl. funk („Funke, Zunder, Gestank“) ableitet. 20 (Art.) Funke. In: Krünitz, S. 464. 21 Vgl. (Art.) peuor. In: Pokorny: Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch, S. 828. 22 Vgl. (Art.) ganchaista; gneista. In: Schade: Altdeutsches Wörterbuch, S. 260. Vgl. (Art.) knistern. In: Schmitthenner: Kurzes Deutsches Wörterbuch für Etymologie, Synonymik und Orthographie, S. 152: „Knistern, v. d. ad. kaneisto der Funke, also Funken werfen“. Vgl. (Art.) Ganeist. In: Benecke/Müller/Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Sp. 461b–472b: „Die ableitung des wortes ist dunkel. Grimm stellt es zu dem altn. gnësta (strepere; vgl. ‚gnistern, knistern‘)“. 23 (Art.) Funke. In: Götze: Trübners Deutsches Wörterbuch, S. 478. 24 Vgl. (Art.) Funkus. In: Mitzka: Schlesisches Wörterbuch, S. 350. 25 Vgl. (Art.) Funken/Funk. In: Müller: Rheinisches Wörterbuch, Sp. 897f.

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Etymologie  funken

Eine Erweiterung der Semantik von Funke als Zeichen intendierter Handlungen ist in Kontexten zu sehen, die Leistung und Geschwindigkeit beschreiben. So erkannte man eilige Reiter daran, dass „die Funken stoben“, wenn die Hufeisen ihrer Pferde heftig an die Wegsteine schlugen. Funken als Verb ist seit dem mhdt. vunken nachweisbar, mittelnl. vonken, und es bezeichnete laut Neubearbeitung des GRIMMSCHEN WÖRTERBUCHS entweder „(durch lichtreflexionen) glitzern, aufleuchten, erstrahlen; auch aufblitzen“ oder „(durch glut oder feuer) funken von sich geben, glühen, sprühen“.26 Ähnlich dem ‚blitzen‘ kennzeichnet funken hier Phänomene, die zwar auch durch Menschen hervorgerufen werden können. Allerdings sind sie als reine Konsequenz ihrer Auslösung zu beobachten und erscheinen damit ihrer Art nach medial. Dies mag auch ein Grund dafür sein, warum in den entsprechenden Belegstellen der Wörterbücher, abgesehen von den Konventionen literarischer Berichtsform, ausschließlich die dritte Person Verwendung findet. Das Verb wird unpersönlich und intransitiv, also ohne Akkusativobjekt, gebraucht. Zur Ausleuchtung des Bedeutungsraums von funken lohnt sich auch ein Blick in die unmittelbare Nachbarschaft. Ein eingeschobenes ‚l‘ lässt aus dem ereignishaften funken in Iterativbildung ‚funkeln‘ werden. Funkeln ist also ein sich ,wiederholendes Funken‘, was in gewisser Weise paradox ist und dem Verb etwas Ironisches, Ambivalentes, um nicht zu sagen Unseriöses verleiht. In periodischer Wiederholung wird das Einmalige und Schlagartige des Funkens berechenbar, dies lässt ihn profan werden. Sobald der Funke seiner paradoxen, weil erwartbaren und zugleich übermächtigen Singularität beraubt ist, sobald die Spannung abfällt, führt der Weg vom geheimnisvollen Funkeln scheinbar zwangsläufig zum schnöden Gefunzel. Seine Langlebigkeit dürfte das Verb funken nicht zuletzt einem Potenzial verdanken, mit den unterschiedlichsten Spezialbedeutungen belegt zu werden. Vielleicht hängt dies auch mit der semantischen Stabilität des übergeordneten Substantivs Funke(n) zusammen. GRIMM verzeichnete im 19. Jh. neben dem häufigen, intransitiven funken z. B. eine transitive Variante aus der

26 (Art.) funken vb. In: Grimm – Neubearbeitung (2006), Sp. 1286.

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Kontexte   funken

„Gaunersprache“, in der funken für ‚kochen‘, ‚sieden‘, ‚braten‘, ‚brauen‘ steht.27 Auch erscheint ein reflexives sich funken, ebenfalls in der Stammbedeutung von ‚funken geben‘. Etwas über den Impulscharakter des Funkens können Dialektvarianten verraten. GRIMM nennt ein kärntnerisches fûnggn (mit langem u), wenn jemand „einen bauchwind fahren“28 ließ. Als Metapher „geistigen Anstoßes“ lässt sich das Substantiv elegant verwenden, während funken als Verb wohl eher zur Gewalt neigt. So hatte laut GRIMM das ältere vanke/ fanke, die Bedeutung eines ‚tüchtigen Schlags‘, woher die ‚Fänge‘ kommen, die jemand bezieht, der sich nicht ordentlich benimmt. Im Schweizerdeutsch meint funggen/fünken das unsanfte „stoszen des rindviehes mit den hörnern“ und das nicht weniger uncharmante „anstoszen mit dem fusze“29. Davon auf den ersten Blick sehr weit entfernt, wurde das Funktionsprinzip der neuartigen Lösch- bzw. Tonfunkensender ab 1905/06 als ‚Stoßerregung‘ bezeichnet, die eine deutliche Effizienzsteigerung der elektromagnetischen Sendeimpulse bedeutete.30 Im GROSSEN HERDER von 1932 wird unter ‚Funkensehen‘ schließlich jene „Sinnestäuschung“ aufgeführt, die „bei Druck oder Stoß gegen das Auge und bei Erkrankungen des Auges und Gehirns“31 auftritt. KONTEXTE   Am Übergang zum 19. Jh. stand der Funke noch überwiegend

im Kontext des Heiligen, des Feuers, kurz: höherer Gewalt. Aschenfunke, Augenfunke (Heine), Blitzesfunke (Herder), Eisenfunke, Feuerfunke, Geistesfunke, Götterfunke, Heldenfunke, Irrfunke (Goethe, Schiller) sind zu nennen, außerdem Kriegsfunke, Lebensfunke, Lichtfunke, Liebesfunke, Neidfunke, Sternenfunke, Verstandesfunke, Wollustfunke, Zornfunke u. a.32 Mit Verfügbarkeit der elektrischen Funken kommt eine Handlungsdimension hinzu, nachdem sie die Experimentalkunst im 18. Jh. aufgrund ihres Zünd- und Schlagpotenzials mit den Feuerfunken gleichgesetzt und Franklin zudem die prinzipielle Identität von Blitz und Funke nachgewiesen hatte.

27 Vgl. (Art.) funken. In: Grimm, Bd. 4, Sp. 607. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Vgl. Teuteberg/Neutsch (Hrsg.): Vom Flügeltelegraphen zum Internet, S. 121f. 31 (Art.) Funkensehen. In: Der Große Herder, Bd. 4, Sp. 1516. 32 Vgl. (Art.) funke. In: Grimm, Sp. 601.

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Kontexte   funken

Die Geschichte der Telegraphie im 19. Jh. könnte als Fortsetzung des herbeigeführten Funkenschlags als elektrischer Urszene betrachtet werden. Die darin im Kern markierten Eigenschaften elektrischer Medien provozierten technische Konfigurationen, die sich in permanenter Variation mit der Auslösung, Weiterleitung und Wirkungsdarstellung im elektrischen Stromkreis beschäftigten, allerdings nach einigen Jahrzehnten unter Ausschluss des menschlichen Körpers als „Messinstrument“. Im globalen Wettbewerb zwischen den Systemen der deutschen TelefunkenGesellschaft und Marconis britischer Wireless Telegraph Company zu Beginn des 20. Jhs. kulminierte eine nationalistische Aufladung des Funkens als Objekt und Handlung, die im 19. Jh. begonnen hatte. „Leidener Flasche“ – richtiger „Kleistsche Flasche“ – eine solche „Korrektur“ hatten deutsche Nachschlagewerke routinemäßig vorgenommen, um den Gebrauch der Funken auf das Fundament einer „deutschen“ Idee zu stellen.33 Das deutsche Funken in seiner begrifflichen Behauptung gegen das internationale ‚wireless‘ bzw. ‚Radio‘ entfaltete eine Dynamik, die separate Medienkulturen zur Folge hatte. Gleichzeitig wirkt diese sprachliche Inbesitznahme des Funkens aus heutiger Sicht auch wie ein hoffnungsloser Versuch, auch dessen paradoxe mediale Eigenschaften in den Griff zu bekommen, die eines unbegreiflichen, notorisch abstrakten und dadurch auch symbolisch überdeterminierten ‚Objekts‘. Schon die Forscher der Jahre 1745/46 hatten das Licht des Funkens gesehen, das ‚elektrische Feuer‘ entfacht. In den Salons wurden mithilfe elektrisierter, menschlicher „Medien“ Flüssigkeiten durch elektrische Funken gezündet, was die Analogie der elektrischen mit den Feuerfunken demonstrierte und im Falle des Spiritus Assoziationen ins Transzendentale weckte. Im Hinblick auf die Herausforderung seiner Interpretation tappten sie allerdings gleichermaßen im Dunkeln. Nachdem Kleist sich in seinem Bericht ganz auf den „Inhalt“ der Flasche konzentriert hatte und der Umstand, dass er sie während der ganzen Dauer des Experiments in der geerdeten Hand gehalten hatte, nicht ausreichend gewürdigt worden war, scheiterten die ersten Wiederholungen des Versuchs,

33 So z. B. im (Art.) Leidener Flasche. In: Der Große Herder, Bd. 2, S. 847.

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Kontexte   funken

so dass seine Korrespondenten die Bedeutung der Entdeckung zunächst unterschätzten.34 Die Folge war, dass Kleists Bericht zunächst auf den Postwegen der preußischen Akademien zwischen Danzig und Berlin versandete.35 Musschenbroeks Veröffentlichung erwies sich als durchschlagender. Denn es war der berühmte Abbé Nollet, bald darauf erster Professor für Experimentalphysik in Frankreich und zuvor bereits Konstrukteur leistungsfähiger Elektrisiermaschinen, der den Bericht Musschenbroeks von seinem ehemaligen Mentor Réaumur zu lesen bekam. Sofort inszenierte er eine effektvolle Performance vor dem mächtigsten europäischen Hof. 36 Der eingangs geschilderte, simultane Sprung seiner Gardeoffiziere konnte Ludwig XV. und seinem Hofstaat in Versailles eine Ahnung davon vermitteln, dass man mit der Leidener Flasche das Basisinstrument einer noch völlig unbekannten Qualität in Händen hielt, deren Potenzial sich in der totalen Kontrolle über die Affekte der „Beteiligten“ äußerte. So wurde schon zu Nollets Zeiten eine ‚Batterie‘ – durch Kopplung des Speicherungs- und Leitungsprinzips im Zusammenschalten weiterer Leidener Flaschen mittels Draht bzw. Metallstäben, entwickelt. Mit dieser Formation ließen sich die Schlagwirkungen praktisch unbegrenzt addieren, was schnell zu einer Frage von Leben und Tod werden konnte. Der Gebrauch dieses mächtigen Potenzials schien folglich ein natürliches Privileg der Obrigkeit zu sein, zumindest hatte die Staatsmacht ein Interesse an der Reglementierung des Gebrauchs.37 Von ihren Anfängen ab 1897 über die Einführung des Rundfunks in den Jahren 1923/24 bis in unsere digitale Gegenwart hinein werden die Rahmenbedingungen des Funkens von staatlicher Stelle oder durch von den Staaten beauftragten Institutionen gesetzt.

34 Von dem anfangs irrtümlichen Fokus zeugt z. B. schon der Titel des Berichts bei: Winkler:

Die Stärke der Electrischen Kraft des Wassers in gläsernen Gefäßen.

35 Vgl. Feldhaus: Zur Geschichte der Funkentelegraphie, S. 13. 36 Zum Berichtsweg der Entdeckungen vgl. Lommel: (Art.) Kleist, Ewald Jürgen von. In: His­­

torische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Allgemeine Deutsche Biographie, S. 112–113. 37 Schon der Begriff der Batterie weist in diese Richtung. Das frz. Verb battre, das in seiner metaphorischen Breite und Totalität dem Funken in nichts nachsteht, bedeutet kämpfen, schlagen, schießen, und als Batterie bezeichnete man im Militärjargon den Ort, an dem die schweren Geschütze aufgefahren wurden.

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Kontexte   funken

Die mit der Leidener Flasche erzeugbaren starken Funken gaben auch einer der ältesten Wissensfragen neue Kontur, nämlich der Frage nach dem Ursprung von Blitz und Donner. Benjamin Franklin, als Physiker seinerzeit Nollets größter Konkurrent, wies 1751 in den EXPERIMENTS einen Weg zur Überprüfung der in buchhalterischer Trockenheit formulierten These, dass Blitze nichts anderes als elektrische Entladungen seien. Schließlich wurde der spätere Erfinder des Blitzableiters im vorrevolutionären Frankreich zu einer Heldenfigur, einem Prometheus, der allein mit der Kraft der Vernunft den Göttern den Blitz entrissen hatte.38 „Mit der Leidener Flasche kam ‚das‘ wichtigste Laborgerät der nächsten anderthalb Jahrhunderte in die Welt“39, betont Wolfgang Hagen in seinem grundlegenden Beitrag zur Wissen(schaft)sgeschichte des elektrischen Funkens. Ein halbes Jahrhundert nach der Entdeckung der Leidener Flasche definierte Alessandro Graf Volta ihre physikalische Funktionsbezeichnung, die bis heute gilt: Als Kondensator wird seitdem das „älteste ‚passive‘ Element der elektrischen Schaltungen“40 bezeichnet, das sich in inzwischen abstrakter Verkleinerung und Verkapselung auf nahezu allen Platinen elektronischer Geräte findet. Mit Leidener Flaschen, Spule und Funkenstrecke erzeugte Heinrich Hertz 1886 seine Laborfunken, deren Wirkungen den Nachweis elektromagnetischer Schwingungen oder Wellen ermöglichten. Leidener Flaschen wurden danach zur Schwingungserzeugung in den Knall- und Tonfunkensendern von Telefunken benötigt41 und prägten den charakteristischen Aufbau der frühen Sendeanlagen. Im Vergleich zur kabelgebundenen Telegraphie kam den Operateuren der Funktechnologie von Anfang an eine besondere Rolle zu. Auf große Entfernung war das Signal vom atmosphärischen Rauschen allein durch das Gehör zu unterscheiden, das nun mittels Kopfhörer in den Stromkreis „eingeschaltet“ wurde. 38 Vgl. Hochadel: (Art.) Blitzableiter. In: Enzyklopädie der Neuzeit, S. 302f. Vgl. auch Tucker:

Bolt of Fate und dessen kritische Rezension von Schiffer: Bolt of Fate (review). In: Technology and Culture, S. 839–840. Tucker ist aufgrund eigener Wiederholungsversuchen sogar der Ansicht, dass Franklins entscheidendes Drachenexperiment zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nur Science Fiction gewesen sei. 39 Hagen: „Stürmische Plötzlichkeiten“. In: Müller-Helle/Sprenger (Hrsg.): Blitzlicht, S. 108. 40 Kloss: Von der Electicität zur Elektrizität, S. 44. 41 Vgl. Friedewald: Die „Tönenden Funken“, S. 60f.

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Kontexte   funken

Seit dem ersten Drittel des 19. Jhs. hatte der menschliche Körper zum Nachweis von Elektrizität weitgehend ausgedient. Elektromagnetische Armaturen waren an die Stelle der Körpererfahrungen getreten. Nun wurde der Körper zur Wahrnehmung der vom Sender erzeugten Funken wieder benötigt. Die Behörden hatten mit dieser Lücke im Signalweg, die allein durch die sich ihrer Bedeutung bewusst werdenden „Funker“ zu schließen war, ihre Probleme.42 Angesichts des massenhaften Einsatzes im Ersten Weltkrieg stieß die Wellenerzeugung mithilfe sicht- und hörbarer43 Funkenüberschläge zudem an ihre Grenzen. Je mehr Funken-Sender auf kleinem Raum gedrängt wurden, umso deut­licher wurde Befehl gegeben: ‚Funk-Telegrafie Gebrauch […] unzulässig, größte Beschränkung erbeten‘, denn das ‚ausschließlich gedämpfte Funkgerät‘, ‚sprich das Funkengeknatter auf breitbandigen Frequenzen, störte sich gegenseitig nachhaltig‘ und musste also immer dann, wenn es wirklich gebraucht wurde, außer Betrieb gesetzt werden.44

Der Dichter Friedrich Rückert (1788–1866) hat sich durch einschlägige Zitate als großer Fan der elektrischen Funken zu erkennen gegeben und gab Zeugnis von ihrem metaphorischem Gehalt zu Beginn des 19. Jhs. Im LIEBESFRÜHLING heißt es: „Geh und sauge Liebesäther / Sauge ganz dich voll und stark! / Und dann wie ein Wunderthäter / Töne, sprich durch Bein und Mark. / Laß das Lied elektrisch funken, / Daß die Nerven Wollust schwellt; / Singe, daß in Liebe trunken / Selig untergeh’ die Welt.“45 Zwar wird man solcher „Elektropoetik“ (Wolfgang Hagen) ihren eindeutigen Ort in der Literatur der deutschen Romantik zuweisen können. Allerdings lässt sich am Objekt des Funkens auch die Wiedergeburt dieser Ästhetik im Ätherpathos des frühen deutschen Rundfunks nachzeichnen. Wie kam es nun zur historischen Emanzipation vom

42 Vgl. Bredow: Im Banne der Ätherwellen, S. 40. Bredow betont an dieser Stelle in seiner

Autobiografie, wie sehr die Techniker damals um den „Hörempfang“ als besseren Empfangsmodus kämpfen mussten. Die Behörden bestanden auf den aus der Telegraphie bekannten Morseschreiber, der das empfangene Signal ohne menschliche Zwischeninstanz und dadurch „offiziell“ und unbeeinflussbar auf Papier brachte. 43 Die akustische Reichweite der ersten Sendeanlagen soll Bredow zufolge die elektromagnetische übertroffen haben. 44 Hagen: Das Radio, S. 65. 45 Rückert: Liebesfrühling. In: Ders.: Friedrich Rückerts gesammelte Poetische Werke, S. 386.

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stets unpersönlichen (willentlich nicht beeinflussbaren) Zustands ‚es funkt‘, über den dieses Grundproblem trickreich umschiffenden Imperativ ‚lass’ es funken‘ hin zum heute selbstverständlichen ‚Ich funke‘? KONJUNKTUREN  Das achtzehnbändige Wortfamilienwörterbuch von Jochen

| 1  ‚durch Funk (1) übermitteln‘ | 2  ‚Funken (1) sprühen, von sich geben‘ | 3  ugs. ‚funktionieren‘[46] | 4  ugs. ‚schießen‘ | 5  es funkt ugs.: a) ‚jmd. bekommt Schläge‘ b) ‚es gibt eine Auseinandersetzung‘ c) ‚ jmd. versteht, merkt, begreift endlich etw.‘ d) ‚etw. glückt, gelingt (wie geplant)‘ e) ‚ein enger persönlicher Kontakt, eine Liebesbeziehung entsteht‘.47

Hieran ist zu sehen, dass sich die Semantik bis auf ihren archaischen Kern des ‚Funken sprühens‘ seit den Tagen der Grimmschen Forschungen von ihrer ursprünglichen Konnotation mit dem Feuer weitgehend verabschiedet zu haben scheint. Fast alle aufgeführten Bedeutungen beschreiben Vorgänge mehr oder weniger erfreulichen ‚Kontakts‘. Eine Zwischenposition kommt der im Ersten Weltkrieg geprägten Bezeichnung für ‚Schießen‘ zu. Die romantischen Facetten verblassten, als sich der Funke beim Funken entmythologisierte. Sein Potenzial geriet nun endgültig in menschliche Hand, wurde alltägliches Werkzeug. Umgangssprachliche Erweiterungen begleiteten diese Operation. ‚An-funken‘ (= ‚jmd. Durch Funkspruch anrufen‘), ‚hin-ein-funken‘ (= ‚sich in jmds. Angelegenheiten, Arbeit einmischen‘) und ‚da-zwischen-funken‘ (= ‚sich in etw. Einschalten und dadurch den Ablauf von etw. (absichtlich) stören oder einen Plan durchkreuzen‘) waren Präfixe, die nun das SelbstFunken-Können anzeigten. Allerdings beschleunigte diese Selbstermächtigung, die sich mit der alten Omnipotenz einer ‚höheren Gewalt‘ zu verbinden

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Konjunkturen  funken

Splett (erschienen 1992–2009) verzeichnet fünf Hauptbedeutungen des Verbs funken im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch:

46 Allerdings ohne dabei eine Kurzform von ‚funktionieren‘ zu sein, da dieses Fremdwort lat.

Ursprungs bzw. aus der frz. Verwaltungssprache entlehnt, erst danach in den deutschen Wortschatz kam. 47 Splett: (Art.) funken. In: Ders.: Deutsches Wortfamilienwörterbuch, S. 208. Dem Wörterbuch liegt der Wortschatz des DUDEN als Material zugrunde, dessen Repräsentativität an dieser Stelle nicht zu diskutieren ist.

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Konjunkturen  funken

suchte, die Trivialisierung des Funkens. In der Bedeutung von ‚Kontakt‘ bzw. ‚Nachrichten übermitteln‘ hat sich das Verb innerhalb weniger Jahrzehnte des 20. Jhs. schließlich vollständig vor die Kulisse seiner jahrhundertelangen Begriffsgeschichte geschoben. Dies ist umso erstaunlicher, als es sich hier offensichtlich um eine völlige Neuableitung handelte48, die scheinbar aus dem Nichts gekommen war. So schreibt Winfried B. Lerg zur ENTSTEHUNG DES RUNDFUNKS IN DEUTSCHLAND, dass es noch 1928 keine einheitliche Bezeichnung für die „drahtlosen Nachrichtenverkehrsmittel“49 gegeben hätte. Damit drückte sich ein Erstaunen darüber aus, dass der offizielle Begriff, noch immer nicht konsequent genug von allen Stellen gebraucht wurde, gleichwohl er etabliert war. „Kann man sich etwas Sinnfälligeres und Bildkräftigeres denken als das Funken? Aber auch nach einer anderen Seite hin hat das Wort noch einen unschätzbaren Vorzug, daß nämlich die Stelle dafür in unserer Sprache noch frei ist,“50 war im Juni 1914 in der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins zu lesen. „Nicht, daß das Wort neu wäre; es ist im Gegenteil schon recht alt. Aber es ist gegenwärtig erstorben und lebt wohl nur noch in der Sprache älterer Dichtungen“51, hatte Otto Sarrazin, Berliner Oberbaurat und Vorsitzender des Sprachvereins, geschrieben. Die Wiederbelebung dieses ‚erstorbenen‘ Wortes mit einer völlig neuen, technologischen Semantik, war der Erfolg einer sprachpolitischen Kampagne, die maßgeblich von Sarrazin koordiniert wurde. Seit 1886 war er Herausgeber eines VERDEUTSCHUNGS52 WÖRTERBUCHS . Im Zusammenspiel mit Vereinspublikationen ging es freilich nicht nur um Übersetzung von Fremdwörtern, sondern auch um deren aktive Verhinderung, wenn sie sich im Zuge technischer Neuerungen ihren Weg in die Alltagssprache zu bahnen drohten. Hauptfeind dieser Bestrebungen war (damals wie heute) die Presse, die unreflektiert mit Fremdwörtern umging oder

48 Für eine eigenständige Wortbildung vom Substantiv spricht nach Auskunft von Dr. Elke

Donalies vom IDS Mannheim die Zurechnung des Verbs zu den Instrumentiva sowie die Valenz des Verbs, das einen menschlichen Aktanten verlange. 49 Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland. In: Historische Kommission der ARD (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte des deutschen Rundfunks, S. 19–23. 50 Sarrazin: Sprachliches zur „drahtlosen Telegraphie“. In: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Sp. 197. 51 Ebd. 52 Ders.: Verdeutschungs-Wörterbuch.

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Konjunkturen  funken

den vermeintlichen Volksmund zitierte und sich auch nicht ohne weiteres zu Regelungen zwingen ließ. So war auch dem Versuch, das Telegramm durch eine doch eigentlich viel griffigere ‚Drahtung‘ und telegraphieren durch ‚drahten‘ zu ersetzen, letztlich kein Erfolg beschieden. Dabei zeichneten sich mit dem Aufkommen der neuen Kommunikationstechnologie ernsthafte (Sprach-)Probleme ab. Die wurde von ihrem Erfinder Marconi in strategischer Absicht, gerichtet an die Adresse der britischen Seekabelverwaltung, als ‚wireless telegraphy‘ bezeichnet und dann als ‚drahtlose Telegraphie‘ zunächst auch von den deutschen Ingenieuren übernommen.53 Letztere suchten den anfänglichen technologischen Rückstand aufzuholen, machten sich aber mit zwei inkompatiblen Systemen gegenseitig Konkurrenz, bis die von AEG und Siemens repräsentierte Industrie durch einen Erlass Kaiser Wilhelms II. in einer Gesellschaft für drahtlose Telegraphie zwangsvereint wurde. Physikprofessor Adolf Slaby hatte das Wort ‚Funkentelegraphie‘ in Anlehnung an die durch Heinrich Hertz 1888 beschriebene Erzeugungsmethode vorgeschlagen, die Postverwaltung übernahm es 1901/02 und kürzte es bald darauf in ‚Funktelegraphie‘.54 Als im Jahr darauf (ausgerechnet) eine Telegrammadresse für die neugegründete Gesellschaft gesucht wurde, schlug man ‚Telefunken‘ vor. Hans Bredow propagierte, diesen Namen offiziell zu verwenden und so war mit dem „System Telefunken“ bald die schlagkräftige Bezeichnung für eine „deutsche“ Technologie gefunden. Funken stand, allerdings noch als Unterbegriff von ‚drahtlos telegraphieren‘, erstmals in der fünften Auflage des VERDEUTSCHUNGS-WÖRTERBUCHS von Otto Sarrazin, erschienen im Juli 1918. Nach dem Vorschlag dieser Neuschöpfung kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges fand der expansive und beschleunigte Gebrauch der Funktechnik, zunächst auf See und dann auch zu Land statt. Vor allem die Marine schien bereits im Vorfeld mit dem prägnanten

53 In Marconis Sendeanlage wurden zwar auch Funken (sparks) erzeugt, also auch im englisch-

sprachigen Raum als Komponente des Senders beschrieben, der allerdings in seiner Gesamtheit ‚transmitter‘ heißt. Und es hat sich auch kein dem ‚Funken‘ äquivalentes ‚to spark‘ etabliert. Im Gegenteil hat sich sogar das aus der Telegraphie stammende ‚to cable‘ als Begriff des Sendens bis in jüngste Zeit erhalten. 54 Vgl. Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland. In: Historische Kommission der ARD (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte des deutschen Rundfunks, S. 19.

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Gegenbegriffe  funken

‚Funkspruch‘ und seinem ‚Funker‘ als Rollenbezeichnung an Bord zu einer Differenzierung beigetragen zu haben. Nach dem Ende des Kriegs sorgte Bredow dafür, dass sich aus den ehemaligen Funkerbrigaden keine Amateurfunkbewegung entwickeln konnte, wie es sie in den USA gab. Stattdessen trieb er die Institutionalisierung des ‚Rundfunks‘ unter staatlicher Aufsicht voran. Die sprachpolitische Etablierung des wohl 1919 von ihm in Umlauf gebrachten Begriffs setzte Bredow nun aktiv fort im Kampf gegen das amerikanische und inzwischen auch in Europa um sich greifende ‚Radio‘ bzw. das britische ‚Broadcast‘. Der Berliner Sender befand sich bereits sechs Monate im regulären Programmbetrieb, als dessen Betriebsgesellschaft, die Radio-Stunde AG, zur Umbenennung in Funk-Stunde AG gezwungen wurde.55 In der Folge blieb es bei den Formationen, die bereits tief in seiner Etymologie angelegt sind: ‚Funken‘ und ‚Rundfunk‘ wurden zu Begriffen des „von oben“ legitimierten, institutionalisierten Mediengebrauchs. Am Präfix ‚Funk-‘ ließ sich die Zugehörigkeit zu einer offiziellen bzw. öffentlichen Infrastruktur erkennen. GEGENBEGRIFFE  Ein direktes Antonym zu funken/‚Funke‘ als seiner Wahr-

nehmung nach plötzlichem, totalem und irreversiblem Vorgang oder Ereignis scheint es nicht zu geben. ‚Warten‘ wäre hier als zur ‚Funkstille‘ gehörige Tätigkeit zu nennen. Funken/‚Funke‘ entgegenstehend bzw. diese neutralisierend sind: erden, löschen, isolieren. Semantisch gleichgerichtete sind z. B. blitzen, wettern, brennen, kurzschließen, kontaktieren, (an-)zünden, anstecken, übertragen, (sich) abstimmen, verstehen, drahtlos übermitteln, (aus-)senden, (aus-) strahlen, (im Rundfunk) bringen. PERSPEKTIVEN   Seit seiner Einführung vor hundert Jahren hat funken als medientechnologischer Begriff eine erstaunliche Karriere hinter sich, nicht zuletzt als Bestandteil und Motor einer nationalen Technikkultur und einer damit eng verbundenen Sprachpolitik. Die Aufzählung der zur Gegenwartssprache gehörigen Begriffe mit ‚Funk-‘ füllte im Wörterbuch von Splett noch mehrere Seiten. Schenkt man dem umgangssprachlichen Wörterbuch von Küpper Glauben, ließen sich mit dem Begriff noch vor zwei bis drei Jahrzehnten

55 Ebd., S. 22.

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Perspektiven  funken

nahezu alle Spielarten menschlichen Kontakts benennen.56 Im Zuge der „digitalen Revolution“ ist das Begriffsfeld des Funkens nun massiv in Bewegung geraten. Die Journalistin Sylvia Baumeister gab im September 2013 ihrem Artikel über die Abschaltung des Mittelwellensenders in Berlin Britz den – vielleicht nicht pathetisch gemeinten – Titel: RUNDFUNK-ÄRA GEHT ZU ENDE.57 90 Jahre nach seiner Einrichtung haben die deutschen Rundfunkanstalten mit der sukzessiven Abschaltung der Lang- und Mittelwellenfrequenzen inzwischen das Ende eines analogen Systems eingeleitet, dessen Hauptnachteile ein hoher Energieverbrauch auf der Senderseite und eine eingeschränkte Klangqualität sind. Andererseits stand mit diesem System eine extrem krisensichere Infrastruktur hoher Reichweite zur Verfügung, an die man sich mit einfachsten Mitteln anschließen konnte, teilweise sogar ohne eine eigene Stromversorgung, weshalb die Technologie in Gebieten jenseits hoher Netzdichte noch weltweit genutzt wird. Charakteristische Störungen wie knacken, knistern, rauschen, die den und das Funken als Begleiterscheinungen der Technologie identifizierbar machten, sind inzwischen nicht nur aus den Kopfhörern und Lautsprechern verbannt, sondern auch aus anderen (sichtbaren) Alltagsbereichen. Der Begriff scheint dadurch zunehmend obsolet und damit austauschbar zu werden. Funken dürfte sich in seiner Anwendbarkeit wieder auf die alten Domänen zurückziehen, v. a. im autorisierten, dienstlichen, spezialisierten Sendebetrieb als hoheitlicher Aufgabe. Denn funken an Bord oder mit einem Funkgerät der Polizei, in der Notfallmedizin, bei der Absicherung von Großereignissen durch Sicherheitsdienste oder im Kontakt mit der Raumstation wird weiterhin zur Kennzeichnung autorisierter, also drahtloser 1:1-Kommunikation in der Bezeichnung spezieller, exklusiv gesicherter Gerätekonfigurationen weiterleben. Vor dem Hintergrund internationaler Standardisierungen scheinen Begriffe wie ‚wireless‘ und ‚Radio‘ die ehemaligen Felder von funken weitgehend zu absorbieren; ganz im Gegensatz zum ‚Senden‘/der ‚Sendung‘. Der ‚Netzwerk‘-Begriff, dessen Versprechen eine permanente, diskrete, bidirektionale Verbindung ist

56 Vgl. (Art.) funken. In: Küpper: Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache, S. 954. 57 Baumeister: Rundfunk-Ära geht zu Ende – Deutschlandradio schaltet Sendestelle am Brit-

zer Damm ab. In: Berliner Woche, S. 37.

283

Forschung  funken

(mit ‚upload‘/‚download‘-Möglichkeit) steht im krassen Gegensatz zur Exklusivität, Plötzlichkeit und Unidirektionalität des Funkens und scheint stärker zu sein, selbst wenn es sich um ein (technisch prinzipiell fragiles) ‚Funknetzwerk‘ handelt. Fortbestehen wird ‚-funk‘ als Namensbestandteil öffentlicher Institutionen, die den Begriff seit den 1920er Jahren im Namen tragen, also der Rundfunkanstalten in Deutschland und Österreich.58 Ein Vierteljahrhundert nach der Einführung des „Dualen Systems“ und der flächendeckenden ‚Formatierung‘ der Programme haben Terminologien der amerikanischen ‚Radio‘-Tradition die Verwendung von ‚Funk-‘ im Produktionsbetrieb der Sender indes längst abgelöst. Fortbestehen wird der ältere Gebrauchsstrang von funken wohl weiterhin in der Benennung sinnlich-sozialer, auch politischer Ereignisse, die mit den überlieferten Attribuierungen von ‚Kontakt‘ bzw. ‚Feuer‘ im Sinne spontaner emotionaler Bewegungen zwischen zwei Menschen bzw. einem Menschen und einer Gruppe metaphorisch beschrieben werden, die keiner geregelten Kontrolle unterliegen. FORSCHUNG  Mit Arbeiten zur ‚medialen Genealogie des elektrischen Funkens‘ (Wolfgang Hagen) bzw. zur ‚Kultur der Übertragung und der Konjunktur des elektrischen Mediums‘ (Ralf Bohn) liegen wegweisende Beiträge zur Geschichte elektrischer Medien und der Rolle des Funkens aus medientheoretischer bzw. epistemologischer Perspektive vor, die damit auch an frühere technik- und wissenschaftshistorische Arbeiten anschließen. Für die weitere Forschung zur Medienkulturgeschichte des Funkens könnte die Betrachtung konkreter Gebrauchsformen zum Erkenntnisgewinn beitragen und zwar vor dem Hintergrund der Umstände und Umfelder, die zu bestimmten Begriffsprägungen geführt haben. Ein fokussierter Blick auf die konkreten Wechselbeziehungen zwischen der Genese technologischen Wissens und den sprachlich-semantischen Einordnungsprozessen, in die sie eingebettet ist, könnte einen Beitrag zum Verständnis kulturgeschichtlicher Entwicklungen liefern.

58 Die Schweiz hatte sich seinerzeit für die Variante „Rundspruch“ entschieden.

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GAMEN MATHIAS FUCHS

ANEKDOTE   Ein österreichischer Schachmeister berichtete neulich zum

Anekdote  gamen

G

Gaudium einer Runde von Schachsachverständigen, der ich als Kiebitz und Nichtfachmann beisaß, dass eine automatische Übersetzung eines Textes ins Deutsche als Resultat den Satz geliefert habe: „Die Schachspieler trafen sich im Wiener Café Museum um zu gamen.“1 Das Gelächter der Anwesenden beruhte auf der Verwechslung einer intellektuell anspruchsvollen, anstrengenden Tätigkeit mit einer leichtfertig zur Schau gestellten Handlungsweise; und tatsächlich müsste die Übersetzung höchstwahrscheinlich korrigiert werden: Falls die Schachspieler sich zum Schachspielen getroffen haben, so ist ihre Beschäftigung als spielen zu bezeichnen und nicht als gamen. Gamen entspringt dem Jargon einer Jugendkultur, die spielerische Tätigkeiten mit einer Befindlichkeit des Spielenden verknüpft, die fern von der Verfassung ernsthaft am Schachbrett Versammelter liegt. ETYMOLOGIE  Ein Mangel an passenden deutschen Wörtern kann kaum der

Grund dafür sein, dass wir die spielerische Beschäftigung mit Computerspielen im Dt. als gamen bezeichnen. Es ist darüber hinaus auch keine anglizistisch motivierte und korrekte Lehnübersetzung, wenn wir „sie spielen“, mit „sie gamen“ übersetzen. Spielen sollte man ins Engl. mit to play übersetzen und die Tätigkeit des Spielens wird im Engl. – durch den Wortstamm ausgewiesen – deutlich vom Spiel (game) oder vom Spielzeug (toy) unterschieden.2 Der Begriff des Gamen ist dem Jargon der Jugendlichen verpflichtet, von Journalisten, die ihn von diesen übernahmen, popularisiert worden und schließlich von der Werbesprache, die sich der Wortschöpfung der beiden vorher genannten Gruppen bediente, appropriiert worden.3 Gamen scheint eine sorgenfreie und zeitgemäße Form

1 Die Unterhaltung fand im Wiener Café Museum am 6. Mai 2013 statt. Das Café Museum

ist ein traditioneller Treffpunkt der Wiener Schachszene.

2 Vgl. (Art.) play. In: Harrap’s German Dictionary, S. 284. 3 Vgl. Greentube: In Game Advertising – Ein Umbruch im Marketing. Unter: http://www.

greentube.com/de/iga/ [aufgerufen am 24.09.2013].

288

G

Kontexte  gamen

spielerischer Aktivität zu sein. Gamen verweist aber jenseits der Referenz auf das Spiel auf einen Benutzungszusammenhang, der von leichtfertiger, entspannter, finanziell interesseloser und sozial eingebetteter Tätigkeit spricht. Wenn man in einem Blogpost liest: „Er hatte kein spezifisches Wissen von Games, keinerlei Taktik oder Strategie – jedenfalls keine, die er hätte erklären können. Stattdessen gamte er auf einer rein instinktiven Ebene“4, so wird deutlich, dass gamen als eine kognitiv-motorisch durchgeführte, unbewusste Handlung verstanden wird, die von dem, was beispielsweise Schachspielen bedeutet, meilenweit entfernt ist. Im Umfeld des Begriffs gamen werden oft andere Tätigkeiten – oder Inaktivitäten – wie chillen, abhängen oder auch surfen (im Internet) angesprochen. Wesentlich dafür scheint wiederum zu sein, dass die Aktivitäten wie auch die Inaktivitäten sich als gemeinsam erfahrbar qualifizieren lassen. Die etymologischen Wurzeln des engl. game verweisen dann auch einerseits auf das altengl. „gamen“ für Spiel, Unterhaltung und Spaß und andererseits auf das got. „gaman“, das sich aus dem Kollektiv-Präfix „ga-“ und der Endung „-mann“ für Personen zusammensetzt. „Gaman“ bedeutet also „Personen, die zusammen sind“.5 Nun mag es scheinen, als würde ein rebellisches „Mir ist langweilig, ich gehe gamen“, eine Ankündigung selbst­ auferlegter Isolation sein. Doch gerade weil die meisten Spiele, die man eher als Gamer denn als Spieler betreibt, ein soziales Element einschließen, bedeutet das „Ich gehe gamen“ dann eher den Wechsel in eine andere, möglicherweise inspirierendere Sozialität: beispielsweise die Wälder von World of Warcraft oder die Siedlungen auf fernen Asteroidengürteln in Eve online. KONTEXTE  Subjekt des Gamens ist der Gamer – und nicht der Spieler. Die

Dostojewskijsche Figur des willenlos dem Spiel ausgelieferten Spielsüchtigen deckt sich nicht mit dem Gamer, der stets auch etwas anderes als nur spielen kann. Dostojewskij beschreibt den Spielsüchtigen, als jemanden, der dem Automatismus des Spieles so stark ausgesetzt ist, dass er das soziale Umfeld völlig aus den Augen

4 Im engl. Original heißt es: „He had no specific knowlege of games, no tactical skills or stra­

tegy– at least none he was aware of. Instead he was gaming instinctively.“ Dies ist ein Kommentar von einem Poster mit dem Pseudonym „SxAxBxRxExS“ am 12. September 2013 um 14:06. Unter: http://www.callofdutyzombies.com/forum/ [aufgerufen am 24.09.2013]. 5 Vgl. (Art.) game. In: Liberman: An Analytic Dictionary of English Etymology, S. 15.

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Kontexte  gamen

verliert. „Er war blaß, seine Augen glühten, die Hände zitterten; er setzte so viel er mit der Hand greifen konnte“6. Der Spielsüchtige ist das Gegenteil von cool, er ist uncool. Dem Gamer dagegen geht es nicht in erster Hinsicht um Gewinn oder Verlust, sondern um die Sichtbarkeit seiner Tätigkeit in einem sozialen Kontext. Nicht unähnlich ist der Gamer in dieser Hinsicht dem „eleganten Spieler“ wie Roger Caillois jenen nennt. „Als eleganten Spieler erkennt man allgemein denjenigen an, der es versteht, mit Distanz, Lässigkeit und zumindest dem Anschein nach kaltem Blut dem negativen Ausgang der angestrengtesten Bemühungen oder auch dem Verlust eines maßlosen Einsatzes entgegenzustehen.“7 Wie der elegante Spieler ist auch der Gamer stets um seine Wirkung auf die ihn umgebenden Mitspieler und Zuschauer bedacht. Der Gamer spielt nicht nur für sich allein, und der elegante Spieler spielt eigentlich ausschließlich für die anderen. Gamen ist daher als eine soziale Tätigkeit zu verstehen. Spieltypen lassen sich auf ihre Verwendbarkeit für den Gamer untersuchen: So sind die Casual Games, also unprätentiöse und einfach zu bedienende Computerspiele, die gratis oder für einen niedrigen Preis angeboten werden, dem Gamen dienlich, während Geschicklichkeitsspiele und Emulationen von Kartenspielen eher ein Spielen als ein Gamen zulassen. Zeitaufwendige und verantwortungslastige Genres wie Massively Multiplayer Online Role-playing Games erfordern dem Spielziel verpflichtete Spieler und lassen ein Gamen beinahe nur als ‚korrumpierte Form‘ des Spielens zu.8 Interesse an monetären Erfolgen sind ebenfalls als korrupt im Cailloisschen Sinne einzustufen. Ein Jugendlicher, der beispielsweise am Online Poker mit finanziellen Gewinnaussichten teilnimmt, ist kein Gamer sondern ein Gambler. Es scheint, dass Gamer, Gambler und Spieler sich bezüglich der Motivation für ihre Tätigkeit unterscheiden. Dem Spieler geht es in erster Linie um die Freude am Spiel, er sieht sich im Spielzusammenhang als Kontrahent einer maschinellen Intelligenz, einer Gruppe von Gegenspielern oder eines Regelsystemes, in dem er sich geschickt zurechtzufinden versucht. Ludische Kommunikation und emotionale Intensitäten entfalten sich in erster Linie spielintern und nicht vis-à-vis einer Zuseherschaft. Spieler spielen für die Mitspieler oder

6 Dostojewskij: Der Spieler, S. 87. 7 Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 55. 8 Vgl. ebd., S. 52–65.

290

G

Kontexte  gamen

für sich selbst und nicht für Zuschauer. Dennoch gibt es Momente des Spiels, in denen die Zuschauerschaft, also die beobachtenden Instanzen jenseits des ‚magischen Kreises‘ plötzlich ungeheure Bedeutung gewinnen und beinahe ins Zentrum des Interesses geraten. 9 Solche Momente sind der Applaus nach dem erzielten Treffer oder die Freude der Spielbeobachter über das Erreichen eines höheren Level. Doch diese Momente sind Ausnahmemomente. Wenn sich beispielsweise Fußballspieler nach einem erfolgreichen Torschuss dem Publikum zuwenden und im Jubel der Masse baden, so ist das Spiel unterbrochen. Es findet seine Fortsetzung erst, wenn der Spieler seine gegnerische Mannschaft wichtiger nimmt als die Massen auf den Tribünen. Dem Gamer hingegen ist das Publikum so wichtig wie die Mitspieler selbst. Eine Aussage der Art ‚Ihr langweilt mich, ich gehe jetzt gamen‘, ist nicht als Erklärung eines Selbstbeschäftigungsunterfangens zu verstehen, sondern vielmehr als Absage an den Unterhaltungswert der adressierten Personen und eine gleichzeitige Deklaration, dass nun eine interessantere Beschäftigung als die vorhergehende gefunden wurde. Die Voraussetzungen für das Gelingen solcher Selbstinszenierung sind das Verständnis des Gegenübers, was mit gamen eigentlich gemeint ist, und die Annahme, dass der Tätigkeit des Gamens ein hoher Wert zugemessen werden kann. Möglicherweise baut die Sprachhandlung auch auf eine Exklusivität des Zuganges zu den technisch-organisatorischen Grundlagen das Gamens, wie beispielsweise die Verfügung über eine Spielkonsole bestimmter Art oder über eine Online-Mitgliedschaft zu einem Multiplayer Spiel. Die Aussage „Ich gehe jetzt gamen“ wird in der Erwartung ausgesprochen, dass das Gegenüber von der Aussage beeindruckt oder sogar neidisch auf die Perspektive der Tätigkeit ist. Vergleicht man diese Situation mit einer entsprechenden Aussage eines Spielers, so wird man auf der Ebene der suggerierten Reaktionen zu anderen Effekten gelangen. Ein Spieler, der beabsichtigt, MENSCH ÄRGERE DICH NICHT zu spielen, wird mit der Aussage „Ich werde jetzt spielen gehen“ keinen Neid auslösen und auch an kein Sozialprestige appellieren können, das den Spieler als besonders qualifiziert oder privilegiert ausweist. Die Reaktion des Gegenübers wäre wahrscheinlich ein „Warum nicht“ oder „Viel Spaß“. Spielen wird als eine subjektiven Gewinn versprechende Handlung interpretiert, wohingegen das Gamen als ein sozialer Akt verstanden wird. 9 Vgl. Huizinga: Homo Ludens.

291

Konjunkturen  gamen

Nochmals anders gelagert sind die Interessen des Gamblers. Für den „gambling man“ ist es weder die Spielfreude, noch Sichtbarkeit als soziales und spielendes Individuum, sondern das rein private Interesse am Gewinn, das den Spielprozess motiviert. Obwohl es kurzzeitige Überlappungen der Interessenslage beim Gamer, Gambler und Spieler gibt, sind die Absichten der jeweiligen so grundverschieden, dass man davon ausgehen muss, dass der, der richtig spielt, nicht gamblet und dass der, der am Gamen ist, kaum in Verdacht gerät, zu gamblen oder im Schillerschen Sinne zu spielen. Spielen bedeutet hier, „in voller Bedeutung des Wortes Mensch zu sein“10. Das kann ein im Spiele versenkter Spieler – möglicherweise ein Gamer, dem es um Prätention und Darstellung geht – aber nicht.11 Wolfgang Kayser weist darauf hin, dass im „echten Spielen“ der deutschen Romantiker die Beharrung auf dem Individuellen ersetzt wird durch ein Maske-Tragen, das es erfordert, „dass wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren.“12 Dem modernen Gamer dient die Maske des Gamens dagegen zur Herstellung von Anerkennung und Platzierung in der Gruppe. Die Person des Gamers ist daher stets das physika­ lische Individuum, das nur vor-spielt. Für den romantischen Spieler hingegen heißt „personare“ im ursprünglichen Sinne „durchtönen lassen“13. Der Spieler ist nicht endgültiges Ziel der Aufmerksamkeit. KONJUNKTUREN   Der Begriff des „Gamens“ ist relativ jung und es lässt

sich nicht mit Sicherheit sagen, ob ein entspannter und sozial eingebetteter Gebrauch von Computerspielen in fünf oder zehn Jahren immer noch als gamen bezeichnet werden wird. Ubiquitäre Verwendung von Computern und Mobiltechnologien und die zunehmende Konvergenz von Spieltechnologien

10 Schiller: Sämtliche Werke, S. 358. Schillers emphatischer Begriff vom „Menschsein“ knüpft

hier an ein Bildungs- und Kulturideal an, das er in den Briefen zur ästhetischen Erziehung auslegt.

11 Verkürzt ließe sich sagen, dass der Schillersche Spieler an kultureller Wahrheit sich entwickeln

will, während es dem Gamer nur um eine gruppenspezifische Anerkennung geht. Schillers Idee über das Spiel und das Kunstwerk war, dass Naturwirklichkeit sich in Kunstwahrheit wandeln müsse. Dem Gamer hingegen liegt wenig an der Wahrheit, es liegt ihm vielmehr am Herzen, dass sich persönlich erlebtes Vergnügung in sozial kommunizierbare Reputation umsetzen lässt. 12 Kayser: Kunst und Spiel, S. 39. 13 (Art.) persono. In: PONS – Latein-Deutsch online. Unter: http://de.pons.com/%C3%BC bersetzung/latein-deutsch/persono [aufgerufen am 27.05.2014].

292

GEGENBEGRIFFE  Zwei kategoriale Oppositionen scheinen dem Gamen ent-

G

Gegenbegriffe  gamen

mit anderen Unterhaltungstechnologien und -medien lässt sogar vermuten, dass die Tage des jungen Begriffs gezählt sein könnten. Die provokative Kraft des Begriffs liegt schließlich im Verweis auf die Differenz der Computerspiele zu anderen Medien. Wenn diese Differenz jedoch im Zuge einer Medienkonvergenz oder einer generellen Gamifizierung aller Medien fallen sollte, so ließe sich mit dem Verweis auf das Spezifische der Computerspiele wenig gewinnen. Gamen würde dann den Charakter eines Ressentiments oder einer nostalgischen Rückbesinnung annehmen. Gamifizierung (im engl. Wortlaut Gamification) ist der Prozess einer Durchdringung unserer Gesellschaft mit Methoden, Metaphern und Attributen der Computerspiele. Dieser Prozess, der einer totalen Ausrichtung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche als spielbar gleichkommt, ist eine Veränderung der Normalitätsgrundlagen, die der amerikanische Politiker Al Gore mit dem Statement „Games are the New Normal!“14 auf den Punkt gebracht hat. In einer total gamifizierten Gesellschaft, wäre gamen dann nur mehr ein anderes Wort für „irgendetwas tun“.

gegengesetzt: Der Ernst als dem Spiel hinderliche Haltung15 oder als notwendiger und gleichzeitiger Gegenpol16 und die Arbeit als eine in die politische Ökonomie eingeschriebene Differenz zum Spielerischen. George Batailles Blickwinkel auf ökonomische Strukturen17 stützt sich auf die Untersuchungen Mauss’18, der das Geschenk als eine Instanz genuin menschlicher Souveränität innerhalb wirtschaftlicher Zusammenhänge sieht. Für Bataille war Spiel eine Art von Opfer, die einem Geschenk nicht unähnlich ist. Eben weil Spiel nicht ergebnisgebundenen Resultaten des Spielprozesses verhaftet ist, könne Spiel entfremdeter Arbeit entgegenstehen. Im Spiel und im Gamen zeigt sich seiner Ansicht nach die Hoffnung, dass aus der Herr/Knecht-Beziehung19 des

14 Tsai: Al Gore: ‚Games are the new Normal‘. Unter: http://www.huffingtonpost.com/

charles-tsai/al-gore-games-social-good_b_881017.html [aufgerufen am 19.09.2013]. Vgl. Kayser: Kunst und Spiel, S. 36. Vgl. Schiller: Sämtliche Werke, S. 376ff. Vgl. Bataille: Das theoretische Werk I: Die Aufhebung der Ökonomie. Vgl. Mauss: Die Gabe. Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 145.

15 16 17 18 19

293

Perspektiven  gamen

Arbeitsprozesses ein Fluchtweg zu finden sei, der die Beziehung von Kapital und Arbeit aus ihren Fesseln reißen könne. Bataille unterscheidet sich in dieser Hinsicht wesentlich von Adorno und Benjamin: Adorno sieht das Glücksspiel und das, was man heute als Gamen bezeichnen würde, als „Nachbild von unfreier Arbeit.“20 Benjamin verglich die Aktionen des zwanghaften Spielers gar mit den Bedingungen entfremdeter Arbeit und spricht von der „Fron des Spielers.“21 Wenn also für Benjamin und Adorno gamen und jobben – wie man heute sagen würde – auf dasselbe hinauslaufen, besteht für Bataille eine klare Gegensätzlichkeit von Spiel und Arbeit. PERSPEKTIVEN  Gerade weil gamen aus der Sprache der Populärkultur stammt

und darüber hinaus ein Ausdruck des Jargon einer jugendlichen Benutzergruppe ist, erstreckt sich die Reichweite der Anwendbarkeit des Begriffs auf einen bestimmten Typus von Spielen, der von jungen Spielern bevorzugt wird. Mobile Games und Casual Games sind solche Spiele, denen man sich gamend zuwenden kann. Aber auch populäre First Person Shooter oder Open World Games wie GRAND THEFT AUTO oder DEAD ISLAND sind Spiele, mit denen sich Gamer die Zeit vertreiben können. Gerade wenn diese Spiele keine lineare Handlungsabfolge erfordern und Spieler sich zerstreuen und verirren können, werden sie ihre Tätigkeit als gamen bezeichnen wollen. Gamen ist in dieser Hinsicht den Zeitverkürzungsspielen nicht unähnlich. In dem Aufsatz ÜBER 22 DIE ÄLTESTEN ZEITVERKÜRZUNGSSPIELE zeichnet Wieland ein Bild der Gamer des 19. Jhs. „Zeitverkürzungsspiele“ oder „Zeitkürzungsspiele“ verweisen auf Zeitverlust in einem emphatischen Sinne, der Zeitverschwendung und Zeitvertreib honoriert. Im GRIMMSCHEN WÖRTERBUCH steht Zeitkürzung noch für „kurtzweil“ und Unterhaltung, ein Begriff, der im Mittelhochdeutschen als „zîtkürzel“ bekannt war.23 Wielands Versuch, den Begriff des „Zeitkürzungsspiels“ einzuführen, war der Versuch, Spiel als Entspannung oder als bloße Unterhaltung salonfähig zu machen. Im Schillerschen und noch mehr

20 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 471. 21 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire. In: Zeitschrift für Sozialforschung, S. 73. 22 Wieland: Über die ältesten Zeitkürzungsspiele. In: Ders. (Hrsg.): Wielands Werke. 23 Vgl. (Art.) Zeitkürzung. In: Grimm online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ [auf-

gerufen am 24.09.2013].

294

FORSCHUNG  Betrachtet man das Gamen als mehr als nur eine Marotte, die

als vorübergehendes Jugendkulturphänomen den Jargon eines Jahrzehntes mitgeprägt hat, so stellen sich die folgenden Fragen: Was sind die Gründe dafür, dass immer größere Bevölkerungsanteile gamen und wie ist es zu erklären, dass eine spielerische Grundeinstellung gleichzeitig Finanzwelt, Politik, das Bildungswesen und den Gesundheitssektor durchdringen? Wie wird aus dem Gamen Gamification? Gibt es Formen nicht-systemkonformen Gamens? Sind Konsumverweigerung und Gamen miteinander vereinbar? Oder bedeutet Gamen in jedem Fall Konsument sein? Gibt es gar ein rebellisches Gamen? Wo könnte subversives Gamen sich entwickeln? Die subversive Note des Gamens könnte in Zusammenhängen zu Tage treten, in denen das Spiel zelebriert und zugleich relativiert wird. Gamen könnte als negative Affirmation des Spieles und des Spielbetriebes gesehen werden, möglicherweise aber auch als ein Gegenpol zur Spielindustrie. Es wundert deshalb nicht, wenn Theoretiker, die den politischen Hintergrund des Gamens untersuchen, zu Begriffsschöpfungen wie den „Gamerz“25 für die Gamer gelangen und sich damit an einen Sprachduktus und orthographische Formen anlehnen, die der Graffiti-, Surf-, und Comic-Szene-Kultur entlehnt sind.

G

Forschung  gamen

im Goetheschen Verständnis galt spielerische Zeitkürzung allerdings bereits als bedenklich. Goethe ging es nicht um Unterhaltung und Gamen, sondern um ernsthaftes Spielen. In diesem Sinne bemerkte Goethe: „Der Deutsche ist überhaupt ernsthafter Natur und sein Ernst zeigt sich vorzüglich, wenn vom Spiele die Rede ist.“24 Tatsächlich entspricht der Spieler des deutschen Idealismus nicht dem Gamer. Ähnlich dem Gebrauch des Begriffes gamen ging es also im Gebrauch des Begriffs Zeitkürzung um die Beschreibung einer sozialen Handlung, die nicht als spielimmanent verstanden werden soll, sondern in den Kontext von respektablen Verhaltensweisen eingereiht werden kann. Spiele dagegen, die man mit Ernst betreibt, waren und sind offenbar heute als Serious Games dem Gamen und dem Gamblen entgegengesetzt.

24 Goethe: Weimarisches Theater. In: Sämtliche Werke, S. 701. 25 Arvers: When machinima talk about video games and when games reflect reality. Unter:

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INSZENIEREN HEIKO CHRISTIANS

ANEKDOTE  Ein namhafter Journalist einer renommierten süddeutschen Tages-

Man muss ihn am Küchentisch erleben. Man muss erleben, wie er ein großes Essen vorbereitet. Eine Einladung beginnt in der Küche: Der eine Gast putzt die Pilze, der andere die Bohnen, der dritte wäscht den Salat. Zu diesem Arbeitsessen gibt es ein Arbeitsweinchen. Natürlich hat der Gastgeber alles sorgfältig vorbereitet, natürlich steht die Menüfolge fest; aber es entsteht alles gemeinsam. Jeder hat seinen Part, jeder hat was zu schnippeln, zu sieden, zu kochen, jeder etwas zu reden: Es geht um die Nudel, die Küchenrolle und um die Welt. Voßkuhle selbst rührt das Dressing. Man ahnt, wie er als oberster Richter agiert.1

Nach dem Erscheinen des Artikels sah sich der Porträtierte umgehend veranlasst, durch eine Gerichtssprecherin ausrichten zu lassen, dass der so teilnehmende Journalist seine Küche noch nie von innen gesehen habe. Was war geschehen? Der Journalist hatte vordergründig nur ein wenig zu eifrig an einem gastrosophischen Gleichnis gefeilt: Porträt des obersten Richters als Paul Bocuse der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit oder auch der DreiSterne-Richter Voßkuhle bei der Arbeit. Mit ‚Weinchen‘ im Angebot, plaudernd, integrativ, aber die Menüfolge und das Ergebnis fest im Blick – ebenso souverän als ‚Chef de cuisine‘ wie als ‚Herr aller Verfahren‘. Nun löste aber nicht das mehr oder weniger originelle und tragfähige Gleichnis die Empörung aus, sondern die poetische Tatsache, dass der Journalist ein sozusagen abendfüllendes Stück Reportage-Kunst ‚Der oberste Richter‘ ablieferte und dabei die private Schlüsselszene, die das Porträt insgesamt erst

I

Anekdote  inszenieren

zeitung, von der Ausbildung her Jurist, war nie in der Küche des amtierenden Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland. Das war einmal eine skandalträchtige Information. Aber warum? Weil der Journalist am 10. Juli 2012 folgende Passage in ein Porträt des (ihm offenbar sympathischen) obersten deutschen Richters eingebaut hatte:

1 Zit.n. Simon: Porträt. SZ-Autor trickst bei Voßkuhle. In: Frankfurter Rundschau, S. 3.

297

Etymologie  inszenieren

beglaubigen und lesbar machen sollte, als Produkt der teilnehmenden Beobachtung oder Augenzeugenschaft ausgab, wo sie doch nur eines der Imagination war. Mit diesem Trick stand der Journalist zumindest in der langen und ehrwürdigen Tradition des europäischen Theaters, wie schon ein flüchtiger Blick in die entsprechende Literatur belegt: „Wiederholt bat Shakespeare sein Publikum, den Teil für das Ganze zu nehmen, in der Vorstellung zu ergänzen, was physisch nicht auf die offene Bühne gebracht werden konnte.“2 Der Journalist hatte fast alles richtig gemacht: Er wählte einen Stoff, hatte ein Stück gefertigt – der Journalist sagt bezeichnenderweise zu seinen Produkten bevorzugt ‚Stücke‘. Damit hatte er die Kommunikation und die Bewegung ihrer Träger im Raum vor Augen gestellt und durch die anti-aristokratische Kontextualisierung der obersten Rechtsprechung in einer Küche, die als Bühne und Umgebung lange dem Personal vorbehalten war, auch die interpretatorische Pointe für das Ganze mehr als nahe gelegt. Nur die Kollision der universalen Poetik der Szene mit der (das überwiegende Vorhandensein unpoetischer Tatsachen voraussetzenden) journalistischen Ethik hatte er übersehen. ETYMOLOGIE   Das deutsche Wort ‚Szene‘, das für bestimmte, kürzere Abschnitte eines Theaterstücks oder eines Films verwendet wird, stammt aus dem Lat. Dort finden wir die Wörter ‚scena‘ und ‚scaena‘.3 Im Engl. erinnert das Wort ‚scene‘ ebenso deutlich an diese Herkunft und wird in sehr ähnlichen Zusammenhängen verwendet. Die Römer entnahmen das Wort dem Etruskischen ‚scaina‘. Die Etrusker, die im ganzen Mittelmeerraum Handel trieben, hatten sich ihrerseits das griech. Wort ‚skene‘ angeeignet. Dieser Begriff bedeutete ursprünglich so viel wie Zelt, ist verwandt mit dem Wort ‚skia‘ für ‚Schattendach‘ oder ‚Bau auf Stützen‘4, später konnte es auch eine (primitive) Hütte bezeichnen, und war seinerseits vom griech. Wort für ‚Schatten‘ (‚skotos‘) abgeleitet, bedeutete also wörtlich ‚Schattendach‘.

2 Dessen: Elizabethan Audiences and the open Stage. In: The Yearbook of English Studies,

S. 5 [übers. HC].

3 Vgl. (Art.) scaena. In: Walde/Hoffmann: Lateinisches Etymologisches Wörterbuch, S. 485;

(Art.) scaena. In: Glare (Hrsg.): Oxford Latin Dictionary, S. 1697.

4 Vgl. Frickenhaus: (Art.) Skene. In: Kroll/Mittelhaus (Hrsg.): Paulys Realencyclopädie der

classischen Altertumswissenschaft, Sp. 470–492.

298

I

Etymologie  inszenieren

Diese negative Anschließbarkeit des Begriffs bzw. seiner Geschichte an die zentrale Lichtmetaphorik ist dem ein oder anderen Medientheoretiker und Kulturwissenschaftler nicht entgangen. In einer Fußnote lässt Pierre Legendre den wortgeschichtlichen Hintergrund (und die Quelle) seiner eigenen Universalisierung des Begriffs vom Fachmann erläutern: „Etymolgisch steht ‚skene‘ (Szene, Schauplatz) mit ‚skotos‘ (Schatten, Dunkel) in Verbindung.“5 Unterdessen wird diese Herkunftsgeschichte auch anders erzählt: Der Theologe Alex Stock charakterisiert die ‚skene‘ einerseits als ‚Podium‘, auf dem eine Mitgift des Kultischen in dem vom Kult schon emanzipierten griechischen Theater ‚inszeniert‘ wird: das Heilige auf der Bühne als ein ‚mysterium tremendum et fascinosum‘ (Rudolf Otto). Das Zelt ist hier „transportables Zeltheiligtum, Ort der Begegnung mit Gott“, welcher nach Stock in der „Septuaginta, der Übersetzung des Alten Testaments ins hellenistische Griechisch“6 um 250 v. Chr. formuliert wird. Die Struktur dieses Ortes weicht von der des Podiums ab: Das Heilige wird nicht einfach gezeigt oder ‚zur Erscheinung gebracht‘, sondern es wird räumlich als eine ‚gestufte Zugänglichkeit‘ organisiert: „Das Zelt, die ‚skene‘, ist also eine Szene des Heiligen, einer gestuften Heiligkeit, und das heißt einer gestuften Zugänglichkeit. […] Das Stiftszelt ist die nomadische Präfiguration des Tempels in dem von David um 1000 v. Chr. eroberten Jerusalem.“7 Inszenieren heißt also ursprünglich ‚in den Schatten stellen‘. Die Bedeutung bezieht sich in dieser frühen etymologischen Lesart nicht auf eine individuelle Aneignung eines Stücks – im Sinne von Regie –, sondern auf die Einsetzung und Präsentation einer höheren institutionellen Macht. Die Inszenierung jenseits solcher höheren Instanzen und Mächte zu denken, ist ein durchaus modernes Phänomen: Dass „durch äußere Mittel die Intention des Dichters

5 Chantraine: (Art.) σκηνή; σκότος. In: Ders.: Dictionnaire étymologique de la langue grecque,

S. 1015f., 1022. Zit.n. Legendre: Die bevölkerte leere Bühne. In: Campe/Niehaus (Hrsg.): Gesetz. Ironie, S. 47. 6 Stock: Kultbild – Bilderverbot. In: Werntgen (Hrsg.): Szenen des Heiligen, S. 58. 7 Ebd., S. 58f.

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zu ergänzen“8 oder ein spezifisches, aber ‚besseres‘, aktuelleres oder provokatorisches Verständnis des Stücks zu erreichen ist, gibt eine Lesart des Inszenierens wieder, die erst um 1800 möglich wurde. KONTEXTE  Das Zelt ist „ein Gebäude ohne feste Wände“9, erklärt PAULYS

im entsprechenden Band von 1929 mit unbestechlicher Nüchternheit. Die Technik des Zeltbaus (mit oft aufwendig gestalteten Leder-, Leinen-, Teppich- oder Fellmaterialien) wurde – wie so vieles im antiken Griechenland – aus dem Nahen Osten übernommen.10 Als Aischylos’ Drama DIE PERSER 472 v. Chr. auf die Bühne kam, lag die siegreiche Seeschlacht von Salamis gerade acht Jahre, die Landschlacht von Plataiai sieben Jahre zurück. Es wäre also das Schatten­ zeltdach für einen (geschlagenen) persischen König im frühen griechischen Drama, das wir an den Anfang der ‚Szene‘ setzen könnten.11 Das Privileg des fremden und feindlichen Königs war ein erhöhter Prunksitz im Schnittpunkt der Blicke unter einer aufwendig verzierten Zeltplane als Schutz gegen die Sonne. Auf die Weise erhöht und beschirmt, in kostbare Gewänder gehüllt, verkörperte der fremde König eine Art Warnung an die Griechen,12 denn dieses Privileg wurde ausgestellt und symbolisch abgeschafft zugunsten der anwesenden, im demokratischen Halbrund des Dionysos-Theaters zu Athen sitzenden Bürgergemeinde. Die Bürger schauten auf die Bühne und gleichzeitig auf das Meer (dahinter): Auch ihr Blick wurde ‚inszeniert‘. Die Flotte war von allen durch Steuern und Kriegsabgaben finanziert – ein Werk der im Theater versammelten Bürgerschaft. Das sind die weitreichenden politischen

Kontexte  inszenieren

REALENCYCLOPÄDIE DER CLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFT

8 Lewald: In die Szene setzen. In: Lazarowicz/Balme (Hrsg.): Texte zur Theorie des Theaters,

S. 307.

9 Vgl. Frickenhaus: (Art.) Skene. In: Kroll/Mittelhaus (Hrsg.): Paulys Realencyclopädie der

classischen Altertumswissenschaft, Sp. 470–492.

10 Vgl. Burkhart: Die Griechen und der Orient, S. 9–23. 11 Vgl. Schwinge: (Art.) Skene. In: Andresen et al. (Hrsg.): Lexikon der Alten Welt, Sp. 2810:

„Spielhintergrund der Tragödie war ursprünglich vielleicht ein persisches Königszelt, vor dem der König, Hauptfigur der Tragödie, in persischer Tracht auftrat.“ 12 Vgl. Alföldi: Gewaltherrscher und Theaterkönig. In: Weitzmann (Hrsg.): Late Classical and Mediaeval Studies in honor of Albert Mathias Freind, S. 29. Vgl. auch ders.: Die Geschichte des Throntabernakels. In: Nouvelle Clio, S. 537–566.

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Implikationen dieser frühesten Theaterpraxis als Blickorganisationsmaschine13, in der das Herrscherzelt offenbar eine so zentrale Rolle spielte.14

Dieser Darstellung folgen bis heute viele Standardwerke der Theatergeschichte. Aus dem (geraubten) Königszelt entwickelte sich die ‚Skene‘ als spezifischer Bühnenaufbau.16 Andreas Alföldi betont noch einen weiteren Punkt in dieser ebenso spektakulären wie spekulativen Entstehungsgeschichte: Der Zeltbau ist Rahmung des verabscheuungswürdigen Prunks und gleichzeitig Schrein oder Tabernakel einer durch Herkunft geheiligten Souveränität, deren Anziehungskraft nie ganz versiegt, deren „aufpeitschende Wirkung auf das attische Publikum“17 nicht ausbleibt. Diese Spolien- und Tabernakel-These wurde erstmals 1944 gründlicher ausgearbeitet – in einem Jahr, in dem die Kriegsbeute als Kategorie sehr vertraut war. Der schwedisch-amerikanische Archäologe Oscar Broneer reichte sie an den in Princeton lehrenden ungarisch-amerikanischen Althistoriker Alföldi weiter.18 1955 dann – mitten im Kalten Krieg – war für den Exilungarn Alföldi ein schon der Herkunftsgeschichte der Szene eingeschriebener Ost-West-Konflikt von entscheidender Bedeutung. Eine regelrechte (feste) Theaterbühne taucht erst in der frühen Neuzeit wieder auf. Zunächst war die Trennung von Publikum und Ensemble nicht

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Kontexte  inszenieren

Das persische Königszelt scheint mir aber auf der tragischen Bühne auch noch eine allgemeinere Rolle gespielt zu haben. Das Brettergebäude nämlich, das den südlichen Teil des Tanzplatzes des dionysischen Festes abschloss und die Fassade bildete, hinter dem die Schauspieler sich umkleideten und aus dessen Tor sie auf die Bühne traten, hieß σκηνή. Dieses vielleicht semitische Fremdwort wird zuerst in den Persern des Aischylos für das beräderte Königszelt des Xerxes gebraucht.15

13 Kerckhove: Schriftgeburten, S. 86. 14 Vgl. Herrmann: Das Theater der Polis. In: Archiv für Mediengeschichte, S. 37. 15 Alföldi: Gewaltherrscher und Theaterkönig. In: Weitzmann (Hrsg.): Late Classical and Me-

diaeval Studies in honor of Albert Mathias Freind, S. 32f.

16 Vgl. etwa Brauneck: Die Welt als Bühne, S. 40. 17 Alföldi: Gewaltherrscher und Theaterkönig. In: Weitzmann (Hrsg.): Late Classical and Me-

diaeval Studies in honor of Albert Mathias Freind, S. 33.

18 Vgl. Broneer: The Tent of Xerxes and the Greek Theater. In: University of California Publi-

cations in Classical Archaeology, S. 305–312.

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gegeben. Erst ein komplexer Prozess der Disziplinierung der Schauspieler und des Publikums, einer räumlichen und akustischen Hierarchisierung, machte das Theater ‚staatsfähig‘.19 Die bedeutendste Entwicklung in der jüngeren Geschichte der Szene war der dann folgende, langsame Übertritt der Szene aus dem höfisch-repräsentativen Zeremoniell des Barock in das höfisch-bürgerliche, mit Ideen der Aufklärung affizierte Ambiente des Theaters nach 1750.20 Dieser Übertritt hatte erneut mit dem Licht zu tun und bedeutete eine nochmalige Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum, welche sich erst durch die Reduktion der Kronleuchter im Auditorium und die Einführung der Reflektorlampen, schließlich der Gaslichtoberbeleuchtung ab 1817 und der elektrischen „Lichtmassen des 19. Jahrhunderts“21 auf der Bühne endgültig manifestierte. Aber nicht nur die aufgeführten, sondern auch die projizierten Szenen unterliegen diesen Bedingungen der Ausschnitthaftigkeit und der effektvollen Austarierung von Licht und Schatten. Filmtechnik und Reklametechnik machen in dieser Hinsicht eine fast parallele Entwicklung durch.22 Die Medientechnik steuerte scheinbar unaufhaltsam auf einen „noch unbekannten unabhängigen Lichtzyklus“23 zu. Die erste Projektion von Bildern und Filmstreifen in einer Theateraufführung erlebte Deutschland dann 1919 in einer Inszenierung des WILHELM TELL von Leopold Jessner am Staatlichen Schauspielhaus Berlin.24 Hierbei handelt es sich aber nicht einfach um eine Art Friedensschluss in Richtung offizieller Intermedialität von Theater und Kino (oder allgemeiner: Filmprojektion), wie sie sich dann vom deutschen Fernsehspiel in der Tradition des BrechtAssistenten Egon Monk bis zu Christoph Schlingensiefs Ring-Inszenierung in Bayreuth immer wieder etablieren sollte. Hier könnte man noch (ironisch) von einer zunehmend staatstragenden medialen Experimentalität sprechen. Was sich hier etabliert, hat seine Vorgeschichte in dem neuen Lichtregime 19 Vgl. insgesamt Jehle: Zivile Helden, S. 44. 20 Vgl. Meyer: Schriften zur Theater- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. 21 Vgl. das Kapitel ‚Die Bühne‘ in Schivelbusch: Lichtblicke, S. 191; Kittler: Optische Medien,

S. 233–238.

22 Vgl. Boddy: Frühes Kino und frühe Werbetheorien in den USA. In: ZfM, S. 20–30. 23 Virilio: Krieg und Kino, S. 23. 24 Vgl. Kühnels hervorragende ‚Mediengeschichte des Theaters‘ in Schanze (Hrsg.): Handbuch

der Mediengeschichte, S. 329.

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der elektrischen Bühnenausleuchtung seit dem ausgehenden 19. Jh., welche die Materialität der Bühne, ihr inszenatorisches Potenzial, zum elementaren Bestandteil der Deutung und Aneignung des Stoffs machte: Das neue Drama hat immer mehr die Tendenz, seine sinnliche Wirklichkeit mit der materiellen Wirklichkeit zu verschmelzen; dem Licht die Macht des Dramas, das es erhellte, zu übertragen; und der Anordnung der Türen und Fenster die dramatische Intensität zu verleihen, die einst den Figuren anvertraut war, die sie öffneten, um Botschaften von außen zu bringen.25

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Im Anschluss an neue Möglichkeiten der Ausleuchtung durch Elektrifizierung ergeben sich auch neue Aufführungs- und Ausstattungsprinzipien, neue Theorien des Theatralen. Ein weiterer Schritt in Richtung auf die Modularisierung des Theaterraumes und des Theatergeschehens im Zeichen des Szenischen als „mobile and open action“26 liegt im ‚Theater ohne Fluchtpunkt‘ (­G. Brandstetter) von Adolphe Appia auf den Bühnen von Hellerau bei Dresden. Die neue ‚Aussteuerbarkeit des Theaterlichts‘ (F. Kittler) hatte der Genfer Architekt und Bühnenbildner Appia, inspiriert von einer Parsifal-Aufführung 1882 in Bayreuth, seit 1895 zusammen mit Hugo Bähr in Dresden durchdacht und in theoretischen Schriften formuliert.27 In Hellerau, dessen Häuser auf die geometrische Neo-Klassik des Albert Speer-Lehrers Heinrich Tessenows zurückgehen, betrieb Appia seine ‚szenische Modularisierung‘ des Theaters zwischen 1911 und 1914 konsequent weiter, indem er die gemalte Theaterkulisse perspektivischer Bühnen zu szenischen Elementen eines (von diesem Blickregime) emanzipierten geometrischen Theaterraums umformte.28 KONJUNKTUREN   Die breite, teilweise hochspekulative theater-, bau- und

sprachgeschichtliche Erforschung der ‚skene‘ in der deutschen Altphilologie des

25 Ranciere: Aisthesis, S. 154. 26 Williams: Drama in Performance, S. 148. 27 Vgl. Appia: La mise en scène du drame wagnérien und ders.: Die Musik und die Inscenie-

rung. Der erste Text ist erneut veröffentlicht in Beacham/Appia: Künstler und Visionär des Modernen Theaters. 28 Vgl. insgesamt Brandstetter/Wiens: Ohne Fluchtpunkt. In: Dies. (Hrsg.): Theater ohne Fluchtpunkt, S. 7–36.

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19. und beginnenden 20. Jhs. stellt ohne Zweifel eine Konjunktur der Begrifflichkeit dar.29 In der medialen Praxis erfuhr die Szene nach ihrer postantiken Marginalisierung zunächst kaum Beachtung: Im christlichen Weihespiel oder im spätmittelalterliche Fastnachtspiel ist sie den meisten medien- oder theatergeschichtlichen Handbüchern noch (k)eine Zeile wert.30 Erst wieder im barocken Drama erfährt sie einen Aufschwung. Noch im sogenannten ‚Bühnenkreuz‘, der ‚crux scenica‘ des barocken Theaters, finden wir Spuren der reglos-erhöhten Repräsentanz der altgriechischen (Perser-) Königsfigur: König, Heerführer oder Märtyrer rezitierten in dieser so programmatisch-steifen wie kreuzweisen Erhabenheitsstellung der Füße ebenso steife lange Textpassagen.31 Im Barocktheater war die Szene in gewissem Sinne noch in der höfischen Stellung der Protagonisten verpuppt. Der Begriff der ‚Stellung‘ ist dabei durchaus doppeldeutig, meint er doch tatsächlich die Stellung bei Hofe, also die höfische Selbstrepräsentation im Theater, und gleichzeitig jene Fußstellung der Akteure. Vor dem Bühnenbild einer symmetrisch sich ins Unendliche verjüngenden Palast- oder Parkanlage, deren Fluchtpunkt aus der Perspektive des Souveräns im ersten Rang konstruiert ist, präsentieren sich die Schauspieler im Halbzirkel in der Grundstellung der crux scenica und der Haltung des Kontrapost, sprechenden Statuen gleich, die am Beginn und Ende ihrer Rede gemessen einen Schritt vor- bzw. zurückschreiten.32

Auf der Rückseite solcher steifen Szenen der Macht wanderte jedoch schon aus der mobileren komischen Bühnentradition (des nicht umsonst so genannten ‚fahrenden Volks‘) eine größere Dynamik in das Schauspiel ein: In Deutschland beispielsweise aus der anti-höfischen Komödie des Barock in die spätere, aufgeklärte Theaterform. Gerade die Raserei als ostentative Regeldurchbrechung 29 Vgl. Schönborn: Die Skene der Hellenen; Lohde: Die Skene der Alten; Bodensteiner: Sze-

nische Fragen über den Ort des Auftretens und Abgehens von Schauspielern und Chor im griechischen Drama; Bethe: Prolegomena zur Geschichte der Theater im Altertum; Dörpfeld/ Reisch: Das griechische Theater; Hense: Die Modificirung der Maske in der griechischen Tragödie; Noack: Skēnē tragikē; Frickenhaus: Die altgriechische Bühne. 30 Vgl. etwa Schanze (Hrsg.): Handbuch der Mediengeschichte, S. 317. 31 Vgl. Lang: Abhandlung über die Bühnenkunst, § IV: De Plantis, & Pedibus. 32 Heeg: Szenen. In: Bosse/Renner (Hrsg.): Literaturwissenschaft, S. 256.

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kennzeichnete die komischen Figuren wie den volkstümlichen Hanswurst oder den Pickelhäring.33 Das Gelächter über Molières lebensnähere, bürger­ liche Figuren – seit 1658 auch offiziell am französischen Königshof erwünscht – sendete dann schon die nächsten europäischen Impulse aus.34 Es war aber zunächst das jesuitisch inspirierte und das protestantisch-gymnasiale Schultheater des schlesischen Barocks, das dem deutschen Sprachraum durch seine berühmtesten Absolventen wie Andreas Gryphius oder Caspar von Lohenstein das französisch-klassizistische Verständnis der Szene letztlich näherbrachte – auch wenn dieses regionale Spezifikum (nach Herbert Schöfflers kundigem Urteil) die steifen Deklamationen mit „schwer glaubbaren Metaphern in der Anrede an Christus“35 ins kaum Erträgliche vergröberte: „Ich Sau, ich Vieh, ich Thor, ich ungerathner Sohn/ Du solt des Todes Kind, der Hölle Mastvieh seyn?“36 Die gymnasialen Schultheater in Glogau, Zittau oder Breslau, die Schlesien die fehlende Landes-Universität ersetzen mussten, waren also längst – bei aller Steifheit – im aufbrechenden, vergröbernd-mobilisierenden Sinne tätig: Sie hatten schon ‚Elemente professioneller Wanderbühnen‘ zur ‚Steigerung des Unterhaltungswerts‘ aufgenommen und die strengen klassizistischen Regeln aus Frankreich – unter anderem den Alexandriner-Vers – unterlaufen.37 Die erste moderne Konjunktur ist auf jeden Fall in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. anzusetzen. Die Szene ist laut zeitgenössischem Wörterbuch eine „Unterabtheilung der Handlung, des Acts, Actus eines Schauspiels, in welchem sich was verändert, jemand auftritt“38. Die daran anschließbare Frage, ob nur „das Geschehen zwischen zwei ‚Auftritten‘ sprechender Akteure oder alles,

33 Dazu Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, S. 54. Fischer-Lichte erläutert auch umfangrei-

che Zitate aus Franciscus Langs ABHANDLUNG ÜBER DIE SCHAUSPIELKUNST/­DISSERTATIO

DE ACTIONE SCENICA von 1727 [ebd., S. 42–59]. Der Text von Langs ­DISSERTATIO findet sich

jetzt in Roselt (Hrsg.): Seelen mit Methode, S. 79–95 [Auszüge].

34 Vgl. Daniel: Hoftheater, S. 47f.; Jehle: Zivile Helden, S. 72–89. 35 Vgl. Schöffler: Deutscher Osten im deutschen Geist, S. 45f., S. 103. 36 Gryphius: Vermischte Buß- und Abendmahl-Gedanken, zit. n. Schöffler: Deutscher Osten

im deutschen Geist, S. 103.

37 Vgl. Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock, S. 375ff. 38 Schütze (Hrsg.): Satirisch-ästhetisches Hand- und Taschenwörterbuch für Schauspieler und

Theaterfreunde beides Geschlechts, S. 138.

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was durch ein gleichbleibendes ‚Bild‘ des Schauplatzes zusammengehalten wird“39, als Szene gilt, scheint zunächst eine relativ abstrakte technische Frage zu sein. Zu beantworten ist sie aber mit einem Blick in die Begriffsgeschich­ ten von ‚Bild‘ und ‚Gemälde‘ im theatralen Kontext, die ein anderes Lexikon überzeugend anführt:

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Um 1800 etabliert sich in der deutschen Dramatik der Ausdruck ‚Bild‘ als Alternativbezeichnung für eine Szene im Sinne einer unveränderlichen Bühnendekoration. Dadurch wird deutlich, dass der visuelle Gesamteindruck an die Stelle der Personenkonfiguration als Gliederungskriterium tritt.40

Festzuhalten ist an dieser Stelle die generelle Zunahme eines dynamischen Geschehens auf der Bühne im Element der Szene. Nicht nur die physische Bewegung, auch die psychische Bewegtheit nahm auf dem Theater in Richtung 1800 derartig zu, dass die seit der Antike in Akte aufgeteilte Form des Theaterstücks die Oberhoheit geradewegs an die Szenen abzugeben schien. Eine neue Leitdisziplin führte die Protagonisten aus dem starren (rhetorischen) Repräsentationszirkel höfischer Tugenden heraus. Die Protodisziplin der sogenannten Ästhetik übernahm ab etwa 1750 offiziell eine positive Auslegung der unteren (sinnlich-physischen) Vermögen des Menschen und ihre Aufwertung gegenüber dem (dagegen meta-physischen) logischen Denken. Die Ästhetik wird der erste disziplinäre Entstehungsrahmen der späteren Menschenpsychologie, die jene hierarchische Ständeaffektologie ablöst. Ihr wird auch die Vormundschaft über die Gemüter aller Bühnenprotagonisten zugesprochen, um dann die Entwicklung oder Dynamisierung der Szene quer zur sozialen Schichtung des Personals, die sie de facto einebnen hilft, voranzutreiben. Dass die Lebendigkeit oder vividitas, welche langfristig als ästhe­ tischer Zielwert der Szene – egal in welchem Medium, egal in welchem Diskurs – fungieren wird, zunächst wörtlich der neuen Ästhetik Alexander Gottlieb

39 Heeg: Szenen. In: Bosse/Renner (Hrsg.): Literaturwissenschaft, S. 256. 40 Balme: (Art.) Szene. In: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat (Hrsg.): Metzler Lexikon Theater-

theorie, S. 320f.

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Baumgartens entspringt, sichert den Versuch ab, den ideellen Quellpunkt der modernen Szene zu bestimmen.41 Die neue intrinsische Dynamik der Stücke findet ihren Ort also in der (häufiger wechselnden) Szene, in der Vergrößerung des inszenatorischen Anteils. Das massenhafte ‚Vor-Augen-Stellen‘ gehört aber auch unmittelbar zur Geschichte des modernen Romans. Die Bewegung von der Bildfolge zum Textkommentar, weiter zum eigenständigen Text und zurück zur Bildfolge steht schon mit den Sketchbooks42 an diesem Anfang. Charles Dickens’ Pickwickier-Roman beispielsweise war ursprünglich als Bilderfolge mit Text geplant. Diese Proportionalität wurde erst nach dem plötzlichen Tod ihres prominenten Illustrators Robert Seymour (und mit dem neuen ‚Phiz‘) einfach umgekehrt.43 Hans-Otto Hügel zeigt am Beispiel von Eugène Sues seit 1843 europaweit erfolgreichem Intrigen- und Tendenzroman DIE GEHEIMNISSE VON PARIS, wie die Szene auch die mächtigen zeitgenössischen Konkurrenzmedien und -formate des 19. Jhs. durchwirkt. Es ist, laut Hügel, der moderne Roman als Form, als Periodikum, d. h. der moderne Roman gekoppelt an die wöchentliche oder monatliche Erscheinungsweise von gehobenen Unterhaltungsmagazinen, der die Emanzipation der Szene (vom Akt und vom Theater) zugleich fortsetzt und durch die gesteigerten Distributionskanäle des nun möglichen hochfrequentiellen Billigdrucks noch einmal wirksamer macht: Grundsätzlich erzählt Sue eher in abgeschlossenen Szenen. Das ist durchaus im Theatersinn wörtlich zu nehmen: Anfang und Ende der Szenen, der Kapitel, sind gewöhnlich an den Auf- oder Abtritt von Personen geknüpft. […] Das Erregende der Mystéres liegt in der Szene, in der psychischen Dramatik, nicht im Handlungsverlauf oder gar der Action.44

41 Als Stellennachweis und geistesgeschichtliche Kontextualisierung der vividitas siehe immer

noch Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, S. 200. 42 Der Sketch des Sketchbooks, ist mehr Skizze, hat noch nicht die szenische Geschlossenheit des Sketches als pointierte lustige (Film-)Szene von ca. 10 Minuten ab etwa 1900. 43 Vgl. Richter: Literarische Ästhetik und Materialität der Medien, S. 117. Vgl. auch Lauster: Sketches of the Nineteenth Century. 44 Hügel: Eugène Sues Geheimnisse von Paris wiedergelesen. In: Kelleter (Hrsg.): Populäre Serialität, S. 54ff.

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Sue setzt einfach im neuen medialen Format des Fortsetzungsromans die Platzbeschränkung für Regieanweisungen und für Dialoge außer Kraft, um der Ausbreitung der Szene Vorschub zu leisten. Die Romane verbreiteten v. a. massenhaft Dialogszenen – ohne eine strengere dramatische Ökonomie der Akte. Der Fortsetzungsroman zeigt auch, dass man in jedem Fall Technik braucht, wenn sich diese auf Papier gedruckten oder illustrierten Szenen in der Kommunikation als Bezugspunkte halten sollen. Die Szene war dann um 1900 ein zweites Mal auf dem Sprung aus der alten Umgebung (environment) des Theaters und des Fortsetzungsromans in die neue des Kinos. Dass 1895 der szenische Apparat schlechthin – der Kinematograph – gleich an drei verschiedenen Orten der Welt auf den Plan tritt,45 hat auch damit zu tun, dass das szenische Potenzial des 19. Jhs. – noch ungleichmäßig aufgeteilt auf das Theater, die Oper, den Roman, die Panoramen, die Malerei und die Fotografie – nun einem neuen technischen Aggregatzustand im oben genannten Sinne unaufhaltsam zuzustreben scheint. Eine in der Luft liegende gesteigerte Durchlässigkeit medialer Welten für die gegenseitige szenische Durchdringung kann langfristig (immer) nur eine neue Maschine, eine Neuorganisation der Distribution des Szenischen, ein neues szenisches Niveau im technischen Sinne, leisten. Die Romanmaschine liefert dieser neuen Maschine schließlich zunächst die Stoffe. Das Theater, die Oper, der Salon und der Zirkus liefern ihr die grobe Form der Abspielstätte und die Abspieleinheiten. In der Wissenschaftsgeschichte ist eine parallele Entwicklung zu beobachten: Die theologische Formengeschichte fügte in derselben Periode zwischen 1880 und 1920 die Szene ihrem Begriffsrepertoire an entscheidender Stelle hinzu: Nachdem die Bibelphilologie den Gedanken eines (aramäischen) Urevangeliums, eines Ausgangstextes aller Evangelien, im 19. Jh. aufgegeben hatte, wurde die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit vermittelnde, kleinteiligere Einheit der ‚Szene‘ für sie interessant. Rudolf Bultmann führte schließlich 1921 die Unterscheidung von ‚idealen‘ und ‚biographischen‘ Szenen in den Texten der Evangelien in die Forschung ein. Dieser merkwürdige Begriffsgebrauch und die ihm zugrunde liegende Vorstellung nachträglich (redaktionell) ergänzter

45 Vgl. dazu Ceram: Eine Archäologie des Kinos, S. 141–153.

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„einmal existierender Szenen“46 wurden sofort heftig diskutiert. Der Begriff der Szene war endgültig wiederentdeckt worden. Sigmund Freud appellierte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ebenfalls an die Einbildungskraft seiner Zeitgenossen. Er schilderte den Anfang von Kultur in zwei grausamen Szenen, die er nur noch zu einer einzigen verschmelzen musste, um einen szenischen Anfang von allem zu haben: „Stellen wir uns nun die Szene einer solchen Totenmahlzeit vor und statten sie noch mit einigen wahrscheinlichen Zügen aus, die bisher nicht gewürdigt werden konnten.“47 Dieser „Urzustand der Gesellschaft“, schränkt Freud ein, ist „nirgends Gegenstand der Beobachtung geworden“48. Das Beobachtungsparadox einer Szene ohne direkten Berichterstatter oder Schilderer wird sich einige Jahre später mit der von Freud festgehaltenen familialen Urszene wiederholen. Diese bot noch prekärere Beobachtungsverhältnisse: Das Kind wird ebenso zufällig wie verständnislos Zeuge des elterlichen Beischlafs, den es als Akt väterlicher Gewalt deutet.49 Die Szene, selbst wenn sie einen Zeugen hätte, geht zunächst durch den Rahmen, die Selektionen, die Arrangements, kurz: die Bedingungen eines ersten Mediums der Sprache, der Zeichnung oder der primitiven Symbolik. Eine Urszene gibt deshalb gerade nicht den Anfang von Kultur an, sondern sie deutet diesen Anfang als Anfang in einem bestimmten Sinne, der sich danach immer wieder erfüllen soll. Freud hat mit dem Formelement der Szene auch „ein Bindeglied zwischen seinen Schriften zur Kultur und der Individualpsychopathologie“50 herstellen können. Auf der individualpsychopathologischen Ebene wurde diese Arbeit an der Szene von Alfred Lorenzer fortgesetzt.51 ‚Eigennamen‘ werden

46 Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition, S. 32. 47 Freud: Totem und Tabu. In: Ders.: Kulturtheoretische Schriften, S. 424ff. 48 Ebd. 49 Vgl. dazu die Artikel Urphantasie und Urszene in: Laplanche/Pontalis (Hrsg.): Das Voka-

bular der Psychoanalyse. Ebenso die Beiträge von Döring, Ott und Zumbusch in: Ott/Döring (Hrsg.): Urworte. 50 Kaiser: Einleitung. In: Bruchhausen/dies. (Hrsg.): Szenen des Erstkontakts zwischen Arzt und Patient, S. 15f. 51 Vgl. Lorenzer: Sprache, Lebenspraxis und szenisches Verstehen in der psychoanalytischen Therapie. In: Psyche, S. 97–115 [Wiederabdruck in: Prokop/Görlich (Hrsg.): Lorenzer, Alfred: Szenisches Verstehen, S. 20].

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beispielsweise von Lorenzer als „Repräsentanten eines komplexen szenischen Gefüges“ aufgefasst, „nicht bloß einer ‚Sache‘“52. Viktor von Weizsäcker beschreibt seit den 1920er Jahren das Verhältnis zwischen Arzt und Patient selbst als ein ‚szenisches‘. Unter der freudianischen Überschrift ‚Urszene‘ deutet er aus dem empathetisch-kindlichen ‚Berühren‘ einer den Bruder schmerzenden Stelle (durch die Schwester) dieses Verhältnis neu: „Zuerst müssen wir den Tatbestand der kindlichen Szene noch näher bezeichnen, um das Bleibende im Wandel der ärztlichen Szene zu umschreiben.“53 Diese ‚szenische Pathologie‘ wird ausgearbeitet. Das bahnbrechende Werk UMWELT UND INNENWELT DER TIERE54 von Uexkülls aus dem Jahr 1909 wurde von dem Mediziner und Evolutionspsychologe Rudolf Bilz als ‚szenische Psychopathologie‘ in seinem Hauptwerk PARS PRO TOTO von 1940 weiterentwickelt, in dem er die Gestalthermeneutik Viktor von Weizsäckers hinzuzog, der gleichzeitig sein Doktorvater war. In allen darauffolgenden Arbeiten zählen die Begriffe ‚Rolle‘ und ‚Szene‘ zum Kernbestand seiner theoretischen Konzepte.55 Entscheidend sind hierbei früh schon die Übergänge von der ‚Umweltlehre‘ der Tiere zu einem zur Abstraktion fähigen Menschen und schließlich zur szenischen Affektpathologie: Wir vergleichen das planvolle Zusammenspiel der Partner mit einer Theater­ szene und ihre Affekte mit Rollen, die auf ein Stichwort hin, das gewisse spezifi­ sche Sinnessignal, sich manifestieren. Der Vergleich mit der Theaterszene drängt sich uns darum auf, weil die Präformierung des vitalen Geschehens sowohl in der im Textbuch vorgesehenen Partnerschaft, als auch in den festliegenden Dialogen und vorgeschriebenen Gesten und Bewegungen der Kontrahenten zum Ausdruck kommt.56

Aus der auf das Tier ausgerichteten Biosemiotik wird eine Soziosemiotik des Menschen, die sich dem ‚szenisch-affektiven Fluß der Erscheinungen‘ zu entziehen beginnt:

52 Ebd., S. 20. 53 Weizsäcker: Die Schmerzen. In: Buber/Wittig/ders. (Hrsg.): Die Kreatur, S. 315. 54 Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere. 55 Vgl. Bilz: Rolle und Szene im menschlichen Dasein. In: Psychologische Rundschau, S. 281–290. 56 Ders.: Pars pro toto, S. 25f.

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Denken in unserem Sinne heißt, von dem szenisch-affektiven Fluß der Erscheinungen bis zu einem gewissen Grade emanzipiert sein. Wenn man schon Akteur ist, ganz läßt es sich ja bekanntlich nicht vermeiden, so ist man doch wenigstens zugleich Zuschauer seiner selbst. Man sieht das Szenarium seines eigenen Lebens von einer Tribüne aus.57

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Man erkennt, wie Bilz das Schwergewicht auch weiterhin auf die Szene als (unter Umständen zu komplettierende) Einheit, als hermeneutische Präfiguration des Sozialen legt. Als Erving Goffman 1959 seine Studie THE PRESENTATION OF SELF IN EVERYDAY LIFE veröffentlichte, die zehn Jahre später unter dem Titel WIR ALLE SPIELEN THEATER. DIE SELBSTDARSTELLUNG IM ALLTAG auf Deutsch erschien, war scheinbar die neue Elementarkategorie der Soziologie (R. Dahrendorf ) zeitgleich in Amerika und Deutschland gefunden worden. Denn Ralf Dahrendorf hatte gleichfalls 1959 seinen HOMO SOCIOLOGICUS als einen Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle aus der Taufe gehoben. Hans Freyer bezeichnet schon 1956 den „sozialen Kodex als dem Inneren der Menschen im plastischen Sinne ‚eingebildet‘ und seine Phantasie als ‚mit eingebildeten Zuschauern und Zuhörern bevölkert‘, die die Gesellschaft vertreten“58. Die Theatermetaphorik hatte sich in der Soziologie durchgesetzt. Viel später ist die vermeintliche Elementarkategorie im zeitweise unvermeidlichen, computergestützten, freizeitlichen Rollenspiel – Massively Multiplayer Online Role-Playing Game – aufgegangen. Die Beobachtung, dass wir es hier mit einer Szene im Sinne des älteren Milieu-Begriffs zu tun haben, schmiedet die Begriffe Rolle und Szene weiterhin aneinander. Die totale „Verszenung“59 der gesamten Gesellschaft ist dann auch die jüngste Prognose der Soziologie. Eine weitere Konjunktur der Szene und der Inszenierung artikuliert sich gegenwärtig v. a. in der pädagogischen Lesart der Theatertheorie. Es handelt sich um den Versuch, soziale Konflikte und ihre Faktoren aus dem Fluss der fiktiven oder realen Ereignisse als lehrbare Einheiten herauszupräparieren und sie – szenisch gefasst oder isoliert – in einem spezifisch 57 Ebd., S. 79f. 58 Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 49. 59 Vgl. Gebhardt: Die Verszenung der Gesellschaft und die Eventisierung der Kultur. In: Gött-

lich/Albrecht/ders. (Hrsg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur, S. 287–305.

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Konjunkturen  inszenieren

pädagogischen Arrangement von Nachahmung und Distanznahme spie­ lerisch verstehbar zu machen.60 Der „Ausgangspunkt für die Entwicklung szenischer Interpretationsverfahren waren“ in fast allen Fällen „Spielversuche mit Brechts Lehrstücken.“61 Das szenische Lernspiel ist unterdessen längst in seine hochtechnische Phase eingetreten. Über das spontanistische Medium des Straßentheaters, um das in den 1960er Jahren erbitterte Debatten geführt wurden, gelangten die Brecht­ schen Impulse in die pädagogischen Institutionen.62 Brecht hatte ein feines Gespür für die Unzulänglichkeiten theoretischer Festlegungen und Klimata. Er setzte ganz auf Qualitäten des Szenischen, als er Ende der 1920er Jahre damit begann, das Theater als politisch-pädagogische Anstalt und als Medium neu zu konzipieren. Vordergründig öffnete er das klassische Theater nur für die volkstheaterlichen Elemente oder Stoffe und das Varietéhafte, indem er die Aktstruktur der Nummernrevue annäherte.63Aber was hier noch nach Kulturkampf klingt – „die bisherige große Form, die dramatische, ist für die jetzigen Stoffe nicht geeignet“64 –, war tatsächlich eine umfassende Emanzipation und Analyse der Szene. Immer wieder bringt Brecht seine Ausführungen ab 1931 in die Form der gegenstrebigen Auflistung von Merkmalen der „dramatischen Form des Theaters“ gegenüber der „epischen“. Im etablierten Drama sei „eine Szene für die andere geschrieben“, im neuen epischen hingegen gelte „jede Szene für sich“65. Benjamin nannte das eine Poetik der „Unterbrechung“66. Diese Behauptung wird in zwei Richtungen entfaltet: Einmal bedeutet die Konzeption des Theaters und der Oper als zusammengesetzte Spektakel aus autonomisierten Künsten (Musik/ Gesang, Bildwerk/Projektion/Bühnenbild und Text/Sprache) auch eine größere inszenatorische Komplexität der kleineren Handlungssegmente, eine Art (medientechnisch) gesteigerte immanente Kommentarstruktur weit unterhalb des Aktes. 60 Scheller: Szenische Interpretation von Dramentexten, S. 1. 61 Ebd. 62 Handke: Für das Straßentheater gegen die Straßentheater. In: Sievers (Hrsg.): 1968, S. 239–

243. Vgl. dazu insgesamt Kraus: Theater-Proteste.

63 Vgl. dazu Kesting: Das epische Theater, S. 64f. 64 Brecht: Letzte Etappe: ‚Ödipus‘. In: Ders.: Schriften zum Theater. S. 207. 65 Ders.: Das moderne Theater ist das epische Theater. In: Ders.: Schriften zum Theater, S. 20. 66 Benjamin: Was ist das epische Theater. In: Ders.: Versuche über Brecht, S. 20.

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Dann widmet Brecht schließlich 1940 der Szene einen eigenständigen Text. Die Szene ist unterdessen für ihn „ein Grundmodell für episches Theater“67 geworden. Wichtig ist Brecht zunächst, dass sein Beispiel – eine Alltags- oder Straßenszene – „offenbar keineswegs das ist, was wir unter einem Kunstvorgang verstehen“68. Es ist vielmehr ein Vorgang, „der sich an irgendeiner Straßenecke abspielen kann: der Augenzeuge eines Verkehrsunfalls demonstriert einer Menschenansammlung, wie das Unglück passierte“69. Der Vorteil dieses Vorgangs wird wiederum in eine Gegenüberstellung gefasst:

Die ‚reine‘ spontan-spielerische Didaktik und Pädagogik auf den Spuren Brechts hat es unterdessen schwer: Die ihr aufgesattelte Medienpädagogik schreibt vielfach schon die technische Aufzeichnung solcher Übungen zwecks Wiederholbarkeit und Auswertbarkeit vor, womit auch diese improvisierten Szenen in die reale mediale Distribution oder Zirkulation eintreten. GEGENBEGRIFFE  In der Medienphilosophie, unter den Überschriften ‚Theatra-

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Völlig entscheidend ist es, daß ein Hauptmerkmal des gewöhnlichen Theaters in unserer Straßenszene ausfällt: die Bereitung der Illusion. Die Vorführung des Straßendemonstranten hat den Charakter der Wiederholung. Das Ereignis hat stattgefunden, hier findet die Wiederholung statt. […] Das Geprobte am Spiel tritt voll in Erscheinung, das auswendig Gelernte am Text, der ganze Apparat.70

lität‘ und ‚Performativität‘, heißt ‚Inszenierung‘ seit dem Ende der 1990er Jahre „im weiteren Sinne ‚Zur-Erscheinung-bringen“ und es stellt sich – jedenfalls dieser Gruppe von Kulturwissenschaftlern – „sogleich die Frage, von welchem ontologischen und epistemologischen Status dasjenige ist, was da erscheint; ob es ein Selbständiges ist oder in seiner Scheinhaftigkeit auf ein Anderes, ‚die Wahrheit‘ verweist.“71 Es ist aber kein größerer Gegensatz zu dieser medienphilosophischen Authentifizierung und Transzendierung der Szene (als einem

67 Ders.: Die Straßenszene. In: Ders.: Schriften zum Theater, S. 90. 68 Ebd., S. 91. 69 Ebd., S. 90. 70 Ebd., S. 92. 71 Früchtl/Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung. In: Dies. (Hrsg.): Ästhetik der Inszenie-

rung, S. 29.

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Gegenbegriffe  inszenieren

‚Zur-Erscheinung-bringen‘) denkbar als Brechts Eintreten für dieselbe im Namen der ‚Wiederholung‘ und des ‚Apparats‘. Die Stärke von Brechts Überlegungen liegt ganz einfach darin, dass er überraschenderweise den ‚Apparat‘ – und damit die gesamte Medientechnik – gerade nicht mit einer angeblich der ‚großen Kunst‘ abträglichen Kulturindustrie identifiziert. Im Gegenteil: Kann die Kulturindustrie (als einem Synonym für Technik) im technikfernen Ereignis-Diskurs nur durch (von Reflexion und Reproduktion) unberührte authentische Ereigniskerne konterkariert werden, stellt Brecht sein Konzept der szenischen Demonstration stattdessen von Anfang an unter das Diktum der Reproduzierbarkeit. Dass dagegen die postmodernen Kulturwissenschaften – mit den Begriffen des ‚Anderen‘, des ‚Erscheinens‘ und der ‚Wahrheit‘ – dem Kult wieder näher rücken, ist nicht nur ein Nebeneffekt einer speziellen Etymologie. Man kann den Eindruck gewinnen, wenn man diese Richtung weiterverfolgt, dass die Szene bzw. die Inszenierung und das ‚In-Szene-setzen‘ hier selbst zu begriff­ lichen Bestandteilen einer kulturkritischen Entgegensetzung von Einmaligkeit (‚Ereignis‘) und Reproduktion (‚Wiederholung‘) werden. Die Gegenstände werden wieder in eine alte technik- und medienkritische Topik überführt, am Ende steht oft eine ebenso topische Ökonomie-Schelte: „Die Szene produziert nichts – sie produziert sich. Als ihr Zerfallsprodukt erscheint wieder nur die abstrakte Tauschbeziehung von Ware und Wert (Zeichen).“72 Ein zweiter basaler Gegenbegriff organisiert sich an ganz anderer Stelle: Die Zuschreibung szenischer Qualitäten an beliebig wahrgenommene oder repräsentierte Handlungsfolgen ist ein spezifischer Sinngebungsakt, oftmals sogar ein Akt kulturkritischer Verlebendigungsrhetorik gegenüber für tot Befundenem. Unter dem schönen Titel DER MENSCH UND DIE LEUTE wurde 1957 posthum ein unvollendetes Vorlesungsmanuskript des spanischen Essay­ isten und Kulturphilosophen José Ortega y Gasset (1883–1955) herausgegeben. Diese dezidiert soziologische Spätschrift blieb zwar Fragment, aber ihr zentraler Gedanke und ihr methodisches Konzept fanden sich in der aus dem Nachlass

72 Bohn: Ecksteine einer Genealogie der Szenifikation. In: Ders./Wilharm (Hrsg.): Inszenie-

rung und Ereignis, S. 66. Grundlage dieser medienphilosophischen Richtung sind v. a. JeanFrancois Lyotards Heidegger- und Lacan-Lektüren in ders.: Essays zu einer affirmativen Ästhetik. Vgl. auch die Arbeiten Martin Seels und Hans Ulrich Gumbrechts zur ‚Produktion von Präsenz‘.

314

I

Perspektiven  inszenieren

herausgegebenen Fassung klar formuliert und auch mehrfach zur Anwendung gebracht: „Jeglicher Begriff ist die Beschreibung einer Lebensszene.“73 Nach dieser Maxime versuchte Ortega y Gasset die aus seiner Sicht allzu verfestigten kulturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten zu vorstellbaren ‚Szenen‘ zu verflüssigen, um vor den Augen der Leser wieder eine Verbindung zwischen ‚Theorie und Leben‘ herzustellen.74 Faktisch wurde dieses Verbindungs- als Verflüssigungsversprechen Ortegas nur durch mehr oder weniger überraschende historische Herleitungen von Wörtern eingelöst. Die Szene fungiert hier als positiver Gegenpol in einer wesentlich älteren Darstellungstradition, die seit dem 17. Jh. mit Bildern der antiken Säfte- und Temperamentenlehre, d. h. mit ihrem nur leicht modifizierten Topos einer gefährlichen Austrocknung der Lebenssäfte, operiert. Diese Topik erlaubte unter anderem auch eine erfolgreiche Kritik der (angeblich lebensfeindlichen) Berufsgelehrsamkeit, ihrer Methoden und ihrer Gegenstände – und damit schließlich auch der Wissenschaft allgemein.75 Man kennt diese auf eine rhetorische Ausschließlichkeit angelegte Entgegensetzung spätestens seit 1900 auch aus der Kritik der sogenannten Lebensphi­ losophie an der antiquarisch-positivistischen Gründlichkeit der Textwissenschaften oder an den (zu) fein abgestimmten philosophischen Begriffsgebäuden des Deutschen Idealismus. Friedrich Nietzsche und Henri Bergson haben Pate gestanden für diese Angriffe auf die vermeintlichen Nachfolger der Schulphi­ losophie. Den Gegenständen und Themen der Geisteswissenschaften wurde von der Lebensphilosophie – nach angeblichen idealistischen oder positivistischen Höhenflügen – wieder ein ‚Sitz im Leben‘ abgefordert und zugeteilt.76 PERSPEKTIVEN  Zwei Perspektiven, die gleichzeitig Forschungsperspektiven im technischen wie im kulturtheoretischen Sinne sind, seien hier gesondert

73 Ortega y Gasset: Der Mensch und die Leute, S. 110. 74 Zur organischen Kategorie der ‚Verflüssigung‘ im Zusammenhang mit kulturwissenschaft-

lichen Konzepten bzw. ‚den Medien‘ vgl. Assmann: Fest und Flüssig. In: Dies./Harth (Hrsg.): Kultur als Lebenswelt und Monument, S. 181–199. 75 Vgl. Grimm: Letternkultur. 76 Ehlich: Der ‚Sitz im Leben‘ – eine Ortsbesichtigung. In: Huber/Lauer (Hrsg.): Nach der Sozialgeschichte, S. 537.

315

Forschung  inszenieren

genannt: Zunächst ist es die schlichte Tatsache, dass der ‚Szenographie‘ als handwerkliche Kunstform seit der Antike im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends universitäre Studiengänge folgten, die – als szenografische (Master-) Studien – nicht eine Bühnenpraxis und ihre Traditionen, sondern aktuelle kulturwissenschaftliche und kulturtheoretische Debatten in den Mittelpunkt des inszenatorischen Arbeitens stellen. Zweitens gibt es seit den Überlegungen Artauds rund um sein ‚Theater der Grausamkeit‘ radikale Vorschläge für Eingriffe in den Bühnenbau selbst, die eine ganz andere Theater- und Inszenierungspraxis nach sich zögen: So geben wir die jetzigen Theatersäle auf und werden einen Schuppen oder irgendeine beliebige Scheune nehmen, die wir gemäß den Prozeduren umbauen lassen werden, die zur Architektur bestimmter Kirchen oder heiliger Stätten […] geführt haben. […] Der völlig schmucklose Zuschauerraum wird von vier Wänden umschlossen sein, und das Publikum wird unten, in der Mitte des Raumes, auf drehbaren Stühlen sitzen, so daß es dem Schauspiel folgen kann, das sich rundherum abspielt.77 FORSCHUNG   Die ‚Szene‘ wurde – lange nach Freuds, von Weizsäckers, Brechts oder Ortegas Bemühungen – von Gerhard Neumann unter jenem antiken Stichwort ‚Szenographie‘78 mit einem eigenen umfangreichen Sammelband in die neueren Kulturwissenschaften eingeführt.79 Zwei interessante biografische Details über Barthes schickt Neumann seinen Ausführungen vo­raus: Barthes selbst verkörperte den Perserkönig Dareios in der 1936 von ihm gegründeten Theatergruppe ‚Groupe de théâtre antique‘80 und seine Reflexion auf die Szene wurde angestoßen durch seine Lektüre von Brechts Schriften

77 Artaud: Das Theater der Grausamkeit. In: Ders.: Das Theater und sein Double, S. 103. 78 Das antike Theater kannte schon „bemalte Dekorationselemente, die Skenographie“

[Brauneck: Die Welt als Bühne, S. 42]. Den kulturtheoretisch weniger ambitionierten angelsächsischen Wortgebrauch ‚scenography‘ erläutert der entsprechende Artikel in Allain/Harvie (Hrsg.): The Routledge Companion to Theatre and Performance, S. 203f. 79 Neumann/Pross/Wildgruber (Hrsg.): Szenographien. 80 Ein Foto der Aufführung findet sich in Barthes: Über mich selbst, S. 37. Vgl. Neumann: Theatralität der Zeichen. In: Ders./Pross/Wildgruber (Hrsg.): Szenographien, S. 67. Roland Barthes’ Schriften zum Theater (aus den Jahren 1942–1965) finden sich in Barthes: ‚Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin‘.

316

zum Theater.81 Neumann plädiert im Rückgriff auf das Werk Roland Barthes’ für eine spezifische Ausweitung des Begriffs der ‚Szene‘ zu einer Art szenisch angelegter Kulturwissenschaft:

Damit ist Neumann bisher bei der etablierten Theatralitätsforschung auf wenig Verständnis gestoßen: So verständlich diese Skepsis gegenüber einer ‚Erweiterung‘ der Zuständigkeit des Szene-Begriffs auch ist, so erstaunlich bleibt es doch, dass die ‚Szene‘ als Konzept oder tool im Zusammenhang mit den deutlich prominenteren Schlagwörtern ‚Ritualität‘, ‚Performanz‘ und ‚Theatralität‘ in den neueren Kulturwissenschaften zwar immer wieder einmal titelgebende Verwendung fand, aber nie gesondert verhandelt worden ist. Es gibt tatsächlich in den Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften kaum einen Begriff, der selbstverständlicher Verwendung findet als eben dieser Allerweltsbegriff der ‚Szene‘ und der ‚Inszenierung‘. Er ist allerdings so selbstverständlich, dass er von film- oder kulturwissenschaftlichen Handbüchern nicht oder kaum behandelt wird und wenn er doch einmal behandelt wird, heißt es lapidar: „Allerdings gibt es bislang kaum Einzeluntersuchungen innerhalb der Theatralitätsforschung zur besonderen begriffsgeschichtlichen Entwicklung der Szene“83.

I

Forschung  inszenieren

Sprache hat ihre eigentliche Szene in sich selbst. […] Verknüpft mit der These vom Text als ‚Bühne‘ sprachlicher Performanz und von der so gegebenen Implikation, der ‚Einfaltung‘ der Theatralitäts-Struktur in das ‚Drama des Textes‘, ist die Einsicht in die Notwendigkeit der Literatur für die alltäglichen theatralen Prozesse der Kultur. Literarische Texte bilden – gewissermaßen als ‚Texte im Text‘ – die ‚Instanz der Szene‘ im Feld der Kultur.82

81 Neumann: Theatralität der Zeichen. In: Ders./Pross/Wildgruber (Hrsg.): Szenographien,

S. 76.

82 Ders.: Einleitung. In: Ders./Pross/Wildgruber (Hrsg.): Szenographien, S. 14f. Vgl. auch

Wildgruber: Die Instanz der Szene im Denken der Sprache. In: Neumann/Pross/Ders. (Hrsg.): Szenographien, S. 35–63. 83 Balme: (Art.) Szene. In: Fischer-Lichte/Kollesch/Warstat (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 321. In vielen Einführungswerken gibt es keinen Eintrag oder Kapitel zur ‚Szene‘. Das gilt z. B. auch für Roesner/Wartemann/Wortmann (Hrsg.): Szenische Orte – Mediale Räume oder Kotte: Theaterwissenschaft.

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KANALISIEREN MARTIN SCHMIDT

ANEKDOTE  „There is life on the Planet Mars“1 stellte die New York Times in

Anekdote  kanalisieren

K

ihrer Sonntagsausgabe vom 09. Dezember 1906 fest. Ein Jahr später kürte das Wall Street Journal die Entdeckung intelligenten Lebens auf unserem Nachbarplaneten zum wichtigsten Ereignis des Jahres 1907. Die Geschichte dieser Sensationsmeldungen findet ihren Anfang in den zunächst unscheinbaren Studien des italienischen Astronomen Giovanni Schiaparelli. Dieser hatte 30 Jahre zuvor auf der Marsoberfläche ein Netz aus Linien beobachtet und diese in seinen Publikationen als canali bezeichnet. In der Lesart des wohlhabenden US-amerikanischen Amateurforschers Percival Lowell wurden aus diesen canali nicht bloß natürliche channels, sondern künstlich angelegte canals. Mit den besten verfügbaren Teleskopen und bemerkenswert fortschrittlichen Methoden widmete er sich der Erforschung des Mars und seinen Kanälen. Seine Ergebnisse folgten in einer Zeit, die unter dem Eindruck der Realisierung gigantischer Projekte wie Suez- und Panamakanal stand, einer bestechenden Logik: Die Linien auf dem Mars sind Bewässerungskanäle, mit deren Hilfe sich eine intelligente, menschliche Zivilisation vor der Ausbreitung von Wüsten retten will. Wo Kanäle sind, müssen kanalisierende Menschen sein. So abwegig Lowells Schlüsse heute wirken, so entfalteten Sie nicht zuletzt durch das Konzept des Kanals eine beeindruckende Strahlkraft, die ihren Niederschlag in einem regelrechten medialen Marsfieber fand.2 ETYMOLOGIE  Das Wort Kanal lässt sich etymologisch bis auf sumerisch-

akkadische Wurzeln und damit auf eine der ältesten bekannten Schriftsprachen zurückverfolgen. 3 Dort benennt gin natürliche Röhren und Rohrgeflecht wie

1 Whiting: There Is Life On the Planet Mars. In: NYT. 2 Zu Lowell und der Geschichte der Marskanäle vgl.: Hoyt: Lowell and Mars. 3 Vgl. (Art.) Kanal. In: Köbler (Hrsg.): Etymologisches Rechtswörterbuch, S. 211; (Art.) Kanal.

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322

etwa Schilfrohr. Diese Bedeutung erhält sich über das babylonisch-assyrische qanú und das altgriech. kánna bis zum lat. canna. Daraus wird zunächst das lat. Adjektiv canalis für rohrförmig, das schließlich als Nomen canalis für Röhre, Rinne und Wasserlauf den Ursprung der heutigen Bedeutung bildet. Über das ital. canale gelangt das Wort im 15. Jh. als Canal ins Frühnhdt. Ab Mitte des 19. Jhs. geht die Schreibweise von Canal auf Kanal über. Das Verb kanalisieren ist eine Bildung der zweiten Hälfte des 19. Jhs.4 Aus dieser Geschichte speist sich ein überraschend weites Wortfeld. Begriffe wie Cannabis, Kanüle, Kanister, Kanne, Canneloni, Kanone und Kanon teilen denselben Wortstamm und weisen inhaltliche Ähnlichkeiten auf.5

griff veränderter Wasserlauf lässt sich seit dem 15. Jh. nachweisen. Hierzu zählen zum einen künstliche Wasserstraßen zum Transport von Waren und Personen. Prominente Beispiele sind etwa Suez- und Panamakanal bzw. im deutschsprachigen Raum Nord-Ostsee- und Mittellandkanal. Zum anderen gehören verschiedenste Formen offener und geschlossener Be- und Entwässerungsanlagen zum Bedeutungsspektrum. Anwendungen sind hier unter anderem die Bewässerung von landwirtschaftlichen Flächen, die Abfuhr von Abwässern in Städten und die gezielte Zuleitung von Wasser zur Energiegewinnung für Mühlen und Kraftwerke. Seit Ende des 17. Jhs. wird Kanal zunehmend auch als Metapher für das Erreichen von Zwecken, insbesondere für das Erlangen von Informationen gebraucht.6 Zumeist geht mit der Metapher einher, dass der Zweck oder die Information sich einem direkten Zugriff entzieht oder absichtlich entzogen wird. So wird etwa die Kenntnis schwer erhältlicher Informationen damit begründet, dass man seine Kanäle habe. Ein anderes Beispiel ist Geld, das über dunkle Kanäle seinen Empfänger findet.

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Kontexte  kanalisieren

KONTEXTE  Die Bedeutung als künstlicher oder durch menschlichen Ein-

4 Vgl. (Art.) Kanal. In: Pfeifer, S. 781. 5 Vgl. (Art.) Schöpfer der Schrift. In: Hanika (Hrsg.): Wortschatz, S. 140f.; (Art.) Kanone. In:

Sillner (Hrsg.): Gewußt woher, S. 149.

6 Vgl. (Art.) Kanal; channel; canal. In: Spalding (Hrsg.): A Historical Dictionary of German

Figurative Usage, S. 1432; (Art.) Kanal. In: Küpper (Hrsg.): PONS-Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, S. 392.

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Kontexte  kanalisieren

Mit der Erfindung der Telegrafie im späten 19. Jh. und der folgenden Verbreitung elektronischer Informationsübertragung durch Funk, Radio und Fernsehen etabliert sich mit dem Kanal als Übertragungsweg medial vermittelter Kommunikation ein dritter Kerngehalt. Dabei wird der Begriff auf unterschiedliche Art und Weise gebraucht: metaphorisch wie etwa bei Brecht,7 als Element von Kommunikationstheorien beginnend bei Shannon und Weaver8 und als Bestandteil von Medientechnik.9 Im Anschluss an Shannon und Weavers Kommunikationsmodell wird der Begriff medientheoretisch relevant, erfährt jedoch keine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung. Daneben ist im 20. Jh. eine Vielzahl abgeleiteter Verwendungen entstanden, die sich stark auf die Kernbedeutungen beziehen. Dazu zählen beispielsweise Vertriebskanäle (Ökonomie), Wahrnehmungskanäle (Psychologie, Kognitionswissenschaft) und Windkanäle (Ingenieurswissenschaft). Eine prominente Ausnahme ist der Ärmelkanal, der als natürliche Meerenge kein Kanal im eigentlichen Sinne ist, die angrenzende Kulturlandschaft aber ähnlich einem Kanal bestimmt. Das Verb kanalisieren lässt sich im Deutschen ab der Mitte des 19. Jhs. nachweisen.10 Es wird zunächst gleichermaßen für den Bau unterirdischer Abwassersysteme in Städten und für die Regulierung von Bächen und Flüssen verwendet. Anfang des 20. Jhs. tritt wie beim Kanal die Verwendung als Metapher hinzu.11 Diese drei Aspekte bilden bis heute die Kernbedeutungen des Begriffs. Wiederum ähnlich zum Kanal entwickeln sich im späteren 20. Jh. eine Reihe abgeleiteter Bedeutungen. So wurde in den 1960er und 70er Jahren im Bereich der Entwicklungspsychologie und Pädagogik das Beeinflussen der Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes als kanalisieren

7 Vgl. Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst 1, S. 132ff. 8 Vgl. Shannon/Weaver: The Mathematical Theory of Communication. 9 Ein Beispiel sind zur Funkübertragung verwendete Frequenzbänder, die als Kanäle bezeich-

net werden.

10 Vgl. Behrend: Die Frage: ob zur Wegschaffung der Auswurfstoffe und des Unraths die Stadt

Berlin zu kanalisieren oder mit einem Abfuhrsystem zu versehen sei?; Child: Die Canalisirung der Städte; (Art.) Kanal. In: Pfeifer, S. 781. 11 Vgl. Katscher: Graf Chambrun und sein Museum für die Arbeiterfrage. In: Arbeiterwohl, S. 190–196.

324

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Kontexte  kanalisieren

bezeichnet.12 Ein weiteres Beispiel findet sich im eklektizistischen Sprachgebrauch der Esoterik, wo ab den 1970er Jahren ‚Channeling‘ als Methode zur Kontaktaufnahme mit Geistern und Verstorbenen bezeichnet wird. Ein sprachlich wirkungsmächtiges Beispiel stellt das Kanalisieren von Städten dar. Bereits in der Antike und im Spätmittelalter wurden teils sehr aufwändige unterirdische Systeme von Kanälen gebaut und betrieben. Der Aufbau einer modernen Maßstäben genügenden, zentral geplanten und betriebenen Infrastruktur zur Abwasserbeseitigung lässt sich jedoch erst im 19. Jh. verorten. Ein prominentes Beispiel ist Wien, das bereits um ca. 100 n. Chr. als römisches Militärlager über eine unterirdische Kanalisation verfügt, die ab ca. 400 n. Chr. verfällt. Gegen Ende des 14. Jhs. werden erneut Abwasserkanäle errichtet und bis ins 18. Jh. zu einer vollständigen Kanalisation innerhalb der Stadtmauern ausgebaut. 1837 gehört Wien zu den ersten europäischen Städten, in denen mit Baumaßnahmen einer modernen Kanalisation begonnen wird.13 In relativ kurzen Abständen folgen Hamburg (1848), Paris (1855), London (1858), Frankfurt (1867) und Berlin (1873). Diese Beispiele lassen sich als Ausdruck eines wachsenden Bewusstseins für die Notwendigkeit einer öffentlichen Gesundheitspflege lesen, das sich bedingt durch das Wachstum der Städte, die Erfahrung von Seuchen und Epidemien wie Cholera und das damit verbundene medizinische und hygienische Wissen in Mitteleuropa entwickelt hat. Zur Lösung des drängenden Problems der Abwasserentsorgung wurde in ingenieurswissenschaftlichen und entwicklungspolitischen Publikationen eine Reihe von Vorschlägen diskutiert. Neben dem Abtransport gesammelter Abwässer mit Fuhrwerken wurde der Bau von offenen Kanälen erwogen. Auch wenn sich die Vorzüge unterirdischer Kanäle relativ schnell abzeichneten, wurde auch hier umfänglich über diverse Betriebsformen diskutiert. Obwohl letztlich alle diese Konzepte in unterschiedlichem Umfang den Bau und Betrieb von Kanälen vorsehen, wird nur im Kontext unterirdischer Kanalsysteme von kanalisieren gesprochen. Betrachtet man die Formulierungen

12 Vgl. Klafki et al. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft 3, S. 59. 13 Vgl. Geschichte der Wiener Kanalisation (2013). Unter: http://www.wien.gv.at/umwelt/­

kanal/geschichte/ [aufgerufen am 31.05.2013].

325

Kontexte  kanalisieren

genauer, zeigt sich, dass das Verb nicht auf die Abwässer oder deren unregulierte Ablaufwege bezogen wird. Vielmehr wird die Stadt als solche kanalisiert. In zeittypischer Ausdrucksweise stellt eine Publikation von 1866 „Die Frage: ob zur Wegschaffung der Auswurfstoffe und des Unraths die Stadt Berlin zu kanalisieren oder mit einem Abfuhrsystem zu versehen sei?“14. Kanalisieren ist demnach nicht synonym zu ‚Kanalbau‘, sondern verweist auf eine strukturelle Veränderung der Stadt als Gesamtsystem. Sie erhält nicht eine zusätzliche öffentliche Einrichtung, sondern wird transformiert bzw. kanalisiert. Ist diese Transformation einmal durchlaufen, gerinnt das Ergebnis des Kanalisierens zu einem festen Status der Form: Wien ist seit 1739 innerhalb seiner Stadtmauern kanalisiert. Die Werkzeuge des Kanalisierens werden zum Artefakt, genauer zur Kanalisation. Der Übergang vom Kanalisieren zur Kanalisation bringt als Bruchstelle ein Motiv zum Vorschein, das auf die leitende Frage nach Formen des Mediengebrauchs verweist. In der Planungs- und Bauphase stellen Kanäle gewählte Mittel zur Lösung eines drängenden, gemeinschaftlichen Problems dar. Sie sollen einen regulierbaren und störungsfreien Transport von Abwässern gewährleisten. Ihre Planung ist Gegenstand ökonomischer, politischer und sozialer Interessen und ihr Bau ein unübersehbares Großprojekt. Mit ihrer Inbetriebnahme verschwindet die Kanalisation aus dem Stadtbild. Eine Wiener Chronik von 1937 hält fest: „Die Kanalisation Wiens, die für eine rasche, umfassende und klaglose Ableitung der Abwässer sorgt, ist ebenso wie die Wasserversorgung in erster Reihe zu jenen Faktoren zu zählen, die zu einer stetigen Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse Wiens beigetragen haben.“15 Die Kanalisation als unverzichtbare Voraussetzung städtischen Lebens verrichtet klaglos ihren Dienst und wird nach kürzester Zeit nicht mehr, bzw. nur noch mittelbar über alltägliche Einrichtungen wie Waschbecken und WC, wahrgenommen. Mit dem Beginn ihres Gebrauchs wird sie zum blinden Fleck. Wie eine Vielzahl von Erzählungen und Filmen veranschaulicht, wird die gleichzeitig nahe und doch unbekannte Kanalisation eine Projektionsfläche

14 Behrend: Die Frage. 15 Schmitz: Die Kanalisation der Stadt Wien, S. 7.

326

für Ängste und Phantasien. Die Wiener Kanalisation erlangt bezeichnenderweise nicht als fortschrittliche, technische Errungenschaft, sondern als Drehort für den Thriller DER DRITTE MANN eine breite Bekanntheit.16 Indem sie zur unbeobachteten Fortbewegung und als Versteck dient, wird sie zur zentralen Metapher der filmischen Erzählung und dadurch wieder ins Bewusstsein gerückt. Der intendierte Gebrauch zieht eine Reihe von nicht intendierten Gebrauchsweisen nach sich. Die systematische Regulierung der Infrastruktur auf Ebene der Wasserläufe beeinflusst die Stadt als sozialen und kulturellen Gesamtraum. KONJUNKTUREN  Die erste Konjunktur des Begriffs ist eng mit den öko-

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Konjunkturen  kanalisieren

nomischen und sozialen Rahmenbedingungen der Industrialisierung Mitte des 19. Jhs. und den damit einhergehenden großflächigen Infrastrukturprojekten verknüpft. Natürliche Wasserläufe wurden begradigt, vertieft und angestaut, um im Hinblick auf Schiffbarkeit und Sicherheit angrenzender Städte beherrschbare Verhältnisse wie bei einem künstlich angelegten Kanal zu erzielen. Flüsse und Bäche wurden im großen Stil funktional äquivalent zu Kanälen gemacht und damit kanalisiert. Diese Konjunktur endet in den 1960er Jahren mit dem Abschluss der Moselkanalisierung als dem letzten deutschen Großprojekt in diesem Kontext. Im Zuge der aufkommenden Umweltbewegung in den 1980er Jahren wurde diese Bedeutung in Gegensatz zu einem natürlichen und gesunden Urzustand von Bächen und Flüssen gestellt und damit erstmals negativ konnotiert. Zeitgleich zum Ausbau von Bächen und Flüssen bildet der Bau von Abwassersystemen für Städte den zweiten Teil der ersten Konjunktur. Die bestehenden Einrichtungen zur Abfuhr von Abwässern konnten die Erfordernisse schnell wachsender Städte nicht erfüllen. Ohne geeignete Infrastruktur stellte sich die Menge an Unrat und Abwasser gleichsam als Flut dar, die es in beherrschbare Bahnen zu lenken, also zu kanalisieren galt.17 Ingenieurswissenschaftliche und wirtschaftspolitische Publikationen zum Thema verwenden zu dieser Zeit sowohl das Verb kanalisieren, aber auch dessen Substantivierung Kanalisierung.

16 Der dritte Mann (Originaltitel: The Third Man). 1949. London Films. 17 Vgl. Bauer: Im Bauch der Stadt.

327

Gegenbegriffe  kanalisieren

Nach der flächendeckenden Einführung der Infrastruktur rückt das Verb in diesem Kontext mehr und mehr in den Hintergrund. Das Ergebnis dieses Kanalisierens bleibt als Kanalisation Bestandteil der Alltagssprache. Durch seine metaphorische Verwendung erfährt der Begriff seit dem Beginn der 20. Jhs. seine zweite, bis heute andauernde Konjunktur. Kanalisieren steht nun allgemein für ordnende, regulierende und kontrollierende Tätigkeiten. Die Tätigkeit ist dabei durchweg positiv konnotiert. Ziel ist immer der bessernde Einfluss auf Zustände, die als Unordnung oder sogar Bedrohung wahrgenommen werden. Beispielsweise wird in einem Artikel des Ostpreußenblattes von 1966 der Bund der Vertriebenen mit der Forderung zitiert, dass „soziale und pa­triotische Unruhe zu kanalisieren und in ein fruchtbares Bett zu leiten“18 sei. Die Bandbreite der Verwendungskontexte reicht heute von einem wenig spezifischem Ordnen (z. B. Koordinieren und Bündeln von individuellen Aktivitäten) bis zum positiven Umwenden negativer Eigenschaften (z. B. Kanalisieren von Wut). Auch wenn Konjunkturen in der Umgangs- und Alltagssprache schwer zu fixieren sind, führen eine Vielzahl von Belegen und Beispielen zum Befund, dass die Metapher heute den wichtigsten Verwendungsaspekt des Begriffs darstellt. So wird etwa in den 1950er und frühen 60er Jahren kanalisieren vereinzelt, ab den späten 1960er Jahren häufiger in journalistischen Texten verwendet.19 GEGENBEGRIFFE  Die Frage nach einer Gegenbegrifflichkeit zu kanalisieren

kann sich kaum auf bestehende Forschungen berufen. Zudem lässt sich kein einzelner Gegenbegriff formulieren, sondern es gilt vielmehr Wortfelder und sprachliche Motive zu identifizieren. Je nach Verwendungskontext führt diese Analyse zu unterschiedlichen Ergebnissen. Für das Kanalisieren von Bächen und Flüssen lässt sich für die Zeit der größten Konjunktur keine Handlungsalternative benennen, die im engeren Sinn als Gegenbegriff gelten könnte. Erst lange nach Abschluss der Bauphase und mit zunehmendem Umweltbewusstsein werden entgegengesetzte sprachliche Motive möglich. So entsteht etwa die Forderung, Restbestände noch nicht kanalisierter Gewässer natürlich zu belassen und bereits kanalisierte

18 C.J.N.: Zum Wort stehen. In: Das Ostpreußenblatt, S. 4. 19 Dieses Ergebnis ist einer quantitativen Analyse des Archivs der Wochenzeitung Die Zeit

entnommen.

328

PERSPEKTIVEN  Anhand des beschriebenen Beispiels der Kanalisierung von

Städten lässt sich die Wandlung der Metapher des Kanalisierens nachvollziehen. Nachdem das Abwasserproblem als ein zentrales Anliegen des 19. Jhs. gelöst ist, sind es seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. Informationen, Haltungen oder Ideen deren Flut es Einhalt zu gebieten gilt. Nicht zuletzt durch die umfassende Digitalisierung der Kommunikationstechik erhält diese Figur besondere Aktualität. In der jüngeren Vergangenheit wird die Metapher zunehmend auch auf das eigene Leben übertragen. Ratschläge zum gewinnbringenden Kanalisieren von Gefühlen oder Ängsten finden sich in aktuellen journalistischen Texten und Ratgeberliteratur. Auch wenn in der Alltagssprache dieser Aspekt nicht unbedingt im Vordergrund steht, enthält kanalisieren immer auch ein Moment der Dringlichkeit bzw. der Abwendung eines Verlustes oder sogar Schadens. Nicht jedes Ordnen oder Strukturieren ist auch Kanalisieren.

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Forschung  kanalisieren

Gewässer zu renaturieren. Das letzte Beispiel verdeutlicht, dass kanalisieren ein Grundmoment von Kulturschaffen benennt. Natur in Form von fließenden Gewässern wird kultiviert bzw. kanalisiert. Als Gegensatz dazu besteht entweder die passive Möglichkeit, nicht einzugreifen oder der aktive Rückbau mit dem Ziel einen Naturzustand wiederherzustellen. Den Varianten der Metapher steht eine Reihe von sprachlichen Wendungen gegenüber, deren Gehalt sich zwischen einem schlichten Auslassen von Möglichkeiten und dem Vorwurf fahrlässiger Tatenlosigkeit bewegen. Auf Seite der Tatenlosigkeit finden sich dem Wasserbau entnommene Bilder wie ausufern lassen und überlaufen lassen. Am anderen Ende des Spektrums stehen Formulierungen wie ungenutzt lassen, verlaufen lassen oder gänzlich anderen Wortfeldern entnommene Wendungen wie zerfasern lassen. Die Gemeinsamkeit dieser Gegenbegriffe liegt in ihrer passiven Konstruktion. Sie heben damit den aktiven Charakter von kanalisieren hervor und betonen erneut den engen Bezug zum Kulturbegriff.

FORSCHUNG  Für die Medienkulturgeschichte bietet sich eine Reihe von

Anknüpfungspunkten. Zunächst kann die Reflexion auf das Verhältnis von kanalisieren und Kanal zur Aufklärung und Historisierung eigener Kernbegriffe beitragen und damit auch einen neuen Zugang zu zentralen Texten der

329

Fachgeschichte wie etwa Innis’ wirtschaftshistorische Studien herstellen.20 Weiterhin bietet die Fülle unterschiedlichster Quellen einen fruchtbaren Boden für Einzelstudien. Viele Quellen können über die Fragestellung des Gebrauchs häufig erstmals für die Mediengeschichte lesbar gemacht werden. Die Möglichkeiten reichen hier beispielsweise von der Untersuchung früher Wasserbautätigkeit in der Antike bis zur aktuellen Debatte um das Thema der Netzneutralität. LITERATUREMPFEHLUNGEN Bauer, Thomas: Im Bauch der Stadt; Kanalisation und Hygiene in Frankfurt am Main 16.–19.

Jahrhundert, Frankfurt/M. (1998).

Hoyt, William Graves: Lowell and Mars, ­

Missal, Alexander: Seaway to the Future: Ame-

rican Social Visions and the Construction of

the Panama Canal, Madison (2008).

Tucson (1976/1996).

Literaturempfehlungen  kanalisieren

VERWEISE  adressieren |47|, formatieren |253|, funken |268| BIBLIOGRAFIE (Art.) Kanal. In: Kluge. Etymologisches Wör-

terbuch der deutschen Sprache, Berlin (1995), S. 468.

(Art.) Kanal. In: Köbler, Gerhard: Etymologisches Rechtswörterbuch, Tübingen (1995), S. 211.

(Art.) Kanal. In: Küpper, Heinz (Hrsg.): PONSWörterbuch der deutschen Umgangssprache, Stuttgart (1990), S. 392.

(Art.) Kanal. In: Mackensen, Lutz (Hrsg.): Ursprung der Wörter. Etymologisches Wör-

terbuch der deutschen Sprache, München

(1985), S. 199.

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terbuch des Deutschen, Berlin (1989), S. 781.

(Art.) Kanal. In: Spalding, Keith (Hrsg.): An

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woher. Ursprungshandbuch deutschsprachiger Wörter u. Redensarten, Frankfurt/M.

(1973), S. 149.

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deutschen Wörter kommen, München (2007),

S. 140f.

Behrend, Friedrich Jakob: Die Frage: ob zur

Wegschaffung der Auswurfstoffe und des

Unraths die Stadt Berlin zu kanalisieren oder mit einem Abfuhrsystem zu versehen sei?

vom sanitäts-polizeilichen Standpunkte aus beleuchtet, Berlin (1866).

Brecht, Bertolt: Schriften zur Literatur und

Kunst 1: 1920–1932, Frankfurt/M. (1967).

Usage, Oxford (1980), S. 1432.

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Etymologisches Wörterbuch des deutschen

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(Art.) Kanne. In: Bluhme, Hermann (Hrsg.):

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20 Innis: Empire and Communications.

330

(Art.) Kanone. In: Sillner, Leo (Hrsg.): Gewußt

blatt (28.05.1966), S. 4.

Berlin (1866).

Innis, Harold: Empire and Communications,

Schmitz, Richard: Die Kanalisation der Stadt

Katscher, Leopold: Graf Chambrun und sein

Shannon, Claude E./Weaver, Warren: The

Museum für die Arbeiterfrage. In: Arbeiter-

wohl (1899), S. 190–196.

Klafki, Wolfgang et al. (Hrsg.): Erziehungswis-

senschaft 3: Eine Einführung, Frankfurt/M.

(1971).

Wien, Wien (1937).

Mathematical Theory of Communication, Urbana und Chicago (1949/1998).

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Mars. In: The New York Times 09.12.1906.

Internet

Film

Geschichte der Wiener Kanalisation (2013).

Der dritte Mann (Originaltitel: The Third Man).

Unter: http://www.wien.gv.at/umwelt/kanal/ geschichte/ [aufgerufen am 31.05.2013].

1949. London Films.

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Bibliografie  kanalisieren

Toronto (1950/1986).

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KLICKEN MATTHIAS BICKENBACH

ANEKDOTE  „Steve Jobs kam zu uns und sagte: ‚Ich will eine Maus für 10 Dol-

Anekdote  klicken

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lar, die niemals ausfällt und die in Massen produziert werden kann, weil die Maus das wichtigste Interface des Computers der Zukunft werden wird‘“1. So erinnert sich Jim Sachs, der bei einer externen Firma arbeitete, die die Apple-Maus entwerfen sollte. Steve Jobs hatte im November 1979 im legendären Silicon Valley ein Gerät von Xerox PARC gesehen, mit dem grafische Bildschirmoberflächen gesteuert werden konnten. Die Xerox-Maus kostete in der Herstellung 400$ und war extrem fehleranfällig, aber Jobs beauftragte eine optomechanische Neukonstruktion, bei der die anfälligen mechanischen Bürstenkontakte durch eine Kugel und die Registrierung von Lichtwechsel in einer Lochscheibe ersetzt wurden. Das machte die Maus zum alltagstauglichen Gerät. Die drei Tasten der Xerox-Maus wurden nach internen Debatten bei Apple auf eine Taste reduziert, damit die Bedienung möglichst einfach sei. 1984 wurde der Apple „Lisa“ mit der neuen Maus ausgeliefert, die seitdem zum wichtigsten Steuergerät des Computers geworden ist. Doch erfunden hat Apple die Maus nicht. 1962 beschreibt ein ehemaliger Navy-Radartechniker am Standford Research Institut (SRI) in Menlo Park ein Gerät, das er als „pointer“ bezeichnet. Der Kontext ist nichts Geringeres als die Erweiterung der menschlichen Intelligenz. AUGMENTING THE HUMAN INTELLECT: A CONCEPTUAL FRAMEWORK ist ein Grundlagenpapier, in dem Douglas C. Engelbart zwar keinen konkreten Entwurf für ein Interface zur Menüsteuerung entwickelt, sondern eine umfassende Diskussion zur Computer-Mensch-Interaktion vorlegt und Grundlagenfragen der Organisation und Steuerung von Daten diskutiert. Neben der Tastatur spielt in Anschauungsbeispielen ein Eingabegerät als „Zeiger“ eine Rolle, der Positionen auf Röhrenbildschirmen

1 Dernbach: Die Geschichte der Computer-Maus. Unter: http://www.mac-history.de/apple-

geschichte-2/2012-01-29/die-geschichte-der-computer-maus [aufgerufen am 10.05.2013].

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Anekdote  klicken

markieren und manipulieren kann. Am Ende wird er als „light pen“ präzisiert.2 In der Tat arbeitete Engelbart mit seinem Forschungsteam auch für die NASA an solchen Stiften. Der Forschungsbericht greift auch auf die Vision Vannevar Bushs zurück, dessen Artikel AS WE MAY THINK schon 1945 einen multimedialen elektronischen Zettelkasten namens „Memex“ imaginierte und damit das erste Hypertextsystem projektierte.3 Engelbart zitiert den Text ausführlich. Ein Problem im Umgang mit großen Datenmengen ist ihre Organisation, die Bush als Vernetzung von Dokumenten denkt. Ein Problem ist dabei die Schnelligkeit des Zugriffs. So erscheint schon bei Bush ein „pointer“, der Kodierungen unterhalb der semantischen Ebene der Dokumente durch speziellen Tasten aktiviert: „A special button transfers him immediately to the first page of the index. […] Thereafter, at any time, when one of these items is in view, the other can be instantly recalled merely by tapping a button below the corresponding code space.“4 Aus diesem „tapping a button“ wird das Klicken der Maus werden. Engelbart greift Bushs Idee rund 20 Jahre nach dessen visionären Entwurf auf, konzipiert zunächst aber noch einen „light pencil“, der mit dem Bildschirm korrespondiert. Doch er kommt von dieser Idee ab. 1964 konstruiert Bill English, Chefingenieur in Engelbarts Forschungsgruppe, eine Holzkiste mit einem Rad, einer roten Taste und einem Kabel. Die Assoziation zu einer Maus soll damals sofort entstanden sein. 1967 reicht Engelbart seine Patentanmeldung auf den „X-Y-Positionszeiger für ein Bildschirmsystem“ ein. Das Patent erhält er 1971. Als das neuartige Steuerungsgerät 1968 erstmals öffentlich vorgestellt wurde, war die Resonanz allerdings gering. Auch die NASA verlor ihr Interesse, sind Mäuse doch nur unter Bedingungen der Schwerkraft funktionsfähig. Dennoch favorisierte

2 Vgl. Engelbart: Augmenting Human Intellect. Unter: http://www.invisiblerevolution.net/

engelbart/full_62_paper_augm_hum_int.html [aufgerufen am 12.02.2013].

3 Vgl. Bush: As we may think. In: The Atlantic. Unter: http://www.theatlantic.com/magazine/

archive/1945/07/as-we-may-think/303881/ [aufgerufen am 10.05.2013]. Für eine deutsche Teilübersetzung mit Kommentar von Hartmut Winkler unter: http://homepages.uni-paderborn. de/winkler/bush_d.pdf [aufgerufen am 10.05.2013]. 4 Bush: As we may think. Unter: http://www.theatlantic.com/magazine/archive/1945/07/as-wemay-think/303881/ [aufgerufen am 10.05.2013], Abschnitt 7.

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Etymologie  klicken

Engelbart diese Konstruktion und die heute wieder verfügbaren Videos seiner Demonstration von 1968 gelten als bahnbrechend.5 Sie zeigen erstmals einen Mediengebrauch, der komplexe Interaktion mit Bildschirmdarstellungen und dem Cursor ermöglicht. Statt Befehle per Script einzugeben oder durch Fernbedienung nur Kanäle umzuschalten, erlaubt die Maus flexible Objektadressierung. Damit werden Hypertexte und Programmsteuerungen sowie Interaktionen mehrerer Nutzer in einem Netzwerk möglich. Das neue Gerät ermöglicht so erst dynamische Datenverknüpfungen und kann daher als Voraussetzung noch des Web 2.0 gelten. Aber das interessierte damals nur Spezialisten. Erst 1981 werden die ersten Computer mit dem neuen Steuerungsgerät ausgeliefert, zunächst ohne größeren Einfluss. Denn solange Computerprogramme in DOS oder anderen Programmiersprachen nur über die Eingabe von Befehlszeilen im jeweiligen Kode operieren, bleibt die Tastatur das wichtigste Eingabegerät und das Eintippen der zentrale Umgang mit Computern. Erst mit der Etablierung der grafischen Benutzeroberfläche durch Apple Macintosh kommt die Maus zu ihrem Erfolg. Heute ist sie Standard und gilt, trotz zunehmender Konkurrenz von Touchpads, immer noch als das wichtigste Gerät für den Computergebrauch sowie als eine der wichtigsten Mensch-Maschine-Schnittstellen überhaupt.6 2008 meldete die Firma Logitech die Auslieferung ihrer Milliardsten Maus.7 ETYMOLOGIE   Die heutige Wortbedeutung von „anklicken“ im Sinne von

auswählen und steuern von interaktiven Schaltflächen ist die Übertragung eines kurzen Lautes auf den schnellen, flexiblen und universalen Zugriff auf digitale Inhalte. Klicken ist zunächst eine Onomatopöie, eine Lautmalerei, die ein Geräusch zum Inbegriff des Mediengebrauchs des Computers gemacht hat. Es bezeichnet im Unterschied zu „klacken“ einen hellen, kurzen metallischen

5 Vgl. Dernbach: Die Geschichte der Computer-Maus. Unter: http://www.mac-history.de/

apple-geschichte-2/2012-01-29/die-geschichte-der-computer-maus [aufgerufen am 10.05.2013]. Das Video von 1968 ist dort abrufbar. 6 Vgl. (Art.) Maus (Computer). In: Wikipedia. Unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Maus_%28 Computer%29 [aufgerufen am 10.05.2013]. 7 Vgl. Logitech: Logitech feiert die milliardste Maus. Unter: http://www.logitech.com/de-de/ showcases/family-showcase/5290 [aufgerufen am 10.05.2013].

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Klang.8 Phonetisch wird es auch auf konsonantische Artikulation bestimmter Sprachen bezogen. Mediengeschichtlich könnte es auf die Akustik von Schaltern zurückgeführt werden, aber das ist unwahrscheinlich. Frühere (Licht-) Schalter klacken und werden kaum mehrfach hintereinander gebraucht. Das Wort Klicken aber konnotiert lautmalerisch Leichtigkeit, Schnelligkeit und Frequenz.9 Der Klang von Schreibmaschinen in Büros ist hingegen mitunter als „clicking“ beschrieben worden. Eine andere Herkunft des Wortes könnte jedoch das Klicken beim Spannen des Hahns einer Waffe sein, ebenso das Klicken beim Auslösen des Fotoapparates als einem Mediengebrauch, der allerdings erst mit der Kleinbildkamera um 1890 üblich geworden ist. Alle drei Klicks als Mediengebrauch verbindet damit untergründig die Macht des Zugriffs.

Musik (Metronom, Sequenzer) und zur Messung von Zeit (Bogensekunden) und von Distanzen verwendet. Im Jargon des US-Militärs taucht „click“ im Vietnamkrieg als Akronym für die Distanz zum Feind auf. Auch bestimmte Sprachen von Tieren (Delphine, Wale) und Menschen werden zuweilen mit dem Begriff benannt.10 Im Unterschied zu diesen speziellen Verwendungskontexten bezeichnet klicken heute weltweit den Gebrauch des Computers durch die Maus. Klicken ist damit ein spezifischer Mediengebrauch, der für Zugriff, Auswahl, Steuerung und Interaktion mit grafischen Benutzeroberflächen steht. Im Unterschied zum Schalten, Zappen oder Tippen aktiviert der Klick komplexe Programmierungen je nach Kontext. Das „Anklicken“ als Zugriff auf Information oder für das Öffnen von Programmen, Fenstern oder Internetseiten, ist der offenkundigste und verbreitetste Gebrauch. Im Internet wiederum werden Klicks als Maß der Zugriffe pro Tag oder Monat gezählt und ausgewertet. Doch Klicken ist nicht nur das Aufrufen von Inhalten,

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Kontexte  klicken

KONTEXTE   Der Begriff „Klick“ wird als sequenzierende Zählung in der

8 Vgl. (Art.) Klicken. In: Wahrig, S. 751. 9 Vgl. (Art.) klicken. In: Duden online. Unter: http://www.duden.de/ [aufgerufen am

22.09.2013]. Die Formulierung, „jemanden etwas verklickern“ geht auf eine ganz andere Herkunft zurück. Der „Verklicker“ ist ein nautisches Gerät, das mittels Metallplättchen an einer Schnur dem Steuermann die Windrichtung signalisiert. Vgl. (Art.) Verklicker. In: Grimm online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB [aufgerufen am 22.09.2013]. 10 Vgl. (Art.) Klick. In: Wikipedia. Unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Klick [aufgerufen am 22.09.2013].

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Kontexte  klicken

sondern eine universale Steuerung des Computers, ohne dazu eigens Tastaturbefehle lernen zu müssen. Das „sich durchklicken“ durch Menüs, Ordner oder Dokumente als Navigation und Suche ist ein ebenso häufiger Gebrauch in der Praxis. Zugleich ermöglicht Klicken auch die Navigation innerhalb von Texten und Hypertexten und etabliert den aktiven Umgang mit Sprungmarken in elektronische Dokumente. „Anklicken“ ist daher heute zu einem Synonym für Informationszugang schlechthin geworden. Der Gebrauch des Computers wird damit auf eine simple, aber universale Geste reduziert, die jedoch je nach Programmebene und Kontext des Cursors sehr verschiedene Funktionen realisiert: Auswahl, Zugriff, öffnen oder schließen, markieren, ziehen, scrollen, Aufruf von Kontextmenüs usw. Insgesamt ist Klicken daher als komplexe Doppelstruktur einer Interaktion mit dem Computer einerseits sowie der Navigation innerhalb digitaler Daten andererseits zu fassen. Unterschieden werden Klick und Doppelklick als Operationen der unbewegten Maus, im Unterschied zum „Drag and Drop“, bei Bewegungen der Maus mit gedrückter Taste. Besaß die erste Maus 1964 nur eine Taste, so sah die Xerox-Maus drei Tasten vor, die von Apple zunächst wieder auf eine einzige reduziert wurde.11 Heute sind Mäuse mit mehreren Tasten üblich. Neben dem Scroll-Rad und weiteren Sonderfunktionen hat sich als Leitunterscheidung der Links- und Rechtsklick etabliert. Während die linke Taste stets Auswahl und Zugriff realisieren, ruft der Rechtsklick standardisiert Kontextmenüs auf, bietet also weitere Schaltfläche zur Navigation. „Anklicken“ kann heute auch pejorativ als oberflächlicher Medienumgang, als nur schnelles, kursorisches Sichten von Informationen im Internet verstanden werden. Doch die Geste des Klickens geht nicht in diesem mit Oberflächlichkeit assoziierten Mediengebrauch auf. Als universaler Zugang und als Praxis des Auswählens setzt der Gebrauch der Maus ein hohes Maß

11 Etliche technische Verbesserungen sind dabei relevant: 1985 führt die Firma Logitech die Drei-

Tasten-Maus ein. 1991 werden erste kabellose Maus entwickelt, 1995 das Scroll-Rad, 1998 die Lasermaus, 2002 der Datentransfer durch Bluetooth. Vgl. PCGH-Redaktion: Die Geschichte der Computermäuse. Unter: http://www.pcgameshardware.de/Eingabegeraet-Hardware-154122/ Specials/Die-Geschichte-der-Computermaeuse-seit-1968-671988/ [aufgerufen am 10.05.2013]. Für eine Übersicht der Techniken vgl. o.A.: Computer-Maus. In: Elektronik Kompendium. Unter: http://www.elektronik-kompendium.de/sites/com/0808141.htm [aufgerufen am 10.05.2013].

336

an Kontextwissen voraus. Jeder Klick setzt das Wissen voraus, auf welcher Ebene von Oberflächen und Funktionen der Cursor sich gerade befindet. Die universale Steuerung des Klicks wählt dabei nicht nur aus, sondern löst zum Teil komplexe Programmcodes aus. Seine Funktion ist weniger eine Wahl, als vielmehr eine Entscheidung.12 Im Unterschied zur Generation der „computernatives“, die mit der Komplexität von Menüs und Programmstrukturen aufgewachsen sind und gleichsam intuitiv bedienen, zeigt sich bei älteren Generationen die hohe Anforderung an die Medienkompetenz, die die Geste des Klickens in ihrer scheinbaren Simplizität verbirgt.

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Konjunkturen  klicken

KONJUNKTUREN   Seitdem die Computermaus als historisches Gerät des Mediengebrauchs reflektiert wird, sind Geschichten ihrer Erfindung selbst per Klick abrufbar. Das vierzigste Jahr ihrer Erfindung markiert eine deutliche Schwelle in der öffentlichen Wahrnehmung. Seit 2003 haben sich die Informationen über die Maus deutlich vermehrt, seit 2011 sind umfangreiche Dokumentationen, inklusive der Videos der ersten öffentlichen Demonstration von 1968 zugänglich. Die Geschichte der Erfindung der Maus zeigt, dass neue Medien sich nicht von alleine etablieren. Während im experimentellen Forschungsfeld schon vor 60 Jahren der Gebrauch von Information durch die Maus von der Vision zur Funktionalität gebracht wurde, etabliert und verbreitet sie sich erst nach 1984. Die enorme Verbreitung seitdem, die das Klicken geradezu als die symbolische Geste des Computerzeitalters auszeichnet, hängt dabei von der Durchsetzung der grafischen Benutzeroberfläche ab. Im Touchscreen fallen heute Bildschirme und Maus zusammen. Der Mediengebrauch des Klickens wird damit für alle Geräte, die über Menüführungen gesteuert werden, obligatorisch. Smartphones, Tablet-PCs, Kopierer, Drucker, aber auch Heizungen und Kühlschränke werden heute durch Aus- und Anwahl von Menüpunkten gesteuert oder auch ferngesteuert. Dabei löst sich das Klicken von der Maus ab und verwandelt sich selbst in neue Formen des digitalen Medienumgangs. So können heute multioptionale Trackpads und Touchscreens zwischen Gesten mit

12 Vgl. Bickenbach: Knopfdruck und Auswahl. In: Zeitschrift für Linguistik und Literaturwis-

senschaft, S. 9–32.

337

einem, zwei oder mehr Fingern unterscheiden, so dass blättern und wischen, drehen oder zoomen möglich geworden ist. Klicken bleibt jedoch als Antippen einer Schaltfläche mit dem Zeigefinger weiterhin eine zentrale Geste, weil es den Befehl zur Auswahl und Ausführung eines weiteren Programms bedeutet. Künftige Geräte werden auch durch Kameras Gesten erkennen und weiter differenzieren und das Klicken wird so als ein historischer Mediengebrauch erkennbar. Seine Funktion im Umgang mit digitaler Information und ihren Benutzeroberflächen wird jedoch auch jenseits der Maus notwendig die zentrale Technik des Computergebrauchs bleiben.

Gegenbegriffe  klicken

GEGENBEGRIFFE  Schalten, umschalten (zappen) oder auf der Tastatur

Funktionsbefehle tippen sind ähnliche Formen der An- und Auswahl, die jedoch auf spezifische Funktionen spezialisiert sind, während der Mausklick als universaler Schalter je nach Kontext unterschiedlichste Programmroutinen aufruft. Als aktuellere Gegenbegriffe sind im Gebrauch multifunktionaler Touchpads und Touchscreens neue Steuerungsgesten wie „wischen“ zu nennen. PERSPEKTIVEN Während Klicken als täglicher Gebrauch praktisch intuitiv und

reflexionslos alle Aktionen und Operationen mit dem Computer begleitet, führt die Frage nach der Struktur dieser Geste einerseits zur Mediengeschichte der Human Interfaces. Die Maus ist nur eines von vielen Eingabegeräten. Die Mediengeschichte der technischen Geräte ist aber nur eine Perspektive. Die Analyse der Strukturen der Interaktion mit digitalen Daten führt zurück zu Grundsatzfragen, die in den 1960er Jahren diskutiert wurden und Programmarchitektur, Organisation und Zugänglichkeit von Datenbeständen sowie generell die Frage der Korrespondenz von Mensch und Maschine, Gehirn und Computer betreffen.13 Douglas C. Engelbart diskutiert in seinem Forschungsbericht 1962 die sog. „Whorf-These“ (auch Sapir-Whorf-These), nach der die Strukturen von Sprache die Strukturen des Denkens limitieren. Als „Neo-Whorfian hypothesis“ fügt Engelbart hinzu, dass die Grenzen des Denkens auch die der Möglichkeit des

13 Zur Geschichte der Entwicklung der Computertechniken generell vgl. Rheingold: Virtuelle

Welten.

338

Zugriffs auf Information sind.14 Die Geschichte des Klickens ist somit nicht nur Teil einer Technikgeschichte, sondern ein zentrales Kapitel der Kommunikation von Mensch und Maschine im Kontext der Hoffnung einer Erweiterung seiner Denkmöglichkeiten. Ob diese damalige Hoffnung sich erfüllt oder ob „Anklicken“ zu einem eher oberflächlichen Informationszugang der Internetkultur geworden ist, bleibt schwer zu beurteilen. Der Mausklick ist heute als Bild für schnellen und vermeintlich einfachen Zugang und Zugriff kulturell und psychosozial wirksam. Wo er für Partnerwahl und Freundschaften sowie für Konsumgüter gleichermaßen einsteht, die nur „einen Klick entfernt“ sind, wird die Wechselwirkung von technischen Strukturen des Mediengebrauchs und den Medien als Wunschmaschine besonders deutlich.

Tastaturen haben die Taktilität und Komplexität von Schaltern und Tasten überhaupt in den Blick genommen.15 Dass aber gerade in Hinblick auf digitale Medien nicht nur visuelle Wahrnehmung, sondern die taktile Dimension des Mediengebrauchs von hoher Relevanz ist, wird nicht nur im Rückgriff auf die Medientheorie Marshall McLuhans oder Vilém Flussers16 Theorie der Geste deutlich, sondern auch durch die Realität der Videospiele und die heutige digitale Kriegsführung durch ferngesteuerte Dronen.17 Hier wird das Klicken zum realen Zielen und Treffen und zeigt sich als Macht des Zugriffs. Als Direktzugriff auf Information in der zivilen Computernutzung ist Klicken eine Geste des Zeigens, die unmittelbar etwas bewirkt. Es ist daher eine

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Forschung  klicken

FORSCHUNG   Erst wenige Ansätze zu Fernbedienungen, Knöpfen und

14 Vgl. Engelbart: Augmenting Human Intellect: A Conceptual Framework. 15 Vgl. Bickenbach: Knopfdruck und Auswahl sowie Engell: Tasten, Wählen, Denken. Genese

und Funktion einer philosophischen Apparatur. In: Münker/Roesler/Sandbothe (Hrsg.): Medienphilosophie, S. 53–77. Vgl. auch Heilmann: Digitalität als Taktilität. In: ZfM, S. 131–140; Tillmann: Die Fernbedienung. In:  Marburger Forum. Unter: http://www.c3.hu/~tillmann/ deutsch/philosophie/fernbe.html [aufgerufen am 12.02.2013]. 16 Flusser: Gesten. 17 Vgl. Pitzke: Drohnen-Piloten im Einsatz: Krieg per Knopfdruck. In: Spiegel online. Unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/drohnen-piloten-im-einsatz-krieg-per-knopfdrucka-680579.html [aufgerufen am 10.5.2013]. Vgl. auch: Schröder: Krieg per Mausklick. In: Spiegel online.Unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/krieg-per-mausklick-voelkerrechtlergeisseln-us-drohnenangriffe-a-691956.html [aufgerufen am 10.05.2013].

339

Funktion, die einer omnipotenten Geste der Macht entspricht, die zudem Einfachheit, Schnelligkeit und Leichtigkeit suggeriert. So kehrt im klickenden Zeigefinger nicht nur der Abzug der Waffe, sondern auch ein alte Symbol der Autorität, der erhobene Zeigefinger (digitus argumentalis) der rhetorischen Argumentation des Mittelalters, virtuell zurück, der auswählt, hervorhebt und festlegt, was wichtig ist und was nicht.18 Doch weder die Komplexität technischer Entscheidungsstrukturen, die im Klicken zusammenfallen, noch die historische Genese und Transformation dieser Machtgeste und ihre kulturelle Repräsentation als Utopie des reibungslosen Direktzugriffs sind bislang ausführlich erforscht. LITERATUREMPFEHLUNGEN Bickenbach, Matthias: Knopfdruck und Aus-

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18 Vgl. Peters: Digitus argumentalis. In: Bickenbach/Klappert/Pompe (Hrsg.): Manus Loquens,

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340

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Bibliografie  klicken

(Art.) Klick. In: Wikipedia: Unter: http://

c3.hu/~tillmann/deutsch/philosophie/fernbe.

341

KNIPSEN WINFRIED GERLING

ANEKDOTE  Andy Sparks erblickt am 14. August 1974 das Licht der Welt. Er

Anekdote  knipsen

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lebt ein Leben, wie viele es gerne leben würden: Er hat eine unbeschwerte Jugend in einem ansehnlichen amerikanischen Vorort, er geht zur Schule, macht seinen Uni-Abschluss in Geschichte, lernt eine junge Frau – Rachel Hudson – kennen, bekommt einen Job, heiratet Rachel und wird Vater. Am 22. September 2011 ist er 37 Jahre alt, lebt in San Francisco, arbeitet bei Facebook und es geht ihm offensichtlich sehr gut. Sein ganzes Leben wurde in Fotos und Videos aufgezeichnet. Interessant wird Andy für unseren Gegenstand, weil seine (Bilder-) Geschichte eine Erfindung von Facebook ist,1 um sein Leben in einem Werbevideo für ihre im September 2011 eingeführte Timeline als signifikantes Beispiel zu nutzen.2 Die neue Funktion der Timeline ist die auf den Daten – und vorrangig auf Fotografien – eines Profils bei Facebook basierende visuelle Darstellung des Lebens eines Nutzers. Die ‚Erfindung‘ des bewegten Albums Timeline für Facebook trägt damit einem bislang nur teilweise genutzten Potenzial des sozialen Netzwerks Rechnung, nämlich dem, das größte ‚Bildarchiv‘ privater Fotografien der Welt zu sein.3 Es adressiert so das alte Fotoalbum, welches immer schon das zentrale Medium der Archivierung privater Knipserbilder gewesen ist. Die Auswahl der Bilder ist hier wie dort motiviert durch die Einbindung in ein lebensweltliches Narrativ, nicht durch formalästhe­ tische Kriterien.

1 Die Bilder für das Video beziehen sich tatsächlich auf das Leben eines ehemaligen Face-

bookangestellten, dessen Name Andy Barton ist. Siehe: Quora: Andy Barton. Unter: http:// www.quora.com/Andy-Barton [aufgerufen am 16.08.2013]. 2 Vgl. Introducing Timeline -- a New Kind of Profile. In: YouTube. Unter: http://www. youtube.com/watch?v=hzPEPfJHfKU [aufgerufen am 09.12.2012]. 3 Im September 2012 belief sich die Anzahl der Fotos auf Facebook auf 219 Milliarden. Die durchschnittlichen uploads pro Tag werden mit 300.000 Bilder im Jahr 2012 beziffert. Vgl. Greif: Facebook erreicht Marke von einer Milliarde aktiven Nutzern. In: ZDNet. Unter: http:// www.zdnet.de/88125955/facebook-erreicht-marke-von-einer-milliarde-aktiven-nutzern [aufgerufen am 16.08.2013].

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ETYMOLOGIE Knipsen hat im Deutschen die folgenden Bedeutungen: knipsen Vb. ‚Einen kurzen hellen Laut erzeugen, mit den Fingern schnippen,

abzwicken, einen Schalter betätigen, photographieren, lochen‘. Wie Knips m. ‚leichter Schlag, Schnippchen‘ eine seit dem 17. Jh. bezeugte lautmalende Bildung. Vgl. die älteren Formen nd. md. knippen, Knipp (heute noch mundartlich). – Knipser m. ‚wer oder was knips macht, Schalter, kleine Klammer, Druckknopf, wer Fahrscheine locht, viel und planlos photographiert‘ (20. Jh.).4

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Kontexte  knipsen

Im Kontext der Fotografie ist knipsen ein Begriff,5 der nicht unmittelbar in andere Sprachen übertragen werden kann. Der im Engl. gebrauchte Begriff des Snapshot (bzw. Snapshot Photography, die sich auf Ähnliches bezieht wie die Fotografie der Knipser) existiert nicht als Verb und verweist daher stärker auf das Ergebnis, die Fotografie, als auf die Tätigkeit, das Fotografieren. Knipsen bedeutet also einerseits einen Laut erzeugen – den Auslöser drücken. Das Geräusch verrät den mitunter heimlichen Knipser und macht auf ihn aufmerksam. Knipsen beschreibt aber noch eine weitere Dimension, nämlich die Freude am Machen und stellt damit auch das Betrachten der Bilder stärker in den Hintergrund. Andererseits bedeutet es auch abzwicken, eine Variante von abschneiden. Hier könnte auch von der Funktion der Fotografie die Rede sein, einen bestimmten Punkt in der Zeit zu isolieren, respektive abzuknipsen. KONTEXTE  Der Begriff taucht um 1890 auf, die genaue Entstehung ist nicht

belegt.6 Knipser meint in diesem frühen fotografischen Zusammenhang jemanden, der konzeptfrei auf den Auslöser drückt und damit, sowohl technisch unzulänglich als auch ästhetisch ungeschult, nicht den Ansprüchen der Studiooder der Amateurfotografie genügt. Der Knipser ist in seinen Anfängen ein Kampfbegriff der Professionellen gegen eine aufkommende private Nutzung der Fotografie. Die so bezeichneten Knipser führen den Begriff zu dieser Zeit (noch) nicht selbst zur Bestimmung ihrer Nutzungsweise der Fotografie. Er

4 (Art.) knipsen. In: DWDS online. Unter: http://www.dwds.de [aufgerufen am 28.08.2013]. 5 Die weitere Betrachtung wird historisch weitgehend auf den deutschsprachigen Raum Bezug

nehmen, wobei die Entwicklung der Knipserfotografie in Europa und Nordamerika, in Abhängigkeit der zur Verfügung stehenden Technik, ähnlich verlaufen ist. 6 Vgl. Starl: Knipser, S. 14.

343

Kontexte  knipsen

dient also der Abgrenzung, einer negativ bestimmten Unterscheidung, und markiert so den Übergang der Fotografie von einer experimentellen Wissenschaft und einer Kunstform in einen umfassenderen sozialen Gebrauch. In den Jahren 1880 bis 1900 findet in der Diskussion um die Fotografie ein Ausdifferenzierungsprozess statt. Professionelle Fotografen beginnen sich um 1880 gegen die aufkommende Verbreitung der fotografischen Technik abzugrenzen und bezeichnen private Fotografen als Amateure und Dilettanten. Amateure formieren und organisieren sich in der Folge in Vereinen und über Zeitschriften, um sich gegen die verbalen Angriffe aus dem Lager der Professionellen einerseits sowie gegen den unreflektierten Knipser andererseits abzugrenzen.7 Ab den 1930er Jahren findet der abwertende Begriff Einzug in die populäre Literatur zur Fotografie und verliert teilweise seine negative Konnotation. Erfolgreiche Titel wie KAMERA-KURZWEIL. ALLERLEI INTERESSANTE MÖGLICHKEITEN BEIM KNIPSEN UND KURBELN von Guido Seeber aus dem Jahr 1933 zeugen davon.8 Um über knipsen und Knipser im Folgenden sinnvoll sprechen zu können, sei hier eine vorläufige Bestimmung versucht, die für die Ära der analogen Fotografie bis ca. 1980 gelten soll: Knipser schreiben ihre subjektive (Familien-) Geschichte in Bildern, um sich ihrer Existenz zu versichern und sie kommunizierbar zu machen. Sie fotografieren in der Regel ohne ästhetische oder technische Programmatik. Ausschlaggebend ist die Situation, der Moment, der mit Bezug auf die eigene Person festgehalten wird.9 Die Entscheidung für ein bestimmtes Bild findet oftmals erst in der späteren Durchsicht der Bilder statt, nicht während der Aufnahme, die eher eine spontane Geste ist.10 Meist handelt es sich um positiv besetzte Situationen des (erweiterten) Familienlebens. Darüber hinaus ist das Knipsen eine Tätigkeit, der ein gewisses Kontingent an

7 Vgl. Starl: Knipser, hier S. 12–24. 8 Seeber: Kamera-Kurzweil. Dieses Buch fand zu seiner Zeit eine weite Verbreitung. Weitere

Publikationen in diesem Kontext: Niklitschek: Was Jeder Knipser Basteln Kann; Emo: Knipsen ist keine Kunst; Zeiss Ikon: Jetzt knipsen mit Cameras von Zeiss-Ikon; Rockenfeller: Peter lernt knipsen; Gottschammel: Knipsers erste Hilfe; Rockenfeller: Fotobaby lernt knipsen. 9 Das führt dazu, dass der Knipser selten oder nie selbst im Bild zu sehen ist. 10 Hier scheint eine Praxis auf, die in der zeitgenössischen digitalen Fotografie auch von professionellen Fotografen immer stärker betrieben wird: Sehr viele Bilder zu machen und erst in der nachträglichen Betrachtung die ‚Passenden‘ auszuwählen.

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Zeit gewidmet wird. Sie kann im weitesten Sinn der Freizeit zugeordnet werden bzw. Momenten im Berufsleben, die einen besonderen Fall anzeigen, wie z. B. Jubiläumsfeiern. Der Gebrauch der Fotografie unterliegt den jeweiligen ökonomischen Verhältnissen des Knipsers, sowohl was die apparative Ausstattung angeht als auch dem, was auf den Bildern festgehalten wird: Familienfeiern, Freunde, Urlaub, das neue Auto usw. „Der Knipser hält das Bemerkenswerte fest und verzichtet auf alles, was als unbedeutend vergessen werden kann. Er gibt sich Kontur in den angelegten Aufzeichnungen, in ihnen erfährt er sich als geschichtliches Wesen, als solches findet er Identität.“11 KONJUNKTUREN  Als frühe technische Grundlagen sind hier insbesondere

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Konjunkturen  knipsen

zwei Entwicklungen zu nennen, die der allgemeinen Verbreitung der Fotografie und damit des Knipsens dienlich waren. Erstens die Entwicklung des Rollfilms, insbesondere des Celluloidrollfilms um 1887 durch Hannibal Goodwin und dessen (widerrechtliche) Verbreitung durch Eastman-Kodak, was die Bauweisen der Kameras kompakter sowie Entwicklung und Abzug erheblich günstiger werden ließ. Zweitens die Entwicklung der Kleinbildkamera mit Rollfilm durch Oskar Barnack 1913 bei Leitz, die erst 1924 als Leica I zur Serienreife gebracht wurde. Einen besonderen Boom erlebte die Knipserei nach dem Zweiten Weltkrieg ab den 1950er Jahren durch private Reisen. Die Technologie wurde noch handhabbarer und erschwinglicher und es begann, insbesondere in Deutschland, der neue Wohlstand sich im Reisen zu zeigen. Der Urlaub wurde zu einem zentralen Ereignis des familiären Lebens, man konnte ihn sich leisten und das wollte fotografiert und gezeigt werden. In den späten 70er und 80er Jahren des 20. Jhs. entwickelte sich eine Gegenkultur zu den etablierten künstlerischen Produktionsweisen mit einer starken Bezugnahme auf den Dilettantismus (Punk, Wave, Neue Deutsche Welle, heftige Malerei usf.),12 in dessen Zuge auch die Ästhetik des Schnapp-

11 Starl: Knipser, S. 23. 12 Siehe z. B. das „Festival Genialer Dilletanten“ am 04.09.1981 im Tempodrom in Berlin. Man

beachte den Schreibfehler im Titel, der später auch in dem von Wolfgang Müller herausgegebene Buch GENIALE DILLETANTEN übernommen wird. Hierzu auch Müller: (Art.) dilettantisch. In: Glossar inflationärer Begriffe, S. 7–14.

345

Konjunkturen  knipsen

schusses Eingang in künstlerische Praktiken fand. Wie z. B. zentral im Werk des Künstlers Martin Kippenberger, für den diese Bilder Grundlage einer expansiven grafischen Praxis wurden.13 In der Folge begannen Künstler und Künstlerinnen wie Nan Goldin (1980er) oder Wolfgang Tillmans (1990er) ihre sozialen Umfelder mit den Mitteln der Fotografie wie vormals Familienbilder festzuhalten. So entstanden medienreflexive Verfahren in einer Ästhetik und mit einem programmatischen Anspruch, die den Praktiken der Knipser verwandt sind. Eine entscheidende Wende nimmt die private Knipserei in den Jahren von 1990 bis 2000 mit der nachhaltigen Einführung der digitalen Fotografie, die den Knipser in die Lage versetzt, unendlich viele Bilder zu erzeugen, die fast kein Geld kosten. Unterstützt wird diese Art der Bilderzeugung durch die Allgegenwart der beliebtesten ‚Knipse‘, dem Smartphone, die das Geräusch des Knipsens dann nur noch simuliert.14 Eine wesentliche Erweiterung des digitalen Knipsens ist die mögliche Betrachtung auf dem rückwärtig an der Kamera angebrachten Screen.15 Das lässt schon in der Produktion eine unmittelbare Bildkontrolle zu und führt in der Praxis des Knipsers dazu, dass ‚schlechte‘ Bilder oft sofort gelöscht werden.16 Weiterhin gehört die in Gesellschaft stattfindende Betrachtung auf dem Screen zu einer neuen sozialen Nutzungsweise der Fotografie, die ihren Vorläufer im analogen Sofortbild hatte. Mit der Entwicklung der social media nach 2000 findet eine Neubestimmung des Knipsers statt. Der Knipser, der ursprünglich ein Fotograf ohne Ambitionen im Sinn eines Diskurses über seine Bilder war und einem lebensweltlichen

13 Viele seiner Plakate und gemalten Bilder basieren auf spontan aufgenommen, oft mit Be-

wusstsein dilettantischen, einer privaten Ästhetik entlehnten Schnappschüssen. Bücher wie PSYCHOBUILDINGS bestehen ausschließlich aus derartigen Aufnahmen. 14 Das iPhone ist 2012/2013 die mit Abstand am meisten gebrauchte Kamera bei Flickr. Siehe: Flickr: Beliebteste Kameras in der Flickr Community. Unter: http://www.flickr.com/cameras [aufgerufen am 15.08.2013]. 15 So ist auch die grundsätzlich veränderte Geste der Knipser zu erklären: Die Kamera wird am ausgestreckten Arm über oder vor dem Körper gehalten, nicht mehr mit dem Sucher vor das Auge. 16 In der analogen Fotografie existieren diese ‚schlechten‘ Bilder zumindest latent als Negativ weiter.

346

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Konjunkturen  knipsen

Paradigma der Dokumentation im Gegensatz zu ästhetischen oder technischen Kriterien der Fotografie folgte, unterscheidet sich bis zum Beginn des 21. Jhs. deutlich von ambitionierten Foto-Amateuren (organisiert in Vereinen/fotografischen Gesellschaften oder verbunden über Fachzeitungen) sowie von professionellen Fotografen oder Künstlern, die Fotografie als eigenständige mediale Reflexion verstehen. Doch spätestens seit der Entwicklung der großen OnlineFotocommunities wie Flickr oder Panoramio beginnen sich diese Unterscheidungen immer mehr aufzulösen. Der Diskurs über private Fotografie findet in einer größeren Öffentlichkeit statt. Durch das ‚Teilen‘ (share) der Bilder werden diese entsprechend stärker reflektiert und kommentiert (liken und andere Formen des Kommentars). So professionalisiert sich der Knipser sowohl technisch als auch ästhetisch, da der ständige Austausch über die Bilder eine Nähe zu den Praktiken eines Amateurs aufweist.17 Trotzdem bleiben die Motive des Knipsers oft an den sozialen Gebrauch gekoppelt und werden durch die indexikalische Beziehung der fotografischen Metadaten unterstützt.18 Die Georeferenz der Bilder belegt: ‚Ich war hier‘; die biometrische Gesichtserkennung zudem erkennt: ‚Es waren folgende Personen anwesend‘.19 Neben den standardisierten Metadaten sind es die Tags, die neuen Ordnungen der Bilder automatisiert erzeugen: Orte, Ereignisse und Gesichter. Nur so sind die übergroßen Bildmengen noch handhabbar. Wie das Beispiel der Timeline bei Facebook zeigt, geraten Bilder immer stärker in Bewegung, Fotografien sind im Kontext der sozialen Medien mobile und mobilisierte Bilder, sie werden auf Bildschirmen bewegt und zur Aktualisierung gedrängt. Der technische Unterschied von Fotografie und Film wird auch apparativ immer stärker aufgehoben, indem sie mit denselben Geräten aufgenommen werden.20 Bilder werden aufgrund des ständigen Aktualisierungsdrangs eher für den Verbrauch als für die konzentrierte Betrachtung

17 Es muss hier aber unterschieden werden zwischen den Plattformen, deren alleiniger Inhalt

der Austausch von und über Bilder ist (Flickr, Instagram, Panoramio etc.) und einer Pattform wie Facebook, auf der die Bilder eine willkommene Begleiterscheinung sind. 18 Hier sind die hoch standardisierten Metadaten wie EXIF, IPTC und XMP gemeint. 19 Vgl. Gerling: upload | share | keep in touch. In: Ette (Hrsg.): Wissensformen und Wissensnormen des Zusammenlebens, S. 240ff. 20 Hier wäre zu fragen, ob es heute Videoknipser gibt? Schon Pierre Bourdieu hatte in seiner Untersuchung EINE ILLEGITIME KUNST – DIE SOZIALEN GEBRAUCHSWEISEN DER PHOTOGRAPHIE den privaten Amateurfilmer miteingeschlossen.

347

gemacht, das unterscheidet die aktuelle Praxis der Knipser von der des letzten Jahrhunderts. Die Bilder dienen aber immer noch der Vergegenwärtigung des Selbst in einem sozialen Kontext, das allerdings immer stärker auch von dessen Ökonomien bestimmt wird. Der Knipser von heute ‚arbeitet‘ für die Plattform, auf der er seine Bilder postet.21 Einerseits geht es darum, gesehen zu werden, das heißt, es wird viel Arbeit in das ‚richtige‘ Verschlagworten (taggen) investiert, um Kategorien wie z. B. interestingness bei Flickr zu erfüllen und auf der Startseite der Plattform zu erscheinen bzw. höher gerankt zu werden.22 Andererseits ist die in die Erhöhung der Aufmerksamkeit investierte Arbeit auf jeden Fall zum ökonomischen Nutzen der Plattform, die, je nach Geschäftsmodell, die Bilder direkt weiternutzt oder höhere Werbeeinnahmen generiert.

Gegenbegriffe  knipsen

GEGENBEGRIFFE   Fotografieren erscheint als Gegenbegriff zum Knipsen,

insofern der Fotograf einen Anspruch auch auf ästhetische, technische oder formale Kriterien macht. Abwertend gilt Knipsen demgegenüber als wahl- und zwanglose Praxis des spontanen Zeitmitschnitts, der an den Mediengebrauch von Tonband, Film oder Video als private Aufzeichnungsmedien erinnert. So ist das Fotografieren dem Aufnehmen ähnlich, das im Sinne der Aufnahme – eine Aufnahme machen – eher einer professionellen Tätigkeit zuzuordnen wäre.

PERSPEKTIVEN   Ein weiterer, wesentlicher Aspekt ist die mögliche Unmit-

telbarkeit, mit der unter den Bedingungen sozialer Netzwerke durch Bilder kommuniziert werden kann. Der Knipser produziert ein Bild, das sich aus einer Situation direkt als Botschaft – quasi live – an eine bestimmte Person bzw. an einen Personenkreis richtet. Ein Ereignis wird so nicht mehr im Bild dokumentiert und im Nachhinein betrachtet, sondern als spontane und emotionsbehaftete Bildbotschaft an die Empfänger gerichtet. Was mit der MMS im Prinzip schon seit 2002 in Deutschland möglich war, hat durch die social media einen Dimensionssprung vollzogen. So ist es möglich, ‚Freunde‘ „live“ am Leben bildlich teilhaben zu lassen. Diese Art der Botschaft kann als entscheidender Wandel in der Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren,

21 Vgl. Andrejevic: Facebook als neue Produktionsweise. In: Leistert/Röhle (Hrsg.): Generation

Facebook, S. 31–49.

22 Zu diesem Aspekt siehe Holschbach: Framing (on) Flickr. In: PhotoResearcher, S. 47ff.

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FORSCHUNG  Aus der hier dargestellten Perspektive ist erkennbar geworden,

dass das Knipsen keineswegs eine historisch abgeschlossene Phase, sondern in einem stetigen Wandel begriffen ist. Die Geschichte bzw. die Ästhetik der Fotografie sollte in diesem Sinn als eine Geschichte ihres Gebrauchs reflektiert werden und eben nicht als eine Geschichte, die nach wie vor dominant aus der Perspektive der Kunst, respektive einer ästhetischen Praxis, erzählt wird. So vernachlässigt sie eine zentrale Gebrauchsweise,26 nämlich die soziale und erzeugt eine auf Hochkultur bezogene, defizitäre Mediengeschichte.27 Es stellt sich insbesondere unter den Bedingungen des digitalen Knipsens im Feld der sogenannten social media die Forschungsperspektive verändert

K

Forschung  knipsen

angesehen werden. Das fotografische Bild wird auf diese Weise zu einem wesentlichen Teil unserer zwischenmenschlichen Kommunikation.23 In der Folge der sich ausdifferenzierenden digitalen Fotografie entstehen Praktiken, die sich in Opposition zu den immer elaborierteren Techniken und Ästhetiken der digitalen Fotografie verhalten und in gewisser Weise als Retro-Phänomen betrachtet werden können. Als Beispiele seien hier nur die Lomographie als an eine bestimmte analoge Kamera (die Lomo) geknüpfte Fotopraxis genannt, die besonderen Wert auf das Zufällige in der Bildproduktion legt und an die Wiederkehr des Sofortbildes (Polaroids) als analoges Unikat erinnert. Bemerkenswert ist dabei, dass die Verbreitung dieser Praktiken ohne entsprechende digitale Communities nicht denkbar wäre.24 Darüber hinaus muss vermerkt werden, dass derzeit sogenannte Apps auf Tablets und Smartphones analoge Ästhetiken wie die des Polaroids simulieren und teilweise zusätzlich auf dem Display altertümliche Kameratechnik visualisieren.25

23 Auf diesen Aspekt weist Wolfgang Ulrich hin: Ulrich: Instant Glück mit Instagram. In:

Neue Zürcher Zeitung. online. Unter: http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/instantglueck-mit-instagram-1.18096066 [aufgerufen am 16.08.2013]. 24 Lomography. Unter: http://www.lomography.de [aufgerufen am 16.08.2013] und Polaroid. Unter: http://www.polaroid.com/share-life [aufgerufen am 16.08.2013]. 25 So die weit verbreitete App Hipstamatic, die 2012 mit dem Slogan „Digital photography never looked so analog“ geworben hat. Siehe: Hipstamatic. Unter: http://www.hipstamatic.com [aufgerufen am 22.12.2012]. 26 Darüber hinaus wird oft die Produktion des wissenschaftlichen Bildes mit Mitteln der Fotografie ausgeklammert. 27 Etwa Batchen: Snapshots. In: Photographies, S. 121–142.

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Literaturempfehlungen  knipsen

dar. Fotografien tauchen im Umfeld einer weltweit zur Verfügung gestellten privaten Erzählung/Selbstdarstellung auf und werden so in Rückkopplung zu sozialen Praktiken analysierbar.28 Auf diese Weise löst sich möglicherweise ein Mangel der fotografischen Forschung: Analoge fotografische Alben wurden zwangsläufig, aus dem privaten Kontext entrissen, isoliert betrachtet. Zu fragen wäre unter diesen Bedingungen, wie sich z. B. Profilbilder als eigens zu untersuchender Bildtypus im Unterschied zu den Bildern der Fotostreams verhalten. Zu revidieren wären auch Betrachtungen – Ausstellungen und theoretische Auseinandersetzungen –, die das private Knipserbild als Sonderfall meist völlig isoliert in den Kontext einer dominant aus der Perspektive der Kunst erzählten Fotografiegeschichte stellen und stellten.29 So sind es eher neue Praktiken, die um das digitale fotografische Bild entstehen, die den relevanten Unterschied zur analogen Fotografie markieren, als die vermeintlich stärkere Manipulierbarkeit des Bildes im Digitalen. Was das Knipsen betrifft, sind es insbesondere die veränderten Arten der Verbreitung und die damit verbundenen Rezeptionsweisen, aber auch der Prozess der Aufnahme, der sich durch die Bildschirmkontrolle reflexiv verändert hat. LITERATUREMPFEHLUNGEN Bourdieu, Pierre et al.: Eine illegitime Kunst – Die sozialen Gebrauchsweisen der Photo­ graphie, Frankfurt/M. (1981).

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28 Dies scheint auch in jüngeren Praktiken der Visualisierung von großen Datenmengen aus fo-

tografischen Netzwerken auf. Vgl. z. B. Eric Fischers Darstellung des fotografischen Verhaltens von Locals and Tourists bei Flickr: Fischer: Locals and Tourists. In: Flickr. Unter: http://www. flickr.com/photos/walkingsf/sets/72157624209158632/ [aufgerufen am 23.08.2013]. 29 Michel Frizot kommt in einem kleinen Exkurs zum Fotoalbum in seiner NEUEN GESCHICHTE DER FOTOGRAFIE zu dem Schluss, dass eine genauere Untersuchung dieser Art Fotografie (des Knipsers), „in die Formulierung einer neuen Ästhetik der Fotografie münden“ [Frizot (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie, S. 679] würde.

350

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351

KOMPILIEREN PETRA MCGILLEN

ANEKDOTE   Als im Januar 2010 das Romandebüt AXOLOTL ROADKILL der

Anekdote  kompilieren

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erst 17-jährigen Autorin Helene Hegemann im Ullstein-Verlag erscheint, reagiert das Feuilleton unerwartet heftig – und überwiegend begeistert: Der Coming-of-Age-Roman um die minderjährige Protagonistin Mifti, die zwischen Berliner Technoszene, Sex, Drogen und Wohlstandsverwahrlosung auf das Erwachsenwerden zuschlittert, wird mit Prädikaten wie „authentisch“1, „unvergesslich“2 und „unerhört“3 ausgezeichnet. Er ziele, in „böse[r] Radikalität [und] expressive[r] Sprachpotenz“4, mitten in „den Kern unserer Konsenskultur“5. In virtuosem Umgang mit dem „Rauschen der Gegenwart“ entwickle er dabei einen so intensiven „eigenen Sound“6 wie schon lange kein Erstling mehr. Nur wenige Tage später verkehren sich jedoch die Vorzeichen in der Literaturkritik, als bekannt wird, wie der Roman gemacht ist: Hegemann hat ihn zu großen Teilen kompiliert, das heißt, sie hat eine Vielzahl bereits existierender literarischer Texte angesogen, Passagen daraus entnommen und in ihren eigenen Roman eingebaut. Einer der wichtigsten Basis-Texte, die sie auf diese Weise zweitverwertet, ist der Blog-Roman STROBO des bis dato wenig bekannten Berliner Bloggers Airen, aber auch moderne Klassiker wie Kathy Acker, J. D. Salinger, Jack Kerouac und Rolf Dieter Brinkmann sind unter

1

Michalzik: Ein Fall finsterer Romantik. In: Frankfurter Rundschau online. Unter: http://www.fronline.de/literatur/hegemanns--axolotl-roadkill--ein-fall-finsterster-romantik,1472266,2786888. html [aufgerufen am 12.12.2013]. 2 Biller: Glauben, lieben, hassen. In: FAZ online. Unter: http://www.faz.net/-gr0-14yow [aufgerufen am 12.12.2013]. 3 Delius: Mir zerfallen die Worte im Mund wie schlechte Pillen. In: FAZ online. Unter: http:// www.faz.net/-gr4-150is [aufgerufen am 12.12.2013]. 4 März: Literarischer Kugelblitz. In: Die Zeit online. Unter: http://www.zeit.de/2010/04/ L-B-Hegemann [aufgerufen am 12.12.2013]. 5 Delius: Mir zerfallen die Worte im Mund wie schlechte Pillen. In: FAZ online. Unter: http:// www.faz.net/-gr4-150is [aufgerufen am 12.12.2013]. 6 Michalzik: Ein Fall finsterer Romantik. In: Frankfurter Rundschau online. Unter: http://www.fronline.de/literatur/hegemanns--axolotl-roadkill--ein-fall-finsterster-romantik,1472266,2786888. html [aufgerufen am 12.12.2013].

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ETYMOLOGIE  Kompilieren geht auf das lat. Verb (com-)pilare zurück, das

ursprünglich „ausplündern“, „berauben“ und „ausbeuten“ von Menschen und Gebäuden bedeutet.8 Zugleich meint compilare im engeren Sinn von Textproduktion auch so viel wie „aus anderen Texten übernehmen“ oder „abschreiben“9, um daraus etwas Neues herzustellen. Von Beginn an ist das Verb somit doppelt konnotiert. Ob es sich stärker auf der pejorativen Seite von ‚(andere Texte)

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Etymologie  kompilieren

ihren Quellen. Was eben noch als authentisch, unerhört und Ausweis eines individuellen Stils galt, wird nun zum bloßen Plagiat: Die übernommenen Passagen seien nicht gekennzeichnet, heißt es in der Presse, und substanzielle Teile des Romans seien schlichtweg geklaut. In der sich anschließenden monatelangen Feuilleton-Debatte geht es bald nicht mehr um die Bewertung von Hegemanns Roman an sich, zumal der Ullstein-Verlag sich beeilt, auf die Diebstahlsvorwürfe einzugehen, die Abdruckrechte von den Quelleninhabern nachträglich erwirbt und eine Neuauflage des Romans mit Stellennachweisen herausgibt. Unter der Oberfläche der Debatte geht es vielmehr um das uralte Texterzeugungsverfahren namens kompilieren, das im Jahr 2010 durch die Verfügbarkeit von Text- und Datenmassen im Netz alltäglicher ist denn je, dessen Status zugleich aber auch vollkommen ungeklärt ist.7 Soll kompilieren als ein legitimes künstlerisches Verfahren gelten? Wie ist zu bewerten, was auf diese Weise entsteht – als neu und originell oder als unoriginell, als Plagiat und Diebstahl oder als Kunstwerk? Man muss kompilieren als Verfahren und als textuelle Praxis historisieren, um hier einer Antwort näherzukommen. Dabei zeigt sich zweierlei: Das Verfahren selbst ist von Anfang an erstaunlich stabil geblieben; was sich durch die Zeiten hindurch verändert, sind seine medientechnische Basis und die Bewertung der Formen, die es erzeugt.

7 Entsprechend geht die Debatte über das deutsche Feuilleton hinaus und wird beispielsweise

auch in der New York Times geführt. Siehe Kulish: Not Plagiarism but Mixing and Matching, Says Best-Selling German Author, 17. In: NYT, 12. Februar 2010, S. A4; Kennedy: The FreeAppropriation Writer. In: NYT, 27. Februar 2010, S. WK3. 8 (Art.) Kompilation. In: Pfeifer, S. 699. 9 Kallweit: (Art.) Kompilation. In: Fricke (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 317.

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Etymologie  kompilieren

plündern‘ oder auf der neutralen Seite von ‚exzerpieren‘ und ‚herstellen‘ bewegt, hängt vom Verwendungskontext ab. Die Bewertungsschwankungen werden aber zu keinem Zeitpunkt endgültig entschieden, sondern ziehen sich durch die gesamte Geschichte kompilatorischer Praktiken, wie gerade der FeuilletonStreit über den Fall Hegemann deutlich belegt. Im Lauf des 18. Jh. kommt compilare als ‚compili[e]ren‘ ins Dt., steht dabei jedoch noch stärker als zuvor unter dem Verdacht, ein unoriginelles, respektloses und brutales Verfahren zu sein. So erklärt der ZEDLER 1733 compilare wie folgt: „in eins bringen, it. auf einen loßgehen, mit Gewalt anfallen, it. aus eines andern Schrifft und Erfindungen abstehlen, etwas abnehmen, und es vor das Seinige ausgeben, it. heimlich wegtragen, it. berauben, zusammen tragen, oder in ein Buch zusammen bringen.“10 Dem entspricht die ebenfalls für das 18. Jh. belegte Wiedergabe von compilare mit „stoppeln“ oder „zusammenstoppeln“; ein Verb, das ebenfalls keine positiven Konnotationen aufweist.11 Spätestens ab dem Ende des 19. Jhs. tritt kompilieren in der heute geläufigen Schreibweise auf und ist vollständig eingedeutscht.12 Im Prozess der Eindeutschung bezeichnen einzelne Wörterbücher das Kompilieren zwar als „sehr verdienstlich“, wenn auf diese Weise „das Gute und Brauchbare aus vielen oft schwer zugänglichen Quellen unter einem klaren Gesichtspunkte“ vereinigt würde, aber der Tenor bleibt das gesamte 19. und frühe 20. Jh. hindurch eindeutig abwertend.13 Mit Blick auf Etymologie und Wortgeschichte ergibt sich so der merkwürdige Befund, dass kompilieren seit der Übertragung ins Deutsche nicht bloß doppelt

10 (Art.) compilare. n. In: Zedler online. Unter: http://www.zedler-lexikon.de/ [aufgerufen am

12.12.2013].

11 (Art.) stoppeln, v. In: Grimm online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB [aufge-

rufen am 12.12.2013]; siehe auch (Art.) Stoppeln, verb. In: Adelung online. Unter: http:// woerterbuchnetz.de/Adelung [aufgerufen am 27.05.2013], in dem erklärt wird: „Ingleichen figürlich und im verächtlichen Verstande, mühsam aber ohne Wahl zusammen lesen oder suchen; compiliren“. In der Folge trennt sich ‚stoppeln‘ nicht mehr von ‚kompilieren‘, es sei denn, es ist von Programmiersprachen die Rede. Noch 1974 heißt es in Gerhard Wahrigs DEUTSCHEM WÖRTERBUCH, eine Kompilation sei ein „aus anderen Büchern zusammengetragenes od. zusammengestoppeltes Werk“ [(Art.) Kompilation. In: Wahrig, S. 2098]. 12 Vgl. (Art.) kompilieren. In: Meyers Konversations-Lexikon, S. 997. 13 (Art.) Compilation. In: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, S. 453. Der Eintrag schränkt das „Verdienstvolle“ am Kompilieren in der Fortsetzung gleich wieder ein: „arten sie [= kompilierte Texte] jedoch in bloße Abschreiberei aus, so sind sie wenig mehr als Plagiat.“

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konnotiert ist, sondern starke Schlagseite hat. Die Praxis hinter dem Begriff war dabei aber viel nuancierter, als die rein diskursive Ebene nahelegen würde. Die begriffliche Schlagseite ist vermutlich auf die große Hochschätzung zurückzuführen, die der erfolgreichste Gegenbegriff zum Kompilieren – das (geniehafte) ‚Schöpfen‘ – erfahren hat. Ab der Mitte des 20. Jhs. wird kompilieren, parallel zum engl. ‚to compile‘, viel im Kontext von Programmiersprachen und Software-Entwicklung benutzt14 und zieht damit in ein neues semantisches Feld ein. Zur Unterscheidung trennen Lexika wie der BROCKHAUS den ‚Kompilator‘ fortan vom ‚Kompilierer‘ (= Kompilierprogramm).15 KONTEXTE  Quer durch die verschiedenen historischen Konstellationen wird

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Kontexte  kompilieren

das Verb kompilieren v. a. in den Kontexten von Wissensverwaltung und poetischen Produktionsstrategien benutzt. In allen Kontexten impliziert es ein unfestes Textverständnis: Kompilieren heißt, eine Vielzahl verschiedener Textund Materialbestände zu durchpflügen, Passagen herauszureißen, anzuhäufen und unter einem neuen Thema oder mit poetischer Motivation neu anzuordnen. In der Antike bedeutet compilare ein Verfahren der Texterzeugung, das nach rhetorischen Regeln abläuft. Ziel ist, den Wissensbestand der Autoritäten zu sichern und zugänglich zu halten, besonders auf den Gebieten des römischen Fallrechts, der Naturgeschichte und der Medizin.16 Aufbau und Inhalt der Kompilationen werden üblicherweise durch die Gliederungsregeln der Rhetorik (Topik) reguliert, wofür die NATURKUNDE Plinius des Älteren ein gutes Beispiel liefert. Mit der Ausweitung der Praxis in Spätantike und Mittelalter (Isidor von Sevilla, Bonaventura) wird der mittellat. Begriff neu­ traler und bewegt sich hin zu ‚sammeln‘ sowie ‚herstellen‘. Produziert werden so nicht nur Handbücher und Wissenssammlungen in verschiedenen Fächern, sondern auch Predigtinstrumente, also transportable exempla-Sammlungen für

14 In diesem Sinn erstmals für 1952 im Oxford English Dictionary (OED) belegt. Siehe (Art.):

compile, v. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/viewdictionaryentry/Entry/37595 [aufgerufen am 12.12.2013]. 15 Vgl. (Art.) Kompilation; Kompilierer, Kompilierprogramm. In: Brockhaus Enzyklopädie, S. 400. 16 Vgl. Gierl: Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert. In: Zedelmaier/ Mulsow (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, S. 67; Kallweit: (Art.) Kompilation. In: Fricke (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 317.

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Kontexte  kompilieren

die Tätigkeit umherziehender Geistlicher.17 Ab dem 13. Jh. bringt das Verfahren mit der compilatio ein fest beschreibbares Genre hervor, das als Wort auch immer öfter im Titel von Textsammlungen erscheint.18 Compilare wird nun synonym verwendet mit den lat. Entsprechungen von ‚exzerpieren‘, ‚zusammensammeln‘ und ‚(etw.) der Blüten berauben‘.19 In der frühen Neuzeit legt das Verb seine pejorativen Konnotationen zwischenzeitlich vollständig ab20 und tritt in noch umfassenderen Verwendungskontexten auf, v. a. in der universal werdenden Wissenschaftslehre auf Basis der Topik und in der Enzyklopädik. Es wird nun auch erkennbar zu einem Teil von literarischen Schreibverfahren und Poetiken. So ist eine der wichtigsten kompilatorischen Praktiken, die Zusammenstellung und Benutzung poetischer Topoi-Kataloge, eine Grundlage der barocken Stoff-Findung (Scaliger, Opitz)21 und ist als kreatives Verfahren oder Erfindungsweise im 17. Jh. vollkommen legitimiert. Die Praxis bringt zahlreiche verschiedene Textgenres und Formen hervor. Im frühen 18. Jh. steigt kompilieren zur „gelehrten Alltagspraxis“22 im Kontext von Eklektik, Litterärgeschichte und systematischer Wissensverzeichnung auf. Kompilieren ist einerseits individuelle Bildungstechnik, andererseits aber auch eine kollektiv praktizierte Umgangsweise mit Texten, die so zwischen verschiedenen Medien und Formaten (wie Journalen, Kompendien und Enzyklopädien) beweglich gehalten werden. Trotz der festen Verankerung der Praxis im Bildungsalltag beginnt ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. der Verfall des Begriffs, der nun als ‚bloßes kompilieren‘ wieder eine stark pejorative Färbung annimmt. Hintergrund ist die Genie-Ästhetik und die damit verbundene Abwertung genau jener rhetorisch-kompilatorischen Techniken, die im 17. Jh. noch offen

17 Vgl. Minnis: Late-Medieval discussions of compilatio and the rôle of the compilator. In:

Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, S. 399.

18 Vgl. Kallweit: (Art.) Kompilation. In: Fricke (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literatur-

wissenschaft, S. 318.

19 Vgl. Blair: Too Much To Know, S. 175. 20 Vgl. Minnis: Late-Medieval discussions of compilatio and the rôle of the compilator. In:

Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, S. 400.

21 Vgl. Kienpointner: (Art.) Inventio. In: Ueding, Bd. 4., S. 577–578. 22 Gierl: Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert. In: Zedelmaier/

Mulsow (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, S. 64.

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KONJUNKTUREN  Dass der Fall Hegemann ausgerechnet 2010 von sich reden

macht, ist kein Zufall. Vielmehr ist das Ereignis ein Beleg dafür, wie stark die Geschichte von kompilieren an Medientechniken – v. a.: Reproduktions-, Speicher- und Übertragungstechniken – gekoppelt ist. Spitzenkonjunkturen des Verfahrens lassen sich immer dann beobachten, wenn Texte und Daten durch Medienumbrüche in besonders großer Masse verfügbar werden und es ein kulturell reflektiertes Zuviel gibt. Insofern gehört der Fall Hegemann zur Debatte um die Allverfügbarkeit von Texten und anderen Quellen im Netz. In geschichtlicher Perspektive wird kompilieren in solchen historischen Konstellationen zu einem Konzentrationsverfahren: Exemplarisches und anderweitig Bewahrenswertes soll gegen das Zuviel gesichert oder einfach nur herausgestellt

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Konjunkturen  kompilieren

geschätzt wurden. Kompilieren wird dem ‚Finden‘ zugeschlagen, das vom ab sofort höher stehenden ‚Erfinden‘ geschieden wird. Was in den poetischen Debatten der Genie-Ästhetik geschieht, steht in Wechselwirkung mit Philosophie, in der das Individualurteil Vorrang vor sammelnden Verfahren erhält.23 Ab der Mitte des 20. Jhs. verschiebt sich die Bedeutung von kompilieren und der Begriff wandert hauptsächlich in den Kontext von Programmiersprachen. Compiler bezeichnet hier ein Programm, das Quellcode aus anderen Programmen zusammenrafft und effizient in Maschinencode umsetzt. Zugleich – und näher am ursprünglichen Verwendungskontext – wird kompilieren ein Begriff der Medienindustrie, die ab Mitte der 1960er Jahre compilation albums (Musikzusammenstellungen aus mehreren Quellen, die nach Thema, Künstler oder Genre organisiert sind) und compilation films (vollständig aus bereits existierendem Filmmaterial zusammengesetzte Filme) vertreibt. Auch in diesem Kontext ist kompilieren ein neutraler Begriff für ein Verfahren der motivierten Zweitverwertung und verbreitet sich als amateurkünstlerische Praxis. Mit der Digitalisierung von mehr und mehr Texten bzw. Daten im 21. Jh. und ihrer Zugänglichkeit im Internet weitet sich die Praxis erneut stark aus und wird nun auch wieder als Teil von Schreibverfahren problematisiert. Wichtigste Kontexte sind Ästhetik-Debatten in der Literatur- und Kunstkritik sowie Plagiarismus-Diskussionen im Wissenschaftsbetrieb.

23 Vgl. ebd., S. 93.

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Konjunkturen  kompilieren

werden. Zugleich ist kompilieren aber auch eine Methode der Verflüssigung und steigert die Beweglichkeit von Texten durch die Loslösung vom Kontext. Besonders anschaulich wird das an einem Beispiel, das weit vor der Zeit von elektronischem copy and paste liegt und doch mit ähnlicher Radikalität dazu auffordert, den Kontext des Ausgangstextes zu brechen: Der Universitätsprofessor (und Kompilator) Johann Andreas Fabricius weist die Leser seines ABRISS EINER ALLGEMEINEN HISTORIE DER GELEHRSAMKEIT (1752–1754) an, das Buch gleich nach dem Kauf aufzutrennen und mit leeren Seiten durchschießen zu lassen. So könne es zugleich als Lexikon und als „Collectaneenbuch“ benutzt werden, in dem Themen einerseits handlich dargestellt seien, andererseits aber auch durch die Einfügung von mehr Material weiter wachsen und schließlich einen „guten Historischen Schatz“24 abgeben könnten. Kompilieren als Praxis bewegt sich somit zwischen den widersprüchlichen Zielen von umfassender und repräsentativer Darstellung eines Themengebietes auf der einen Seite sowie möglichst hoher Knappheit und Zugänglichkeit auf der anderen.25 Die erste beobachtbare Konjunktur setzt in der Antike ein. Kompilieren soll gewährleisten, dass das Wissen von anerkannten Autoritäten nicht verlorengeht und weiter tradiert werden kann. Die Materiallage der Forschung ist hierzu zwar vergleichsweise dünn, aber es gibt starke Hinweise darauf, dass die Konjunktur des Verfahrens schon damals auf eine von den Bildungseliten empfundene Überverfügbarkeit von Texten zurückgeht.26 In diesem bedrohlichen Zuviel soll das Kompilieren die wichtigsten Sätze und kanonischen Beispiele bedeutender Autoren in der Zirkulation halten. Auch wenn die Reflexion der Praxis erst in der Spätantike einsetzt27, ist davon auszugehen, dass sie durch ihre enge Verzahnung mit Rhetorik schon vorher weit verbreitet war. So liefern kompilatorische Verfahren etwa die Beispiele, mit denen die Kataloge rhetorischer Topoi unterfüttert werden. 24 Zit.n. Gierl: Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert. In: Zedel-

maier/Mulsow (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, S. 71.

25 Zu dieser paradoxen Zielsetzung siehe auch Minnis: Late-Medieval discussions of compi-

latio and the rôle of the compilator. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, S. 401f. 26 Vgl. Blair: Too Much To Know, S. 14–22. 27 Vgl. Kallweit: (Art.) Kompilation. In: Fricke (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 318.

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Konjunkturen  kompilieren

Im Spätmittelalter wird kompilieren zu einer so wichtigen textuellen Praxis, dass man erstmals von einer Hochkonjunktur sprechen kann. An der grundlegenden Operation hat sich nicht viel verändert – ein Dokument wird begonnen, thematische Überschriften werden eingezogen, unter denen Platz frei bleibt, und diese Überschriften werden nach und nach mit Einträgen aus verschiedenen Quellen aufgefüllt.28 Durch neue Buchtechnologien wie Kapiteleinteilungen, Inhaltsverzeichnisse, Paginierung und alphabetische Indizes lassen sich Kompilationen jetzt aber insgesamt durchdachter aufbauen und auch die visuelle Organisation des Inhalts auf den einzelnen Seiten – die mise en page – wird aufwändiger (wofür Vincent von Beauvais’ 29 SPECULUM MAIUS ein eindrückliches Beispiel liefert). Letztlich ermöglichen diese Buchtechnologien auch neue Lektüremodi, da sich der Inhalt so organisierter Kompilationen aus verschiedenen Richtungen ansteuern lässt. Neben das beschleunigte Durchlesen treten das gezielte Nachschlagen und ein Lesen, das zwar auf Zusammenhang setzt, die dargebotenen Kapitel aber in eigener Reihenfolge liest. Mit der Verfeinerung kompilatorischer Techniken intensiviert sich auch ihre Reflektion unter den Anwendern. Kompilatoren, allen voran Mönche, operieren mit einem neuen Selbstverständnis, beschreiben ihre Arbeitsweise in ausführlichen Vorreden und sehen sich als Teil einer kompilierenden Tradition, die sie rückwirkend sogar bis in die Antike und die Bibel zu verlängern suchen.30 Eine zweite Hochphase des Kompilierens lässt sich von der frühen Neuzeit bis ins 18. Jh. klar konturieren. In dieser Zeit entstehen Grundformen der modernen Wissensverwaltung und des Umgangs mit Datenmassen, die noch heute relevant sind. Zwei Faktoren sind für die Hochkonjunktur entscheidend: Zum einen führt die Technologie des Buchdrucks mit beweglichen Lettern dazu, dass wesentlich mehr Texte verfügbar werden als zuvor. Zum anderen ziehen der lose Zettel und der Zettelkasten in die kompilatorische Praxis

28 Vgl. Parkes: The Compilation of the Dominican Lectionary. In: Elm (Hrsg.): Florilegien,

Kompilationen, Kollektionen, S. 91.

29 Vgl. Minnis: Late-Medieval discussions of compilatio and the rôle of the compilator. In:

Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, S. 95–96. Minnis analysiert die Vorrede zum SPECULUM MAIUS. 30 Vgl. ebd., S. 420.

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Konjunkturen  kompilieren

ein.31 In der Folge werden sowohl die Eingangs- wie auch die Ausgangsseite des Kompilierens komplexer und die Tätigkeit bekommt die Konturen jenes Prozesses, der für moderne Wissenschaftsgeschichte und Poetik besonders folgenreich ist. Die wichtigste Konsequenz aus dem Einzug des Zettels ins Kompilieren lautet, dass Materialordnungen nicht sofort verbindlich werden müssen, sondern bis zum unmittelbaren Beginn der Textproduktion und sogar darüber hinaus offen gehalten werden können. Zettelschränke und Zettelkasten, die in heutigen Datenbanken fortleben, ermöglichen es den Kompilatoren, ihr Material beweglich zu verschlagworten und so mit systematisch erhöhter Flexibilität an die Textproduktion heranzutreten. Für diese neue Arbeitsweise bildet sich Expertise heraus, die in zahlreichen Anleitungen zum ‚richtigen‘ Exzerpieren und Verzetteln mitgeteilt wird wie beispielsweise in Daniel Georg Morhofs POLYHISTOR (Lübeck 1688). Durch die offenen Ordnungen kann mehr und mehr Material in den kompilatorischen Projekten verarbeitet werden.32 In Verbindung mit dem Ideal der umfassenden Gelehrsamkeit bringen die neuen, besonders beweglichen Kompilationstechniken außerdem eine Vielzahl weiterer sammelnder Textformen hervor (z. B. Analecta und Florilegien, also besondere Typen von Exzerptsammlungen). Zunächst sind es noch einzelne Kompilatoren und Polyhistoren bzw. Universalgelehrte, die mit der Unterstützung von wenigen Gehilfen in ihren jeweiligen Projekten frühneuzeitliche Materialmassen durcharbeiten. Mit der erneuten Intensivierung des Kompilierens als wissensverarbeitender Methode im späten 17. und frühen 18. Jh. wird der Polyhistor als Figur aber sprichwörtlich überholt.33 Die Institutionen der Frühaufklärung – also Bibliotheken, Journale, Rezensionswesen, Kataloge, Lexika und Kompendien – machen mit ihrer unablässigen Textproduktion Kompilieren vielmehr zu

31 Für eine sehr anschauliche Darstellung kompilatorischer Prozesse mit Zetteln siehe Blair: Too Much To Know, S. 210–229. Wie Zettelkastentechniken modern werden (und bleiben), beschreibt Markus Krajewski in: Krajewski: Zettelwirtschaft. 32 Blair hat das Anwachsen frühneuzeitlicher Kompilationen statistisch erfasst und liefert eindrucksvolle Belege; siehe Blair: Too Much To Know, S. 177–188. 33 Vgl. Gierl: Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert. In: Zedelmaier/ Mulsow (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, S. 80.

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Konjunkturen  kompilieren

einem kollektiven Geschäft. Gerade Journale erweisen sich als wichtige Kompilationsmedien, die Auszüge aus Fachbüchern und Berichte gelehrter Gesellschaften über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus zirkulieren lassen und somit einen internationalen Wissenschaftsdiskurs ermöglichen. Kompilieren steigt auf zur „ehrbaren Methode“34, zur materialen Seite philosophischer Eklektik. In diesem Prozess der unablässigen, methodischen Ergänzung und Umverteilung von Wissen löst der Wissenschaftlerverbund den einzelnen Kompilator ab. Zugleich verändern sich mit der Verselbstständigung des Verfahrens seine unterliegenden Leitunterscheidungen und -konzepte. Der Einzelgelehrte gibt seine Autorität an die Kompilationsliteratur selbst ab, die immer öfter auf bereits bestehende Fachliteratur und existierende Lexika verweist statt auf individuelle Autoren und im Gegenzug selbst sofort personalisiert wird („der Zedler“, später „der Brockhaus“).35 In der Überfülle sich bewegenden Wissens verändern sich auch die Kriterien, nach denen beispielsweise für enzyklopädische Projekte gesammelt wird: Hieß die Leitunterscheidung zuvor „orthodox/ heterodox“, so heißt sie nun „bedeutend/unbedeutend“36, wie Martin Gierl herausgearbeitet hat. Während kompilieren also im 18. Jh. den Wissenschaftsalltag intensiv durchdringt, beginnt sein Status als ehrenvolle Tätigkeit zu sinken, sodass man für den Verlauf des 18. und dann des 19. Jhs. nur von einer stillen Konjunktur sprechen kann. Das Verfahren bleibt zwar als (schulisch vermittelte) Bildungstechnik hintergründig präsent und prägt die Arbeitsweise von Intellektuellen wie Lichtenberg, Winckelmann, Goethe und – in starker Ästhetisierung – Jean Paul. Offen wird kompilieren aber abgewertet. Traditionell war es ja eng mit rhetorischen Findungs- und Darstellungstechniken (inventio und Topik) verwoben; als jedoch die poetische Texterzeugung unter dem komplizierten Begriff des „Originalgenies“ aus dem Horizont rhetorischer Regeln tritt, bringt das den Statusverfall des Kompilierens mit sich. Kompilieren wird den Hilfsmitteln und „Krücken“ zugeschlagen, die nach Edward Youngs exemplarischer

34 Ebd. S. 65. 35 Vgl. ebd. S. 85. 36 Ebd. S. 89.

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Konjunkturen  kompilieren

Kritik an regelgeleiteter Texterzeugung für einen Lahmen nützlich, für einen Starken aber hinderlich seien (CONJECTURES ON ORIGINAL COMPOSITION, 1759).37 Kant schreibt diese Trennung von poetischem Einbildungsvermögen und rhetorischer inventio in der KRITIK DER URTEILSKRAFT theoretisch fest.38 Kompilieren wird somit als bloßes Mittel zum Zweck gehandelt, als Vorstufe zum Eigentlichen. Zugleich nimmt die stille Konjunktur des Verfahrens im Verlauf des 19. Jhs. mit der Massenpresse und dem Anstieg des Volumens sekundärer Informationen (z. B. in Form von Statistiken und historischen Daten) weiter zu. Kompilierende Vielschreiber wie z. B. Theodor Fontane machen sich als Vertreter eines neuen Autorentypus die verfügbaren Datenmassen für ihre schriftstellerischen Projekte gezielt zunutze.39 Neue Aufzeichnungs- und Reproduktionsmedien des 20. Jhs. lassen auch Musikstücke, Fotografien und Filmsequenzen zum Gegenstand von Kompilationen werden. In der Rock- und Pop-Musik führt das Mixtape – die privat zusammengestellte Kassette, CD oder playlist mit ‚Lieblingsliedern‘ von verschiedenen Künstlern oder aus verschiedenen Genres – zu einer Konjunktur des Verfahrens unter Amateurkünstlern. 40 Von einer erneuten (dritten) Hochkonjunktur kann man aber erst nach dem Eintritt in das Internet-Zeitalter sprechen. Eine historisch beispiellose Masse von Material wird abrufbar, während gleichzeitig durch digitale Speicherund Übertragungsmedien kaum noch Materialwiderstand besteht. Letztlich lässt sich in der Remix-Kultur des Internets somit die Radikalisierung des Zettel-Prinzips beobachten: Kontextbrechung, Ausschnitt und Re-Funktionalisierung von Materialteilen geschieht in digitalen Medien nahezu mühelos und Kompilationsprojekte können, weil sie die digitale Sphäre nicht unbedingt verlassen müssen, schnell auf gigantische Größen anwachsen – verwiesen sei nur auf die Internet-Enzyklopädie Wikipedia oder die Bilder-Kompilationen des Google Art Projects.

37 Zit.n. Kienpointner: (Art.) Inventio. In: Ueding, Bd. 4., Sp. 581. 38 Vgl. ebd. S. 583. 39 Siehe hierzu Spies McGillen: Original Compiler, Dissertation Princeton University 2012. 40 Siehe zum Einstieg Gallagher: For the Mix Tape. In: NYT online. Unter: http://www.

nytimes.com/2003/01/30/technology/for-the-mix-tape-a-digital-upgrade-and-notoriety. html?pagewanted=all&src=pm [aufgerufen am 12.12.2013].

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GEGENBEGRIFFE  Kompilieren hat nicht nur einen, sondern mehrere his-

K

Gegenbegriffe  kompilieren

torisch wechselnde Gegenbegriffe. Insofern ist die Gegenbegrifflichkeit für das Verständnis des Verfahrens und der kulturellen Praxis in der jeweiligen historischen Konstellation besonders aufschlussreich. Schon in der Antike wird ‚(selbst) schreiben‘ von kompilieren unterschieden. Im Spätmittelalter wird diese Unterscheidung durch Bonaventura theoretisch geklärt und differenziert, sodass es mehrere Gegenbegriffe zugleich gibt: Kompilieren steht nun dem Abschreiben, Kommentieren und dem Selbstschreiben gegenüber.41 Diesen textuellen Praktiken entsprechen jeweils eigene Produktionstypen mit bestimmten Lizenzen. Abschreiben ist die Tätigkeit des Schreibers, der dem Text nichts Eigenes hinzufügen darf. Der Kompilator schreibt ebenfalls nur fremdes Material ab, darf durch Mischung, Auslassung und Neuzusammenstellung aber den Inhalt verändern und produziert ein – wie auch immer geartetes – Textganzes. Der Kommentator stellt seine Anmerkungen dem Ausgangstext flankierend zur Seite, ohne in ihn einzugreifen. Selbstschreiben und ‚Eigenes‘ produzieren, ist einzig Sache des Autors, der wiederum seinem Text die Stimmen anderer nur flankierend mitgibt. Die Unterscheidung hatte in der Theorie aber wesentlich mehr Trennschärfe als in der Praxis. Mittelalterliche Kompilatoren fügten nämlich sehr wohl eigene Anmerkungen hinzu und kommentierten die Ausgangstexte. Da sie ihre eigenen Hinzufügungen häufig grafisch kennzeichneten (z. B. durch die Verwendung einer anderen Farbe oder Schriftart), kann man aber darauf schließen, dass ihnen die Besonderheit ihrer Praxis und ihrer Rolle bewusst war.42 Sie führen in Vorreden ihre Rolle auch oft ins Feld, um sich gegen Verantwortung für die ‚nur kompilierten‘ Inhalten zu verwahren. Der (stilisierte) Gegensatz zum Selberschreiben wird in der frühen Neuzeit noch größer. Nach wie vor beharren Kompilatoren auf ihrer Sonderrolle und unterstreichen, für den Inhalt von Kompilationen nicht verantwortlich zu sein. Ihre Aufgabe sehen sie darin, möglichst vielfältiges Material zu präsentieren, über das die Leserschaft selbst urteilen soll. Anders als beim Schreiben geht

41 Vgl. Blair: Too Much To Know, S. 175–176. 42 Vgl. Minnis: Late-Medieval discussions of compilatio and the rôle of the compilator. In:

Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, S. 395–396.

363

Gegenbegriffe  kompilieren

es also gerade nicht um die Aufhebung widersprüchlicher Sichtweisen oder um Synthese. Kompilieren bekommt somit auch eine quantitative Komponente: Statt für einen kleinen Leserkreis zu schreiben, legen Kompilatoren in der zeitgenössischen Selbstdarstellung Wert darauf, große Materialmengen zu durchforsten, um daraus Sammlungen für alle herzustellen.43 Im 18. und 19. Jh. verschiebt sich der Gegenbegriff weiter und wird das Produkt einer noch emphatischeren Stilisierung. Er heißt nun nicht mehr ‚selberschreiben‘, sondern ‚erfinden‘ oder ‚schöpfen‘. Dem Kompilator tritt das Original-Genie bzw. – in der parallel einsetzenden Debatte um geistiges Eigentum – der Urheber entgegen. Die Opposition ist aber zu einfach gedacht, wenn unter ‚Genie‘ eine Instanz verstanden wird, die creatio ex nihilo betreibt und aus dem Nichts, ganz ohne Vorlagen, Neues schafft.44 Schon die zeitgenössische Genie-Debatte benutzt einen derart verkürzten Genie-Begriff nur strategisch und fasst ihn eigentlich komplexer, indem sie anerkennt, dass es ohne Ausgangstexte und Vorlagen nicht geht, dass jedes Schreiben – wie Kompilieren – auf dem Text- oder Gedankenmaterial von Vorgängern beruht. Das Genie soll sich also nicht etwa darin zeigen, dass es ohne Modelle arbeitet, sondern darin, dass es sich ihrer besonders gekonnt bemächtigt, sie verändert und letztlich neue Modelle schafft (die dann wiederum von anderen nachgeahmt werden).45 Die Debatte konzentriert sich auf Fragen der ästhetischen Form, nicht so sehr auf den Inhalt. Präziser, und mit Blick auf die Paralleldebatte um Urheberschaft, lässt sich festhalten: Es geht nun um die Werkform als Ausweis von Originalität.46 Während Gedankenmaterial, Stoff, Inhalt von allen geteilt werden, die Texte produzieren – seien es Kompilatoren, seien es Autoren – soll die Form des Produzierten einmalig sein und nur dem Autor/ Urheber allein gehören. Kompilieren rückt also in Opposition zu ‚Form verleihen‘ oder (stärker aufgeladen) ‚schöpfen‘ und Kompilationen wird in der Folge der Werk-Charakter abgesprochen.

43 Vgl. Blair: Too Much To Know, S. 177, 188. 44 Für eine vielseitige Darstellung des Genie-Begriffs siehe Peters: (Art.) Genie. In: Ueding,

Bd. 3, Sp. 737–750.

45 Vgl. Theison: Plagiat, S. 283–287. 46 Vgl. ebd., S. 269–270.

364

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Gegenbegriffe  kompilieren

Die Opposition bleibt stabil, bis große Teile der Literaturwissenschaft im Zuge postmoderner Theoriedebatten den emphatischen Werkbegriff aufgeben. Die Entgegensetzung von Kompilation und Werk hält nicht mehr – erst recht nicht, wenn Schreibprozesse in der Auseinandersetzung mit den Stoff- und Datenmassen des Internets erfolgen und sich durch diese neue Medienrealität wieder für kompilatorische Verfahren öffnen müssen. Stattdessen taucht v. a. seit den 2000er Jahren immer wieder der Begriff des Plagiats auf – als Rückseite einer Unterscheidung, deren Vorderseite durch das Fehlen des Werkbegriffs unterbestimmt bleibt. Bezeichnenderweise kommt auch das Feuilleton im Fall Hegemann zu keinem einhelligen Urteil. Während die Autorin trotz der Plagiarismus-Vorwürfe Finalistin für den Preis der Leipziger Buchmesse bleibt, gilt es unter der Hand schon im Vorfeld als ausgemacht, dass sie den Preis keinesfalls bekommen wird. Die Versuche, durch ein überarbeitetes CopyrightGesetz einen Werkbegriff zu formulieren, der den neuen Medienverhältnissen und Eigentumsfragen gerecht wird, waren bisher nicht erfolgreich und hängen an der Gleichsetzung von Textwortlaut mit geistigem Eigentum fest. In der Summe zeigt der Blick auf die Gegenbegriffe letztlich, dass sich die alte, theoretisch eingezogene Unterscheidung von kompilieren versus selberschreiben durch die Realitäten der Textproduktion aufgelöst hat. Im Kontext von Programmiersprachen hat sich mit to decompile ein weiterer Gegenbegriff etabliert, der in vielen Wörterbüchern noch nicht erfasst ist. Decompiling ist eine Form des reverse engineering und dient dazu, Maschinen-Code in menschlich lesbaren Code zurückzuübersetzen.47 Das Verfahren kommt z. B. zum Einsatz, wenn ein Programm für eine neue Plattform umgeschrieben werden muss oder es geknackt werden soll. Entsprechend finden sich in den Nutzungsbedingungen, die (frei zugängliche oder kommerzielle) Software begleiten, häufig Hinweise auf „Dekompilationsverbot“.48

47 Eine kompakte Erklärung von „Decompiling“ liefert: (Art.) decompile. In: What Is.com

Online-Lexikon. Unter: http://whatis.techtarget.com [aufgerufen am 27.05.2013].

48 So zum Beispiel in den Nutzungsbedingungen des Musikdienstes Spotify: „For the avoidance

of doubt, you agree that you may not (without limitation) […] reverse-engineer, decompile, dis­ assemble, modify or create derivative works based on the Spotify Software Application or the Spotify Service or any part thereof […]“ [Spotify: Spotify Terms and Conditions of Use. Unter: https://www.spotify.com/us/legal/end-user-agreement/ [aufgerufen am 12.12.2013]].

365

Perspektiven  kompilieren

PERSPEKTIVEN  Im historischen Durchgang hat sich kompilieren als stabiles

366

Verfahren der motivierten Zweitverwertung bereits existierender Texte und anderer Materialien konturieren lassen. Aus dieser konkreten Perspektive können zeitgenössische Praktiken der Kunst- und Wissensproduktion beobachtet werden – insbesondere diejenigen, die bereits alltäglich geworden sind und sich der Problematisierung dadurch besonders leicht entziehen. Beispiele sind die medienkulturwissenschaftliche Analyse von Smartphone Apps, die beim Kompilieren von Daten zum personal information management helfen sollen; die Untersuchung von personalisierten, digitalen Musik-Listen als neuen Florilegien mit ‚Sitz im Leben‘; die Untersuchung des Einflusses von kompilatorischen Schreibverfahren wie copy and paste auf Textproduktion in Literatur und Wissenschaft; die Beschreibung von Autoritätskonzepten in kollektiven Online-Großprojekten wie Wikipedia oder die Hinterfragung des Text- und Werkverständnisses, das Plagiatfindungssoftware zugrunde liegt. FORSCHUNG  Aus übergeordneter Perspektive schließt sich an diese kon-

kreten Probleme eine offene Forschungsfrage an: Wie verändert die momentane Hochphase des Kompilierens das zeitgenössische Verständnis von Kreativität, Originalität und Autorschaft? Die bestehende Forschung liefert hierzu gute Grundlagen und hat die Geschichte zahlreicher kompilatorischer Einzel-Genres sowie – seit neuestem – die Praxis des Kompilierens von der Antike bis zur frühen Neuzeit aufgearbeitet. Für die Zeit ab 1800 ist kompilieren allerdings nahezu unerforscht; insbesondere Studien zur modernen Praxis des Kompilierens, die auch nicht-textförmige Materialien und Digitalmedien einbeziehen, stehen noch aus. Gerade für die Beobachtung modernen Kompilierens besteht die Schwierigkeit, ein Verfahren zu konturieren, auch wenn es keine eindeutigen „Werke“ produziert, dabei das Verfahren selbst aber nicht beliebig werden oder im zu allgemeinen Begriff des ‚Sammelns‘ aufgehen zu lassen.

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KOPIEREN OLIVER KOHNS | MARTIN ROUSSEL

ANEKDOTE  Es ist eine Geschichte des Verrats oder genauer des ‚Verraths‘, wie

man gemäß den Gewohnheiten des 19. Jhs. schreiben müsste: Am 10. April 1864 inthronisiert die französische Armee Napoleons III. den Erzherzog Maximilian von Österreich als Kaiser von Mexiko – wohl wissend, dass sich das Regime des politisch naiven ‚Kaisers‘ gegen die republikanischen Truppen von Benito Juarez auf Dauer nicht halten kann. Dass er von seinen Beratern verraten wurde, versteht Maximilian erst kurz vor seiner Hinrichtung. Die Geschichte ist bekannt und wird mit gegenüber den Geschichtsbüchern nur in den Nebenfiguren umbesetzter Handlung von Karl May erzählt: WALDRÖS-

K

CHEN ODER DIE RÄCHERJAGD RUND UM DIE ERDE. GROSSER ENTHÜLLUNGS-

heißt der zweieinhalbtausend Seiten umfassende Kolportageroman, den May unter dem Pseudonym Capitain Ramon Diaz de la Escosura zwischen Dezember 1882 und August 1884 in insgesamt 109 Lieferungen veröffentlichte. In Anspielung auf die Maximilians Niederlage besiegelnde Einnahme von Querétaro durch Juarez’ General Escobedo lässt May den General Miguel de Miramon, einen der Getreuen des ‚Kaisers von Mexiko‘ im Gefängnis ausrufen: „Ah, er [Maximilian] hat von [Oberst] Lopez’ Verrath gehört?“1 „Verrath“ ist in diesem Satz allerdings mehr als eine Zusammenfassung der mexikanischen Handlung des weltumspannenden Kolportageromans. Ein Blick auf den ältesten Druck ist auch in anderer Hinsicht verräterisch. Denn nicht nur May musste für diesen Roman im Durchschnitt über 20 Monate hinweg vier bis fünf Seiten pro Tag schreiben; auch der Verlag war unaufhörlich mit Nachdrucken einzelner Lieferungen beschäftigt. Ähnlich wie bei heutigen TV-Serien mussten ältere ‚Staffeln‘ (Lieferungen) verfügbar bleiben und das WALDRÖSCHEN war der erfolgreichste Kolportageroman des 19. Jhs. Gängige Druckverfahren gerieten hierbei an ihre Grenzen, waren zu aufwändig und erforderten hohe Lagerkosten oder Vorleistungen des Dresdner Verlegers

Anekdote  kopieren

ROMAN ÜBER DIE GEHEIMNISSE DER MENSCHLICHEN GESELLSCHAFT

1 May: Waldröschen, S. 2573.

369

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Münchmeyer. Angesichts dieser produktionstechnischen Notlage und gewaltiger Leseleistungen breiter Bevölkerungsschichten waren Faktoren wie der Schutz geistigen Eigentums oder eine exakte Textwiedergabe oftmals nur wörtlich ‚Makulatur‘, das heißt billiges Papier und schlechte Druckqualität. Mays Pseudonym trägt dem wie auch der mitunter schlüpfrigen Handlung Rechnung. Der „Verrath“ von Oberst Lopez lässt jedoch in besonderer Weise aufmerken: Die 1989 erschienene Faksimile-Ausgabe des frühesten Drucks gibt den Dialog zwischen einem der Richter Miramons (der von Maximilian spricht) und dem überraschten Miramon exakt wieder; den offensichtlichen ‚Kopierfehler‘ in Miramons Ausruf gilt es mitzulesen: Im Wort „Verrath“ ist das zweite ‚r‘ nach unten aus der Zeile gerutscht und verrät eine Unzulänglichkeit des Druckes gegenüber dem linientreuen Druckbild.2 Der typografische Eigensinn des Buchstabens ‚r‘ ist dabei mehr als nur eine beliebige Korruption im Druckbild, die einer zufälligen Unachtsamkeit geschuldet sein könnte. Klußmeiers editorisches Nachwort belehrt über die zugrundeliegenden Verfahren des Kopierens von Text, das heißt die spezifischen drucktechnischen Bedingungen für den Kolportageroman des ausgehenden 19. Jhs.: „Dabei werden von den in Lettern gesetzten Seiten […] sogenannte Matern aus hitzebeständigem Material geprägt. Diese lesbaren Prägungen von kompletten Seiten werden mit flüssigem Metall […] ausgegossen, das dann – gehärtet die Druckform ergibt.“3 Anders als beim Druck mit beweglichen Lettern (Gutenbergs Technik) besteht eine solche ‚Stereotypmater‘ aus einer unveränderlichen Vorlage für den Druck. Nach einer gewissen Anzahl an Kopien – folgt man Klußmeier bis zu 300.000 – waren diese Matrizen verbraucht und mussten bei Bedarf erneuert werden. Vorteile bot das Verfahren insbesondere für Lieferungsromane, von denen so höhere Auflagen gedruckt und ältere Lieferungen leicht nachgedruckt werden konnten. Beim normalen Druck mit beweglichen Lettern ist es nötig, für jeden Nachdruck die Lettern für jeweils eine Buchseite neu zu konfigurieren, während sich die ungleich günstigeren Stereotypmatern, einmalig ausgegossen, leicht zwischenlagern ließen. Allerdings folgte das technische Verfahren einem

2 Vgl. den digitalen Reprint der Münchmeyer-Ausgabe. Unter: http://www.karl-may-

gesellschaft.de/kmg/primlit/roman/roeschen/index.htm [aufgerufen am 05.04.2014].

3 Klußmeier: Nachwort. In: May: Waldröschen, S. IIIf.

370

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Anekdote  kopieren

Optimierungsdruck, der auf Schnelligkeit zielte und weniger auf typografische Exaktheit: Einmal zur Stereotypmater verhärtete Fehler im Druckbild ließen sich nicht ohne Weiteres beheben.4 Karl Mays „Verrath“ an der Idee einer Kopie steht im Zeichen einer Praxis des Kopierens von Texten, das von Gutenbergs Vorstellungen ebenso weit entfernt scheint wie von heutigen Verfahren des copy & paste, die eine digitale Codierung voraussetzen. Zielte Gutenbergs Drucktechnik auf die Erstellung einer möglichst identischen Kopie eines Originals, mithin auf die Idee einer Ununterscheidbarkeit von Original und Kopie, um die Bibel qua Druck in möglichst homogenem Schriftbild – das heißt im Druckbild, das für je gleiche Buchstaben identische Matrizen voraussetzt – produzieren zu können, bietet die digitale Codierung von Bild- und Schriftinformationen in softwarebasierter Verarbeitung die Möglichkeit, bspw. einen elektronisch gespeicherten Text in tatsächlich identischer Form zu kopieren und analogen Bildgebungsverfahren (Monitor, Druck) zuzuführen. Unterschiede produzieren hier nur die analogen Bestandteile, während eine digitale Codierung exakt dieselben Informationen auch in verschiedenen Speichermedien verfügbar macht. In einer Geschichte der Konjunktur des Kopierens zwischen Gutenberg und IBMs Personal Computer wird mit den Stereotypmatern, die technisch in gewisser Weise einen Rückschritt zum Druck mit beweglichen Lettern darstellen, bereits vorweggenommen, was moderne Fotokopiergeräte für ‚Endanwender‘ verfügbar machen. Dabei arbeiten heutige Geräte lediglich mit der Simulation einer fotomechanischen Kopie, insofern die Geräte über elektronische Zwischenspeicher verfügen, aus dem heraus ein Vorrat an Kopien erstellt werden kann.5

4 Vgl. ebd. 5 Den Unterschied erläutert ein Rückblick in die Geschichte mechanischer Kopiertechnik:

1879 wurde der Hektograph patentiert: Hektographie bezeichnet man ein Kopierverfahren, bei dem die Tinte oder Farbe direkt auf eine seitenverkehrte Matrize aufgetragen wird, mit der dann Abdrucke erzeugt werden; etwa 100 Stück, mehr Kopien ließen sich mit diesem Verfahren nicht herstellen. Dass diese Verfahren der quasi-industriellen Massenkopierverfahren gleichzeitig mit ebenso quasi-industriell geschriebenen Kolportageromanen entwickelt wurden, ist kein Zufall: „Eine ganze Geschichte der Moderne und ihrer Werte wie ihrer Wertlosigkeit ließe sich so nachzeichnen.“ [Roussel: Philologie des Findens. In: Ders. (Hrsg.): Kreativität des Findens, S. 23].

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Etymologie   kopieren

Was eine ‚Kopie‘ ist, unterliegt also erheblichen Gebrauchs- oder Funktionsschwankungen und lässt sich weder allein technisch noch ideengeschichtlich eindeutig fassen. Fest steht aber, dass sich eine Mediengeschichte des Kopierens, die im Sinne des ‚Verraths‘ von Oberst Lopez am ‚Kaiser von Mexiko‘ von verwandten Praktiken wie (Ab-)Schreiben, Simulieren oder Reproduzieren zu unterscheiden ist, prinzipiell ‚Fehler‘ miteinschließt, die eine Kopie überhaupt erst als solche kenntlich machen. Solche Gebrauchsimplikationen sind weder in einer Gutenberg’schen Matrix angelegt noch in einer des digitalen Zeitalters. ETYMOLOGIE   Das dt. Wort ‚Kopie‘ wurde im 14. Jh. aus dem lat. copia (Vorrath, Mittel, Fülle) entlehnt.6 Copia ist ein zentraler Begriff in der Gelehrtenwelt der Frühen Neuzeit und bezeichnet die ‚Fülle‘ des in einem Text versammelten Wissens, die jenseits jeder Idee von Originalität oder geistigem Eigentum kompiliert werden kann.7 In der dt. Kanzleisprache bedeutet Kopie ‚Vervielfältigung‘ sowie ‚Abschrift‘ und in der späteren Entwicklung des Wortes kam auch – wohl unter dem Einfluss des ital. copia – die Bedeutung ‚Nachbildung eines Kunstwerks‘ hinzu.8 Das Verb kopieren entstammt dem 15. Jh. und benennt zunächst die Tätigkeit des Abschreibens, ab dem 18. Jh. auch ‚nachbilden, abmalen‘ und allgemein ‚nachahmen‘.9 In der ersten Hälfte des 18. Jhs. wurde der Begriff des ‚Copierens‘ primär auf die bildende Kunst bezogen, wie der Artikel aus Zedlers UNIVERSALLEXICON belegt: „Copey, copie, heißt ein Stück, welches die Mahler nach einem anderen Gemählde gemacht haben, und selten accurat zu seyn pfleget, dahero auch niemals so hoch, als das Original selbst, gehalten wird.“10 Zedlers UNIVERSALLEXICON belegt zugleich, dass Kopieren im Bereich des Ästhetischen bereits in der ersten Hälfte des 18. Jhs. mit einer negativen Semantik belegt wird – wenn auch mit einer eher handwerklichen Begründung (‚selten accurat‘) und nicht auf eine originale

6 Vgl. (Art.) Kopie. In: Schulz: Deutsches Fremdwörterbuch, S. 393. 7 Vgl. zu den Hintergründen Kennedy: Classical Rhetoric & its Christian and Secular Tradi-

tion from Ancient to Modern Times, S. 245: „Most influential was Erasmus’ treatise of 1511, De Duplici Copia Rerorum et Verborum, or De Utraque Verborum ac Rerum Copia. It is usually called simply On Copia. The word copia may be translated ‚abundance‘.“ 8 Vgl. (Art.) Kopie. In: Kluge, S. 477. 9 Vgl. (Art.) Kopie. In: Schulz: Deutsches Fremdwörterbuch, S. 393. 10 (Art.) Copey. In: Zedler, Bd. 6, Sp. 1200.

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Schöpfung bezogen. Die juristische Semantik des Worts behandelt der ZEDLER im Artikel „Abschrifft“, der darauf verweist, dass notariell oder gerichtlich beglaubigte Kopien den Originalen prinzipiell gleichwertig seien: „Abschrifft, Copie, Exemplum, Copie, heißt, wenn man von dem Original eine Nachschrifft macht, die, wenn sie vor Gerichte oder von einem Notario Publico gemacht wird, eine beglaubigte Abschrifft genennet wird. Eine andere bloße Abschrifft hingegen hat ohne Production des Originals keine Beweiß-Krafft in sich.“11 Angesichts juristisch affirmierter „Beweiß-Krafft“ kann sich, so scheint es demzufolge, der Unterschied von Original und Kopie in der Mediennutzung relativieren bzw. steht die Autorisierung von Nutzungsverhältnissen im Zweifelsfall sogar vor der technischen, visuellen oder genealogischen Identifizierung des Originalen (gegenüber dem hiervon nur Abgeleiteten, der Kopie).

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wird Kopieren nun eindeutig negativ einem ‚originalen‘ Schöpfen entgegengestellt: „Copien sind nie das Original selbst, so wie der Strom nie höher steigt, als seine Quelle“12, heißt es in Edward Youngs CONJECTURES ON ORIGINAL COMPOSITION (1759; dt. 1787) im Anschluss an eine traditionsreiche philologische Topik.13 Zweitens kommt dem Begriff der Kopie jenseits der Akademiekunst oder in den ästhetischen Spezialdiskussionen in der Nachfolge der Genieästhetik im 18. und 19. Jh. eine recht marginale Bedeutung zu: Zwischen privaten Abschriften und technischen Druckverfahren bleibt die Semantik des Kopierens weitestgehend ohne praktische Relevanz. Die Entwicklung der Idee des ‚geistigen Eigentums‘ (und damit zugleich der Autorfunktion) in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. stellt einen kulturgeschichtlichen Einschnitt dar, der das barocke Prinzip der copia „im Zeichen von Genie und copyright“14 abschafft. Noch das DEUTSCHE WÖRTERBUCH der Brüder Grimm kennt keinen eigenen Eintrag zum Kopieren. Unter „Kopiermaschine“ findet sich lediglich ein Hinweis auf eine Stelle aus Jean Pauls LUFTSCHIFFER GIANNOZZO, wo

Kontexte  kopieren

KONTEXTE  Die Semantik des 18. und 19. Jhs. verdeutlicht zweierlei: Erstens

11 (Art.) Abschrifft. In: Ebd., Bd. 1, Sp. 183. 12 Young: Ueber den Geist der Originalwerke, S. 33f. 13 Vgl. Rathmann/Wegmann (Hrsg.): „Quelle“. 14 Rieger: Autorfunktion und Buchmarkt. In: Pechlivanos et al. (Hrsg.): Einführung in die

­Literaturwissenschaft, S. 151.

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Konjunkturen  kopieren

der Erzähler über die „allgemein-deutsch-bibliothekarischen Menschen, ihr Kopiermaschinen der Kopien“15 wütet. In Jean Pauls KOMET findet sich ein zweiter Beleg, wo die Kunst als eine „selber gebährende madonna“ und „kein bloszes silhouettenbrett des gesichts oder eine englische kopiermaschine der gestalten“16 bezeichnet wird. Jean Pauls Anwendung des alten Urbild/AbbildSchemas wie auch der Oberfläche/Tiefe-Spannung auf die medientechnische Unterscheidung von Originalschöpfung und Kopie bestimmt weite Teile der kulturkritischen Auseinandersetzung um ‚bloßes‘ Kopieren in den letzten 200 Jahren. Die Wortverwendung im 20. Jh. als ubiquitäres Gebrauchswort ist bedingt durch die technologische Entwicklung der Kopierinstrumente, mit deren Massenproduktion Kopieren im Sinn einer Vervielfältigung von Papier alltagstauglich wird. Dass die eigentliche Konjunktur des Wortes an die massentaugliche Entwicklung von fotomechanisch operierender ‚Kopiergeräte‘ (‚Kopierer‘) gekoppelt ist, hat die negative Semantik des Wortes einerseits verschärft, anderseits mit latent utopischen Konnotationen des Medienzeitalters aufgeladen: Der ‚Kopierer‘ (was stets die ‚Maschine‘ meint, nie den ‚Menschen‘) ersetzt simulativ die Druckerpresse; wie bei mittelalterlichen Kopisten von Handschriften wird Kopieren hier wieder zur ‚Handarbeit‘, die allerdings durch die maschinelle Prothese die Vorteile massenhafter Vervielfältigung individuell verfügbar machen kann. KONJUNKTUREN  Dass eine Kopie ursprünglich einfach die Menge, den Vorrat von etwas meinte, erscheint angesichts der flächendeckenden Verbreitung von Kopiergeräten wenig überraschend. Technologisch entscheidend hierfür sind massenproduktive Verfahren der Elektrofotografie (Xerografie), die eine elektronisch gesteuerte Faksimilierung erlauben. Ob an solche Scan-Verfahren digitale Codierungsprozesse und elektronische Speicherungen oder Drucker, das heißt in der Regel Tonerkartuschen, angeschlossen werden, entscheidet letztlich über die Qualität des ‚Vorrats‘ an Kopien, den ein Bediener von Kopiergeräten erstellt. Im Gegensatz zur digitalen Codierung faksimilierter

15 Jean Paul: Sämtliche Werke, S. 951. 16 Zit.n. (Art.) Kopiermaschine. In: Grimm, Sp. 1782.

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Konjunkturen  kopieren

‚Originale‘ erzeugen analoge Druckverfahren prinzipiell singuläre, das heißt unterscheidbare Kopien. Einige Kopiergeräte informieren sogar in der Verteilung des ‚Bitmusters‘ in der Tönung des Drucks über den je spezifischen Machine Identification Code, mit dem das jeweilige Kopiergerät für das menschliche Auge zunächst unsichtbar in jeder Kopie kenntlich gemacht werden kann. Moderne Kopiergeräte dienen trotz der Exaktheit, die eine fotomechanische Wiedergabe erlaubt, weniger der Erstellung hochauflösender Parallelversionen als vielmehr der Vervielfältigung. Obwohl auch Alltags-Kopiergeräte im Grunde immer Kopier- und Druckfunktion vereinen, scheint für exakte Reproduktionen (‚Bild vom Bild‘) die Metaphorik des Drucks mit der Implikation hochwertiger Handwerklichkeit zu dominieren. Bis zur Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern wurden Bücher (seit dem mittelalterlichen Übergang vom codex, der Schriftrolle, zum volumen, dem Buch) von Mönchen per Hand abgeschrieben. Voraussetzung ist die Autorität des Originals von in der Regel juristischen Texten und v. a. der HEILIGEN SCHRIFT. Dieses Verfahren konnte unmöglich zu einer im technischen Sinn genauen Überlieferung der abgeschriebenen Bücher führen, zumal die Vorstellung einer im buchstäblichen Sinn ‚exakten‘ und ‚unverfälschten‘ Kopie eine moderne Idee ist, die den mittelalterlichen Schreibern nicht unterstellt werden kann.17 In seinem PHILOBIBLON (1345) fasst Richard de Bury, Bischof von Durham und passionierter Büchersammler, seine Interessen am Medium Buch zusammen, das in diesem Fall für das mittelalterliche Abschreiben gegenüber der virtus vocis (‚Kraft der Rede‘) generell gelten kann: „Wahrheit […], die in Büchern leuchtet, will sich an jeden Sinn wenden, der der Lehre offensteht […]: an das Sehvermögen, wenn man sie liest, ans Gehör, wenn man sie hört; ja weiter empfiehlt sie sich auch dem Tastsinn irgendwie, wenn sie sich abschreiben lässt, zusammenfassen (colligari), verbessern und aufbewahren

17 Nach Ivan Illich vollzog sich im 12. Jh. ein Medienwandel, in dem das schweigsame (scho-

lastische) Lesen das monastische, murmelnde, meditative Lesen ersetzte. Waren zuvor Lesen, Hören und Schreiben untrennbare Prozesse, orientiert sich bereits die Scholastik an den Kategorien Text und Exegese. Kopien werden nun auf ihre „Echtheit“ überprüfbar und das „Schriftbild“ als visuelle Manifestation unterschiedlicher Kopien wird denkbar; vgl. Illich: Im Weinberg des Textes.

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Gegenbegriffe  kopieren

(servari).“18 Abschreiben meint also zusammenfassen, verbessern und – nur an dritter Stelle – aufbewahren. Die Kopisten des Mittelalters waren – der heutigen Medienpraxis des Kopierens wie der Werteopposition Original/Kopie entgegengesetzt – ‚Verbesserer‘ einer ‚Wahrheit‘ der schriftlichen Überlieferung. Diese mittelalterliche Idee des Lebens im fortschreibenden Kopieren klingt noch bei Erasmus von Rotterdam an, der mit einem allerdings philologischneuhumanistischen Verständnis Lesern generell anempfiehlt, Zitate „by heart“ zu lernen „and copy them everywhere: write them in the front and back of books, inscribe them on rings and cups, paint them on doors and walls, ‚even on the glass of a window‘.“19 In dem Moment, wo potenziell alles, und nicht nur privilegiert autoritative Texte, gleichermaßen kopierbar und als Zitat verfügbar sein kann, wird jedoch als Konsequenz fraglich, was ‚Original‘ oder ‚Schöpfung‘ im Kontext eines kopierbaren Wissens bedeuten kann: Die Frage dem Ursprung des Schöpferischen tritt deshalb zwar im Zuge neuzeitlicher Individualisierung in der Genieästhetik auf, die jedoch eine Pluralisierung des Mediengebrauchs – dessen, was wert ist, kopiert zu werden – voraussetzt. GEGENBEGRIFFE  Mit der Verbreitung des Buchdrucks hat sich eine semantische Trennung zwischen zwei Formen von Kopien herausgebildet, die in der Kultur des Abschreibens noch nicht möglich war: Man begann, zwischen Kopien (als materiellen Vervielfältigungen) und Zitationen eines Textes (als geistigen Übernahmen) zu unterscheiden. Der Diskurs über das Kopieren im 18. Jh. ist durch eine vielfältige polemische Gegenbegrifflichkeit gekennzeichnet. Nachdem Kunst seit der Antike primär als „Nachahmung“ (der Natur)20 – und damit vollständig innerhalb der Semantik des Kopierens – verstanden wurde, entsteht nun der Glaube an das originär schöpferische Genie, das per definitionem niemals kopiert. „Darin ist jedermann einig, daß Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen sei“21, schreibt Kant in der KRITIK DER

18 Bury: Philobiblon, Oxford (1960), S.  18, zit. n. Müller: Der Körper des Buchs. In: Gum-

brecht/Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, S. 209.

19 Regier: Quotology, S. xiv (mit Zitat aus Erasmus’ DE RATIONE STUDII). 20 Vgl. Blumenberg: Nachahmung der Natur. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische

Schriften, S. 9–46.

21 Kant: Werke in sechs Bänden, S. 407 (KdU, § 47).

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URTEILSKRAFT. Das Genie – in den Diskursen des 18. Jhs. oftmals tautologisch

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Gegenbegriffe  kopieren

als ‚Original-Genie‘ tituliert – ist jederzeit bestrebt, nicht nachzuahmen, was mit der fortschreitenden Entwicklung der Kultur als immer schwieriger gelten muss. Youngs in Deutschland besonders einflussreiche CONJECTURES ON ORIGINAL COMPOSITION ordnen das ‚Original‘ der Natur zu und die ‚Kopie‘ der Kultur – und können dadurch im Geiste Rousseaus die Eingliederung des Individuums in eine Kultur als Verfallsgeschichte von Originalität bestimmen: „Wir sind Originale bey unserer Geburt: denn nicht zwey Gesichter, nicht zwo Seelen sind einander ähnlich […], wie kommt es, daß wir als Copieen sterben?“22 Im Rahmen der Genieästhetik sind die Autoren der Moderne gezwungen, ihre Einbindung in literarische Traditionen zu leugnen, um die Originalität ihrer Gedanken zu behaupten. Harold Bloom hat diese Zwangsstruktur als „Einflussangst“ beschrieben und als die Quelle einer neuartigen „Melancholie des schöpferischen Geistes“23 ausgemacht. Von hier aus erscheinen die Genieästhetik des ausgehenden 18. Jhs. einerseits, die Samplingkultur im späten 20. und die des copy & paste im 21. Jh. andererseits von entgegengesetztem Einfluss auf die Semantik des Kopierens, das einmal als Grundverfehlung der Idee schöpferischer Produktivität bewertet wird, das andere Mal als Grundverfahren produktiver Reorganisation und der Emergenz von Wissen aus dem Zitatespiel und der Idee synchroner Verfügbarkeit (Kopierbarkeit) von Wissensbeständen im Internet und in digitalen Datenbanken. Wenig verwunderlich ist es von hier aus, dass der Begriff der Kopie wie auch der Vorgang des Kopierens in der Medienwissenschaft der letzten Jahrzehnte geradezu als Gegenbewegung zur Persistenz des ‚Originalen‘ bedeutsam geworden ist. Friedrich Kittlers technischer Medienbegriff ist hierin instruktiv, denn wenn mit Kittler Informations- und Kommunikationssysteme generell für die „Speicherung, Verarbeitung und Übertragung von Nachrichten optimiert“24 sind, dann bezeichnet der Begriff des ‚Kopierens‘ (als ein mögliches Synonym für Speichern, aber auch für bestimmte Prozesse der Verarbeitung und Übertragung) wesentliche Momente von Medialität 22 Young: Ueber den Geist der Originalwerke, S. 34. 23 Bloom: Einfluss-Angst, S. 15f. 24 Kittler: Geschichte der Kommunikationsmedien. In: Huber/Müller (Hrsg.): Raum und Ver-

fahren, S. 170.

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Perspektiven  kopieren

überhaupt. Kein Medium wäre dann ohne einen Moment des Kopierens denkbar. Das gilt selbst für Medien, die auf den ersten Blick reine Kommunikationsmedien sind: Die Speicherzeit des Telefons nimmt jene Bruchteile von Sekunden in Anspruch, die zur Umwandlung akustischer in elektrische Signale benötigt werden.25 PERSPEKTIVEN  Unter den Bedingungen technischer Vervielfältigungsmaschinen sind die Grenzen der Tätigkeit wie des Begriffs des Kopierens nur schwer zu bestimmen. Bezogen auf Handschriften kann das Abschreiben als eine Tätigkeit des Kopierens verstanden werden. Der Begriff des Nachahmens – der Imitatio – käme für den Bereich der Kunstlehre dazu. Insofern man allerdings (im 18. Jh.) nicht zuletzt die Natur ‚nachahmen‘ wollte, gab es auch die Bezeichnung ‚nach der Natur kopieren‘ für bildliches (oder übertragen: literarisches) Darstellen überhaupt. Das Plagiat – aktuell unter der Begrifflichkeit copy & paste26 diskutiert – bezeichnet eine seit der Erfindung des ‚geistigen Eigentums‘ illegitime Form des Kopierens (nicht mehr ‚nach der Natur‘, sondern ‚nach‘ einem bereits existierenden Text). Im Unterschied dazu ist Zitieren eine Praxis des Kopierens, die als künstlerische Strategie wie auch als philologische Praxis legitimiert ist. Den rein reproduktiven Aspekt des Kopierens umschreiben Begriffe wie drucken, durchpausen, vervielfältigen. Einen wesentlichen Einschnitt in der Mediengeschichte des Kopierens stellt die Digitalisierung des Schreibens dar, die mit den 1980er Jahren (Ausbreitung von PC-Interfaces und -Tastaturen als üblichem Schreibinstrumentarium) vollzogen war. Die analoge Form textueller Kopiertätigkeit ist zunächst durch eine gewisse Mühsamkeit sowie eine recht hohe Fehleranfälligkeit charakterisiert. Abgrenzungen des Zeitalters der Handschriften von dem der Typoskripte in der ersten Hälfte des 20. Jhs. resümieren diese Semantiken des ‚Handwerklichen‘ und der ‚Mühe‘.

25 Vgl. Knape: The Medium is the Massage? In: Ders. (Hrsg.): Medienrhetorik, S. 21. 26 Das engl. paste (= kleben, ankleben, einfügen) leitet sich mittelbar vom italienischen pasta

(= Teig) ab – offenbar mit der gleichen semantischen Verschiebung wie im deutschen „Pastete“. Das Teiggericht und die Gattung des pasticcio (bzw. Pastiche) sind damit etymologisch eng verwandt [vgl. Steltz: Wer mit wem abrechnet. In: Geisenshanslüke/ders. (Hrsg.): Unfinished Business, S. 55].

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FORSCHUNG  Der Diskurs des Kopierens ordnet sich durch die sukzessive

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Forschung  kopieren

Digitalisierung des kulturellen Gedächtnisses seit den 1980er Jahren. Die Unterscheidung zwischen ‚Original‘ und ‚Kopie‘ kann im Fall einer digitalen Datei nicht mehr wirksam getroffen werden: Im ‚Inneren‘ eines PCs, das dem Blick eines Users entzogen ist, ist alles Kopie, selbst die sichtbare Schrift auf der Oberfläche des Bildschirms ist nur die visualisierende Verdopplung eines Programmcodes.27 Damit ist die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen ‚originalem‘ Schreiben, ‚zitierender‘ geistiger Übernahme und ‚kopierender‘ materieller Vervielfältigung strukturell kompliziert geworden. Daraus kann nicht gefolgert werden, dass alle Texte Plagiate und nichts als Kopien sind. Auch die These, dass allein die Entwicklung der digitalen Textverarbeitungsprogramme copy & paste und des Internets die gegenwärtige „Krise des geistigen Eigentums“28 zu verantworten hätte, ist wohl kaum vertretbar. Aus der Ubiquität des Kopierens im digitalen Zeitalter folgt lediglich: Es gibt keine ‚objektiven‘ Kopien, keine ‚objektiven‘ Plagiate. Das ist den ‚Plagiatsjägern‘ entgegenzuhalten, die dem naiven Glauben an eine quasi-naturwissenschaftliche Quantifizierbarkeit von textuellen Übernahmen anhängen. Als Kehrseite tritt hiermit jedoch auch der Einfluss von Medienpraktiken des Kopierens auf das (wissenschaftliche) Schreiben hervor, der nicht nur in seinen juristischen Konsequenzen bedeutsam sein kann, sondern zunächst in seinen Effekten für die Produktion von Wissen und für die Konzeption von ‚Text‘.29 Indem er die Unterscheidungen von aktiv und passiv, von originär und sekundär intern gleichwertig verarbeitet, verändert der PC als digital codierte Kopier- und Rechenmaschine prinzipiell die Vorstellung von dem, was Mediengebrauch heißen kann. Auch wenn viel davon zu lesen ist, dass die Gegenwart des 21. Jhs. eine Blütezeit des Kopierens sei, hat das digitale Zeitalter somit das Konzept der Kopie – als von einem ‚Original‘ unterscheidbare Vervielfältigung – verabschiedet.

27 Vgl. Theisohn: Plagiat, S. 532: „Die materielle Basis, über die wir verhandeln, wenn wir vom

Computer reden, gibt demnach im Grunde kein ‚geistiges Eigentum‘ mehr her – und damit auch keine Plagiatsoptionen.“ 28 Vgl. Haedicke: Patente und Piraten. 29 Vgl. Theisohn: Literarisches Eigentum, S. 26.

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381

KRITZELN FRIEDRICH WELTZIEN

ANEKDOTE  „Balzac soll immer längere Zeit herumgekritzelt haben, bevor die

Anekdote  kritzeln

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richtigen Gedanken kamen.“1 Auch der Maler und Grafiker Adolf Hölzel, einer der Wegbereiter der Abstraktion zu Beginn des 20. Jhs., pflegte zur Lösung von Kompositionsproblemen oder zur Formfindung mit Bleistift zahllose Blätter vollzukritzeln. Seine Schülerin Margot Boger-Langhammer schildert eine Begegnung von 1929: „Er wies auf die eintönig bekritzelten Blätter und sagte: ‚jeden Morgen vor Tagesbeginn, ganz im Zustand des innersten Selbstseins und der Traumnähe, dem Unbewußten verhaftet […] noch unberührt im inneren Gefilde, strichle ich ganz ungeführt mit geschlossenen Augen Linien auf kleine Blätter.‘“2 Später, dann ganz wach, ‚entziffert‘ er das Gekritzel und paust jene Lineaturen und Strukturen durch, die er zur Weiterbearbeitung nutzen will. Knapp 50 Jahre zuvor, im August 1881, identifiziert sich Friedrich Nietzsche mit Kritzeleien: „Ich selber als Ganzes komme mir so oft wie der Krikelkrakel vor, den eine unbekannte Macht über’s Papier zieht, um eine neue Feder zu probiren.“3 Im Jahr darauf erscheint in DIE FRÖHLICHE WISSENSCHAFT ein Gedicht des Philosophen, das mit den Zeilen beginnt: „Die Feder kritzelt: Hölle das!/ Bin ich verdammt zum Kritzeln-Müssen?“ und mit dem Resümee endet: „Was tuts? Wer liest denn, was ich schreibe?“4 Zur gleichen Zeit schafft sich der Philosoph, der Probleme mit den Augen hatte, eine Schreibmaschine an und tippt auf ihr in einem Brief an Heinrich Köselitz jenen berühmt gewordenen Satz zum Mediengebrauch: „Sie haben recht – unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“ Köselitz hatte bemerkt, „dass meine ‚Gedanken‘ in der Musik und in der Sprache oft von der Qualität der Feder und des Papiers abhängen.“5

1 Bayer (Hrsg.): Adolf Hölzel, S. 28. 2 Boger-Langhammer: Adolf Hölzel, o.S.; zu Hölzels Kritzeltechnik vgl. Weltzien: Adolf

­Hölzel. In: Wagner/Leistner (Hrsg.): Vision Farbe, S. 125–155.

3 An Peter Gast. In: Nietzsche: Sämtliche Briefe, Bd. 6, Nr. 143, S. 121, zit. n. Driesen et al.:

Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Über Kritzeln, S. 12.

4 Nietzsche: Schreibmaschinentexte; Günzel: Nietzsches Schreibmaschinentexte. In: Kopij/

Kunicki (Hrsg.): Nietzsche und Schopenhauer, S. 413–430.

5 Ebd.

382

Beide Begriffe vom Kritzeln sind eng mit einem medialen Gebrauch verknüpft. Nietzsche erkennt die Relevanz des Umstands, welches Medium wie gebraucht wird, im Hinblick auf die Formung der Gedanken. Dabei erscheint das Kritzeln als eine dysfunktionale, störende Interaktion des Mediums, die gleichwohl produktiv und irreduzibel ist. Im Falle Hölzels meint das Kritzeln hingegen positiv besetzt eine intendierte grafische Zeichentechnik, eine Strategie der Bildfindung. Beide Male erzwingt das Kritzeln Momente des Unbewussten, des Kontrollverlusts und des Nichtintentionalen, einmal verwünscht, einmal gesucht. ETYMOLOGIE Kritzeln ist wahrscheinlich lautmalerischen Ursprungs, mit

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Kontexte  kritzeln

Verwandtschaft zu kratzen und kitzeln, also die Bezeichnung einer Körpermotorik, aber mit negativem Tenor.6 Das lässt sich auch am engl. ‚doodle‘ zeigen (Bedeutungskontext des ‚Närrischen‘, ähnlich auch ‚scribble‘, ‚squiggle‘), und am lat. ‚illinere‘ (mit Bedeutungsnähe zum ‚durchstreichen‘), weniger deutlich im frz. ‚griffonner‘ und ital. ‚scarabocchiare‘.7 Es gibt Verbindungen zu ritzen und einkerben als Formen des ziffernlosen Zählens und alphabetlosen Zeichenmachens.8 Im Sinne von kratzen/einritzen mit dem griech. ‚graphein‘ verwandt. Verwandte Praktiken: sudeln, schmieren, klecksen, kleckern, (ver-) sauen, krakeln, klieren, hinhauen.9 KONTEXTE  Auf das Schreiben und Zeichnen bezogen ist der pejorative Cha-

rakter bis heute vorherrschend und wird seit dem 17. Jh. terminologisch v. a. im Sinne eines fehlgeschlagenen Vorgangs der Zeichenproduktion benutzt, verknüpft mit Wertungen der Unleserlichkeit und Hässlichkeit, der Nachlässigkeit und Schnelligkeit, des Mangels, der Primitivität, des Anzüglichen/Vulgären und der Subversion. Heute insbesondere mit Zuständen der Langeweile, der Nervosität oder der Unaufmerksamkeit (z. B. während des Telefonierens) assoziiert.10 6 7 8 9

Vgl. (Art.) kritzeln. In: DWDS online. Unter: http://www.dwds.de/ [aufgerufen am 16.09.2013]. Vgl. (Art.) kritzeln. In: Kluge, S. 420. Vgl. (Art.) Kritz bis Kritzpossen. In: Grimm, Sp. 2341–2347. Vgl. (Art.) kritzeln. In: Projekt Deutscher Wortschatz. Unter: http://wortschatz.uni-leipzig. de/ [aufgerufen am 16.09.2013]. 10 Vgl. Bippus: Skizzen und Gekritzel. In: Hessler/Mersch (Hrsg.): Logik des Bildlichen, S. 76–93.

383

Kontexte  kritzeln

Die Verwendungskontexte, wie sie in deutschen Wörterbüchern aufgeführt werden, funktionieren damit primär distinktiv, indem die eigene Handlungsweise von unkonzentrierten/ungebildeten/unmenschlichen Praktiken abgegrenzt wird. Kritzeln meint dann meist eine verständnislose Nachahmung von Zeichen, ihre noch nicht beherrschten Vorformen, ihre Verhöhnung oder absichtsvolle Auslöschung durch Überkritzeln. Folgt man der Tätigkeit des Kritzelns mit Fokus auf einen spezifischen Mediengebrauch, so lassen sich besonders in Diskursen der künstlerischen Produktion als auch in theoretischen Fantasie-Diskursen Quellen der produktiven Dimension des Kritzelns finden. Das Kritzeln kann als eine Form des Mediengebrauchs definiert werden, das sich sowohl in der Text- wie in der Bildproduktion findet. Es handelt sich zumeist um die Herstellung von linearen Graphismen, die weder Schrift noch Bild sind und dennoch Momente von beidem beinhalten. Die Fähigkeit zu kritzeln, besteht darin, aus Zeichencodes auszusteigen oder gar nicht erst eingestiegen zu sein, was beispielsweise für Kinder, Wilde, Illiterate, Geisteskranke, Kriminelle oder auch Tiere (z. B. Affen) geltend gemacht wird. Kritzeln kann vor, nach oder jenseits der Zeichenproduktion angesiedelt sein, eine Vorform oder eine Durchstreichung oder eine Hybridisierung von Schrift respektive Bild darstellen.11 Kritzeln ist eine unbewusste, nichtkonventionalisierte Ausdrucksform, das Kritzeln hinterlässt eine Spur körperlicher Gestik, ist Kennzeichen einer unkommunikativen Autonomie respektive Selbstgenügsamkeit oder Symptom eines Fehlverhaltens (etwa mit einem Zeicheninstrument zu schreiben oder mit einem Schreibinstrument zu zeichnen). In dieser Überforderung jeder Semiose kann das Kritzeln jedoch abseits einer Defizitmarkierung Verweischarakter annehmen, indem eben auf dieses Jenseits des Zeichens gedeutet wird. Der Weg vom Kritzeln zur vollendeten Zeichenproduktion führt über dauerhafte Übung. Es gibt keinen plötzlichen Sprung vom Kritzeln zur Zeichenproduktion (oder umgekehrt), die Gebräuche bezeichnen vielmehr Extrempunkte eines breiten Feldes von Übergängen, in dem es keine Orte der Reinheit

11 Vgl. Driesen et al.: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Über Kritzeln, S. 7–12.

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gibt: Eine totale Kritzelei ist ebenso undenkbar wie keine Zeichenproduktion völlig frei vom Kritzeln ist. Auch der umgekehrte Weg, etwa bei Verlust von Augenlicht, motorischen oder geistigen Fähigkeiten, lässt sich als Bewegung in diesem Feld beschreiben. KONJUNKTUREN  Wo immer geschrieben und gezeichnet wird, hat auch

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Konjunkturen  kritzeln

das Kritzeln Konjunktur. Dies lässt sich vermutlich weltweit für alle Kulturen mit grafischen Notationssystemen belegen. Es finden sich prähistorische gekritzelte Ritzungen und Höhlenbilder, gekritzelte Papyri (z.T. mit Korrekturen eines Lehrers versehen), griechische Ostraka und beleidigende Kritzeleien auf Keramik aus allen Phasen der Antike, pompejische Graffiti, mittelalterliche Randzeichnungen in Kodices und Büchern etc. Eine erste Konjunktur einer theoretischen Reflexion auf die Praxis des Kritzelns ist im Abendland womöglich in neoplatonischen Phantasia-Diskursen im 1. Jh. n. Chr. zu entdecken. Im Mittelalter lässt sich beispielsweise in der Groteske-Kritik des Bernhard von Clairvaux’ (um 1100) eine Verurteilung des Kritzelns sehen. Eine Aufwertung des Kritzelns findet in der Renaissance etwa bei Giorgio Vasari und Leonardo da Vinci statt, die unwillkürliche Markierungen als Quellen der künstlerischen Inspiration loben.12 Im 18. Jh. wird die kreative Potenz des Kritzelns im Zusammenhang mit Karikatur und Arabeske bedeutsam. Alexander Cozens nutzt sie pädagogisch in seiner Zeichentechnik des ‚blottings‘.13 Immanuel Kant diskutiert die Herausforderung des Geschmacksurteils im Vergleich der Schönheit an einem „kritzlichen Umrisse“ zu geometrischen Formen.14 Ansätze finden sich auch bei Laurence Sterne15 oder William Hogarth im Zusammenhang mit der Ausdruckskraft der Linie. Joseph Gall oder Johann Caspar Lavater beziehen diese Diskurse auch auf die Physiologie: „Der Nervengeist des Menschen, der überhaupt die Plastik des Körpers bildet, geht nicht

12 Vgl. Wittmann: Art Criticism Scribbled, around 1500. In: Les Enfants Terribles, S. 28–41;

Weltzien: Fleck.

13 Vgl. Lebensztejn: L’art de la tache. 14 Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft. In: Ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. V, S. 324. 15 Jehle: Forma moralis.

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Konjunkturen  kritzeln

in diesen kunstgerechten Linien, sondern oft in einem Zickzack, wodurch erst der Geist des Individuums sich ausspricht.“16 Die Romantik, etwa bei Novalis, problematisiert im Naturzeichen das Verhältnis von Sichtbarkeit und Lesbarkeit und versteht Kritzeln als Produktion unbekannter oder individueller Alphabete. In Honoré de Balzacs Erzählung CHEF-D’ŒUVRE INCONNU von 1831 kann der Maler Frenhofer nicht mehr aufhören weiter zu malen, bis alles zugekritzelt ist: ‚un mur de peinture‘. Auch Gottfried Kellers glückloser Kunstmaler in DER GRÜNE 17 HEINRICH von 1855 kritzelt allenthalben. Rodolphe Töpffer entwickelt in den 30er Jahren comicartige Bildergeschichten und eine Theorie des Kritzelns.18 Bei Justinus Kerner, Franz von Pocci, Wilhelm Kaulbach, Victor Hugo und anderen wird um die Mitte des 19. Jhs. dem unwillkürlichen Zeichen in Tintenklecksen19 eine hohe Valorisierung als „embryonische Form“ zuteil, deren „Rohheit“ als „Überschwang gärender Produktivkraft“ gedeutet wird.20 Gegen Ende des 19. Jhs. kommt bei Psychologen wie Hermann Rorschach und anderen eine diagnostische Lesart hinzu. Darüber hinaus erkennen Emil Kraepelin, Hans Prinzhorn, Leo Navratil und andere den therapeutischen Wert des ungeschulten Zeichnens an und weisen auf die vermeintlich authentisch ästhetische Kraft unakademischer Lineaturen hin. In der Kinderpsychologie und der Pädagogik hat der Mediengebrauch des Kritzelns um 1900 Hochkonjunktur, insbesondere innerhalb psychoanalytischer Konzeptionen, etwa von Melanie Klein, und wird von Fritz Mohr oder Donald W. Winnicott

16 Justinus Kerner im Juni 1854 zit. n. Braun: Zwei bisher unbekannte Briefe von Justinus Ker-

ner an Ottilie Wildermuth über das Sehen, die Photographie und die Kunst der Klecksographie. Unter: http://kops.ub.uni-konstanz.de/static/paech/zdm/beitrg/Braun/Braun.htm [aufgerufen am 20.08.2013]. 17 Vgl. Naumann: Von der Kunst, den „Grünen Heinrich“ zu lesen. In: Schweizer Monatshefte, S. 46–49; Dies.: Die „kolossale Kritzelei“, der „borghesische Fechter“ und andere Versuche. In: Groddeck (Hrsg.): Der grüne Heinrich, S. 159–200. 18 Vgl. Weltzien: Zig Zag. In: Driesen et al. (Hrsg.): Über Kritzeln, S. 147–164. 19 Vgl. Weltzien: Fleck. 20 Vgl. Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, S. 186.

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Konjunkturen  kritzeln

eingesetzt.21 Der Psychologe Wolfgang Grözinger beschreibt Kindergekritzel als ‚Atemfiguren‘.22 Künstler der modernen Avantgarde wie Rudolf Bauer sehen im Gekritzel Emotionen unmittelbar ausgedrückt wie ‚Unruhe, Zorn, Zweifel‘.23 Neben anderen kultivieren Adolf Hölzel, Friedrich Kiesler oder Hermann Finsterlin Kritzeltechniken in Bildender Kunst und Architektur.24 Im letzteren Fall wird das Gekritzel als eine Raumstruktur gelesen. Kritzeln dient als Referenz für verschiedene Konzeptionen der Abstraktion. Werner Hofmann stellt am Falle Wassily Kandinskys fest, dass die „Chaotik oder Vorläufigkeit“ beim Kritzeln „den Charakter des Offenen, Labilen, Vieldeutigen und Zusammenhanglosen“25 berge. Im Expressionismus, Dada und dem Surrealismus (écriture automatique) ist ebenfalls eine ausgeprägte Konjunktur festzustellen. Im Tachismus, besonders aber auch in verschiedenen Formen des Action Paintings, wird die gestische Spur der Körperbewegung als Form des Kritzelns ausagiert, was gelegentlich in die Nähe der Kalligrafie führt. Unterschiedliche Drogenexperimente (z. B. Walter Benjamin mit Cannabis, Henri Michaux mit Meskalin, Wols mit Alkohol)26 bemühen in den 30er und 40er Jahren des 20. Jhs. das Kritzeln als einen Weg der Befreiung aus ikonografischen und grammatikalischen Konventionen. In der Folge wird das Kritzeln in verschiedenen Subkulturen als Protestform gehandhabt, indem etwa auch Kleidung und öffentliche Wände als Zeichenträger eingesetzt werden. Die Punkbewegung kann sich hier auf Praktiken berufen, die in Guy Debords Situationismus erprobt worden waren.27

21 Vgl. Wittmann: Am Anfang. In: Weltzien (Hrsg.): Von selbst, S. 141–154; Wittmann: „Dra-

wing cure“. In: Dies. (Hrsg.): Spuren erzeugen, S. 109–144.

22 Vgl. Prinzhorn: Bildnerei der Geisteskranken; Krötzsch: Rhythmus und Form in der freien

Kindererziehung; Grözinger: Kinder kritzeln zeichnen malen.

23 Vgl. Bauer: Die kosmische Bewegung. In: Walden (Hrsg.): Expressionismus, S. 52–60; Drie-

sen: Die Kritzelei als Ereignis des Formlosen. In: Driesen et al. (Hrsg.): Über Kritzeln, S. 23–37; Bonnefoit: Die Linientheorien von Paul Klee. 24 Vgl. Weltzien: Adolf Hölzel. In: Wagner/Leistner (Hrsg.): Vision Farbe, S. 125–155; Haldemann (Hrsg.): Linea. 25 Hofmann: Kandinsky und Mondrian. In: I. Internationale der Zeichnung, S. 16. 26 Vgl. Schestag: „Diese Hand [...]“: Walter Benjamin kritzelt. In: Driesen et al. (Hrsg.): Über Kritzeln, S. 59–70. 27 Vgl. Greil: Lipstick Traces.

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Gegenbegriffe  kritzeln

Maurice Merleau-Ponty sieht im „Fieberwahn“ entstandene „Vielzahl verworrener Linien“ als Bild der „Vibration der Erscheinungen, die die Wiege der Dinge ist.“28 Roland Barthes leistet mit seiner Schrift zu Cy Twombly eine Theoretisierung des Kritzelns.29 Gilles Deleuze überdenkt am Beispiel von Francis Bacon Konzeptionen der ‚unwillkürlichen Markierung‘30, Carlo Ginzburg auf Basis von Jacques Derrida eine Kulturgeschichte des Spurenlesens.31 Das Kritzeln im Schreibprozess bezeichnet Michel Serres als „Kakographie“.32 DER AUFSTAND DER ZEICHEN von Jean Baudrillard liefert einen Ansatz für die Graffitikultur.33 Verschiedene aktuelle Formen der Street Art (z. B. tags) können in diesem Kontext verstanden werden. GEGENBEGRIFFE  Gegenbegrifflichkeiten sind schreiben, zeichnen sowie alle Praktiken und Gebrauchsformen, die abzielen auf Reinheit, Klarheit, Deutlichkeit, Monosemantik, Klassifikation, Kontrolle, Planbarkeit, Teleologie, Determinierung, Lesbarkeit, Erkennbarkeit, regelästhetische oder normierende Begriffe von Schönheit. PERSPEKTIVEN  Kritzeln als Kulturpraxis und Form des Mediengebrauchs unterläuft stets normative Vorgaben der Konventionalisierung, Standardisierung und Zweckgerichtetheit. Kritzeln hinterfragt, erweitert und sprengt die integralen „Programme“ (Vilém Flusser) eines Mediums. Der Mediengebrauch des Kritzelns fordert rigide Kategorien der Linie zwischen Bild, Schrift und Diagramm heraus.34 Kritzeln als Praxis ist insofern nicht nur subversiv gegenüber den genutzten Medien, sondern auch in Hinblick auf jene kulturwissenschaftlichen Theorien, die auf definierten Strukturen,

28 Merleau-Ponty: Der Zweifel Cézannes. In: Boehm (Hrsg.): Was ist ein Bild, S. 39–59. 29 Barthes: Cy Twombly. 30 Vgl. Deleuze: Francis Bacon. 31 Vgl. Ginzburg: Spurensicherungen; Derrida: SCRIBBLE. In: Warburton: Versuch über die

Hieroglyphen der Ägypter, S. VII–LV.

32 Vgl. Serres: Die Kommunikation. 33 Baudrillard: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. 34 Vgl. etwa Ludwig Wittgensteins Kritzelbegriff im Kontext der Medientheorie bei Mersch:

Visuelle Argumente. In: Maasen/Mayerhauser/Renggli (Hrsg.): Bilder als Diskurse – Bilddiskurse, S. 95–116.

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Wertesystemen, Ikonografien oder Semiotiken aufbauen. Insofern lassen sich auch entsprechende Denkbewegungen (‚wildes Denken‘, Claude Lévi-Strauss) als Kritzeln beschreiben. Kritzeln ist an die Körpermotorik gebunden. Mit einer Schreibmaschine oder einem Fotoapparat zu kritzeln erscheint insofern fraglich. Haptische Computeranwendungen (Touchscreens, Grafik-Tabletts, Computerspiele, die mit Bodyscans, GPS-Ortung oder Interaktivität funktionieren etc.) können in dem Fall als Instrumente des Kritzelns genutzt werden, wenn es gelingt, über deren Programm hinauszugehen. Grafiksoftware wie das Programm Alchemy35 versucht, bestimmte Charakteristika des Kritzelns in Anwendungen zu übersetzen.

diagnostischer, therapeutischer, pädagogischer oder wahrnehmungspsychologischer Hinsicht), in der Graphologie, der Literatur- und der Kunstwissenschaft, aber auch in der Wissenschaftsgeschichte sowie den Tanz- und Editionswissenschaften. Das Kritzeln kann eine Forschungsperspektive entwickeln, die über die Definition eines defizitären oder defekten Mediengebrauchs hinausgeht. Im Sinne einer subversiven Praxis bieten sich in den Medien-, Kunst- und Kulturwissenschaften zahlreiche Forschungsdesiderata, insofern das Kritzeln Kompetenzen der Mediengeschichte, Bildwissenschaften und Literaturwissenschaften gleichermaßen herausfordert und ohne deren transdisziplinäre Kombination nicht zu fassen ist. Darunter ließen sich intermediale Praktiken und Phänomene der Umnutzung, Zweckentfremdung oder des Hackens fassen. Die Comictheorie und Street-Art-Forschung fragt in der Kritzelpraxis nach den Möglichkeiten von Medienrevolutionen, die nicht an eine technische Innovation, sondern an einen innovativen Gebrauch gekoppelt sind.36 Aber auch für neue legitime Kommunikationsformen, etwa bei Text-BildHybriden (z. B. Icons, Logos, Emoticons etc. in der Nutzung netzbasierter ‚social media‘ wie chatten, posten, kommentieren, smsen etc.) bietet die Erforschung des Kritzelns neue Perspektiven. Darunter wären Fragen zu subsumieren:

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Forschung  kritzeln

FORSCHUNG Das Kritzeln ist Gegenstand psychologischer Forschung (in

35 Unter: http://al.chemy.org [aufgerufen am 24.04.2014]. 36 Vgl. Weltzien: Zig Zag. In: Driesen et al. (Hrsg.): Über Kritzeln, S. 147–164.

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Wie funktionieren mediale Legitimierungsstrategien, wie werden defizitäre Praktiken markiert? Wie ist (etwa in digitalen Medien) mit semiotisch offenen Strukturen umzugehen, wie ist sehen und lesen, erblicken und erkennen, Zeichenmachen und Spurenlesen miteinander verbunden? Kann Kritzeln im Sinne von Spuren-Theorien auch jenseits von händischer Praxis weitergedacht werden, beispielsweise in der Differenzierung von Apparat und Werkzeug? LITERATUREMPFEHLUNGEN Busch, Werner/Jehle, Oliver/Meister, Carolin (Hrsg.): Randgänge der Zeichnung,

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LESEN MATTHIAS BICKENBACH

Als ich den Beutel aufzog, fand ich ganz wider meine Erwartung, ein Buch in einem nicht glänzenden einfachen Bande. Die Sprache und Schrift desselben waren keine der bekannten […]. Alles was ich lesen konnte, waren die Worte auf dem Titelblatt: Dieses prüfe mein Sohn, aber chemisch, und sage mir was du gefunden hast. […] Wie? sprach ich zu mir selbst, ich soll den Inhalt eines Buchs chemisch untersuchen? Der Inhalt eines Buchs ist ja sein Sinn, und chemische Analyse wäre hier Analyse von Lumpen und Druckerschwärze. Als ich einen Augen­ blick nachdachte, wurde es auf einmal helle in meinem Kopf […]. O! rief ich lauter und lauter, Ich [sic!] verstehe, ich verstehe!1

Was das träumende Ich in Georg Christoph Lichtenbergs EIN TRAUM (1794) versteht, ist offenkundig, dass der rechte Umgang mit Büchern nur durch Sinnverstehen gewährleistet wird. Analyse ermöglicht als Zergliederung in Bestandteile exakte Kenntnisse, geht aber an Inhalt und Sinn vorbei. Ihr fehlt, wofür Lesen bis heute im Allgemeinen steht: die Synthese von Zeichen zu einem Zusammenhang, dessen Verständnis den Sinn des Lesens selbst angibt.2 Diese Gleichsetzung von Lesen und Verstehen ist jedoch in der hermeneu­ tischen Tradition der Interpretation zentriert. In ihr gilt Lektüre idealerweise als „vollkommene[r] Verstand“ in der „Anwendung des Buches“.3 In der späte­ ren „Hermeneutik der Goethezeit“4 wird gar der Geist des Autors zu verstehen gesucht. Andere Gebrauchsweisen des Lesens aber sind historisch wie prak­ tisch bekannt: Vorlesen, Korrekturlesen, Querlesen oder strukturale und post­ strukturalistische Lektüren. So zentral Sinnverstehen als Funktion des Lesens erscheint, es totalisiert einen Gebrauch, der andere Möglichkeiten vergisst.

lesen  Anekdote

ANEKDOTE 

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1 Lichtenberg: Ein Traum, S. 111. 2 Vgl. etwa Aust: Lesen; Frank: Was ist ein literarischer Text und was heißt es, ihn zu verstehen? 3 Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742),

§ 425, zit. n. Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 54ff.

4 Ebd., S. 139.

393

lesen  Etymologie

Bis heute gilt sinnverstehendes Lesen als Ziel von Leseerwerb und Litera­ turunterricht. Es ist die Normalform des Umgangs mit Schrift und Voraus­ setzung für Wissen und Unterhaltung. Dennoch steht es heute nicht mehr für den Zugang zur Welt schlechthin. Auch das zeigt Lichtenbergs Para­ bel auf. Denn Lesen ist dort nicht auf das Buch beschränkt. Im Kontext der „eigentliche[n] Lese-Epoche in Deutschland“5 und im Zeichen der Aufklä­ rung, die buchstäblich im Text erscheint („[a]ls ich […] nachdachte, wurde es auf einmal helle in meinem Kopf“6), zitiert Lichtenberg den Topos vom ‚Buch der Natur‘.7 Zunächst erhält der Erzähler in seinem Traum von Gott eine kleine Kugel, die er, scheinbar sachgemäß, chemisch analysiert. Er findet „nichts Sonderliches“, „Kalkerde und Kieselerde“, „Eisen und Kochsalz“.8 Als ihm eröffnet wird, dass er nichts weniger als die miniaturisierte „ganze Erde“ analysiert habe, ist die Bestürzung groß. Die Weltmeere und alle Bewohner habe er mit der Serviette „weggewischt“, die Schweiz und Teile Afrikas „völ­ lig ruiniert“.9 Die chemische Analyse der Welt erweist sich als Katastrophe und ebenso falsch wie im Fall des Buches. Ohne dass Lichtenberg Lesen im Text nennt, ist es dessen zentrale Figur, die ganz auf das „ich verstehe“ aus­ gerichtet ist und so erst die metaphorische Übertragung auf ein ‚Lesen‘ der Welt ermöglicht. Die Anwendung der Metapher zeigt dabei etwas, das Lesen und Verstehen vorausgeht: Lektüre ist weniger Rekonstruktion vorgegebener Inhalte, als Konstruktion von Zusammenhängen. Nur so kann auch die Welt ‚gelesen‘ werden. Erscheint Lektüre gemeinhin als (eher passive) Aufnahme von Information, ist die Aktivität der Konstruktion zu betonen. ETYMOLOGIE  Meist simpel als „den Sinn von Schriftzeichen erfassen“10 erklärt,

ist Lesen buchstäblich die Kunst, Zeichen zu versammeln und in einem Zusam­ menhang anzuordnen („auszulegen“). Die aller germ. wie rom. Begrifflichkeit 5 So um 1800 Jenisch: Geist und Charackter des 18. Jahrhunderts, S. 346. 6 Lichtenberg: Ein Traum, S. 111. 7 Zu den Figurationen des Topos Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Zum Lesen als philo­

sophischer Metapher vgl. Breidbach: Lesen.

8 Lichtenberg: Ein Traum, S. 109. 9 Ebd., S. 110. 10 (Art.) Lesen. In: DWDS. Unter: http://www.dwds.de/ [aufgerufen am 28.02.2014], vgl.

(Art.) Lesen. In: Wahrig (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch, S. 831.

394

lesen  Etymologie

gemeinsame Etymologie stammt vom lat. legere, das zunächst sammeln, auflesen, zusammenlesen bedeutet (vgl. Weinlese).11 Das Wort geht auf das griech. „legein“ zurück (auflesen, sammeln; ferner: sagen, erzählen), das mit „Lexis“ (Rede, Spra­ che) und „Logos“ (u. a. Geist) zusammenhängt (vgl. auch Lexikon, Katalog).12 Das frühe Griech. kennt zunächst jedoch noch keinen eigenen Begriff. Bei Platon u. a. wird Lesen noch als „anagnoskein“ (wiederkennen) bezeichnet.13 Als Lektion („lectio“) werden Vorlesung und Unterricht bezeichnet (vgl. Lektor, urspr. Vorleser), die „Legende“ meint das zu Lesende im Sinne einer Erklärung (etwa auf Karten) oder von tradierten Geschichten. Die jüngere Wortprägung „Lektüre“ steht im Zusammenhang mit dem Einfluss des Frz. Das buchstäbliche Zusammenlesen (colligere) als Sammlung von Zeichen in einem gemeinsamen Bezugsrahmen kann als allgemeinster Begriff gelten, der nicht nur für Sammelwerke Geltung besitzt (Kollektaneen, Antholo­ gie, von „anthos legein“, Blütenlese). Gelesen werden Spuren und Zeichen jeder Art: Tierspuren, Gesichtszüge (Physiognomie), Linien der Hand. In magischen Praktiken wurde der Vogelflug oder in Eingeweiden gelesen. Die Konstruktion des Zusammenhangs, die in magischen Praktiken als Auslegung der Kon­stellation betont ist, tritt in der Einschränkung des Lesens auf Schrift jedoch zurück. Aus dem Zusammenlesen und Deuten wird ein (lautes) Ablesen der Buchstaben. Damit geht eine entscheidende Veränderung der Wortbedeutung einher: Lesen wird zum Inbegriff des Nachvollzugs scheinbar fest vorgegebener Bedeutung und bedeutet das Verkünden im lauten Vorlesen bzw. die Erklärung, dessen, was die Schrift (zumal die Heilige Schrift) ‚sagt‘.14 Insgesamt hat sich die Vorstellung der Informationsaufnahme gegen die Wortbedeutung des Sammelns oder gar des Rätselns durchgesetzt. Nur die angelsächsische Etymologie von ‚to read‘ erinnert daran, dass Rätsel (riddle) und Lektüre zusammenhängen. ‚Raedelse‘ bedeutet ‚meinen, beschwören‘ (altengl. raedon, altdt. ratan:

L

11 (Art.) Lesen. In: Grimm, Bd. 12, Sp. 774f.; vgl. (Art.) Lesen. In: Kluge. Unter: http://www.archive.

org/stream/etymologisches00klug#page/246/mode/1up/search/lesen [aufgerufen am 28.02.2014].

12 Vgl. (Art.) Legein. In: Duden online. Unter: http://www.duden.de/ [aufgerufen am

28.02.2014].

13 Vgl. Chantraine: Les verbes grecs signifiant ‚lire‘. In: Mélanges Grégoire, S. 115–126. 14 Vgl. (Art.) Lesen. In: Grimm, Bd. 12, Sp. 777–779.

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lesen  Etymologie

nachdenken, überlegen). Reading und riddling gehen auf das lat. ‚reri‘ zurück (berechnen, denken, vgl. ‚reason‘). 15 Die Etymologien betonten insgesamt eher ‚ratende‘, denkende als nachvollziehende Tätigkeiten. Dies wird durch die Physiologie des Lesens bestätigt. Der Lesevorgang wird in die Begriffe Sakkade (Sprung) und Fixation (Pause) unterschieden. Lesen bedeutet komplexe neurologische Zuordnun­ gen der visuellen Wahrnehmung von Schriftzeichen zu Bedeutungseinhei­ ten in verschiedenen Hirnzentren. Alphabetisierung ist daher das Erler­ nen automatisierter Synthese von Buchstaben zu Bedeutungen. Das Auge liest jedoch weder Buchstabe für Buchstabe noch Wort für Wort, sondern springt auf bedeutungstragende Zusammenhänge der Schrift (Morpheme, Phoneme). Anders als technisches Scannen ist Lesen kein kontinuierliches Ablesen, sondern eine diskontinuierliche Aktivität des Auges in Sprüngen, die durch den engen Schärfebereich des Auges (der Fovea) bedingt sind. Fixationen sind minimale Pausen zwischen den Sakkaden, die auch RückSakkaden zur Vergewisserung einleiten können. Die Lesegeschwindigkeit ist durch Dehnung der Sakkaden steigerbar, hängt jedoch auch von der Komplexität der Texte sowie von der Sprachkompetenz des Lesers ab. An diese diskontinuierliche Sammlung von Zeichen, die extrem leistungsfä­ hig ist, weil sie Größenunterschiede der Typografie oder auch fehlende Buchstaben ignorieren kann (sog. Invarianz), schließen sich weitere neu­ rologische Verarbeitungsprozesse an, inneres oder äußeres Lautieren oder die Unterscheidung von Doppelbedeutungen im ‚mentalen Lexikon‘.16 Die Komplexität des Lesens wird von Etymologie und Alltagssprache nicht erfasst. Sprachlich unterscheiden nur Adjektive verschiedene Formen (still, laut, genau, flüchtig etc.) der historisch wie praktisch unterschiedlichen Verwendungen und Wandlungen. Sprachgeschichtlich hat etwa ‚überlesen‘ eine ältere Tradition, die es positiv als ‚durchlesen‘ und fleißiges Lesen fasst, während es heute eine oberflächliche Lektüre meint.17

15 Vgl. (Art.) Read. Unter: http://www.oxforddictionaries.com/definition/english/read [aufge­

rufen am 28.02.2014]. Die Etymologie wird nur am Ende angegeben, während die Standardde­ finition „to look at and understand the meaning of letters, words, symbols, etc.“ am Anfang steht. 16 Ausführlich Dehaene: Lesen, S. 21–68; Wolf: Das lesende Gehirn. 17 Vgl. (Art.) Überlesen. In: Grimm, Bd. 23, Sp. 393.

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anthropologisch im Menschen verankert ist, sondern im Kulturkontext als Zeichengebrauch erlernt werden muss. Schon das Lesen von Spuren auf der Jagd, setzt Erfahrung und Einübung voraus. Über den weiten Kontext des Lesens von Spuren hinaus, ist die Geschichte des Lesens an die Verbreitung und Funktionen von Schrift und Literatur in historischen Gesellschaften gebunden, in der Lese-Epochen und Leser-Typen unterschieden werden.18 Die Geschichte des Lesens steht in enger Relation zu der des Schreibens wie des Buches und wird meist durch herkömmliche Epocheneinteilun­ gen gegliedert: von der Antike über die Manuskriptkultur des Mittelalters zum Zeitalter des Buchdrucks bis zum Computer. Dabei sind empirische, sozialgeschichtliche Daten der Verbreitung des Lesens (Alphabetisierung, Buchmarkt) vom Wandel der Praktiken des Lesens und seinen Funktionen zu unterscheiden. Lektüre ist nicht auf Bücher beschränkt, doch die humanistische und neuhumanistische Lesekultur, die im Bildungsbürgertum weiterlebt, stiftet zwischen 1500 und 1800 eine enge Verbindung von Literatur, Hermeneu­ tik und Bildung, die vornehmlich auf das ‚gute Buch‘, auf Bibel und Klassi­ ker, ausgerichtet ist und das Lesen mit Werten wie Urteilskraft, Bildung und Verstehen verbindet.19 Lektüre ist hier wörtlich Kultur, die Pflege (cultura) der Überlieferung und Texte, die sorgfältig ediert und kommentiert werden. Dabei kommen Vorstellungen vom intimen Zwiegespräch mit großen Geis­ tern wie vom „EINDRINGEN IN DEN GEIST DER ALTEN“ zur Geltung, die es über den Nachvollzug von Inhalten hinaus als Bildung begreifen: „lectio transit in mores“ (Erasmus von Rotterdam).20 Nach dem Ende des „Gutenberg-Zeitalters“ und innerhalb der Medi­ enkonkurrenz audiovisueller Kommunikation bleibt Lesen elementare

lesen  Kontexte

KONTEXTE Lesen ist älter als die Schrift. Es ist eine Kulturtechnik, die nicht

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18 Vgl. Jäger: Historische Lese(r)forschung. Als Überblick vgl. Stein: Schriftkultur; Schön:

­Geschichte des Lesens; Cavallo/Chartier: Die Welt des Lesens.

19 Ein viel beachtetes Lob der Lesekultur bietet Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Umge­

kehrt klagen kulturkritische Positionen den Verlust der Werte durch elektronische Medien ein, vgl. Birkerts: Die Gutenberg Elegien. 20 Brogsitter: Das hohe Geistergespräch; Beetz: „In den Geist der Alten eindringen“. In: Rich­ ter/Schönert (Hrsg.): Klassik und Moderne. Zu Erasmus Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens, S. 113ff.

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lesen  Kontexte

Grundlage für den Zugang zur Informationsgesellschaft und ihren Bil­ dungschancen.21 Der Fokus kann heute jedoch nicht mehr nur auf dem ‚guten Buch‘ liegen. So sehr Verstehen als Ziel des Lesens im Zentrum von Leseerwerb und Literaturunterricht stehen, ist die Haltung des stillen kon­ zentrierten Durchlesens, die das Gelesene zur Bildung der eigenen Person aufnimmt, eine Sonderkompetenz. Neben Unterhaltungslektüre zur Ent­ spannung stehen Funktionen der Informationssuche (nachlesen) im Vorder­ grund, die vom Paradigma des aufmerksamen, gar wiederholten Durchlesens aus allzu leicht als oberflächlich abqualifiziert werden. Die kulturkritische Gleichung von „print culture“ (= Aufmerksamkeit) und „screen culture“ (= Zerstreuung) funktioniert jedoch nur ideologisch und ist historisch naiv. Gerade in der jüngsten Medienevolution, in der Smartphones, E-Books und Tablet-PCs zusammen mit gewaltigen Internet-Ressourcen aktueller wie historischer Texten eine exzellente visuelle Lesbarkeit bei völliger Flexi­ bilität ermöglichen, werden Lektüren zwischen ‚schmökern‘ und ‚studieren‘ auch am (portablen) Bildschirm möglich. Dass man am Monitor nur kürzere Texte lese, ist bereits Mediengeschichte.22 Die Konvergenz von Bildschirm und Buch lassen die Worte des römischen Dichters Martial auf den ‚second screen‘ anwenden: „Der du immer zur Hand willst haben, was ich gedichtet, nicht willst missen du es, wo auch du reist oder bleibst. Kauf es in kleinem Format, in dem handlichen Hefte aus Tierhaut! Rollen im Hüllenschutz ruhn – mich hast du stets in der Hand.“23 Die Hefte aus Tierhaut meinen die damals neue Form des Buches, wie wir es noch kennen: den Kodex im Unterschied zur Buchrolle. Längst aber hat sich die Materialität des Kodex als Argument gegen ihn gewendet. Warum Bücher in den Urlaub mitneh­ men, wenn E-Books ganze Bibliotheken speichern?24

21 Vgl. etwa Bonfadelli: Leser und Leseverhalten heute. In: Franzmann et al. (Hrsg.): Hand­

buch Lesen.

22 Zur Lektüre am (älteren) Monitor des PC vgl. Ziefle: Lesen am Bildschirm. 23 Martial: Epigramme 1, 2. 24 Vgl. Schmundt: Gutenbergs neue Galaxis. Das nur als E-Book erhältliche Buch geht auf eine

Artikelserie Schmundts in Der Spiegel zurück. Bibliophile Gegenargumente werden widerlegt und die praktischen wie ökonomischen Vorteile aufzeigt. Dass das „Buchleseverhalten“ sich ver­ ändert und „fluider“ werde, d. h. mehr Texte durcheinander rezipiert werden, sieht Schmundt als Vorteil (E-Books kennen aufgrund des „reflowable text“ keine Seitenzahlen).

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lesen  Kontexte

Die Zukunft des Lesens am Handy hat inzwischen einen populären Dis­ kurs über den Unterschied zwischen gedruckten und elektronischen Texten in den Hintergrund treten lassen. Mit dem Begriff Hypertext wurde in den 1990er Jahren die hierarchische Linerarität des Buches gegen die Vernetzung digitaler Texte ausgespielt.25 Doch auch wenn Hyperlinks Netze von Bezügen bieten, in denen Leser individuell navigieren, bleibt Lesen an die Konstitu­ tion eines Zusammenhangs gebunden. Der Sprung des Links kann nicht nur Erweiterung sondern auch Unterbrechung und Störung des Leseflusses sein. Die Euphorie vom Hypertext als selbstbestimmter Navigation durch Infor­ mationsfluten findet am Zusammenlesen eines Zusammenhangs seine kriti­ sche Grenze. Der Mediengebrauch des Internets erfordert (und fördert) daher hohe Kompetenzen, die als hypertextuell navigierende Lektüre heute ebenso Beobachtung finden sollte wie der konzentrierte Nachvollzug im ‚guten Buch‘. Lesen kann unterschiedliche Funktionen erfüllen: Unterhaltung, Wissens­ erwerb oder schnelle Informationsaneignung sowie pragmatische Schriftkom­ munikation (Brief, SMS, E-Mail). In der fiktionalen Literatur kann man das Lob des Lesens als ‚Lesetraum‘ finden, die der ‚Immersion‘, dem Eintauchen in fremde Welten der virtuellen Realität, in nichts nachstehen. Der Leser ‚versinkt‘ in der Lektüre, ist emotional und geistig gebunden. Dass diese Illu­ sionswirkung einer ästhetischen Erfahrung fremder Welten eine Kehrseite hat, wird als ‚Lesesucht‘ schon im 18. Jh. thematisiert.26 Die emphatische und identifikatorische Lesehaltung ist historisch mit der Erfolgsgeschichte des Romans im 18. Jh. verbunden und steht dem gelehrten Lesen, aber auch ande­ ren ästhetischen Erfahrungen wie der performativen Aufführung des Textes durch Artikulation gegenüber. Neben emotionalen Funktionen (Identifikation, Spannung, Vergnügen) kann Lesen auch Arbeit am Text bedeuten: Studium als wiederholende, kri­ tische und reflexive Lektüre. Das Ideal des akribisch genauen Lesens hat die Philologie entwickelt (vgl. historisch-kritische Werkausgabe).27 Diesem Ideal der langsamen Lektüre, die cum cura (mit Sorgfalt) liest, stehen einerseits

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25 Vgl. Landow: Hypertext. 26 Vgl. Kreutzer: Gefährliche Lesesucht? 27 Vgl. Wegmann: Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen?

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lesen  Konjunkturen

Kulturen des lauten Lesens in Antike und Mittelalter sowie andererseits Kulturen der beschleunigten Lektüre seit dem 18. Jh. gegenüber. Querlesen oder aber „brutale Lektüre“, die nur die Stellen fokussiert, die gerade inte­ ressieren, sind weitere Anwendungen, die nicht nur für Zeitungslektüre oder im Internet zur Geltung kommen.28 Gerade das Surfen im Internet könnte als strategisches Quer- und Stellenlesen, um schnell und effektiv auszuwählen, was gründlich sich anzueignen lohnt, zu einer aktuellen Reflexion des Lesens als Mediengebrauch anregen.29 KONJUNKTUREN  Seit der Entstehung der frühen Hochkulturen (Sumerer, Phönizier, Ägypter, ca. 3500–1200 v. Chr.) übernimmt die Schrift Funktionen der Speicherung von Information (Inventarlisten, Gesetze, Chroniken). Erst das griech. Alphabet aber ermöglicht eine nicht nur auf Spezialisten ausge­ richtete Lesekultur. Aufgrund der geringen Zeichenzahl des Alphabets ist das Erlernen des Schriftgebrauchs wesentlich leichter, als es für die vielen hundert Zeichen der Silbenschriften der Fall war. Durch die ‚Revolution‘ des phonetischen Alphabets nähert die griech. Schrift sich zudem dem Sprechen an und schafft eine Medienkonvergenz von Oralität und Literalität.30 Lesen wird zum Sprechen bzw. der Buchstabe selbst „spricht“ (littera sonat): der Leser verleiht ihm eine Stimme.31 Im antiken Griechenland entsteht so eine Lesekultur, die mündliche Erzählungen und Mythologie verschriftet und Lek­ türe (auch für sich selbst) mit laut Lesen gleichsetzt. Euripides kann in einem Drama 428 v. Chr. die stille Lektüre eines Briefes als dramatischen Effekt für Handlung und Publikum zugleich nutzen.32 Stand für Platons Sokrates noch die mündliche Unterweisung im Vor­ dergrund, um wahres Wissen zu erlangen und stellt Platon im PHAIDROS die Schrift als gefährliches Medium dar, weil es unsicheres Wissen verbreitet,33 so

28 Vgl. Stanitzek: Brutale Lektüre „um 1800“ (heute). 29 Vgl. Bickenbach/Maye: Metapher Internet. 30 Zur Übersicht Stein: Schrifkulturen, S. 15–74; zum Übergang von Oralität zur Literalität vgl.

Havelock: Als die Muse schreiben lernte.

31 Vgl. Svenbro: Phrasikleia. 32 Vgl. Havelock: Als die Muse schreiben lernte, S. 10f. 33 Vgl. Platon: Phaidros, 275.

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lesen  Konjunkturen

gilt seit Aristoteles das Nachlesen als Voraussetzung für Wissen und Wissens­ produktion. Eine Meinung (doxa) muss durch Vergleich mit Aussagen von Autoritäten gestützt und so in Wissen (episteme) überführt werden.34 Anweisungen zur „Kunst des Lesens“ finden sich zunächst nur in ver­ einzelten Bemerkungen innerhalb rhetorischer und philosophischer Texte (Seneca, Quintilian, Plutarch) und im Kontext der Bibelexegese. Die Pra­ xis der Lektüre wird innerhalb von Expertenkulturen gepflegt (Scriptorien, Bibliotheken, Klöster). Der Leseunterricht vermittelt nur Grundkenntnisse und ist bis um 1800 auf Sprach- und Stilvermittlung ausgerichtet. Schüler lesen nicht, um Inhalte zu verstehen, sondern um an vorbildlichen Schriften zu lernen, wie grammatische, rhetorische und stilistische Figuren nachge­ ahmt werden.35 Im Kontext der Kommentar-Literatur seit der frühen Philologie in Alex­ andria und der Bibelexegese gibt der ‚Accessus‘ (Zugang zum Autor) als Ein­ leitung Anweisungen, wie Werke zu lesen sind, orientiert an Gattung, Autor und Stoff. In der Bibelexegese wird die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, also der Unterscheidung zwischen buchstäblicher und übertragener Bedeu­ tung relevant (metaphorisch, allegorisch, heilsgeschichtlich). Neben dieser geistigen Auslegung stehen jedoch bis ins hohe Mittelalter Praktiken lauten Lesens im Vordergrund: singende oder murmelnde Rezitation der Bibel für sich selbst (ruminatio), autoritatives Vortragen oder soziale Kommunikation durch öffentliches Verlesen von Bekanntmachungen.36 Nach dem Buchdruck und im Kontext der Universitäten geben LectioLehren und sog. Hodegetiken Regeln zum Studium an die Hand, in denen Ratschläge wie „voller Bauch studiert nicht gut“ neben Anweisungen v. a. zur Auswahl des Lektürestoffs stehen (z. B. Geschichte statt Dichtung). Erst gegen Ende des 18. Jhs. wird Lesen zu einem öffentlichen Diskurs. Ein allgemeines bürgerliches Lesepublikum entsteht, in Romanen treten Figuren auf, die als

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34 Vgl. Aristoteles: Topik, 14, 105. 35 Vgl. Goebelbecker: Entwicklungsgeschichte des ersten Leseunterrichts von 1477–1932;

Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts […] vom Ausgang des Mittelalters bis auf die Gegenwart. 36 Vgl. Zedelmaier: (Art.) Lesen, Lesegewohnheiten im MA. In: Bautier/Auty (Hrsg.): Lexi­ kon des Mittelalters, S. 1908f.

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lesen  Konjunkturen

Leser bestimmter Literatur mit bestimmter Weltsicht charakterisiert sind.37 Im Kontext der Reformpädagogik werden nun Erstlesemethoden (Buchsta­ bier- vs. Ganzwortmethode) reflektiert und die Motivation, zu lesen, disku­ tiert. Der Kant-Schüler J. A. Bergk publiziert 1799 DIE KUNST, BÜCHER ZU 38 LESEN und schließt lautes Lesen zugunsten des Verstehens aus. Dass damit ältere Lektürepraktiken in Vergessenheit geraten, folgert C. M. Wieland aus einer Bemerkung in Lukians antiker Satire DER UNGEBILDETE BÜCHERNARR. Dieser könne gar nicht (richtig) lesen, weil seine Augen immer den Lippen vorauslaufen.39 Laute Lektüre gab demnach das Maß des Lesetempos für das Verstehen an: Hören, Lesen und Verstehen bedingen damals einander.40 In der Leseforschung wird seit Balogh (1926) jedoch kontrovers diskutiert, ob lautes Lesen die „Normalform“ der Antike sei oder die wenigen erwähnten stillen Lektüren (u. a. Euripides, Horaz, Augustinus) auf eine Kompetenz verweisen, die üblich war.41 Allerdings stilisieren Euripides wie Augustinus (in einem Abstand von acht Jahrhunderten!) stilles Lesen als eklatante Ausnahme. Wann sich stilles Lesen durchsetzt, ist ebenfalls umstritten. Nach Saen­ ger beginnen irische Mönche seit dem 7. Jh. die Schrift der scriptio continua antiker Bibeltexte, in der Buchstabe an Buchstabe ohne Unterschied zwi­ schen Worten und Sätzen aufeinander folgen und folglich erst durch lautes Lesen strukturiert werden, in kürzere Zeilen mit Abständen zwischen Sätzen zu gliedern.42 Im Verlauf des Mittelalters lässt sich eine Zunahme von Text­ organisationen beobachten, die rein visuelle Orientierung unterstützen (u. a. Satzzeichen, Absätze, Paginierung).43 Nach Illich stellen die klösterlichen Regeln Hugo von St. Victors um 1150 eine Wende dar. Erstmals werde stilles Lesen von der bis mönchischen ‚ruminatio‘ (wörtlich: wiederkäuen), dem halb­ lauten, murmelnden Lesen, unterschieden.44 Zugleich wird durch die Entste­

37 Vgl. Bracht: Der Leser im Roman des 18. Jahrhunderts. 38 Vgl. Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 99ff. 39 Vgl. Balohg: „Voces Paginorum“, Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens,

S. 84.

40 Ebd., S. 95. 41 Knox: Silent reading in antiquity. Vgl. Svenbro: Phrasikleia. 42 Saenger: Silent reading: Its impact on late medieveal society. 43 Vgl. Parkes: Scribes, scripts and readers. 44 Vgl. Illich: Im Weinberg des Textes.

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lesen  Konjunkturen

hung größerer Scriptorien und bald darauf der Bibliotheken an Universitäten die Stille der Lektüre zur Pflicht. Im Humanismus bildet sich über die BIBEL hinaus, das stille, konzentrierte Lesen als Ideal heraus, während lautes Lesen seitdem besonderen Kontexten (Vorlesung), besonderen Texten (z. B. Lyrik) und ästhetischen Formen der Aufführung (Dichterlesung, poetry slam) vor­ behalten ist. 1614 unterscheidet erstmals das Buch UEBER DIE LEKTÜRE laut und still nach Vers und Prosa.45 Senecas BRIEFE etablieren jenseits dieser Diskurse die Regel, dass man „viel, aber nicht vieles“ (durcheinander) lesen soll („non multa sed multum“46). Die Anweisung fungiert über Jahrhunderte als Kontrolle der Auswahl, die sich am Kanon der Autoritäten orientiert. Auch wenn der Kanon als Filter für Auswahl und Nachahmung bis in 18. Jh. Gültigkeit besitzen, erodiert er mit dem Buchdruck, der eine „Bücherflut“ etabliert, die Einblattdrucke, Kalender, Kräuterbücher oder volkstümliche Schwankliteratur (Eulenspie­ gel, Schildbürger) umfasst. Lesen wird zu einer nicht mehr nur innerhalb von Eliten benötigten Kompetenz. Luthers Forderung, dass jeder die Bibel selbst lesen und verstehen soll, verstärkt diese Relevanz des (Selbst-)Lesens. Zugleich verstärkt sich eine Konzeption von Wissen, die es mit dem gedruck­ ten Wort assoziiert.47 Aber auch nach dem Buchdruck bleibt Lektüre auf Sorgfalt und damit auf Langsamkeit hin orientiert. Erst im 18. Jh. verändert sich das Lesen zu der Form, die heute üblich ist. Als „Leserevolution“ hat Engelsing dabei eine Umstellung im (bürgerlichen) Leseverhalten beschrieben, die von intensiver zu extensiver Lektüre übergeht. Intensive Lektüre meint die Wiederholungslektüre weni­ ger Schriften (z. B. der BIBEL), während extensive Lektüre ein Buch nach dem anderen durchliest.48 Damit ist auch das Paradigma für Unterhaltungslektüre gegeben. Der Vielleser Jean Paul wollte um 1800 ein Buch, das es nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, auch nicht für die einmalige Lektüre empfeh­ len und definiert damit die Unterscheidung von anspruchsvollen und trivialen

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45 Vgl. Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 99. 46 Seneca: Epistel 45. Vgl. Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des

Lesens, S. 94ff.

47 Vgl. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. 48 Engelsing: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit.

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lesen  Gegenbegriffe

Texten.49 Die Funktionen des Lesens differenzieren sich in Unterhaltungs-, Informations- und Wissenslektüre aus. Extensive Lektüre impliziert jedoch nicht nur wechselnde Lesestoffe, sondern auch gesteigerte Lektüregeschwindigkeit. Um 1730 verweist der Philologe J. M. Gesner erstmals darauf, dass das traditionelle ‚statarische‘, d. h. langsame Lesen von Wort zu Wort (mit jeweiligen Erklärungen zu Grammatik und Rhetorik) im Schulunterricht zu ‚Ekel‘ bei Schülern führen müsse, weil Zusammenhänge von Handlung und Geschichte gar nicht erst entstehen. Er schlägt vor, eine an der Lektüre von Romanen orientierte Lesepraxis didaktisch einzusetzen: „erst schnell, dann langsam lesen“50. Texte sollen erst kursorisch im Zusammenhang erfasst werden, um sie dann genauer auf sprachliche Besonderheiten hin zu beobachten. In Schleier­ machers Hermeneutik wird diese strategische Variation des Lesetempos noch erwähnt. „Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es muß deshalb eine kursori­ sche Lesung, um einen Überblick des Ganzen zu erhalten, der genaueren Auslegung vorangehen“51. Es ist die lektüretechnische Formulierung des hermeneutischen Zirkels, der danach den konkreten Bezug zur Lektüre als Mediengebrauch verliert. GEGENBEGRIFFE  Abgesehen vom komplementären Begriff des Schreibens

ist Lesen als Synthese von Zusammenhängen von empirischer Analyse und von allen Verfahren analoger und automatischer Informationsverarbeitung (kopieren, scannen, aufnehmen) zu unterscheiden. Entziffern und Deko­ dieren sind als 1:1-Übersetzungen als Sonderfälle zu fassen. Lesen hat mit der Wahrnehmung (Sehen) gemeinsam, dass es auswählt und wertet, was als Information gilt. Von Wahrnehmung unterscheidet es sich aufgrund der besonderen Struktur der Augenbewegung wie der neurologischen Informa­ tionsverarbeitung.52

49 Vgl. dazu Stanitzek: „0/1“, „einmal/zweimal“ – der Kanon in der Kommunikation. 50 Kopp/Wegmann: Das Lesetempo als Bildungsfaktor?, S. 52; vgl. Bickenbach: Von den Mög­

lichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens, S. 141ff.

51 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 97. 52 Vgl. Dehaene: Die Neuronen des Lesens. In: Ders. (Hrsg.): Lesen, S. 135ff.

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eine Beschleunigung der Lektüregeschwindigkeit, mit der inhaltliche Infor­ mationen effektiv gesammelt werden. Komplexere Strukturen entgehen dem Turbo-Lesen allerdings: „Wenn man zu schnell oder zu langsam liest, versteht man nichts“53. Doch statt einem idealen mittleren Lesetempo bzw. langsam als genau und schnell als oberflächlich anzusehen, empfiehlt sich die strategische Variation von Übersicht und Vertiefung.54 In der Lesedidaktik spielen heute nicht zufällig Verfahren der Entauto­ matisierung der Lesegewohnheit eine Rolle. Durch Verlangsamung des nur auf Inhalte gerichteten Durchlesens soll die Aufmerksamkeit für sprach­liche Formulierungen und Aufbau der Argumentation geschult werden oder für ästhetische Qualitäten, die im Fall lauten Lesens auch eine körperliche Erfah­ rung im Umgang mit Sprache fördern. Stellenlektüre ist heute im Zeitalter von ‚browsen‘ und ‚surfen‘ Teil einer Kunst des Lesens, die dem herkömmlichen Bild vom ‚guten‘ Lesen als kon­ zentriertem Durchlesen eines Buches gegenübersteht. Das Paradigma des Ganzen als Voraussetzung geht auf die Tradition der Hermeneutik zurück. Hermeneutisches Lesen ist dabei von strukturalistischen und poststruktura­ listischen Lektüren zu unterscheiden. In der aus der speziellen Hermeneutik (Bibelexegese, Gesetzesausle­ gung) entstandenen allgemeinen Hermeneutik des 19. und 20. Jhs. (Schleier­ macher, Dilthey, Gadamer) ist die „Kunst, die Rede eines anderen richtig zu verstehen“55 universales Ziel. Ging die ältere Hermeneutik davon aus, dass Texte im Allgemeinen verständlich sind und nur „dunkle“ Stellen erklä­ rungsbedürftig, so legt Schleiermacher fest: „[D]as Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“56. Aus den zahlreichen Regeln der Hermeneutik ist der hermeneutische Zirkel hervorzuheben. Wird ein Begriff nicht verständlich, so soll der Ausleger keinen vom Normalgebrauch der Sprache abweichenden Sinn unterstellen („hermeneutische Billigkeit“, d. h. Angemessenheit) und durch Parallelstellen den Sinn erschließen. Das

lesen  Perspektiven

PERSPEKTIVEN  Übungen zum Quer- oder „Turbo“-Lesen versprechen heute

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53 Pascal: Gedanken, II, 69. 54 Vgl. Weinrich: Lesen – schneller lesen – langsamer lesen. 55 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 75. 56 Ebd., S. 92.

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lesen  Perspektiven

Verfahren kann in ein allgemeines Gesetz der Kohärenz überführt werden, das als hermeneutischer Zirkel bekannt ist. Der Sinn des Einzelnen ergibt sich aus dem Zusammenhang des Ganzen, so wie sich das Ganze aus dem Einzelnen konstituiert. Gadamer hat in seiner philosophischen Hermeneutik WAHRHEIT UND METHODE (1960) mit dem Begriff des „Horizonts“ den her­ meneutischen Zirkel neu gefasst.57 Es gilt die Differenz zwischen eigenem Vorverständnis und (historischem) Horizont des Textes zu reflektieren.58 Gadamer begreift dabei Lektüre als „Rückverwandlung der Zeichen in Rede und in Sinn“59, als Dialog und „lebendiges Gespräch“60. Problematisch bleibt, dass Hermeneutik einen homogenen und übergreifenden Sinn voraussetzt. Heterogene Zeichenbedeutungen schließt das hermeneutische Lesen, anders als poststrukturalistische Lektüren, aus.61 Strukturalistische Lektüren analysieren funktionale Kodes, die sprachliche Variation erlauben, ohne die Aussage zu verändern. Innerhalb der syntag­ matischen Zusammenhänge eines Textes, sind paradigmatische Relationen austauschbar, ohne dass ihr semantischer Wert den funktionalen Wert beein­ trächtigt. Der Wolf in ROTKÄPPCHEN könnte ein Bär oder Löwe sein. Her­ meneutisch macht die Semantik einen Unterschied, strukturalistisch nicht. In der Mythen- und Märchenforschung, hat der Strukturalismus entscheidende Erkenntnisse erbracht, weil er eine Einheit in der Variation liest, die unab­ hängig von der Intention eines Sprechers funktioniert. Die Zeichentheorie Ferdinand de Saussures hat dies durch das Prinzip der Arbitrarität (Willkür­ lichkeit) der Zuordnung von Zeichenbedeutung und Zeichenkörper (Signifikat/ Signifikant) ermöglicht. Das sprachliche Zeichen etwa für „Baum“, bedeutet ihn nicht, weil es eine Beziehung zum Gegenstand hat, sondern weil inner­ halb des Sprachsystems „Baum“ eine differentielle Position zu allen anderen Zeichen hat. Als Theorie der Lektüre heißt das, dass die hermeneutische Beziehung zu semantischen und historischen Kontexten des Sprachgebrauchs

57 Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 307ff. 58 Vgl. ebd., S. 311. 59 Ebd., S. 397, vgl. S. 394ff. zur Kunst des Lesens. 60 Ebd., S. 473ff. 61 Vgl. Hörisch: Die Wut des Verstehens; Kittler: Ein Höhlengleichnis der Moderne: Lesen

unter hochtechnischen Bedingungen.

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lesen  Perspektiven

ersetzt wird durch eine Beobachtung der relationalen Funktion von Zeichen innerhalb eines Diskurses. Das im US-amerikanischen New Criticism gepflegte close reading analysiert zwar nicht strukturalistisch Zeichenrelationen, klärt aber die Bedeutung von Begriffen im Text nicht durch Vorverständnis (Lexikon, Begriffsgeschichte), sondern strikt aus seiner Verwendung im (literarischen) Text.62 So können erhebliche Differenzen zwischen dem, was ein Begriff im Allgemeinen bedeu­ tet und dem, wie er etwa in einem Gedicht verwendet wird, lesbar werden. Nach dem lingustic turn, der Anwendung der strukturalistischen Zeichen­ theorie nicht nur auf Sprache, sondern auch auf Gesellschaft, Mythologie und Alltag, radikalisierte der Poststrukturalismus die Zeichentheorie. Nicht nur der Signifikant gilt als arbiträr, sondern auch das Signifikat. Sinn ist selbst ein (kulturell) kodiertes Zeichen, das auf Konvention beruht. Poststruktu­ ralistische Lektüren öffnen Texte für multiple Deutungsmöglichkeiten, die aufgrund der unendlich ‚gleitenden‘ Zeichenbedeutungen als unabschließbar gelten.63 Wesentlich ist die Erkenntnis, dass Zeichen nur in konkreten Kon­ texten gesicherte Bedeutung haben. Ob ein Satz als Lyrik gilt oder nur eine beliebige Aussage ist, hängt von seinem Kontext ab, nicht vom Satz selbst. Derridas Differenztheorie der Schrift etablierte das poststrukturalistische Zeichen­modell als Aufschub und Verschiebung von Sinn.64 Dekonstruktionen bringen so begriffliche Hierarchien ins Wanken und betreiben Kritik an Grundkonzepten und Ideologien. Dies geschieht nicht als allgemeine Theorie, sondern als jeweilige Lektüre zentraler philosophischer und literarischer Texte, in denen die Konstruktion ihrer Kategorien kritisch auf ihre (ausgeschlosse­ nen) Voraussetzungen hin gelesen werden. Als „Allegorien des Lesens“65 hat de Man ein Modell entwickelt, das einen unauflösbaren Widerspruch zwi­ schen Aussage und Form der Aussage behauptet. Der Widerspruch ist dabei weder auf Versagen des Autors, noch auf die Subjektivität des Lesers zurück­ zuführen, sondern auf das Problem der figuralen Dimension der Sprache, die jenseits von Grammatik und Logik durch rhetorische Tropen (Metapher,

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62 Vgl. Weitz: Zur Karriere des Close reading. 63 Vgl. Barthes: S/Z zum „pluralen Text“. 64 Vgl. Derrida: Grammatologie. 65 Man: Allegorien des Lesens.

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lesen  Forschung

Allegorie etc.) Relationen herstellen, die unabhängig von dem, was der Autor sagen wollte, funktionieren. Lesen bedeutet dabei die Beobachtung der kri­ tischen Differenz zwischen Sinn und sprachlicher Sinnkonstitution.66 Dass solche Künste des Lesens im Alltag kaum eine Rolle spielen, mindert ihre kritischen Erkenntnisse nicht. In dem Moment, in dem es, etwa bei einem Vertrag, da­rauf ankommt, was genau da steht und was es genau bedeutet, ist Lektüre als kritisches Verfahren unumgänglich. FORSCHUNG Lesen ist ein international und interdisziplinär ausdifferenzier­

tes Forschungsgebiet, das sowohl historisch wie aktuell vielfältige Anschlüsse bietet. Disziplinär ist zwischen physiologischen und neurologischen Grund­ lagenforschungen zum Leseprozess und zu Lesestörungen (Alexien) einer­ seits, psychologischen, didaktischen und politischen Dimensionen der Lese­ förderung andererseits sowie der Erforschung der Geschichte des Lesens zu unterscheiden.67 Empirische Studien ermitteln regelmäßig die Veränderungen des Leseverhaltens im Kontext von Medienkonkurrenz und Medienwandel (Fernsehen, Internet, Handy). Mediengeschichtlich erscheint die Konkurrenz von Bildschirm und Buch gegenwärtig als eine Forschungsperspektive, die besondere Aufmerksamkeit verdient. Bislang gibt es zu wenige stichhaltige Untersuchungen über die tatsächlichen Unterschiede. Die Grundsatzfrage, ob die Form des Lesens an Materialität gebunden ist (Textbeschaffenheit) oder aber gerade die Abstraktion von Materialität (etwa Papier) erlaubt, ist nicht entschieden. LITERATUREMPFEHLUNGEN Bickenbach, Matthias: Von den Möglichkei­

ten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens,

­Tübingen (1999).

Breidbach, Olaf: (Art.) Lesen. In: Konersmann, Ralf (Hrsg.): Wörterbuch der philosophi­

schen Metaphern, Darmstadt (2007), S. 195–

207.

Kittler, Friedrich A.: Ein Höhlengleichnis der Moderne. Lesen unter hochtechnischen

Bedingungen. In: LiLi. Zeitschrift für Li­ teraturwissenschaft und Linguistik, Nr. 15

(1985), S. 204–220.

Schmundt, Hilmar: Gutenbergs neue Galaxis.

Vom Glück des digitalen Lesens (E-Book), Hamburg (2013).

Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder

die Verwandlungen des Lesers. Mentalitäts­

wandel um 1800, Stuttgart (1987).

66 Vgl. Johnson: The Critical Difference. 67 Für einen Überblick der Forschungsansätze vgl. Franzmann et al. (Hrsg.): Handbuch Lesen;

ein speziell auf literarisches Lesen ausgerichtetes Handbuch fehlt bislang.

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VERWEISE  edieren |179|, nachahmen |445|, schreiben |482| BIBLIOGRAFIE (Art.) Lesen. In: Grimm. Deutsches Wörterbuch,

Brogsitter, Karl Otto: Das hohe Geistergespräch.

(Art.) Lesen. In: Wahrig. Deutsches Wörterbuch,

Vorstellungen von einer zeitlosen Gemein­

München (1986), S. 831.

(Art.) Überlesen. In: Grimm. Deutsches Wör­ terbuch, Bd. 23, Reprint, München (1984), Sp. 393.

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LIKEN DANIEL FEHR | HANNES MANDEL

liken  Ankedote

ANKEDOTE   Im März 1865 schreibt Karl Marx in das Poesiealbum seiner

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Tochter Jenny. Allerdings folgt er nicht dem im deutschen Bildungsbürgertum schon lange gepflegten (Medienge-)Brauch des Album amicorum oder Stamm­ buchs – des meist gegenseitigen Eintragens von Widmungen, Sinnsprüchen, Zeichnungen oder Empfehlungen in Blanko-Alben unter sich Wohlgesinn­ ten.1 Marx, der mit seiner Familie in London lebt und auf Englisch schreibt, fügt sich dem Format, das seine Tochter ihm aufgetragen hat. Anstelle von Fließtext – einem Bibelspruch, Sprichwort oder einer eigenen Formulierung – sieht es die stichwortartige Beantwortung einer Liste von Fragen vor. Die Liste ist nicht sonderlich lang, die Fragen folgen mehrheitlich demsel­ ben Muster: Sie fragen nach Vorlieben, nach der „favourite occupation“, dem „favourite dish“, dem „favourite motto“. Danach, was man mag, oder: Was der User „liket“. Marx schreibt die Fragen zunächst auf ein leeres Blatt Papier. Daneben notiert er seine Antworten, kurz und knapp wie die Fragen selbst: „Your favourite virtue: simplicity“, „in man: strength“, „[in] women: weakness“. „Favourite occupation: bookworming“, „Poet: Dante, Aeschylus, Shakespeare, Göthe“, „Colour: Red“.2 Auf dem unteren Rand versieht Marx die „Likes“ mit seiner Unterschrift. Ein Datum, eine Grußformel oder Widmung fügt er nicht hinzu. Tochter Jenny klebt das Blatt schließlich zusammen mit einem Foto ihres Vaters in ihr speziell dafür angeschafftes Notizbuch. Doch dieser Fragebogen ist nicht der einzige, den Jenny Marx in jenes Buch einklebt. Insgesamt finden sich darin 65 solcher Einträge, ausgefüllt von Verwandten, Freunden und Gästen der Familie Marx zwischen 1865 und 1872. Sie alle beantworten Jennys Fragen nach Lieblingsessen und Lieblingsheldin, nach Lieblingsdichter und Lieblingsblume. Doch genau genommen sind es nicht ihre Fragen. Es sind Fragen, die sich damals unzählige Leute gegenseitig

1 Vgl. etwa Fiedler: Vom Stammbuch zum Poesiealbum; sowie Linke: Textsorte als Elemente

kultureller Praktiken. In: Klotz et al. (Hrsg.): Kontexte und Texte, S. 127–146.

2 Omura et al.: Familie Marx privat, S. 118 (Faksimile) bzw. S. 235 (Transkription).

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stellen: Ihre Beantwortung und das Sammeln der ausgefüllten Fragebögen ist im viktorianischen England der 60er Jahre des 19. Jhs. groß in Mode.3 Von England aus verbreitet sich die Mode auf dem Festland, erreicht ihren Höhepunkt in den 1870er Jahren und bleibt zunächst bis etwa 1900 präsent.4 Legte Jenny Marx ihr Album noch selbst an, so waren spätestens seit 1869 auch speziell angefertigte Alben mit vorgedruckten Fragen erhältlich. Das erste bekannte Buch dieser Art trägt den sprechenden Titel MENTAL PHO-

TOGRAPHS. AN ALBUM FOR CONFESSIONS OF TASTES, HABITS AND CONVIC5

Während die Alben in den USA jenem Buchtitel entsprechend als Mental Photographs oder auch als Mental Portraits bekannt waren, hießen sie in Großbritannien mehrheitlich Confession Albums oder Confession Books.6 Was diese Episode der einst populären7, literatur- und kulturgeschichtlich jedoch weitgehend vergessenen Praxis des Confession Albums offenbart, ist eine Geschichte des Likens, des mitgeteilten Gutfindens von Dingen, welche weit 3 Eine systematische Untersuchung zur Verbreitung und Zirkulation steht jedoch noch aus.

Zur Popularität des Mediums vgl. Kohlbecher: Das Fragebogenalbum des 19. Jahrhunderts. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich, S. 25–35. Nach Samantha Matthews können die Alben auf „archetypal question and answer exchanges“ wie den Kate­ chismus zurückgeführt werden, aber auch auf „fortune-telling games, religious controversy, and the significance of autograph in nineteenth-century culture“ [Matthews: Psychological Crys­ tal Palace? In: Book History, S. 126]. Die berühmtesten überlieferten Exemplare eines Fra­ gebogens stammen von Marcel Proust. Unter dem Namen PROUST QUESTIONNAIRE oder PROUST(’SCHER) FRAGEBOGEN zirkulieren deren und ähnliche Fragenlisten bis heute, häufig an Prominente gerichtet in Zeitschriften; vgl. Vanity Fair: Proust Questionnaire. Unter: http:// www.vanityfair.com/archive/proust-questionnaire [aufgerufen am 21.01.2014]. 4 Vgl. Matthews: Psychological Crystal Palace? In: Book History, S. 126. 5 Saxton: Mental Photographs. An Album for Confessions of Tastes, Habits and Convictions. Der Titel – und womöglich das Aufkommen der Confession Alben – erklärt sich zum Teil aus der Erfolgsgeschichte des Fotoalbums, dem damals bereits weit verbreiteten, frühen Massenmedium, in welchem Millionen von Bildern von Familie, Freunden und Bekannten, meist im standardi­ sierten Carte de Visite Format, zirkulierten und gesammelt wurden [vgl. Bickenbach: Das Dis­ positiv des Fotoalbums. In: Fohrmann et al. (Hrsg.): Medien der Präsenz, S. 95f.]. Die Mental Photographs versprachen demnach das geistige Pendant zum fotografischen Abbild – Porträts des Charakters. 6 Vgl. Kohlbecher: Das Fragebogenalbum des 19. Jahrhunderts. In: Mitteilungen der Gesell­ schaft für Buchforschung in Österreich, S. 30–34. 7 So populär, dass selbst ein gewisser Mark Twain 1869 sein persönliches Mental Photograph auf dem Titelblatt des BUFFALO EXPRESS veröffentlichte [vgl. Twain: The Latest Novelty. In: The Buffalo Express, S. 1].

liken  Ankedote

TIONS .

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liken  Ankedote

vor den Spezialfall Facebook zurückreicht. Entsprechend findet sich das Liken nicht nur als Klick oder handschriftliche Praxis, sondern beispielsweise auch als Geste – ob in An- oder Abwesenheit, online oder offline, einzeln oder im Kollektiv. Was jeweils wie geliked werden kann und was nicht, warum etwas geliked wird und von wie vielen, ist abhängig von medialen Bedingungen. Am Beispiel des Confession Albums wird dies besonders deutlich: Das Format des Fragebogens ist hier so stark, dass selbst große Autoren ihm ungewöhn­ lich unterlegen sind. Es stellt den Schriftsteller Marx vor dieselben Fragen – und v. a.: vor dieselben limitierten Antwortmöglichkeiten – wie alle anderen, die ihn ausfüllen. Für Eloquenz, glänzenden Stil und geschliffenen Ausdruck fehlt hier der Platz. Brillante Antworten sind nahezu ausgeschlossen, gen­ respezifische Gemeinplätze oder unliebsame Übereinstimmungen hingegen kaum zu vermeiden. Nirgendwo sonst ist Selbstinszenierung – oder besser: Selbstprofilierung – so leicht und legitimiert zu betreiben und nirgendwo sonst gleichzeitig so schwer. Dem Zugehörigkeitsbestreben und der Chance sich kurzerhand in eine prestigeträchtige Kenner- und Fangemeinschaft „einzu­ schreiben“, steht der Drang nach (und die Erwartung von) Originalität und Individualität entgegen. Auch wer versucht, sich in dieser Bredouille mit Ironie zu profilieren, schreibt nur fort, was schon viele andere vor ihm versuchten. In dieser Hinsicht ist das Confession Album mehr als nur ein „Gesell­ schaftsspiel“8, mehr als, wie Jenny Marx einst schrieb, „answers[,] very amu­ sing when compared with one another.“9 Die hier zusammenkommenden Mediengebrauchsaspekte des Sammelns und Vergleichens, des Ausfragens, Bekennens, Zirkulierens und Archivierens lassen eine small talk Frage wie jene nach dem Lieblingsdichter oder der Lieblingsband zum (mitunter maß­ geblichen10) Persönlichkeitstest werden. Was dabei allerdings getestet wird, ist keineswegs die „Persönlichkeit“ – sondern eben die Fähigkeit und Art, auf den gewissermaßen respektlosen, nivellierenden und doch radikal vergleichbar machenden Fragebogen zu reagieren.

8 Touttavoult: Bekenntnisse, S. 119. 9 Zit.n. Omura et al.: Familie Marx privat, S. 225. 10 „What really matters is what you like, not what you are like […] Books, records, films: these

things matter,“ erklärt Rob Gordon alias John Cusack in HIGH FIDELITY, der Verfilmung von Nick Hornbys gleichnamigem Roman, aus dem Jahr 2000.

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liken  Ankedote

Während ihr Gewicht variieren mag, spielen „Außendarstellung“, Selbstprofilierung sowie die Antizipation der „Publikumsreaktion“, des Likens des Gelikten, folglich ebenso eine zentrale Rolle wie im digitali­ sierten Fall von Facebook. Hier wie da ist liken immer auch teilen und mit­ teilen11 – was dem Zirkulationstheoretiker Karl Marx sicherlich bewusst gewesen sein dürfte. Sowohl die englischen Confession Alben Ende des 19. Jhs. als auch die heutigen Freundschaftsbücher sind nicht zuletzt „Tauschobjekte“12. Sie zirkulieren zwischen den Eintragenden und werden in Gesellschaft, unter Freunden oder in der Schulklasse gelesen, geschrieben und kommentiert. Dabei bildet das Liken „angesagte“ Inhalte nicht einfach nur ab. Gerade aufgrund seines „Social Media“-Charakters – der Zirkulation, des Aus­ tauschs, der Nachahmungseffekte – bildet das Liken Trends, Identifika­ tionsmuster und sogar die Likes selbst erst mit. Ein „Like“ kommt nicht nur selten allein, es kommt auch selten aus dem Nichts. In der Regel sind es vorausgegangene Likes Anderer, die erst den Anlass (vgl. Facebook) oder die Inspiration (vgl. Confession Album) geben zu einem eigenen Like.13 Das Liken bzw. Nicht-Liken, das hier vielleicht maximal zugespitzte, maxi­ mal standardisierte Mikrourteil, hat sich innerhalb, außerhalb aber auch jen­ seits von Facebook zu einem wirkungsmächtigen wenngleich unscheinbaren Mediengebrauch entwickelt, der einen bisher ungekannten, vielleicht erfreulich hegemoniefreien, vielleicht aber auch besorgniserregend argumentationslosen

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11 Dazu passt, dass Facebook im Frühjahr 2011 nach dem „Become a fan“-Button auch noch

die letzte artverwandte Funktion, den „Share“-Button, in seiner damaligen Funktionalität dem Like-Button implementierte. 12 Langbein, Ulrike: Das Poesiealbum. Magisterarbeit (HU Berlin) 1995, zit. n. Linke: Text­ sorte als Elemente kultureller Praktiken. In: Klotz et al. (Hrsg.): Kontexte und Texte, S. 130f., FN 8. 13 Eine soziologische Studie unter Mitwirkung des MIT erforschte jüngst den Einfluss voraus­ gehender positiver und negativer Votes auf das Vote-Klickverhalten gegenüber Nutzerkommen­ taren auf einer „social news aggregation Website“. Dem Ergebnis nach erhöhen vorausgegangene positive Wertungen („up-votes“) die Wahrscheinlichkeit eines weiteren „up-vote“, während vo­ rausgegangene negative Wertungen („down-votes“) nicht die Neigung zum weiteren „downvote“ erhöhen – sondern im Gegenteil, die Neigung zum positivem Widerspruch in Form eines „up-votes“; vgl. Muchnik et al.: Social Influence Bias. In: Science, S. 647–651.

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Bewertungsdiskurs ins Werk setzt.14 Das kann man gut finden, oder nicht.15 Man kann es mit Karl Marx’ Lieblingsmotto halten: De omnibus dubitandum16 oder mit jenem von Jenny Marx: Nil desperandum17.

liken  Etymologie

ETYMOLOGIE   Der Neologismus liken ist dem engl. ‚to like‘ (mögen, gern

haben, gefallen, lieben) lexikalisch entlehnt. Die engere Bedeutung des Begriffs geht auf netzbezogene Feedback- bzw. Bewertungsfunktionen zurück und popularisierte sich frühestens seit der Einführung eines entsprechend genann­ ten Like-Buttons durch das Online-Kontaktnetzwerk Facebook im Jahr 2009. In dem daran anschließenden Wortgebrauch werden das engl. ‚to like‘ und das dt. liken synonym verwendet. Eine vollständige morphologische Integration in die deutsche Sprache scheint aber – trotz der Aufnahme des Infinitivs in Dudens NEUES WÖRTERBUCH DER SZENESPRACHEN18 – bis dato nicht gegeben. Lediglich die Formen des Präsens Indikativ aktiv (teils mit engl., teils mit dt. Flexionssuffixen), das Partizip ‚geliked‘ (seltener ‚geliket‘) und die subs­ tantivierte Formen ‚Liker‘ (Subjekt des Likens, analog zum engl. ‚liker‘) und ‚Likes‘ (sofern quantifizierbar: Anzahl der einzelnen Like-Bekundungen, etwa Anzahl von Like-Klicks bei Facebook) sind belegt, zum Teil mit Varianten.19 Auf die unabgeschlossene Integration des sprachlichen Ausdrucks verweist zudem die häufig zu findende, distanzierende Schreibung in Anführungszeichen. 14 Wie wirkungsmächtig und unscheinbar lässt sich erahnen, wenn man bedenkt, dass im Fall

von Facebook von durchschnittlich 1500 Freundes-Netzwerk-Ereignissen (Posts, Links, Kom­ mentare, Likes...) pro Tag und Nutzer nur ungefähr ein Fünftel im persönlichen News Feed überhaupt angezeigt wird – welche entscheidet ein Algorithmus auf Grundlage von Interak­ tionsstatistiken, für welchen Likes – als explizite Gefallensbekundungen – eine besonders ent­ scheidende Rolle spielen; vgl. Facebook For Business Blog: News Feed FYI: A Window Into News Feed. Unter: https://www.facebook.com/facebookforbusiness/news/News-Feed-FYI-AWindow-Into-News-Feed [aufgerufen am 30.08.2013]. 15 Vgl. zu dieser Diskussion etwa Knörer: Demokratisierung der Kritik? In: Merkur, S. 945–956. 16 „An allem ist zu zweifeln.“ 17 „Kein Grund zur Verzweiflung.“ 18 Vgl. Szenesprachenwiki: (Art.) liken. Unter: http://szenesprachenwiki.de/definition/6445 [aufgerufen am 01.01.2013]. Dort wird das Verb auf den Verwendungsbereich Facebook einge­ schränkt. 19 Vgl. Mann: kandidat zum anglizismus des jahres: liken/leiken. In: Lexikographieblog. Unter: http://lexikographieblog.wordpress.com/2011/01/18/kandidat-zum-anglizismus-des-jahreslikenleiken [aufgerufen am 21.01.2014].

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Begriffsverwandt findet sich im Deutschen wenigstens ab dem letzten Viertel des 19. Jhs., etwa bei Theodor Fontane, der vom engl. Nomen ‚liking‘ (‚favo­ rable regard‘) übernommene Ausdruck ‚ein liking haben‘ im Sinne von ‚eine Vorliebe/ein Faible für jemanden/etwas haben‘.20

weilen zu findenden Schreibung in Anführungszeichen zirkuliert der Begriff spätestens seit 2010 rege und zunehmend. Zentraler Verwendungskontext ist Facebook. Der Begriff referiert in diesem Kontext auf einen digitalen, an die Praktik des Klickens gebundenen, netzbezogenen, prinzipiell öffentlichen Mediengebrauch des positiven Feedbacks auf Inhalte verschiedenster (jedoch nicht beliebiger, da technologisch und diskursiv bedingter) Art. Gerade in dieser engeren Bedeutung korreliert die Verbreitung des Begriffs offenbar mit der Verbreitung des sozialen Netzwerkes. So lassen sich seit Facebook Ent­ lehnungen des engl. ‚[to] like‘ auch in vielen anderen (Umgangs-)Sprachen nachweisen, beispielsweise im Frz. (‚liker‘), im Nl. (‚liken‘), im Isl. (‚læka‘), im Poln. (‚lajkować‘) oder im Russ. (‚лайкать‘). Und dies obwohl Facebook selbst den Button in der jeweiligen Landessprache benennt: etwa mit ‚Gefällt mir‘ im Dt., ‚J’aime‘ im Frz. oder ‚Мне нравится‘ im Russischen. Im Gegensatz zur engeren Bedeutung des Begriffs, verweist die wei­ tere im Sinne eines Gutfindens von Dingen auf einen Mediengebrauch, der älter ist als die spezifische Verwendung bei Facebook. Wie auch Facebooks Director of Engineering Andrew Bosworth in einer Forumsdiskus­ sion einräumte, ist „the concept of ‚liking‘ things very old, likely older than the words we use to describe it.“21 Der Begriff vermag entsprechend nicht nur ältere Mediengebräuche wie das Confession Album oder den Beifall einzuschließen, sondern bezieht sich auch auf andere Webdienste

liken  Kontexte

KONTEXTE  Trotz unvollständiger, teils variierender Morphologie und der bis­

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20 Vgl. Fontane: Werke, Schriften und Briefe: Effi Briest. In: HFA I.4, S. 124; Der Stechlin. In:

HFA I.5, S. 151; Brief an seine Frau (1883). In: HFA IV.3, S. 279; Brief an Friedrich Stephany (1886). In: Ebd., S. 497; Brief an Friedländer (1894). In: HFA IV.4, S. 407; Fontane: Brief an Martha Fontane. In: Dieterle: Theodor Fontane und Martha Fontane, S. 50. 21 Comment on Facebook (company): What’s the history of the Awesome Button (that even­ tually became the Like button) on Facebook? Unter: http://www.quora.com/Facebook-Inccompany/Whats-the-history-of-the-Awesome-Button-that-eventually-became-the-Like-buttonon-Facebook/answer/Andrew-Boz-Bosworth/comment/91469 [aufgerufen am 21.02.2014].

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liken  Kontexte

wie StumbleUpon, die bereits Jahre vor Facebook ähnliche Like-Funktio­ nen integrierten oder, wie Google,22 wenigstens damit experimentierten. Stumble-­Upon gilt dabei meist als das frühste Beispiel für einen Webdienst, der die entsprechende Funktion, obwohl auf der Webseite nur mit einem Daumen-Symbol repräsentiert, als „‚I like it!‘ button“ beschrieb. So heißt es in einer Medienmitteilung aus dem Jahr 2004: „As a stumbler, you may also rate the sites that are presented: either ‚I like it!‘ (thumbs-up) or ‚Not for me‘ (thumbs-down).“23 Dass der Begriff zu dieser weiteren Bedeutung tendiert, lässt sich auch am zeitgenössischen Verständnis des Like-Buttons zeigen. Dieser ist zum Beispiel im entsprechenden Wikipedia-Eintrag als „a feature in communication software“ beschrieben, das explizit nicht auf Facebook beschränkt bleibt, sondern alle Webdienste einschließt, bei denen „the user […] express[es] that he/she likes, enjoys or supports certain content.“24 Entsprechend bezeichnet etwa auch die Microblogging Platt­ form Tumblr ihre Funktion, Einträge grafisch mit einem kleinen Herzen zu versehen, im Mouseover-Text als Liken. YouTube hingegen betitelt seine „Daumen-hoch“ bzw. „Daumen-runter“ Icons auf Deutsch mit „Mag ich“ bzw. „Mag ich nicht“ (wobei das „Mag ich“ textlich hervorgehoben ist), während das Online-Forum Quora und der Social News Aggregator Reddit ihre Bewertungsmechanik mit „up“ und „down“ benennen. Wenngleich die Klicks und ihre Auswertung in all diesen Fällen geradezu identisch funktionieren, bestehen in ihrer Verwendung für die Funktionalität der jeweiligen Webseite durchaus wesentliche Unterschiede. Während auf YouTube die Like/Dislike-Funktion neben der Bewertung vornehmlich als (Archiv-) Suchhilfe dient, verwenden Quora und Reddit ihre „Up“- bzw. „Down“-VoteFunktion als maßgeblichen Mechanismus zur Relevanzbestimmung und hie­ rarchischen Auflistung ihrer nutzergenerierten Inhalte. Dass nicht nur jene

22 Vgl. Chitu: Google Experiments with Personalizing the Order of Search Results. In: Google

Operating System. Unter: http://googlesystem.blogspot.de/2007/11/google-experiments-withpersonalizing.html [aufgerufen am 21.01.2014]. 23 Gosbell: Stumble Your Way Around the Web. In: PC Update Online! Unter: http://www. melbpc.org.au/pcupdate/2410/2410article12.htm [aufgerufen am 30.08.2013]. 24 (Art.) Like button. In: Wikipedia. Unter: http://en.wikipedia.org/wiki/Like_button [aufge­ rufen am 30.08.2013].

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Inhalte, sondern auch die Verwendungskontexte solchen Likens stark variie­ ren können, zeigte dabei jüngst – als ein extremes Negativbeispiel – der Fall des Bombenanschlags auf den Boston Marathon 2013, als Reddit-Nutzer im besagten „Like“-Verfahren gleich mehrere Personen fälschlich und öffentlich als Verdächtige identifizierten, was als gefährliche „online witch hunt“ heftig kritisiert wurde.25

wärtigen Konjunktur des Begriffs zusammen, der bereits 2010 in die Aus­ wahlliste zum Anglizismus des Jahres aufgenommen wurde.26 Juristische Datenschutzdebatten insbesondere im Zusammenhang mit Facebooks LikeButton27 und spielerische Varianten des Likens wie das Erscheinen des Like-Symbols in der Werbung, auf Fan-Transparenten oder im Rahmen künstlerischer Interventionen weisen auf eine gegenwärtige Erprobung, Ironisierung und Problematisierung des Mediengebrauchs des Likens hin. Allgemeiner ist zu konstatieren, dass sich Konjunkturen der jeweiligen For­ men des Likens insbesondere im Kontext von Politik, Werbung und Unter­ haltung zutragen. Ein historisches Beispiel sind die sogenannten Claqueure, welche etwa zu Beginn des 19. Jhs. in Pariser Opern- und Schauspielhäusern für Aufsehen sorgten.28 Häufig nach Anweisung eines sogenannten „Chef de Claque“ applaudierten diese eigens angestellten Klatscher bei Theateroder Opernaufführungen taktisch und strategisch mit dem Ziel, das Pub­ likum sowie die Kritiker zum Beifall zu animieren. Die Applausagentur

liken  Konjunkturen

KONJUNKTUREN  Die Konjunktur des Mediengebrauchs fällt mit der gegen­

L

25 Vgl. Kaufman: Bombings Trip Up Reddit in Its Turn in Spotlight. In: NYT online. Unter:

http://www.nytimes.com/2013/04/29/business/media/bombings-trip-up-reddit-in-its-turn-inspotlight.html [aufgerufen am 30.08.2013]. 26 Vgl. Stefanowitsch: 2010. Anglizismus des Jahres. In: Anglizismus des Jahres. Unter: http:// www.anglizismusdesjahres.de/anglizismen-des-jahres/adj-2010 [aufgerufen am 21.01.2014]. 27 Siehe dazu u. a.: Schulzki-Haddouti: Datenschützer mögen den Like-Button nicht. In: Zeit online. Unter: http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2011-03/facebook-like-datenschutz [auf­ gerufen am 21.01.2014]; Lischka: Datenschützer nennen Facebook-Praxis rechtswidrig. In: Spie­ gel online. Unter: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,782939,00.html [aufgerufen am 21.01.2014]; Welchering: „Gefällt mir“ gefällt nicht. In: FAZ online. Unter: http://www.faz. net/aktuell/wirtschaft/netzwirtschaft/facebook/facebook-gefaellt-mir-gefaellt-nicht-11289881. html [aufgerufen am 21.01.2014]. 28 Vgl. Kirchner: (Art.) Beifall. In: Ueding, S. 113.

419

liken  Konjunkturen

Assurance de succès dramatique, 1820 von Sauton gegründet, gilt diesbezüg­ lich als Musterbeispiel.29 Unter ähnlichen Annahmen und in derselben Absicht operieren heute etwa die Lachkonserven in Sitcoms, die Applaus­ signale im TV Studio, das Cheerleading im Sport oder die Testimonials in der Werbung. Liken wird dort nicht selten gezielt inszeniert, um es mittels erhoffter Ansteckungs- oder Nachahmungseffekte in Macht, Geld oder Erfolg umzusetzen. Derlei manipulativen oder besser: Suggestiven (Aus-) Nutzungen des Likens steht indes das wachsende Feld softwarebasierter Empfehlungsdienste gegenüber. Diese sind nicht darauf programmiert, das Likeverhalten gezielt zugunsten eines bestimmten Inhalts zu beeinflussen, sondern darauf, es inhaltsneutral zu analysieren und – durchaus im wirt­ schaftlichen Interesse des Betreibers – zugunsten der Nutzer zu verwerten.30 Während beim sogenannten collaborative filtering Empfehlungen aufgrund von Nutzungsverhalten anderer erteilt werden (etwa Amazons „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch...“), versucht das contentbased filtering Empfehlungen anhand von Ähnlichkeiten noch unrezipierter Inhalte mit persönlich bereits gelikten (oder auch nur rezipierten) zu geben. Dabei baut man auf den Umstand, dass das Liken nicht nur als Ausdruck einer persönlichen Vorliebe, sondern immer auch als Empfehlung, Hinweis oder Hervorhebung verstanden wird. Liken in dieser Hinsicht ist Gene­ rator von Aufmerksamkeit, ist sowohl Zweck als auch Mittel zum Zweck von Marketing, ist aber auch Orientierungs-, Entscheidungs- und „Selbst“(er)findungshilfe. So überrascht es kaum, dass das Liken im heutigen Zeit­ alter, welches gewöhnlich als eines der Information, der Medien und/oder des Individualismus charakterisiert wird, eine besondere Konjunktur, ja vielleicht seinen bisherigen Höhepunkt erfährt.

29 Vgl. Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule, S. 142–147; Kalisch: Pariser Bilder und

Geschichten. In: Die Gartenlaube, S. 782–784; Lan: Mémoires d’un Chef de Claque; zu den Claqueuren in der Antike vgl. insb. Kindermann: Das Theaterpublikum der Antike. 30 Apple etwa ist es letztlich egal, welche Musik im iTunes Store gekauft wird; dennoch investiert das Unternehmen eine Menge Geld und Aufwand in die Auswertung des Kauf- und Likever­ haltens der iTunes-Nutzer, um möglichst wertvolle bzw. einträgliche Kaufempfehlungen geben zu können. Für einen optimistisch gestimmten Beitrag zum Thema siehe Passig: Keinem deiner Freunde gefällt das. In: passagen, S. 15f.

420

in Konkurrenz zu ähnlichen Termini anderer Webdienste wie Google+ (‚plussen‘) oder Twitter (‚faven‘). Doch während Googles Begriff (und Funktion) direkt mit Facebook konkurriert, insofern beide Anbieter auf eine möglichst netzweite, pro­ filgebundene positive Feedbackoption zielen, unterscheidet sich die Funktion anderer Webdienste maßgeblich. ‚Faven‘ funktioniert beispielsweise eher als Sammelmechanismus von Lieblingstweets und ist demnach im Gegensatz zu ‚plussen‘ oder liken weit privatimer angelegt. In der weiteren Bedeutung steht der Anglizismus liken entsprechenden dt. Begriffen wie ‚gefallen‘, ‚mögen‘, ‚gernha­ ben‘ oder ‚lieben‘ gegenüber. Doch anders als bei diesen vermag an ihm, nicht zuletzt aufgrund der Prägung durch Facebook (‚den Like-Button klicken‘), eher seine mediale Bedingtheit deutlich werden: Liken erscheint weniger als Gefühl oder Empfindung und eher als eine Praktik, eine Technik oder ein Medien­ gebrauch, eher als ein aktives Tun denn ein passives Erfahren. Der aktivische Charakter des Likens wird ebenfalls deutlich im Gegensatz zu Facebooks deutscher Alternative ‚Gefällt mir‘ bzw. am Gegenbegriff ‚gefal­ len‘. Denn dieser setzt, linguistisch formuliert, im Unterschied zu liken eine andere semantische Rolle voraus. Während ‚gefallen‘ als Handlungsteilneh­ menden einen Experiencer erfordert, d. h. jemanden, der das, was die Hand­ lung bezeichnet, empfindet, kommt dem Likenden die semantische Rolle des Agens zu. Zum Liken gehört also stets Aktivität – auch dann, wenn sie auf eine so minimale Aktion wie das Klicken eines Buttons beschränkt bleibt.31 Wenn der Begriff des Likens insbesondere über die Aktivität beschrieben ist, so unterscheidet er sich nicht zuletzt dadurch vom Gegenbegriff des ‚Fan­ tums‘ bzw. des ‚Fan seins‘. Denn der Begriff des ‚Fan seins‘ ruft durch das Verb ‚sein‘ eine Identifizierung des Subjekts mit dem Prädikatsnomen (‚Fan von x‘) auf, die weit statischer und längerfristiger wirkt, als eine (Selbst-)Identifika­ tion über den Mediengebrauch des Likens. Mit dem Begriff des Fantums ist dem Liken jedoch ein Begriff gegenübergestellt, der sich von ihm – ähnlich wie vom Begriff ‚Lieblings~‘ – nicht gänzlich unterscheiden lässt. ‚Fan sein‘,

liken  Gegenbegriffe

GEGENBEGRIFFE  In der engen, auf Facebook bezogenen Bedeutung steht liken

L

31 Vgl. Mann: kandidat zum anglizismus des jahres: liken/leiken. In: Lexikographieblog. Unter:

http://lexikographieblog.wordpress.com/2011/01/18/kandidat-zum-anglizismus-des-jahreslikenleiken [aufgerufen am 21.01.2014].

421

liken  Perspektiven

‚ein Lieblings~ haben‘ und ‚liken‘ sind Aspekte desselben Feldes, die sich teils überlagern, teils ausschließen. Zu den antonymischen Gegenbegriffen von liken gehört sowohl die von ihm abgeleitete, ebenfalls (umgangs-)sprachlich nachweisbare Präfixbildung ‚disliken‘ als auch jenes Feld, das sich mit dem Begriff ‚ignorieren‘ aufrufen lässt. Letzteres stellt v. a. einen Gegensatz zu Liken im Sinne eines Aufmerk­ samkeitsgenerators dar. Denn die ignorierten Dinge werden im Unterschied zu den gelikten gerade nicht zum Gegenstand von Aufmerksamkeit. Hingegen überschneidet sich der Gegenbegriff ‚disliken‘ an dieser Stelle mit dem Liken: Auch der Mediengebrauch des Dislikens generiert, etwa durch Buhen im The­ ater oder durch Klicken eines entsprechenden Dislike-Buttons auf Webseiten, Aufmerksamkeit – wenngleich eine mutmaßlich negative. PERSPEKTIVEN  Drei mögliche Anwendungsgebiete des Wissens vom Liken

wurden oben bereits thematisiert: der Applaus, das Confession Album sowie das Liken auf Facebook bzw. im Internet. Der Grund für diese Perspektiven avant la lettre liegt in der Thesenhaftigkeit des Lemmas selbst: Der Begriff des Likens ist schlicht zu jung, als dass er schon von sich aus eine Medien­ gebrauchsgeschichte beanspruchen könnte, zu welcher die Fallgeschichte dann – eben: – einen Fall liefern könnte. Erst die Anwendung des Begriffs auf gewöhnlich nicht als zusammenhängend erachtete Fälle wie die Claqueure und die „Mental Photographs“, lässt einen Mediengebrauch des Likens hin­ reichend sichtbar werden. Entsprechend liegt die Anwendbarkeit des hier versammelten Wissens zuallererst in der Anwendbarkeit des vorgeschlagenen Blicks. Wenn es stimmt, dass Facebook mit dem Liken etwas auf den Begriff gebracht hat (bzw. die Spra­ che dazu gebracht hat, etwas auf den Begriff zu bringen), das als Medienge­ brauch schon länger, wenn nicht immer, existierte, dann muss es sich lohnen, dem nachzugehen. Zumal sich Liken, verstanden als das mitgeteilte Gutfin­ den von Dingen, in der Tat in zahlreichen anderen historischen Phasen, kul­ turellen Kontexten und medialen Formen beobachten lässt. Ein nach oben gerichteter Daumen, ein aus Händen oder Schriftzeichen geformtes Herz, auf Bühnen geworfene Unterwäsche, der Hitlergruß oder ein tausendfaches „Sieg Heil!“, Tattoos, Fantrikots oder Markenjacken, diggen, tumblrn, plussen oder faven – die analogisierende und kontrastierende Betrachtung als Liken

422

liken  Perspektiven

kann Einsichten liefern, die bereits vorhandenes (oder vorhanden geglaubtes) Wissen ergänzen bzw. produktiv hinterfragen. Wenn Guido Kohlbecher etwa über die Confession Alben schreibt: „Von dem besonderen Wert der Antworten von Berühmtheiten einmal abgesehen, liegt die bisher unerkannte Bedeutung der Fragebogen in ihren kulturhistorischen und -soziologischen Auskünften zu Einstellungen, Wertungen und Geschmäckern über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren“32, dann scheint er etwas ablesen zu wollen, das nur bedingt abzulesen sein dürfte. Nimmt man das bisher Gesagte ernst, so sind es weni­ ger „Einstellungen, Wertungen und Geschmäcker“, welche hier anzutreffen sind, sondern es ist Liken. Liken ist nicht gleichbedeutend mit Geschmack oder mit Gutfinden. Es ist mitgeteiltes Gutfinden – nur als solches kann es sich fortschreiben und überhaupt erst entstehen – und als solches folgt es immer schon anderen Gesetzen, eben weil es um seine Beobachtetheit weiß. Ein nicht mitgeteiltes Gutfinden mag denkbar sein, muss jedoch ideosynkratisch blei­ ben und wird kaum kulturelle Effekte zeugen. Wie der Soziologe und Musik­ wissenschaftler Andreas Gebesmair bemerkt, ist etwa der „Musikgeschmack [eben] keine natürliche Präferenz, sondern etwas, was der Mensch als Kind von seinen Eltern und später von Jugendfreunden lernt.“33 Zwar mögen sich die entsprechenden Prozesse in Wirklichkeit etwas weniger schlicht gestalten, als es hier anklingt, jedoch gilt auch für die wachsenden, immer komplexer und potenter werdenden Empfehlungsdienste von Musikplattformen, Videopor­ talen oder Social TV Guides, dass Liken beobachtet, imitiert, motiviert und vermittelt wird. Was sich dabei im Übrigen ins Werk setzt, ist eine alternative Form der Wissensdistribution, eine alternative Epistemologie gewissermaßen, im Internet. Alternativ nämlich zu anderen, mitunter noch dominanteren Formen des (Mit-)Teilens von Inhalten/Informationen im Netz, wie etwa der redaktionellen Bereitstellung, oder der algorithmischen Indexierung und Suchbarmachung per Suchbegriffen. Die Facebook-Twitter-Presseschau der

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32 Kohlbecher: Das Fragebogenalbum des 19. Jahrhunderts. In: Mitteilungen der Gesellschaft

für Buchforschung in Österreich, S. 29.

33 Zit.n. Heller: Musikdatenbanken. In: FAZ online. Unter: http://www.faz.net/aktuell/wissen/

musikdatenbanken-das-geht-ins-ohr-11941211.html [aufgerufen am 21.01.2014]; vgl. auch Gebesmair: Grundzüge einer Soziologie des Musikgeschmacks.

423

Süddeutschen Zeitung online etwa,34 eine Presseschau basierend auf Facebook Likes und Twitter Tweeds, ist hier nur ein wahlloses Beispiel für die mitun­ ter unmerklichen und doch tiefgreifenden Veränderungen, welche in derlei Bereichen jüngst stattfinden und eine Auseinandersetzung mit dem Medien­ gebrauch des Likens empfehlenswert machen.

liken  Forschung

FORSCHUNG  „We are not claiming too much for these questions in a psy­

chological point of view when we assert, that if seriously and thoughtfully treated, they will lead to very interesting psychological researches; nor, on the other hand, that if treated as a mere jest and pastime, they will prove an endless source of amusement“35, schrieb Robert Saxton 1869 im Vorwort zu seinem MENTAL PHOTOGRAPHS Fragebogenalbum. Während sich Letzteres im Laufe der vergangenen knapp anderthalb Jahrhunderte durchaus bewahrheitet hat, ist die „ernsthafte und nachdenkliche“ Auseinandersetzung mit Confession Alben in der Forschung weitgehend ausgeblieben. Und dies gilt nicht nur für den Spezialfall des Confession Albums: Während es etablierte, zum Teil traditions­ reiche Forschungen zu Geschmack, zur Mode, zu Trends oder zum Fantum gibt, fehlen systematische, historische sowie komparative Untersuchungen zum Mediengebrauch des Likens recht grundsätzlich. Nur einzelnen Formen des Likens wurde bisher, wenn überhaupt, wissenschaftlich nachgegangen, etwa in den Theaterwissenschaften dem Beifall als Element des Theaters. Welche weiteren Formen existieren, wann, wie und unter welchen medialen Voraus­ setzungen geliked wird, welche Rhetoriken und Kommunikationsmodi mit dem Liken verbunden sind und welche kulturellen Wirkungen es zeitigt, ist noch zu untersuchen. Mitunter muss selbst das Material erst noch erschlossen werden: Für den Beispielfall der Confession Alben etwa sind auf institutioneller Seite bisher keine systematischen Sammlungen ausfindig zu machen.36 Spezifische Forschungsperspektiven eröffnen dann beispielsweise die Fra­ gen, wie der Mediengebrauch des Likens sich zur Zirkulation von Inhalten,

34 Facebook-Twitter-Presseschau. In: SZ online. Unter: http://www.sueddeutsche.de/app/

facebook-twitter-presseschau [aufgerufen am 21.01.2014].

35 Saxton: Mental Photographs, Preface, o. S. 36 Vgl. Kohlbecher: Das Fragebogenalbum des 19. Jahrhunderts. In: Mitteilungen der Gesell­

schaft für Buchforschung in Österreich, S. 26.

424

Wenn mir jemand sein Gedicht vorliest oder mich in ein Schauspiel führt, wel­ ches am Ende meinem Geschmacke nicht behagen will, so mag er den Batteux oder Lessing [...] und alle von ihnen aufgestellte Regeln zum Beweise anführen [...] Ich stopfe mir die Ohren zu, mag keine Gründe und kein Vernünfteln hören und werde eher annehmen, daß jene Regeln der Kritiker falsch sein [sic!], oder wenigstens hier nicht der Fall ihrer Anwendung sei, als daß ich mein Urteil durch Beweisgründe a priori sollte bestimmen lassen, da es ein Urteil des Geschmacks und nicht des Verstandes oder der Vernunft sein soll.38

Während sich das Liken, ebenso wie andere Mediengebräuche, als Gegen­ stand interdisziplinärer Forschung aufdrängt, lassen sich an kulturgeschicht­ liche Aufarbeitungen und kulturwissenschaftliche Analysen des Gebrauchs (etwa: Welche Rolle spielten die Alphabetisierung, die Ausdifferenzierung der moderne(re)n Gesellschaft oder der Zugang zu Kultur für die Ent­ stehung des frühen „Social Mediums“ Confession Album?) verschiedene fachspezifischere Fragestellungen unter Berücksichtigung des Medialen anschließen. So wäre aus psychologischer und soziologischer Perspektive nach Aspekten der Sozialisierung, der Nachahmung, Gruppenbildung und Identitätsfindung mittels des Likens zu fragen, aus ökonomischer Perspektive nach Analogien im Konsumverhalten oder im Crowdsourcing etwa, oder aus der Perspektive kritischer Theorie nach Aspekten wie Öffentlichkeit, Masse, „Filter Bubbles“ (Eli Pariser) oder den Normierungseffekten (der Ideologie?) von Algorithmen.

liken  Forschung

zu ihrer gesellschaftlichen Bewertung, zur Bildung von Kanons im weitesten Sinne sowie zum Urteil des Experten verhält. Wenn Marcel Reich-Ranicki, der als einflussreichster deutscher Literaturkritiker der Gegenwart gilt, sagt, am Anfang jeder Kritik stehe eine „unmittelbare Empfindung“, ein Dafür oder Dawider, und ergänzt: „Die notwendigen Argumente sind nicht immer gleich da, aber sie lassen sich finden“37, so stellt sich mit Blick auf das zeitgenössische Liken die Frage, inwiefern jene Argumente dann tatsächlich überhaupt noch „notwendig“ sind. Bereits Kant scheint sie sich verboten zu haben:

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37 Reich-Ranicki/Matt: Der doppelte Boden, S. 64. 38 Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Ders.: Werke, S. 214.

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LÖSCHEN MATTHIAS BICKENBACH

Als die Araber im Jahre 641 Alexandria erobert hatten, wußten sie mit der berühm­ ten Bibliothek nichts anzufangen. Der kommandierende Feldherr wandte sich an den Kalifen Omar um Rat, und dieser entschied: ‚Wenn diese Bücher mit dem Koran übereinstimmen, so sind sie nutzlos und brauchen nicht erhalten zu werden. Wenn sie ihm aber widersprechen, sind sie gefährlich und müssen ver­ nichten werden.‘ So geschah es, daß die größte Büchersammlung der antiken Welt in die Öfen der viertausend Badehäuser der Stadt wanderte. Sechs Monate lang sollen sie gebrannt haben.1

Die berühmte Geschichte des Bibliotheksbrands von Alexandria erzählt nicht nur vom Skandal einer Auslöschung kultureller Werte, dessen Symbol sie bis heute geblieben ist. Sie öffnet auch den Zugang zur Komplexität einer Kulturtechnik, deren Gebrauch im Alltag heute eher unbedeutend erscheint. Täglich werden im Computer Daten gelöscht, privat oder industriell. Papiere werden vernichtet oder unlesbar gemacht; Überarbeitungen löschen Entwürfe und Gedanken. Die Praktiken des Löschens sind vielfältig: Je nach Medium und Materialität kann es sich um manifeste Formen des Auskratzens und Ausradierens handeln oder um Streichungen und Überschreibungen. Meist steht die Funktion der Freigabe für Neues im Vordergrund. Diese Ökonomie der Speicherkapazität koppelt speichern und löschen als Zusammenhang und verleiht dem Löschen Notwendigkeit. Das Beispiel Alexandrias aber stellt diese Ökonomie auf den Prüfstand des Skandals. Sichtbar wird, dass dem Löschen eine Entscheidung über Wert oder Unwert vorausläuft. Daher sind Praktiken des Löschens nicht nur nach Medium, Materialität und apparativer Funk­ tion zu unterscheiden. Am Extremfall der vollständigen Auslöschung eines Archivs wird die Problematik als eine beobachterabhängige Operation deut­ lich. Löschen kann, je nach Perspektive, notwendig, probat oder katastrophal

löschen  Anekdote

ANEKDOTE 

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1 Schivelbusch: Die Bibliothek von Löwen, S. 9.

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löschen  Anekdote

sein. Löschen kann eine Strategie des Entzugs von Information bedeuten, die als Machttechnik genutzt wird. Dass der Begriff der Auslöschung auch Men­ schenleben meint – Mord, Genozid und Holocaust (‚All-Brand‘) –, markiert die grundsätzliche Ambivalenz der Operation zwischen ‚gut‘ und ‚schlecht‘, die im Mediengebrauch weitgehend in Vergessenheit gerät. Der Bibliotheksbrand von Alexandria erzählt offensichtlich vom Skandal der barbarischen Vernichtung von Kulturgut im Kontext eines Kulturkamp­ fes zwischen Orient und Okzident, Christentum und Islam. Der Ort ist kein beliebiger. In Alexandria wurden über Jahrhunderte alle Schriften der Antike systematisch gesammelt, verwaltet und kommentiert. Ein Gesetz sah vor, dass jedes ankommende Schiff alle Originalmanuskripte abliefern musste. Sie wur­ den kopiert, die Abschrift zurückgegeben und das Original archiviert. Alex­ andria ist auch der Ort der frühen Philologie, in der Textedition, diakritische Zeichen und der Kommentar zum Standard der Textpflege wurden, auch für die Bibelkommentierung. Die Auslöschung von der die Anekdote erzählt, betrifft damit eine Institution, die als Symbol der abendländischen Schrift­ kultur schlechthin gelten muss. Die irreversible Vernichtung der vielen Bücher, zumal im Zeichen des einen Buches, des KORAN, betont diesen Kulturkampf. Doch das ist nur eine Anekdote: eine Geschichte, die sprachlich inszeniert und stilisiert ist. Es fällt auf, dass sie erheblich dramatisiert. Die Dramatik besteht in einer dreifachen Zuspitzung. Zunächst werden zwei Extremwerte aufgeru­ fen: Ein absolutes, vollständiges Archiv wird ebenso absolut ausgelöscht. Das Phantasma eines Speichers, der schlechthin alles fasst, wird vom Phantasma einer restlosen Löschung überboten. Beides aber sind Märchen: Weder gibt es die eine, allumfassende Bibliothek noch ist eine absolute Löschung ohne Reste oder Spuren zu denken.2 Die Anekdote selbst bezeugt das. Sie erzählt auch davon, dass selbst die Auslöschung Reste und Spuren hinterlässt und sei es nur als Erinnerung an den barbarischen Akt. Insofern ist die Anekdote nicht nur als Anklage, sondern auch als Sieg über die Vernichtung zu verstehen. Sie taucht nicht zufällig bei Historikern und Geschichtsphilosophen immer wieder auf,

2 Zum Bibliotheksphantasma grundlegend Wegmann: Bücherlabyrinthe; zur These, dass im­

mer ein Rest oder Spuren blieben vgl. Derrida: Dem Archiv verschrieben sowie ders.: Feuer und Asche.

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löschen  Anekdote

bei Gibbon und Hegel ebenso wie bei Mommsen oder Toynbee. Drittens aber inszeniert die Anekdote die ‚Katastrophe‘ buchstäblich, im Wortsinn, nämlich als Figur der vollständigen Umkehrung. Noch das Löschen selbst, das vom Wortsinn her dem Feuer gilt, verkehrt sich in den Brand, der ‚löscht‘. Die Anekdote insze­ niert damit sprachlich wie gedanklich die Umkehrung einer kulturellen Ord­ nung: Wert wird zu Unwert, Information oder Wissen wird zu bloßer Materie, zu Heizmaterial. Das eine Buch tritt an die Stelle der vielen Bücher, der Islam an die Stelle des Christentums, der Orient an die Stelle des Abendlandes usw. Die Systematik der Umkehrung verleiht dieser Geschichte ihre rhetorische Wirkung. Ihre Stilisierung macht sie jedoch verdächtig. Tatsächlich stimmt historisch an ihr nichts. Es ist eine erfundene Geschichte. Schon seit Gibbon und also vor Hegel gibt es begründete Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit. Ihr vermeintlicher Chronist verfasst sie rund 600 Jahre später und damit im Kon­ text der gescheiterten Kreuzzüge. Verlässliche Quellen aus der Zeit um 641 über die Eroberung Alexandrias durch die Araber erwähnen einen Bibliotheksbrand mit keinem Wort. So ist diese Geschichte ein Propagandamittel, das im Kon­ text der Kreuzzüge die Barbarei der Auslöschung „den Arabern“ andichtet. Sie lässt sich jedoch auch als eine Geschichte des Löschens lesen, die den Gebrauch dieser Kulturtechnik auf den Prüfstand seiner impliziten Voraussetzungen stellt. Begriff und Gebrauch des Löschens folgen bis heute der hier erzählten idealisierten Vorstellung der vollständigen, restlosen Zerstörung, die meist in guter Absicht oder aus Notwendigkeit geschieht. Beide Ideale, die gute Absicht wie die vollständige Löschung, bringt die Anekdote ins Wanken, indem sie einen Blick von außen, den des Kalifen, einführt. Damit erzählt die Anek­ dote Grundlegendes über die Beobachterabhängigkeit der Operation. Jeder Gebrauch des Löschens geht davon aus, dass das Gelöschte überflüssig ist. Die Entscheidung über Wert oder Wertlosigkeit läuft dem Gebrauch voraus. Von der Perspektive des „Nutzers“ hängt es daher ab, ob das Löschen katas­ trophal oder nützlich ist. Genau das erzählt die Anekdote auch. Sie stellt es überdeutlich heraus, nur als entgegensetzte Perspektive des Kalifen, die genau begründet, warum für ihn alle Bücher der Welt überflüssig sind. Indem die Anekdote so die Notwendigkeit der Auslöschung betont, verweist sie auf die fundamentale Struktur des beobachterabhängigen Urteils. Aus der Sicht des Kalifen ist die Bibliothek tatsächlich überflüssig. Ihre Auslöschung ist nicht nur blinde Zerstörungswut, sondern soll Raum für ein anderes Wissen und

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löschen  Etymologie

eine andere Kultur schaffen, die hier inhaltlich im Zeichen des Korans steht. Löschen zeigt sich damit nicht nur als Akt der Auswahl und Entscheidung, sondern auch als Akt der Neubegründung. Die Anekdote erinnert daran, dass Löschen eine ambivalente Operation ist, die auf der Annahme gründet, dass das Gelöschte nicht mehr von Wert ist. Die tatsächliche Zerstörung der Bibliothek war ein Prozess, der über Jahr­ hunderte hinweg und damit wenig dramatisch verlief. Andere Anekdoten erzäh­ len davon. Schon im Jahr 391 n. Chr. wurde die berühmte Bibliothek geplün­ dert, dieses Mal nachweislich von Christen unter der Führung des Patriarchen Theophilos. Diese Barbarei einer partiellen Löschung tritt in den Hintergrund der Überlieferung, ebenso wie eine andere Geschichte. Das Motiv des Biblio­ theksbrands geht auf eine noch ältere Katastrophe zurück. Im Jahr 48 v. Chr. war Julius Cäsar für einen Bibliotheksbrand in Alexandria verantwortlich. Er wurde jedoch in der Geschichtsschreibung ganz anders bewertet, weil das Feuer, das Cäsar zur Eroberung Alexandrias einsetzte, eine Kriegsstrategie gegen die Flotte im Hafen sein sollte. Die Perspektive macht den Unterschied. Der Bibliotheksbrand wird hier nur als unglücklicher Zufall oder Kol­ lateralschaden bewertet, gleich wie viele Schriften vernichtet wurden. Die Fallgeschichte zeigt insgesamt, dass der Gebrauch des Löschens nicht nur als manifester oder technischer Vorgang zu fassen ist. Er muss in den Zusam­ menhängen einer beobachterabhängigen Auswahl und Wertung reflektiert werden, die gerade in der Mediengeschichte des automatisierten Löschens leicht vergessen werden. ETYMOLOGIE  Das deutsche Wort löschen ist keineswegs eindeutig und ver­

bindet mehrere, heterogene Bedeutungen. Kalk wird sprachlich ebenso gelöscht wie Durst, Schiffsladungen oder im heutigen Sprachgebrauch Daten und Information. Eine konstitutive Differenz leitet sich von zwei lat. Begriffen her, von ‚extingere‘ (auslöschen) und ‚delere‘ (entfernen, tilgen). Das Wort löschen bezeichnet daher eine Vielzahl von Operationen zwischen Auskratzen, Durch­ streichen und Überschreiben bzw. -malen, die nicht genau unterschieden sind. Computertechnisch wird zwischen ‚logischem‘ und ‚physikalischem‘ Löschen unterschieden, wobei ersteres der Normalfall ist und die Funktion des Befehls bzw. der Taste ‚Del‘ (delete) bzw. ‚Entf‘ (entfernen) nutzt. Hierbei wird der Befehl ‚unlink‘ ausgeführt, der die Speicheradresse zur späteren Überschreibung

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löschen  Etymologie

freigibt. Das Gelöschte bleibt zunächst gespeichert. Physikalisches Löschen dagegen besteht digital ebenfalls nicht in der Auslöschung der Daten, son­ dern in ihrer mehrfachen Überschreibung. Die Unterscheidung zwischen logischem und physikalischem Löschen im digitalen Medium entspricht daher nur scheinbar der zwischen ‚extingere‘ und ‚delere‘. Der Wortgebrauch von löschen lässt sich zudem nicht auf direkte Weise durch die eigentliche Wortbedeutung herleiten, sondern stellt eine mehrfache metaphorische Übertragung dar. Dass Schiffsladungen ‚gelöscht‘ werden und es diesbezüglich noch heute den Beruf des Löschers gibt, ist eine weitere Hete­ rogenität der Wortbedeutung, da hier die eigentliche Bedeutung von ‚lossen‘ (‚lösen‘) sprachgeschichtlich verschliffen worden ist. Das Wort Löschen (urspr. leschen) im eigentlichen Sinn gilt zunächst Handlungen gegenüber Feuer und Flammen, durch die es erstickt wird. Es ist nicht nur Wasser angesprochen. Von der Flamme der Kerze, die man löscht, indem man sie ausbläst oder etwas über sie stülpt, um den Sauerstoff zu entziehen, überträgt sich die Bedeutung metaphorisch auf jedes Licht, etwa auf das der Sonne, die am Abend ‚verlischt‘. Das Verb kennt so von früh an Übertragung auf andere Größen, das Löschen von Durst oder (‚brennenden‘) Leidenschaften und das Löschen einer Schuld.3 Die Anwendung auf das Löschen von Information ist ein weiterer Fall dieser Übertragungen, die sich jedoch nicht zufällig im Sprachgebrauch durchge­ setzt hat. Denn Daten und Schriften wurden in der Kulturgeschichte immer schon nicht nur gespeichert, sondern auch gelöscht, indem sie überschrieben, gestrichen oder getilgt wurden. Aber erst die Automatisierung der Funktion in elektrotechnischen Geräten und im Computer hat das Löschen als tägliche Praxis des Mediengebrauchs allgemein verbreitet. Die Wortverwendung in Bezug auf Information, sei es für Schrift oder technische Medien, sei es als Form des Vergessens in der Verhaltenspsychologie (‚Löschung‘ von Erinnerungen), führt auf den Unterschied zwischen ‚extin­ gere‘ und ‚delere‘ zurück. Während ‚extingere‘ ein Löschen durch Ersticken bzw. Durchmischung mit anderen Stoffen impliziert (Feuer, chemisches Löschen von u. a. Kalk), bedeutet es tendenziell vollständige Auslöschung als Veränderung des vormaligen Zustands. Insofern kann sich die paradoxe Übertragung vom

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3 Vgl. (Art.) Löschen. In: Grimm, Sp. 1177–1180.

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löschen  Kontexte

Löschen des Feuers auf das Löschen von Information legitimieren, weil Feuer, eigentlich Objekt des Löschens, sinnfälliges Symbol der Veränderung von Aggregatzuständen und daher Symbol der Vernichtung ist. In der kulturel­ len Praxis wurde das Löschen jedoch vorwiegend im Sinne eines Entfernens (delere) als Tilgung entweder durch Streichung (symbolisches Löschen) oder durch manifestes Auskratzen oder Herausmeißeln von Zeichen oder Bildern aus Steinen bzw. durch das Abschaben von Schriftzeichen auf Pergament benutzt (manifestes Auslöschen). Im Begriff ‚Tilgen‘ überkreuzen sich wiede­ rum die ambivalenten Bedeutungen und Tätigkeiten. Tilgen wurde zunächst nicht als physikalische, sondern als symbolische Entfernung der Information verwendet, als Löschung einer Geldschuld, indem der Name des Schuldners auf der Liste durchgestrichen wurde. Symbolisches und physikalisches Löschen werden vom Sprach- und Mediengebrauch gleichwertig behandelt, machen aber in der Realität einen Unterschied, wenn etwa symbolische Löschungen nicht mehr zugänglich sind oder umgekehrt vermeintlich gelöschte Daten immer noch zugänglich bleiben. Letzteres ist im Zeichen von Privatsphäre und Internet, Datenschutz etc. heute eine gesellschaftsweit relevante Problematik. KONTEXTE  Der Gebrauch des Löschens als Kulturtechnik ist bei Weitem

älter als sein Begriff. Die spätantike römische Praxis der ‚damnatio memoriae‘ kennt die manifeste Löschung von Namen aus Inschriften, damit sie nicht in Erinnerung bleiben. Doch schon in altägyptischen Gräbern sind Bilder und Hieroglyphen aus politischen Zwecken herausgeschlagen worden. Seit es die Schrift gibt, wird beim Schreiben umformuliert, getilgt und gestrichen. Auch das Überschreiben bzw. Neuschreiben ist eine Form des Löschens. Nicht zufällig ist der Titel Thomas Bernhards AUSLÖSCHUNG (1984) darauf bezogen. Eine Fami­ liengeschichte wird ausgelöscht, indem der Erzähler sie neu schreibt. Speichern und Löschen sind daher keine isolierten Operationen, sondern stehen in einem engen wechselseitigen Bedingungszusammenhang. Wenn Bücher gedruckt wer­ den, sind Entwürfe, Streichungen und Umformulierungen gelöscht. Philologie und Geschichtsschreibung haben daher immer schon auch mit dem Gebrauch des Löschens zu tun. Die politische Geschichte kennt ideologische Überschrei­ bungen ebenso wie strategische Informationspolitik, die durch Schwärzung von Stellen oder Zensur Inhalte vorenthält. In der Literaturwissenschaft rekonstruie­ ren kritische Werkausgaben die Löschungen der Schreibprozesse als Textgenese.

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löschen  Kontexte

Was dem Prozess des Schreibens implizit ist – und noch beim Gebrauch des Computers im Überschreiben von Zeichen und Löschen von Dateien tagtäglich geschieht – ist kulturgeschichtlich eine stete und uralte Praxis. Weil Löschen Raum für Neues freigibt, ist es aus ökonomischen Gründen notwendig. So wurden in der Schriftkultur, aber auch in der Malerei, Trä­ germedien oft mehrfach verwendet. Aufgrund des Wertes von Schreibmate­ rial, v. a. von Pergament, ist v. a. im Mittelalter die Mehrfachverwendung von Schreibmaterialien gängige Praxis. Antike Schriften, die man für heidnisch oder verzichtbar hielt, wurden in den christlichen Skriptorien systematisch überschrieben. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. können diese Palimpseste durch Röntgenstrahlen wieder sichtbar gemacht werden. Der ökonomische Zusammenhang von Speichern und Löschen ist bereits von einem Schreibmedium der frühen griechischen Antike sinnfällig belegt. Schon in der Zeit von Sokrates und Platon (5. Jh. v. Chr.) sind Wachstafeln als Schreibmedium für Notizen verbreitet. Das zugehörige Schreibwerkzeug (stylus) besaß eine Spitze zum Einritzen und ein abgeflachtes Ende zum Glätten des Wachses, um sie neu zu beschreiben. Die Wachstafel als Gedächtnisstütze und ‚Notizblock‘ ist dabei nicht nur materiell als Medium bis in die Spätantike verbreitet oder bis heute als Tafel in Schulen und Vortragssälen in Gebrauch. Die ökonomische Lösung eines Speichers, der wiederverwendbar ist, stiftet jenseits aller Medientechniken ein Modell noch für den Computer. Heutige Tablet-PCs lassen gleichsam die Wachstafel der Antike auf digitaler Basis wiederkehren. Während die Schrift­ kultur im Zeichen von Rein- und Prachtschrift, Buch und Buchdruck dauer­ hafte und unveränderliche Speichermedien favorisierte, fallen im Computer Schreib- und Löschroutinen technisch zusammen. Es ist dabei nicht einfach die äußere Differenz von RAM und ROM, Arbeitsspeicher und Festplatte angesprochen, sondern die Logik der digitalen Datenverarbeitung selbst. Schon Alan Turings und später John von Neumanns Entwürfe der uni­ versalen Maschine sehen die implizite Kopplung beider Funktionen vor.4

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4 Vgl. Schröter: Notizen zu einer Geschichte des Löschens. Unter: http://www.theorie-der-

medien.de/text_druck.php?nr=51#fnB1 [aufgerufen am 14.03.2013]; vgl. Turing: Intelligence Service, S. 27: „Die Maschine […] löscht alle x- und y-Buchstaben.“

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löschen  Kontexte

Während Turings Modell noch keine technisch reale Umsetzung fand, wurde fast zeitgleich auf der Basis analoger, magnetischer Schallspeicherung für das Magnetophon 1935 der eigenständige Löschkopf erfunden. Ein starker Ring­ magnet entmagnetisiert die Aufnahme. Dabei handelt es sich genau genom­ men nicht um das Entfernen der Kodierung, sondern um einen erneuten Aufnahmevorgang, also eine Überschreibung, jedoch mit Unterschied einer Nullinduktion, so dass das Tonband erneut ‚aufnehmen‘ kann. Erstmals fallen Überschreiben und vollständige Löschung sowie Freigabe zusammen. Bewirkte diese Erfindung des technisch aufwändigen Löschkopfs zunächst noch keine diskursiven Effekte in der Medientheorie, so ist es kein Zufall, dass die ersten Großcomputer auf der Basis von Magnetbändern operieren. Tonbänder, Kassettenrecorder und der Videorecorder integrieren die Lösch­ funktion noch vor dem Computer im privaten Mediengebrauch als individu­ elle Mediennutzung. Damit endet die Ära der schrift- und buchtechnischen Datenspeicher, in der Speichern und Löschen als unterschiedliche und externe Eingriffen genutzt wurden (Korrektur, Zensur etc.). Durch die medientech­ nische Kopplung von Speichern und Löschen wurde der Begriff des Löschens zu einem Oberbegriff für alle Gebrauchsweisen der Tilgung und zur allge­ meinen Praxis, die vormals Experten überlassen blieb. Während sich so eine Chronologie der Medientechniken erstellen lässt, die in der Implementierung des Löschens einen Epochenwechsel findet, darf nicht vergessen werden, dass damit das uralte Modell der Wachstafel auf anderer technischer Basis zurückgekehrt ist. Die Wachstafel ist nicht nur deshalb so bedeutsam, weil sie ein funktio­ nales Modell ist, sondern weil sie von früh an zugleich zu einem zentralen philosophischen Vorstellungsmodell für das Gedächtnis wurde. Die Vorstel­ lung vom Gedächtnis wird seit der frühen Antike durch zwei Metaphern oder Vorstellungsbilder geprägt: Durch die Vorstellung des ‚Speichers‘ als Raum, in dem etwas gelagert wird und durch die Wachstafel.5 Platon hat sie in seinem Dialog THEÄTET eingeführt. In der Seele des Menschen sei durch Göttergabe als Gedächtnis eine Wachstafel vorhanden. Individuell könne das Wachs grob oder fein sei, je nachdem wie deutlich oder ungenau das

5 Vgl. Weinrich: Typen der Gedächtnismetaphorik. In: Archiv für Begriffsgeschichte, S. 23–26.

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löschen  Konjunkturen

Gedächtnis des Menschen ist. Mit dem Modell sind seitdem alle Meta­ phern der Einschreibung (‚einprägen‘) für das Gedächtnis verbunden, aber auch die Frage des Vergessens. Die Wachstafel impliziert das Verlöschen und Überschreiben von ‚Eindrücken‘, auch wenn Gedächtnistheorien da­raus keine explizite Theorie des Vergessens gezogen haben. Noch Sigmund Freud wird in seiner NOTIZ ÜBER DEN ‚WUNDERBLOCK‘ (1925)6 das Modell in Form des bekannten Kinderspielzeugs aufnehmen, um an dieser komplexe­ ren, dreischichtigen Variante seine Vorstellung des psychischen Apparates darzustellen. Während beschriebenes Papier ‚Dauerspuren‘ bewahrt und daher bald voll ist, kann eine Tafel unbegrenzt Information aufnehmen, jedoch nicht bewahren. „Unbegrenzte Aufnahmefähigkeit und Erhaltung von Dauerspuren“ zugleich scheinen technisch nicht möglich, doch beim Gedächtnis gerade der Fall zu sein. Zentral für Freud ist nun nicht, dass der Wunderblock, wie jede Tafel speichern und löschen kann, sondern dass in seiner obersten, transparenten Schicht auch nach der Löschung unschein­ bare, nicht mehr vollständig lesbare Spuren bleiben. Freud veranschaulicht damit seine Theorie des Unbewussten, in der Erinnerungen als nicht mehr zugängliche, überschriebene und gelöschte Spuren nicht einfach ausge­ löscht sind. In der Medien- wie in der Geistesgeschichte werden so um 1930 die funktionalen Kopplung von Speichern und Löschen gleichermaßen zu einem zentralen Thema.

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KONJUNKTUREN  Da das aktive Löschen in all seinen Formen eine stete, aber

spezialisierte Praxis des Mediengebrauchs seit den frühen Schriftkulturen war, kann von einer Konjunktur des Gebrauchs kaum gesprochen werden. Erst heute, im Kontext digitaler Informationsverarbeitung, ist es zugleich medientechnisch wie reflexiv als Diskurs relevant. Einerseits gilt dies für die medienpädagogische Warnung vor der Dauerhaftigkeit digitaler Daten im Internet, aber auch auf privaten Medien (PC, Digitalkamera, Handy). Ein Artikel des Spiegel benennt diesen Diskurs: „Verräterische Magnetspuren. Speicher von Computern, Digi­ talkameras oder Kopierern werden meist unzureichend gelöscht – vertrauliche

6 Vgl. Freud: Notiz über den ‚Wunderblock‘. In: Gesammelte Werke, S. 3–8. Freud verweist

selbst auf die Wachstafel „der Alten“ [ebd., S. 5].

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löschen  Konjunkturen

Daten lassen sich leicht rekonstruieren.“7 Andererseits muss jedoch auch vor der Suggestion der ‚Ewigkeit‘ digitaler Speicherung gewarnt werden. CDs oder Festplatten können nach einem Jahrzehnt physikalisch oder technisch unlesbar geworden sein, sei es durch Korrosion, durch spezielle Bakterien auf CDs oder schlicht durch den Wechsel der Betriebssysteme und Programme. Sicherheitskopien, Abwärtskompatibilität oder Emulationsprogramme schaf­ fen hier Abhilfe. Dennoch ist gerade für Datenbanken und das Internet die Perspektive darauf, wie viele Informationen verschwinden, äußerst lehrreich.8 Dennoch stehen eher Fragen der Speicherung im Vordergrund des Interesses. Die kulturkritische Perspektive, dass die enorme Anreicherung von Daten eine Form des Vergessens sei („Speichern heißt vergessen“), ist ebenso ein Spezial­ diskurs wie Anleitungen zum sicherheitsrelevanten richtigen Löschen digitaler Speicher durch Spezialprogramme.9 Obwohl heute die Funktion Löschen inte­ graler Bestandteil der Medien und damit eine Kulturtechnik ist, entspricht die Konjunktur seines Gebrauchs in keiner Weise einer der Reflexion. Das liegt an der relativ jungen Verbreitung der gekoppelten Funktionen. Schriftkulturen und die frühen technischen, analogen Medien (Fotografie, Film, Grammophon, Schreibmaschine) optimieren ausschließlich die Spei­ cherfunktion. Löschen ist hier eine spezialisierte, externe Operation, die nur im Zusammenhang mit elitärer, politischer Praxis als Zensur oder in wis­ senschaftlichen Zusammenhängen von Philologie, Edition und Buchdruck Anwendung fand. Wie beim Schreibprozess gehört das Löschen als Auswahl, Korrektur und Streichung in der Editionsphilologie seit dem Humanismus unmittelbar zur Praxis der Schriftkultur. Editionen antiker Texte erstellen um 1500 durch Vergleich von Textfassungen, Ergänzung und Streichung ‚korrupter Stellen‘ verbindliche Werkeditionen. Die Editionsphilologie des späten 19. Jhs. schafft mit der historisch-kritischen Ausgabe dann ein Aufschreibesystem, das alle Varianten verzeichnet. Die in den Schreibmedien immer schon angelegte Möglichkeit des Strei­ chens, Übermalens bzw. -schreibens oder Auskratzens wird erst allmählich 7 Schmundt: Verräterische Magnetspuren. In: Der Spiegel, S. 144f. 8 Vgl. Warnke: Digitale Archive. In: Pompe/Scholz (Hrsg.): Archivprozesse, S. 269–281. 9 Zu ersterem Osten: Das geraubte Gedächtnis; zu letzterem etwa in einer Computerzeit­

schrift vgl. Bremer/Vahldiek: Auf Nimmerwiedersehen. In: c’t, S. 192f.

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löschen  Konjunkturen

und zunächst unscheinbar als zusätzliche und später als integrierte Funktion zugänglich. Ende des 18. Jhs. kommt es zufällig zur Erfindung des Radier­ gummis (radere = kratzen, schaben) durch Edward Nairne. Nach der Eta­ blierung der Schreibmaschine wird im frühen 20. Jh. Korrekturpapier und später ‚Tipp-Ex‘ eingeführt. Dem Füllfederhalter folgt sehr viel später die Erfindung des ‚Tintenkillers‘.10 All dies sind Beispiele für separate, unschein­ bare Gebrauchsmedien des Löschens, die ihren Speichermedien folgen und die Funktion des Auskratzens durch einen Schaber differenzieren, so dass die gelöschte Stelle nicht einfach geschwärzt und damit unbrauchbar, sondern wiederverwendbar wird. Die Operationen des Löschens in den älteren Traditionen trugen auch viele verschiedene Namen, zwischen ‚ausradieren‘, ‚übermalen‘, ‚streichen‘ oder ‚emendieren‘, so der philologische Fachausdruck für das Tilgen einer Formulie­ rung. Alle diese Eingriffe waren als jeweilige konkrete Praxis ebenso verbreitet wie sie kaum systematisch im Zusammenhang des Oberbegriffs Löschen stan­ den. Dass der heutige Sprachgebrauch umstandslos Daten meint und unter Löschen einen automatisierten Vorgang begreift, ist eine Entwicklung, die mit der Verbreitung des Personal Computers zu tun hat. Kultur- und mediengeschichtlich deutet sich seit Freuds WUNDERBLOCK (1925), der Erfindung des magnetischen Löschkopfs (1935) und den Ent­ wicklungen der Computertheorie (Turing, von Neumann u. a., zwischen 1937 und 1950) in Theorie und Praxis der heutige Mediengebrauch an, in denen Speichern und Löschen eine Einheit bilden.11 Tonband, Kassettenrekorder und Videorecorder sind die ersten technischen Unterhaltungsmedien, die individuelle Aufnahmen nicht nur als direkte Speicherung, sondern auch als Schnitt und eigenes Sample ermöglichen. Erst die Löschfunktion öffnet so die technischen Medien der individuellen Verfügbarkeit und den Unterhal­ tungszwecken. Heute ist die digitale Datenverwaltung tägliche Praxis privater wie kommerzieller Mediennutzung. Indem digitale Speicherung aber enorme Datenmengen generiert, ergibt sich die Notwendigkeit die Datenbestände

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10 Vgl. Heinevetter/Sanchez: Fragmente einer Geschichte des Löschens. In: Dies. (Hrsg.): Was

mit Medien, S. 148–161. Hinweise dazu auch bei Neef: Abdruck und Spur, S. 26ff. und S. 112ff.

11 Vgl. Winkler: Docuverse.

439

ständig zu aktualisieren. In dieser Form, der Aktualisierung, ist das Löschen heute eine globale Konjunktur des Mediengebrauchs.

löschen  Gegenbegriffe

GEGENBEGRIFFE   Aufheben, archivieren, bewahren, speichern, erinnern,

senden und Gedächtnis sind Begriffe der Bewahrung bzw. Speicherung und bilden Gegenbegriffe, insofern sie nicht die damit u. U. verbundene Verdrän­ gung vorhergehender Information reflektieren.

PERSPEKTIVEN  Die Differenz von ‚delere‘ und ‚extingere‘ sind für den kollekti­

ven, digitalen Mediengebrauch zwei unterschiedliche Formen und Gebrauchs­ weisen des Löschens, die zu ethischen und rechtlichen Differenzen führen, etwa wenn Daten von Usern im Internet gelöscht werden, aber Firmen den­ noch weiterhin zur Verfügung stehen oder auf anderen Servern weiterhin existieren. Diese Problematik, seine eigenen Daten im Internet nicht mehr einfach löschen zu können, hat sich als Anforderung an die Medienpädago­ gik herausgestellt. Eine allgemeine und im Kontext des Computergebrauchs notwendige Anwendungsperspektive ist jedoch v. a. der eigene, praktische Umgang. Es ist zentral, zwischen ‚logischem‘ bzw. symbolischem Löschen und ‚physika­ lischem Löschen‘ unterscheiden zu können. Nur wer weiß, dass die Lösch­ taste des Computers nicht sofort und tatsächlich löscht, kann wissen, dass er versehentlich gelöschte Daten auf seiner Festplatte wiederherstellen lassen kann, solange er sie nicht schon durch weitere Nutzung überschrieben hat. Nur wer weiß, dass digitale Daten schwer tatsächlich gelöscht werden können, kann entsprechend mit privaten Informationen öffentlich umgehen lernen. Die Perspektive auf Anwendungen des Löschens führt insgesamt zu einer Reflexion der Datenverwaltung, die im erweiterten Umgang mit Wissen und Lernen als Ökonomie und Verwaltung von Information Vorteile bietet, da jede Verwaltung größerer Informationsbestände zwischen relevanten und weniger relevanten Daten sowie von solchen, die nicht mehr von Bedeutung sind, unterscheiden können muss. FORSCHUNG  Die Beobachterabhängigkeit des Löschens ist dabei ein Ansatz,

nicht nur den eigenen Mediengebrauch zu reflektieren, sondern auch kulturelle Gebrauchsweisen. Indem Löschen immer die Wertlosigkeit der Information

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löschen  Forschung

impliziert, können seine Praktiken sowohl politische Rhetorik, implizite und explizite Zensur als auch Formen der Überlieferung und Techniken der Archi­ vierung betreffen. Eine systematische Geschichte der Praktiken, Techniken und Funktionen des Löschens liegt jedoch weder von der Seite der Medien­ geschichte noch von der Seite der Kulturwissenschaften vor. Die Beobachtung von Praktiken des aktiven Vergessenmachens im Kontext Politik und Infor­ mationspolitik (u. a. Zensur) bietet jedoch einen ebenso wichtigen Ansatz wie kreative oder kulturelle Gebrauchsweisen im Umgang mit Traditionen, Überlieferung oder konkreten Kunstwerken (Übermalung, Montage, Zitier­ formen), die auch als Formen der partiellen oder gänzlichen Überschreibung gelten können. Im Kontext von Gedächtnistheorien lässt sich eine Art Vorgeschichte der Reflexion im Zeichen des Vergessens finden. Wesentliche Hinweise auf die Relevanz des Themas aus kulturgeschichtlicher Perspektive hat Harald Weinrich vorgestellt.12 Der spanische Humanist Juan Luis Vives argumentierte im 16. Jh., dass die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria die Welt vor der Überlast des Wissens bewahrt habe. Als notwendiges Vergessen und ‚Reinigung‘ wird die Auslöschung als positive Reduktion von Wissensbeständen gewertet.13 Der Bibliotheksbrand gilt Vives so als gleichsam natürliche Form des Schwunds in der Überlieferung. Die Bewertung des Bibliotheksbrandes erhält auch im Kontext der Konkurrenz von scholastischen und humanistischen Wissen eine Erklärung. Ganz wie in Rabelais’ humanistischen Roman GARGANTUA UND PANTAGRUEL der Schüler erst einmal alles scholastische Wissen buchstäblich erbrechen muss, um so gereinigt das neue humanistische Wissen in sich auf­ nehmen zu können,14 versteht Vives den Bibliotheksbrand nicht als unwie­ derbringlichen Verlust, sondern als Entlastung vom sammelnden, scholasti­ schen Universalwissen zugunsten eines auf Ethik und Bildung ausgerichteten humanistischen Wissens.

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12 Vgl. Weinrich: Lethe. 13 Zur Lektürepolitik des Reinigens und Ausmerzens anstößiger (unchristlicher oder eroti­

scher) Stellen bei Juan Luis Vives und im Humanismus vgl. Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens, S. 116ff. 14 Vgl. Weinrich: Lethe, S. 60ff.

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löschen  Forschung

Auch hier wird ein Kulturkampf und Systemwechsel in der Speiche­ rungsform von Wissen deutlich, den Weinrich in seinem Buch zur Kunst des Vergessens aufzeigt. In ihr spielt das aktive Löschen von Erinnerungen die Hauptrolle. Abgesehen von fakultativen Funktionen wie vergessenes Heimweh durch Drogengebrauch bei Homer (Odysseus bei den Lotopha­ gen) oder Ovids Anweisungen in seiner LIEBESKUNST, wie man eine untreue Geliebte wieder vergisst, lassen sich zwei epochale Formationen der Kultur­ geschichte aufzeigen, in denen das Löschen systematisch zur Neugründung geworden ist: Einerseits die Wissenstechnik des Humanismus in Absetzung vom scholastischen Enzyklopädismus, mit der Maxime nicht alles, sondern das Wichtige zu wissen, andererseits aber die Aufklärung mit ihrer Maxime der Vernunft und des „Denke selbst“ in Absetzung vom barocken Univer­ salgelehrten.15 Beides sind Kulturtechniken der Reduktion von Komplexität und der Neubegründung, die ein Übermaß von Information löschen. Friedrich Kittler hat in ähnlicher Weise die Form der Literatur des Barocks als univer­ sales Aufschreibesystem der „romantischen Datenverarbeitung“ des 18. Jhs. gegenübergestellt, in der Quellen und Anregungen zugunsten der Individu­ alität und Eigenständigkeit eines Autors gelöscht sind.16 Friedrich Nietzsche wird gegen Ende des 19. Jhs. der Geschichtswissenschaft und Philologie seiner Zeit die Notwendigkeit des Vergessens zugunsten des Lebens und Handelns entgegenhalten.17 Weinrich wiederum lässt seine Geschichte mit einer iro­ nischen „Ars oblivionis“ heutiger Wissenschaftspraxis ausklingen, nach der jeder Wissenschaftler die Unmengen an Informationen der Forschung ver­ gessen können muss, um seine eigene Leistung herauszustellen.18 So kennt das Löschen als kulturelle Praxis zwar weder eine konsistente Theorie noch eine Konjunktur seiner Reflexion, wohl aber eine Kulturgeschichte, die weit über rein medientechnische Aspekte hinausgeht.

15 Vgl. ebd., S. 79ff. 16 Kittler: Über romantische Datenverarbeitung. In: Behler/Hörisch (Hrsg.): Zur Aktualität der

Frühromantik, S. 127–140.

17 Vgl. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen II. In: Ders.: Kritische Studienausgabe,

S. 243–334.

18 Weinrich: Lethe, S. 263ff.

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theorie der Computer, Regensburg/Mün­ chen (1997).

NACHAHMEN JENS RUCHATZ

das Leben nahm, konnte ein erhebliches massenmediales Echo nicht ausbleiben. Unmittelbar nach dem Ereignis setzte eine journalistische Aufarbeitung ein, die sich eingehend mit den Umständen des Suizids beschäftigte. Angesichts der publizistischen Aktivität sah sich eine Woche später Stefan Niggemeier, bekannt als Betreiber des journalismuskritischen Bild-Blogs, zu dem Kommentar bemüßigt: „Die Medien arbeiten seit einer Woche daran, die Zahl der Selbstmorde in Deutschland in die Höhe zu treiben.“1 Mit dieser Prognose, die auf der Überzeugung beruht, dass eine massenmedial verbreitete Darstellung eines Suizids Nachahmungstaten hervorbringen wird, konnte sich Niggemeier auf Befunde der sozialwissenschaftlichen Medienwirkungsforschung stützen.2 Er erwähnte konkret den amerikanischen Soziologen David Phillips, der die statistische Beziehung, die er zwischen der Zeitungsberichterstattung über Selbsttötungen und einer anschließenden Zunahme von Suiziden entdeckte, als Beleg für die suggestive Wirkung massenmedialer Berichterstattung deutete und für diesen Sachverhalt den diskurshistorisch so erfolgreichen Begriff des ‚Werther-Effekts‘ prägte. Als für die Monate nach Enkes Tod eine Zunahme von Suiziden auf Eisenbahngleisen gemeldet wurde, erinnerten sich Journalisten an Niggemeiers Medienschelte und waren entsprechend überzeugt, auf einen „Enke-Effekt“ gestoßen zu sein. „Suizide“, so wurde etwa im Magazin der Süddeutschen Zeitung dargelegt, „sind salopp gesagt wie Modetrends. Sie regen zur Nachahmung an. Und je mehr man darüber weiß, desto besser kann man sie kopieren.“3 Verantwortlich gemacht für die Nachahmungstaten wurde nicht die Meldung an sich, sondern die detaillierte Ausleuchtung des

nachahmen  Anekdote

ANEKDOTE  Als sich Fußballnationaltorwart Robert Enke im November 2009

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1 Niggemeier: Über Enke und Werther (2009). Unter: http://www.stefan-niggemeier.de/blog/

ueber-enke-und-werther/ [aufgerufen am 10.02.2014].

2 Vgl. Phillips: The Influence of Suggestion on Suicide. In: American Sociological Review,

S. 340–354.

3 Cadenbach: Der Enke-Effekt. In: SZ Magazin, S. 28; vgl. auch Schäfer/Quiring: Gibt es

Hinweise für einen ‚Enke-Effekt‘? In: Publizistik, S. 141–160.

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nachahmen  Anekdote

Tathergangs und möglicher Motivationen des Torhüters. In die massenmediale Berichterstattung ging also nicht nur Enkes Suizid ein, sondern ebenso die massenmediale Berichterstattung, die sich an dieses Ereignis geknüpft hatte. Suizide als Nachahmungshandlung zu behandeln hat Tradition. Die Sozialstatistik des 19. Jhs. zog gerne Zahlenmaterial heran, um das Phänomen lokaler ‚Selbstmordepidemien‘ dingfest zu machen. Kontrovers diskutiert wurde in diesem Zusammenhang, ob journalistische oder fiktionale Darstellungen von Suiziden eine Rolle als Auslöser oder Verstärker spielten.4 Die Formel vom ‚Werther-Effekt‘ bezieht ihre Evidenz aus einer ‚Epidemie‘, deren Wurzel in einer Suiziddarstellung unstreitig scheint. Nachdem Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1774 den Briefroman DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER publizierte, dessen Hauptfigur sich in Folge einer unerfüllten Liebe das Leben nimmt, wurde in den Folgejahren wiederholt eine Beziehung zwischen dem Buch und tatsächlichen Selbsttötungen hergestellt. Zeitgenössische Zeitschriften berichteten, dass Suizidanten aufgefunden worden seien, die sich wie die literarische Figur in gelber Weste und blauer Jacke gekleidet, durch Kopfschuss getötet und dazu oft noch Goethes Buch aufgeschlagen vor sich gelegt hatten.5 Ein auf diese Weise inszenierter Suizid will als ‚theatrale‘ Darbietung wahrgenommen werden und zählt auf ein Publikum, das die zeichenhaften Verweise auf das Vorbild zu ‚lesen‘ und auf diesem Weg die Tat zu deuten vermag. Inwieweit sich diese Inszenierung in der Berichterstattung lediglich niederschlug, durch sie forciert oder überhaupt erst hergestellt wurde, lässt sich nachträglich nicht mit Sicherheit feststellen. Das in den zeitgenössischen Debatten erzeugte kulturelle Wissen erwies sich jedenfalls als so nachhaltig, dass es noch mehr als zwei Jahrhunderte später als Chiffre aufgegriffen wird. Wie sehr Goethes Roman den Nerv des Publikums getroffen hatte, zeigen die für die Zeit auffälligen Verkaufszahlen.6 Die zeitgenössisch beliebte Form des Briefromans, die den Ausdruck des Protagonisten dem Leser unmittelbar zu überliefern und die Fiktionalität zu verwischen schien, war auf empfindsame 4 Vgl. Macho: Vorbilder, S. 393–402. 5 Die zeitgenössische Berichterstattung arbeitet auf: Andree: Wenn Texte töten, S. 172–197. 6 Ebd., S. 113, schätzt Auflage und Publikum [ebd., S. 137–169] und zeichnet die Spuren des

Romans in der zeitgenössischen Kultur nach.

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nachahmen  Anekdote

Leser zugeschnitten, die sich in die emotionale Welt des Protagonisten einleben und in einer ‚emphatischen Lektüre‘7 nachvollziehen wollten. Goethe rühmte sich selbst, seiner „Produktion“ derart „alle Glut“ eingehaucht zu haben, dass „keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Wirklichen“ mehr möglich war, bedauerte aber zugleich die Verwirrung einiger „Freunde“, die „glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls erschießen“.8 Ein Teil der Leser beschränkte sich, wie Zeitgenossen verzeichneten, nicht auf den geistigen Nachvollzug, sondern kleidete sich wie Werther oder kopierte die Muster der Liebeskommunikation. In diesem Kontext erweist sich der Suizid nur als extremste Ausprägung eines breiteren Phänomens, des schon von den Zeitgenossen so bezeichneten ‚Werther-Fiebers‘.9 Das vorstehende Beispiel legt die unterschiedlichen Ebenen frei, auf denen Nachahmung als mediale Nutzungspraxis einschlägig wird: Zum einen wird davon ausgegangen, dass die mediale Darstellung von Handlung nachahmende Folgehandlungen im außermedialen Raum zeitigen kann. Hierbei scheint es sekundär, ob die als Modell postulierte Handlung in fiktionaler oder journalistischer Form vorliegt, denn mit dem auf Romanlektüre referierenden Begriff des ‚Werther-Effekts‘ tituliert Phillips die Folgen von Zeitungsberichten. Hier von einem Nachahmungsverhältnis auszugehen, verlängert die binnenmediale Wirklichkeit gewissermaßen in den außermedialen Raum, der dadurch zu einem mediatisierten wird und so die Grenze von Medium und Wirklichkeit als durchlässig erweist. Zum anderen belegt die Semantik des ‚Werther-Effekts‘ die binnenmediale Praxis, dass Medien – wenigstens zu einem bestimmten Maße – selbstreferentiell operieren, wenn sie medial etablierte Formen nachahmen. Diskursgeschichtlich gegen den Strich gebürstet, verrät die Bezeichnung ‚Werther-Effekt‘ weniger die immer wieder anfallende Nachahmung medial vorgebildeter Suizide als die stetige Aktualisierung einer Semantik. Nachahmender Mediengebrauch kann also handelnd auf die außermediale Wirklichkeit ausgreifen und

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7 Vgl. ebd., S. 59–76. 8 Goethe, zit. n. Andree: Wenn Texte töten, S. 14. 9 Vgl. ebd., S. 175.

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nachahmen  Etymologie

diese in den Sog des Mediums ziehen, sich aber auch in einer Textproduktion niederschlagen, die mediale Semantiken und Formen nachbildet. Schließlich ist Nachahmen in einer dritten Hinsicht im Spiel. Zu erinnern ist nämlich, dass Goethes WERTHER selbst eine Nachahmung der Wirklichkeit betreibt – und das nicht nur in dem allgemeinen kunsttheoretischen Sinn, dass Fiktion mögliche Wirklichkeiten entwirft. Goethe bezog sich auf den zeitgenössisch viel beachteten Fall des Juristen Carl Wilhelm Jerusalem, der sich 1772, offenkundig motiviert durch eine unglückliche Liebe, mit einer Pistole in seiner Wohnung erschossen hatte, während auf dem Tisch (wie im WERTHER) die EMILIA GALOTTI aufgeschlagen lag.10 In Gotthold Ephraim Lessings bürgerlichem Trauerspiel wählt die Protagonistin den Tod, um einer Liebesintrige zu entgehen, fordert jedoch den Vater auf, sie zu erdolchen, um der Schande einer Selbsttötung zu entgehen.11 Goethe literarisiert somit einen Suizid, der sich wiederum selbst in eine literarische Tradition stellt. So bilden sich von der EMILIA GALOTTI bis hin zum ‚Enke-Effekt‘ Nachahmungsketten, die zwischen Wirklichkeit und medialer Darstellung oszillieren. ETYMOLOGIE   Weil der Begriff der Nachahmung in so unterschiedliche

Richtungen weist, lässt sich an seinem Gebrauch greifen, wie das Verhältnis medialer Darstellung zur Wirklichkeit historisch verhandelt wird. Der Ästhetik ist Nachahmung zunächst als Zentralbegriff vormoderner Kunsttheorie geläufig. Platon und Aristoteles prägten die Idee, dass Kunst Nachahmungen (mimesis, μίμησις) der Wirklichkeit produziere.12 Der mediale Raum wäre demnach sekundär zu einer immer schon konstituierten Wirklichkeit aufzufassen. Im Kontext des ‚Werther-Effekts‘ rückt der Begriff jedoch die genau entgegengesetzte Wirkrichtung in den Blick und nimmt Medien als Fundus von Mustern, an denen sich die außermediale Praxis orientieren kann. Medial

10 Zu Goethes Vorlage vgl. Andree: Wenn Texte töten, S. 10–13, 172. Andree geht davon aus,

dass die Authentifizierung durch das geläufige Vorbild zur Wirkung von Goethes Roman beigetragen hat [ebd., S. 133–136]. 11 Lessing verarbeitet seinerseits eine römische, von Livius überlieferte Legende. 12 Zur Geschichte des Nachahmungsbegriffs in den Poetiken von der Antike bis um 1800 siehe Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung.

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nachahmen  Etymologie

erzeugte und verbreitete ‚Inhalte‘ – Berichte, Bilder, Narrationen usw. – wären demnach der Wirklichkeit in gewisser Hinsicht vorgängig. Im allgemeinsten Sinn wird nachahmen als Tätigkeit verstanden, die darauf abzielt, ein Verhalten, Gegenstände oder – im Diskurs der mimesis – allgemein Wirkliches möglichst genau zu reproduzieren. Das Streben nach Genauigkeit lässt sich der etymologischen Herkunft des Wortes abhorchen, die das Nachbilden mit dem ‚Ausmessen‘ des Vorbilds verbindet.13 Das heute synonym gebrauchte Verb ‚imitieren‘ deutet ebenfalls in diese Richtung, insofern es mit dem verwandten Verb aemulor das Bemühen gleichzuziehen impliziert und mit imago das Vorbild als das, was es nachzuahmen gilt, anklingen lässt.14 Visuell durchwirkte Metaphorik durchzieht also gleichermaßen die Bezeichnung dessen, was nachgeahmt wird oder nachgeahmt werden will. Eher medienindifferent kommt die verwandte Begrifflichkeit des Beispiels oder Exempels daher.15 Von dem die exakte, mechanische, tendenziell identische Reproduktion akzentuierenden Begriff des Kopierens setzt sich das Nachahmen ab, insofern es das Moment der Intervention und Verschiebung stärker nuanciert – sei dies durch Kreativität, Unvermögen oder schlicht einen zeitlichen wie räumlichen Kontextwechsel hervorgerufen. An Poststrukturalismus und Dekonstruktion geschulte Positionen beharren darauf, dass jede Form der Wiederholung zwangsläufig mit einer Transformation zusammenfällt, die Kopie und Original in einem Zug verändert, sodass gerade nicht Identisches, sondern eigentlich Differenz erzeugt wird.16 Heuristisch bleibt es dennoch produktiv, ‚Nachahmungsstrategien‘ zu unterscheiden, die entweder auf Ununterscheidbarkeit oder auf Verwandlung, entweder auf Konservierung oder auf Erneuerung abzielen. Die Koexistenz von Konstanz und Verschiebung bringt allerdings begriffliche Schwierigkeiten mit sich. Nachahmung kann es nur als Zuschreibung

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13 Vgl. (Art.) Nachahmen. In: Kluge, S. 645. 14 Vgl. Jolles: Einfache Formen, S. 36. 15 Vgl. Willer/Ruchatz/Pethes: Zur Systematik des Beispiels. In: Dies. (Hrsg.): Das Beispiel,

S. 7–59.

16 Vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung; Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: Ders.:

Randgänge der Philosophie, S. 325–351; Wirth: Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung. In: Fehrmann et al. (Hrsg.): OriginalKopie, S. 18–33.

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nachahmen  Etymologie

geben, die eine Abstraktionsleistung erfordert, welche von der Einzigartigkeit eines Ereignisses oder eines Sachverhalts absieht, um dessen Übereinstimmungen mit etwas früher Gegebenen in den Vordergrund zu rücken und diese als Ausdruck einer konstitutiven, kausalen Vorgängigkeit zu interpretieren. Solch eine Setzung ist selbst dann noch am Werk, wenn – wie im Falle der Werther-Suizide – Zeichen vorliegen, die zu einer ‚Lektüre‘ als Nachahmungstat aufzufordern scheinen, denn stets bleibt es dem Beobachter freigestellt, Abweichungen oder Übereinstimmungen stärker zu gewichten. Die Zuschreibung eines Imitationsverhältnisses ist somit ein performativer Akt, der die Nachahmungsbeziehung erst eigentlich herstellt. Die diskursiv erzeugte Hierarchisierung kann normativ gestärkt werden, wenn – wie auf dem Feld der modernen Künste – Originalität hochgeschätzt und Epigonentum verachtet wird. Das Vorbild kann aber auch beschädigt werden, wenn es – wie im Falle des WERTHER oder der Berichterstattung über Robert Enke – selbst für inkriminierte Nachahmungen haftbar gemacht wird. Die Begrifflichkeit vereint verschiedene zum Nachahmen führende Motivierungen und Auslöser, die „bewußte Angleichung des eigenen Verhaltens an das Verhalten eines anderen“, aber auch die „unreflektierte (‚automatische‘) Übernahme (Wiederholung) des Modellverhaltens“17. Mit dieser Gegenüberstellung geht in der Regel eine Wertung einher, die den bewussten dem unbewussten Vollzug vorzieht. Kulturpessimistische Mediendiskurse gehen zumeist von einer externen Hervorrufung aus und delegieren so, wie im Fall des Werther-Effekts, die Verantwortung für die Nachahmung an ‚die Medien‘. Die Frage der Bewusstheit konvergiert mit der nach dem Grad der Nachahmung. KRÜNITZʼ OEKONOMISCH-TECHNOLOGISCHE ENCYKLOPÄDIE unterscheidet im Jahr 1805 „Nachäffung“, die wie im „Kinderspiel“ unverstanden und oberflächlich kopiert; „knechtische und ängstliche“ Nachahmung, die zwar bewusst erfolgt, aber in der Übernahme keine weiteren Selektionen wagt; die „freye und verständige“, die gezielt nur bestimmte Elemente des Gegebenen aufgreift und auf diesem Wege sogar in der Lage ist, etwas „zwar nicht in seiner Anlage, aber in seiner Ausführung“ Originales hervorzubringen.18 Auch

17 Scheerer/Schönpflug: (Art.) Nachahmung. In: Ritter, Sp. 319. 18 (Art.) Nachahmung. In: Krünitz, S. 668f.

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nachahmen  Kontexte

hier verrät die moderne Semantik der Nachahmung eine deutliche Präferenz für aktive, da selektive Steuerung. Während sich soziale Beziehungen grundsätzlich als Nachahmungsbeziehungen beschreiben lassen,19 interessiert hier, wie nachahmen die Praxis des Mediengebrauchs etikettiert. Zum einen sind es die Massenmedien, die die Frage nach den Vorbildern auf die Agenda setzen. Weil Massenmedien über den Nahbereich hinausreichen und ihre Botschaften gesellschaftsweit adressieren, wird es besonders relevant, wenn sie zu Nachahmung motivieren. Zum anderen geht es in diesem Rahmen um Medienspezifik, wenn konkreten Medien ein besonderes Vermögen zuerkannt wird, suggestiv auf ihr Publikum einzuwirken. Medieneinsatz kann dann als Strategie auftreten, ein beeinflussbares Massenpublikum durch Vorbilder zu steuern. Dass die Verführungskraft medialer Vorbilder eher mit jeweils neuen Medien verknüpft wird, zeigt sich wiederum am ‚Werther-Fieber‘, etablierte sich der Roman doch erst im Laufe des 18. Jhs. als dominante literarische Gattung, vor deren Beeinflussung eines jungen, ‚lesewütigen‘ Publikums die gerade entstehende Pädagogik warnte. Im Fall des ‚Enke-Fiebers‘ wird Medienspezifik hingegen völlig ausgeblendet und die schlichte massenmediale Verbreitung als Auslöser für Nachahmungshandlungen postuliert. Medien und Nachahmung koppeln sich mithin auf zwei unterscheidbaren Ebenen: Es wird erstens vermutet, dass die spezifischen Dispositive und Formen von Medien zur Nachahmung stimulieren, und zweitens befürchtet (oder seltener auch erhofft), dass die massenmediale Infrastruktur entsprechendes Nachahmungshandeln gesellschaftsweit durchsetzen könne.

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KONTEXTE Insofern nachahmen als Praxis definiert ist, die mediale Darstellungen mit außermedial wirksamen Praktiken des Publikums kurzschließt, taucht die Begrifflichkeit in einem Spektrum von Diskursen auf, die sich mit der Prägung von Verhalten beschäftigen. Abhängig von der Perspektive kann das Nachahmen medial dargestellter Verhaltensweisen entweder als Option zur Verhaltensoptimierung positiv oder aber als Einfallstor für Manipulation negativ eingeschätzt werden. In diesem Rahmen finden sich Thematisierungen

19 Vgl. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung.

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nachahmen  Konjunkturen

der Nachahmung v. a. in pädagogischen Diskursen im weitesten Sinn, die beispielsweise das Nachahmen ‚realer‘ und massenmedial vermittelter Darstellungen kontrastieren. Erweisen sich die pädagogischen Thematisierungen häufig affin zu populären, wenn nicht populistischen Formen der Kulturkritik, so hat die Psychologie sich stärker fachwissenschaftlich mit den kognitiven Grundlagen von Nachahmungslernen auseinandergesetzt. Gänzlich instrumentell interessiert die Stimulierung zur Nachahmung schließlich die Propagandaforschung oder die ‚Public Relations‘, die aus kommerziellen Interessen darauf setzen, Nachahmungshandlung möglichst konkret vorherzusagen. Die Ausdifferenzierung der Kontexte, in denen Nachahmung als Form der Mediennutzung diskutiert wird, lässt sich allerdings nur historisch angemessen entfalten, begleitet das Konzept der Nachahmung die kulturelle Textproduktion doch schon seit der Antike. KONJUNKTUREN  Die Annahme, dass Darstellungen Nachahmungen vorprä-

gen, findet sich – auch wenn die Referenz auf Medialität oft implizit bleibt – durch die abendländische Geschichte hindurch. Schon Platons POLITEIA verachtet nicht nur die oberflächliche Nachahmung der Wirklichkeit durch die Künste, sondern warnt ebenso vor der Nachahmung der Künste durch die Rezipienten. Tragische Dichtung sehe ihr höchstes Ziel darin, das Publikum mit den Helden mitleiden zu lassen. Die entsprechende Identifikation mit den Protagonisten gewöhne daran, sich den Affekten hinzugeben, statt sie durch die Vernunft im Zaum zu halten. Weil die Dichtung so zur Schwäche erzieht, gelte es sie – bis auf „Götterhymnen und Loblieder auf die tüchtigen Männer“20 – aus dem von Platon imaginierten Idealstaat auszuschließen. Indem er sich nicht gegen Nachahmung schlechthin, sondern gegen schlechte Vorbilder wendet, begründet Platon eine Tradition, die Nachahmung am Maßstab des Nachgeahmten misst. Bis zur Moderne ist Lesen eine Form der Mediennutzung, die ihren Wert vornehmlich aus dem Praxisbezug zieht. Lektüre motiviert sich durch praktische Anwendbarkeit des Gelesenen, sie ist mithin von Grund orientiert auf imitatio nützlicher Beispiele. „Das Lesen“, so der Literaturwissenschaftler Erich Schön,

20 Platon: Politeia, 10. Buch, S. 843, 607a.

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Die literarische Gattung, in der sich dies am prägnantesten ausdrückt, ist die Heiligenlegende. Sie dampft eine Lebensbeschreibung nämlich auf genau das ein, was lehrhaft und der Nachahmung würdig ist, mithin all das, was den Heiligen zu einer leichter fasslichen Verkörperung von christlicher Tugend macht.22 Solche christliche ‚Exempelliteratur‘ zielt auf die „geglückte imitatio der heiligen Imitatoren, die als Personen Repräsentanten Christi sind“23: Heilige fungieren als durch Bilder und Erzählungen geformte textuelle Gestalten, die zur Nachahmung aufrufen, indem sie selbst als erfolgreiche Nachahmer und Nachfolger Christi auftreten. Dass es auch jenseits der christlichen Handlungslehre Norm war, sein Tun an Exempeln auszurichten oder diese wenigstens als Rechtfertigungsgrund zu bemühen, verdeutlicht die bis um 1800 währende Gültigkeit des Topos ‚historia magistra vitae‘, der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens.24 Die Beschäftigung mit der Vergangenheit lohnt sich demzufolge, wenn daraus Lehren für gegenwärtiges Handeln gezogen werden können. Exemplarisches Lesen tritt im Laufe des 18. Jhs. allmählich zurück und wird im Bereich der Fiktion durch empathisch-identifizierende Lektüre ersetzt, wie sie nicht zuletzt im WERTHER dargestellt und von dessen Lesern praktiziert wird. Sowohl die neue Orientierung auf Individualität als auch die Entdeckung einer offenen, noch ungekannten Zukunft beschneiden den Glauben an in Exempeln abgelegtes Handlungswissen. Die Prämierung des Neuen gibt Nachahmung prinzipiell einen negativen Beigeschmack, was sich idealtypisch auf dem Terrain der Kunst zeigt, auf dem das aus sich selbst heraus schaffende Originalgenie zur Leitfigur aufsteigt.

nachahmen  Konjunkturen

war gesteuert von einem stofflichen Interesse; die Handlung des Buches galt als übertragbar, seine ‚Lehre‘ oder ‚Moral‘ als in der Lebenspraxis des Lesers anwendbar. [...] Ergebnis war in allen Fällen eine vom Text als ‚Lehre‘ unmittelbar angegebene oder doch grundsätzlich begrifflich ansprechbare handlungslenkende Nutzanwendung.21

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21 Schön: Geschichte des Lesens. In: Franzmann et al. (Hrsg.): Handbuch Lesen, S. 24. 22 Vgl. Jolles: Einfache Formen, S. 36–40. 23 Helmer/Herchert: (Art.) Vorbild und Beispiel. In: Benner/Oelkers (Hrsg.): Historisches

Wörterbuch der Pädagogik, S. 1108–1114.

24 Vgl. Koselleck: Historiamagistra vitae. In: Ders.: Vergangene Zukunft, S. 38–67.

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nachahmen  Konjunkturen

Der Literaturwissenschaftler Gisbert Ter-Nedden will dennoch kein grundsätzliches Ende der Orientierungskraft des Historischen annehmen. Stattdessen erkennt er eine neue Ordnung potenzieller Beispiele, die nicht mehr rhetorisch zur Nachahmung empfohlen, sondern erst einmal nur publizistisch berichtet werden. Der journalistische Bericht geht nicht per se von der Lehrhaftigkeit des Geschehenen aus, sondern legt die Notwendigkeit offen, jeden Praxisbezug im konkreten Fall erst herzustellen. Die Verabschiedung der rhetorischen Ordnung der Beispiele geht demnach einher mit der gesellschaftsweiten Durchsetzung des Buchdrucks als Massenmedium, das es sich leisten kann, Wissen zu verbreiten, ohne es vorher auf seine praktische Nützlichkeit hin durchmustert zu haben.25 Die massenmediale Publizistik richtet ihre Aufmerksamkeit weniger auf das Mustergültige als auf das Abweichende. Im Zuge dieses Wandels fällt die semantische Umstellung an, dass Nachahmung – im Zusammenhang massenmedialer Kommunikation – konsequent negativ bewertet wird. Die Debatte um die mutmaßlichen Folgen übersteigerter WERTHER-Rezeption zeigt an, dass die einstmalige Norm der ‚imitatio-Lektüre‘ aus der Zeit gefallen ist und von den publizierten Fiktionen gar nicht mehr vorgesehen wird.26 Ebenso gut ließe sich an dem Fall aber auch belegen, dass entsprechende Fehllektüren dennoch vorkommen können. Die Zuschreibung von Gefährlichkeit an Texte hat dabei weniger mit den vermittelten Inhalten als mit den Gebrauchsweisen zu tun, die den jeweiligen Adressaten der Massenkommunikation unterstellt werden. Wird von einer eher kognitiv orientierten Rezeption (als Kunst) ausgegangen, dann scheint das Publikum selbst von blutigsten Darstellungen ungefährdet. Vermutet man hingegen ein affektiv rezipierendes Publikum, das sich an visuellen Schaureizen und dem Spektakel delektiert, dann droht die Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit zu kollabieren und infolgedessen eine in Nachahmung überschießende Rezeption. Die Nachahmung

25 Vgl. Ter-Nedden: Das Ende der Rhetorik und der Aufstieg der Publizistik. In: Söffner

(Hrsg.): Kultur und Alltag, S. 171–190.

26 Vgl. zur Geschichte von imitatio-Lektüren Andree: Wenn Texte töten, S. 197–221. Zur The-

matisierung des Nachahmens von Literatur in der Literatur vgl. Pott: Literarische Bildung.

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nachahmen  Konjunkturen

von Medieninhalten wird damit vom anzustrebenden Normalfall zu einer unangemessenen und primitiven Reaktion.27 Die Annahme, ein unreifes Publikum tendiere zur Nachahmung vulgärer oder krimineller Inhalte, wird im 20. Jh. zu einem medienpessimistischen Dauerbrenner. Als exemplarischer Vertreter solch eines medienkritischen Diskurses soll hier der Jurist Albert Hellwig stehen, der in den 1910er Jahren Gerichtsakten, Zeitungsberichte und pädagogische Traktate überprüfte, die schilderten, wie konkrete Filme zu kriminellen Handlungen angeregt hätten, sei es, dass sie zu Gewalt stimulierten oder die Anleitung zu Raubüberfällen lieferten.28 Die behaupteten Kausalitäten ließen sich freilich in keinem Fall sichern. Hellwig musste sogar einräumen, dass manche Angeklagte ihren Filmkonsum als billige, aber von den Gerichten gern geglaubte Ausrede servierten.29 Gleichwohl zeigte er sich überzeugt, dass „[s]elbst wenn wir kein einziges Beispiel für diesen Zusammenhang konstatieren können […] diese Tatsache [der Film als Anreiz zu Verbrechen], welche auf zwingenden psychologischen Erwägungen beruht, nichtsdestoweniger bestehen bleiben“30 müsse. An Hellwigs Haltung wird sichtbar, wie stabil die Semantik ist, die Medien und Nachahmung zusammenspannt und wie wenig sie sich vom Ausbleiben konkreter Fälle irritieren lässt. Die Nachahmungsthese ist so geläufig, dass ihre Überzeugungskraft mühelos in verschiedensten Kontexten aufgerufen werden kann. Hellwigs Ausführungen stützen sich auf Medienspezifik, indem sie die Anschaulichkeit des bewegten Bildes mit suggestiven Wirkungen aufladen: „Das Beispiel, das [im Kino] vorgeführt wird, […] wirkt viel stärker auf die Phantasie als das, was jemand aus einem Buche, auch wenn es der sogenannten Schundliteratur angehört, herauszulesen vermag, denn da

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27 Vgl. Pethes: Die Gewalt des Populären. In: Huck/Zorn (Hrsg.): Das Populäre der Gesell-

schaft, S. 218–238.

28 Hier begegnet man erneut der Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Nach-

ahmung, zwischen Programmierung auf Gewalt und fehlgeleitetem Lernen; vgl. Hellwig: Schundfilms als Verbrecheranreiz. In: Österreichische Rundschau, S. 48. 29 Vgl. Hellwig: Der Kinematograph vom Standpunkt des Juristen. In: Die Hochwacht, S. 75f. 30 Ders.: Schundfilms, S. 68.

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nachahmen  Konjunkturen

gehört schon eine gewisse Bildung dazu, die nicht jeder hat.“31 Medienspezifische Argumente haben sich freilich mühelos finden lassen, um die Nachahmungsvermutung auf immer neue Medien zu übertragen. Als im Deutschland der 1970er Jahre diskutiert wird, ob das Fernsehen eine ‚Schule der Gewalttätigkeit‘ darstelle, ist es die Alltäglichkeit und Dauer der Medienrezeption, die hervorgehoben wird.32 In jüngerer Zeit ist darauf hingewiesen worden, dass Computerspiele die Schwelle zum tatsächlichen Töten einebneten, weil sie die subjektive Position des Schützen gewähren. Im Diskurs über medieninduzierte Gewaltnachahmung lösen neue Medien jedoch die älteren nicht einfach ab, sondern ergänzen und aktualisieren vielmehr das Bedrohungsszenario.33 Die Wissenschaft distanziert sich gerne von den populären Gewissheiten, wenn beispielsweise der Band GEWALT UND MEDIEN behauptet, dass „[d]ie These, die Beobachtung von Mediengewalt führe beim Rezipienten im Sinne des Stimulus-Response-Modells zu einer mehr oder weniger direkt anschließenden Nachahmungstat, […] nicht mehr vertreten“34 werde. Unter dem etwas elaborierteren Etikett der ‚Suggestionsthese‘ findet sich direkt anschließend dennoch eine Vielzahl von Studien, die Selbstmorde, Morde, Amokläufe und fremdenfeindliche Gewalt sehr wohl als Nachahmung medialer Vorgaben verstehen. Die Annahmen stützen sich zumeist – wie die Vorläufer im 19. Jh. – auf das Gesetz der großen Zahl und führen statistische Korrelationen zwischen medialen Darstellungen und angeblich ähnlichen Vorkommnissen aus. Der Diskurs der Nachahmung hat sich allerdings auch in Experimenten konkretisiert, die nachzuweisen hoffen, dass als gewalthaltig qualifizierte Fernsehbilder Kindergartenkinder dazu motivierten, zur Frustrationsbewältigung das vorgeführte Geschehen

31 Ders.: Schundfilms als Verbrechensanreiz, S. 49. Vgl. in ähnlichem Duktus auch Gaupp: Die

Gefahren des Kino. In: Schweinitz (Hrsg.): Prolog vor dem Film, S. 66f.

32 Vgl. Fischer/Niemann/Stodiek: 100 Jahre Medien-Gewalt-Diskussion in Deutschland,

S. 234.

33 So werden heute noch Filme als Gewaltauslöser verhandelt – z. B. als in den 1990er Jahren

vor amerikanischen Gerichten verhandelt wurde, ob Oliver Stones Films NATURAL BORN KILLERS für Anstiftung zum Mord haftbar zu machen sei; vgl. Boyle: What’s Natural About Killing? In: Journal of Gender Studies, S. 311–321. 34 Kunczik/Zipfel (Hrsg.): Gewalt und Medien, S. 94.

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Als soziales Wesen hat der Mensch die Neigung, sich am Verhalten anerkannter, weil gesellschaftlich erfolgreicher ‚Leithammel‘ (Opinion Leader) zu orientieren. Bei dieser Nachahmungstendenz mag mitunter der Wunsch mitspielen, dem Prominenten in einem Teilbereich, in dem es möglich erscheint – dem Konsumverhalten – nachzueifern und an seinem Lebensstil wenigstens ein klein wenig teilzuhaben.37

Schon in der Studie AMERICA AT THE MOVIES aus dem Jahr 1939 erwähnt die amerikanische Soziologin Margaret F. Thorp die aussagekräftige Anekdote, dass der Absatz von Unterhemden in den USA stark eingebrochen sei, nachdem sich Clark Gable in IT HAPPENED ONE NIGHT mit nacktem Oberkörper zeigte. Überhaupt seien die Stars der Leinwand der erfolgsträchtigste Weg, um Moden zu verbreiten.38 Die Vorbildwirkung der Werbung hat sich auch hier in einen populären Verdacht transformiert. Eine aktuelle Ausprägung

nachahmen  Konjunkturen

nachzuspielen.35 Die von wissenschaftlichem ­W issen erwartete Generalisierung stößt freilich auf Evidenz-Probleme, wenn sie imitatio-Rezeption zu einer allgemeinen Tendenz erhebt.36 Ein Feld des angewandten Nachahmungsdiskurses bildet die Werbung. Zielt Werbung in der Regel darauf ab, positive Bedeutungen mit Waren zu verknüpfen, so gründet Testimonial-Werbung in der Hoffnung, dass die als Nutzer des beworbenen Produkts auftretenden Prominenten oder Fachleute das Publikum zur Nachahmung anregen mögen. So formuliert ein Marktforscher:

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35 Vgl. z. B. Bandura/Ross/Ross: Imitation of Film-Mediated Aggressive Models. In: Journal of

Abnormal and Social Psychology, S. 601–607. Zum Medienbezug der Theorie Banduras siehe Otto: Aggressive Medien, S. 146–157; zur Übertragbarkeit der Laborexperimente siehe Kunzcik/ Zipfel: Gewalt und Medien, S. 83: „Während im Labor im Allgemeinen ausgeprägte Effekte festgestellt werden konnten, ist dies in Feldstudien, die in der ‚natürlichen‘ Umgebung der Rezipienten stattfinden, zumeist nicht der Fall.“ 36 Vgl. Otto: Massenmedien wirken. In: Cuntz et al. (Hrsg.): Die Listen der Evidenz, S. 221– 238. 37 Kirschhofer: Promis im Blick der Werbeforschung. In: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Prominente in der Werbung, S. 30; vgl. ebenso Mayer: Einführung in die Wahrnehmungs-, Lern- und Werbepsychologie, S. 175. 38 Vgl. Thorp: America at the Movies, S. 76f.

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dieses populären Wissens findet sich in der Überzeugung, dass sogenannte Magermodels die Ernährungsgewohnheiten von Jugendlichen beeinflussten.

nachahmen  Gegenbegriffe

GEGENBEGRIFFE  Um die Gegenbegrifflichkeit zu schärfen, ist es aufschluss-

reich mit dem von Gabriel de Tarde eingebrachten Begriff der ‚Gegen-Nachahmung‘ einzusteigen. Für Tardes Theorie der Sozialität ist es grundsätzlich einerlei, ob Menschen „das Gleiche tun wie das Vorbild oder das genaue Gegenteil“, bestätigen in der Zusammenschau doch gerade die gegenläufigen Strategien, dass die Bezugnahme auf andere das wesentliche „soziale Band“ sei.39 Ein faktischer, wenn auch nur selten thematisierter Gegensatz zur Nachahmung wäre hingegen die Folgenlosigkeit medialer Darstellung in der Nicht-Nachahmung. Als Gegenbegriff sehr viel wirksamer erweist sich ein Begriffsfeld, das einen emphatischeren Kontrast zur Nachahmung aufzubieten weiß, nämlich die Innovation, die dann freilich ihrerseits Objekt der Nachahmung werden kann.40 Die wesentlichen Gegenbegrifflichkeiten, die stets die Abwertung der Nachahmung im Sinn haben, kontrastieren dementsprechend das Soziale und Allgemeine als äußerlich gegen das Originale und Authentische, aus der ureigenen Persönlichkeit eines Individuums hervor Gewachsene, oder wenigstens gegen das Kreative und Innovative, das als Erfindung auftretende Neue. Die Nobilitierung des Singulären bei einer gleichzeitigen kulturellen Abwertung des Nachgeahmten (wenn nicht Reproduzierten) ist zweifelsohne als signifikanter Zug der Moderne anzusehen. Wie oben bereits dargestellt hat die poststrukturalistische Theoriebildung solch harsche Kontrastierung jedoch als kulturelle und historische Konstruktion enttarnt, um Nachahmung als stets auch produktiven und nie rein reproduktiven Akt, mithin als immer auch innovativ, aufzufassen. In dem Sinne, wie der Nachahmung hier ihr Gegensatz verloren geht, lässt sich die Geschichte der Nachahmung auch als Aufstieg und Fall ihrer Gegenbegriffe schreiben.

39 Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 13f. Zu einer diesem Kontext anzusiedelnden

Pädagogik des abschreckenden Beispiels siehe Eggers: Die Didaktik des schlechten Beispiels und die Antipädagogik Heinrich von Kleists. In: Ruchatz/Willer/Pethes (Hrsg.): Das Beispiel, S. 241–260. 40 Entsprechend führt auch Tarde Innovation als gegensätzliche Kraft zur Nachahmung an, siehe neben Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, auch Ders.: La logique sociale, S. 247–332.

458

wird, führt uns zurück zur Popularität des Nachahmungstopos. Während sich die sozialwissenschaftliche Medienwirkungsforschung mittlerweile ungern zum Konzept der Nachahmung bekennt, ist seine Popularität in der massenmedialen Berichterstattung ungebrochen. Im Fall von Mordfällen und Amokläufen v. a. jugendlicher Täter werden regelmäßig Verbindungen zum Medienkonsum gesucht. Der Hergang der aktuellen Tat wird dabei dem Geschehen im Film, Fernsehen oder Computerspiel gegenübergestellt, um die Analogie des Musters vor Augen zu führen. Die durch diese ‚Parallel-Montage‘ insinuierte Kausalität wird gerne durch den an den konkreten Nachweis gestützt, indem nach spezifischen Zeichen des Mediengebrauchs gefahndet wird, seien es aus dem Film SCREAM stammende Masken eines Täters oder der Besitz einer DVD oder eines bestimmten Computerspiels – wie einst das Exemplar WERTHER. Die aus der anschaulich geschilderten Fallgeschichte bezogene Evidenz wird dann allerdings typischerweise zum Symptom einer gesellschaftlichen Bedrohung verallgemeinert. Die Medienwissenschaftlerin Christina Bartz hat aufgezeigt, wie die Binnenlogik des Journalismus zu Nachrichten eben dieser Form neigt und nachrichtenwürdiges, da gerade singuläres Geschehen mit gesellschaftsweiter Relevanz ausstattet, um die Auswahl zur Berichterstattung zu motivieren.41 Wenn der Einzelfall so als Fall einer möglichen Regel erzählt wird, dann stützt die implizierte Regelhaftigkeit auch jede Wiederholung solcher Thesen in künftiger Berichterstattung. Der umgekehrte Fall, dass keine Nachahmungshandlung vollzogen wird, ist jedoch gerade deswegen keine Nachricht wert, weil er ‚normal‘ ist. Wenn zutrifft, dass, „[w]as wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen“42 aus den Massenmedien bezogen wird, dann ließe sich unter anderem hieraus die Popularität des Verdachts begründen, dass massenmedial verbreitete Botschaften zur Nachahmung anstiften – obwohl dies der persönlichen Erfahrung der meisten Mediennutzer kaum entsprechen dürfte.

nachahmen  Perspektiven

PERSPEKTIVEN  Dass diese Hypothese v. a. in journalistischen Texten vertreten

N

41 Vgl. Bartz: Vom Einzelfall zum Wissen über die Wirkung von Medien. In: Ruchatz/Willer/

Pethes (Hrsg.): Das Beispiel, S. 374–389. Für weitere Fälle derartiger journalistischer Berichterstattung siehe Kunczik/Zipfel: Gewalt und Medien, S. 15–19. 42 Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 9.

459

nachahmen  Forschung

FORSCHUNG  Als Konzept des Mediengebrauchs beeindruckt die Flexibi-

lität des Konzepts ‚Nachahmung‘, insofern es das Verhältnis von Medien und Wirklichkeit dynamisiert. Es erlaubt Medien als Instrumente zu beschreiben, die Wirklichkeit nachahmen können, wie auch als Lieferanten von Vorbildern, die nachgeahmt werden, um die Wirklichkeit zu prägen. Der Begriff der Nachahmung verliert in der Moderne allerdings seine positive Bewertung. Während das Nachahmen medialer Inhalte im ‚außermedialen‘ Raum nun mit Sorge betrachtet wird, weil die Massenmedien als Lieferanten schlechter Vorbilder gelten, während die Definition von Kunst als mimesis ihre Sinnfälligkeit einbüßt, findet – als Krisenphänomen der modernen Ästhetik – in der postmodernen Praxis eine Nobilitierung der Nachahmung statt, die gezieltes Kopieren als Kunstpraxis salonfähig macht: Zu denken wäre an die Pop Art, die massenmediale Muster und Motive mit technischen Verfahren reproduziert; an Zitatfilme wie die von Quentin Tarantino, die nur noch auf filmische Zeichenwelten referieren; Appropriation Art, die Kunstwerke reproduziert, um das Prinzip der Originalität in Frage zu stellen. Ein jüngster Beleg für eine Verschiebung der Werte war die Debatte um den Roman AXOLOTL ROADKILL von Helene Hegemann, in der erstaunlich viele Stimmen zu hören waren, die das beinahe wörtliche Kopieren von Textpassagen aus dem Internet als legitime ästhetische Strategie rechtfertigten. In diesem Sinne könnte ein Weiterdenken des Konzepts der Nachahmung, mehr als es in diesem Artikel möglich war, die Flexibilität des Konzepts herausstellen und es als Werkzeug verwenden, um aufzuschlüsseln, wie das Verhältnis der Medien zur Wirklichkeit – und zu sich selbst als Teil der Wirklichkeit – gefasst wird. LITERATUREMPFEHLUNGEN Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über

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PROTOKOLLIEREN MICHAEL NIEHAUS

Jakob Sauter in Haft gesetzt, weil er in der Woche zuvor seinen ehemaligen Gesellen erschlagen haben soll. Das Stadtgericht stellt langwierige Verhöre mit dem Inquisiten an, der sich immer mehr in Widersprüche verwickelt. Aber in gewisser Weise ist der Untersuchungsrichter – da die Folter einige Jahre zuvor abgeschafft worden ist – machtlos gegenüber dem hartnäckig leugnenden Sauter. Das Protokoll nummeriert und verzeichnet alle Fragen und Antworten. Am dritten Tag geht es – es ist schon spät – um ein verräterisches Schnupftuch: Int: 89. Wann habt ihr das Naßtuch in das Kamisol gethan? R: Am Mittwoch. Int: 90. Man will euch nun euer unverschämtes Lügen und die Unmöglichkeit das Naßtuch, welches ihr erst am Donnerstag abgeholt habt, schon am Mitt­ woch in das Kamisol gethan zu haben, noch mal vor Augen stellen und fragt euch also, was euch auch also zu dieser Lüg bringen konnte.

protokollieren  Anekdote

ANEKDOTE   Am 26. November 1786 wird in Konstanz der Wagnermeister

R: /:lächelnd:/ Nichts, außer daß ich die Wahrheit nicht gesagt habe.1

Das Protokoll, das eben auch die Unwahrheiten aktenkundig und zweifels­ frei wieder vorhaltbar macht, ist von einer erstaunlichen Genauigkeit. Eine über 200 Jahre zurückliegende Szene wird, wie man so sagt, lebendig: Man spürt förmlich die Gereiztheit des Untersuchungsrichters und ahnt, dass das ebenfalls verschriftlichte Lächeln des Verhörten ein eher gequältes Lächeln gewesen sein wird. Dazu trägt natürlich bei, dass das Protokoll, wie Ende des 18. Jhs. immer wieder gefordert, im direkten Stil und nicht, wie früher üblich, in indirekter Rede abgefasst wird. Tatsächlich erweist sich das Protokoll aber nicht als ein so transparentes Medium, wie es hier den Anschein hat. Und paradoxerweise ist es in die­ sem Fall das Protokoll selbst, das uns das anzeigt. Blickt man nämlich in das

P

1 Zit. n. Niehaus: Mord, Geständnis, Widerruf, S. 77f. (Stadtarchiv Konstanz, H XII 130).

463

protokollieren  Etymologie

Original, so sieht man sofort, dass im 90. Interrogatorium zunächst etwas zu Papier gebracht worden war, was dann mit intensiven Kringeln nicht nur durchgestrichen, sondern unlesbar gemacht werden sollte. Offenbar hat der entnervte Untersuchungsrichter noch mehr zu seinem Gegenüber gesagt. Mit einiger Mühe lässt sich das unter den Kringeln Versteckte gleichwohl entziffern. Was hier prozessordnungswidrig verborgen wurde, ist eine wei­ tere Prozessordnungswidrigkeit, nämlich die Drohung mit Schlägen. Es steht dort: „Diese Antwort verdienet mehr nicht, als daß man euch mit Streichen züchtigen sollte, man will aber euch noch verschonen“2. Dass es in den Gerichten nicht immer so zuging, wie es die Prozess­ ordnungen vorsahen, wird wohl nicht verwundern. Das Faszinierende dieses Ausschnitts liegt vielmehr darin, dass das Protokoll hier als ein Medium funktioniert, dem man sogar diesen Umstand noch entnehmen kann. Daher sagt diese Stelle so viel darüber aus, wie das Protokollieren funktioniert oder zumindest funktioniert hat. Das Protokoll hat die Auf­ gabe, die Fragen und die Antworten getreulich aufzuzeichnen. Der Kons­ tanzer Gerichtsschreiber hat diese Aufgabe so ernst genommen, dass er sogar das ins Protokoll aufgenommen hat, was man aus pragmatischen Gründen besser hätte unterschlagen sollen. Das hat man dann nachge­ holt, indem man die inkriminierte Stelle gestrichen hat. Aber kann man mit einer solchen Streichung etwas aus der Welt schaffen? Für den Leser, der das ungültig Gemachte entziffern konnte, steht jedenfalls zweifelfrei fest, dass der Untersuchungsrichter faktisch genau das gesagt hat. Dass es aber in diesem Fall überhaupt möglich ist, das Ausgestrichene gleichwohl zu entziffern, hat seine Ursache ebenfalls an einer Eigenschaft des Proto­ kolls – nämlich im Status des Protokolls als Urkunde. ETYMOLOGIE  Das Verb protokollieren leitet sich natürlich von „Protokoll“ ab. Protokollon ist eine mittelgriech. Wortbildung, die sich aus den Bestandteilen prótos – „vorab“, „zuerst“ – und kólla – „Leim“, „Klebstoff“ – zusammensetzt. So nannte man ein in den kaiserlichen Manufakturen Ägyptens angeleimtes Vorsatzblatt, das durch aufgedruckte Signaturen die Echtheit eines Schriftstücks

2 Ebd.

464

KONTEXTE Protokollieren heißt, ein Protokoll verfertigen. Dazu muss man

befähigt, befugt und beauftragt sein: Protokolle gibt es nur in komplexen institutionellen Zusammenhängen. Ihre Hervorbringung stellt daher eine außerordentlich voraussetzungsreiche Kulturtechnik dar. Die grundlegende Funktion des Protokolls besteht darin, ausgewählte, zu einem bestimmten Anlass vorgekommene sprachliche Handlungen in eine schriftliche Form zu überführen. Die Richtigkeit des auf diese Weise Festgehaltenen wird durch verschiedene Maßnahmen (Genehmigung, Unterschrift) institutionell ver­ bürgt. Der Protokollführer versieht ein Amt. Das Protokollierte wird archi­ viert und kann weiterverwendet werden. In gewisser Weise bricht mit dem

protokollieren  Kontexte

bekundete.3 Auch im Mittellat. ist protocollum zunächst eine besondere Eigen­ schaft des Papiers, bevor es mit einem spezifischen Inhalt beschrieben wird. Johann Christoph Adelung verweist auf Justinian, wo das Wort „kurze Nota“ bezeichne, „welche auf das zu öffentlichen Verhandlungen bestimmte Papier gesetzt werden“ mussten und in etwa „die Stelle der heutigen Papierzeichen“ einnahmen.4 Im Dt. ist das mittellat. Wort protocollum seit dem 16. Jh. verbürgt.5 Dabei hat sich die Bedeutung auf den Inhalt des Dokuments verschoben. Erst unter dieser Voraussetzung kann man eigentlich vom Protokollieren als einer Tätigkeit sprechen. In diesem Sinne findet sich in ZEDLERS UNIVERSALLEXICON unter ‚Protocolliren‘ der folgende Eintrag: „beschreiben, aufzeichnen, einschreiben, eintragen, nachschreiben, niederschreiben, eigentlich aber nur in das Protocoll einschreiben. Siehe Protocoll.“6 Eine weitere – „diplomatische“ – Bedeutung des Wortes Protokoll, nämlich „Sammlung von Regeln usw.“7, die sich aus dem Frz. ableitet, kann im Folgenden schon deshalb außer Betracht bleiben, weil sich das Verb protokollieren nicht auf sie anwenden lässt.

P

3 Vgl. Rupprecht: Kleine Einführung in die Papyruskunde, S. 5. 4 (Art.) Protokoll. In: Adelung online: Unter: http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/

band/bsb00009133 [aufgerufen am 16.12.2013]. Das bezieht sich auf die 44. Novelle Justinians (534 n. Chr.), wo das Wort (in Cap. II) in diesem Sinne erklärt wird. 5 Vgl. (Art.) Protokoll. In: Kluge, S. 728. 6 (Art.) Protocoll; Protocolliren. In: Zedler online: Unter: http://www.zedler-lexikon.de [auf­ gerufen am 10.12.2013], Sp. 975f. 7 (Art.) Protokoll. In: Kluge, S. 728.

465

protokollieren  Kontexte

Protokollieren – gerade weil auch Lügen protokolliert werden – die Epoche der verwalteten Wahrheit an.8 Der Sache nach, so scheint es, waren die Voraussetzungen für diese Kul­ turtechnik historisch gesehen zuerst im Rom der späten Republik und der frühen Kaiserzeit gegeben und zwar im politischen Kontext des römischen Senats. Die „Institution des Protokolls der Senatsverhandlungen“9 lässt sich auf Caesars erstes Konsulat (59 v. Chr.) datieren. Caesar macht es zur „Pflicht, dass der Senat selbst die Protokolle seiner Verhandlungen anfertigt und diese im Stadtjournal, den acta urbis veröffentlicht“10. Diese Maßnahme dient aller­ dings nur dem äußeren Anschein nach der Autorität des Senats, in Wahrheit ist sie zukunftsweisend, weil sie geeignet ist, dessen Macht umgekehrt einzuschränken durch eine Theodor Mommsen zufolge „dem Wesen des Senatsre­ giments zuwiderlaufende Controle der Oeffentlichkeit“11. Das Protokoll wird als Instrument der Kontrolle eingeführt, das seiner Logik inhärent ist. Ganz deutlich wird dies an der Reorganisation unter Augustus, der das Protokollieren dreißig Jahre später weisungsgebundenen Aktenschreibern, etwa jüngeren Senatsmitgliedern, überträgt. Dies diente nicht zuletzt der Überwachung des mündlichen Geschehens durch den Kaiser, dem auf diese Weise „die Mög­ lichkeit gegeben wird, auch wenn er den Sitzungen nicht beiwohnt, die Aeus­ serungen eines jeden Senators authentisch zu erfahren und zu controliren“12. Wenn eine Versammlung gleich welcher Art beschlussfähig ist, hat sie kein Interesse, die von ihr gefassten Beschlüsse anders als in Form eines Ergebnisprotokolls festzuhalten und damit rechtswirksam zu machen. Ein Protokoll, das – in welchem Ausmaß auch immer – den Verlauf einer Verhandlung bzw. die Vorgeschichte einer Beschlussfassung wiedergibt, kann nur im Interesse eines Dritten liegen. Im Protokoll eines Verlaufs ist daher – wie schon in den Senatsprotokollen zu sehen – stets ein Dritter anwesend, der sich nicht nur für die Wahrheit, sondern auch zugleich für die disziplinierenden Effekte inte­ ressiert, die vom Wissen um das Protokolliertwerden ausgehen.

8 9 10 11 12

466

Vgl. Niehaus: Epochen des Protokolls. In: ZMK, S. 141f. Mommsen: Römisches Staatsrecht, S. 1017. Vismann: Akten, S. 86. Mommsen: Römisches Staatsrecht, S. 1017. Ebd., S. 1018.

protokollieren  Kontexte

Eine etwas andere – aber nicht weniger zukunftsträchtige – Verwen­ dungsweise des Protokollierens liest sich wie eine Gründungserzählung der Protokoll-Institution, der darüber hinaus etwas über die medientech­ nische Seite des Protokollierens zu entnehmen ist. Auch hier ist der Kon­ text der römische Senat, der sich im Jahre 63 v. Chr. mit der sogenannten Catilinarischen Verschwörung konfrontiert sah. In der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember hatte Cicero fünf mutmaßliche Verschwörer aus Patrizier­ kreisen unter Hausarrest stellen lassen, um sie am nächsten Tag im Senat zum Verhör vorzuführen (was ein juristisch gesehen äußerst fragwürdiges Vorgehen war). Das Verhalten der Catilinarier bei diesem Verhör wurde später als Geständnis gewertet und zur Grundlage ihrer Verurteilung. In seiner dritten catilinarischen Rede, die er am 3. Dezember vor dem Volk hielt, kommt Cicero ausführlich auf diese ‚Geständnisse‘ zu sprechen. Er erzählt, wie schon der erste der formell als Zeugen Befragten auf die Vorlage von belastenden Beweismitteln nach dem Vorbringen einiger Ausreden plötz­ lich verstummt sei, „gelähmt und entmutigt durch sein böses Gewissen“, und wie die anderen sich ebenso durch die untrüglichen „Anzeichen des Verbrechens“ selbst überführt hätten, nicht nur durch ihre Aussagen, son­ dern auch durch die „die Farbe des Gesichts, die Blicke, die Mienen, das Schweigen“.13 In der Rede pro Sulla brüstet sich Cicero mit den Protokol­ len, die er in dieser Sache habe anfertigen lassen. Es sei ihm klar gewesen, dass, „wenn [er] die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen nicht in offiziellen Protokollen durch die noch frische Erinnerung des Senats zuverlässig hätte bezeugen lassen“, böswillig unterstellt worden wäre, „die Aussagen hätten anders gelautet“. Aus diesem Grund habe er „Senatoren bestimmt, die alle Worte der Zeugen, alle Fragen und Antworten zu protokollieren hatten“ – Männer, auf deren „Lauterkeit“ man sich verlassen konnte und die zudem durch „ihr Gedächtnis, ihre Sachkunde und ihre Schnelligkeit im Schrei­ ben“ befähigt waren, „mühelos festzuhalten, was gesagt werden würde“.14

P

13 Cicero: Die dritte Catilinarische Rede, S. 264–66 (Nr. 10–13). 14 Ders.: Für Sulla, S. 33, 41f.; vgl. zum Zusammenhang Drexler: Die Catilinarische Verschwö­

rung; sowie Niehaus: Das Verhör, S. 70–75 mit weiteren Literaturhinweisen.

467

protokollieren  Kontexte

Fest steht in der Tat, dass in diesem Kontext zum ersten Mal ein stenogra­ fisches System zum Einsatz gekommen ist, das bis ins Mittelalter im Gebrauch war und nach dem – von Cicero später freigelassenen – Sklaven Tiro benannt ist: die Tironischen Noten. Technische Grundlage für diese Kurzschrift waren die Wachstafel als Beschreibstoff und der Griffel als Schreibwerkzeug.15 Nach dem Gewährsmann Plutarch war allerdings erst die Verschriftlichung der Rede Catos zwei Tage später „der erste Versuch mit der sogenannten Zeichenschrift […], die man bis dahin weder geübt noch gekannt hatte“16. Catos Rede mün­ dete in den entscheidenden Vorschlag, man solle gegen die Catilinarier nach dem Rechtssatz confessus pro judicato verfahren, der dann unter Verzicht auf ein gerichtliches Verfahren zu deren (heimlicher) Hinrichtung führte. Cicero hat diese Rede aufzeichnen lassen, um nachher belegen zu können, dass nicht er für diese Rechtsbeugung verantwortlich war. Auch hier wird das Protokoll also zu einem politischen Instrument. Genützt hat es Cicero übrigens wenig (anders als den Historikern, die sich über diese einzige von Cato überlieferte Rede freuen können17). Für die Verbannung Ciceros fünf Jahre später haben diese Vorgänge als Vorwand gedient. Historisch taucht das Protokollieren also zunächst in der politischen Sphäre auf. Allgemein ist der Verwendungskontext des Protokollierens freilich die Verwaltung und zwar v. a. die Verwaltung von rechtlich relevanten Daten und Operationen. Der lat. Ausdruck für das Protokollieren ist acta facere. Dem Wort acta eignet dabei ein Doppelsinn: Es bezeichnet auf der einen Seite die Hand­ lung, auf der anderen die Akte. Daher heißt Protokollieren: Handlungen zu den Akten nehmen. Denn das, was protokolliert wird, wird zum Bestandteil einer Akte: „Ein zu den Akten genommenes Protokoll beendet die Handlung zwar, aber sie bleibt noch als Handlung adressierbar und damit quasi aktuell und tatsächlich aktualisierbar, nämlich wiederverlesbar.“18 Daher gehört das Protokollieren im Sinne von Akten machen „zu den Grundoperationen eines

15 Vgl. Vismann: Akten, S. 70f. 16 Plutarch: Große Griechen und Römer, Bd. IV, S. 378; vgl. Mentz: Geschichte der Stenogra­

phie, S. 10ff.

17 „Diese Rede Catos soll sich als einzige von allen erhalten haben, und zwar durch Ciceros

Verdienst“ [Plutarch, Große Griechen und Römer, S. 378]. 18 Vismann: Akten. S. 87.

468

protokollieren  Kontexte

geschriebenen, positiven Rechts, das nie präsent ist, aber immer auf Präsenz hin angelegt ist, in Anwendung und Vollzug“19. Welches aber sind die Handlungen, die ins Protokoll gehören, aus denen sich das Protokoll zusammensetzt? Auch wenn die Tätigkeit des Protokollie­ rens als eine Mitschrift von mündlichen acta es nahezulegen scheint, wird das Wort Protokoll keineswegs nur in dieser Weise verwendet. Der Artikel zum Protokoll in ZEDLERS UNIVERSALLEXICON bspw. kommt auf diesen Punkt gar nicht zu sprechen, sondern definiert das Protokoll viel unspezifischer als ein „Gerichts-Buch, worein man alles dasjenige aufschreibet und einzeichnet, was daselbst vorgehet und abgehandelt wird, dergleichen die Richter und Notarien haben“20. Die Handlungen, die ins Protokoll aufgenommen und damit ver­ waltbar werden, sind einfach alle für rechtlich relevant gehaltenen Vorgänge in chronologischer Reihenfolge. Dies ist ein entscheidender Punkt, der die Nähe von Akte und Protokoll deutlich macht. Cornelia Vismann formuliert es so: „Eine Akte selbst ist ihrer Anlage nach nichts anderes als ihr eigenes Protokoll. Sie enthält sich selbst als Verlauf, ist ihre eigene Mitschrift.“21 Denn Protokolle sind stets „chrono­ logische Aufzeichnungen“22 und Aktenstücke sind zumindest datiert. Inso­ fern wäre überhaupt nicht von einer eigentümlichen Tätigkeit zu sprechen, die Protokollieren heißt. Das Protokoll entsteht vielmehr automatisch. Genau dies ist auch bei den allermeisten Protokollen der Fall, die heutzutage in der Welt sind. Nur werden in ihnen keine rechtlichen Vorgänge, sondern Daten gespeichert und damit verwaltet. Unter den Bedingungen der Digitalisierung werden sogenannte Ereignisprotokolldateien (Logfiles) erzeugt, in denen aufge­ zeichnet wird, wann wo welche digitale Spur hinterlassen wurde, wobei jeweils ein Raster festlegt, was als ‚Ereignis‘ zu gelten hat. Flugschreiber protokollieren andere Dinge als das Betriebssystem Windows, das Ereignisprotokolle erstellt, die unter anderem fehlgeschlagene Anmeldeversuche und Warnungsmeldun­ gen speichern. All unsere digitalen Spuren basieren auf Protokollen.

P

19 Ebd. 20 (Art.) Protocoll. In: Zedler online. Unter: http://www.zedler-lexikon.de [aufgerufen am

10.12.2013], Sp. 973.

21 Vismann: Akten. S. 87. 22 (Art.) Protokoll. In: Kluge, S. 728.

469

protokollieren  Kontexte

Wo mündliche Vorgänge im Rahmen von Verfahrensabläufen in eine schriftliche Form transformiert werden, verhält es sich bis zu einem gewissen Punkt auch nicht viel anders. Hier legt die Verwaltung mittels der „protokol­ lierenden Technik“ ihre „eigene Wahrheit über die Wirklichkeit an“. Für Cor­ nelia Vismann erinnert dies an das Rechtssprichwort quod non est in actis non est in mundo: Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt. Über die Herkunft dieses Sprichworts weiß man zwar nichts, es wurde aber später „als Rechts­ grundsatz der Schriftlichkeit für das römische Gerichtsverfahren reklamiert“23. Es bedeutet, dass das Rechtsverfahren nur die von ihm selbst aufgeschriebenen institutional facts anerkennt. Das macht den Einspruch gegen das, was in den Protokollen steht, so gut wie unmöglich: Auf welche Akten soll man denn zurückgreifen, um zu beweisen, dass Akten und Welt nicht übereinstimmen? Durch seine Verneinungsstruktur weist das Sprichwort darauf hin, in wel­ che Richtung es zu verstehen ist: Was nicht in den Akten ist, ist auch nicht in der Welt. In der Welt ist vieles der Fall, in den Akten weniges. Die Perspektive des Sprichwortes ist daher die, dass jede Partei selbst dafür Sorge zu tragen habe, dass das zu Protokoll gegeben wird, was in die Akten soll. Das Sprich­ wort enthält die implizite Aufforderung, etwas geltend zu machen, etwas zu Protokoll zu geben. Nach dieser Logik erschöpft sich die Tätigkeit des Proto­ kollierens allerdings letztlich wiederum darin, dieses zu Protokoll Gegebene getreu aufzuschreiben. Implizit hat das Sprichwort aber auch eine umgekehrte, eine positive Seite: Was in den Akten steht, ist auch in der Welt. Dies verweist auf einen ande­ ren Verwendungskontext, der sich im protokollierten Verhör der Catilinarier durch den Senat bereits andeutet. Dort wurde ja auch protokolliert, was gerade nicht zu Protokoll gegeben worden war – das Stocken, das Erbleichen usw. Es kommt immer darauf an, wer die Macht über das Protokoll hat. Im Namen der Wahrheit kann dann zu Protokoll gebracht werden, was der Betreffende möglicherweise gegen sich gelten lassen muss, wie es insbesondere im Ver­ hörprotokoll geschieht. Auch der verhörte Jakob Sauter aus unserer Anekdote wird durch die protokollierten Fragen in die Enge gedrängt und es werden Dinge protokolliert, die gewiss keine Handlungen sind, wie etwa: „lächelnd“.

23 Vismann: Akten. S. 89.

470

KONJUNKTUREN   Als eine Technik der Verschriftlichung, die mündliche Sprechereignisse in institutionelle Tatsachen verwandelt und mit einem ins­ titutionell abgesicherten Wahrheitsanspruch versieht, ist das Protokoll in der Zeit der späten Römischen Republik voll ausgebildet. Insofern ist dies die erste Konjunktur des Protokollierens. Im Mittelalter hingegen kommt die aktenge­ stützte Amtsführung zunächst außer Gebrauch. Das Mittelalter ist eine Epo­ che der auf Pergament geschriebenen Urkunde. Dieses Beschreibmaterial ist zu rar, um damit Akten anzuhäufen, die einen Überschuss an Informationen enthalten. Das ändert sich an der Wende zum 13. Jh. Die zweite und eigent­ liche Konjunktur des Protokollierens geht einher mit dem Übergang zum Aktenzeitalter, das durch die Einführung des Papiers ermöglicht wird. Dies geschieht zuerst in der sizilianischen Kanzlei Kaiser Friedrich II.24 Um die gleiche Zeit entsteht ein neues gerichtliches Verfahren, das auf Operationen der Verschriftlichung und damit auf Protokollen basiert: Das Ver­ fahren per inquisitionem, das, in den Worten Michel Foucaults, „der erste aber grundlegende Ansatz zur Konstituierung der empirischen Wissenschaften“25 gewesen ist. Nicht nur verwaltungs- und medientechnisch, sondern auch von der Rechtsform her gesehen, ist dieses Verfahren voraussetzungsreich.26 Denn es handelt sich um ein Verfahren, in dem kein Kläger auftritt, sondern die Wahrheit von Amts wegen – ex officio – gefunden werden soll. Das Subjekt, gegen welches das Verfahren angestrengt wird, ist der Logik nach nicht mehr Prozesssubjekt – also Partei –, sondern Gegenstand des Verfahrens. Insofern kann man die Tätigkeit des Protokollierens im übertragenen Sinne auch für Experimentberichte geltend machen.27

protokollieren  Konjunkturen

Er kommt dann im Protokoll nicht nur als ein Aussagesubjekt vor, sondern auch als ein Aussageobjekt. In diesem Kontext ist das Protokoll zwar ein Medium der Rechtsverwaltung, aber es ist zugleich mehr als das, insofern es virtuell einen Überschuss produziert. Es schafft institutionelle Tatsachen, von denen fraglich ist, welcher Verwendung oder Verarbeitung sie zugeführt werden sollen.

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24 Vgl. ebd., S. 134ff. 25 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 289. 26 Vgl. Niehaus: Das Verhör, S. 113–225. 27 Vgl. ders.: Protokoll. In: Borgards et al. (Hrsg.): Literatur und Wissen, S. 290.

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protokollieren  Konjunkturen

Verhörprotokolle erweisen sich schnell als das Kernstück des Inquisiti­ onsverfahrens. Besonders beim Vorgehen gegen die Ketzer im Rahmen des kanonischen Inquisitionsverfahrens – hier wurde diese Verfahrensform ab 1215 zunächst ausgebildet28 –, wird durch protokollierte Zeugeneinvernah­ men und sonstige Aktenstücke sehr bald ein Überschuss an Informationen zwecks späterer Verwendung in den Archiven angehäuft. Auf den Terror der Verschriftlichung antwortete die Bevölkerung von Narbonne schon im Jahre 1235 mit einem Aufstand, bei dem sie das Archiv zerstörte. Als sich etwas ähn­ liches 1248 wiederholte, bestimmte das Konzil von Albi 1253, von sämtlichen Schriftstücken seien Duplikate anzufertigen.29 Das Protokoll dient freilich nicht nur der Speicherung der Aussagen, son­ dern auch der Absicherung der Rechtsförmigkeit ihres Zustandekommens. Protokolle sollen auch dafür sorgen, dass Prozessordnungswidrigkeiten (wie die Drohung mit Prügel im Verhör mit Jakob Sauter) nicht vorkommen: Gültige Protokolle konnten daher nur von einem vereidigten Notarius oder Aktuarius abgefasst werden. Nach der in Deutschland über Jahrhunderte verbindlichen PEINLICHEN HALSGERICHTSORDNUNG VON KAISER KARL V. von 1532 muss der Schreiber einen Eid leisten, daß er „Clag vnnd Anntwurt, anzeygung, argkwon, verdacht oder beweysung, Auch die Vrgicht des gefanngnen, vnd was gehann­ dellt wurdet, getreulich vffschreiben, verwaren vnnd, so es not thut, verlesenn“30 werde. Es fällt jedoch auf, dass die Protokolle der mündlich geführten Verhöre hier nicht gesondert herausgehoben werden, als genüge es, wenn man den Schreiber eidlich verpflichte, seine Aufgabe getreulich zu erfüllen. Es scheint kein Problem der Verschriftlichung zu geben. Das liegt daran, dass das Pro­ tokoll auch hier keineswegs die mündlichen Reden auf Papier bannt, sondern zunächst einmal nur das enthalten soll, was zu Protokoll gegeben wurde. Mit dem Aufschreiben soll man erst dann beginnen, wenn der Verhörte sich klar und deutlich ausgesprochen hat. In der CRIMINAL-ORDNUNG DER CHUR-MARCK BRANDENBURG ist der Aufgabenbereich der Gerichts-Actuarius folgendermaßen beschrieben: Er soll

28 Vgl. Trusen: Der Inquisitionsprozeß. 29 Vgl. Hansen (Hrsg.): Lea: Geschichte der Inquisition im Mittelalter, S. 425. 30 Kohler/Scheel (Hrsg.): Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., § 5.

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Nach dieser Vorstellung fungiert das Protokoll als Medium des Rechts: Es sollen nur diejenigen Aussagen aufgeschrieben werden, die schon für das Protokoll formuliert sind. Doch die Logik des Inquisitionsverfahrens mit seinem Imperativ der Wahrheitserforschung ex off icio weist zugleich in eine andere Richtung. Schon im 13. Jh. hat man es erlaubt, Aussagen unter bestimmten streng umrissenen Bedingungen auf der Folter zu erpressen, um sie dann zu Protokoll zu nehmen. Dazu konnten unsichere Zeugenaus­ sagen und andere Verdachtsmomente akkumuliert werden. Für die Logik des Protokolls ist entscheidend, dass sich diese Verdachtsmomente auch aus dem Verhörverlauf selbst ergeben konnten. Wenn sie sich aber erga­ ben, so mussten sie auch aufgezeichnet werden, damit man im weiteren Verfahren auf sie referieren konnte. Seit dem 14. Jh. gibt es Anweisungen, den mündlich befragten Angeklagten oder Zeugen zu beobachten und im Protokoll zu vermerken, wenn die Aussage verwirrt, stammelnd usw. erstattet wird, um daraus gegebenenfalls Indizien für die Verhängung der peinlichen Frage, der Folter zu gewinnen. In dem Moment, in dem nicht nur verantwortbare Sprechakte, sondern gegebenenfalls auch die Aussagemodi als Sprechereignisse verschriftlicht wer­ den sollen, wird deutlich, dass im Protokoll nicht nur Aussagesubjekte zu Wort kommen, sondern dass diese immer auch Gegenstand von Aussagen über sie sein können. Das Protokoll erweist sich damit als ein Ort, an dem nicht nur die Lügen von Subjekten, sondern auch Wahrheiten über Subjekte fixiert werden,

protokollieren  Konjunkturen

jedesmahl der Gefangenen so wohl/ als der Zeugen/ eigene Worte und Forma­ lien, so viel möglich beybehalten/ und fleißig verzeichnen. Dafern aber die Ant­ wort des Gefangenen/ oder der Zeugen/ zweiffelhafft oder undeutlich scheinen möchte/ hat Er sich so lange mit ihnen zu befragen/ und sie sich zu erklären/ bis an ihrer Aussage und deren Meinung/ kein Zweiffel übrig bleibe. Wann er dann also den Begriff davon vollkomen gefasset/ hat er denselben ins Proto­ coll zu bringen/ auch von der Aussage nicht leicht etwas auszulassen/ es wäre dann kund/ und ausser allem Zweiffel/ daß solches weder directo noch indi­ recto etwas zur Sache thäte.31

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31 Seiner Königlichen Majestät in Preußen vor dero Chur-Marck Brandenburg verfaßte Crimi­

nal-Ordnung, Cap. I, §11.

473

protokollieren  Konjunkturen

die sie nicht kontrollieren können. Erst damit wird es zum Verlaufsprotokoll im genauen Sinn, da die Protokollierung sich nicht mehr damit begnügt, die vom Subjekt generierte Bedeutung als Fertigprodukt zur Kenntnis zu nehmen. Zugleich handelt es sich um eine neue Qualität überschüssiger Information. Sie macht das Protokoll zu einer Grauzone. Denn ab diesem Moment kann es kein verlässliches Kriterium mehr dafür geben, was ins Protokoll gehört und was nicht. Protokollieren heißt daher: Nicht immer genau wissen, was man protokollieren soll und was nicht. In der Praxis hat man sich bis ins 19. Jh. (als das aktenbasierte Inquisiti­ onsverfahren nach und nach abgeschafft wurde) damit meist keine großen Probleme gemacht. Allerdings durchlaufen die Verhörprotokolle zwischen dem 17. und dem beginnenden 19. Jh., regionaler Unterschiede und Gepflo­ genheiten ungeachtet, eine Entwicklung. Insbesondere setzt sich der direkte Stil gegenüber dem indirekten – zunehmend als umständlich charakterisier­ ten – Kanzleistil durch. Wenn die Fragen und Antworten in direkter Rede wiedergegeben werden, so entsteht eher ein ‚lebendiges Bild‘ des Verhörs. Dass wir die Genervtheit des Untersuchungsrichters und die Gequältheit des Verhörten in unserer Anekdote zu spüren meinen, ist nicht zuletzt ein Effekt des direkten Stils.32 In Deutschland musste um 1800 ein konkurrierendes Modell des Strafver­ fahrens auf der Bildfläche erscheinen, um das Protokoll als Grauzone manifest zu machen: die öffentlich-mündliche Gerichtsverhandlung, die im Zuge der napoleonischen Kriege nach Deutschland kommt. In einem 1816 erschiene­ nen Aufsatz mit dem Titel BEMERKUNGEN ÜBER GEBERDENPROTOCOLLE IM CRIMINALPROZESSE kehrt Carl Joseph Anton Mittermaier, einer der nam­ haftesten Juristen der Zeit, gewissermaßen die Blickrichtung um: Ausgangs­ punkt der Betrachtung ist nicht mehr das, was nach Möglichkeit ins Protokoll gehört, sondern die Unmöglichkeit, den ganzen Reichtum der Wirklichkeit dem Protokoll einzuverleiben, die zu der rechtlichen Beurteilung des Falles notwendig wäre: Auch

32 Vgl. insgesamt: Niehaus: Wort für Wort. In: Ders./Schmidt-Hannisa (Hrsg.): Textsorte Pro­

tokoll.

474

Denn es gilt eben: Quod non est in actis non est in mundo. Jedes Protokoll erzeugt eine unerwünschte Datenknappheit, während das Urteil tatsächlich – so wird unterstellt – desto besser begründet ist, je mehr Daten man aus­ zuwerten hat. Das ist der Imperativ zur Erzeugung eines unübersehbaren Überschusses. Vor diesem Hintergrund schlägt Mittermaier unrealisierbare, das Protokoll als Medium des Rechts übersteigende „Geberdenprotocolle“ vor, die „den ganzen Ton des Betragens des Verhörten überhaupt schildern“, des Weiteren die „Gefühle“, welche er „bei einzelnen Fragen und Antworten durch seine Geberden an den Tag gelegt hat“; aber auch die „Harmonie des Ausdrucks in den Geberden mit den Worten und den Aeußerungen“ ist zu berücksichtigen; schließlich dürfen „die Art des Ausdrucks der Worte selbst“, wie sie sich „vorzüglich im Tone“ äußert, und die „körperliche Haltung des Vernommenen, mit dem ganzen Spiele der Bewegungen der Theile nicht verschwiegen werden“.34 Damit wird das Protokollieren zu einer unmöglich zu bewältigenden Auf­ gabe. 1839 – zu einer Zeit, in der das schriftliche Inquisitionsverfahren in den letzten Zügen liegt und die Konjunktur des Protokollierens endet – erklärt der Mediziner Carl A. Diez in einem Aufsatz mit dem Titel UEBER ANWENDUNG DER PHYSIOGNOMIK AUF GERICHTLICHE FRAGEN, es würde selbst „der fingerfertigste Stenograph oft ganze Tage nöthig haben, um zu beschreiben, was im Mienen- und Geberdenspiel eines Inquisiten in wenigen Minuten vor sich geht.“35 In der Spätzeit des Inquisitionsverfahrens stehen sich – in der Theorie – zwei Auffassungen gegenüber, wie protokolliert werden soll. Einem wichtigen Lehrbuch zum gerichtlichen Untersuchungsverfahren zufolge sind

protokollieren  Konjunkturen

die treueste Wiedererzählung des Gesagten ersetzt den Vortheil nicht, wel­ chen man hat, wenn man selbst hört; die Miene des Beschuldigten, sein Ton, seine ganze Haltung, die Thränen, welche seine Reue zeigen, die Begeisterung, mit welcher er spricht, sie alle gehen für den Richter, welcher den Beschuldig­ ten gar nicht sieht, und welchem nur die Gerichtsprotocolle vorgelegt wer­ den, verloren.33

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33 Mittermaier: Bemerkungen über Geberdenprotokolle im Criminalprozesse, S. 327f. 34 Ebd., S. 331f. 35 Diez: Über Anwendung der Physiognomik auf gerichtliche Fragen, S. 172.

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protokollieren  Gegenbegriffe

prinzipiell zwei Möglichkeiten denkbar, „wie sich das lebendige Wort in die Schrift bannen ließe, entweder durch Selbstdictiren eines Jeden, der spricht, oder durch stenographisches Actuiren“36. Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen bewegt sich das Protokollieren. Fällt das Protokoll jedoch mit einem der Pole zusammen, so ver­ schwindet die Tätigkeit des Protokollierens. Der Protokollierende wird dann in beiden Fällen zu einer ‚Schreib-Maschine‘. In dem einen Fall, weil er nur ein Diktat aufnimmt; im andern Fall, weil er sich gleichsam in ein technisches Aufschreibmedium verwandelt. Protokollieren findet eben als Tätigkeit, als Fertigkeit und als Machtausübung nur dort statt, wo noch die Frage im Raum steht: Was soll ich jetzt schreiben? GEGENBEGRIFFE  Der entscheidende Gegenbegriff zu protokollieren ist ‚strei­

chen‘. Er ist in besonderer Weise geeignet, die Aporien vor Augen zu führen, die der Textsorte Protokoll zugrundeliegen. Was tut derjenige, der aus einem Protokoll etwas streicht, was er zuvor protokolliert hat? Natürlich gibt es den harmlosen Fall, dass der Protokollant etwas falsch verstanden und irrtüm­ lich aufgeschrieben hat. Interessant ist der weniger harmlose Fall, dass etwas zunächst als aufschreibenswürdig erschienen ist, es dann aber aus welchen Gründen auch immer angeraten scheint, das Aufgeschriebene wieder zu streichen. Nehmen wir wieder das Verhörprotokoll als Paradigma. Im oben zitierten Beispielfall kommt ja eine Streichung vor. Das Protokoll nimmt als privilegierte Form der Wahrheitsverwaltung für sich in Anspruch, mit den Tatsachen übereinzustimmen – wie kann dann etwas, das mit den Tatsachen übereingestimmt hat, nun als mit den Tatsachen nicht übereinstimmend erklärt werden? Wird die Streichung sichtbar wie in unserem Beispiel, so hat es den Anschein, als könnten Tatsachen per Federstreich nachträglich in Nicht-Tat­ sachen verwandelt werden. Daher gilt, dass an einem einmal geschriebenen Verhörprotokoll, „nichts ausgestrichen, radirt oder geändert werden“37 darf. Denn seiner Logik nach ist das Protokoll eine Urkunde, die als eine Mitschrift im eigentlichen Sinn des Wortes entsteht.

36 Jagemann: Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde, S. 613. 37 Tittmann: Handbuch des gemeinen deutschen peinlichen Rechts, S. 464 (§ 754).

476

protokollieren  Gegenbegriffe

Das wird heute gerne vergessen. In den Anweisungen zum Verfertigen von Protokollen, wie sie in verschiedenen Ausgestaltungen etwa im Internet abrufbar sind, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass der Protokollant sich während der Sitzung, die er zu protokollieren hat, zunächst nur Stichworte macht, die er dann erst später in ein wohlgeformtes Protokoll verwandelt. Ein solches Protokoll ist kein Original, das irgendwelche Spuren seines Zustandekommens enthielte. Der Begriff des Streichens macht hier über­ haupt keinen Sinn. Sinn macht er erst, wenn es später um die Genehmigung des Protokolls geht. Denn erst durch die Genehmigung wird das Protokoll zu einer gültigen Version der Wahrheit. Die Genehmigung erfolgt in der Regel durch die Beteiligten, die gegebenenfalls eine Streichung verlangen. Und dabei erhebt sich im Prinzip genau dieselbe Frage, für die es keine ein­ fache Lösung gibt: Kann ein Beteiligter die Streichung von etwas verlangen, was er wirklich gesagt hat? Man kann sagen, dass das Protokoll teilhat an zwei komplementären Fik­ tionen: Einerseits kann es Wahrheit beanspruchen, weil es in aller Form für gültig erklärt wurde, andererseits leitet es seinen Gültigkeitsanspruch aus seiner Übereinstimmung mit den Tatsachen ab. Nach der ersten Fiktion herrscht das Konsensmodell der Wahrheit, nach der zweiten ist die Wahrheit eine Sache der Übereinstimmung von Tatsachen und Aussagen.38 Wenn es darauf ankommt, dann ist das eine mit dem anderen nicht zur Deckung zu bringen. Es ist dann die Frage, wer die Macht über das Protokoll hat. Den meisten wird die im Grunde schwindelerregende Anweisung des Richters in amerikanischen Gerichtsfilmen noch im Ohr sein: ‚Streichen Sie das aus dem Protokoll.‘ Eine solche Anweisung mag einhergehen mit dem Bewusstsein, dass der Film als Meta-Institution eben das, was das Protokoll verschwiegen haben wird, bereits gezeigt hat. Seit dem 18. Jh. schreiben die Prozessordnungen vor, dass das Protokoll dem Verhörten am Ende noch einmal vorzulesen ist, spätestens um 1800 ist auch die Unterschrift des Verhörten unter das Protokoll vorgesehen; auch hier solle der Grundsatz gelten, „daß Niemand eine Urkunde gegen sich gelten zu

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38 Vgl. Niehaus/Schmidt-Hannisa: Textsorte Protokoll. In: Dies. (Hrsg.): Textsorte Protokoll,

S. 10.

477

protokollieren  Perspektiven

lassen braucht, zu deren Abfassung er nicht mitwirkte.“39 Eine nachträgliche Streichung dessen, was er gesagt hat, kann der Verhörte aber nicht verlangen, vielmehr gehe dann „ohne Zweifel Das, was der Richter und der Actuar mit Festigkeit behaupten, vor, und dem Inculpaten wird es anheim gestellt, ob er seine von der früheren abweichende Aussage als Zusatz ins Protokoll einge­ tragen haben will“40. Letzteres macht deutlich, wie die Lösung dieser Aporie in der Praxis aus­ zusehen hat. Weil die Streichung mit dem Protokollieren nicht vereinbar ist, wird sie durch ihr Gegenteil ersetzt, durch den Zusatz. Die Zusätze müssen protokolliert werden, vielleicht aber auch die Zusätze zu den Zusätzen. Das Protokoll gehorcht der Logik des Supplements. PERSPEKTIVEN Das Protokollieren ist heutzutage eine vergleichsweise unauf­

geregte Tätigkeit – eine lästige Pflichtübung, wenn es um das Protokollieren von Sitzungen und Versammlungen geht, oder gar um die bloße Haus­ aufgabe, eine Seminarsitzung zusammenzufassen. Seit es technische Auf­ zeichnungsmedien gibt – Tonbandprotokolle, Videoaufzeichnungen usw. – scheint der Kulturtechnik der Verschriftlichung durch Protokollieren etwas Antiquiertes anzuhaften. Es ist aber ein Missverständnis, zu meinen, dass technische Apparate dieses Geschäft besser und vollständiger erledigen als wir, die Menschen. Die Leistung des Protokolls besteht gerade darin, dass es einerseits nicht alles speichert und andererseits mehr als nur die Resultate. In diesem Zwischenraum hält sich auf, wer der Tätigkeit des Protokollierens nachgeht – er ist weder gebunden noch ungebunden. Er ist verantwortlich, ohne Autor und eigentlich auch ohne Verfasser zu sein. Daran gilt es zu erinnern; darin liegt der institutionelle Ernst des Protokollierens. Denn derjenige, der protokolliert, versieht ein Amt, das ihn auf die Verwaltung der Wahrheit verpflichtet. Wenn man sagt, dass das Protokollieren eine mediale Gebrauchsform ist, so muss es eine Sache der Menschen sein; es geht den Menschen als spre­ chendes Wesen an und ist in die Sphäre des Sinns involviert. Dies sollte vor

39 Jagemann: Handbuch der Gerichtlichen Untersuchungskunde, S. 650 (§ 581). 40 Ebd., S. 652 (§ 583).

478

FORSCHUNG  Auf die Textsorte Protokoll gibt es prinzipiell zwei Forschungs­ perspektiven. Zunächst einmal kann der Wert des Protokolls als historisches Dokument im Vordergrund stehen. Es scheint so, als kämen wir durch das Protokoll so nahe an eine ‚Wirklichkeit‘ heran wie durch kein anderes schrift­ liches Dokument: Nur die eine protokollierte Senatsrede Catos im Verfah­ ren gegen die Catilinarier hat sich im Wortlaut erhalten; die mehrere Bände umfassenden Protokolle des Inquisitionsverfahrens im südfranzösischen Dorf Montaillou im 14. Jh. erlaubten es dem französischen Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie, die Alltagswelt dieser Zeit zu rekonstruieren;41 nirgends sind wir dem tatsächlichen Ablauf einer face-to-face-Kommunikation um 1800 so nahe wie in einem mustergültig geführten Verhörprotokoll wie dem mit Jakob Sauter.42 Das Renommee des Protokolls profitiert eben von seiner „Kopräsenz zur Aktion“43. Freilich lehrt gerade der Blick auf das Protokollieren als mediale Gebrauchs­ form die Notwendigkeit einer Kritik dieses Renommees: Das Protokoll ist kein transparentes, neutrales Medium, sondern konstruiert eine Wirklichkeit. Die Thematisierung dieses Konstruktcharakters in seinen verschiedenen historischen und institutionellen Formen muss als zweite Forschungsperspektive der zuerst genannten zumindest zur Seite gestellt werden (die Streichung der Drohung, die dem verhörten Jakob Sauter im Eingangsbeispiel zuteil wird, ist ein schöner Ausnahmefall, in der sich dieser Konstruktcharakter materiell niederschlägt). Erst aus einer diskursanalytischen Perspektive bleibt das Protokoll nicht nur ein Erkenntnisinstrument, sondern wird zu einem Erkenntnisgegenstand. Erst aus dieser Perspektive rückt auch die Tätigkeit des Protokollierens in den Blick.

protokollieren  Forschung

dem Hintergrund, dass heutzutage fast alles, was den Namen Protokoll trägt, von Maschinen hervorgebracht wird, zu denken geben. Die Maschinen spei­ chern nur Verbindungsdaten oder sie speichern unterschiedslos die Worte, die gesagt werden. Sie operieren nicht in der Sphäre des Sinns. Sie brauchen nicht zu üben. Genau dazu fordert die Anwendbarkeitsperspektive jedoch auf.

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41 Vgl. Le Roy Ladurie: Montaillou. 42 Vgl. Niehaus: Mord, Geständnis, Widerruf, S. 11. 43 Vismann: Akten, S. 86.

479

protokollieren  Literaturempfehlungen

Diese Perspektive eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, das Protokoll als einen ästhetischen Gegenstand wahrzunehmen. Mitte des 19. Jhs. fordert Ludwig von Jagemann Kompetenzen vom Protokollanten, die auch einem Autor literarischer Texte gut zu Gesicht stehen: „Schnelle, lebendige Auffas­ sung der Rede Anderer, Bemächtigung ihres Gedankenganges, ja nicht bloß des Gesprochenen, sondern des innerlichst Verborgenen, und v. a. Kenntniß der Sprache, Gewandtheit des Stils“44. Etwa zur gleichen Zeit beginnen Litera­ ten, die Sitzungen ihrer literarischen Vereinigungen in teils gereimten Kunst­ protokollen festzuhalten,45 die in ihrer Verspieltheit genau das Gegenteil der von den Juristen geforderten „nackten Wahrheit“ ist. Aber die Literatur kann auch umgekehrt die nackte Wahrheit zu ihrer Sache machen und zu protokollieren beginnen. Aus einer literaturwissenschaftlichen Forschungsperspektive ergibt sich hier die Frage nach der institutionellen Dimension der Literatur.46 LITERATUREMPFEHLUNGEN Niehaus, Michael: Protokoll. In: Borgards, Ro­

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16.12.2013].

481

SCHREIBEN HEINRICH BOSSE

schreiben  Anekdote

ANEKDOTE  Der fromme Herzog Ernst von Sachsen-Gotha wünschte in sei-

S

ner FÜRSTLICH SÄCHSISCHEN LANDES-ORDNUNG (1658) fromme Hebammen im Lande und verbot ihnen alle abergläubischen Gebräuche, so auch „Characteren oder Buchstaben / Zeichen / sonderliche Gebärden und Creutzmachen“1 während oder nach der Geburt. Das heißt, die Hebammen betrieben mit ihren (unverständlichen) Sprach- oder Zahlzeichen einen Schriftzauber. Dazu mussten sie zweifellos schreiben, auch wenn wir nicht wissen, womit oder wo­rauf sie schrieben und wozu. Offenbar soll die Geburt glücklich verlaufen, die Mutter nicht sterben, das Neugeborene vor Schaden bewahrt werden. Eine apotropäische Funktion (Atropos ist die griechische Moira/ Parze, die den Lebensfaden durchschneidet), sagt das HANDWÖRTERBUCH DES DEUTSCHEN ABERGLAUBENS. Diese Hebammen – und wohl nicht nur die in Gotha – tun etwas mit ihrem Körper: Sie gestikulieren. Und sie tun etwas mit Zeichen: Sie setzen Zeichen, d. h. sie signifizieren. Dadurch wird der Vorgang oder das Kind erstens von anderen unterschieden, es wird ausgezeichnet. Zweitens wird der endliche Mensch in Beziehung gesetzt zu den kosmischen Gewalten. Er wird im magischen Schreiben einer Schutzmacht zugeschrieben. Die Hebammen versenden keine Nachrichten, sie kommunizieren nicht, weder mit Göttern noch mit Menschen. Sie signifizieren, indem sie eine Beziehung aufbauen zwischen dem Geburtszimmer und dem Kosmos oder, in der spröden Sprache der Semiotiker, zwischen gegenwärtigen und abwesenden Entitäten. So wenigstens begreift Umberto Eco die Signifikation, die er von Kommunikation unterscheidet, obschon jeder Akt der Kommunikation ein Signifikationssystem als seine notwendige Bedingung voraussetzt.2 Vielleicht hat das Schreiben überhaupt seinen Ursprung in dieser Geste des

1 Fürstliche Sächsische Landes-Ordnung Des […] Herrn Ernsten, Hertzogen zu Schsen, Jü-

lich, Cleve und Berg, S. 508f.

2 Vgl. Eco: Semiotik, S. 28f.

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ETYMOLOGIE   Die Wortgeschichte von schreiben weist auf die Mühe des

Einritzens und auf die Beziehung zur Macht. Althdt. scrīban ist entlehnt aus dem lat. scrībere, das seinerseits auf eine indogerm. Wurzel zurückgeht, die ‚kratzen, ritzen‘ bedeutet.6 Scrībere kann vieles heißen: (einen Sklaven) brandmarken, zeichnen, ernennen, befehlen, (Soldaten) ausheben.7 Verdrängt wurde damit das ältere wrîtan (zerreißen, verwunden, einritzen), das im engl. Verb to write erhalten blieb. Immerhin lebt das mittelhdt. rīzen (zeichnen) noch heute in Aufriss, Umriss und Reißzeug fort. Auch das griech. ‚graphein‘ (γραφειυ),

3 4 5 6 7

schreiben  Etymologie

magischen Signifizierens, im Fluch oder Segen. Die älteste Inschrift ist nach dem Bericht der BIBEL das Kainszeichen. Im Rivalisieren, wer Jahwe am besten opfert, verliert Kain und tötet seinen Bruder Abel. Das vergossene Blut schreit nach Vergeltung, doch Gott stößt Kain nur aus dem Kreis der Menschen aus, nicht aus dem Kreis der Lebenden: „Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, wer ihn fände.“3 Das Zeichen versteht Christoph Türcke im kultischen Kontext der frühen Menschenopfer als die Spur des Todesschreckens auf dem, der getötet/ geopfert hat, also dem Tod verfallen und ihm entrissen ist. 4 Die Spur einer angefangenen, aber nicht vollendeten Handlung (Töten) bezeichnet den tötenden Kain als ‚Eigenzeichen‘: Er ist der, der das getan hat, anders als alle anderen. Sie sakralisiert den tötenden Kain: Gott selbst hat ihn sich zugeschrieben. Und sie ist eine Nachricht: Gott wird den Kaintöter töten. Der biblische Bericht lässt Jahwe eine Aussage durch Zeichen machen, signifizieren und kommunizieren. Kain darf weiterleben, um die erste Stadt zu gründen. Mit seiner Deutung der biblischen Überlieferungen gibt Türcke eine neue Auskunft zur Entstehung der Schrift. Danach wurde sie nicht durch die ältesten Stadtkulturen erfunden, sondern zuvor, in der Auseinandersetzung mit den kosmischen Gewalten, als magisch-religiöser Grafismus.5

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Gen. 4, 15. Vgl. Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code, S. 42ff. Vgl. dazu Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 237ff. Vgl. (Art.) schreiben. In: Grimm, Sp. 1689ff. Vgl. u. a. (Art.) schreiben. In: Kluge, S. 679; (Art.) schreiben. In: Pfeifer, S. 1242.

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schreiben  Etymologie

etymologisch verwandt mit ‚kerben‘, heißt einritzen, malen, schreiben; ‚Charakter‘ (χαρακτήρ) ist ebenfalls das Eingegrabene, Eingeprägte.8 Demnach ist Schreiben | 1  als eine Form der Arbeit zu verstehen. Es gilt, in dem mehrdimensionalen Raum einer Oberfläche lineare Spuren (Zeichen) zu setzen, damit sie bleiben. Von solchen Oberflächen haben sich Ton, Steine, Scherben, Knochen und anderes erhalten. Doch wie wir uns steinzeitliche Bilder auch außerhalb der Höhlen vorstellen können, muss es viel mehr Schrift gegeben haben, als übrig geblieben ist, etwa die Buchenholztafeln, auf denen christianisierte Germanen ihre heiligen Texte bekamen. Schreiben | 2  ist zugleich eine Arbeit, die mit Zeichen auf einer Oberfläche eine Aussage (oder mehrere) komponiert. Auf ihren äußeren Zusammenhang (Kontext) hin betrachtet, dient die Aussage der Kommunikation. In ihrem inneren Zusammenhang sind Zeichen und Zeichnungen jedoch nicht nur sprachlicher Text, sie eröffnen vielmehr den Operationsraum der „Schriftbildlichkeit“ (Sybille Krämer), in dem alle Zeichen signifizieren. Schreiben hat | 1  mit Wiederholen und | 2  mit Normieren zu tun, weil die Zeichen als Zeichen wiedererkannt werden müssen, zugleich entstehen aber individuelle Abwandlungen, je nach Vermögen und Willkür der Schreibenden. Der Vorgang ist komplex – schon dadurch, dass Schreiben im Moment des Tuns immer auch an selbstbeobachtendes Lesen gebunden ist. Diese Selbstbeobachtung ist komplementär, aber sie kommt stets etwas zu spät, indem sich die Schrift vor das Schreiben schiebt. Auch wenn man die Umstände benennen kann, der Akt der grafischen Fixierung entzieht sich. So geht es in der Geschichte des Schreibens um die Bearbeitung (Formatierung) der Schreib­oberfläche, um die Schreibinstrumente und die Geste ihrer Handhabung (malt oder meißelt der Schreiber?), um Ort und Zeit sowie nicht zuletzt um das verflochtene Zusammenspiel von Signifikation und Kommunikation. In einem mittlerweile berühmten Aufsatz hat Rüdiger Campe diese Zusammenhänge auf den Begriff der ‚Schreibszene‘ gebracht, die „ein nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste bezeichnet“9. Das nicht-stabile Ensemble

8 Vgl. (Art.) kerben. In: Pfeifer, S. 649; (Art.) Charakter. In: Ebd., S. 190f. 9 Campe: Die Schreibszene. In: Gumbrecht/Pfeiffer (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zu-

sammenbrüche, S. 760.

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umfasst ganz unterschiedliche Handlungen, je nachdem, wer kopiert, diktiert, mitschreibt, ins Reine schreibt oder ediert. So kann das Schreiben zwischen Notiz, Konzept und letzter Korrektur zeitlich dekomponiert werden, aber auch unterschiedlich personalisiert, mechanisiert, automatisiert sein.

europäischen Ackerbaukultur in Südosteuropa (Vinča-Kultur) von ca. 5300 bis 3500 v. Chr., die in den indogerm. Einwanderungen verloren gingen, so dass wir die Sprache(n) dieser Schrift nicht kennen, wie auch bei den ersten Zeugnissen aus dem persischen Susa oder aus dem Industal. Die chinesische Schrift bildete sich aus dem Zeichenverkehr mit den Geistern der Ahnen, in Knochenorakeln, wohl um die Mitte des 2. Jts. v. Chr. heraus.10 War zunächst gekennzeichnet, was dem Jenseitigen zu eigen war, so wurde in der Folge gekennzeichnet, was den diesseitigen Menschen, also den Untertanen und Herrschern, gehörte. Insofern entwickelte sich das Schreiben aus den ZahlAussagen – das ist die übliche Darstellung. Von Zählsteinen gingen die Schreiber in den sumerischen Stadtstaaten Mesopotamiens, Ur und Uruk, Mitte des 4. Jts. v. Chr. zu stilisierten Bildern und Schriftzeichen über, die mit dreikantigen Griffeln in Ton gedrückt wurden. Ihre Keilschrift ermöglichte die Buchhaltung der theokratischen Gemeinwesen in den unterschiedlichen Sprachen und Reichen Vorderasiens. Obwohl die Tontafelschrift zunächst dem Gedächtnis und dem Wissen diente, eher kommemorativ als kommunikativ, wurden in ihr auch die ersten Eigennamen und Texte geschrieben, Gesetze und Geschichten. Ähnlich erschließt auch in Ägypten das Schreiben den zugleich heiligen und staatlichen Raum der Gottesherrschaft (Theokratie).11 Die Zeremonialschrift der Hieroglyphen (griech.: ‚heiliges Ritz- oder Schnitzwerkwerk‘), schon vor 3000 v. Chr. in Gebrauch, bezeichnet mit ihrer Bildhaftigkeit sowohl die Welt (Piktogramme) als auch Worte (Logogramme) und lautliche Artikulationen (Phonogramme). Damit sollen Gesetze, Akten, Rituale, Opferstiftungen verewigt werden. Doch neben der monumentalen, über Jahrtausende immer gleichen Schrift im Stein kamen auch pflanzliche Oberflächen in Gebrauch,

schreiben  Kontexte

KONTEXTE   Am frühesten erscheinen die sakralen Schriftzeichen der alt-

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10 Vgl. Haarmann: Universalgeschichte der Schrift. 11 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis.

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schreiben  Kontexte

namentlich für die internen Funktionen der Verwaltung. Die Schreiber-Beamten vereinfachten die Hieroglyphen zu stärker variablen Schriftsystemen. Schriftträger hierfür waren zunächst Baumblätter, seit dem 3. Jt. v. Chr. das gepresste und geglättete Mark des Zyperngrases (Papyrus). Die schwarzen (Ruß) und roten (Ocker) Zeichen wurden zunächst mit einem Pinsel aufgetragen, später auch mit einem gespaltenen Rohr. Schon die Anordnung der linearen Zeichen im Raum – z. B. in Kästchen, Spalten, Zeilen, oder Bild-bezogen – ist dem historischen Wandel unterworfen. Den größten Einschnitt bildet die Erfindung der alphabetischen Schrift. Diese Erfindung überdeckt die reichen außereuropäischen Schreibvariationen, so als handelte es sich um eine Emanzipationsgeschichte, die auf uns zuläuft. Wahrscheinlich über Kreta war eine der vorderasiatischen Konsonantenschriften mit den Phöniziern um 800 v. Chr. nach Griechenland gekommen. Während die phönizischen Schriftzeichen von rechts nach links zu lesen waren, bevorzugten die Griechen nach einer Zeit des Übergangs die linksläufige Schreibrichtung. Vor allem aber schrieben sie die nicht verwendbaren semitischen Halbkonsonanten als Vokale (α ε ι ο υ). Damit konnte das Schreiben buchstäblich alles analysieren, d. h. erfassen, zerlegen, darstellen, was gesprochen wird. Zugleich aber diente die Buchstabenreihe auch als Zahlenordnung und zur Notierung von Musik, ein bewegliches Zeicheninventar für Sprache, Zahlen und Klänge. Damit setzt sich etwas historisch Neues durch: ein wechselseitiges Verhältnis zwischen dem Bereich der mündlich erklingenden Rede (Oralität) und dem Schreiben und Lesen (Literalität). Die Worte, die nunmehr ohne Abstand durchgeschrieben wurden (scriptio continua), mussten laut artikuliert, in Laute zurückverwandelt sein, um verstanden zu werden. So wurde die griech. Schrift „ein Werkzeug der Klangerzeugung“12. Sie erst machte Homer und alle silbenmessende Poesie anschreibbar. Darüber hinaus drangen mündliche Reden in das Schreiben ein, anstatt außerhalb oder unterhalb der autorisierten Texte zu verwehen. Die frühen Graffiti, Weih- und Grabinschriften erzeugen mit ihrer Ich-Rede regelrecht ‚redende Gegenstände‘. Schließlich war Schreiben nicht länger mehr eine Domäne der Eingeweihten, der Bürokraten und Kaufleute; im Gegenteil, das Alphabet wurde drei Jahrhunderte nach seiner Erfindung

12 Svenbro: Phrasikleia, S. 10.

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KONJUNKTUREN  Von Griechenland breitete sich das Alphabet in alle vier

schreiben  Konjunkturen

in Schulen öffentlich gelehrt und öffentlich praktiziert – ein Wettstreit von Rede und Gegenrede in Texten. Damit werden große Bereiche der Kultur, neben der Politik auch Poesie und Wissen, strittig, also mit Gründen veränderbar. Zugleich mit den geschriebenen Reden steht das Handgeschriebene (lat. manu scriptum) selber auf dem Marktplatz und wird ein Wirtschaftsgut. Seit dem 5. Jh. v. Chr. gibt es Buchhändler, mindestens eben so lange Bibliotheken. Dafür braucht man schreibende Arbeiter, als Sklaven oder gegen Bezahlung. Nun haben sich die Verwendungskonzepte erweitert und um den einzelnen Sprecher (Bürger, Privatmann) herum neu organisiert. Wenn er schreibend aufzeichnet, dann nicht (nur) für eine Institution, sondern für den eigenen Gebrauch. Wenn er schreibend kommuniziert, dann nicht (nur) mit dem Jenseits, der Vor- oder Nachwelt, sondern nach einer neuen Unterscheidung; mit Bekannten in einmaligen Nachrichten, Briefen, Botschaften – mit Unbekannten in Texten, die zu vervielfältigen sind. Wie alle anderen Arbeiten ist das Zeichensetzen weiterhin im Gang der Geschichte kommerzialisiert worden: Von den vorgefertigten Buchstabenzeichen (Lettern) bis hin zu allen möglichen Verwendungsweisen, die ihrerseits wieder, in Programmiersprachen, antizipiert und geschrieben worden sein müssen. Und schließlich kann die Tätigkeit auch an schreibende Apparate abgegeben werden, welche die Impulse einer Quelle auf eine formatierte Fläche dergestalt übertragen, dass sich daraus Informationen gewinnen lassen. Die Sonne oder das Licht schreibt (Fotografie), der Klang schreibt (Fonografie/ Grammophon), das Gehirn schreibt (Enzephalografie), das Herz schreibt (Kardiografie), die Erderschütterungen schreiben (Seismografie), der Motor schreibt Fahrzeiten und Geschwindigkeiten auf als Fahrtenschreiber.

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Himmelsrichtungen aus, schon im frühen 7. Jh. v. Chr. auch nach Rom. Die alphabetischen Buchstaben in einer geraden Linie wurden zunächst möglichst gleichgroß geschrieben; für den täglichen Gebrauch musste es schneller gehen, die Buchstaben entwickelten sich zu einer Kursivschrift (lat. currere = rennen), indem sie sich schräg nach rechts neigten, Oberlängen und Unterlängen herausstreckten und in Ligaturen (lat. ligāre = verbinden) übergingen. Auch begann man Großbuchstaben (Majuskeln) von Kleinbuchstaben (Minuskeln)

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schreiben  Konjunkturen 488

zu unterscheiden. Aus der naheliegenden Tendenz zu Abkürzungen entwickelte Tiro, ein freigelassener Sklave Ciceros, im ersten vorchristlichen Jahrhundert eine Stenografie (griech. ‚Engschreibung‘) zum Mitschreiben von Reden und Gerichtsverhandlungen. An Beschreibstoffen kamen in der Antike, neben dem Papyrus, schon in vorchristlicher Zeit Wachstafeln vor, mit Bienenwachs beschichtete Holzbrettchen unterschiedlichen Formats, oft doppelt oder gar mehrfach geschichtet als Kodex (lat. caudex = Holzklotz, Buch). Zusammengebunden und versiegelt, ließen sie sich als Briefe versenden und beantworten. ‚Kodifikation‘ ist die Bezeichnung für das aufgeschriebene Recht, das seit den nachchristlichen Jahrhunderten die konkurrierende mündliche Überlieferung zu ersetzen begann. Schreibtechnisch wurden die Buchstaben in die Wachsschicht mit dem spitzen Ende eines Stifts (lat: stilus = Stil) eingeritzt, mit dem abgeplattetem Ende konnten sie gelöscht werden. So eigneten sich die permanent beschreibbaren Wachstäfelchen auch als Notizbuch bei Geschäften, öffentlichen Reden und v. a. in den Schulen. Als praktische Gedächtnisstütze blieben sie mehr als tausend Jahre in Gebrauch und sind bis ins 19. Jh. nachgewiesen. Im Einflussgebiet des oströmisch/byzantinischen Kaisertums und der slawischen Sprachen wurde um 900 aus der griechischen die kyrillische Schrift geschaffen (seit 2007 die dritte Schrift der EU). Im vormaligen Einflussgebiet Westroms entstand um 800 mit den Bildungsreformen Karls des Großen die karolingische Minuskel. Aus ihr entwickelten sich die Kleinbuchstaben der ‚deutschen‘ Schriften (etwa gotische Minuskel), seit den Frühhumanisten des Spätmittelalters auch die Kleinbuchstaben der lat. Schrift (humanistische Minuskel). Lit(t)era, das lat. Wort für Buchstabe (Etymologie unsicher), entfaltete dabei eine gewaltige metonymische Kraft, um mit Buchstaben Zusammenhängendes zu bezeichnen: das Alphabet und den Sprach- und Schreibunterricht (litterātūra) ebenso wie die Wissenschaften überhaupt (litterae). All das lag in den Händen der christlichen Geistlichkeit (Klerus), ihren Klöstern und ihren Ausbildungsstätten, so sehr, dass heute noch der englische Angestellte (clerk) den Kleriker im Namen trägt. Solange man den Schriftstrom der scriptio continua mit der eigenen Stimme murmelnd artikulierte, hatten die Buchstaben noch eine lateinische Natur. Als man Mitte des 12. Jhs. begann, still zu lesen und die Worte durch Zwischenräume (Spatien) zu trennen, standen die plötzlich sprachneutralen Buchstaben

schreiben  Konjunkturen

auch für volkssprachliche Texte in großem Maß zur Verfügung. Nach dieser „Verschriftlichungsexplosion“13 lösten sich auch die mathematischen Zeichen aus der römischen Schrift, überhaupt aus jeder spezifischen Sprache; die indischen Zahlen kamen über Arabien und Norditalien nach Mitteleuropa, mit ihnen die Leerstelle 0 und der Buchstabe x für Zahlen, deren Wert erst noch bestimmt werden muss. Während in Italien, Frankreich und England lateinische Universitäten gegründet wurden, verbreitete sich die volkssprachliche Schriftlichkeit in den Kanzleien der Herrschenden sowie in den Städten, dort teils durch Schulen, v. a. aber durch gewerbliche Schreib- und Rechenmeister. Wenn ein niederländischer Humanist um 1500 in seinen ANWEISUNGEN ZUM 14 STUDIEREN berichtet, er habe 15 Schriften erlernt, so ist das bezeichnend für das überschießende Interesse am Schönschreiben (Kalligrafie) – einer Übung, die im 19. Jh. genormte Schuldisziplin werden sollte. Was die Entwicklung seit dem Hochmittelalter vorantrieb, war eine neue Technologie der Schreiboberflächen. Bis dahin hatte das Pergament (benannt nach der Bibliothek von Pergamon) vorgeherrscht, das man aus zarten Tierhäuten gewann. Dann kam das Papier in Umlauf, das aus China über Arabien weitergegeben und weiterentwickelt worden war. Die Araber ersetzten die ursprünglich pflanzliche Basis durch Textilreste (Hadern), wodurch das Papier sich regional unbeschränkt ausbreiten konnte. Mit den Papiermühlen – seit Ende des 13. Jhs. in Spanien und Italien, Ende des 14. Jhs. auch in Deutschland – wurde die Produktion mechanisiert. Gegenüber dem Papyrus, von dem man die Schrift abwaschen, und dem Pergament, von dem man die Schrift abkratzen konnte, versprach das Papier Textsicherheit. Es stand zur Verfügung, als um 1440 der Buchdruck erfunden wurde. Die Gutenberg-Bibel von 1456, die wie eine Handschrift aussieht, wurde in 150 Exemplaren auf Papier, in 30 Exemplaren auf Pergament gedruckt. Als um 1500 der Buchdruck sich verbreitete und die Buchstaben durch Letternguss einzeln und gleichmäßig hergestellt, also normgerecht wurden, dauerte es allerdings nicht lange, bis sich Handschrift (Chirografie) und Druckschrift

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13 Illich: Im Weinberg des Textes. 14 Vgl. Campe: Die Schreibszene. In: Gumbrecht/Pfeiffer (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen,

Zusammenbrüche, S. 766.

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schreiben  Konjunkturen

(Typografie) zu unterscheiden begannen. Das ist von Belang für die elementaren Kulturtechniken des Schreibens und Lesens, deren Beherrschung in den Lateinschulen vorausgesetzt wurde, deren Erlernung aber auseinander brach. Die ‚deutschen‘ Schulen, im Zuge von Reformation und Gegenreformation durch die Kirchen eingerichtet, lehrten v. a. Christentum, Singen und Lesen heiliger Texte, also Druckschrift. Schreiben und Rechnen konnten dazukommen, waren aber im Grunde freie Künste, die auf dem allgemeinen Lehr- und Lernmarkt gegen Entgelt angeboten wurden und weit mehr für die allgemeine Alphabetisierung sorgten, als später die aufgeklärten Anhänger der Alphabetisierung (Nationalerziehung) zugeben wollten. Unter der neuzeitlichen „Vierschriftenherrschaft“ – Lateinisch handschriftlich und gedruckt, Deutsch handschriftlich und gedruckt – blieb der Umgang mit den Buchstaben strikt getrennt in Lesen und Schreiben. Die beiden Kulturtechniken kamen erst wieder in den Schulreformen um 1800 zusammen, als beide auf die Artikulation von Sprachlauten bezogen wurden. Mit deren Normierung konnte der Schreibunterricht die häuslichen Dialekte bekämpfen. Nachdem der Lehr- und Lernmarkt verstaatlicht war, wurde allen deutschen Regionen die gleiche Schriftsprache vermittelt. Wenn nun Schreiben als „Edukt der Selbstkraft“15 (1820) unterrichtet wurde, ergab sich ein neues Unterrichtsziel: die individuelle Handschrift. Diese wird zum Gegenstand der Grafologie, d. h. der Kunst, Menschen aufgrund ihrer Schreibweisen zu kennen. Als technische Hilfsmittel bot die Schule um 1800, statt Feder und Tinte und neben dem seit dem 17. Jh. verbreiteten Bleistift, Schiefertafel und Schiefergriffel an. Damit konnten die Schüler viel früher beginnen zu schreiben und darüber hinaus lernen, ihre eigenen Fehler selbstständig zu verbessern. Das Schreiben mit der Feder verlangte eine gewisse Körperbeherrschung, da der Schreibarm nicht aufgestützt werden durfte, um Handgelenk und Unterarm frei beweglich zu halten, so dass man mit der Feder, von drei Fingern umfasst, Druck und Schärfe in den Grund- und Haarstrichen variieren konnte. Englische Stahlfedern kamen erst im 19. Jh. in Gebrauch und ersetzten allmählich die selbstgeschnittenen Gänsekiele. Auch Tinte (aqua tincta = gefärbtes

15 Stephani: Bericht zur Geschichte des Volksschulwesens im Jahr 1819. In: Ders. (Hrsg.): Der

Baierische Schulfreund, S. 166.

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schreiben  Konjunkturen

Wasser) wurde noch lange aus Galläpfeln selbst zubereitet, bis die moderne Chemie übernahm. Obwohl man schon früh auf eine „Reiseschreibfeder mit beständig Dinten“16 (1786) bedacht war, setzte die Produktion von Füllfederhaltern in Deutschland erst gegen Ende des 19. Jhs. ein. Seit Mitte des 20. Jhs. ist der Kugelschreiber mit Farbmine und rollendem Kügelchen in der Minenspitze verbreitet. Im Zeitalter der Industrialisierung wurde der Schreibvorgang unterschiedlich dekomponiert, zum einen im Hinblick auf automatisches Schreiben, zum anderen im Hinblick auf mechanisches Schreiben. Neugierig auf das Unbewusste, experimentierten Ärzte und Interessierte mit dem Schreiben ohne Bewusstsein. Max Dessoir, der den Terminus ‚Parapsychologie‘ prägte, berichtet in DAS DOPPEL-ICH (Leipzig 1896) über das „mediumistische Schreiben“17. Literarische Bewegungen wie Dada oder der französische Surrealismus nahmen im frühen 20. Jh. Automatismen und unkontrolliertes Schreiben in ihre Schreibexperimente auf,18 Schreibwerkstätten zum kreativen Schreiben setzen es noch heute ein. Um dieselbe Zeit, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs., wurde die Schreibmaschine entwickelt und damit das Verfahren, „Gutenbergs Reproduktionstechnik in die Textproduktion einzuführen“19. Wie Gutenbergs Lettern sind auch die Typen der Schreibmaschine normgerecht disponiert, um ein gleichmäßig lesbares Schriftbild zu erzeugen, das weder die Verschiedenheit der Druckschriften noch gar der Handschriften aufweist. Die Hand gibt nur noch durch isolierten Fingerdruck Buchstabenproduktionsbefehle, sie ist sowohl Werkzeug als auch Maschine. Entsprechend schwankt ihr Produkt, das Typoskript, zwischen geschrieben und gedruckt, so dass, dem Wortsinn zuwider, auch Typoskripte zu Manuskripten zählen. Wieder konkurrieren Typografie und Handschrift, nun aber nicht im Feld des Lesens, sondern in der Textproduktion.

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16 Scheller (1786), zit. n. o.A.: Sinnreiche Spender. In: Spiegel online. Unter: http://www.spiegel.

de/spiegel/print/d-13687194.html [aufgerufen am 20.03.2014].

17 Dessoir: Das Doppel-Ich, S. 28ff. 18 Vgl. Zanetti: Techniken des Einfalls und der Niederschrift. In: Giuriato/Stingelin/Zanetti

(Hrsg.): Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen, S. 205–234.

19 Kittler: Film Grammophon Typewriter, S. 278.

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schreiben  Gegenbegriffe

Ab 1970 wurde die Schreibmaschine elektrifiziert und mit Speicher versehen, zeitgleich (1969) wurden die ersten Computer (lat. computare = zusammenrechnen) per Internet verbunden. In den 80er Jahren begann der Siegeszug des Heimcomputers. Mit ihm ist das Schreiben in die Phase der Textverarbeitung eingetreten. Hatte die Schreibmaschine eine begrenzte Auswahl von Typen zur Selektion bereitgehalten, so verfügt der Computer über eine überreiche Auswahl von Symbolen, Schriften und Schriftgrößen, eine unüberschaubare Auswahl an Texten, Grafiken, Bildern (im Netz) und eine überschaubare Auswahl von Strategien, wie mit ihnen zu verfahren sei, welche ihrerseits zuvor programmiert, also auch geschrieben worden sind. Indem er die in Silizium gebrannten Inschriften auf dem Bildschirm zu lesen anbietet, ist der Computer nicht nur Schreibwerkzeug und Speichermedium, sondern zugleich Lesegerät, mithin dient ein und dasselbe Werkzeug zur Produktion wie zur Rezeption.20 Er gibt das Schema des Textes zu lesen, der unfest bleibt, solange er bearbeitet wird, dann aber standardisiert, kopiert oder vervielfältigt werden kann. Mit der technologischen Spracherkennung – am PC oder Mobilgerät – wird das Schreiben den Spracherkennungsprogrammen und ihrem Wortvorrat anheimgestellt: Der Schreiber spricht wieder. Die elektromagnetische Vernetzung unserer Welt, die jedem Anschluss erlaubt, mündliche Rede, Schrift, Bild, Musik und Film zu senden und zu empfangen, hat Mensch-Maschine-Schnittstellen geschaffen, die das Schreiben kontinuierlich verändern. Die hochkommerzialisierten Schreibgeräte werden ihrerseits unter Konkurrenz- und Effizienzdruck ebenfalls laufend verändert – und mit ihnen wieder die Akte des Schreibens und „Andersschreibens“ (Schuster/Tophinke). GEGENBEGRIFFE   Wenn wir Aussagen durch lineare Zeichen machen, so

schreiben wir nicht nur Sprache, sondern auch die Zeichen der Musik, Mathematik, Chemie, Informatik usw. Der Gegenbegriff dazu wäre ‚Nicht-Schreiben‘. Dazu drei Vorschläge: | 1  Die Schriftzeichen tilgen (durchstreichen, löschen). Aber wenn man von den brutalen Formen der Schriftvernichtung durch Ausmeißeln, Feuer,

20 Vgl. Suter: Das Neue Schreiben. In: Giurato/Stingelin/Zanetti (Hrsg.): „System ohne Gene-

ral“, S. 169.

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schreiben  Gegenbegriffe

Aktenschredder absieht, so erweist sich die Geste des Entfernens (delete) – der Feind der Schrift – als fundamental für das Schreiben. Der Schreibstift leistet nicht weniger, wenn er auswischt, so der römische Rhetoriklehrer Quintilian.21 Löschung führt zur Verbesserung. Es sind bei den Buchstaben und Satzzeichen Reparaturen anzubringen, bei Worten und Satzzeichen Berichtigungen, im Satz Reformulierungen und Restrukturierungen für den Text, zu schweigen von der Reformatierung des Layouts.22 | 2  Im Hinblick auf die Kommunikation gibt es den Gegensatz von schriftlicher und mündlicher Kommunikation mit anderen/mit sich selbst. | 1  Sprechen gehört zu den Handlungen und Ereignissen, es verläuft zeichenhaft in der Zeit. Schreiben, ebenfalls eine Handlung, erfüllt dagegen mit Spuren (Zeichen) einen Raum. | 2  Im Reden wie im Schreiben herrscht die sprachliche Ordnung der Grammatik, im Schreiben zusätzlich weitere Ordnungen, so die der Rechtschreibung (Orthografie). | 3  Die Situation des Sprechens ist vorwiegend eine face-to-face Interaktion, charakterisiert durch körperlichen Ausdruck, also Wahrnehmung mit allen fünf Sinnen, ferner durch gemeinsame Bedeutungsproduktion in Wiederholungen, Paraphrasen, Selbst- und Fremdkorrekturen, schließlich durch (potenziellen) wechselseitigen Austausch. Demgegenüber wäre die Situation des Schreibens ein Nicht-Sprechen, auch wenn Konrad Ehlich versucht hat, diese Negation im Begriff der „zerdehnten Sprechsituation“23 zu beheben. Anders als beim Sprechen und Hören gibt es nun einen Bruch, nicht unbedingt in der Kommunikation, aber notwendig in der Situation – die Differenz von Produktion und Rezeption. Der Situationsbruch kann als Mangel wie als Gewinn beschrieben werden. Johann Wolfgang Goethe erklärt in seiner Autobiografie DICHTUNG UND WAHRHEIT (1812) gelegentlich, „daß der Mensch eigentlich nur berufen ist, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille

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21 Vgl. Quintilian: Institutiones Oratoriae X, 4, 1: „stilum non minus agere, cum delet“. 22 Vgl. Ludwig: Lesen, um zu schreiben. In: Giurato/Stingelin/Zanetti: „Schreiben heißt: sich

selber lesen“, S. 305ff.

23 Ehlich: Zum Textbegriff. In: Ders.: Sprache und sprachliches Handeln, S. 531–550.

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schreiben  Gegenbegriffe

für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede.“24 Was Goethe unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation bedauert, rühmt ein Zeitgenosse von ihm, Johann Gottfried Herder, unter dem Gesichtspunkt der Kognition und zwar in einer Schulrede: „Der Griffel, d.i. bei uns die Schreibfeder schärft den Verstand, sie berichtigt die Sprache, sie entwickelt Ideen, sie macht die Seele auf eine wunderbare angenehme Weise tätig.“25 Im Sinne des ‚epistemischen Schreibens‘ stellen wir heraus, was wir denken, speichern es, können es noch einmal ansehen (revidieren) oder sogar neu sehen.26 Und was ist das, was wir ‚denken‘? | 3  Wenn etwas diktiert wird oder aber abzuschreiben ist, liegt die Quelle des Schreibens außerhalb des Schreibers. Wenn der Schreiber von sich aus schreibt, liegt die Quelle – trotz aller Einschränkungen durch Textsorte, Adressaten, Intention usw. – offenbar in ihm selbst. Man spricht dann von Gedanken, Bildern, Ideen, kurz: sprachlichen und unsprachlichen Vorstellungen. Dieser mentale Komplex ist nicht der Gegenbegriff, er ist das Andere des Schreibens. Bettina von Arnim schreibt an Goethes Mutter (vor 1808), er hat mir gesagt: ‚Schreib alle Tag, und wenn’s Folianten wären, es ist mir nicht zu viel‘, aber ich selbst bin nicht alle Tag in der Stimmung, manchmal denke ich so geschwinde, daß ich’s gar nicht schreiben kann, und die Gedanken sind so süß, daß ich gar nicht abbrechen kann, um zu schreiben, noch dazu mag ich gern grade Linien und schöne Buchstaben machen, und das hält im Denken auf, auch hab ich ihm manches zu sagen, was schwer auszusprechen ist, und manches hab ich ihm mitzuteilen, was nie ausgesprochen werden kann; da sitz ich oft Stunden und seh in mich hinein und kann’s nicht sagen, was ich seh.27

Nicht-Schreiben also, aus überschießender oder hemmender Energie – der Dinge, die sich weigern, in Worte gefasst zu werden, und der Worte, die sich weigern, ausgesprochen zu werden.

24 Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: Goethes Werke, S. 447. 25 Herder: Examen 1796. In: Ders.: Werke in zehn Bänden, S. 728. 26 Vgl. Bereiter: Entwicklung im Schreiben. In: Zanetti (Hrsg.): Schreiben als Kulturtechnik,

S. 410f.

27 Arnim: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. In: Werke und Briefe, S. 34.

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PERSPEKTIVEN  Es wird viel geschrieben zurzeit. Täglich produzieren wir im

FORSCHUNG  War Schreiben traditionell Perspektive nur von Spezialis-

ten der Paläografie, Altertumskunde und Philologie, hat sich seit Friedrich Kittlers Diskursanalyse von „Aufschreibesystemen“ der Begriff als Dispositiv von Adressierung, Speicherungen und Zirkulation von Information in unterschiedlichen Epochen medienübergreifend geöffnet. Inzwischen hat sich in den Literatur- und Kulturwissenschaften, v. a. durch den Ansatz von Rüdiger Campe zum Begriff der „Schreibszene“, eine Forschungsrichtung herausgebildet, die der Kulturtechnik in ihren materialen und medialen Bedingungen epochenspezifisch nachgeht (Giuriato, Stingelin, Zanetti u. a.). Hieran sind weitere Forschungen bezüglich der Funktion von Handschrift im digitalen Zeitalter anzuschließen31 und die Veränderungen des Schreibens wie seiner Funktionen in Gesellschaft und Literatur als Wechselwirkung von Körper, Sprache und Medien zu reflektieren.

schreiben  Forschung

Internet soviel Text, wie etwa 36 Millionen Bücher fassen würden, allein in E-Mails und den Social Media 3,6 Billionen Wörter, heißt es.28 Unter diesen Umständen verliert eine alte antike Aufforderung ihren Sinn, nämlich die, keinen Tag verstreichen zu lassen, ohne eine Zeile zu schreiben. (Nulla dies sine linea. Sprichwörtlich). Andere, ebenfalls antike Aufforderungen bleiben freilich relevant, solange man nicht umhin kann, nach dem richtigen Wort zu suchen, oder nach dem richtigen Platz für das Wort, das man gerne schriebe. „Proper words in proper places“29, so einfach ist das nach Jonathan Swift. Und da alle Schreibenden unmittelbar die Leser des Geschriebenen werden, sind sie auch sofort den Mühen und Chancen der kognitiven Arbeit ausgeliefert. „Den Stil verbessern – das heißt den Gedanken verbessern, und gar nichts weiter!“30, schreibt Friedrich Nietzsche. Gerade wenn die Normen, Gewohnheiten und Moden des Ausdrucks wechseln oder sich vervielfältigen, braucht es Sprach- und Sachverstand zum Schreiben.

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28 Vgl. Fellmann: Tipp: Tippen! In: SZ Magazin, S. 20. 29 Swift: Letter to a Young Clergyman. In: Ders.: Writings on Religion and The Church. Unter:

http://www.online-literature.com/swift/religion-church-vol-one/7/ [aufgerufen am 20.03.2014].

30 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, S. 930. 31 Vgl. Suter: Das neue Schreiben, vgl. Neef: Abdruck und Spur.

495

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Zanetti, Sandro (Hrsg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin (2012).

VERWEISE  aufzeichnen |69|, kritzeln |382|, textverarbeiten |585|,

tippen |596|

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Wörterbuch des Deutschen (1989), München

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schreiben  Bibliografie

Davide/Stingelin, Martin/Zanetti, Sandro

S

497

SERIALISIEREN GABRIELE SCHABACHER

serialisieren  Anekdote

ANEKDOTE   Morgens 7:57 Uhr. Es regnet in Waikiki. Letzter Drehtag von

S

Folge 3.16. Michael Emerson und Elizabeth Mitchell proben eine Szene. Zeitgleich trifft in Los Angeles das production office letzte Vorbereitungen für den ersten Drehtag von Folge 3.17 am nächsten Tag, im writers’ office werden Ideen für den Cliffhanger am Staffelende und die Ausgestaltung von Folge 3.19 gesammelt, im Sounddesign erhält Folge 3.11 Fußgeräusche, für Folge 3.14 muss Text neu eingesprochen werden, der zurückliegende Drehtag von Folge 3.16 ist in Synchronisation sowie Schnitt und abends wird Folge 3.09 über die Bildschirme gehen. Auf Hawaii wird neben den Dreharbeiten zu Folge 3.16 an den Aufbauten für weitere Episoden gearbeitet – ein schottisches Haus, ein 12m langes U-Boot-Modell. Kostüme werden endgültig festgelegt und abends das aus L.A. eintreffende finale Script für Folge 3.17 an die Akteure verteilt. In der Nacht wird die tagsüber abgedrehte Filmrolle nach Los Angeles geflogen, wo sie morgens für die Postproduktion vorliegen muss. ‚A typical day‘ im Rahmen der Produktion einer hochwertigen TV-Fortsetzungsserie,1 bei dem sich Dreharbeiten mit Vor- und Postproduktion ständig überkreuzen. Neu ist dabei v. a. Ausmaß und Intensität dieser Überkreuzung: Das In-Reihe-Bringen betrifft nicht nur die sequenzielle Organisation eines Vorher und Nachher, sondern auch die spezifische Mehrschichtigkeit eines parallelen Produzierens zueinander zeitversetzter Stränge, welche auf die gegenüber der Herstellung engere Taktung der Ausstrahlung einer Episode reagiert. Die netzwerkartige Infrastruktur dieses Serialisierens rhythmisiert also Produktions-, Distributions- und Rezeptionsprozesse gleichermaßen und schreibt ihre Logik in das ästhetische Artefakt selbst ein. ETYMOLOGIE   Alltagssprachlich ist im Dt. das Verbum serialisieren nicht

gebräuchlich. Für die wortgeschichtliche Herkunft ist auf das lat. Nomen seriēs ‚Reihe, Reihenfolge‘ und als Stammwort auf das lat. Verb serere ‚fügen, reihen,

1 Lost, Bonusmaterial: „Lost in a Day“.

498

knüpfen‘ zu verweisen.2 Unter der indogerm. Wurzel *ser ‚aneinanderreihen, verknüpfen‘ lässt sich serere auch mit dem verwandten lat. Substantiv sors und dem hiervon abgeleiteten Fremdwort Sorte vereinigen.3 Vom lat. seriēs ist das mhdt. Wort sërje in den zwei Bedeutungen ‚reihe, streifen‘ und ‚reihenfolge, zeitlauf‘ abgeleitet.4 Weder in Zedlers GROSSES VOLLSTÄNDIGES UNIVERSALLEXICON ALLER WISSENSCHAFFTEN UND KÜNSTE (1732–1754) noch in Adelungs

serialisieren  Etymologie

GRAMMATISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DER HOCHDEUTSCHEN MUNDART

(1811) ist das Lemma Serie verzeichnet; PIERER’S UNIVERSAL-LEXIKON (1862) kennt ‚Reihe‘, spezifisch auch ‚Zahlenreihe‘ sowie den ‚Stammbaum einer Familie‘, MEYERS GROSSES KONVERSATIONS-LEXIKON (1905) sowie BROCKHAUS’ KLEINES KONVERSATIONS-LEXIKON (1911) verweisen auf eine bestimmte Gruppe von Schuldscheinen bzw. Obligationen.5 Steht damit hier das Zählen (und Verrechnen) im Vordergrund, finden sich beide mhdt. Bedeutungen – Serie als Resultat (Reihe) und Serie als Verknüpfungsmodus (Reihenfolge) – erst im DEUTSCHEN WÖRTERBUCH der Brüder Grimm (1905) – nun medientechnisch gewendet und auf ästhetische Phänomene bezogen: „jetzt in collectivem sinne, z. b. von einer reihe von bänden oder werken, von denen jedes selbständig ist, die aber doch zusammen ein ganzes bilden.“6 Anders als im Dt. kommt es im Rahmen der engl. Wortgeschichte zur Ausdifferenzierung von zwei Nomen: series und serial. Bereits früh gebräuchlich wird für das Nomen series ab Ende des 16. Jhs. die Bedeutung der Reihen- bzw. Gedankenfolge (‚sequence‘) genannt sowie in der weiteren Entwicklung auf mathematische, biologische, geologische und chemische Ordnungsstrukturen verwiesen. Ab dem 18. Jh. werden darüber hinaus dem medientechnischen Entwicklungsstand entsprechend die medialen Formen genannt, in denen Artefakte gereiht werden (Buch, Zeitung, Film, Radio, Fernsehen): So ist ab 1711 von einem „set of literary compositions having certain features in common, published successively or intended to be read in sequence“, ab 1796 von

S

2 3 4 5

Vgl. (Art.) Serie. In: Duden, S. 763f.; (Art.) Serie. In: Basler, S. 141f. Vgl. (Art.) Serie. In: Duden, S. 763f.; (Art.) Serie. In: Basler, S. 141f. Vgl. (Art.) sërje. In: Lexer, Sp. 891. Vgl. (Art.) Serĭes. In: Pierer’s Universal-Lexikon, S. 888; vgl. (Art.) Serĭe. In: Meyer, S. 370; vgl. (Art.) Serĭe. In: Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, S. 693. 6 (Art.) Serie. In: Grimm, Sp. 626.

499

serialisieren  Etymologie

einer „sucession of volumes or parts of a periodical“, ab 1913 von einer „related sequence of feature films“ und ab 1923 bzw. den 1960er Jahren von einem „set of radio or television programmes broadcast in sequence“ die Rede.7 Auch das engl. Adjektiv serial 8 ist in zahlreichen Kontexten gebräuchlich –  von der Biologie über die Linguistik und Musik bis hin zu Datenverarbeitung. Vornehmlich aber betont es die spezifische Gemachtheit einer Serie, sei dies allgemein im Sinne von „belonging to, forming part of, or consisting of a series“ oder bezogen auf die massenmediale Veröffentlichungsform in Fortsetzungen („issued in sucessive instalments“9). Die Bedeutung des Nomens serial wiederum ist nahezu ausschließlich auf diese mediengebundene Form des Veröffentlichens und Präsentierens in Fortsetzungen („instalments“, ab den späten 1920er Jahren im Kontext des Rundfunks „regular (e.g. weekly, daily) episodes“10) bezogen. Das ab Mitte des 19. Jhs. belegte engl. Verb serialize bezeichnet entsprechend die Operationen eines allgemein seriellen Arrangierens – „to arrange in or into a series“ – ebenso wie ab Ende des 19. Jhs. spezifischer das Veröffentlichen in der Form von Serials – „To publish (a story, etc.) as a serial“.11 Im Dt. findet allein das Nomen Serialisierung in der Linguistik fachwissenschaftlich Verwendung, um die lineare Wortstellung zu bezeichnen12 sowie das dem Rundfunk- und Fernsehjargon zugeschriebene Nomen Serial im Sinne der ‚Aufeinanderfolge ähnlicher Geschehnisse‘.13 Für das dt. Nomen Serie verweist der DUDEN deshalb v. a. auf den Aspekt der Ganzheit, also auf die ‚Reihe gleichartiger Dinge, die ein Ganzes darstellen‘ bzw. gleich gefertigt sind, sodann (in ästhetischer Hinsicht) auf die inhaltlich zusammengehörige Folge von Sendungen und schließlich auf die ‚Aufeinanderfolge gleicher, ähnlicher

7 (Art.): series, n. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/view/Entry/176458 [aufgeru-

fen am 10.12.2013].

8 (Art.) serial, adj., and n. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/view/Entry/176428

[aufgerufen am 10.12.2013].

9 Ebd. 10 Ebd. 11 (Art.) serialize, v. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/view/Entry/176432 [aufge-

rufen am 10.12.2013].

12 Vgl. (Art.) Serialisierung. In: Bußmann, S. 461f. 13 Vgl. (Art.) Serial. In: Duden, S. 1596.

500

Geschehnisse‘.14 Das dt. Adjektiv seriell wiederum wird in der Bedeutung ‚serienmäßig‘, für die den Bereich der Musik betreffende Kompositionstechnik sowie in der EDV im Sinne des zeitlichen Nacheinander verwendet.15 Erst im Horizont der Debatte um hochwertige Fernsehserien begegnet als Entlehnung aus dem Engl. in den letzten Jahren auch das Wort serialisieren, ohne dass dies aber bereits im DUDEN belegt wäre. Vor dem Hintergrund der Wortgeschichte insgesamt wäre die Operation serialisieren also als ein spezifisch modernes ‚in-Reihe-bringen‘ bzw. ‚Reihenmachen‘ zu bestimmen, das im Spannungsfeld ökonomischer wie ästhetischer Fragestellungen zu verorten ist und mittels der Verbindung von Kontinuität mit Periodizität insbesondere die populäre Veröffentlichung in Fortsetzungsform betrifft.

faltet, wo es mit der Entwicklung industriell-massenmedialer Verfahren der Sequentialisierung, Modularisierung und Programmierung (Scheduling) einhergeht, sind gleichwohl unter Verweis auf den lat. Ursprung auch die antiken Verwendungskontexte von Bedeutung.16 Im engeren Sinne als rhetorischer Terminus technicus die syntaktisch-parataktische Gestaltung der Rede betreffend,17 unterstellt das Konzept der series im weiteren Sinne, dass die gereihte Darstellung die (kausale) Relation von Handlungs- bzw. Naturzusammenhängen abbildet. In der Geschichtsschreibung verweist die reihenförmige Darstellung der ‚res gestae‘ insofern letztlich auf die Ordnung der Zeit, in der die Zeitreihe eines ‚früher und später‘ die Serie der Ereignisse erzeugt.18 Die Frage der series findet aber auch im Kontext mythischer, metaphysischer und naturphilosophischer Überlegungen zur Ordnung der Welt Verwendung. Hier ist es insbesondere das in der ILIAS geprägte Bild der ‚goldenen Kette‘

serialisieren  Kontexte

KONTEXTE  Auch wenn serialisieren seine Wirksamkeit insbesondere da ent-

S

14 Vgl. (Art.) Serie. In: Ebd., S. 1596. 15 Vgl. (Art.) seriell, In: Ebd., S. 1596. 16 Stoellger: (Art.) Series. In: Ueding, Sp. 872–879; Halfwassen/Lühe: (Art.) Series. In: Ritter,

Sp. 688–697.

17 Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, § 921, S. 457. 18 Stoellger: (Art.) Series. In: Ueding, Sp. 873–874.

501

serialisieren  Kontexte

(catena aurea),19 das als Allegorie des reihenförmigen Zusammenhangs des Kosmos (series rerum) insgesamt im Sinne eines ursprungslogischen Seinskontinuums firmiert.20 Wird im rhetorischen wie philosophischen Kontext die Operation des Reihens als (angemessene) Form der Repräsentation von Welt interpretiert, findet sich das Prinzip ebenso unter ästhetischen Vorzeichen im Horizont fiktionalen Erzählens. Bei den orientalischen Zyklen TAUSENDUNDEINE NACHT, aber auch dem PAPAGEIENBUCH, die auf indischen, mündlich tradierten Stoffsammlungen beruhen, die erst im 18. Jh. in europäischer Übersetzung erscheinen, handelt es sich um Rahmenerzählungen, in die Binnengeschichten eingeschachtelt sind. Diese Form ‚zyklisch-serieller Narration‘ wird prägend für den Fortsetzungsroman des 19. Jhs. wie für die seriellen Formate im 20. Jh., da hier das Prinzip der Katapher verwendet wird, d. h. die aus dem audiovisuellen Kontext bekannte Methode des Cliffhangers: Eine Geschichte wird auf dem Höhepunkt des Spannungsbogens abgebrochen, um erst nach einer Unterbrechung fortgesetzt zu werden.21 Die romanischen Romanzyklen in der Tradition von Boccaccios DECAMERONE wie auch deren romantische Nachfolger (etwa bei Wilhelm Hauff oder Ludwig Tieck) haben dagegen einen stärker zyklischen Stil als die orientalischen Vorbilder,22 insofern innerhalb des stabilen Rahmens verschieden perspektivierte, untereinander aber nicht zusammenhängende Binnenerzählungen (Novellen) zusammengestellt werden. Im Kontext der Industrialisierung gewinnt ab Mitte des 19. Jhs. die mechanische Serienproduktion zunehmend an Bedeutung, die erstmals Massenartikel herzustellen erlaubt.23 Bedeutsam ist hierfür insbesondere die Fließfertigung, durch die der Arbeitsprozess in eine Folge von Einzelschritten zerlegt und mit der Einführung des Fließbands einer zeitlichen Taktung unterworfen wird. Im Kontext der Automobilindustrie führt die

19 Homer: Ilias, VIII, 18–27. 20 Stoellger: (Art.) Series. In: Ueding, Sp. 874–875; Halfwassen/Lühe: (Art.) Series. In: Ritter,

Sp. 688–691.

21 Vgl. Mielke: Zyklisch-serielle Narration, S. 40. 22 Ebd., S. 38f.; Haupt: Es kehret alles wieder. 23 Vgl. König: Geschichte der Konsumgesellschaft, S. 47–90; Giedion: Mechanization Takes

Command, S. 77–127.

502

serialisieren  Kontexte

Nutzung einer moving assembly line in Verbindung mit der theoretischen Durchdringung von Arbeitsabläufen im Rahmen des Scientific Management zu einer kosteneffizienteren, automatisierten Herstellung von Serienprodukten (Fords Model T).24 Auch wissenschaftlich gewinnt die Frage des Seriellen im 19. Jh. zunehmend an Bedeutung; ganz grundsätzlich in den auf Quantifizierung und wiederholbare Experimentserien setzenden Naturwissenschaften,25 spezifischer etwa in den Serienaufnahmen der Chronofotografie (Eadweard Muybridge, Etienne Jules Marey, Ottomar Anschütz) und den durch sie ermöglichten Time and Motion Studies, die die Ergebnisse der Zeitstudien Frederick Taylors mit denen der filmischen Bewegungsstudien von Frank und Lilian Gilbreth zur Optimierung von Arbeitsorganisation vereinen.26 Rentabilität wirtschaftlicher Unternehmungen und ästhetische Produktion gehen dabei im 19. Jh. im Modus des Serialisierens Hand in Hand, wie der Komplex der Kolportageliteratur zeigt.27 In der Distribution an den Hausierhandel gebunden und vom Leihbibliothekswesen begünstigt, richten sich die als trivial angesehenen, kurzen und preiswerten Druckerzeugnisse, die in Einzellieferungen erscheinen, mit populären (Roman-)Stoffen an eine lesefähige, aber nicht sonderlich vorgebildete Leserschaft. Mit der durch die fortschreitende Alphabetisierung zunehmenden Nachfrage nach Lesestoff entwickelt sich hier eine vom sonstigen Buchmarkt abgekoppelte industriell-kooperative Produktionsform, die ‚fabrikhaft‘ organisiert die schnelle Übersetzung fremdsprachiger Romane besorgt.28 Seine Verlängerung findet dies in den ab den 1910er Jahren massenhaft verbreiteten ‚Groschenromanen‘. Bis heute erzählen solche periodisch erscheinenden Heftromane einfach montierte Fortsetzungsgeschichten ohne absehbares Ende. Als minderwertig gilt an dieser Literatur

S

24 Vgl. Taylor: The Principles of Scientific Management. 25 Vgl. Hopwood/Schaffer/Secord: Seriality and Scientific Objects in the Nineteenth Century.

In: History of Science, S. 251–285.

26 Vgl. Braun: Picturing Time; Lalvani: Photography, Vision and the Production of Modern

Bodies, S. 139–168; Hoof: Film – Labor – Flow-Charting. In: Köster/Schubert (Hrsg.): Medien in Raum und Zeit, S. 239–266. 27 Vgl. Meier: (Art.) Kolportage. In: Weimar (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 286–289. 28 Bachleitner: Übersetzungsfabriken. In: IASL, S. 1–49.

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serialisieren  Kontexte

jedoch nicht allein der Inhalt, sondern v. a. die ‚Produktions- und Publikationsweise‘, insofern serielles Schreiben auf Teamarbeit basiert.29 Im Printbereich findet das Verfahren des Serialisierens aber v. a. im Medium der Zeitung bzw. der Zeitschrift als Periodikum Anwendung. Dies betrifft zum einen die Etablierung von Rubriken als regelmäßig wiederkehrende Orte.30 Zum anderen geht es um die Etablierung eines spezifischen Formats, dessen Ästhetik an die periodische Erscheinungsform gekoppelt ist: den Feuilletonoder Fortsetzungsroman.31 Dabei sind es ökonomische Erwägungen, die den Feuilletonroman ab den 1830er Jahren zum probaten Mittel der Auflagensteigerung und Verbreitung machen. Denn die Senkung des Abonnementpreises in Verbindung mit der Einführung einer Unterhaltungssparte im sogenannten rez-de-chaussée der ersten beiden Seiten zum fortgesetzten Abdruck von Romanen (1836/37 Charles Dickens PICKWICK PAPERS, 1842/43 Eugène Sues LES MYSTÈRES DE PARIS) soll die Leserschaft längerfristig an die Zeitung binden, was wiederum Werbeeinnahmen maximiert.32 Im Medium der Zeitung entwickelt sich aber noch eine weitere Verwendungsweise des Serialisierens, die mit ihrem Text-Bild-Arrangement den Fokus bereits auf Fragen der Visualisierung verschiebt: der Comic (Strip).33 Auf den Abdruck von Karikaturen und Bilderfolgen in Zeitungen wie auf die Tradition des Bilderbogens zurückgehend, erscheinen im späten 19. Jh. zunächst in amerikanischen Sonntagszeitungen ganzseitige Bilderseiten (‚Bildgeschichte‘), die wöchentlich fortgesetzt werden und schnell außerordentlich populär sind, etwa THE YELLOW KID (1895–1898) von Richard Felton Outcault, THE KATZENJAMMER KIDS (ab 1897) von Rudolph Dirks und Harold H. Knerr. Ab Anfang des 20. Jh. finden sich in den werktäglich erscheinenden Ausgaben dann auch Bildleisten (daily strips), die aus Kostengründen in schwarz-weiß gehalten sind

29 Vgl. Maye: Übersetzungsfabriken. In: Meteling/Otto/Schabacher (Hrsg.): „Previously on...“,

S. 141.

30 Für die Frühphase vgl. Pompe: Famas Medium. 31 Vgl. Bachleitner: Fiktive Nachrichten; Neuschäfer et al. (Hrsg.): Der französische Feuilleton-

roman.

32 Vgl. Walter: Der Feuilletonroman und sein Medium. In: Neuschäfer et al. (Hrsg.): Der fran-

zösische Feuilletonroman, S. 30.

33 Vgl. Platthaus: Im Comic vereint; Smith/Randy: Critical Approaches to Comics; Kunzle:

The History of the Comic Strip; Hayward: Consuming Pleasures, S. 84–134.

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serialisieren  Kontexte

und in maximal vier Bildern eine ‚Geschichte‘ erzählen, wobei bereits die für den Comic typisch werdenden Merkmale der Sprechblase und des Panels genutzt werden. Betrifft die Reihung zunächst also den Bildstreifen und seinen periodischen Turnus, entwickelt sich ab den 1930er Jahren eine weitere Vertriebsform, das Comicheft – in den USA auch comic book genannt –, die das Prinzip ‚episodischer‘ Schließung auf Heftebene noch einmal eintreten lassen. Mit dem Buchformat (graphic novel, Comic-Album) ab den 1970er Jahren etabliert sich der Comic dann als eigenständige „sequential art“34 (etwa Art Spiegelmans MAUS. A SURVIVOR’S TALE, 1980–1991). Die Visualisierungsstrategien des Comic Strip ebenso aufgreifend wie die wöchentliche Fortsetzungsstruktur des Feuilletonromans, wird in den 1910er Jahren eine weitere Form des Serialisierens populär. Bei den sogenannten Filmserials (engl. chapter plays) handelt es sich um halbstündige Vorfilme, die wöchentlich vor dem eigentlichen Hauptfilm gezeigt werden.35 Als Folge von ‚Kapiteln‘ konzipiert, die mit einem – teilweise buchstäblichen – Cliffhanger enden, sollen sie die Zuschauer zum regelmäßigen Kinobesuch animieren. In den 1910er Jahren selbst Attraktion eines gemischten Kurzfilm-Programms, werden Serials später zusammen mit Zeichentrickfilmen und Wochenschauen vor zwei langen Hauptfilmen positioniert. In der Tradition der Arbeiterunterhaltung des 19. Jhs. (Groschenhefte, Kolportageliteratur, Feuilletonroman) handelt es sich vornehmlich um stereotype Spektakel für wenig gebildete Publikumsschichten (‚Junge Heldin kämpft gegen Schurken‘). Diese Serials werden zwar nie in großen Erstaufführungskinos gezeigt, erreichen aber gleichwohl einen großen Zuschauerkreis, da sie parallel in Printmedien veröffentlicht werden. So kommt etwa das erste Serial WHAT HAPPENED TO MARY 1912 nicht nur ins Kino, sondern erscheint gleichzeitig auch in der Zeitschrift THE LADIES’ WORLD. In den 1950er Jahren wird die Produktion von Filmserials aufgrund der zunehmenden Konkurrenz durch Fernsehserien eingestellt. Im Filmbereich bis heute gebräuchlich sind dagegen „Cineserien“36, also die Vermarktungsinteressen geschuldete Produktion von (Spiel-)Filmserien (Sequels) seit den 1930er Jahren.

S

34 Eisner: Comics & Sequential Art; vgl. auch Schmitz-Emans: Literatur-Comics. 35 Vgl. Singer: Die Serials. In: Nowell-Smith (Hrsg.): Geschichte des Internationalen Films,

S. 98–104; Stedman: The Serials; Canjels: Distributing Silent Film Serials.

36 Junklewitz/Weber: Die Cineserie. In: Blanchet et al. (Hrsg.): Serielle Formen, S. 337–356.

505

serialisieren  Kontexte

Auch im Radio werden Hörspiele bereits früh in Fortsetzungen (instalments) produziert. Dabei zeigt sich die neue Qualität des Radios, durch sein tägliches Programm als ‚Zeitgeber‘ für Alltagsstrukturen fungieren zu können.37 Mit der Soap Opera bringt das Radio in den USA dann eine Form hervor, die lückenlos an die Traditionen von Zeitungsgenre und Kino-Serial anknüpft. Anders als in Deutschland ist der Rundfunk in den USA vollständig kommerziell verfasst. Tagsüber Endlosserien zu senden, dient hier dem Werbeinteresse, die relevante Zielgruppe für den Absatz von Haushaltsreinigern, Nahrungsmitteln und Toilettenartikeln zu erreichen: Frauen. Das Format dieser täglich gesendeten, 15-minütigen Episoden – frühe Beispiele sind etwa PAINTED DREAMS (1930–1943), MA PERKINS (1933–1960) oder THE GUIDING LIGHT (1937–1956, 1952–2009 im TV) – ist sehr erfolgreich und gehört in den 1940er zu den beliebtesten Programmen, bevor durch das Aufkommen des Fernsehens in den 1950ern sich das Interesse in den USA auf die television soap opera verlagert.38 Ist das Serialisieren im Bereich der Soap Opera klar von ökonomischen Interessen bestimmt, finden sich im Bereich der Musik wie der bildenden Kunst anders gelagerte Auseinandersetzungen mit dem Problem der Reihenbildung. Ab Ende der 1940er Jahre entsteht die serielle Musik als eine Strömung der Neuen Musik, deren Kompositionstechnik das Prinzip der Reihenbildung der Zwölftonmusik weiterentwickelt.39 Arnold Schönberg hatte dieses Prinzip ab Anfang der 1920er Jahre verwendet, um durch festgelegte Tonordnungen den Eindruck tonaler Strukturen zu vermeiden. Die Kompositionen mittels serieller (und elektronischer) Techniken in der seriellen Musik (etwa Pierre Boulez’ STRUCTURES 1952, 1956–61; Karlheinz Stockhausens KONTRA-PUNKTE 1952/53) unternehmen nun den Versuch, alle Eigenschaften von Musik – neben der Tonhöhe auch Tondauer, Lautstärke und Klangfarbe – zu quantifizieren sowie die Kompositionen generell auf Zahlen- und Proportionsreihen aufzubauen. Eine derartige Reihenbildung soll jeglichen (tonalen) Zusammenhang

37 Vgl. Lenk: Die Erscheinung des Rundfunks, S. 213. 38 Vgl. Allen: (Art.) Soap Opera. In: Newcomb (Hrsg.): Encyclopedia of Television, S. 2116–

2126; Cantor/Pingree: The Soap Opera.

39 Vgl. Blumröder: Serielle Musik. In: Eggebrecht (Hrsg.): Terminologie der Musik im 20. Jahr-

hundert, S. 396–411; Kursell: „Presque une image materielle“. In: ZfM, S. 57–69.

506

serialisieren  Kontexte

vermeiden, insofern die Flüchtigkeit des Klangs gerade kein ‚Ganzes‘ entstehen lässt. Damit aber verweigert sich diese Form musikalischer Reihenbildung der Reproduktion des Identischen (Serienproduktion) ebenso wie der Variation bzw. Wiederholung von (narrativen) Mustern (Serial/Soap Opera). Die bildende Kunst kennt die Auseinandersetzung mit der Frage des Serialisierens seit dem 19. Jh. In der ‚Serienmalerei‘ von Claude Monet, Paul Cézanne, aber auch Piet Mondrians gehören die einzelnen Bilder einer Serie nicht nur lose zu Werkgruppen oder sind durch die ‚Variation eines Themas‘ verbunden, sondern unterliegen einer bestimmten Standardisierung, was die Serie erst in der Gesamtschau erkennbar sein lässt.40 Wie im Fall der seriellen Musik ist auch hier das Serialisieren eine Technik der Komposition, eine Arbeitsweise. Demgegenüber fokussieren Pop Art, Minimal Art und Concept Art in den 1960er Jahren nicht mehr das Was, sondern das Wie der Darstellung.41 Bekanntlich setzt Andy Warhol auf serielle Verfahren mechanischer Produktion (Stempeldruck, Schablonen, Fotosiebdruck) und wendet sich explizit Gegenständen der Konsum- und Massenkultur, also ‚Serienprodukten‘ zu – so etwa in der Serie CAMPBELL’S SOUP CANS (1962), deren 32 Bilder den 1962 erhältlichen Sorten der amerikanischen Fertigsuppen-Marke entsprechen, die Wahrhol Printmagazinen entnimmt. Insbesondere im Medium des Fernsehens aber findet das Verfahren des Serialisierens seinen Ort. In den USA wird in den 1950er Jahren das erfolgreiche Prinzip der radio soap operas aufgegriffen und televisuell weiterentwickelt.42 Man stellt auf 30-minütige Episoden um und produziert zunächst Soaps für die Daytime (AS THE WORLD TURNS 1956–2010, GENERAL HOSPITAL seit 1963), ehe man Anfang der 1980er Jahre zur Produktion von Primetime-Soaps (DALLAS 1978–1991, DYNASTY 1981–1989) übergeht. Diese US-amerikanische Entwicklung beeinflusst andere Länder. Zwar kann sich in Deutschland aufgrund der öffentlich-rechtlichen Verfasstheit des Rundfunks keine vergleichbare Tradition der radio soap opera entwickeln; eine Ausnahme stellen Familienserien wie

S

40 Vgl. Sykora: Das Phänomen des Seriellen in der Kunst. 41 Vgl. Bippus: Serielle Verfahren. 42 Vgl. Allen: (Art.) Soap Opera. In: Newcomb (Hrsg.): Encyclopedia of Television, S. 2116–

2126; Cantor/Pingree: The Soap Opera; Allen (Hrsg.): To be continued; Ang: Watching Dallas; Geraghty: Women and Soap Operas.

507

(1949–1956 HR, 1960–1967 ARD) oder UNSERE NACHBARN HEUTE ABEND: FAMILIE SCHÖLERMANN (1954–1960) dar. Angeregt durch die Ausstrahlung von US-amerikanischen Formaten,43 kommt es dann auch zur Produktion eigener Primetime-Soaps (DIE SCHWARZWALDKLINIK 1984–1988) sowie solcher für das Vorabendprogramm (LINDENSTRASSE 1985–). Mit der Einführung des Dualen Systems in den 1980er Jahren nimmt auch das Privatfernsehen die Produktion von Soaps auf (GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN 1992–). Im latein-amerikanischen Raum entwickelt sich ein auf die Schließung der Geschichte ausgelegtes Format, die Telenovela, das seinerseits den US-amerikanischen wie europäischen Markt beeinflusst (VERLIEBT IN BERLIN 2005–2007).44 Neben der Soap Opera entwickeln sich im US-amerikanischen Fernsehen ferner Episodenserien mit narrrativ abgeschlossenen Einzelfolgen und thematischer Akzentuierung (etwa Tierserien wie LASSIE 1954–1973, Westernserien wie BONANZA 1959–1973 oder Krimiserien wie THE STREETS OF SAN FRANCISCO 1972–1977) sowie an die Hörfunktradition anschließende und durch Studioaufzeichnung bzw. Guckkastenbühne gekennzeichnete 30-minütige Sitcoms (etwa I LOVE LUCY (1951–1957)). Darüber hinaus finden sich fortgesetzt, aber in einer begrenzten Anzahl von Folgen erzählende Mehrteiler (miniseries)45 wie etwa ROOTS (1977) oder HOLOCAUST (1978). Beide Formate – Episodenserien wie Mehrteiler – sind auf dem deutschen Fernsehmarkt, auch was Eigenproduktionen angeht, bis heute sehr erfolgreich. Neben der Soap und der Episodenserie entsteht in den USA eine dritte Form, die fortgesetzt erzählt, aber nicht endlos wie die Soap, sondern als komplex konstruiertes „quality television“46. Datiert diese Entwicklung bis in die 1980er Jahre zurück, die als Beginn eines „second golden age of television“47 apostrophiert werden (HILL STREET BLUES 1981–1987; ST. ELSEWHERE 1982–1988; NORTHERN EXPOSURE 1990–1995), so ist es spätestens David Lynchs Serie

serialisieren  Kontexte

DIE HESSELBACHS

43 Vgl. Schneider (Hrsg.): Amerikanische Einstellung. 44 Vgl. Pastina: (Art.) Telenovela. In: Encyclopedia of Television, S. 2292–2294. 45 Vgl. Montgomerie: (Art.) Miniseries. In: Encyclopedia of Television, S. 1499–1501. 46 Vgl. Thompson: Television’s Second Golden Age, S. 13–16; McCabe/Akass (Hrsg.): Quality

TV. 47 Vgl. Thompson: Television’s Second Golden Age.

508

(1990–1991), die fernsehgeschichtlich den Beginn einer neuen Ära seriellen Erzählens markiert. Dabei experimentieren Network-Serien wie THE X-FILES (1993–2002), ER (1994–2009) und BUFFY THE VAMPIRE SLAYER (1997–2003) zwar bereits mit dem Wechsel übergreifender Handlungsbögen und episodischer Schließung, insbesondere das orginal programming des PayTV-Senders HBO48 macht dann aber inhaltliche, narrative und ästhetische Qualität sehr erfolgreich zum Markenzeichen von (eigenen) Serien (THE SOPRANOS 1999–2007, THE WIRE 2002–2008, TRUE BLOOD 2008–2014). Die Networks folgen dem Trend zu teuren, fortgesetzt erzählenden Eigenproduktionen (24 2001–2010, LOST 2004–2010) ebenso wie Kabel- und andere Pay-TV-Sender (MAD MEN 2007–, BREAKING BAD 2008–2013). Das Verfahren der Serialisierung betrifft dabei nicht allein fiktionale Formate. Vielmehr ist von einer „Serialisierung im Allgemeinen“ auszugehen, die „Wiederholung und Wiederkehr“ von allen televisuellen Formaten fordert49 – Fernsehnachrichten, Talkshows, Reality TV und fiktionalen Serien: „Alles, was Fernsehen zu sagen und zu zeigen hat, muss demnach durch die Anordnung in der (einen oder anderen) Form der Serie hindurch.“50 Aufgrund der ubiquitären Verwendung des Serialisierens stellt das Fernsehen einen privilegierten Ort der Auseinandersetzung mit dieser Praxis dar.51 Das für die Praxis des Serialisierens bedeutsame Verhältnis von Ganzem und Teil lässt sich dabei theoretisch entlang von zwei Achsen ausbuchstabieren: dem Problem der Wiederholung einerseits und dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität andererseits. | 1  Serialität ist als spezifische Verfasstheit der Wiederholung zu bestimmen. In Frontstellung zu Originalität liefert das Moment der Wiederholung häufig kulturkritischen Ressentiments Vorschub, wonach Fernsehserien redundant immer nur dasselbe sagen. Bezogen auf die Programmierung betrifft Wiederholung den Distributions- und Rezeptionsrhythmus einer regelmäßig (am selben Sendeplatz) wiederkehrenden Ausstrahlung (Stripping).

serialisieren  Kontexte

TWIN PEAKS

S

48 Leverette et al. (Hrsg.): It’s Not TV. 49 Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. In: Adelmann et al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fern-

sehwissenschaft, S. 135.

50 Engell: Fernsehtheorie zur Einführung, S. 16. 51 Vgl. Beil et al.: Die Serie. In: ZfM, S. 13.

509

serialisieren  Kontexte

Ähnlich den filmbezogenen Wiederholungsstrukturen52 sind es Elemente wie Mehrfachausstrahlung, Programmverbinder, wiederkehrende Stilmittel sowie Regularitäten wie Figurenpersonal und Kulisse, die das Fernsehen zu einer „beständige[n] Wiederholung des Ähnlichen, und damit des Nicht-Identischen“53 machen. Dem nicht-narrativen technischen Reproduzieren ist hier eine ästhetisch-narrative und zeitbasierte Wiederholung entgegengestellt.54 Das ‚Wiederholen‘ variiert rekurrente Muster einer Serie (Figuren, Plot, Setting) dergestalt, dass die Wiedererkennbarkeit narrativ gewährleistet bleibt.55 | 2  Die Praxis des Serialisierens betrifft auch das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität (und damit einhergehend: Offenheit und Geschlossenheit, flow und Segment). Zentral ist hier die spezifische Episodenhaftigkeit der Serie, die für alle Formate des Fernsehens gilt:56 „Episodicity is the crucial trait which distinguishes the serial (and the series) from the ‘classic‘ narrative text“57. Gemeinsam ist fiktionalen Serien dabei, dass sie ihre ‚Einheit‘ thematisch generieren: „Eine Serie besteht aus zwei oder mehr Teilen, die durch eine gemeinsame Idee, ein Thema oder ein Konzept zusammengehalten werden und in allen Medien vorkommen können.“58 Bezüglich der Herstellung des Zusammenhangs der Teile dagegen lassen sich zwei Verfahren unterscheiden: etwas „wieder“ zu erzählen einerseits und etwas „weiter“ erzählen andererseits. Formatbezogene Differenzierungen greifen deshalb heuristisch auf die aus der Wortgeschichte geläufige Differenz von series und serial zurück: Zeichnet sich eine series (Episodenserie, Reihe) durch in sich abgeschlossene Episoden aus,59 erzählen Serials Fortsetzungsgeschichten. Für die Serials ihrerseits wird differenziert zwischen der Soap Opera (daytime/

52 Vgl. Bellour: Cine-Repetitions. In: Screen, S. 65–72. 53 Klippel/Winkler: „Gesund ist, was sich wiederholt“. In: Hickethier (Hrsg.): Aspekte der

Fernsehanalyse, S. 125.

54 Vgl. Parr: Wiederholen. In: Kulturrevolution, S. 37. 55 Umberto Eco spricht hier von „Schema-Variation“ [Serialität im Universum der Kunst und

der Massenmedien. In: Ders. (Hrsg.): Im Labyrinth der Vernunft, S. 320]; vgl. hierzu auch die ‚neobarocke Ästhetik‘ der Wiederholung bei Omar Calabrese: Neo-Baroque, Kap. 2 sowie deren Weiterentwicklung bei Ndalianis: Neo-Baroque Aesthetics and Contemporary Entertainment. 56 Vgl. Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. In: Adelmann et al. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 132 und 144f. 57 Hagedorn: Doubtless to be continued. In: Allen (Hrsg.): To be continued, S. 28. 58 Weber/Junklewitz: Das Gesetz der Serie. In: Medienwissenschaft, S. 18. 59 Vgl. Ruchatz: Sisyphos sieht fern oder Was waren Episodenserien? In: ZfM, S. 80–89.

510

serialisieren  Konjunkturen

primetime), die vermittels ‚Zopfdramaturgie‘ ohne Schließungsfigur endlos weiter erzählt, und Primetime Serials, Miniserien und Telenovelas, die ein Ende haben. Teilweise werden aktuelle Qualitätsserien deshalb auch als ‚series/serial-hybrids‘ bezeichnet; denn indem sie Fortsetzung und Schließung verbinden, verweisen sie auf das series/serial-Schema als Kontinuum.60 Die Relation von Teil und Ganzem betrifft aber nicht allein die Ebene von Episode und Gesamt-Serie, sondern ebenso die der Staffel (Season). Die Staffel ist dabei die Einheit einer bestimmten Anzahl von Episoden: Dies betrifft die Ebene der Produktion (in Staffeln produzieren), die der Distribution (komplette Staffeln verkaufen), die der Rezeption (in Staffeln rezipieren – Serials in unumkehrbarer Reihenfolge) und die der ästhetischen Machart (übergreifende Handlungsbögen (story arcs) bei Primetime Serials). Ihre Erweiterung erfahren (TV-)Serien transmedial derzeit im (mobilen) Online-Bereich. Dies betrifft zunächst das Erscheinen neuer Distributionsformen (Mobisodes, Webisodes) für Smartphone- und Internet-Anwendungen, die sich als Ergänzung des televisuellen Angebots verstehen. Ferner finden sich eigenständige Serien-Formate wie ausschließlich via Internet verfügbare Webserien (LONELYGIRL15 2006–2008; COMPULSIONS 2009; ADDICTS 2010), die allerdings keiner linear-serialisierten Logik mehr folgen.61 Schließlich werden serielle Formate im Horizont von Computerspielen aufgegriffen bzw. sogenannte Alternate Reality Games als Tie-ins für Serien verwendet, v. a. um Staffelpausen zu überbrücken (etwa THE LOST EXPERIENCE 2006).62 Indem sie sequenziert zu lösende ‚Rätsel‘ aufgeben, erweitern diese Online-Spiele das erzählte Serienuniversum. KONJUNKTUREN  Als Verfahren der Reihenbildung, das seit der Industriali-

sierung zu einer eigenen massenmedialen Produktions-, Distributions- und

S

60 Vgl. Kozloff: Narrative Theory and Television. In: Allen (Hrsg.): Channels of Discourse, Re-

assembled, S. 92; Allrath et al.: Toward a Narratology of TV Series. In: Dies. et al. (Hrsg.): Narrative Strategies in Television Series, S. 5f.; Nelson: TV-Drama. In: Voigts-Virchow (Hrsg.): Mediated Drama, S. 111. 61 Vgl. Otto: Die Fernsehserie jenseits des Fernsehens. In: Maeder/Wentz (Hrsg.): Der Medienwandel der Serie, Navigationen, S. 127–141; Creeber: Online-Serien. In: Blanchet (Hrsg.): Serielle Formen, S. 377–396; Klein: Von der Episode zur Webisode. In: Renner et al. (Hrsg.): Medien – Erzählen – Gesellschaft, S. 118–138. 62 Vgl. Clarke: Transmedia Television.

511

serialisieren  Konjunkturen

Rezeptionsform ästhetischer Artefakte wird, ist die mediale Praxis des Serialisierens in ihrer Verquickung ökonomischer und ästhetischen Kategorien seit jeher Gegenstand von Kritik und Wertung. Zum einen wird das Prinzip der Serialität ganz generell der Kritik unterzogen und als nicht original, auratisch bzw. individuell abgewertet. Zum anderen wird gemäß einer high/low-Unterscheidung zwischen ‚höheren‘ Formen der Wiederholung (Rahmenzyklen des 18. Jhs., Literatur-Comics, Qualitätsserien) und ‚niederen‘ trivialen Formen der Unterhaltung (Groschenroman, Soap Opera) unterschieden. Derartige Wertungen greift die Pop Art in ihrem Rekurs auf populärkulturelle Formationen kritisch auf. Der Einsatz industrieller Reproduktionsverfahren (etwa im Siebdruck) steht hier allerdings nicht im Dienst einer massenmedialen Popularisierung, sondern einer Reflexion des Kunstsystems. Konjunkturen sind in der Praxis des Serialisierens seit der Industrialisierung immer dann zu beobachten, wenn es um die Initiierung von Konsum geht (Serienproduktion). Historisch sind marktwirtschaftliche Bedingungen, eine kommerziell nutzbare Kommunikationstechnik (Massenmedium) sowie ein Verständnis von Erzählung als Ware notwendige Voraussetzungen. Das auf Episodizität setzende Serialisieren hat dann v. a. drei Aufgaben: die fortgesetzte Rezeption zu triggern (insbesondere durch Cliffhanger), hinsichtlich der Serie Produktloyalität zu erzeugen – in der Vermarktung dieser Einsicht besteht der Erfolg der Marke HBO63 – sowie das jeweilige Medium zu stärken: „to promote the very medium in which they appear“64. Serials tauchen also genau in dem Moment in einem Medium auf, in dem dieses als Programm- und Massenmedium wirksam wird – von der Zeitung über den Comic, den Film, das Radio bis hin zum Fernsehen und (mit Einschränkungen) dem transmedialen Internet: „When a medium needs an audience, it turns to serials.“65 Die Popularität eines Mediums und seiner Artefakte (Feuilletonroman, Filmserial, Radiosoap, Fernsehserie) firmiert hier als Gradmesser der Wirksamkeit und Durchsetzung eines Mediums: Serialisieren popularisiert. Die Konjunktur

63 Vgl. Rogers et al.: The Sopranos as HBO Brand Equity. In: Lavery (Hrsg.): This Thing of

Ours: Investigating The Sopranos, S. 42–57.

64 Hagedorn: Doubtless to be continued. In: Allen (Hrsg.): To be continued, S. 28f. 65 Ebd., S. 29.

512

GEGENBEGRIFFE  Zunächst und v. a. konturiert sich das Feld der Gegenbe-

grifflichkeit in Abgrenzung zur Operation des Wiederholens und Verlängerns als Bereich des Auratisch-Einmaligen und Originalen (der Kunst). Bezug genommen wird dabei auf die (ökonomisch motivierte) prozessuale Vervielfältigung und die daraus resultierende Redundanz und Banalität serieller Formen (Kolportage, Soap Opera), wobei das Verfahren des Serialisierens in kulturkritischer Stoßrichtung gar als Signum kulturindustrieller Verfasstheit von Wirklichkeit gilt.68 Daran anschließend ist das Serialisieren aber auch vom Begriff des Werks als einer spezifischen Schließungsfigur – das Kunstwerk als „in sich selbst vollendetes“69 – abzugrenzen, da die segmentierende Logik der Fortsetzung nur temporäre Abschlüsse (Episoden, Staffeln) erzeugt, die aber aus marktwirtschaftlichen Gründen stets anschlussfähig bleiben müssen.

serialisieren  Gegenbegriffe

gegenwärtiger TV-Serien, die mit Qualitätsmarker versehen sind, 66 sollte deshalb nicht vorschnell allein auf inhaltlich-ästhetische Gründe zurückgeführt werden.67 Zwar ist es richtig, dass diese Serien komplexer strukturiert sind als zahlreiche der episodischen Vertreter des seriellen Formats und insofern die Fernsehserie nicht nur rehabilitieren, sondern gegenüber dem Film einen ‚Experimentalraum‘ eröffnen, der nun seinerseits Spielfilmregisseure und -schauspieler anzuziehen vermag (etwa Martin Scorsese für den Piloten von BOARDWALK EMPIRE (2010–)). Gleichwohl verdanken sich die ‚Qualitätsserien‘ einer mindestens ebenso komplexen (und genau berechneten) Infrastruktur, die durch die multi-medialen Möglichkeiten des Zuschauens und Distribuierens sowie transmediale Erweiterungen effektiv neue Zuschauermärkte erschließt. Fällt der ökonomische Gewinn aus, ‚stirbt‘ selbst ein gutes Konzept rasch, was an der beträchtlichen Anzahl guter, aber gleichwohl nach der ersten Staffel eingestellter Produktionen abzulesen ist (FIREFLY 2002, RUBICON 2010).

S

66 Vgl. Thompson: Television’s Second Golden Age, S. 13–16; McCabe/Akass (Hrsg.): Quality TV. 67 Vgl. Schwaab: Reading Contemporary Television. In: ZfM, S. 135–139. 68 Vgl. Horkheimer/Adorno: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung sowie Anders: Die Welt als Phantom und Matrize. In: Ders.: Die Antiquiertheit des Menschen, S. 97–212. 69 Moritz: Über den Begriff des in sich selbst vollendeten. In: Ders.: Werke in zwei Bänden, S. 203–211.

513

Dass sich im Bereich neuerer Fernsehserien die Werkkategorie im Sinne der Abgeschlossenheit von Serien wieder einschreibt, wie etwa bei THE WIRE (2002–2008) oder LOST (2004–2010), muss als sekundärer Effekt verstanden werden, der seinerseits einem ökonomischen Kalkül entspringt. Unter Rekurs auf die gegenwärtige Medienlandschaft ist schließlich die linear-sequenzielle Verfasstheit des Serialisierens den stärker netzwerkhaft und rhizomatisch organisierten Formen digitaler Medien entgegenzustellen – linear erzählende Fernsehserien auf der einen Seite und hypertextuell organisierte Webserien auf der anderen –, und damit das Serialisieren mit einem historischen Index zu versehen, der es als Verfahren des 19. und 20. Jhs. ausweist.

serialisieren  Perspektiven

PERSPEKTIVEN  Für die Medienforschung stellt die Praxis des Serialisierens

einen privilegierten Einsatzpunkt dar, um die Verflechtung ökonomischer und ästhetischer Aspekte in materialen Netzwerken zu analysieren. Ein derartiger Fokus erlaubt es, der medialen Infrastruktur des Serialisierens und seiner Artefakte quer zu high/low-Unterscheidungen zu folgen. Über den Ansatz der Production Studies70 im engeren Sinne hinausgehend, lassen sich die Produktion, Distribution und Rezeption von (serialisierten) Artefakten als immer schon miteinander verwobene Dimensionen behandeln, die den Bereich der ästhetischen Formation stets durchkreuzen. Dies ist nicht als alleinige Konzentration auf den ‚industriellen Komplex‘ zu verstehen, sondern als Fokus auf die material-infrastrukturelle Bedingtheit medialer Praktiken. FORSCHUNG  Insbesondere durch den Erfolg qualitativ hochwertiger Fernseh-

serien ist seit Beginn der 2000er Jahre im Bereich der Fernsehwissenschaft, aber auch in den Cultural Studies, besonders mit Blick auf narratologische Fragen, ein verstärktes Interesse am Komplex der Serie und des Seriellen zu beobachten. Die Analysen betreffen Format, Geschichte, kulturelle Unterschiede, Systematik und Spezifika von Serien in vergleichender Perspektive,71 aber auch detaillierte

70 Vgl. Caldwell: Production Culture; Mayer et al. (Hrsg.): Production Studies. 71 Vgl. Creeber: Serial Television; Hammond/Mazdon (Hrsg.): The Contemporary Television

Series; Meteling/Otto/Schabacher (Hrsg.): „Previously on...“; Blanchet et al. (Hrsg.): Serielle Formen; Kelleter (Hrsg.): Populäre Serialität; Mittell: Complex TV.

514

72 Vgl. etwa Schröter: Verdrahtet. 73 Vgl. Seier/Waitz (Hrsg.): Klassenproduktion; Morsch: It’s not HBO, it’s TV. In: Cargo,

S. 45–46.

serialisieren  Forschung

Studien zu einzelnen Serien.72 Vor diesem Hintergrund lassen sich vier Komplexe benennen, auf die sich aktuelle Forschungsinteressen richten. | 1  Die starke Betonung von Qualität als intrinsischem Wert neuerer Fernsehserien steht zunehmend in der Kritik; dabei ‚abgedrängte‘ Formen des Seriellen (Sitcom) bzw. des Mediums ‚Fernsehen‘ (Reality TV) treten in den Fokus.73 | 2  Bezogen auf das Phänomen der Transmediatisierung stellen sich Fragen des Medienwandels (der Serie) und der Zukunft des Fernsehens im digitalen Zeitalter.74 Diskutiert werden Fragen des Status und der Grenze der Fernsehserie im Zeitalter multi-medialer Distribution und Rezeption sowie die sich hieraus ergebenden Effekte (etwa im Bereich der DVD).75 | 3  Diskutiert wird auch die spezifische Qualität der transmedialen Erweiterungen im Serienbereich. Wird zunächst das Moment der Narration in den Vordergrund gerückt (transmedia storytelling),76 betonen neuere Ansätze die Wechselwirkung „seriale[r] Affekte“ des Aufschubs, der Spannung und der Fortsetzung und „serielle[r] Affekte“ der Wiederholung (MerchandisingProdukte, Flashgames etc.).77 | 4  Schließlich werden Fankulturen und die von ihnen generierten Inhalte untersucht, etwa spezielle Blogs und Wikis, aber etwa auch Parodien.78 Ein Desiderat der Forschung stellt dagegen eine Betrachtung der Infrastrukturen des Serialisierens dar, die ökonomische und ästhetische Perspektiven vor dem Hintergrund der historischen Entstehung in konkreten Mikroanalysen verknüpft. Sie hätte Fragen industrieller Prozessualisierung im Rahmen logistischer

S

74 Vgl. Maeder/Wentz (Hrsg.): Der Medienwandel der Serie; Gripsrud (Hrsg.): Relocating

­Television; Spigel/Olsson (Hrsg.): Television after TV; Jenkins: Convergence Culture.

75 Vgl. Brunsdon: Bingeing on Box-Sets. In: Gripsrud (Hrsg.): Relocating Television, S. 63–75;

Kompare: Publishing Flow. In: Television & New Media, S. 335–360.

76 Vgl. Mittell: Narrative Complexity in Contemporary American Television. In: The Velvet

Light Trap, S. 29–40.

77 Maeder: Transmodalität transmedialer Expansion. In: Maeder/Wentz (Hrsg.): Medienwan-

del der Serie, S. 105–125; Fahle: Diesseits der Narration. In: Kelleter (Hrsg.): Populäre Serialität, S. 169–181; Gray: Show Sold Separately. 78 Vgl. Booth: Digital Fandom; Hills: Fan Cultures; Schabacher: Recapping Strategies. In: Beil/ Schwaab/Wentz (Hrsg.): Lost in Media.

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SKIZZIEREN MIRJAM SCHAUB

die Tinte im Jahr 1685 aus der Hand von Gottfried Wilhelm Leibniz vom letzten Wort vor dem Zeilenumbruch wie zufällig abwärts und ergießt sich in eine Skizze. Der nebenstehende Text weist das dabei entstandene Schleifenwerk als eine für die Herrenmode des Barock zwar gängige, für einen Jahrhundert-Philosophen wie Leibniz jedoch überraschend profane Handlung aus: „Strumpfbandel binden mit 3 falten ohn die zwey zipfel gibt ein schohn exempel“1. Ein Beispiel für was? Wozu der Aufwand, wozu die Skizze, wozu die Schleifen ein- und desselben Strumpfbandes, zwei nach oben, eine nach unten gerichtet? Der deutsche Satz wirkt stenohaft, ein sprachlicher wie stilistischer Fremdkörper im lateinischen Gelehrtentraktat,2 das ihn rahmt, so wie die Tintenstriche der Schlaufen von ungelenker Hand zu rühren scheinen, während die geschmeidige Buchstabenführung auf derselben Seite jederzeit den Vielschreiber dahinter verrät. Die Skizze vom Knoten des Strumpfbandes wirkt bemüht, mancher Strich wird zweimal geführt, so wie der burleske, deutsche Texteinsprengsel die Delikatheit des Schlaufenbindens nur notdürftig überspielt. All das steht im aparten Gegensatz zur übrigen Prägnanz und Performanz des Denkers. Leibniz’ zweifache, sprachliche wie pikturale Unsicherheit ist eingebettet in die Sicherheit der begrifflichen Könnerschaft. Genau dieser Umstand bleibt erklärungsbedürftig, denn alle drei – Traktat, Steno, Skizze –

skizzieren  Anekdote

ANEKDOTE  Als Marginalie einer eng beschriebenen Manuskriptseite fließt

S 1 Der vollständige Text der oben anzitierten Leibniz-Passage lautet wie folgt: „Confusio Concep-

tuum. Strumpfbandel binden mit 3 falten, ohn die zwey zipfel gibt ein schohn exempel confusae cognitiones et distinctae, item operationis ex confusa memoria et ex distincta.“ [Leibniz: Akademie-Ausgabe (AA), VI, 4, B, Nr. 241, S. 1230, Z. 4–6, zit. n. Bredekamp: Die Fenster der Monade, S. 13; Unterstr. i. O.]. 2 Leibniz schrieb auf Lat. und auf Frz., obgleich er schon 1670 in seinem Vortrag über die „beste Vortragsweise des Philosophen“ den zukünftigen Gebrauch des Deutschen als Wissenschaftssprache empfahl. (Doch erst mehr als 60 Jahre später gab man, wie in Würzburg, die Vorlesungen über Mathematik auf Deutsch frei.)

521

skizzieren  Anekdote

teilen sich Autor, Feder, Tinte, Zeit; sie sind in einem ‚Handstrich‘ entstanden – und doch himmelweit voneinander unterschieden.3 Obgleich das Schriftbild flink und behände ist und der lateinische Traktat beredt, während die Zeichnung abkürzt und eher der Selbstverständigung dient (wovon die stakkatohafte ‚Bildunterschrift‘ auf Deutsch zeugt), gibt es kein Primat der gelehrten Explikation über die krude Zeichnung einer profanen Sache: Sinnlich und dringlich wirksam, dennoch nicht der kognitiven Kontrolle zugänglich, scheint das anlässlich des Skizzierens aufgerufene, halbbewusste, halbautomatische Binden des widerspenstigen Strumpfbands ein gutes Beispiel abzugeben, um das gleichberechtigte Nebeneinander von verworrenen und deutlichen Erkenntnissen (cognitiones confusae vs. distinctes) greifbarer zu machen. Denn verworrene sind bei Leibniz ausdrücklich keine dunklen (obskuren) Erkenntnisse, sondern haben – wie das mit sich selbst verschlungene Strumpfband – Teil an einer gleichzeitig möglichen, anderen, ‚klaren Erkenntnis‘, die erst im Moment des Skizzierens als Testfall zutage tritt. Genau deshalb kann die von Leibniz herbeizitierte „confusio conceptuum“, die Verworrenheit der Begriffe, durchaus mit der Zeit in deutliche Erkenntnis übergehen. Dies geschieht durch Übung und Gewohnheit, bei der Hand (zeichnend, korrigierend) und Auge (lesend, sehend, prüfend), solange zusammenwirken, bis – genau wie beim Strumpfbandknoten – der anfänglich schwierige Kunstgriff zu heilsamer Routine geworden ist. Horst Bredekamp fasst den inneren Zusammenhang zwischen Skizzieren und Theorieverfertigung so auf: Leibniz weiß, daß zum Denken Verköperlichungen gehören: und sei es als Knotengebilde am Rande einer Seite oder auch als eine der surreal wirkenden Skizzen, die kaum gedeutet werden können, gerade weil sie für Leibniz den Spielgrund des Denkens abgaben. Wenn es jemals ein Fenster in die Gedankenwelt von Leibniz gegeben hat, so bieten es diese an Miró erinnernden, auf einer Pappe

3 Horst Bredekamp, dem Kunsthistoriker und Warburg-Forscher, ist diese Schere zwischen Versinnlichung und Konzeptualisierung, sinnlicher Verdeutlichung und gedanklicher Verdichtung natürlich nicht entgangen. Er wendet sich Leibniz zu, um die Rolle der „petits perceptions“, die schon William S. Heckscher (1974) faszinierte, auf ihre Situierung unterhalb der Schwelle der bewussten Aufmerksamkeit zu befragen; vgl. Heckscher: Petits perceptions. In: The Journal of Medieval and Renaissance Studies, S. 129f.

522

eingetragenen Kritzeleien, die in ihrem Durcheinander von Stoß- und Reflexionslinien Leibniz’ internes Repräsentationstheater eigenwillig zu spiegeln scheinen.4

Skizzieren heißt folglich nicht nur, etwas zu zeigen, um andere ‚sehend zu machen‘, sondern es bedeutet, wie im Fall von Leibniz’ ungelenker Zeichnung vom richtigen Binden eines Strumpfbandes, etwas scheinbar Triviales, Alltägliches wie etwas Unvertrautes, Noch-nicht-Verstandenes vor sich auszubreiten. Skizzieren bedeutet ‚Verknappung, Verfremdung, Schematisierung durch Versinnlichung und Verräumlichung‘. All dies scheint nötig, um das scheinbar längst Vertraute wie etwas noch gänzlich Unbekanntes in ein- und demselben Handzug zu drosseln, aufzuschlüsseln und neuerlich gedanklich in Gang zu setzen.

wörtlich ‚Spritze‘ und ‚Spritzer‘ bedeutet. Das dazugehörige Verb, ‚schizzare‘, bezeichnet mit ‚spritzen‘, ‚sprühen‘, ‚spratzen‘ einen Vorgang, bei dem unkontrolliert Farbe oder Flüssigkeit in einem Raum, auf einem Blatt oder einer Leinwand verteilt wird. Es ist diese Herkunft aus der Praxis der Malerei, welche den Charakter des Zufälligen, Vorläufigen und Unausgearbeiteten bald als entscheidenden Vorteil begreift. Im Mhdt. ist das Pendant zum Skizzieren das Verb ‚entwerfen‘, das sich einer eminent praktischen Tätigkeit verdankt: Es handelt sich um den eiligen Wurf der langen, farbigen Schlussfäden durch die Reihen der aufgespannten Kettfäden hindurch, um sich das weitere Webmuster besser vorstellen zu können, ohne sich bereits definitiv für eines entscheiden zu müssen. Ein solcher ‚Entwurf‘ ist also nicht nur schnell gemacht, sondern provisorisch genug, um im nächsten Augenblick am losgeworfenen Faden zurückgenommen, einkassiert und ungeschehen gemacht zu werden. Die Affinität zum Bildentwurf ist somit durch die begriffliche Herkunft aus der Praxis der Bildwirkerei immer mitbedacht. Der Entwurf wird im Mhdt. bald zum Synonym für jede Art von gestalterischer Tätigkeit – sei es in der Goldschmiedekunst oder in der Glasmalerei –, die sich gerade nicht um Perfektion, sondern allein um das Anfangen kümmert. Das ahdt. Wort für ‚reißen‘

skizzieren  Etymologie

ETYMOLOGIE   Der Begriff leitet sich ab vom ital. Nomen ‚schizzo‘, was

S

4 Bredekamp: Die Fenster der Monade, S. 194.

523

oder ‚ritzen‘, das sich heute noch im architektonischen ‚Aufriss‘ wiederholt, bildet die Grundlage für die sich durchsetzende Bedeutung des flüchtigen Aufschreibens oder Aufzeichnens. Im Universallexikon von Zedler findet sich 1743 entsprechend der Eintrag: „Skitze […] nennen die Mahler den ersten Entwurff ihrer Gemählde, oder ihrer Gedanken mit blosser Feder, Kreiden oder Pinsel-Strichen, wornach [sic!] sie es hernach ausarbeiten.“5

skizzieren  Kontexte

KONTEXTE  Die überlieferten Verwendungskontexte des Begriffs sind in der

Folge reich an Nuancen, entschieden jedoch in seinem Bedeutungskern: Seit dem 17. Jh. geht die Prominenz des Begriffs ‚Skizze‘, der sich bald als Lehnwort in ganz Europa verbreitet, Hand in Hand mit der Übertragung dieser zufallsangeleiteten Technik auf andere Wissenssphären: auf Philosophie (Ideenskizze), Musik (Kompositionsskizze), Theater (sketch) oder Literatur (Textentwurf ).6 Ob als grober Überblick, den die Planskizze in der Geometrie verschafft oder als grobe Vorzeichnung in der bildenden Kunst, um die teure Leinwand zu schonen, ob als Feldskizze (in der Vermessungstechnik) oder als schon recht detaillierte Architekturskizze (deren Akkuratheit bereits auf Maßstabstreue zielt) oder als programmierbares Sketchup (in modernen Grafikprogrammen), immer geht es darum, mit etwas Prekärem anzufangen, dessen schlussendliche Realisierung Zeit, Arbeit (oft Arbeitsteilung), Geduld und sorgsame Ausführung verlangt. Die Skizze selbst erscheint als Inbegriff des Provisorischen, ein notwendiges Durchgangsstadium ohne eigenen, bleibenden Wert. Allein in der schrift- statt bildbasierten Kunst – wie der Literatur – gewinnt die Skizze über dieses Provisorium hinaus bald anakoluthische wie fragmentarische Kraft. Die Skizze steht hier nicht mehr für einen tatsächlich auszuführenden Plan, sondern erklärt das scheinbar aleatorische, bloß zufallsgesteuerte ‚pro-jeter‘, das mehr oder minder mutwillige oder wahllose Vor-sich-Hinwerfen (ähnlich wie jemand, der laut zu sich selbst auf offener Straße spricht und sich selbst Anweisungen gibt, die bald lächerlich, bald bitterernst zu nehmen sind), zu einem ‚purpose of itself‘, zu einer Textsorte eigenen Rechts. Der stetige Vergleich mit der raschen Handzeichnung wird

5 (Art.) Skizze. In: Zedler, Sp. 12. 6 Vgl. ebd.

524

I cannot say that I have studied them with the eye of the philosopher, but rather with the sauntering gaze with which humble lovers of the picturesque stroll from the window of one print-shop to another; caught, sometimes by the distortions of caricature, and sometimes by the loveliness of landscape. As it is fashion for modern tourists to travel pencil in hand, and bring home their portfolios filled with sketches, I am disposed to get up a few for the entertainment of my friends.10

Rund einhundert Jahre früher unternahm Antoine Nicolas de Condorcet auf dem Gebiet der politischen Philosophie etwas noch Kühneres. Als GirondistAnhänger einer republikanischen Verfassung und Verfechter des Frauenwahlrechts, war er ein Gegner des Tugendterrors und geriet so bald selbst auf die Verfolgungsliste der radikalen Jakobiner. Im Pariser Untergrund schrieb er – wie sich wenig später herausstellen sollte zurecht – um sein Leben fürchtend, die ESQUISSE D’'UN TABLEAU HISTORIQUE DES PROGRÈS DE L’ESPRIT HUMAIN 7 8 9 10

skizzieren  Kontexte

in der Romantik populär, so, als wolle auch die wohlgesetzte Bleisatzschrift sich ihrer Dynamik rückversichern. Schließlich steht die Schrift als Medium seit Platons PHAIDROS unter Verdacht, wie auch die Malerei, „ihre Ausgeburten“ zwar als „lebend [hinzustellen], wenn man sie aber etwas fragt, […] ehrwürdig still [zu schweigen].“7 Washington Irvings Reisebericht, der unter dem Titel SKETCH BOOK 1883 zu einem europäischen Bestseller wird, beginnt folgerichtig mit einem freimütigen „the author’s account of himself“8. Diese Selbstbeschreibung nimmt gerade nicht die von Platon projektierte „lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden“9 für sich in Anspruch, sondern macht das Umherschweifen, Tasten, Ausprobieren selbstbewusst zu ihrem Credo. Irvings Skizze nimmt das Motiv des Flaneurs auf, der für seine daheimgebliebenen Freunde mit flüchtiger Feder nur das festhält, was die eigene Neugierde fesselt, ohne Anspruch auf übergeordnete Relevanz oder Gelehrtheit; eine – dem Mündlichen verhaftete – Notiz, in Analogie zur Bleistiftzeichnung eines Laiens, ein Stück hastig hinterlassene Kurzprosa:

S

Platon: Phaidros. In: Werke, S. 179, 275d–276a. Irving: The Sketch Book, S. 16. Platon: Phaidros. In: Werke, 276a3. Irving: The Sketch Book, S. 16.

525

(Paris, 1795), welche noch im gleichen Jahr als

SKETCH FOR A HISTORICAL

ins Engl. übersetzt wurde. Es wundert nicht, dass einer existentiellen Notlage wie dieser das Provisorische, Abrisshafte nicht nur zur Titelfindung, sondern zur lebenspraktischen Hilfe gereicht, wie überhaupt die Imperfektion als Voraussetzung unermüdlicher Anstrengung zur Verbesserung der eigenen, menschlichen Natur zum treibenden, gedanklichen Motor von Condorcets letztem Buch wird.11 Statt angesichts des Verrats der Werte der Französischen Revolution zum Misanthropen zu werden oder aufgrund des persönlichen Schicksals zu verzagen, tröstet sich der Aufklärer Condorcet mit einer paradigmatischen Um- und Aufwertung des grausigen Geschehens, dem Goethe sein ‚Wer immer strebend sich bemüht‘ entgegengesetzt hätte. Sein eigenes Leben wird Condorcet mit seiner ESQUISSE nicht retten, wohl aber der Sache des Idealismus ein flammendes Denkmal setzen und G. W. F. Hegels weit weniger mutigem ‚Weltgeist‘ den Weg in die Philosophiegeschichte ebnen. Der Ausdruck ‚processus d’élaboration de l’esquisse‘ erfreut sich in den folgenden Jahrhundert im Frz. als ‚Entwurfsprozess‘ großer Beliebtheit und spielt Anfang des 20. Jhs. – aufgrund einer die Surrealisten entflammenden, einfachen Homonymie – sogar in die Namensfindung des ‚cadavre exquis‘ hi­nein. Dabei handelt es sich um jenes berühmte Spiel mit ziehharmonikaartig gefaltetem Papier, auf das André Breton, Paul Eluard, Tristan Tzara verdeckt reihum einzelne Wörter niederschreiben, die im entfalteten Zusammenhang gelesen poetischen (Un-)Sinn, wie etwa eine ‚exquisite Leiche‘, ergeben. Wie das launige Faltspiel als Gruppenereignis kennt die Skizze kein Fundament, noch ein sicheres Koordinatensystem. Sie franst nach allen Seiten hin aus, bricht ab, fängt von Neuem an, streicht sich hastig selbst durch, ohne Reue, ohne Wiederkehr. In Skizzen radiert man nicht, noch geht es an die Wurzel von irgendetwas. Während das Moment der Problematisierung auf der Auflösung von einer gerade erst entworfenen, wenn auch verfallsverhafteten Ordnung durch Mündlichkeit und Dialogizität besteht, verfolgt das Skizzieren

skizzieren  Kontexte

PICTURE OF THE PROGRESS OF THE HUMAN MIND

11 Es beginnt, programmatisch, mit diesen Sätzen: „that nature has set not term to the perfec-

tion of human faculties; that the perfectibility of man is truly indefinite“, „a record of change“, „the modifications that the human species has undergone, ceaselesssly renewing itself through the immensity of the centuries“ [ebd., S. 4].

526

die konstruktive, schöpferische, bildhafte Seite derselben Operation. Gerade das, was droht, abstrakt und unverstanden zu bleiben, muss skizziert werden. Das Nicht-Sicher-Sein(-Können) ist keine rhetorische Koketterie, sondern Grundlage für das Anfangen-Müssen auf schwankendem Grund.

digung oder schlicht ein sokratisches Eingeständnis, mit einem Anflug von Eitelkeit und Hochmut begabt? „Wer die Skizze sieht, weiß nicht mehr und nicht weniger als vorher oder nachher, er weiß im Moment nichts […] – und das ist der Anfang des Verstehens, aus dem Theorien ihre unverständlichen Labyrinthe bauen“12, so steht es in leicht prophetischem Ton in Maren Lehmanns THEORIE IN SKIZZEN (2011) geschrieben. Lehmanns Buch handelt ausdrücklich von der intellektuellen Projektemacherei vor der konkreten Durchführung, von der ‚Kreditwürdigkeit‘ von etwas, das sich vielleicht für immer im Ungefähren aufhält, von der eigentümlichen Konsequenz, die aus der Haltlosigkeit und der Gefahr der Selbstdurchstreichung erwächst. Nicht x-beliebige Vorkommnisse sind jedoch – das ist der Clou der Untersuchung – Gegenstand von Grundrissen, Skizzen, Schemazeichnungen oder rasch dahingeworfenen Funktionsdiagrammen, sondern es ist ausgerechnet die oft als hermetisch beschriebene Systemtheorie von Niklas Luhmann mit ihren scheinbar rigiden Leitdifferenzen, ihren re-entries, ihrer Autopoiesis, ihrer doppelten Kontingenz, ihren Beobachtungen erster und zweiter Ordnung, in denen sich reflexive und operative Momente ‚verschalten‘ und auf Hochtouren zu funktionieren beginnen. Systemtheorie gehört zu jenem raren Theorietypus, welcher es erlaubt, die Aufteilung von Theorie und Praxis grundlegend in Zweifel zu ziehen. Der Zweifel rührt an der Aristotelischen Betrachtertheorie des Wissens (spectator theory of knowledge), welche die Theorie auf einen desengagierten Blick auf ihre Gegenstände verpflichtet und im Gegenzug das höchste Glück des Theoretikers verspricht. Luhmanns Systemtheorie durchkreuzt diese Sicht, indem sie statt auf Distanz und Nichteinmischung zu setzen ihre vagabundierende, unbeständige Wirkung auf die Praxis beständig in ihr eigenes Anschlusshandeln

skizzieren  Konjunkturen

KONJUNKTUREN  Ist das Skizzieren ein taugliches Mittel der Selbstverstän-

S

12 Lehmann: Theorie in Skizzen, S. 64.

527

skizzieren  Gegenbegriffe

mit ‚hineinzurechnen‘ –‚hineinzuskizzieren‘ – versucht. Dabei halten sich ‚Theoriepassion‘ und ‚Ironieliebe‘ bei Luhmann wunderbarerweise die Waage: Wer sich anschickt, Unentscheidbares entscheidbar zu machen, liefert immer auch eine Karikatur von der Welt und ist damit zugleich eine Zumutung für den Universalisierungsanspruch jeder sich selbst ernst nehmenden Theorie: Nämlich Teil dessen zu sein, wovon man spricht, aber eben ohne die nötige Selbsttransparenz. „Triff eine Unterscheidung“, ruft uns Niklas Luhmann mit Maren Lehmann zu, „und lerne, mit dieser Unterscheidung zu rechnen“13, was mehr als nur das Ertragen der Folgen einschließt, sondern auch eine manifeste Warnung vor der drohenden Selbstauflösung ist. Der Grund, genauer der schwankende Un-Grund dafür ist ausgerechnet der systemische Zwang zum beständigen Sich-selbst-hineinrechnen in das eigene Theoriegeschehen. Denn jede selbst-reflexive Beobachtung (sog. ‚zweiter Ordnung‘) entlarvt die Leitunterscheidungen, die ein System operativ wirksam machen, als kontingent und d. h. als anders möglich. Luhmanns ironisch-selbstbewusster ‚Kons­ truktivismus‘ reduziert erfolgreich Komplexität, doch legt er zugleich den scheiterungsanfälligen Zug jeder Präferenzlogik offen. Jede operative Leitunterscheidung ist, obgleich sie ‚wie in Butter geschmiert‘ vor sich hin prozessiert, nie absolut, sondern bleibt partiell und standpunktbeschränkt. Kurz: eine revisionsbedürftige Skizze von geringer Haltbarkeit. Wenn jedes Luhmannsche System jedoch einer konstruktiv-fragwürdigen wie operativ klaglos funktionierenden Skizze vergleichbar ist, so bleibt das dadurch notwendig Ausgeschlossene, Nicht-Traktierte das treibende Problem, welches das Skizzierte in die Reflexion treibt und somit letztlich dessen Umformung oder gar Auflösung vorbereitet. Luhmann schafft so mit seiner Systemtheorie ein System der „Selbstbeunruhigung“14, dem das Spratzen und die Patzer des ‚schizzare‘ höchst vertraut sind. Was also tun? Sich in das Unvermeidliche eines Provisoriums fügen oder rebellieren? GEGENBEGRIFFE   Schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert empfahl

Quintilians Rhetorik bekanntlich bereits, als Gegengift gegen eloquente

13 Ebd., S. 230. 14 Ebd., S. 239.

528

Wenn die Anlage vollendet ist, so muss nichts wesentliches mehr in das Werk hinein kommen können. Sie enthält schon alles Wichtige der Gedanken, und erfodert [sic!] deswegen das meiste Genie. Darum bekommt das Werk seinen größten Wert von der Anlage. Sie bildet die Seele desselben, und setzt alles feste, was zu seinem innerlichen Charakter, und zu der Würkung, die es thun soll, gehöret. Deswegen können auch grobe oder schlecht bearbeitete Werke, der guten Anlage halber sehr schätzbar seyn.16

Als Beispiel führt Sulzer Pausanias’ Urteil über den Architekten und Erfinder Dädalus an, der Flugmaschinen entwarf, die zwar gut gedacht, aber eben nicht bis ins Detail durchgearbeitet waren. Dädalus’ geniale ‚Anlage‘ wird bekanntlich erst zweitausend Jahre später das Drachenfliegen wirklich möglich machen. Vom planenden Entwurf Sulzers aus gesehen, ist der kontrollierte Weg zur Funktionsbestimmung und Formfindung jedoch nicht (mehr) weit und fügt sich ein in ein neues Konzept von ‚design‘, in dem endlich Quintilians rhetorische Tugenden verschmelzen und operativ, funktional, zuletzt dreidimensional werden. ‚Il disegno‘ bedeutet wörtlich Zeichnung und Muster, während die korrekte Übersetzung von ‚schizzo‘ am besten mit ‚draft‘ wiedergegeben ist. Während also die ‚Anlage‘ im Designprozess bereits Ausführung

skizzieren  Gegenbegriffe

Inhaltsleere, Stoff- und Ideenfindung (inventio) ernst zu nehmen und zwar noch vor der Anordnung der Argumente in Zeit und Raum (dispositio), als Voraussetzung der gedanklichen Durchdringung und konzeptuellen Prüfung (intellectio). Wer sich hingegen hinreißen lasse, schlicht „der Wärme und dem Schwung des Augenblicks“ zu folgen und alles „mit dem Schreibstift so schnell wie möglich durcheilen [zu] wollen“15, wer eine zufallsgesteuerte ‚dispositio‘ vorantreibe, um so eine ‚inventio‘ zu provozieren, statt sie sich durch ‚intellectio‘ zu erarbeiten, erschleiche sich etwas, was keine Substanz verbürge. Der flüchtigen Skizze steht daher die kontrollierte, durchdachte Ausgestaltung entgegen, wie sie Johann Georg Sulzer in seiner ALLGEMEINEN THEORIE DER SCHÖNEN KÜNSTE (1771–1774) verfechtet. Sulzer entwickelt den Begriff der planenden ‚Anlage‘ im Unterschied zu ‚Ausarbeitung‘ und ‚Ausführung‘:

S

15 Quintilian: Institutio Oratoria, Buch X, 3, 17. 16 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, S. 148.

529

skizzieren  Gegenbegriffe

und Ausarbeitung planbar macht und ihnen konzeptuell zuarbeitet, hält sich die ‚Skizze‘ ihre eigene Realisierung auf Abstand. Anders als Zeichnung und Muster genügt sie gerade keiner Formästhetik. Sie ist bewusst lax in der Ausführung, ohne stilistischen Eigenwillen, sie deutet an, lässt erahnen, umreißt etwas, das weder inhaltlich noch formal ausgereift ist. Das fertige Design ist durch künstlerische, ästhetische, formale wie konzeptuelle Entscheidungen hindurchgegangen, die dem Stadium der Skizze noch gänzlich fremd sind. Folglich ist das fertige Design ästhetischer Kontrapunkt, oft jedoch auch Ziel und Vollendung im Verhältnis zum ersten Entwurf, so wie konzeptuelle Kritik der Skizze zur Neiderin gereicht, denn diese fängt nichts ein, was sich durch bestimmte Negation neutralisieren ließe. In seinem Buch, ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG EINER WISSENSCHAFTLICHEN TATSACHE (1935), in dem es um die Bedeutung sich verfestigender Denkstile bis hin zu einer „Harmonie der Täuschungen“17 durch Forscherkollektive geht, unterscheidet Ludwik Fleck als Wissenschaftstheoretiker des 20. Jhs. auf der Ebene der Wahrnehmung – analog zum Gegensatz von provisorischer Skizze vs. kohärentem Design – zwei Beobachtungsweisen, nämlich „das unklare anfängliche Schauen“ vs. „das entwickelte unmittelbare Gestaltsehen“.18 Interessanterweise wird Flecks ansonsten tadelloser Duktus just an dieser Stelle selbst atemlos, anakoluthisch, wie ein performatives Echo auf das selbst bloß skizzenhaft Gemeinte. Das „anfängliche Sehen“, so Fleck, sei unklar, verworren, bestehend aus „chaotisch zusammengeworfene[n] Teilmotive[n] verschiedener Stile, widersprechende Stimmungen treiben das ungerichtete Sehen hin und her: Streit der gedanklichen Gesichtsfelder. Es fehlt das Tatsächliche, Fixe: man kann so oder so sehen, fast willkürlich.“19 „Die erste stilverworrene Beobachtung“, so Fleck weiter, „gleicht einem Gefühlschaos: Staunen, Suchen nach Ähnlichkeiten, Probieren, Zurückziehen; Hoffnung und Enttäuschung. Gefühl, Wille und Verstand arbeiten als unteilbare Einheit. Der Forscher tastet: alles weicht zurück, nirgends ein fester Halt.“20 17 Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 122. 18 Ebd., S. 121. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 124.

530

PERSPEKTIVEN  Wer sich im Skizzieren versucht, ist bestrebt, die Praktiken

des Provisorischen und Unvollständigen mit einem Grundzug von Theoriebildung jenseits der klassischen Ordo-Modelle zu entfalten. Das ‚Medium‘ der Skizze ist daher im hier behandelten Fall die Theorie selbst – und nicht etwa der Leib. Das mag v. a. deshalb überraschen, weil doch das Skizzieren eher aus einem Zug der Hand erwächst, der sich gegen das Detail wendet und für die größere Linie interessiert, der sich gegen die Kritik und für die Affirmation (und sei sie noch so provisorisch) im Sinne einer rudimentären Anschaulichkeit entscheidet. Obgleich sie in unterschiedlichen Wahrnehmungsmedien ansässig sind, gehören das Skizzieren und das Problematisieren als Praktiken zusammen, gerade weil sie mit unterschiedlichem Zeitbezug – mittels Zeitüberlistung und Zeitzerdehnung – eine taktische Einheit bilden. Sie sind beide Praktiken des raschen und skrupellosen Hinwerfens, des bewussten Lostretens von etwas,

skizzieren  Perspektiven

Das Skizzieren eines Problems sekundiert dabei dem ‚stil- und haltlosen‘, dem tastenden Sehen des Forschers, der noch kein Gesetz und kein Modell für sein auf gerichtetes Beobachten geeichtes Interesse gefunden hat. Mit Fleck formuliert, aktiviert das tastende Sehen, das dem Skizzieren eines Problems analog ist, zur Suche nach einem Widerstand, nach einem „Denkzwang, dem gegenüber er [der Forscher] sich passiv fühlen könnte.“21 Das Skizzieren ist so verstanden das aktive Ausschauhalten nach einem Punkt des Widerstandes, nach etwas, in dem sich das Denken ‚verfangen‘ kann, um stringent, folgerichtig und notwendig zu werden. Die Tätigkeit des Skizzierens selbst operiert mit und changiert zwischen Anschauung und Intellektion und nimmt doch die eine so wenig ernst wie die andere. Wie ein Diagramm aus Staub, das sich im Atelier eines Künstlers sammelt, der eines Tages mitten hineingreift und damit seine Leinwand einreibt, spannt das Skizzieren als problemeröffnende Tätigkeit einen Denkraum auf, der ohne dieses gar nicht existierte. Seine prekäre Existenz verlässt, überwindet den Prüfstand nie. Die Skizze ist deshalb häufig für den eigenen Gebrauch und zur späteren Vernichtung bestimmt. Sie ist das, was sich selbst im Erfolgsfall überflüssig macht.

S

21 Ebd.

531

skizzieren  Forschung 532

dessen genaues Ziel und Zweck man (noch) nicht kennt. Beide gehören in das Register des Anfangs und damit zu den Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, warum und wie man überhaupt etwas zu tun beginnt, dessen Sinn fragwürdig, dessen Ergebnis zweifelhaft, dessen Nutzen unbestimmt, vielleicht sogar kaum wahrscheinlich ist. Es ist das Rechnen mit dem Scheitern, dem Abbruch oder dem Versanden der Unternehmung, welche das Wagnis des Skizzierens und Problematisierens ausmacht. Um das Risiko zu minimieren, wird der Aufwand bewusst klein gehalten, jede Rhetorik der Bedeutung vermieden. Beide Tätigkeiten sind ‚billig‘ und wie beiläufig zu haben, sie verschlingen keine Ressourcen, ja, sie kosten nicht einmal viel Zeit. Wer etwas skizziert, tut dies flüchtig, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, benutzt zumeist die eigene Hand, einen Stift, einen Stock, einen Kohlestummel oder führt einfach nur den Zeigefinger durch losen Sand. Wer etwas prob­ lematisiert, stellt Fragen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, gerade da, wo niemand sonst eine Frage hatte. Das Beiläufige des Anfangs ist Programm. Nietzsche würde es als Indiz für die Niedrigkeit allen Anfangens nehmen. Skizzieren und Problematisieren sind tentative, d. h. versuchsoffene, Tätigkeiten, die mit der Umzingelung eines – vielleicht leeren, vielleicht übervollen – Zentrums zu tun haben, dessen Lösungspotenzial überhaupt erst im Prozess augenfällig wird. FORSCHUNG   Die Affinität der scheinbar arglos hingeworfenen Skizze –

von der unklar ist, ob sie etwas Reales beschreibt oder etwas bloß Mögliches umreißt – zur theoretischen Beschäftigung des Problematisierens liegt dabei auf der Hand, wenngleich sie bislang nur lose behauptet, selbst nur skizziert wurde. Doch reicht es schon – um eine Forschungsperspektive aufzutun –, die Etymologie zu bemühen, um zu beweisen, dass – wer immer von sich behauptet, er werfe bloß, völlig ungeschützt, eine Idee oder einen krakeligen Entwurf in den Raum – damit en passant ein Problem aufgeworfen wird und das ganz bewusst? Stimmt es denn, dass das italienische Spritzen/Spratzen/Skizzieren einer der möglichen Übersetzungen der berühmten, griech. ‚problemata‘ ist, wo auch ganz wörtlich, mit etwas um sich geworfen wird? Das Skizzieren und das Problematisieren sind – nicht nur qua Gebrauch, sondern auch qua innerer Verfasstheit – miteinander verwandt. Warum? Weil die theoretische Beschäftigung, mit Jean Clam gefasst, genau

So ähnlich muss es Leibniz mit seinem Strumpfband gegangen sein. Man sieht in der Marginalie seines Traktats zwei Schlaufen nach oben, eine nach unten gerichtet, klar und deutlich – und genau dieses Detail erklärt sich mit Blick auf die nebenstehende Theorie von der undeutlichen Erkenntnis nicht. Es sei denn, man emanzipiert die Zeichnung vom Text und zieht in der Vorstellung an einer der prominenten Schlaufen – und löst das ganze Gebilde mit sanftem Zug wieder auf – just an jenem Band, das vorgab, die Theorie zu erhellen und zugleich den Strumpf zu halten, um im selben Zug die Ehre des Denkers zu retten, der sich die Blöße einer Skizze erlaubt, die blitzartig die Vorstellung einer unbedeckten Wade erzwingt. LITERATUREMPFEHLUNGEN Alberti, Leon Battista: De Statura – De Pictura – Elementa Picturae (Das Standbild. Die

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diejenige Denktätigkeit [ist], die darauf verzichtet, etwas Brauchbares aus sich selbst zu machen. Das ist die Grundlage. ‚Problemata‘ heißt ‚Wirf mal etwas vor (dich hin)‘! So entsteht Theorie bei den Griechen: Sokrates sitzt herum und fragt, was hältst du von…? Was heißt Gleichsein? Und dann antworten die Gesprächspartner dies und jenes. Doch Sokrates begnügt sich nie mit der Antwort. […] Er führt den ‚Denkstrahl‘ vor seine Engpässe. Das Denken fließt dann nicht weiter, es wird aporetisch. Das ist dann der Keim einer Theorie, welche eine neue Intellektion provoziert. Man probiert ständig verschiedene Wege aus, und wenn es dann endlich klappt und alle zufrieden sind, steht einer auf, schüttelt den Kopf und sagt, nein, da ist noch eine Aporie.22

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löschen |429|, zeichnen |666|

22 Clam in: Fröhliche Wissenschaft. In: Küpper et al. (Hrsg.): The Beauty of Theory, S. 249.

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SPEICHERN CHRISTOPH NEUBERT

Abe, die beiden Protagonisten des Films PRIMER1, unverhofft eine Zeitmaschine, die sie in paradoxe und zunehmend undurchschaubare Abenteuer verwickelt. Das intrikate Gedankenexperiment des Films hat zahlreiche Fans zu erheb­ lichen intellektuellen Investitionen veranlasst.2 Im gegebenen Zusammenhang soll das Interesse allerdings nicht primär der traditionsreichen Thematik der Zeitreise und den damit verbundenen Paradoxien gelten, sondern einem eher unscheinbaren Detail, dem Umstand nämlich, dass sich das Imaginarium der Zeitreise mit einer recht profanen Architektur verbindet: Der garagenartige Ort, an dem Aaron und Abe ihre Maschine entwickeln, ist das Abteil eines Self-Storage-Komplexes.3 Self-Storage, zu Deutsch „Selbsteinlagerung“4, bezeichnet eine Dienstleistung, deren Ursprung in den USA liegt: In eigens dafür eingerichteten Gebäuden, meist an der urbanen Peripherie gelegen, können Kunden Lagerräume bzw. -abteile zur Unterbringung von Dingen anmieten, die zu Hause keinen Platz finden. Der Boom der Branche in den USA seit den 1960er Jahren ist neben dem steigenden Konsum und der zunehmenden Mobilität der Bevölkerung auf die Verkleinerung der Dachkonstruktionen amerikanischer Wohnhäuser zurückzuführen. Seitdem die Häuser ihre Speicher und die Menschen ihre Häuser verlieren, werden die immobilen Habseligkeiten zunehmend zum Problem. Das Gehäuse, das Entwicklungs- und Aufbewahrungsort der Zeitmaschine in PRIMER ist, repräsentiert seinerseits eine Speicherarchitektur, deren Materialität, Funktion und historische Situierung auf Veränderungen

speichern  Ankedote

ANKEDOTE  Mithilfe eines Zufalls erfinden die Elektronikbastler Aaron und

S

1 Primer. 2004. MyStorm. 2 Vgl. z.  B. Chaunton: Primer.

Unter: http://www.sparknotes.com/mindhut/2013/06/20/ primer-understanding-the-most-complicated-sci-fi-movie-ever-made [aufgerufen am 25.01.2014]. 3 Vgl. Allen: Filming Locations for the Movie Primer. Unter: http://www.markallencam. com/?p=175 [aufgerufen am 25.01.2014]. 4 Vgl. Homepage des Verbands deutscher Selfstorage Unternehmen e.V. Unter: http://www. selfstorage-verband.de [aufgerufen am 25.01.2014].

535

in den Ökonomien von Raum und Zeit aufmerksam macht und dazu einlädt, den medialen Logiken solcher Veränderungen nachzuspüren.

speichern  Etymologie

ETYMOLOGIE  Das deutsche Verb speichern ist erstmals 1775 belegt. Die Ver-

bindungen einspeichern und aufspeichern in der Bedeutung von ‚aufbewahren, bevorraten‘ sind vereinzelt ab der Mitte des 18. Jhs. nachweisbar. Das Verb wird aber erst spät, gegen Ende des 19. Jhs., als Ableitung vom wesentlich älteren Nomen ‚Speicher‘ gebräuchlich, das zunächst im weitesten Sinn einen ‚Aufbewahrungsort für Getreide‘ bezeichnet und auf ahdt. spīhhāri (9. Jh.), asächs. spīkari und mhdt. spīcher zurückgeht. Wie mnl. spīker und nl. spijker handelt es sich um eine german. Entlehnung aus dem Spätlat.: Das spīcārium, das um 500 in der Lex Salica als Bezeichnung eines festen Vorratshaus (im Unterschied zum magalum als provisorischen Schuppen) belegt ist, wird zu lat. spīca, ‚Ähre‘ (eigentlich ‚Spitze‘, figürlich für die Blütenstandsform des Getreides, vgl. frz. épi, engl. spike) gebildet, analog zu anderen Bezeichnungen für Vorratsräume wie lat. cellārium (‚Keller‘), solārium (‚Söller‘) oder grānārium (‚Kornspeicher‘, lat. grānum, ‚Korn‘).5 Semantisch erfährt das Wort im Wesentlichen zwei Erweiterungen: Werden unter Speicher zunächst selbständige Architekturen (‚Kornhaus‘, ‚Schütthaus‘, ‚Speicherhaus‘) oder je nach Sprachregion auch Wohngebäude oder Gebäude im Allgemeinen verstanden, steht das Wort später daneben für spezielle, meist obere Gebäudeteile (‚Dachboden‘, ‚Getreideboden‘ oder ‚Schüttboden‘).6 Und bezüglich des bevorrateten Inhalts treten zum Getreide weitere Nahrungsmittel, ferner Waffen und Munition, Kleidung, Ausrüstungs- und Haushaltsgegenstände, schließlich v. a. Handelswaren hinzu. Im ökonomischen Kontext verweist die Tätigkeit des Speicherns einerseits auf lose Ensembles wie ‚Packen‘, ‚Haufen‘ und ‚Warenhaufen‘, andererseits auf feste Architekturen wie ‚Packhaus‘, ‚Magazin‘, ‚Depot‘, ‚Warenlager‘ oder ‚Repositorium‘.7 Das dem dt. speichern korrespondierende engl. Verb store (me. stor) ist bereits seit dem 13. Jh. belegt, im Sinne von ‚aufbewahren, sammeln, bereithalten für 5 Vgl. (Art.) Speicher; speichern. In: Grimm, Sp. 2070–2073; (Art.) Speicher; speichern. In:

Pfeifer (DWDS online). Unter: http://www.dwds.de [aufgerufen am 03.03.2014].

6 Vgl. (Art.) Speicher. In: Grimm, Sp. 2071. 7 Vgl. (Art.) Speicher. In: Adelung, Sp. 178f.; (Art.) Speicher. In: Krünitz, S. 79f.

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KONTEXTE  Technologien und Praxen des Speicherns kommen in materiellen und symbolischen Kontexten zum Einsatz; gespeichert werden seit jeher Dinge, die vorzugsweise als Energieträger oder als Bedeutungsträger dienen. Wie ein Blick auf die Etymologie nahelegt, sind dabei zunächst die vitalen

speichern  Kontexte

zukünftigen Gebrauch‘ wird es seit dem 17. Jh. verwendet.8 Auch hier bestehen neben der Semantik der Bevorratung enge Bezüge zur Architektur, wie die Herkunft aus lat. (in)staurare (‚aufrichten, bauen, instandsetzen‘, vgl. altfrz. estorer, ‚bauen, ausrüsten, erneuern‘) nahelegt und wie sie sich etwa im korrespondierenden Nomen stor(e)y für ‚Stockwerk, Geschoss‘ erhalten haben.9 Entsprechend steht das engl. Nomen store einerseits für ‚Vorrat, Überfluss, Reserve‘, andererseits für materiale Einrichtungen wie ‚Magazin‘, ‚Lagerhaus‘ und ‚Warenhaus‘, ferner – v. a. im amerikanischen Engl. – für ‚Geschäft‘ oder ‚Laden‘. Auf den Bereich der Datenverarbeitung wird es erstmals 1837 von Charles Babbage angewandt.10 Das engl. Wort storage bezeichnet seit dem 17. Jh. den Ort wie auch die Tätigkeit des Speicherns von Gütern. Unter Vorrat werden ab dem 17. Jh. dem heutigen Gebrauch entsprechend Nahrungsmittel, Güter oder Geld verstanden, bis dahin wird das Wort noch im engeren, abstrakteren Sinn von ‚Vorbedacht‘, ‚Voraussicht‘, also von zukunftsorientierter Überlegungen gebraucht, die auf eine fürsorgliche Aufbewahrung und Versorgung zielen.11 Analog verhält sich das engl. provision (me. profiseon etc., von lat. prōvīsiō, prōvidēre), das einerseits auf die göttliche Vorsehung verweist, ab dem 14. Jh. für die materiellen Güter verwendet wird, die in menschlicher Voraussicht und Vorsorge für den künftigen Gebrauch vorgehalten werden; ähnlich frz. faire provision de, faire sa provision (ab dem 14. Jh.) und dt. ‚Proviant‘.12

S

8 Vgl. (Art.) store, v. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/viewdictionaryentry/Entry/ 190929 [aufgerufen am 03.03.2014]. 9 Vgl. (Art.) story/storey, n. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/viewdictionaryentry/ Entry/190982 [aufgerufen am 03.03.2014]. 10 Vgl. (Art.) store, n. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/viewdictionaryentry/Entry/ 190928 [aufgerufen am 03.03.2014]. 11 Vgl. (Art.) Rat. In: Grimm, Sp. 157; (Art.) Vorrat. In: Grimm, Sp. 1390–1395. 12 Vgl. (Art.) provision, n. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/viewdictionaryentry/ Entry/153483 [aufgerufen am 03.03.2014].

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speichern  Kontexte

Aspekte der Ernährung und Ausrüstung zentral; Speichern dient der Sicherung des Überlebens. Diese Funktion bindet sich weiterhin in spezifischer Weise an Architekturen; Operationen des Speicherns zielen auf eine räumliche und zeitliche Fixierung. Erste gebaute Getreidespeicher sind bereits in der Zeit vor der Domestizierung von Tieren und Pflanzen und vor der Selbst-Domestizierung des Menschen nachweisbar und haben vermutlich eine wichtige Rolle beim Übergang von der aneignenden Subsistenzform der Wildbeuter zur erzeugenden Wirtschaftsform des sesshaften Menschen gespielt.13 Speichern gehört demnach zu den archaischsten Kulturtechniken. Auch die Fixierung symbolischer Inhalte steht unmittelbar im Dienst der gesellschaftlichen Reproduktion, insofern sie kulturelle Identität und Traditionsbildung ermöglicht. Die Etablierung und Erhaltung eines „kollektiven Gedächtnisses“ (M. Halbwachs) kann sich in oralen Gesellschaften einerseits an Dinge, Monumente oder Landschaftszeichen binden, andererseits an Bilder und an Zeremonien, Riten und Feste, verbunden mit repetitiven mündlichen Formaten wie Mythen und Gesängen.14 Zu den wichtigsten überlieferten Gedächtnistechniken schriftbasierter Gesellschaften zählt die Mnemotechnik der antiken Rhetorik, die abendländische Kulturen des Speicherns über Jahrhunderte maßgeblich geprägt hat. Der ars memoriae kommt die Aufgabe zu, das natürliche Gedächtnis als künstliches bzw. technisches Hilfsmittel (memoria artificiosa) zu ergänzen und zu verstärken. Obwohl sie die Ordnung und Abrufbarkeit von Wissen ohne den Rekurs auf externe Hilfsmittel erlauben soll, muss die rhetorische Memoria-Lehre deshalb als eine Theorie der medialen Logik des Speicherns betrachtet werden. In der römischen Rhetorik (RHETORICA AD HERENNIUM, Cicero, Quintilian)15 avanciert die Anwendung von Mnemotechniken, die der Einprägung der Rede dienen, zur vierten der officiorum oratoris (inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio). Gründungserzählung der rhetorischen

13 Vgl. Kuijt/Finlayson: Evidence for food storage and predomestication granaries 11,000 years

ago in the Jordan valley. In: PNAS, S. 10966–10970.

14 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 48–66, 88–103. 15 Rhetorica ad Herennium, I.2.2f., III.16.28–III.24.40; Cicero: De Inventione: I,7,9; ders.: De

Oratore, 2.LXXXV.350–2.LXXXVIII.360; Quintilian: Instiutio Oratoria, XI.2.1–51; zur griechischen und römischen Tradition vgl. Yates: The Art of Memory, S. 17–62.

538

speichern  Kontexte

memoria ist die Legende vom griechischen Lyriker Simonides von Keos (ca. 557–467 v. Chr.), der nach dem Einsturz einer Festhalle die Todesopfer identifizieren konnte, indem er sich an die Sitzordnung erinnerte. Damit ist jene räumlich-visuelle Organisation des Gedächtnisses entworfen, die in der Rhetorik zu einer systematischen Lehre der Verbindung von Orten (loci) und Bildern (imagines) ausgebaut wird. Zum Memorieren seiner Rede solle sich der orator ein räumliches Arrangement von Orten, etwa die Zimmer eines Hauses vorstellen, in denen imaginäre Bilder deponiert sind, die die Inhalte der Rede repräsentieren. Dabei sollen die Bilder möglichst ausgefallen und performativ wirksam sein (imagines agentes) und entweder Sachvorstellungen (memoria rerum) oder den konkreten Wortlaut (memoria verborum) evozieren. Die Ausführung der Rede stützt sich dann auf das sukzessive Abschreiten der Orte und Einsammeln der Bilder in der Vorstellung des Redners. Die gewählte Anordnung der loci kann sich auf reale wie imaginäre Topologien beziehen, neben dem Haus auch auf öffentliche Bauten, Gewölbe, Säulen, Wege oder ganze Städte.16 Die Idee einer Matrix invarianter Orte, die variabel mit Bildern respektive Inhalten besetzt werden, ermöglicht den Übergang von statischen zu dynamischen, operativen Modellen des Gedächtnisses, vom Paradigma des Behälters oder Magazins zu dem der Schrift. Bereits die RHETORICA AD HERENNIUM vergleicht das System fixer loci und austauschbarer Bilder sowohl mit dem seit Platon diskutierten Medium der Wachstafel als auch mit dem Dispositiv des beschriebenen Blattes, wobei die imagines den Worten entsprechen, die auf dem Tableau der Seite räumlich angeordnet und linear aktualisiert werden.17 Das christliche Mittelalter übernimmt die Tradition der antiken Rhetorik v. a. vermittelt durch die römischen Autoren Cicero und Quintilian. Die ars memorativa unterliegt dabei einem grundlegenden Funktionswandel, der sie zunehmend vom rhetorischen Praxisbezug löst und in einen ethisch-religiösen Diskussionshorizont überführt.18 Insbesondere erfahren die Bilder (imagines,

S

16 Rhetorica ad Herennium III.16.29ff.; Quintilian: Institutio Oratoria, XI.2.21 17 Rhetorica ad Herennium, III.16.30–18.31; zur Wachstafel auch Quintilian: Institutio Orato-

ria, XI,2.21, 32. Zu den zahlreichen, medienhistorisch aufschlussreichen Metaphorisierungen des Gedächtnisses vgl. Weinrich: Metaphora memoriae. In: Ders.: Sprache in Texten, S. 291–294. 18 Vgl. Yates: The Art of Memory, S. 68f.

539

speichern  Kontexte

phantasmata) des Memorialschemas eine starke Didaktisierung und religiösmoralische Aufladung im Blick auf das Seelenheil des christlichen Individuums. Einem in der Hauptsache illiteraten Laienpublikum dienen imagines agentes ganz konkret zur Veranschaulichung der Tugenden, die es einzuüben, und der Laster, die es zu bekämpfen gilt. Den Klerikern dienen sie v. a. als Mittel zur Kontemplation und Meditation. Zugleich wird die antike Lehre von den Gedächtnisorten wesentlich vertieft und verfeinert. Als Schemata werden Kirchen, Klosteranlagen, Burgen, Gärten und Amphitheater, aber auch technische Objekte wie Leitern oder Räder empfohlen; daneben finden sich natürliche Anordnungen, vom Sternenhimmel über Landschaften und Bäume bis hin zu Körperteilen; zentral ist auch die imaginäre, ggf. reich gegliederte Topologie von Hölle, Fegefeuer und Paradies.19 In den künstlichen, natürlichen oder fiktiven Arrangements der topoi bleibt der technische Charakter der memoria artificiosa durchgehend bestimmend, v. a. was den engen Bezug zwischen Speichermedien und Architektur betrifft. Mary Carruthers zufolge wird der Baumeister zur zentralen Figur, die Architektur damit zu einer „master trope“ der mittelalterlichen Memorialehren.20 Die imaginären Gebäudearrangements entwickeln sich zu „machines for making encyclopedic fictions“21, die Verinnerlichung und Beherrschung möglichst komplexer Ortsraster machen den Gedächtnisraum zu einer „machina mentis“22. Neben der praktischen und der ethischen Dimension gewinnt die Gedächtnistechnik damit eine epistemische Funktion, die nicht lediglich die Speicherung sondern auch die Kombinatorik und Prozessierbarkeit von Inhalten jeder Art ermöglicht. An die Stelle linearen Abschreitens der Orte während des Vortrags der Rede, wie sie die antike Lehre vorsieht, tritt dabei eine wahlfreie Zugriffsmöglichkeit, der sequentielle wird durch einen synchronen Speicherzugriff ersetzt.

19 Paradigmatisch bei Dante, dessen GÖTTLICHE KOMÖDIE sich als sequentielle Beschreibung

einer komplexen Speicherarchitektur für Seelen lesen lässt; zur Bedeutung Dantes vgl. Yates: The Art of Memory, S. 103ff. 20 Vgl. Carruthers: The Craft of Thought, S. 16–24; vgl. auch dies.: The Poet as Master Builder. In: New Literary History, S. 881–904. 21 Dies.: The Poet as Master Builder. In: New Literary History, S. 882. 22 Dies.: The Craft of Thouhgt, S. 22–24, 92–94.

540

speichern  Kontexte

Die gesteigerten technischen Möglichkeiten der externen Speicherung und Verbreitung von Schrift und Bild durch den Buchdruck entlasten das individuelle körperliche Gedächtnis in Teilen, führen aber kaum zu einer Entwertung antiker und mittelalterlicher Mnemotechniken, die insbesondere bei humanistischen Autoren wie Erasmus von Rotterdam (ca. 1466–1536) und Melanchthon (1497–1560) in die Kritik geraten.23 De facto ist von einer ebenso komplexen wie produktiven Remediation auszugehen, in deren Verlauf sich die rhetorische memoria weiter von der Gedächtnis- zu einer allgemeinen Wissenstechnik entwickelt. Wichtig ist hier v. a. die Öffnung rhetorischer Lehren für ein Laienpublikum, etwa für städtische Kaufleute und Juristen. Der Theologe und Jurist Thomas Murner (1475–1537) entwickelt zu Beginn des 16. Jhs. didaktische Kartenspiele, Chartiludia, die auf einer ausgefeilten Kombinatorik von Bildern und Zahlen beruhen und dazu dienen, logische und juristische Lernstoffe zu memorieren.24 In Gestalt der Karte löst sich die Mnemotechnik hier von der Buchseite, was zu einer beträchtlichen Flexibilisierung und Effizienzsteigerung des Lernens führt.25 Neben solchen säkularisierten Praxen gibt es einen zweiten Strang der Übersetzung von Mnemotechniken in materiale Arrangements, nämlich die sogenannten „Gedächtnistheater“. Das Theatro della memoria von Giulio Camillo (1480–1544) ist eine dem Vitruvischen Theater nachempfundene Konstruktion, die das gesamte Weltwissen versammeln und einer szenischen Aneignung zugänglich machen soll.26 Der Betrachter nimmt seine Position auf der Bühne ein, während die memorabilia in hölzernen Kästen mit symbolischen Aufschriften im Zuschauerraum arrangiert sind, der in ein detailliert festgelegtes räumliches Raster von Rängen und Sektoren aufgeteilt ist. Diese Matrix steht im Dienst einer performativen Erinnerung, deren Theorie Bestandteile der neuplatonischen Seelenlehre mit hermetischen und kabbalistischen

S

23 Vgl. Marchetti: Mnemotechnik, Schrift, Buchdruckerkunst. In: Berns/Neuber (Hrsg.): See-

lenmaschinen, S. 679–697.

24 Vgl. Murner: Logica memorativa; dazu Hoffmann: Die mnemonischen Kartenspiele Thomas

Murners. In: Berns/Neuber (Hrsg.): Seelenmaschinen, S. 585–604.

25 Vgl. ebd., S. 597. 26 Vgl. Camillo: L‘Idea del Theatro; in welcher Form Camillo seine Pläne tatsächlich baulich

realisiert hat, ist unklar.

541

speichern  Konjunkturen

Traditionen verbindet.27 Camillos hölzernes Theater ist eine Speicher- und Wissensarchitektur, in der materiale Anordnung, symbolische Adressierbarkeit und kosmologische Ordnung zusammenfallen. Ähnliche Systeme werden von Giordano Bruno (1548–1600) und dem englischen Mediziner und Philosophen Robert Fludd (1574–1637) entwickelt. Unter dem Aspekt der performativen Inszenierung von Wissen erlebt die Idee des Gedächtnistheaters eine Renaissance in aktuellen digitalen Projekten oder Computerspielen.28 Weitere Formen, in denen sich Praxen des Sammelns und Speicherns mit architektonischen Wissensordnungen verbinden, sind das Studiolo der Renaissance sowie die frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern:29 Dabei handelt es sich um Sammlungen mit enzyklopädischem Anspruch, die dem Betrachter universales Wissen anhand teils exemplarischer, teils ausgefallener oder kostbarer Gegenstände präsentieren und dabei ähnlich wie das Gedächtnistheater auf die räumliche Anordnung der Exponate setzen, die in verschiedene Klassen – naturalia, artificialia, antiquites, scientifica, instrumenta, exotica, mirabilia u. a. – eingeteilt sind. Das Durchschreiten der jeweiligen loci der Sammlung ist ein didaktisches Unterfangen und zugleich Gedächtnisakt, bei dem die rhetorische memoria rerum in den Dingen gewissermaßen exemplarisch konkretisiert ist.30 KONJUNKTUREN   Wie die Vielzahl und Komplexität der skizzierten Ver-

wendungskontexte zeigen, übernehmen Verfahren des Speicherns seit dem präkeramischen Neolithikum grundlegende Funktionen innerhalb der kulturellen und materiellen Reproduktion von Gesellschaften. Obwohl sich deshalb von Konjunkturen im eigentlichen Sinn kaum sprechen lässt, verbindet sich mit der Innovation des Buchdrucks mit beweglichen Lettern eine wichtige Zäsur im Schnittfeld von Mediengeschichte und Modernisierungstheorien. 27 Vermittelt maßgeblich durch Marsilio Ficino (1433–1499) und Pico della Mirandola (1463–

1494), vgl. Yates: The Art of Memory, S. 135ff.

28 Vgl. Matussek: Computer als Gedächtnistheater. In: Darsow (Hrsg.): Metamorphosen,

S. 81–100.

29 Vgl. im Einzelnen Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. 30 Zu den Austauschverhältnissen zwischen rhetorischer ars memoriae und Sammeln im 16.

und 17. Jh. vgl. Bolzoni: Das Sammeln und die ars memoriae. In: Grote (Hrsg.): Macrocosmos in microcosmos, S. 129–168.

542

speichern  Konjunkturen

Mit der Verbreitung des Buckdrucks steigt die Anzahl der in Bibliotheken vorgehaltenen Schriften gegenüber den mittelalterlichen Beständen erheblich an. Spätestens um die Mitte des 16. Jhs. wird diese Entwicklung als ‚Bücherflut‘ wahrgenommen, die Probleme der Verwaltung und der inhaltlichen Orientierung aufwirft, welche durch traditionelle Inventarlisten nicht mehr zu bewältigen sind. Das Medium, das die Funktionen der Katalogisierung und der systematischen inhaltlichen Erschließung des Schrifttums auf neuartige Weise zusammenführt, ist die Bibliografie, als deren Vater der Schweizer Mediziner, Naturforscher und Philologe Konrad Gessner (1516–1565) gilt.31 Im Kontext der Entstehung seiner BIBLIOTHECA UNIVERSALIS (1545/1548) entwirft Gessner innovative Methoden der Registrierung und Indizierung. Er stützt sich auf Exzerpte, die auf losen Blättern verfertigt und anschließend mit der Schere zerschnitten werden, um die entstehenden Zettel nach belieben an- und umordnen zu können und die resultierenden Arrangements in eigens hierzu entworfenen Apparaturen temporär zu fixieren. Diese Zetteltechnik dient nicht nur der Anfertigung von Registern und Schlagwortkatalogen, sie wird auch zur Produktion von Reden und Texten empfohlen. Insofern der Sinn der entstehenden Kommunikate nichts anderes als eine Funktion der räumlichen Anordnung der Zettel ist, richtet sich das Augenmerk der Gelehrten zunehmend auf ihre Medien, d. h. auf die Apparate der Handhabung und die Mobiliare der Aufbewahrung von Zetteln und Exzerpten: Das Spektrum reicht von losen Haufen über Umschläge und Mappen, Bücher mit erweiterbaren Heftvorrichtungen bis zu Kartei- und Exzerpt-Schränken.32 Die Idee der Schachtel mit alphabetisch angeordneten Fächern, die als Vorläufer des eigentlichen Zettelkastens mit aufrecht stehenden Blättern bzw. Karten betrachtet werden kann, wird 1653 bei Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) beschrieben.33 Um 1800 beginnt die Speicher- und Wissenstechnik des Zettelkastens in öffentliche Bibliotheken Einzug zu halten; exemplarisch hierfür ist DER JOSEPHINISCHE KATALOG DER WIENER HOFBIBLIOTHEK, der zunächst als

S

31 Vgl. zum Folgenden Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 16–31. 32 Vgl. dazu auch Zedelmaier: Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkasten. In: Pompe/Scholz

(Hrsg.): Archivprozesse, S. 38–53.

33 Vgl. Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 30.

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speichern  Konjunkturen

Provisorium gedacht ist, dann aber auf Dauer gestellt wird.34 Die in Buchform gehaltene Inventarliste wird durch den Bibliothekskatalog ersetzt, der die Bestände nicht lediglich verzeichnet, sondern systematisch erschließt. Im Unterschied zum Inventarbuch bzw. Bandkatalog ist der Zettelkatalog flexibel erweiterbar; die erfassten Metadaten verbinden die physikalische Adressierbarkeit und die inhaltliche Klassifizierung der Bücher. Der Katalog wird somit zu einer abstrakten und reduzierten Abbildung des Gesamtbestandes einer Bibliothek, den er in einer überschaubaren und handhabbaren Form verkörpert. Damit wird zugleich die physische Aufstellung der Bücher prinzipiell von sachlichen Gesichtspunkten entlastet und die Erweiterung des Bestands erleichtert. Ein weiterer Schritt dieser Entwicklung ist die Standardisierung von Zetteln und Kästen, die im 19. Jh. erfolgt.35 Aus der Sicht des Benutzers präsentiert sich die Bibliothek in der Folge nicht mehr als statischer Gedächtnisraum mit fixierter, inhaltlich motivierter Stellordnung, sondern als Katalog mit flexiblem, beweglichem Ordnungssystem. Das Abschreiten der Regale, in seiner räumlich Logik noch den antiken topoi verpflichtet, weicht der Handhabung des Katalogs als Suchmaschine.36 Ende des 19. Jhs. kommt es zur Übertragung dieser Wissenstechnik von der Bibliothek in das Büro und die Verwaltung, wo der Zettelkasten seinen Siegeszug als Karteisystem antritt, vornehmlich im amerikanischen Raum und zunächst in Banken, dann in Versicherungsgesellschaften, Eisenbahnunternehmen und Regierungsabteilungen, später bei der Polizei und in statistischen Büros.37 Parallel formieren sich neue Techniken und Standards der Aktenführung durch die Einführung von Stehsammlern, Vertical Filing Cabinets und Hängeregistraturen.38 Die Rationalisierung der Informationsverarbeitung in Büro und Verwaltung erstreckt sich von unscheinbaren Techniken wie Ordnern und Ablagesystemen über Details

34 Vgl. ebd., S. 51ff. 35 Vgl. ebd., S. 92ff. 36 Grundlegend zu Geschichte und Theorie der Bibliothek, nicht zuletzt als Suchmaschine, vgl.

Wegmann: Bücherlabyrinthe. 37 Vgl. Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 111ff. 38 Vgl. ebd., S. 117; ferner Vismann: Akten, S. 267–299.

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speichern  Konjunkturen

der Arbeitsplätze und Büroeinrichtung bis in die Architektur von Verwaltungsgebäuden.39 Bürotechnologien wie Karteikästen, Akten- und Registratursysteme bilden auch die Voraussetzung einer fortschreitenden Maschinisierung der verwaltungsmäßigen Speicherung, Verarbeitung und Übertragung von Information in Gestalt mechanischer Schreib-, Rechenund auf Lochkarten operierender Sortiermaschinen, etwa aus dem Hause der 1896 von Herman Hollerith gegründeten Tabulating Machine Company (später Teil von IBM), die Vorläufer der programmierbaren elektronischen Computer sind.40 Dass ein wesentlicher Strang innerhalb der Genealogie der digitalen Datenverarbeitung von der Bibliothek über das Büro zum Computer führt, lässt sich nicht nur an den Firmen- und Fusionsgeschichten amerikanischer Unternehmen wie Remington, Burroughs, NCR, IBM und Unisys ablesen,41 sondern ebenfalls an den Schreibtisch-Metaphern, die den Umgang mit Elektronenrechnern in der Ära des Personal Computing bis heute prägen: Desktop und Volume, Directory und Ordner, File und Dokument, die Mailbox und nicht zuletzt der Papierkorb bleiben verlässliche Elemente des digitalen (Büro-)Alltags. Zugleich entfernen sich die Praktiken des Speicherns zunehmend von der physischen Beschaffenheit der Daten und der zu ihrer Aufbewahrung eingesetzten Hardware.42 Die Logik der Suchmaschine, die in Gestalt des Bibliothekskatalogs zwischen den Benutzer und den Buchbestand tritt, wird für digitale Datenbanken konstitutiv. Bestimmend ist nicht die physische, sondern die logische Architektur; Praktiken des Speicherns und Abrufens spielen sich nicht am Material, sondern an Benutzerschnittstellen ab. Paradigmatisch für diese Rationalität elektronischer Gedächtnisse ist das klassische Datenbankmodell, das mehrere Abstraktionsschichten zwischen der physischen Organisation der Daten auf materiellen Speichermedien und den

S

39 Vgl. Vismann: Akten, S. 296; zu den damit verbundenen epochalen Entwicklungen vgl. fer-

ner Beniger: The Control Revolution; Chandler Jr.: The Visible Hand.; Yates: Control through Communication. 40 Vgl. zu diesen Zusammenhängen Chandler Jr./Cortada (Hrsg.): A Nation Transformed by Information. 41 Vgl. Cortada: Before the computer; Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 121–124. 42 Zu den technischen Hintergründen vgl. Tanenbaum: Modern Operating Systems, S. 253–325.

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speichern  Konjunkturen

Zugriffsmöglichkeiten für Benutzer und Programme vorsieht.43 Die Vermittlung zwischen diesen Ebenen ist Aufgabe des Datenbankmanagementsystems, das auch die Benutzeranfragen interpretiert und somit im Unterschied zur Datenbasis das eigentliche Kernstück der Datenbank repräsentiert. Während sich moderne Systeme in vielerlei Hinsicht von diesem Referenzmodell unterscheiden, bleibt die Logik der operativen Schließung des Gedächtnisses gegenüber den Nutzern bestehen. Das klassische Dispositiv dieser Einheit von Aufbewahrung und Schließung ist das Archiv, das im Gegensatz zu Bibliothek und Museum einen nicht-öffentlichen Speicher bezeichnet und damit stärker auf die Macht- und Herrschaftsfunktion des Gedächtnisses als Instrument von Ein- und Ausschlüssen verweist.44 Bei den bisher betrachteten Verwendungskontexten von der Mnemotechnik über die Schrift bis zur elektronischen Datenverarbeitung handelt es sich im Wesentlichen um digitale Technologien, die mit räumlich-zeitlich diskreten Elementen arbeiten. Eine epochale Bedeutung kommt insofern jenen Medien zu, die aus dieser Logik herausfallen: einerseits die für lange Zeit speicher- und damit zu Teilen archivlosen elektrischen Übertragungs- bzw. Massenmedien Rundfunk und Fernsehen des 20. Jhs.45 sowie andererseits die technischen Analogmedien zur Aufzeichnung von Bildern und Geräuschen, deren Konjunktur um 1900 zu verzeichnen ist. Das Faszinosum von Fotografie, Grammophon und Film besteht darin, dass der Vorgang der Speicherung physikalischen (chemischen und/oder mechanischen) Prozessen überantwortet wird. Zwischen Gegenstand und medialem Artefakt besteht somit eine direkte Kausalität, die dem Paradigma der Spur oder, semiotisch betrachtet, der Logik des indexikalischen Zeichens folgt.46 Unter dem Gesichtspunkt

43 Vgl. dazu Date: An Introduction to Database Systems; ANSI/X3/SPARC Study Group on

Data Base Management Systems.

44 Zur Theorie des Archivs vgl. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 183–190; Derrida: Dem

Archiv verschrieben; als Sammlung kanonischer Texte Ebeling/Günzel (Hrsg.): Archivologie.

45 Zur Schwierigkeit der Historisierung, die sich aus der ursprünglichen Archivlosigkeit der

Rundfunkmedien ergibt, vgl. etwa Keilbach: Die vielen Geschichten des Fernsehens. In: montage/AV, S. 29–41. 46 Vgl. Ruchatz: The Photograph as Externalization and Trace. In: Erll/Nünning (Hrsg.): Cultural Memory Sudies, S. 367–378; Krämer/Kogge/Grube (Hrsg.): Spur; Winkler: Spuren, Bahnen. In: Neubert/Schabacher (Hrsg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft, S. 49–72.

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GEGENBEGRIFFE  Ebenso komplex wie der Begriff des Speicherns sind die

jeweiligen Gegenbegriffe. Technisch steht der Operation des Speicherns der Vorgang des Löschens gegenüber, wobei das Verhältnis von speichern und löschen im Rahmen der elektronischen Informationsverarbeitung – anders als etwa in mittelalterlichen Manuskriptkulturen – allein durch die Aufnahmekapazität des Speichers bedingt und daher nicht an sich selektiv ist: Bei hinreichender Speicherkapazität brauchen Daten ohne Verwendung nicht gelöscht, sondern können in einem – ggf. hierarchisch abgestuften – Zustand der Latenz gehalten und bei Bedarf reaktualisiert werden.

speichern  Gegenbegriffe

einer Selbst-Aufzeichnung des Realen unterlaufen Speicherapparaturen wie Kamera und Grammophon die symbolische Ordnung, womit eine grundsätzliche Provokation anthropozentrischer Medienauffassungen impliziert ist,47 etwa die Idee der Externalisierung oder „Exkarnation“ ( J. Assmann) eines natürlichen Gedächtnisses, das durch Techniken der Schrift oder im Sinn der antiken Rhetorik durch künstliche Mnemotechniken (memoria artificialis) lediglich erweitert bzw. verstärkt werden soll. Technische Analogmedien ersetzen die natürlichen Fähigkeiten der memoria rerum und verborum und eröffnen die Möglichkeit einer Speicherung von Bildern und Stimmen ohne die Intervention eines Bewusstseins. Es eröffnet sich der Gedächtnisraum eines technisch Unbewussten, dessen Operationen sich prinzipiell in Abwesenheit des Menschen vollziehen (Lacan) und das somit zu ambivalenten Deutungen Anlass gibt.48 Spätestens die Remediation optischer und akustischer Formate durch den Computer – die Rückführung von Bild und Ton in die digitale symbolische Ordnung qua Sampling49 sowie die Verfahren der digitalen Bearbeitung oder Produktion – führt gegen Ende des 20. Jhs. wieder zu einer grundsätz­lichen Relativierung der Idee einer direkten Referentialität oder wissenschaftlichen Objektivität, wie sie mit den Analogmedien historisch verbunden war.

S

47 Vgl. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter; ders: Optische Medien, S. 155ff. 48 Vgl. mit Bezug auf die Fotografie etwa Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In:

Ders.: Medienästhetische Schriften, S. 300–324.

49 Vgl. Kittler: Real Time Analysis, Time Axis Manipulation. In: Ders.: Draculas Vermächtnis,

S. 182–207.

547

speichern  Gegenbegriffe

Im ökonomischen Bereich sehen sich die Speichertechniken des Lagerns von Rohstoffen, Produktions- und Fertigteilen spätestens seit Beginn des 20. Jhs. zunehmend mit dem Ideal der Zirkulation konfrontiert.50 Ziel der modernen Betriebslogistik ist es, Lager abzubauen und die Wertschöpfungskette als kontinuierlichen Material- und Informationsfluss zu gestalten. Modellbildend ist hier das Toyota-Produktionssystem, das auf eine komplette Mobilisierung der Fertigung zielt: Alle Teile haben in Bewegung und zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein ( Just-in-Time-Prinzip).51 Im Kontext von Gedächtnistheorien ist der Gegenbegriff zum Speichern der des Vergessens.52 Auch hier handelt es sich keineswegs um einen naturwüchsigen Vorgang. Das Vergessen vollzieht sich nicht automatisch oder selbstverständlich, sondern verdankt sich, wie das Speichern, spezieller Techniken: Bereits die antike Rhetorik kontrastiert die ars memoriae mit einer ars oblivionis, deren Protagonisten, Simonides und Themistokles, noch innerhalb der Urszene der Mnemotechnik miteinander konfrontiert werden.53 Die konstitutive, lebenserhaltende Funktion des Vergessens ist ihrerseits topisch und wird an den unterschiedlichsten Stellen aufgegriffen, etwa bei Friedrich Nietzsche54 oder in der kybernetisch inspirierten Systemtheorie.55 In mittelalter­lichen Konzeptionen ist der Feind der memoria nicht das Vergessen, sondern die „curiositas“, also das ziellose, unkontrollierte Umherschweifen der Gedanken, ein Zerstreuen, das die Ordnung des Gedächtnisses in Gestalt der gebotenen Konzentration und Sammlung stört.56 Weitere kulturtheoretisch einflussreiche Gegenbegriffe innerhalb des Gedächtniskontexts beziehen sich auf eine Polarität, die als Unterscheidung von Gedächtnis und Geschichte, von Erinnerung und Gedächtnis oder von

50 Vgl. Schabacher: Raum-Zeit-Regime. In: Archiv für Mediengeschichte, S. 135–148; Dom-

mann: Handling, Flowcharts, Logistik. In: Nach Feierabend, S. 75–103; dies.: Wertspeicher. In: ZMK, S. 35–50. 51 Vgl. Neubert: The End of the Line. In: Bublitz et al. (Hrsg.): ‚Unsichtbare Hände.‘, S. 191–214. 52 Aus diskursgeschichtlicher Perspektive dazu grundlegend Kittler: Vergessen. In: Nassen (Hrsg.): Texthermeneutik, S. 195–221. 53 Cicero: De Oratore, II.LXXIV.299, II.LXXXVI.351. 54 Vgl. Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, S. 243–334. 55 Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 75–77, 174f., 179–182. 56 Vgl. Carruthers: The Craft of Thought, S. 82ff.

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PERSPEKTIVEN   Neben der Übertragung (als Überbrückung des Raums) repräsentiert das Speichern (als Überbrückung der Zeit) die zweite bzw., nimmt man die Verarbeitung von Information hinzu, die dritte der basalen Medienfunktionen.61 In dieser Allgemeinheit verbindet sich mit dem Problem des Speicherns zweifellos eine der produktivsten medienwissenschaftlichen Fragestellungen; wie gezeigt wurde, eröffnen sich hier zugleich aber historisch wie systematisch extrem weite und heterogene Forschungsfelder. Konkrete Anwendungsperspektiven können dabei nur am jeweils betrachteten historischen

speichern  Perspektiven

„Funktionsgedächtnis“ und „Speichergedächtnis“ (A. Assmann) auftritt.57 Die erstgenannten Begriffe dieser Serie werden jeweils als lebendig, verkörpert und bewohnt, alltagsnah und informell, der oralen Überlieferung nahestehend und als Vermittler von Sinn, Werten, Handlungsorientierungen sowie individueller und kollektiver Identität beschrieben; der Gegenpol repräsentiert dagegen das tote, unverkörperte und unbewohnte, neutrale, anonyme, wert- und sinnfreie Gedächtnis, die schiere Ansammlung schriftlich archivierten Wissens.58 Diese Oppositionen grundieren eine weitere Unterscheidung, die von besonderer medienwissenschaftlicher Tragweite ist, nämlich die Unterscheidung zwischen Speicher und Gedächtnis bzw. Erinnerung selbst,59 wie sie etwa im Kontext einer Archäologie der Medien nahegelegt wird.60 Dabei bleibt es problematisch, das Archiv gegen das Gedächtnis auszuspielen, denn auf der Ebene der Begrifflichkeiten und des historischen Wissens lässt sich ein konstitutives Verhältnis der wechselseitigen Metaphorisierungen von ‚technischem Speicher‘ und ‚lebendigem Gedächtnis‘ beobachten.

S 57 Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 130–147; eine weitere, etwas anders gelagerte Unter-

scheidung ist die zwischen ‚kommunikativem‘ und ‚kulturellem Gedächtnis‘, vgl. dazu Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 15–66. 58 Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 130–147. 59 Vgl. dies: Speichern oder erinnern? In: Csáky/Stachel (Hrsg.): Speicher des Gedächtnisses, S. 15–29. 60 Vgl. Ernst: Das Rumoren der Archive; ders.: Das Gesetz des Gedächtnisses. 61 Vgl. zu Raum- und Zeitmedien Innis: The Bias of Communication; sowie zur Triade von Speicherung, Übertragung und Verarbeitung Kittler: Geschichte der Kommunikationsmedien. In: Huber/Müller (Hrsg.): Raum und Verfahren, S. 169–188.

549

speichern  Perspektiven

Gegenstand und innerhalb des gewählten theoretischen und methodischen Rahmens konturiert werden. Die Aktualität der Frage nach den Kulturtechniken des Speicherns ergibt sich derzeit wesentlich aus dem Funktionswandel und den Veränderungen, denen die Gedächtnismedien durch die zunehmende digitale Vernetzung unterliegen; das betrifft neben der theoretischen Konzeptualisierung immer auch die Ökonomie und Politik des Gedächtnisses: die Zentralisierung und Kapitalisierung gespeicherter Daten ebenso wie Fragen des Zugriffs und der Regulierung, des Datenschutzes oder des Eigentums an gespeicherten Inhalten. Dem anfänglich genannten ‚Self-Storage‘ als Subjektivierungstechnik des Arbeitsnomaden entspricht die zunehmende Mobilisierung der Daten und Endgeräte. Unbewegliches Hab und Gut wird aus- bzw. endgelagert, um die Zirkulation der Körper unter kontrollierten Bedingungen zu ermöglichen. Dem entsprechen neue digitale Praktiken (und Geschäftsmodelle): Lokal gespeicherte Inhalte werden zunehmend durch Streams und Abonnements ersetzt, installierte Programme durch Dienste, Nutzungsrechte und Lizenzen, die Datenhaltung auf individuellen Geräten verlagert sich auf netzbasierte Speicher, die unter dem Kollektivsingular der „Cloud“ firmieren. Als fluides und zugleich opakes Gebilde verweist die Cloud auf Begriffe der Atmosphäre und des Äthers, also auf den Begriff des Mediums selbst, das die Gestalt eines Milieus oder Environments angenommen hat. Die Cloud wäre somit eine medienökologische Metapher, die den Speicher in die Umwelt verlegt.62 Nach dem Zwischenspiel des Personal Computers nähert sich die digitale Kultur des beginnenden 21. Jhs. wieder der Mainframe-Terminal-Logik – jetzt als Anschluss multipler mobiler Endgeräte an Serverfarmen – von der sie historisch ausgegangen ist. Aus der Sicht der Nutzer verschiebt sich der Akzent dabei vom Speicher- zum Kommunikations- und Übertragungsmedium: Während das Internet als Informationsgedächtnis immer kurzlebiger und ephemerer wird, scheinen sich die Spuren der Nutzer paradoxerweise immer unauslöschlicher, allerdings ebenfalls unverfügbar, in das Medium einzuschreiben. Es kommt zu einem Auseinandertreten von Daten als Objekten einer gezielten Suchbewegung und den Spuren, welche diese Suchbewegung

62 Zur Ökologie der Medien vgl. Hörl (Hrsg.): Die technologische Bedingung.

550

selbst hinterlässt. Die Metadaten, die das Nutzungsverhalten generiert, werden kapitalisierbar, der Speicher wird zum Objekt einer Wertschöpfung zweiter Ordnung.63

Speicherns ergibt sich eine Reihe von Untersuchungsfeldern und Forschungsperspektiven: Zum einen werden die Verfahren der Suche und Abfrage, die traditionell kleinen Kreisen wissenschaftlicher oder technischer Spezialisten vorbehalten war, mit dem Internet zu wesentlichen Bestandteilen der Alltagskultur. Die Suchmaschine entwickelt sich zu einem wirksamen gesellschaft­ lichen Dispositiv.64 Angesichts der Zentralisierung und Monopolisierung der Suchmöglichkeiten durch Konzerne wie Google und angesichts der Intransparenz der eingesetzten Algorithmen stellt sich die Frage, welche Grade an Partizipation und Ermächtigung bzw. welche Formen der Subjektivierung und Kontrolle sich mit neuen digitalen Technologien der Informationssuche verbinden.65 Eine zweite Forschungsperspektive ergibt sich aus der exponentiell anwachsenden Menge technisch gespeicherter Daten. Unter dem Label „Big Data“66 verbinden sich – historisch geläufige – Diskurse der ‚Datenflut‘ mit einer qualitativen Verschiebung von Wissenstechniken. Der seit dem 19. Jh. andauernde Siegeszug statistischer Wissensformen in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften nimmt mit der Möglichkeit digitaler Speicherung umfangreicher Datenmengen (z. B. in den Bereichen von Wetter und Klima, Genom-Analyse, Epidemiologie und Eugenik, Verkehr, Astronomie) neue Dimensionen an. Dabei treten an die Stelle klassischer, hypothesengeleiteter Forschung zunehmend statistische Verfahren der Strukturerkennung in extrem großen, teilweise unstrukturierten Datenbeständen. Techniken des „Data-Mining“ und der Visualisierung emergenter Muster markieren eine neue Empirie, die

speichern  Forschung

FORSCHUNG  Aus diesen quantitativen und qualitativen Veränderungen des

S

63 Vgl. dazu Pasquinelli: Googles Page Rank. In: Becker/Stalder (Hrsg.): Deep Search, S. 171– 181. 64 Vgl. Böhme/Nohr/Wiemer (Hrsg.): Sortieren, Sammeln, Suchen, Spielen. 65 Vgl. Rieder: Demokratisierung der Suche? In: Becker/Stalder (Hrsg.): Deep Search, S. 150– 170. 66 Vgl. Mayer-Schönberger/Cukier: Big Data.

551

speichern  Literaturempfehlungen

als das Signum eines „posttheoretischen Zeitalters“ zum Gegenstand einer kritischen Reflexion wird.67 Ein drittes Untersuchungsfeld ergibt sich aus der Übertragung dieser Epistemologie auf die Kultur- und Geisteswissenschaften, wie sie sich derzeit unter dem Titel der „Digital Humanities“ vollzieht.68 Neben der Digitalisierung und computergestützten Erschließung kanonischer Bestände geraten auch hier zunehmend exponentiell anwachsende Datenmengen in den Blick, die sich aus der Nutzung populärer Internetdienste und der Masse des „user generated content“ ergeben. Ob die Rationalität von Suchalgorithmen und das Big-Data-Paradigma auf diesem Gebiet als Chance einer künftigen Kulturanalytik zu befürworten69 oder im Blick auf epistemologische Sackgassen und ideologische Implikationen zu kritisieren sind,70 wird derzeit kontrovers diskutiert. LITERATUREMPFEHLUNGEN Carruthers, Mary: The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images,

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68 Vgl. Berry: Understanding the Digital Humanities. Introduction. In: Ders. (Hrsg.): Under-

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69 Vgl. dazu Manovich: Auf den Spuren der globalen digitalen Kulturen. In: Becker/Stalder

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70 Vgl. Boyd/Crawford: Critical Questions for Big Data. In: Information, Communication &

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STALKEN MONIQUE MIGGELBRINK

stalken   Anekdote

ANEKDOTE  Der Begriff stalken erfuhr mit der Ermordung der 21-jährigen

S

US-amerikanischen Schauspielerin Rebecca Schaeffer im Jahr 1989 erstmals eine breite massenmediale Aufmerksamkeit. Die Presse hob maßgeblich darauf ab, dass Schaeffer im Vorfeld von ihrem Mörder, dem damals 19-jährigen Robert John Bardo, gestalkt worden war. Neben zunehmend bedrohlich werdenden Liebesbriefen stellten insgesamt vier Reisen des Täters zu Dreharbeiten und schließlich dem Wohnort des Opfers Formen der einseitigen Kontaktaufnahme dar. Bardo schickte Schaeffer im Vorfeld wiederholt Liebesschwüre, die von Schaeffers Fan-Service abgefangen wurden. Es drangen auch dann keine Informationen zu Schaeffer persönlich vor, als Bardo mit einem Messer bewaffnet am Set der populären Fernsehserie MY SISTER SAM im Studio des Fensehsenders CBS in Los Angeles auftauchte und von den Sicherheitskräften abgewehrt werden konnte. Insgesamt erstreckte sich das nachstellende Verhalten des obsessiven Fans über einen Zeitraum von drei Jahren. Schaeffer selbst konnte nicht um diese Gefahr wissen, als sie ihrem Mörder am 18. Juli 1989 die Tür ihres Zuhauses im Bundesstaat Kalifornien öffnete. Als im darauffolgenden Jahr vier nicht-prominente Frauen von ihren stalkenden Ex-Partnern bedroht und schließlich getötet wurden, nahm die mediale Berichterstattung erneut zu. Die Vorfälle rund um die Ermordung Schaeffers lassen sich dementsprechend als Initialzündung für die öffentliche Wahrnehmung des Phänomens Stalking verstehen. Aus heutiger Perspektive ist es auffällig, wie wenig sensibilisiert alle am Fall Schaeffer beteiligten Personen für das Thema Stalking waren. Der exemplarische Charakter des Fallbeispiels begründet sich nicht zuletzt darin, dass es zur Grundlage für das weltweit erste Anti-Stalking-Gesetz in Kalifornien gemacht wurde.1 Bald kriminalisierten auch Australien und Kanada nachstellendes Verhalten; in Europa waren neben Großbritannien die Niederlande und Belgien Vorreiter in der StalkingGesetzgebung. In Deutschland trat im Januar 2002 das Gewaltschutzgesetzt 1 Vgl. Sadtler: Stalking, S. 118.

556

(GewSchG) in Kraft, das sich vornehmlich mit Formen häuslicher Gewalt auseinandersetzt. Da das Gesetz die Handlungsweisen des Stalkings jedoch nicht hinreichend erfasst, wurde im Jahr 2007 der § 238 StGB zum Straftatbestand „Nachstellung“ verabschiedet.2

das ursprünglich der Jagdsprache entstammt und übersetzt wird mit | 1  „sich heranpirschen an“. In seiner aktuellen Gebrauchsform bezeichnet eine weitere Dimension des Wortes zudem | 2  „jemandem nachstellen“3. Im Engl. wird die Aktivität auch umschrieben mit | 1  „to pursue or approach stealthily“ und 4 | 2  „to harass or persecute (someone) with unwanted and obsessive attention“ . Etymologisch lässt sich „to stalk“ zurückführen auf das Altengl. „stealcian“; das Verb „to steal“ – übersetzt „stehlen, schleichen“ – stellt dementsprechend eine etymologische Wurzel von „to stalk“ dar.5 Die Gerundium-Form ‚Stalking‘ wurde 2004 in das DUDEN FREMDWÖRTERBUCH aufgenommen;6 die Eintragung des Verbs stalken folgte 2007. Der Aspekt der Prozesshaftigkeit bzw. der Wiederholung ist ein zentrales Kennzeichen des Stalkings: Erst in ihrer Summe werden Einzelhandlungen, die der Nachstellung einer Person dienen, als stalken bezeichnet. Stalking umfasst damit eine Konstellation von Verhaltensweisen, die auf wiederholter, unerwünschter Kommunikation und Annäherung beruhen, die bisweilen obsessive Züge aufweisen kann.7 Dass die im Beispiel angeführten Ereignisse eine pathologische und äußerst gewalttätige Variante des Stalkens darstellen, steht exemplarisch für eine Kernaussage

2 Vgl. Aul: Stalking, S. 173ff. 1 3 (Art.) stalk . In: Pocket Oxford German Dictionary: English German. Unter: http://www.

stalken   Etymologie

ETYMOLOGIE  Der Begriff stalken geht zurück auf das engl. Verb „to stalk“,

S

oxfordreference.com/view/10.1093/acref/9780191735103.001.0001/b-en-de-00003-00163 13?rskey=NAOw78&result=1 [aufgerufen am 26.03.2012]. 2 4 (Art.) stalk verb. In: Stevenson (Hrsg.): Oxford Dictionary of English. Unter: http://www. oxfordreference.com/view/10.1093/acref/9780199571123.001.0001/m_en_gb0807990? rskey=KSqes5&result=2 [aufgerufen am 26.03.2012]. 2 5 Vgl. (Art.) stalk . In: Hoad (Hrsg.): The Concise Oxford Dictionary of English Etymology. Unter: http://www.oxfordreference.com/view/10.1093/acref/9780192830982.001.0001/acref-9780 192830982-e-14562 [aufgerufen am 30.12.2012]. 6 Vgl. Sadtler: Stalking, S. 22. 7 Vgl. Pathé/Mullen: The Impact of Stalkers on Their Victims. In: The British Journal of Psy­ chi­atry, S. 12–17.

557

stalken   Kontexte

empirischer Studien und verweist gleichzeitig auf ein Definitionsproblem: Stalken lässt sich nicht auf ein charakteristisches Verhaltensmuster reduzieren.8 KONTEXTE  Die Forschung zum Thema Stalking nimmt ihre Anfänge in den 1990er Jahren im US-amerikanischen Raum. Zeichnet sich die Stalking-Forschung anfänglich noch dadurch aus, dass sie immer nur verzögert auf ihren Gegenstand reagiert, so expandiert die Literatur zum Thema seit der Jahrtausendwende beständig. Inzwischen hat sich ein internationaler und interdisziplinärer Stalking-Diskurs etabliert. Mit ihm ist eine Vielzahl von StalkingTheorien bzw. Stalker-Typologien9 aufgekommen, die vornehmlich empirischer Provenienz sind. Der Begriff stalken wird dabei, je nach Forschungsperspektive, methodisch-theoretisch anders konturiert und mit unterschiedlichen Verhaltensweisen attribuiert. In psychologischen und forensisch-psychiatrischen Kontexten stehen v. a. das Spektrum zwischen psychotischem und nichtpsychotischem Handeln von Stalkern und damit einhergehende (klinische) Behandlungsmethoden im Vordergrund.10 Juristische und kriminologische Blickwinkel thematisieren hingegen vornehmlich strafrechtliche Dimensionen des Stalkings. Hypothesen zur Prävention bzw. zum Risiko-Management von Stalking finden sich wiederum in allen Forschungsrichtungen, die sich mit dem Thema beschäftigen. Um der wachsenden Stalking-Literatur beizukommen, sind inzwischen diverse Meta-Studien erschienen, die den Versuch unternehmen, die heterogenen Aspekte des Phänomens zu bündeln.11 Allem Anschein der Gegenwartsbezogenheit des Stalkens zum Trotz handelt es sich nicht etwa um eine zeitgenössische Besonderheit. Unter einer Doppelperspektive betrachtet lässt sich die Prozesshaftigkeit des Begriffs und damit seine historische Dimension herausstellen: So bezeichnet stalken einerseits eine althergebrachte Verhaltensweise und andererseits

8 Vgl. etwa Fiedler: Stalking, S. 156. 9 Vgl. etwa Zona et al.: A Comparative Study of Erotomanic and Obsessional Subjects in a

Forensic Sample. In: Journal of Forensic Sciences, S. 894–903; Mullen et al.: Study of Stalkers. In: American Journal of Psychiatry, S. 1244–1249. 10 Vgl. etwa Kienlen et al.: A Comparative Study of Psychotic and Nonpsychotic Stalking. In: American Academic Psychiatry Law, S. 317–334. 11 Vgl. etwa Spitzberg/Cupach: The State of the Art of Stalking: Taking Stock of the Emerging Literature, S. 64–86; Meloy: Editorial Stalking. In: Criminal Behviour and Mental Health, S. 1–7.

558

eine neue Form von Kriminalität.12 Aspekte des Stalkens sind aus heutiger Perspektive bereits in antiken Mythen13 sowie in Shakespeares Sonetten14 evident.

wartsnähe des Phänomens findet sich auf der medialen Ebene. Die Forschungsliteratur führt im Besonderen folgende Gründe für die Expansion des Stalkens an: | 1  Die Mediatisierung des Alltags – bis hin zur Preisgabe persönlicher Informationen im Social Web –, | 2  die Zunahme technischer Möglichkeiten der Nachstellung und Überwachung mithilfe moderner Kommunikationsmittel, und schließlich | 3  die mediale Aufmerksamkeit, die dem Phänomen in Film, Literatur und Presse zuteilwird.15 Ein inzwischen zum Schlüssel avancierter Zugang zum Stalken hebt schließlich darauf ab, dass es sich um eine Konstellation von Verhaltensweisen handelt, die eine andere Person wiederholt ungewollter Kommunikation bis hin zur tatsächlichen Konfrontation aussetzen.16 Der Aspekt der Kommunikation ruft Formen des Mediengebrauchs, die mit Stalking in seiner aktuellen Dimension einhergehen, auf die Agenda. Unter dieser Perspektive erscheint es im Stalking-Diskurs derzeit sinnvoller Handlungen zu beschreiben, die einem stalkenden Täter bzw. einer stalkenden Täterin17 zuzuschreiben sind, als den unzähligen Motiven nachzugehen, denen Stalker folgen. Die Formen der einseitigen Kommunikation bzw. Kontaktaufnahme zum gestalkten Opfer schlagen sich in einer Vielzahl medialer Einzelhandlungen nieder. Die Nachrichten der Distanz-Überbrückung sind hierbei vielfältig: Botschaften an Hauswänden, anonyme oder obszöne Telefonanrufe und Nachrichten auf dem Anrufbeantworter sowie Liebesund Drohbriefe werden in empirischen Studien als prävalente Formen

stalken   Konjunkturen

KONJUNKTUREN  Ein Schlüssel zur Konjunktur und vermeintlichen Gegen-

S

12 Vgl. Meloy: Stalking. In: The Psychiatric Clinics of North America, S. 85–99. 13 Vgl. Dreßing/Gass: Stalking!, S. 12. 14 Vgl. Skoler: The Archetypes and the Psychodynamics of Stalking. In: Meloy (Hrsg.): The

Psychology of Stalking, S. 85–112.

15 Vgl. Sadtler: Stalking, S. 114ff. 16 Vgl. Mullen et al.: Study of Stalkers. In: American Journal of Psychiatry, S. 1244–1249. 17 Zu Gender-Aspekten im Stalking-Diskurs vgl. etwa Spitzberg/Cupach: The State of the Art

of Stalking, S. 70.

559

instrumentalisierten Mediengebrauchs zwecks Nachstellung herausgearbeitet.18 Der Zielperson bleibt somit oft nur eine gegenteilige Mediennutzung im Sinne einer Distanz-Erweiterung: So reichen die Reaktionen eines Stalking-Opfers auf Formen des Telefonterrors von der Meidung des Mediums bis hin zum Wechsel der Telefonnummer.

stalken   Gegenbegriffe

GEGENBEGRIFFE   Im Stalking-Diskurs zirkulieren verschiedene Begriff-

lichkeiten, die zwecks Annäherung bzw. Abgrenzung zum Stalken verwendet werden. So wird stalken in unterschiedlichen Begriffsbestimmungen der einschlägigen Forschungsliteratur auch mit „obsessivem Verfolgen“ gleichgesetzt.19 Abgegrenzt wird Stalking hingegen von Formen der Erotomanie, einem pathologischen Liebeswahn. Hinter den Verhaltensweisen von Stalkern und Erotomanen stehen demnach unterschiedliche Beweggründe: Während der Leitgedanke des Verhaltens von Erotomanen eine Liebesbeziehung mit einer anderen Person ist, sind die Motive von Stalkern breiter gefächert und inkludieren unter Umständen auch Rachegedanken.20 Eine weitere Begrifflichkeit, die zwar zentrale Facetten des Stalkings berührt, aber dennoch nicht damit gleichgesetzt werden kann, findet sich im Mobbing bzw. Bullying. Zwar sind auch Mobbing-Techniken primär als negatives Kommunikationsverhalten einzustufen, dem ein repetitives Moment innewohnt. Der zentrale Unterschied zum Stalken ist jedoch, dass sich mobben auf schulische und berufliche sowie institutionelle Kontexte allgemein konzentriert und es sich dabei weniger um Einzeltäter, sondern mehr um eine Gruppendynamik handelt.21 Bullying beschreibt wiederum diffamierendes Kommunikationsverhalten unter Schülern. Auffällig ist, dass der Zusammenhang von Medien und Gewalt zwar ein viel diskutierter Gegenstand medienwissenschaftlicher Forschung ist, die Beziehung von Stalking und Medientechnologien stellt hierbei bis dato jedoch weitestgehend ein Desiderat dar. Vielmehr konzentriert sich v. a. die

18 Vgl. Hoffmann: Stalking, S. 6. 19 Vgl. Meloy/Gothard: Demographic and Clinical Comparison of Obsessional Followers and

Offenders with Mental Disorders. In: American Journal of Psychiatry, S. 258–263.

20 Vgl. Hoffmann: Stalking, S. 116. 21 Vgl. Sadtler: Stalking, S. 43ff.

560

medienpädagogische Forschungsliteratur mittels empirischer Inhaltsanalysen auf die Dimension „Gewalt in den Medien“.22

FORSCHUNG  Zukünftige Forschungsvorhaben müssen somit die Koexistenz von Offline- und Online-Stalken in den Blick nehmen.26 Neue Formen des Nachstellens finden sich u. a. im wiederholt belästigenden E-Mailen, Chatten und Computer-Monitoring bis hin zum Instant-Messaging per internetfähigen Smartphones.27 Die Bereitstellung persönlicher Informationen in den sozialen Netzwerken des Web 2.0 auf der einen sowie die vermeintliche Anonymität im Internet auf der anderen Seite verschärfen bzw. erleichtern das Stalking. Eine zentrale Aufgabe des Stalking-Diskurses ist es somit, anstatt weiterer

stalken   Forschung

PERSPEKTIVEN  Zwar sind Normalbürger laut empirischen Studien häufiger Opfer des Stalkens als prominente Personen,23 das Phänomen erreichte jedoch erst aufgrund medialer Berichterstattung über Star-Stalking Mitte der 1980er Jahre die Öffentlichkeit, wobei die Ermordung Schaeffers einen Höhepunkt in dieser Entwicklung darstellte.24 In einigen Publikationen ist deshalb mithin von der medialen Konstruktion und Stereotypisierung von Stalking die Rede.25 Neben den Gemeinsamkeiten zum Fall Schaeffer lassen aktuelle Formen des Stalkings technische Differenzen sichtbar werden. Der kontemporäre, digitale Mediengebrauch des Stalkens in Form von Cyberstalking im Internet beschleunigt die analogen medialen Stalking-Aktivitäten.

22 Vgl. etwa Kunczik/Zipfel: Gewalt und Medien. Ein diskursanalytischer Zugang zu Me-

diengewalt, der jenseits empirischer Medienwirkungsforschung operiert, findet sich in Otto: Aggressive Medien. 23 Vgl. Boles: Developing a Model Approach to Confronting the Problem of Stalking. In: Davis (Hrsg.): Stalking Crimes and Victim Protection, S. 337–349. 24 Vgl. Lowney/Best: Stalking Strangers and Lovers. In: Best/Joel (Hrsg.): Images of Issues, S. 39. 25 Vgl. etwa Spitzberg/Cadiz: The Media Construction of Stalking Stereotypes. In: Journal of Criminal Justice and Popular Culture, S. 128–149. 26 Vgl. etwa Dreßing et al.: Cyberstalking. In: Nervenarzt, S. 833–836; Spitzberg/Hoobler: Cyberstalking and the Technologies of Interpersonal Terrorism. In: New Media and Society, S. 71–92. 27 Vgl. Iftekhar/Sridhar: iForensics. In: Lecture Notes of the Institute for Computer Sciences, S. 9–18.

S

561

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SURFEN HARUN MAYE

surfen   Anekdote

ANEKDOTE   Edgar Allan Poes THE DESCENT INTO THE MAELSTRÖM (1841)

S

erzählt die Geschichte dreier Brüder, die gemeinsam zum Fischen fahren. Auf der Heimfahrt geraten sie in einen schrecklichen Orkan, die Masten brechen und reißen den jüngsten Bruder mit sich. Durch den Verlust der Masten manövrierunfähig geworden, treibt das Fischerboot unaufhaltsam auf die eigentliche Ursache der starken Strömung zu: den Strudel des Mahlstroms. Als das Schiff in den Abgrund hinabstürzt, hält sich der älteste Bruder an einem vermeintlich sicheren Ringbolzen am Fuß des zerstörten Vordermastes fest, während der jüngere Bruder und Ich-Erzähler mit einem leeren Wasserfass vorlieb nehmen muss. Das Schiff wird in konzentrischen Kreisen in den Trichter des Strudels gesogen. In dieser Lage entwickelt der Ich-Erzähler eine merkwürdige Distanz zur eigenen Situation. Er wird zum neugierigen Beobachter seines eigenen Schiffbruchs. So sieht er, dass Baumstämme, Kisten, Fässer und andere Schiffstrümmer, die eben noch unterhalb des eigenen Schiffes trieben, die Wasserwand des Strudels hinaufzuklettern scheinen. Er erkennt drei allgemeine Gesetze. Erstens: „daß ein Körper, je größer er ist, desto schneller sinkt“. Zweitens: „daß bei zwei Körpern von gleichem Volumen […] der sphärische stets rascher unterging“ und drittens: „daß bei zwei Körpern von gleichem Volumen, von denen der eine zylindrisch, der andere von irgendeiner anderen Gestalt war, der Zylinder am langsamsten eingesogen wurde“.1 Diese Beobachtung rettet dem Fischer das Leben. Er bindet sich das Wasserfass um den Leib und springt in den Strudel. Sein Bruder, der an die vermeintliche Sicherheit des Schiffs glaubt, wird vom Mahlstrom verschlungen, während Poes Protagonist auf seinem Fass reitend dem Abgrund des Strudels entkommt. Das Gleichnis des Mahlstroms handelt von einem offenbaren Geheimnis: Wer, wie der ältere Bruder, auf die vermeintliche Sicherheit des Schiffs vertraut, wird untergehen. Wer dagegen auf Fässern reitend sein Glück

1 Poe: Ein Sturz in den Mahlstrom. In: Ders.: Erzählungen, S. 272.

564

surfen   Anekdote

versucht, der kann dem Schiffbruch entkommen. Die Lehre der Kurzgeschichte besteht nicht allein im strategischen Kalkül des Protagonisten und seiner Betrachtung über die Physik von Körpern, sondern in der Taktik eines Schiffbrüchigen, der versucht, eine übermächtige Strömung gegen ihre eigene Gewalt zu nutzen: Der Held dieser Geschichte ist ein Wellenreiter. Im Originatext heißt es: „and this is what is called riding, in sea phrase“; „to skim like an air-bubble upon the surface of the surge“.2 Um diese Lehre für moderne, beschleunigte Verhältnisse lesbar zu machen, brauchte es allerdings einen Interpreten, der Literatur- und Mediengeschichte kongenial verbinden konnte. In THE MEDIUM IS THE MASSAGE (1967) hat Marshall McLuhan das Verhalten von Poes Seemann als Verhaltensmodell der „Informationsflut“ elektronischer Zeiten gegenüber empfohlen. Sein kurzer Kommentar zu Poes Erzählung ist auf ein Foto gedruckt, das McLuhan selbst im Anzug auf einem Surfboard inmitten der Wellen zeigt. Aufgrund der Geschwindigkeit seiner Fahrt hält ein sichtbar fröhlicher McLuhan seinen Hut fest. Der Text zum Bild gibt in aller Kürze die originelle Deutung: „Bei seiner amüsanten Kurzweil, die einer rationalen Distanz zur eigenen Situation entsprang, wendete Poes Matrose in EIN STURZ IN DEN MAHLSTROM eine Katastrophe ab, indem er die Wirkungsweise des Wasserwirbels zu verstehen suchte. Seine Haltung bietet eine mögliche Taktik, wie wir unsere unangenehme Lage, unseren elektrisch strukturierten Wirbel begreifen können“3. Im Zusammenhang mit dem Selbstporträt wird verständlich, welche Haltung und Taktik hier gemeint ist. Für McLuhan ist Wellenreiten keine kulturkritische Metapher oder bloß ein Freizeitspaß, sondern setzt genaue Kenntnisse und Fertigkeiten im jeweiligen Medium voraus und demonstriert derart einen klugen Umgang mit der „Informationsflut“. Genauigkeit, Langsamkeit, Sicherheit und Tradition – jene humanistischen Ideale, die in den Geisteswissenschaften traditionell zum Umgang mit Information empfohlen werden – sind nicht unter allen Umständen ideal oder gar alleiniges Mittel gegen beschleunigte mediale Verhältnisse.

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2 Poe: A Descent Into the Maelström. In: Ders.: Selected Tales, S. 164f. 3 McLuhan/Fiore: Das Medium ist Massage, S. 150.

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ETYMOLOGIE  Im eigentlichen Sinn bezeichnet „surf“ den Ort, an dem eine

surfen   Etymologie

Welle bricht, also die Brandung sowie konkret den Teil der Welle, der kollabiert: „The swell of the sea as it breaks upon a shore (esp. a shallow shore), reef, etc.; spec. (in later use) breaking waves collectively, as ridden by surfers. Also in figurative contexts“4. Im uneigentlichen Sprachgebrauch bezeichnet „to surf“ das Schwimmen oder Gleiten auf dieser Brandungszone. Nach 1907, durch einen Artikel Jack Londons, v. a. dann aber nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Surfen zum Inbegriff eines Sports und Lebensgefühls, bei dem Körper und Geist, Spaß und Freiheit, sowie Risiko und Virtuosität eine Einheit bilden.5 Diese Mischung schreibt eine Erfolgsgeschichte, die sich von Hawaii nach Kalifornien und von dort global verbreitet. Heute wird der Begriff in verschiedene Bereiche für den Gebrauch von Medien übertragen, „Surfen im Internet“ ist die bekannteste Form, aber auch „Couch Surfing“ oder „Channel Surfing“ zeigen eine Tätigkeit an, die interesseloses Wohlgefallen mit einer sportiven Haltung kombiniert. Das existentielle Risiko aber, das im buchstäblichen Surfen die Virtuosität auf die Probe stellt, ist in den Übertragungen der Metapher allenfalls symbolisch konnotiert. KONTEXTE  Das Internet ist als Technologie eine Verbundschaltung aus Glas-

faserkabeln, Satelliten, lokalen Rechnernetzwerken, Gateway-Computern und Protokollen, die den Datentransfer zwischen den Netzwerken ermöglichen und kontrollieren. So verteilt wie die realen Strukturen dieses Mediums ist auch die Handlungsmacht der Nutzer, deren Mediengebrauch als Tätigkeit kaum sichtbar und als ‚Bewegung‘ bloß in der Vorstellung vorhanden ist. Da die Bewegung des Users durch die Netze also nur eine virtuelle Bewegung ist – denn eigentlich handelt es sich gar nicht um eine Bewegung ‚durch‘ einen dreidimensionalen Raum, sondern die Tätigkeit des Users beschränkt sich im Regelfall auf das an- und durchklicken von zweidimensional dargestellten Webangeboten –, muss sie metaphorisch veranschaulicht werden. Surfen hat

4 (Art.) surf, n. In: OED online. Unter: http://www.oed.com/viewdictionaryentry/Entry/ 194884 [aufgerufen am 11.04.2013]. 5 Siehe: London: Surfing. In: Jack London’s Nonfiction. Unter: http://www.jacklondons.net/ surfing3.html [aufgerufen am 10.04.2013]; vgl. dazu und zum Kontext der ursprünglich rituellen Bedeutung des Surfens auf Hawaii Bickenbach/Maye: Metapher Internet, S. 145–160.

566

6 „Before we surfed the net, folks mined it, navigated it, explored it, used it, or cruised it. So

who really came up with Surfing the Internet? I suppose I can take some credit for popularing it, because it’s clear that ‚Surfing the Internet‘ really began to take over as the term of choice after I released my article to the Internet in December, 1992 for free FTP download. My article was short enough to be translated into many languages, and it was meant to show people the fun and utility of using the Internet“ [Polly: Who invented Surfing the Internet? Unter: http://www.netmom.com/about-net-mom/23-who-invented-surfing-the-internet [aufgerufen am 10.04.2013]]. 7 „In casting about for a title for the article, I weighed many possible metaphors. I wanted something that expressed the fun I had using the Internet, as well as hit on the skill, and yes, endurance necessary to use it well. I also needed something that would evoke a sense of randomness, chaos, and even danger. I wanted something fishy, net-like, nautical. At that time I was using a mouse pad from the Apple Library in Cupertino, CA, famous for inventing and appropriating pithy sayings and printing them on sportswear and mouse pads […]. The one I had pictured a surfer on a big wave. ‚Information Surfer‘ it said. ‚Eureka‘, I said, and had my metaphor“ [Polly: Surfing the Internet. Unter: http://netmom.com/about-net-mom/25-meetnet-mom/26-surfing-the-internet.html [aufrufen am 10.04.2013]].

surfen   Kontexte

sich als Metapher für diese spezielle Form der Bewegung durchgesetzt; das elegante Gleiten durch die Brandung soll eine scheinbar mühelose Bewegung auf der Informationswelle und durch die Rechnerarchitektur veranschaulichen. Die amerikanische Bibliothekarin Jean Armour Polly gilt als Erfinderin der berühmten Phrase „Surfing the Internet“. In der Juni-Ausgabe des WILSON LIBRARY BULLETIN von 1992 schreibt sie einen Artikel unter dem gleichnamigen Titel, der eigentlich als Einführung in den Gebrauch des Internet für Bibliothekare gedacht war. Er wurde zu einem der damals populärsten Texte über das neue Medium. Polly beschreibt die Faszination am sekundenschnellen Durchqueren weit entlegener Rechnernetze und Websites durch jene griffige Metapher, die alle alternativen Bezeichnungen vergessen ließ.6 Die Erfindung der Metapher selbst aber geht auf ein Mousepad zurück, das Polly damals benutzt hat und auf dem unter der Aufschrift „Information Surfer“ ein Wellenreiter abgebildet war.7 Die Idee einer solchen Bewegung durch Rechnernetze wurde allerdings bereits vor der Erfindung des Internet in der Science-Fiction-Literatur dargestellt. In den visionären und populären Cyberpunk-Romanen von William Gibson ist der „Cyberspace“ ein künstlicher Raum, der durch die Verknüpfung von Rechnernetzwerken entstanden und in dem eine dreidimensionale Orientierung möglich ist. Während die Hände der Hacker

S

567

und Helden der Romane auf Surf- und Keyboards tätig sind, bleiben deren Körper unbewegt. Die Bewegungsbilder werden direkt auf die Netzhaut der geschlossenen Augen projiziert und interagieren mit den KeyboardBefehlen. Es war dieser gleichzeitig aufmerksame und starre Blick, der Gibson zur Metapher vom „Cyberspace“ inspiriert hat. Gesehen hatte er ihn zum ersten Mal bei US-amerikanischen Jugendlichen, deren Augen während eines Videospiels von dem virtuellen Raum ‚hinter dem Bildschirm‘ gebannt zu sein schienen.8 Solche Beobachtungen und auch die Selbstbeschreibung von Gamern und anderen Usern plausibilisieren die Vorstellung, dass der Gebrauch des Internet tatsächlich als Bewegung durch einen imaginären Raum wahrgenommen wird, die im Realen nicht stattfindet. Gibson hatte für diese Bewegung durch den Cyberspace keinen eigenen Namen gefunden. Einige Jahre später aber ist es kaum noch vorstellbar, diese Bewegung nicht als Surfen zu bezeichnen.

surfen   Konjunkturen

KONJUNKTUREN  Im Kielwasser von Pollys Artikel kommt es in den 1990er

Jahren zu einer sprichwörtlichen Flut von Veröffentlichungen, die Varianten der Redewendung „Surfing the Internet“ im Titel tragen. Vor allem an Einführungen und Handbüchern à la SURFING THE INTERNET WITH NETSCAPE NAVIGATOR, INTERNET NAVIGATOR oder ONLINE-SURFING MIT DEM NETSCAPE COMMUNICATOR lässt sich ablesen, dass die Metapher bereits kurz nach ihrer Erfindung einen festen Ort in der Computer- und Alltagsprache erobert hat. Doch die Konjunktur war nur von kurzer Dauer. In den 2000er Jahren hat sich das Internet weiterentwickelt und in Folge dessen kam es auch zu einer Vervielfältigung der Metaphorik. Die sozialen Netzwerke und Blogs des Web 2.0 kennen nicht mehr bloß das Surfen, sondern auch bloggen, posten, streamen, twittern, liken usw. Die User sind dementsprechend Subscriber, Peers oder Friends und nur noch gelegentlich Surfer oder Cybernauten. Die prominente Metapher verschwindet zwar nicht, wird aber durch andere Metaphern

8 „I could see in the physical intensity of their postures how rapt the kids inside were. It was

like one of those closed systems out of a Pynchon novel: a feedback loop with photons coming off the screens into the kids’ eyes, neurons moving through their bodies, and electrons moving through the video game. These kids clearly believed in the space the game projected“ [McCaffery: An Interview with William Gibson. In: Ders. (Hrsg.): Storming the Reality Studio, S. 272].

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oder Neologismen relativiert, die direkt auf den Gebrauch jener Anwendungen verweisen, von denen sie abgeleitet sind. GEGENBEGRIFFE  Eine Gegenbegrifflichkeit lässt sich in der Unterscheidung

PERSPEKTIVEN Surfen als Bezeichnung für eine zentrale Form des Umgangs mit dem Internet lässt sich ohne die Vorstellung des Flüssigen nicht denken. Das Internet führt neue, nichtlineare Formen des Umgangs mit Daten und Informationen in die Gesellschaft ein, die als Surfen oder ‚Navigieren‘ bezeichnet werden. Beide Metaphern bezeichnen zugespitzt die Gleichzeitigkeit von Desorientierung und Innovationschance, beide Strategien des Suchens und Findens im Internet plausibilisieren sich über eine nautische Metaphorik. Dennoch werden beide Begriffe nicht selten gegeneinander ausgespielt. Navigieren, so wird immer wieder angeführt, sei eine zielorientierte Tätigkeit, die Überblick, Wissen und Distanz erfordert, wogegen Surfen reiner Selbstzweck sei und eher eine atmosphärische oder spielerische Erfahrung des Internet ermögliche. Dagegen lässt sich anführen, dass Surfen ein gelungenes Sinnbild für das Suchen und Finden im Internet ist, weil es den virtuosen Umgang mit einer fremden, schwer abzuschätzenden Umwelt (der Fülle an Information) konnotiert. Surfen spielt mit den Bedingungen, von denen es abhängt. Dafür sind ebenso Wissen, Geschicklichkeit, Erfahrung und Training notwendig. Die genaue Unterscheidung verschiedener Strömungen, Wellenformen und deren Zusammenhang mit dem Meeresuntergrund erfordert Wissen und v. a.

surfen   Perspektiven

zwischen zielgerichtetem und ungerichtetem Mediengebrauch ausmachen. So wird Surfen als unseriöse Spielerei oder bloß kursorischer Umgang mit dem Internet von vermeintlich seriöseren Nutzungsformen wie „Navigieren“ oder „Retrieval“ abgehoben. Die berühmteste Gegenmetaphorik findet sich jedoch in einem ganz anderen Bildfeld: Im Unterschied zum Surfen steht die Metapher der „Datenautobahn“ (information superhighway) für geregelten, zielgerichteten Verkehr und lässt an ein Straßennetz denken, auf dem die Routen klarer und die Ziele schneller erreichbar werden. Während die Phrase „Surfing the Internet“ v. a. Dynamik, Eleganz, Variation und Überraschung im Umgang mit dem Medium konnotiert und so das Internet als ein System eigener Potenzialität begreift, instrumentalisiert das Bild der Datenautobahn das Medium als gewinnbringende Informationsmaschine.

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Erfahrung – sowohl in den realen als auch in den virtuellen Ozeanen. Wer im Internet surft, kennt interessante Sites, Hotspots und Blogs, kurz: Er hat Lieblingsplätze, von denen er ausgeht. Bedeutsam ist die Metapher, weil sie für eine Form des Informationsumgangs steht, der sich deutlich von institutionalisierten Formen des Wissenserwerbs unterscheidet. Sich spontan und scheinbar mühelos durch die Informationsflut zu bewegen, verweist auf einen Zustand von Information, wie ihn digitale Technik anbietet: beweglich, dynamisch und von allen Richtungen aus ansteuerbar, unbegrenzt kopierbar, kombinierbar und manipulierbar. Surfen empfiehlt ein Verhalten, das einer kritischen Medienpädagogik nie in den Sinn kommen würde: Ohne Vorbehalte mit dem Strom zu schwimmen, wie es Marshall McLuhan in seiner Lektüre von Edgar Allan Poes Kurzgeschichte beschrieben hat. Man muss nicht gegen, sondern mit den Bedingungen der Medien, mit deren Strömungen und Geschwindigkeiten arbeiten, wenn man in der Informationsflut nicht untergehen will.

surfen   Forschung

FORSCHUNG  Zu dem Mediengebrauch, den die Metapher Surfen bezeich-

net, existiert so gut wie keine medienwissenschaftliche Literatur, die man im engeren Sinne als Forschung bezeichnen könnte. Studien zum Thema kommen eher aus Disziplinen wie Soziologie, Pädagogik oder Psychologie, die sich mit den gesellschaftlichen und individuellen Auswirkungen von Medien beschäftigen. Das Internet wird zwar allgemein als ein Bildungsmedium akzeptiert, aber speziell die Kulturtechnik Surfen wird dabei nicht als solche anerkannt, sondern als eine planlose und zerstreute Rezeptionshandlung kritisiert. Titel wie SCHLAU MACHEN STATT DUMM SURFEN: WIE ELTERN DIE MEDIENKOMPETENZ IHRER KINDER FÖRDERN (Gertrud Teusen) oder SURFEN IM SEICHTEN (Nicholas Carr) sind nur zwei Beispiele, die erkennen lassen, dass Surfen und Bildung als antagonistische Konzepte modelliert werden. Surfen, so Nicholas Carr, sei der Inbegriff eines rein kursorischen, schnellen und oberflächlichen Lesens, das die Zerstreuung und ein gehetztes Denken auf Dauer stellt. Gerade die überbordende Fülle an Informationen, die der Mediensurfer durchquert, macht aus ihm einen seichten Denker, der durch kurze Texte, Hyperlinks und bewegte Bilder an eine Kultur in Häppchen gewöhnt worden sei.9

9 Vgl. Carr: The Shallows.

570

LITERATUREMPFEHLUNGEN Bickenbach, Matthias/Maye, Harun: Endlich

Surfen! Eine Poetik nasser Medien. In: Sprache im technischen Zeitalter, Bd. 37, Nr. 150

(1999), S. 221–234.

Moore, Michael Scott: Wie das Wellenreiten

über die Welt kam: und was zwischendrin

dabei noch so alles passierte, Bielefeld (2012).

Rodatz, Christoph: Navigieren, Surfen, Flanieren und das Netz. In: Hård, Mikael/Lösch,

Andreas/Verdicchio, Dirk (Hrsg.): Transforming Spaces. The Topological Turn in

Technology Studies. Unter: http://www.

ifs.tu-darmstadt.de/fileadmin/gradkoll//

Publikationen/transformingspaces.html [aufgerufen am 11.04.2013].

surfen   Literaturempfehlungen

Gegen diese weitverbreitete und einseitige Perspektive lässt sich anführen, dass Probleme der „Informationsflut“ und Strategien des Umgangs mit großen Informationsmengen keine neuen Phänomene sind, sondern im Gegenteil eine lange Geschichte haben, die seit der Antike in den Bildfeldern von Meer, Flut oder Schiffbruch dargestellt worden ist. In der Kommunikation über das Internet erlebt diese Metaphorik eine Renaissance. Sie wird aufgegriffen und zur Beschreibung der politischen wie kulturellen Möglichkeiten des Mediums genutzt. Nicht nur die weltumspannende Ausdehnung und Tiefe des Meeres spielen dabei eine Rolle, sondern nach wie vor auch die Entdeckungsreise und Schatzsuche, deren Kehrseite die Irrfahrt und der Schiffbruch sind. Die scheinbar bloß modische Metapher „Surfing the Internet“ beschreibt daher weniger den oberflächlichen Umgang mit Informationen, als ein Verhalten, dass mit der Masse an Information rechnet und gleichzeitig spielt. Als cross reading, random access oder Quervernetzung von Wissen scheinen sich solche Sonderformen der Aneignung und Anordnung von Informationen den kanonischen Wissensformen zu widersetzen. Doch ein genauerer Blick zeigt, dass auch sie eine kulturtechnische Basis von klassischen Bildungstheorien darstellen. Auch im historisch-literarischen Kontext der Gelehrsamkeit lassen sich Techniken des schnellen Lesens, Suchens und Findens belegen, die wir heute als Surfen bezeichnen.10

Scheffer, Bernd: Surfen als Form der Medien-

nutzung und als Lebensform. Zur kulturellen

Praxis Jugendlicher. In: Didaktik Deutsch,

Nr. 3 (1997), S. 4–15.

S

—: Jenseits von Autorität: Surfen. Und über Surfen als Beobachtungsform an den Grenzen der Wissenschaft. In: Fohrmann, Jürgen/

Kasten, Ingrid/Neuland, Eva (Hrsg.): Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Me-

dien. Beiträge zum Deutschen Germanisten-

tag 1997, Bielefeld (1999), S. 185–209.

10 Ausführlich dazu Bickenbach/Maye: Metapher Internet.

571

VERWEISE  blättern |135|, klicken |332|, kompilieren |352|, zappen |653| BIBLIOGRAFIE Bickenbach, Matthias/Maye, Harun: Metapher Internet. Literarische Bildung und Surfen, Berlin (2009).

Poe, Edgar Allan: A Descent Into The Maelström. In: Ders.: Selected Tales, London

(1994), S. 154–171.

Carr, Nicholas: The Shallows: What the Internet

—: Ein Sturz in den Mahlstrom. In: Ders.:

—: Surfen im Seichten: Was das Internet mit un-

schichten des Grauens und Detektivge-

Is Doing to Our Brains, New York (2010). serem Hirn anstellt, München (2013).

McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin: Das Medium ist Massage, Frankfurt/M. (1969).

McCaffery, Larry: An Interview with William

Gibson. In: Ders. (Hrsg.): Storming the Rea-

Erzählungen. Phantastische Fahrten, Geschichten (1902), Bayreuth (1985), S. 258–273.

Teusen, Gertrud: Schlau machen statt dumm

surfen: Wie Eltern die Medienkompetenz

ihrer Kinder fördern, Freiburg i.Br. (2013).

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surfen   Verweise

Jack London’s Nonfiction. The Dan Wichlan

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http://www.netmom.com/about-net-mom/

23-who-invented-surfing-the-internet [aufgerufen am 10.04.2013].

TELEFONIEREN OLIVER KOHNS

ander Graham Bell 1876 entwickelt der polnische Augenarzt Lazar Ludwig Zamenhof die ‚Welthilfssprache‘ Esperanto. Für den Zeitgenossen galt die Erfindung Bells ebenso wie die Erfindung Zamenhofs als Bestandteil des „Weltprojekts“ einer globalen Kommunikation.1 Die elektronische Technik versprach eine mündliche Kommunikation zwischen Menschen über viele Kilometer (und über nationale Grenzen) hinweg und der Entwurf einer kons­ truierten ‚Weltsprache‘ versprach eine Lösung für das dabei auftretende Prob­ lem der Sprachdifferenzen. Für viele galt Esperanto daher als die zukünftige „internationale Fernsprechsprache“2. So fasst Sydney Waterlow 1913 in der Zeitschrift The Monist zusammen: „The modern growth, it is said, of interna­ tional intercourse, caused by steam and electricity, has been accompanied by no corresponding increase in the ease with which men can communicate their ideas; a universally intelligible medium is now as necessary as the telephone or telegraph“3. Die Verbindung von weltweiter Technik und universeller Sprache schien den Weltfrieden zu verheißen. Die Praxis des Telefonierens lieferte allerdings wenig Hoffnung auf eine baldige Umsetzung dieser utopischen Träume. THE ACADEMY AND LITERATURE berichtet 1907 über den Umgang mit dem Telefon: The Daily Mail states opportunely that only one of the English names of the nine numerals, namely ‚one‘ can be both spoken and heard intelligibly through the telephone. If our contemporary’s statement is correct, that the word ‚four‘ is continually mistaken for ‚five‘, and ‚six‘ for ‚seven‘, in the middle of London, is it likely that words apparently so irritatingly ambiguous, on the tongue and to the ears of Englishmen, will be readily adopted by foreigners?4

1 2 3 4

telefonieren  Anekdote

ANEKDOTE  Nahezu zeitgleich mit der Patentierung des Telefons durch Alex­

T

Vgl. Krajewski: Restlosigkeit. Becker: Telefonieren und sozialer Wandel. In: Becker (Hrsg.): Telefonieren, S. 10. Waterlow: „Interlingua“ and the Problem of a universal Language. In: The Monist, S. 583. o.A.: The Literary Week. In: The Academy and Literature, S. 787f.

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telefonieren  Etymologie

Weit davon entfernt, globale Kommunikation und Weltfrieden zu ermögli­ chen, ist die telefonische Kommunikation 1907 selbst innerhalb Londons noch problematisch. Um diese zu verbessern, fordert die nationale Telefongesell­ schaft phonetische Änderungen am Englischen: „The name of one cipher has already been changed by general consent, to O, and our contemporary informs us, that the National Telephone Company is about to ask us to pronounce ‚nine‘ short, in order to distinguish it from ‚five‘.“5Angesichts dieser Verstän­ digungsprobleme am Telefonhörer schöpft der Autor nur wenig Hoffnung auf den weltweiten Einsatz einer universellen ‚Welthilfssprache‘ durch das neue technische Medium: „To people who cannot both hear and pronounce the difference between ‚five‘ and ‚nine‘, not only Esperanto but any Language is useless.“6 Die anekdotische Qualität dieser Zeitungsnotiz zeigt sich daran, dass aus ihr mehrere ‚Lehren‘ zu ziehen sind. Naheliegend wäre, sie als einen skep­ tischen Kommentar zur Diskrepanz zwischen den utopischen Hoffnungen der ‚Esperantisten‘ auf weltweite Verständigung und den technischen Möglich­ keiten der Kommunikation zu interpretieren (oder allgemeiner zur Diskre­ panz zwischen Medientheorie und Mediennutzung). Die Notiz unterrichtet allerdings auch über die mit der Einführung eines neuen Mediums verbun­ dene Kontingenz: Die Kommunikation kann einer gesteigerten Kontingenz ausgesetzt sein (indem die engl. Begriffe für Zahlwörter plötzlich gleich zu klingen scheinen); kontingent sind aber auch die politischen Konsequenzen, die aus der Einführung des Mediums folgten (der Versuch einer Normierung der englischen Aussprache statt des Weltfriedens). ETYMOLOGIE  Das Wort ‚Telefon‘ ist eine Neubildung aus dem 18. Jh., die in Analogie zu Telegraph aus dem griech. tele- (fern) und phônê (Laut, Ton, Stimme, Klang) gebildet wurde.7 Zu telefonieren bedeutet demnach, eine Stimme aus der Ferne zu hören (bzw. die eigene Stimme in die Ferne zu senden). Die Stimme bleibt hier implizit (und paradox) als Medium absoluter Nähe und

5 Ebd. 6 Ebd. 7 Vgl. (Art.) Telefonieren. In: Basler: Deutsches Fremdwörterbuch, S. 126.

574

KONTEXTE  Es hat lange gedauert, bis das Telefonieren zur alltäglichen Mediennutzung zu zählen war. Lange Zeit wurde die Telegrafie als das leistungsstärkere und wichtigere Medium für Fernkommunikation betrach­ tet. Die Western Union Telegraphy Company soll das Angebot Alexander Graham Bells, das Telefonpatent für 100.000 Dollar zu ersteigern, mit den Worten abgelehnt haben: „Was soll eine Gesellschaft mit solch einem Spielzeug anfangen?“11 Noch bis zum Ersten Weltkrieg galt die Telegrafie als „zuverlässiger und sicherer“ als die Telefonie und „ihr weltweites Netz war größer“.12 Die Vision weltweiter Kommunikation durch das Telefon ist zwar so alt wie die Erfindung des Mediums selbst, aber die tatsächliche Umsetzung dieser Vision wurde erst spät möglich. 1880 wurde die erste Städteverbindung zwischen Boston und Providence (50km) errichtet, 1914

8 9 10 11 12

telefonieren  Kontexte

A-Medialität bestimmt, was einer traditionellen metaphysischen Medien­ theorie Europas entspricht.8 Der älteste Beleg für das Wort ‚Telefon‘ im Dt. stammt bereits aus dem Jahr 1796:9 Der Mathematiker und Physiker Johann Sigismund Gottfried Huth skizzierte in seiner ABHANDLUNG ÜBER EINIGE AKUSTISCHE INSTRUMENTE die Möglichkeit der akustischen Nachrichtenüber­ mittlung durch eine ‚Sprachröhre‘ und bezeichnete diese als ‚Telephon oder Fernsprecher‘. Das Verb telefonieren wurde umgehend nach der Patentierung und Verbreitung des Mediums gegen Ende des 19. Jhs. geprägt. Kurze Zeit später kamen einige weitere Begriffe dazu, welche die umfassende Durchset­ zung des Mediums spiegeln: Seit dem frühen 20. Jh. konnte man ‚herumte­ lefonieren‘ (d. h. mit mehreren Menschen hintereinander sprechen), es ent­ stand die ‚Telefoniererei‘ (das allzu häufige, als lästig empfundene Telefonieren) sowie die ‚Telefonitis‘ (die krankhafte Sucht zu telefonieren).10 Was einmal als Medium der Nachrichtenübermittlung konzipiert wurde, hat sich mehr und mehr auch als Medium der Unterhaltung herausgestellt: Die Diskurse über das Telefonieren schreiben sich bereits früh in die Topik der Zerstreuung ein.

T

Vgl. Dolar: His Master’s Voice, S. 52. Vgl. (Art.) Telefonieren. In: Basler: Deutsches Fremdwörterbuch, S. 126f. Vgl. ebd. Rammert: Wie das Telefon in unseren Alltag kam. In: Becker (Hrsg.): Telefonieren, S. 79. Becker: Telefonieren und sozialer Wandel. In: Ders. (Hrsg.): Telefonieren, S. 21.

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telefonieren  Kontexte

die Verbindung New York-San Francisco und erst 1956 konnte das Trans­ atlantikkabel verlegt werden.13 Erst seit den 1960er oder gar 1970er Jahren ist die Dichte der Anschlüsse im mitteleuropäischen Raum so hoch, dass von einer Alltäglichkeit des Telefonierens gesprochen werden kann.14 Noch 1930 kamen in Deutschland auf 100 Einwohner fünf Sprechstellen (das war europäischer Durchschnitt: in Frankreich gab es nur zwei Sprechstel­ len pro 100 Einwohner, Dänemark führte mit neun pro 100). Gegen Ende der 1970er Jahre war das „Telefon noch immer v. a. ein Dienst- und noch nicht ein Privatapparat.“15 Die Frühzeit des Telefonierens ist dadurch charakterisiert, dass das Telefon in Anlehnung an die Telegrafie in erster Linie als ein Instrument zur einseitigen Nachrichtenübermittlung (und erst später als ein Medium der mehrseitigen Kommunikation) konzipiert wurde. Aus diesem Grund hat Bell das Sende- und Empfangsgerät getrennt entwickelt und die Ein­ wegübertragung verbessert. Die frühe Nutzung des Mediums geschieht in Anlehnung an die Telegrafie im Sinne einer einseitigen Übermittlung: im militärischen Bereich als Instrument für die „Übermittlung von Feindbe­ obachtungen auf vorgeschobenem Posten“, in Privathaushalten als Ersatz für die „elektrische Klingel, mit der Dienstboten oder das Hauspersonal gerufen werden konnten.“16 Eine weitere frühe Nutzung des Telefons ent­ fernte sich schon weiter von der Nutzungsmöglichkeit der Telegrafie und führte außerdem die Komponente der Unterhaltung in die Mediennutzung ein, die im Laufe des 21. Jhs. immer wichtiger werden sollte, hielt aber den­ noch an der Vorstellung der einseitigen Informationsübermittlung fest: Die Übertragung von Musik (insbesondere von Opernaufführungen) durch das Telefon. In dieser Art der Nutzung gestaltete sich das Telefon als ein dem Radio analoges Medium. Seit 1893 übertrug die Telefongesellschaft Telefon Hírmondó in Budapest ein radioartiges Programm für seine Abonnenten.17 Die Nutzung des Telefonierens zum Hören von Musik war nicht auf die

13 14 15 16 17

576

Vgl. Flichy: Tele, S. 159. Vgl. Zelger: „Das Pferd frißt keinen Gurkensalat“, S. 23. Wessel: Das Telefon – ein Stück Allgegenwart. In: Münker/Roesler (Hrsg.): Telefonbuch, S. 25. Rammert: Wie das Telefon in unseren Alltag kam. In: Becker (Hrsg.): Telefonieren, S. 80. Vgl. ebd., S. 81.

telefonieren  Kontexte

Frühzeit des Mediums beschränkt: Noch zwischen 1924 und 1930 bot das Reichspostministerium in Bayern eine allabendliche telefonische Übertra­ gung aus der Bayerischen Staatsoper in München an.18 Bis weit in das 20. Jh. hinein galt Telefonieren eher als ein Medium der Informationsvermittlung, weniger als eines der ‚Unterhaltung‘ (sowohl im Sinne der Kommunikation als auch der Zerstreuung). „Geschäftliche Mit­ teilungen und Ferngespräche haben Vorrang vor privaten Unterhaltungen“ 19, hieß es noch im Jahr 1914 im Telefonbuch von Nebraska. Eine Stichpro­ benerhebung eines Telefonbetreibers aus Seattle im Jahr 1909 ergab, „dass 20% aller von Privathaushalten getätigten Gespräche Warenbestellungen zum Gegenstand“ hatten, „weitere 20% betrafen Anrufe im Büro, bei 15% handelt es sich um persönliche Einladungen und 30% entfielen auf allge­ meines ‚Geplauder‘“.20 Die Vermittlung der Telefongespräche erfolgte teilweise bis in die 1960er Jahre manuell. Die letzte Handvermittlung in Deutschland wurde erst 1966 abgeschaltet, obwohl es bereits 1908 ein Selbstwähltelefon gab. Das Modell der Reichstelegraphenverwaltung verfügte über eine Gebrauchsan­ weisung auf der Wählscheibe, die als Beispiel die Rufnummer 2451 angab – was angeblich einen Wurstfabrikanten, der unter dieser Nummer zu errei­ chen war, „fast zum Wahnsinn getrieben hätte“ 21. Dennoch blieb das ‚Fräu­ lein vom Amt‘ über lange Zeit eine wichtige Instanz in der Erfahrung des Telefonierens. Die für die Vermittlung angestellten Frauen mussten sich eine besondere Aussprache der Zahlen angewöhnen. Die Dienstan­ leitung VI4A aus dem Jahr 1932 sah vor, dass die Teilnehmerzahl 518 als „fünnefachtzähn“ ausgesprochen werden sollte.22 Diese Regelung erinnert an den Bericht über die Unverständlichkeit der englischen Zahlwörter in THE ACADEMY AND LITERATURE: Nicht nur die Aussprache der Telefo­ nistinnen wurde zwecks besserer Verständlichkeit im Medium Telefon

T

18 Vgl. Becker: Telefonieren und sozialer Wandel. Eine Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Telefonieren,

S. 19.

19 Flichy: Tele, S. 151. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 199. 22 Vgl. Genth/Hoppe: Telephon!, S. 117.

577

normiert, auch in der allgemeinen Kommunikation haben sich lautliche Änderungen eingebürgert (es wurde in Deutschland üblich, am Telefon „zwo“ statt „zwei“ zu sagen).23 Auch die heute übliche Praxis, dass jede Telefonnummer einem Indivi­ duum zugeordnet werden kann, hat sich historisch erst spät etabliert. In den USA dominierten lange ‚party lines‘, bei der eine Telefonnummer mehrere Apparate ansprach – der Film PILLOW TALK mit Doris Day und Rock Hud­ son (USA 1959) erzählt diese medientechnische Situation als Grundlage einer romantischen Komödie.

telefonieren  Konjunkturen

KONJUNKTUREN   Im gleichen Maß, in dem das Telefonieren in der zwei­

ten Hälfte des 20. Jhs. immer mehr zu einer vollkommen alltäglichen Form des Mediengebrauchs wurde, wurde das Telefonieren als ein Medium der ‚Unterhaltung‘ (und nicht mehr primär der beruflichen Informationsübermitt­ lung) begriffen. Telefonieren wird als eine „Form des alltäglichen Plauderns“24 beschreibbar, das Feld der Synonyme ist breit: ‚quasseln‘, ‚quatschen‘, ‚tratschen‘. Vor allem weibliche Mediennutzer werden pauschal als ‚Quasselstrippen‘ ver­ dächtigt: „Frauen sind aufgrund ihrer traditionellen Hausfrauen- und Mut­ terrolle enger an die Wohnung gebunden und daher häufig gesellschaftlich isoliert. Das Telefon ermöglicht ihnen neben Arbeitserleichterung im Alltag die partielle Überwindung dieser sozialen und psychologischen Isolation.“25 Neben dieser kulturkritischen, von Genderstereotypen geprägten Seman­ tik konnte das Telefonieren immer wieder (ganz im Sinne Lazar Zamenhofs) zur Projektionsfläche für utopische politische Hoffnungen werden. Der Medientheoretiker Vilém Flusser beschreibt das Telefon als ein zentrales Medium politischer Freiheit: „Falls man Freiheit mit Dialogdisponabilität gleichsetzen wollte“, schreibt Flusser, „ließe sich die These vertreten, daß die Reichhaltigkeit und die Effizienz des Telefonnetzes in einem gegebenen

23 Vgl. Baumgarten: Psychologie des Telephonierens. In: Forschungsgruppe Telefonkommuni­

kation (Hrsg.): Telefon und Gesellschaft, S. 192.

24 Becker: Telefonieren und sozialer Wandel. Eine Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Telefonieren,

S. 12.

25 Lange: Telefon und Gesellschaft. In: Forschungsgruppe Telefonkommunikation (Hrsg.):

­Telefon und Gesellschaft, S. 32.

578

telefonieren  Konjunkturen

Land als ein Maß der dort herrschenden Freiheit dienen kann“.26 Auch Jac­ ques Derrida verbindet die Existenz eines Telefonnetzes mit einer unaus­ weichlichen Tendenz zur Demokratisierung: „Wie wir wissen, sind totalitäre Regime außerstande, wirksam gegen ein inneres Telephonnetz zu kämpfen, sobald dessen Dichte eine gewisse Schwelle überschreitet“27, schreibt Der­ rida. Insofern durch die Etablierung des Mediums auch die Bewohner der Chefetagen in Politik und Wirtschaft ihre ‚Dialogdisponabilität‘ (Flusser) vorweisen mussten, konnte das Telefonieren sozialhistorisch Hierarchien zumindest zeitweise flacher verlaufen lassen. „Als eine der überraschends­ ten Auswirkungen schuf das Telefon ein ‚nahtloses Netz‘ von ineinander verschlungenen Mustern in der Unternehmensführung und beim Treffen von Entscheidungen“, schreibt Marshall McLuhan: „Der pyramidenför­ mige Aufbau der Arbeitsteilung und -anleitung und der übertragenen Voll­ machten verträgt die Schnelligkeit der telefonischen Verbindung nicht“28. Die kulturkritische Klage über die unerwünschte Nähe, die das Telefonieren (aus der Perspektive des Angerufenen) hervorbringt, ist die Kehrseite dieser Tendenz des Telefons, soziale Hierarchien neu zu sortieren: Der Anrufer sei „der Herr unseres Gehörs, das ihm angehört, bevor es ihn anhört, oder von ihm wegzuhören versucht“29, schreibt Hans-Dieter Bahr. Neue Möglichkeiten des Sozialverhaltens hat das Telefonieren hervorge­ bracht, indem es zwei Gesprächspartnern die Möglichkeit gab, unabhängig von einer beliebig großen tatsächlichen räumlichen Distanz so zu kommuni­ zieren, als befänden sie sich physisch innerhalb eines Raums. ‚Telefonsex‘ ist eine radikale Folgerung aus diesem Zusammenfall von physischer Distanz und gleichzeitig möglicher phonologischer Intimität. „Ich liebe das Telefon“30, fol­ gert einer der Protagonisten in Nicholson Bakers Telefonsexroman VOX. Das Internet sowie die neuen Glasfaserkabel (seit 1977) zwischen den Kontinenten haben zahlreiche weitere Möglichkeiten der Fernkommunikation über das Telefon hervorgebracht und es zu einem Motor der Globalisierung gemacht.

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26 Flusser: Kommunikologie, S. 300. 27 Derrida: Das andere Kap, S. 34. 28 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 412. 29 Bahr: Der Ent-Fernsprecher. In: Ästhetik & Kommunikation, S. 27. 30 Baker: Vox, S. 69.

579

Selbst Nachhilfeunterricht kann zu Beginn des 21. Jhs. über das Telefon nach Indien outgesourct werden.31 Auch die Mobiltelefonie bringt ihre Utopien hervor. Indem Mobiltelefone zur schnellen und massenhaften Verbreitung von nicht staatlich kontrollier­ baren Nachrichten sowie zur spontanen Verabredung von Versammlungen dienen können, wird das Medium für einige revolutionäre Umwälzungen der letzten Jahre verantwortlich gemacht.

telefonieren  Gegenbegriffe

Bypassing the broadcasting media, cell phone users themselves became broad­ casters, receiving and transmitting both news and gossip, and often confounding the two. Indeed, one could imagine each user becoming his or her own broad­ casting station: a node in a wider network of communication that the state could not possibly monitor, much less control32,

schreibt Vicente Rafael. Die Prophezeiungen ähneln denjenigen der EsperantoJünger um 1900: Wenn schon nicht der Weltfriede, dann steht zumindest die Weltrevolution unmittelbar bevor. GEGENBEGRIFFE  Insofern der Begriff des Telefonierens ein klar definier­

bares Feld von Mediennutzung beschreibt, ist die Gegenbegrifflichkeit auf eine Beschreibung von (vermeintlich) prämedialer und ‚reiner‘ Kommuni­ kation limitiert. Aus kulturkritischer Perspektive wird dem Telefonieren so eine präsentische Kommunikation entgegengesetzt, die durch eine voll­ ständige physische und psychische Präsenz der anwesenden Kommunika­ tionspartner und daher durch eine absolute Verständigung gekennzeichnet sei. Dieses ‚Kommunikationsideal‘33 kann dann der Praxis des Telefonierens kritisch entgegengehalten werden, wodurch die technische Kommunikation als Verlust einer ‚echten‘ Kommunikation erscheinen kann. Telefonieren „hält Nähe fern“34, lautet der entsprechende topos. „Was vielmehr durch das Telefon zunächst entfernt wird, ist – alles, nämlich alles außer einer

31 Vgl. Friedman: Die Welt ist flach, S. 59f. 32 Rafael: The Cell Phone and the Crowd. In: Public Culture, S. 403. 33 Vgl. Schneider: Kommunikationsideale und ihr Recycling. In: Weigel (Hrsg.): Flaschenpost

und Postkarte, S. 195–221.

34 Genth/Hoppe: Telephon!, S. 6.

580

PERSPEKTIVEN  Die technologische Entwicklung der Telefonie ist zu Beginn

des 21. Jhs. wesentlich durch das Mobiltelefon und infolgedessen durch die enge Kopplung des Telefonierens an Schriftmedien (SMS & mobiles Internet) und Bildmedien (Videotelefonie, z. B. via Skype) charakterisiert. Durch die fortschreitende mediale Hybridisierung übernehmen insbeson­ dere mobile Telefone immer mehr Funktionen und sind gleichzeitig etwa auch Foto- und Videokameras, Diktiergeräte, Kalender und Computer mit Internetanschluss. Telefone dienen zu Beginn des 21. Jhs. nicht mehr allein

telefonieren  Perspektiven

gerade noch entschlüsselbaren ‚Fistel‘-Stimme“, schreibt in diesem Sinn etwa Hans-Dieter Bahr. „Die gesamte leibliche, sinnliche und bewegliche Ausstrahlung ist uns getilgt und somit schwer erreichbar fern geworden.“35 Die hier in Anschlag gebrachte semantische Oppositionskette – ‚Leib‘ vs. ‚Körperlosigkeit‘, ‚Nähe‘ vs. ‚Ferne‘, ‚Ausstrahlung‘ vs. ‚Entschlüsselung‘ – lässt sich auf die metaphysische Differenz von ‚Präsenz‘ vs. ‚Absenz‘ zurück­ führen. Die Gegenbegrifflichkeit des Telefonierens folgt so einer Logik des Phonozentrismus, wie Jacques Derrida sie in seiner klassischen Stu­ die GRAMMATOLOGIE (1967) beschrieben hat. 36 Die Behauptung einer absoluten sinnlichen Präsenz des Gesprächspartners in der (vermeintlich) a-medialen ‚Face-to-Face‘-Kommunikation folgt erkennbar einer Logik der Projektion: Erst angesichts der angeblichen Erfahrung des Verlusts der reinen ‚Präsenz‘ durch die technischen Medien wird das ‚nicht Medi­ ale‘ kulturkritisch verklärt.37 Die Semantik des ‚Rauschens‘ kann als weitere Gegenbegrifflichkeit des Telefonierens interpretiert werden. Bis zum Ausbau der digitalen Signalüber­ tragung in den 1990er Jahren war die akustische Qualität des Telefonierens v. a. bei Ferngesprächen durch ein hörbares Rauschen gemindert. Dieses Begleit­ geräusch macht die Medialität des Mediums Telefon hörbar und liefert inso­ fern Evidenz für die Ferne der durch den Hörer ertönenden Stimme (und so für den Begriff Telefon).38

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35 Bahr: Der Ent-Fernsprecher. In: Ästhetik & Kommunikation, S. 29. 36 Vgl. Derrida: Grammatologie, S. 25. 37 Vgl. Pauser: Telefonkonsum. In: Ästhetik & Kommunikation, S. 26. 38 Vgl. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 109.

581

zum Telefonieren, sondern werden ein allgemeines Kommunikations- und Organisationsmedium. Zugleich werden Telefone (zumal als Mobiltelefone) ubiquitär verfügbar und alltäglicher denn je. Die semantische Opposition zwischen Telefonieren und einem (vermeintlich) ‚echten‘ Gespräch unter Anwesenden erscheint durch diese Entwicklungen zunehmend als eine rein diskurshistorische Tatsache.

telefonieren  Forschung

FORSCHUNG  Die Forschungsperspektiven zur Medienkulturgeschichte des

Telefonierens können in verschiedene Richtungen entfaltet werden. Aus eher philologischer Perspektive wird nach der Bedeutung des Telefonierens in der Literaturgeschichte gefragt. Mit Sabine Zelgers KULTURGESCHICHTE DES TELE39 FONIERENS liegt eine sehr materialreiche Analyse dieser Fragestellung vor, die allerdings auf einen motivgeschichtlich orientierten Zugriff beschränkt bleibt und nicht wirklich mit medienkulturwissenschaftlichen Perspektiven verbunden ist. Eine zentrale Forschungsperspektive über das Telefonieren greift die Beobachtung eines zunehmenden Alltäglichwerdens des Telefons auf und fragt aus der Sicht der Historischen Anthropologie nach den Veränderungen der ‚Verkörperungstechniken‘40 der Stimme. In dieser Perspektive erscheint das Mobiltelefon als eine „technische Prothese“41, als eine Veränderung der physischen Konzeption des Menschen in der Moderne. Die Frage nach den Folgen medialer Innovationen für die Konstitution des sozialen Körpers – der wesentlich durch die Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion determiniert ist – bestimmt die medienkulturwissenschaftliche Forschung seit Marshall McLuhans Intuition, dass neue Medien jeweils „neue Formen menschlichen Zusammenlebens“42 hervorbringen. Die Folgen der Auswei­ tung der Telefonie sind in dieser Perspektive noch weiter zu untersuchen, eine erste Fährte liefert jedoch Manfred Schneiders Begriff der „Paranoia der Erreichbarkeit“43.

39 Zelger: „Das Pferd frißt keinen Gurkensalat“. 40 Vgl. Macho: Stimmen ohne Körper. In: Kolesch/Krämer (Hrsg.): Stimme, S. 130–146. 41 Ebd., S. 144. 42 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 21. 43 Schneider: Im Informationsnetz gefangen. In: Kemper (Hrsg.): Handy, Swatch und Party-

Line, S. 19.

582

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VERWEISE  benachrichtigen |105|, funken |268|, wischen |641|,

zerstreuen |687|

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TEXTVERARBEITEN TILL A. HEILMANN

herstellers Xerox die prototypische Textverarbeitung für Personal Computer erfunden: Bravo, konzipiert und realisiert von Charles Simonyi (1948–), der wenige Jahre danach bei Bill Gates (1955–) anheuern und als dessen ChefSoftwarearchitekt u. a. die Entwicklung von Bravos wichtigstem Nachfolger, Microsoft Word, leiten sollte. Das auf Xerox’ Modell-PC Alto1 laufende BravoProgramm war einer der ersten word processors, die Mikrocomputer in funk­ tional erweiterte Schreibmaschinen verwandelten. Wer mit Bravo aber zur falschen Zeit auf dem Keyboard schreiben wollte, konnte eine böse Überra­ schung erleben. Befand sich das Programm nämlich gerade im sogenannten Befehlsmodus, führte etwa das Drücken der Tastenfolge E, D, I, T nicht – wie man es vom Gebrauch einer Schreibmaschine kannte und erwartet hätte – zur Buchstabenfolge ‚edit‘. Vielmehr war alles bisher Eingegebene plötzlich verschwunden und der Bildschirm des Alto zeigte nur noch ein einzelnes ‚t‘ an: Im Befehlsmodus hatte Bravo den Druck auf die Taste E als Kommando interpretiert, ‚alles auszuwählen‘ (‚Select Everyting‘), durch Druck auf D den soeben ausgewählten, und d. h. allen, Text ‚gelöscht‘ (‚Delete‘) und mit I vom Befehls- in den Eingabemodus gewechselt (‚Insert‘), in welchem der Druck auf die Taste T schließlich den Buchstaben ‚t‘ einfügte.2 Wie dieses Beispiel aus der Frühzeit der elektronischen Textverarbeitung deutlich macht, heißt Textverarbeiten mehr und anderes als Texte schreiben. Auf dem Computer ist Geschriebenes (und das meint in der Regel: auf der Tastatur Getipptes) ein informatisches Objekt maschineller Transformati­ onen und das Schreiben in der Tendenz ein ständiges Transformieren bzw. Umschreiben des bereits Geschriebenen – eine „unendliche Revision“3 –, ein­ schließlich der Option, einen Text in seiner Gesamtheit auf Tastendruck zu

textverarbeiten  Anekdote

ANEKDOTE  1974 wurde im kalifornischen Forschungslabor des Kopiergeräte­

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1 Siehe Friedewald: Der Computer als Werkzeug und Medium, S. 237ff. 2 Card/Moran/Newell: The Psychology of Human-Computer Interaction, S. 5f. 3 Derrida: Die Textverarbeitungsmaschine. In: Ders.: Maschinen Papier, S. 147.

585

löschen. Der mediale Gebrauch des Computers als ‚bessere‘ Schreibmaschine ist folglich darauf gerichtet, Texte ihrerseits zum Gegenstand eines erleichter­ ten Gebrauchs zu machen, sie einer möglichst mühelosen Manipulierbarkeit auf den verschiedenen Ebenen ihrer Ausführung (Buchstaben, Wörter, Sätze, Absätze, Abschnitte) zu unterwerfen. „Alles wird strukturell komplexer, um funktionell einfacher zu werden.“4

textverarbeiten  Etymologie

ETYMOLOGIE   Im Wort wie in der Sache ist Textverarbeiten eine junge

Erscheinung. Während ‚Text‘ wie auch ‚verarbeiten‘ im Deutschen spätestens seit dem Hochmittelalter bezeugt sind, ist das Kompositum ‚Textverarbeitung‘ (das Tätigkeitswort textverarbeiten wird selten verwendet) erst eine Erfindung des 20. Jhs.5 Geprägt wurde der Ausdruck in den späten 1950er oder frühen 1960er Jahren vom deutschen IBM-Manager Ulrich Steinhilper (1918–2009). Bemer­ kenswerterweise bezog sich die Wortschöpfung nur vermittelt auf Compu­ ter (die technische Plattform heutigen Textverarbeitens). Steinhilper begann seine Karriere bei IBM Deutschland 1953 als Verkäufer elektrischer Schreib­ maschinen. Zu jener Zeit befand sich das Unternehmen im Umbruch vom bedeutenden Büromaschinenfabrikanten zum weltweit größten Hersteller und Anbieter digitaler Computer. Das Geschäft mit der elektronischen Datenver­ arbeitung wurde schnell zur umsatzstärksten und prestigeträchtigsten Sparte von IBM. Um seiner eigenen Tätigkeit und Abteilung dieselbe Anerkennung zu verschaffen, die dem Computergeschäft innerhalb wie außerhalb der IBM zuteil wurde, schuf Steinhilper in Analogie zur Rede von der ‚Datenverar­ beitung‘ den Begriff ‚Textverarbeitung‘. Er sollte die Gleichrangigkeit von Computer- und Schreibmaschinengeschäft zum Ausdruck bringen und es erlauben, Schreibmaschinen auf dieselbe Art wie Computer zu bewerben und zu vertreiben: als Teil eines umfassenden Konzepts zur Organisation und Abwicklung von Büroarbeit.

4 Flusser: Die Schrift, S. 20. 5 Vgl. (Art.) Text; verarbeiten. In: Grimm online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB

[aufgerufen am 12.12.2013]; Heilmann: Textverarbeitung, S. 145.

586

Nach eigenen Angaben ersann Steinhilper 1956 zuerst den engl. Ausdruck „word processing“6, um ihn und das zugehörige Verkaufskonzept der ameri­ kanischen Firmenzentrale von IBM beliebt zu machen. Dass bei der späteren Eindeutschung aus ‚word processing‘ nicht ‚Wortverarbeitung‘, sondern ‚Text­ verarbeitung‘ wurde, war, laut Steinhilper, dem Einspruch des Geschäftsbe­ reichs Datenverarbeitung geschuldet: Die EDV reklamierte ausgerechnet das Wort ‚Wort‘ in der Bedeutung als kleinste adressierbare Dateneinheit für sich.7

geschäftliche und der private Bereich. Diese Unterscheidung verweist zugleich auf eine historische Verschiebung des Textverarbeitens: aus den Büroräumen der 1960er und 1970er Jahre in die seit den 1980er Jahren entstehende Welt des Personal Computing. In einer ersten Phase, beginnend mit der Prägung des Begriffs durch Stein­ hilper um 1960, wurde der Ausdruck ‚Textverarbeitung‘ ausschließlich im betrieblichen Umfeld verwendet und war nur Fachleuten bekannt. Textverarbeiten war – ganz im Sinne des Erfinders – eine Frage der Arbeitsorganisation: eine Angelegenheit von Sekretärinnen, Sachbearbeitern und Vorgesetzten sowie den ihnen zur Verfügung stehenden Geräten, um das Schreiben im Büro möglichst effizient zu gestalten. In der zweiten (und bis heute andauernden) Phase, die mit dem Aufkom­ men der PC-Technik am Ende der 1970er Jahre begann, zog Textverarbeitung in den privaten Raum ein und der Begriff ging in den allgemeinen Sprach­ gebrauch über. Mit dem gesamtgesellschaftlichen Durchbruch des Personal Computers wurde auch der heimische Schreibtisch zum Ort des Textverarbei­ tens. Entsprechend erweiterte sich dessen Bereich: Nicht mehr nur geschäft­ liche Korrespondenz, sondern Dokumente aller Art sind nun Gegenstand der Textverarbeitung, vom persönlichen Brief über die Klubzeitschrift bis zum literarischen Werk.

textverarbeiten  Kontexte

KONTEXTE  Es können zwei Verwendungskontexte unterschieden werden: der

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6 1971 verlieh IBM Steinhilper den Outstanding Achievement Award, „in recognition of his

authorship and promotion of the term ‚Word Processing‘.“; zit. n. Steinhilper: Don’t Talk – Do It!, S. 165f.; siehe auch die entsprechende Abbildung unter: http://www.steinhilper.de/steinhilp/ tv.php [aufgerufen am 07.03.2014]. 7 Vgl. Steinhilper: Don’t Talk – Do It!, S. 135.

587

textverarbeiten  Konjunkturen

KONJUNKTUREN  Das Wort ‚Textverarbeitung‘ hat in seiner kurzen Geschichte

zwei große Umdeutungen erfahren, weshalb man von drei semantischen Kon­ junkturen des Textverarbeitens sprechen kann: Die erste betraf den Gebrauch von Arbeitskräften, die zweite den von Büromaschinen, die dritte (gegenwär­ tige) betrifft den von PC-Programmen. Ursprünglich meinte ‚Textverarbeitung‘ ein bestimmtes Arbeitssystem im Bürowesen. Tatsächlich propagierte der Schöpfer des Begriffs, Steinhilper, darunter ein aus dem frühen 20. Jh. stammendes Konzept zur planmäßigen Verrichtung der im Büro anfallenden Schreibarbeit. Der Ausdruck ‚Textver­ arbeitung‘ war also neu, die Idee war es keineswegs. Arbeitswissenschaftler wie William Henry Leffingwell (1876–1934) hatten bereits in den 1910er und 1920er Jahren eine Taylorisierung des Büros gefordert, bei der die Rationa­ lisierung von Korrespondenz eine wichtige Rolle spielte. Kerngedanke war die Einrichtung sogenannter typing pools, d. h. von „Schreibsekretariaten“ in Betrieben und Verwaltungen: In diesen räumlich gesonderten Abteilungen sollten alle zu schreibenden Briefe und anderen Papiere von eigens dafür abgestellten Typistinnen zentral angefertigt werden. Insbesondere sollten die Sekretärinnen Diktate nicht mehr selbst aufnehmen, sondern bloß ins Reine schreiben: Sachbearbeiter und Vorgesetzte würden ihre Briefe in den Phonographen diktieren und die besprochenen Tonwalzen zur Bearbeitung ins Schreib­sekretariat schicken. Strikte Arbeitsteiligkeit, geregelte Informa­ tionsflüsse und durchorganisierte Abläufe versprachen eine verbesserte Kon­ trolle und gesteigerte Produktivität der Angestellten.8 Steinhilper griff diese Idee (welche die antike Unterscheidung von dictator und scriptor mit neuer Medientechnik in eine auch örtliche Trennung der Akteure übersetzte) wie­ der auf und pries sie unter dem Namen ‚Textverarbeitung‘ als fortschrittliches Organisationskonzept für die moderne Bürowelt und deren stetig wachsende Papierberge an.9 Dabei kam ihm zugute, dass in den 1960er Jahren die ersten Diktiergeräte mit Magnetband serientauglich wurden, was eine erhebliche Erleichterung des Diktierens, Abhörens und Verschriftens bedeutete.

8 Vgl. Haigh: Remembering the Office of the Future. In: IEEE Annals of the History of

Computing, S. 11.

9 Vgl. Heilmann: Textverarbeitung, S. 145ff.

588

textverarbeiten  Konjunkturen

Zu Beginn der 1970er Jahre wurde der Begriff ‚Textverarbeitung‘ an die Öffentlichkeit getragen. IBM griff Steinhilpers Ausdruck auf und machte ihn zum Schlagwort ihrer Werbekampagnen für Büromaschinen. Nachdem die US-amerikanische Firmenleitung jahrelang eher verhalten auf Stein­ hilpers Ideen zur Textverarbeitung reagiert hatte, vermarktete man nun unter der Bezeichnung „word processing machines“ das gesamte Produkt­ sortiment fürs Büro, vom Diktiergerät über die Schreibmaschine bis zum Fotokopierer.10 Andere Unternehmen folgten IBMs Beispiel, und bald war ‚word processing‘ bzw. ‚Textverarbeitung‘ zu einem branchenüblichen, über die Geschäftswelt hinaus bekannten Sammelbegriff geworden. Die ältere Bedeutung blieb zwar noch bis Ende der 1970er Jahre bestehen, trat dabei aber zusehends in den Hintergrund (zumal der typing pool nie ein beson­ ders beliebtes Organisationskonzept gewesen war). Textverarbeiten hieß nicht mehr in erster Linie, als Bürokraft in ein tayloristisches Arbeitssys­ tem eingepasst zu sein, sondern meinte den Einsatz von Büromaschinen zur Optimierung der Dokumentenerstellung. Gegenüber dem ‚word processing‘ gewann der Ausdruck ‚word processor‘ an Prominenz, der immer häufiger für das Gerät und nicht die das Gerät bedienende Person stand. Die ersten kommerziell erhältlichen Computer zum Textverarbeiten markierten den Höhepunkt dieser Entwicklung, ihre Technologie kündigte jedoch schon den folgenden Umschwung an: Sogenannt dedizierte Textverarbeitungs­ systeme – kostspielige, aber einfach zu bedienende und für Schreibarbeiten zugeschnittene Computer auf Mikroprozessorbasis mit Typenraddruckern für die hochwertige Ausgabe von Briefen u. Ä. – wurden gängige Büroaus­ stattung vieler mittlerer und größerer Betriebe und leiteten die Ablösung der elektrischen Schreibmaschine durch die elektronische Textverarbeitung ein.11 Bekanntester Vertreter dieser Gerätekategorie war das populäre 1200 Word Processing System der Wang Laboratories von 1976, aber auch IBM, Xerox oder Lanier und heute vergessene Hersteller wie Lexitron, Linolex und Vydec boten entsprechende Produkte an.

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10 Vgl. Haigh: Remembering the Office of the Future. In: IEEE Annals of the History of

Computing, S. 9.

11 Vgl. ebd., S. 16ff.

589

textverarbeiten  Konjunkturen

Mit dem Personal Computer, der sich Ende der 1970er Jahre anschickte, die Medienlandschaft zu revolutionieren, verengte sich der Begriff ‚Textver­ arbeitung‘, um seine gegenwärtige Bedeutung und Bekanntheit zu erlangen. Die Fortschritte in der Mikroprozessortechnik, welche die teuren dedizierten Textverarbeitungssysteme im Büro getragen hatte, machten Computer für die Massen erschwinglich und brachten das Textverarbeiten an noch mehr Arbeitsplätze, aber auch zu immer mehr privaten PC-Besitzern nach Hause. Neben Spielen und Tabellenkalkulationen waren Programme zur Textverar­ beitung die „Killerapplikation“, die dem PC zum gesamtgesellschaftlichen Durchbruch verhalf. Das erste – und kommerziell überaus erfolgreiche – Pro­ gramm dieser Art dürfte Michael Shrayers Electric Pencil gewesen sein: Eine an Weihnachten 1976 für den „Ur-PC“ MITS Altair 8800 vorgestellte, rudi­ mentäre Textverarbeitung, die in den folgenden Jahren weiterentwickelt und für viele andere Maschinen und Betriebssysteme portiert wurde.12 Während anfangs noch hunderte verschiedener Textverarbeitungsprogramme um die Gunst der Käufer kämpften, kam es mit der Etablierung des IBM PC als de facto Hardware-Standard zur Konsolidierung auch bei der Software: Nachei­ nander beherrschten erst MicroPros WordStar (ca. 1981–1986), SSIs WordPerfect (ca. 1986–1992) und schließlich das vom ehemaligen Xerox PARC-Mitarbeiter und Bravo-Entwickler Simonyi verantwortete Microsoft Word (seit ca. 1993) das Feld.13 Was Bedienung, Funktionalität und Ausgabequalität anbelangte, waren die frühen PCs dedizierten Systemen in Sachen Textverarbeitung klar unterlegen. Spätestens mit dem von Aldus’ PageMaker-Software für den Apple Macintosh und LaserWriter eingeführten grafischen Desktop-Publishing (1985) setzten sich die universell programmierbaren Personal Computer aber auch im Bereich Textverarbeitung gegen Speziallösungen wie Wangs Word Pro­ cessing System durch. Seither bedeutet Textverarbeiten den Gebrauch einer entsprechenden PC-Software für berufliche wie private Zwecke. Der Bedeutungswandel vom Organisationskonzept über Büromaschinen hin zu Programmen für Personal Computer schlägt sich – mit der erwartbaren 12 Vgl. Heilmann: Textverarbeitung, S. 189ff. 13 Vgl. Bergin: The Origins of Word Processing Software for Personal Computers. 1976–1985.

In: IEEE Annals of the History of Computing; ders.: The Proliferation and Consolidation of Word Processing Software: 1985–1995. In: IEEE Annals of the History of Computing.

590

GEGENBEGRIFFE   Mögliche Gegenbegriffe zum Textverarbeiten sind nach

zwei Seiten hin zu suchen: in Opposition zum einen oder zum anderen Teil des Kompositums. Dem Textverarbeiten ist das Datenverarbeiten gegenüberzustellen. Im engeren Sinne ist damit (statt des persönlichen, interaktiven Gebrauchs eines Mi­krocomputers als ‚bessere Schreibmaschine‘) der unpersönliche, nicht-interak­ tive – und geschichtlich frühere – Einsatz von Großrechnern zum Prozessieren alphanumerischer Daten im großen Maßstab gemeint (zur Statistik, Buchhaltung,

textverarbeiten  Gegenbegriffe

Verzögerung – im DUDEN nieder. Im GROßEN DUDEN aus dem Jahr 1969 findet sich noch kein Lemma zum Textverarbeiten. Erst im sechsbändigen GROßEN­ WÖRTERBUCH von 1981 erhält es einen Eintrag: „[Text]~verarbeitung, die (Bürow.): Verfahren zur Rationalisierung des Formulierens, Diktierens, Schrei­ bens und Vervielfältigens von Texten“14. In der zweiten, achtbändigen Auflage von 1995 kommen das „Textverarbeitungsgerät; das (Bürow., Datenverarb.): Gerät (wie Schreibautomat, Computer o. Ä.), das zur Textverarbeitung dient“ und das „Textverarbeitungssystem, das (Bürow., Datenverarb.): Textverarbei­ tungsgerät, mit dem in Verbindung mit geeigneter Software die Textverar­ beitung elektronisch erfolgt“15, hinzu. In der dritten, zehnbändigen Auflage von 1999 erscheint schließlich das „Textverarbeitungsprogramm; das (Bürow., EDV.): Computerprogramm, das zur Erstellung, Änderung u. Speicherung von Texten dient“16. Gegenwärtig bedeutet Textverarbeiten somit, die Rolle des Schreibers mit denen des Lektors/Korrektors und des Typografen zusammenzubringen und vormals getrennte Phasen der Dokumentenerstellung (Texte entwerfen, glie­ dern, skizzieren, formulieren, überarbeiten, korrigieren, formatieren, layoutieren und drucken) auf einer technischen Plattform – dem PC – zu integrieren.17

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14 (Art.) Textverarbeitung. In: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1981),

S. 2584.

15 (Art.) Textverarbeitungsgerät; Textverarbeitungssystem. In: Duden. Das große Wörterbuch

der deutschen Sprache (1995), S. 3381.

16 (Art.) Textverarbeitungsprogramm. In: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Spra­

che (1999), S. 3892.

17 Vgl. Pospeschill: Schreiben mit dem Computer. In: Günther/Ludwig (Hrsg.): Schrift und

Schriftlichkeit, S. 1070ff.

591

textverarbeiten  Perspektiven

Materialwirtschaft, Gehaltsabrechnung usw.). Im weiteren Sinne kann man darunter alle elektronischen Verfahren zur Bearbeitung von Zahlen, Tönen und Bildern verstehen, d. h. die computergestützte Gestaltung anderer Basismedien. Das Textverarbeiten kontrastieren andere Techniken im Feld der Schrift, v. a. das Schreiben von Text. Das paradigmatische Gegenstück zum Textverarbeiten (als dem elektronisch erleichterten Prozessieren von Geschriebenem, insbesondere dem Verwalten, Überarbeiten und Gestalten von Text) wäre somit das Schreiben als gedankliches Konzipieren und stilistisches Formu­ lieren neuer Texte. Mit dieser Gegenüberstellung verbindet sich zugleich eine zweite Opposition: die zwischen maschineller und manueller Verfahrensweise. Wo das Textverarbeiten mit dem Tippen auf der Tastatur Druckschriftlich­ keit impliziert, da wird die ‚eigentliche‘, ‚ursprüngliche‘ Art zu Schreiben für gewöhnlich mit Handschriftlichkeit – dem Führen eines Stilus, einer Feder, eines Stifts usw. – identifiziert. PERSPEKTIVEN  Das Erstellen von – zumal längeren, für die Öffentlichkeit

oder zumindest einen erweiterten Personenkreis gedachten – Texten geschieht heute in aller Regel mittels Textverabeitungssoftware auf Personal Compu­ tern. Das Textverarbeiten darf daher als das dominante medientechnische Verfahren der Vorbereitung zu publizierender Dokumente gelten. Wo man Geschriebenem mit Öffentlichkeitscharakter begegnet, hat man es übli­ cherweise mit in diesem Sinne ‚verarbeiteten‘ Texten zu tun. Weil moderne Gesellschaften – den allgegenwärtigen individual- und massenmedialen Bild- und Tonangeboten zum Trotz – schriftbasierte Systeme sind,18 ist das Textverarbeiten ein technologischer Kristallisationspunkt der informatio­ nellen Reproduktion von Gesellschaft. Eine wissenschaftliche Betrachtung des Textverarbeitens verspricht deshalb (so sie über den Bereich des bloß Apparativ-Technischen hinausgeht) Einsichten in viele gesellschaftliche Felder. Für geistes- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen dürfte die Untersuchung des ‚Verarbeitens‘ von literarischen, wissenschaftlichen und journalistischen Texten sowie von Lehr- und Gebrauchstexten aller Art besonders fruchtbar sein.

18 Vgl. Peters: Writing. In: Valdivia et al. (Hrsg.): The International Encyclopedia of Media

Studies, S. 4ff.

592

vergleichsweise schmal. Angesichts der multimedialen Kapazitäten des Perso­ nal Computers und seiner Vernetzung zum globalen Kommunikationsmedium schien seine Verwendung als ‚bessere Schreibmaschine‘ ein wenig interessanter, weil alltäglicher oder geradezu trivialer Fall.19 Wenn die Computerisierung von Schrift und Schreiben thematisch wurde, ging es meist um offenkundig neu­ artige Phänomene wie Hypertextualität, Netzliteratur, Chatten usw. Seit aber die Monopolstellung des PC – der technischen Plattform für Textverarbeitung – durch Entwicklungen wie Ubiquitous Computing mit Smartphones, Tablets, Wearables usw. unter Druck geraten ist und seine (wenigstens teilweise) Ablö­ sung durch neue Geräte und Dienste erkennbar wird, scheint das medienwis­ senschaftliche Interesse an der Historizität des Textverarbeitens zu wachsen.20 Möglicherweise bietet gerade der gegenwärtig sich vollziehende Umbruch in der digitalen Medienlandschaft und das sich abzeichnende Verschwinden des PC in seiner vertrauten Form die Gelegenheit, eine vorläufige Bilanz des während der vergangenen drei Jahrzehnte gültigen Modells der Textverarbei­ tung – der PC-Software nach der Art von Microsoft Word – aus medienwissen­ schaftlicher Sicht zu ziehen. Neben einer gründlichen Darstellung seiner tech­ nik- und kulturgeschichtlichen Grundlagen und Kontexte wäre der Gebrauch des Computers zum Textverarbeiten v. a. auf seine Wirkmächtigkeit u. a. für die verarbeiteten Texte (ihre Entstehung, inhaltliche und formale Gestalt usw.), für deren Veröffentlichung, Archivierung und Überlieferung (Digital Rights Management, Formate und Standards, Haltbarkeit digitaler Daten usw.) sowie gesellschaftliche Einbettung (Schriftspracherwerb, Medienkompetenz, Wis­ sensmanagement usw.) und – nicht zuletzt – für die Entwicklung seines eige­ nen medientechnischen Dispositivs (des PC) hin zu untersuchen. Schließlich wären die aktuellen und bereits absehbaren Entwicklungen im technischen Bereich (z. B. Weblogs, Touchscreens, automatische Spracherkennung und Self-Tracking) daraufhin zu befragen, wie sie das Textverarbeiten in seiner heutigen Form verändern, ergänzen oder gar ersetzen könnten.

textverarbeiten  Forschung

FORSCHUNG  Die medienwissenschaftliche Literatur zum Textverarbeiten ist

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19 Siehe beispielhaft Kittler: Es gibt keine Software. In: Ders.: Draculas Vermächtnis, S. 229,

240.

20 Siehe Heilmann: Textverarbeitung; und den voraussichtlich 2015 erscheinenden Band von

Kirschenbaum, Matthew G.: Track Changes. A Literary History of Word Processing, Cam­ bridge/MA.

593

LITERATUREMPFEHLUNGEN Derrida, Jacques: Die Textverarbeitungs­

maschine. In: Ders.: Maschinen Papier.

Das Schreibmaschinenband und andere

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Haigh, Thomas: Remembering the Office of the

Future. The Origins of Word Processing and Office Automation. In: IEEE Annals of the

History of Computing, Bd. 28, Nr. 4 (2006),

Heim, Michael: Electric Language. A Philo­ sophical Study of Word Processing, New

­Haven (1987).

Pias, Claus: Digitale Sekretäre. 1968, 1978, 1998. In: Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph (Hrsg.):

Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich (2003), S. 235–251.

S. 6–31.

VERWEISE   formatieren |253|, klicken |332|, löschen |429|, schreiben |482|,

tippen |596|

textverarbeiten  Literaturempfehlungen

BIBLIOGRAFIE (Art.) Textverarbeitung. In: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (in

sechs Bänden), Bd. 6, Mannheim u. a. (1981),

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(Art.) Textverarbeitungsgerät; Textverarbei­

tungssystem. In: Duden. Das große Wörter­

buch der deutschen Sprache (in acht Bänden),

2. Aufl., Bd. 7, Mannheim u. a. (1995), S. 3381.

(Art.) Textverarbeitungsprogramm. In: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Spra­

che (in zehn Bänden), 3. Aufl., Bd. 9, Mann­

heim u. a. (1999), S. 3892.

Bergin, Thomas J.: The Origins of Word Pro­

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1976–1985. In: IEEE Annals of the History of Computing, Bd. 28, Nr. 4 (2006), S. 32–47.

—: The Proliferation and Consolidation of Word Processing Software. 1985–1995. In: IEEE

Annals of the History of Computing, Bd. 28, Nr. 4 (2006), S. 48–63.

Bolter, Jay David: Writing Space. The Compu­

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­Zukunft?, 5. Aufl., Göttingen (2002).

Friedewald, Michael: Der Computer als

­Werkzeug und Medium. Die geistigen und

technischen Wurzeln des Personal Compu­ ters, Berlin (1999).

Heilmann, Till A.: Textverarbeitung. Eine Me­ diengeschichte des Computers als Schreib­

maschine, Bielefeld (2012).

Heim, Michael: Electric Language. A Philo­ sophical Study of Word Processing, New

­Haven (1987).

Kittler, Friedrich: Es gibt keine Software. In: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig (1993), S. 225–242.

Peters, John Durham: Writing. In: Valdivia,

Angharad N. et al. (Hrsg.): The International Encyclopedia of Media Studies, Bd. 1, New

York (2013), S. 3–22.

Pospeschill, Markus: Schreiben mit dem Com­

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(Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit, Bd. 2,

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Berlin u. a. (1996), S. 1068–1074. In Reihe

len: The Psychology of Human-Computer

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Card, Stuart K./Moran, Thomas P./Newell, Al­ Interaction, Hillsdale/N.J. (1983).

Derrida, Jacques: Die Textverarbeitungs­

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ten, Wien (2006), S. 141–156.

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Flusser, Vilém: Die Schrift. Hat Schreiben

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Steinhilper, Ulrich: Don’t Talk – Do It! From

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woerterbuchnetz.de/DWB [aufgerufen am 12.12.2013].

(Art.) verarbeiten. In: Grimm online: Unter:

Steinhilper, Ulrich: Textverarbeitung. Unter:

http://www.steinhilper.de/steinhilp/tv.php

[aufgerufen am 07.03.2014].

http://woerterbuchnetz.de/DWB/ [aufgeru­

textverarbeiten  Bibliografie

fen am 07.03.2104].

T

595

TIPPEN MARTIN ROUSSEL

ANKEDOTE  Ein Mensch in der Masse: In der Anfangsszene von Billy Wilders

tippen  Ankedote

THE APARTMENT (USA 1960) sieht man den Angestellten C.C. ‚Bud‘ Baxter in

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einem New Yorker Großraumbüro. „Consolidated Life“ heißt die Firma, und ‚konsolidiert‘, als verdichtetes Netzwerk zeigt sich der Arbeitsalltag, der vom Klappern, Ticken und Tippen, vom „clicking sound of business machines, […] that reduce people to mechanisms“, erfüllt ist – nebenbei „a classic example of the use of composition for the widescreen.“1 Dass das gesamte Arrangement tatsächlich Simulation ist – speziell angefertigtes Mobiliar und kleinwüchsige Schauspieler2 –, erhöht nur das Netz an Verweisen, mit dem die Szene in die Moderne eingelassen ist. Meistens wird sie als direkte Wiederaufnahme von King Vidors THE CROWD (USA 1928; dt. EIN MENSCH IN DER MASSE) gesehen.3 Mit seiner düsteren Gegenzeichnung des amerikanischen Traums, dem Ver­ lust des individualistischen Glücksversprechens in der anonymen Masse war THE CROWD stilbildend, unter anderem auch für die gewaltige Büroszene in Orson Welles’ LE PROCÈS (F, I, D 1962), die den kafkaesk-kafkaschen BürokratieApparaten einen zwischen lärmender Werkhalle und mystischer Kathedrale oszillierenden Resonanzraum gibt. In allen diesen Szenen ist das Tippen das Hintergrundgeräusch, heim­ licher Protagonist einer Moderne, die den Menschen als Eingabegerät einer maschinisierten Kultur refiguriert. Zentrale Metapher dieser Refiguration ist die Schreibmaschine, die anders als Rechenmaschinen und Telegrafen der Großraumbüros eine prothetische Mechanik (und gerade keine Maschine) ist, die das Schreiben der Hand technologisch erweitert.4 In ihrer elektroni­ schen Endform als ‚Schreibautomat‘ nimmt die Schreibmaschine Funktionen

1 Mast: The Comic Mind, S.  275. Vgl. die Zeichnung mit Alexandre Trauners set design in

Gemünden: A Foreign Affair, S. 127.

2 Vgl. Armstrong: Billy Wilder, American Film Realist, S. 106. 3 Vgl. zum Effekt des Verschwindens in der Masse und seiner filmischen Umsetzung Gemün­

den: A Foreign Affair, S. 125.

4 Vgl. technikbezogen Kunzmann: Hundert Jahre Schreibmaschinen im Büro.

596

Denn nirgends ist der Kontakt zwischen Gedanken und Wort enger als auf der Schreibmaschine. Freilich nicht zwischen Gedanken und Schrift. Die Hand, die ins Material der Tasten schlägt, kümmert sich nicht um das geschriebene Resultat, das weit oben am Horizont der Maschine vorüberschwebt. Sondern sie meißelt aus den Tasten Wortleiber, so deutlich, daß man sie oftmals in den Fin­ gern zu halten meint, unter deren Druck sie sich plastisch aus der Tastenfläche ausformen. Der Prozeß des Schreibens ist auf der Maschine aus einem zweidi­ mensionalen wieder dreidimensional geworden. Die Worte, so viele Jahrhun­ derte hindurch bloß gelesen, lassen sich wieder abtasten; so bekommen wir sie vielleicht endlich in die Gewalt, nachdem wir allzulange ihrer fremden Herr­ schaft ausgeliefert waren.9

tippen  Ankedote

computerbasierter Textverarbeitung vorweg. Im prothetischen Charakter des Maschinenschreibens liegen eine Fülle an anthropologischen Vorbehalten begründet, die wie im Falle des braven buddy C.C. Baxter eine kulturkriti­ sche Herangehensweise motivieren, die in der Form der Kinoromanze ein Glücksversprechen auch gegen die Signatur des Zeitalters in sich bergen kann. Für den Philosophen Martin Heidegger entreißt die Tastatur „die Schrift dem Wesensbereich der Hand, und d. h. des Wortes“, indem sie „das Wort zu einem Verkehrsmittel“5 degradiert. Am Ende des grafologischen Zeitalters sieht Heidegger die Schrift und damit ein zentrales Deutungsparadigma des Menschen in der Anonymität verschwinden: „In der Maschinenschrift sehen alle Menschen gleich aus“6. Der Mensch, und mit ihm die Zivilisation, scheint „s’éteindre dans le crépitement des téléscripteurs“7. Der Erfolgsgeschichte des Tippens tut dies keinen Abbruch: Eine Wer­ bung für die Remington Deluxe KMC im Time-Magazine am 29. März 1948 verspricht „8 Plus Values“, die das Gerät zu einem „stand out“ für den operator wie den executive machen soll.8 Den kulturdiagnostischen Rahmen für diese Vorteilsmatrix des technisierten Schreibens umreißt Theodor W. Adorno:

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5 Heidegger: Parmenides, S.  119. Zugrunde liegt die vermeintliche „Wesenszusammengehö­

rigkeit der Hand mit dem Wort als der Wesensauszeichnung des Menschen“, vgl. ebd., S. 125.

6 Ebd., S. 119. 7 Bassy: Machines à écrire: Machines à séduire ou machines à détruire? In: Christin (Hrsg.):

Écritures II, S. 368.

8 Vgl. ebd. zur positiv-negativen Spannung des ‚Verführungsmediums‘ Schreibmaschine. 9 Adorno: Worte ohne Lieder. In: Ders.: Gesammelte Schriften, S. 542f.

597

tippen  Ankedote

Zwischen anthropologischer Vorrangstellung der Hand und ihres Schreibflusses sowie der wiedererlangten Körperlichkeit des Schreibens mit der Hoffnung, die Schrifttypen und Wortleiber im referentiellen Spiel besser zu beherrschen als die ‚flottierenden Signifikanten‘, muss nicht entschieden werden. Vielmehr zeichnen sich die Umrisse einer medialen Epoche ab, die nicht aus dem posi­ tiv oder negativ erklärten Gegensatz zur Handschriftlichkeit hervorgeht. Zu tippen schließt die Hand nicht aus, sondern es erlaubt oder erzwingt eine Neu­ bestimmung des Schreibprozesses in seinen verschiedenen Techniken: „Daß die Schreibmaschine es unumgänglich macht, Handschrift zu typisieren“10, bemerkt Friedrich Kittler. Das tritt signifikant hervor im Schreiben Robert Walsers: 1920 nutzt der Schweizer die technologische Fortschrittsmetapher der Schreibmaschine noch zur ironischen Aufladung seines eigenen Schreibens, wenn er auf eine Fülle handbeschriebenen Papiers blickend, fragt: „War ich nicht beinahe eine Schreibmaschine?“11 In den 20er Jahren verschärft er seine Experimentalanordnung zur Lösung motorischer Schreibverkrampfungen, die in den Handschriften der Zeit ablesbar sind, indem er seine Handschrift miniaturisiert. Dieses mikrografische Experiment ist in Form von 527 Zetteln überliefert und erst seit den 1970er Jahren sukzessive entziffert und teilweise ediert worden. In einem aufschlussreichen ‚Mikrogramm‘ spricht Walser von seiner „an Schreibmaschinen denkende[n], kaffeehausbesucheinbetrachtzie hende[n] Ichheit“12. Die Schreibmaschine wird in der Verbindung mit der Versuchung eines Kaffeehausbesuches zu einer Metapher der Zerstreuung, Ablenkung vom Tagesgeschäft des konzentrierten Schreibens. Überwunden habe er diese „Schreibmaschinenbedenklichkeit“, in dem sie sich „nach und nach total verflüchtigte“. Umso eigenartiger erscheint die Begründung, die darauf hinausläuft, dass „ich hier ganz ungeschickt schreibe“13. Die Meta­ phorik des Schreibflusses im Gegensatz zur getippten Type verbindet sich mit einer Sprache der Abweichung und des Singulären: Ungeschicktheiten,

10 Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900, S. 316. 11 Walser: Sämtliche Werke, Bd. 16, S. 270. Zum tatsächlichen Fall einer „Mimesis des typogra­

phischen Schriftbildes“ bei Friedrich Dürrenmatt vgl. Stingelin: Ein Selbstporträt des Autors als Midas. In: Giuriato/Kammer (Hrsg.): Bilder der Handschrift, S. 269–292. 12 Walser: Aus dem Bleistiftgebiet, S. 49. 13 Ebd., S. 50.

598

14 Ebd.; Neuentzifferung „Fingerprinzip“ statt „Fingergesetz“ von „Bernhard Echte anstelle

der bisherigen hypothetischen Entzifferung“. Groddeck: Robert Walsers „Schreibmaschinen­ bedenklichkeit“. In: Giuriato/Stingelin/Zanetti (Hrsg.): Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: Von Eisen, S. 178, dort Anm. 27; vgl. zum Fingerprinzip Roussel: Matrikel, S. 263–272. 15 Vgl. Utz: Digitale Fingerübungen auf traurigen Tasten – eine Fußnote für Schreibhandwer­ ker. In: Gingko. Unter: http://www.gingko.ch/cdrom/Utz [aufgerufen am 21.04.2012]. 16 Grimm: Deutsche Rechtsaltertümer, S. 194. 17 Der Entwurfsstatus bleibt Walsers Mikrografien eingezeichnet, die erst in Reinschriften ‚lesbar‘, mithin Text werden. Auch dies unterscheidet sie vom ‚Handprinzip‘ im Zeitalter der Manuskripte. Hegel etwa stellt für „Handzeichnungen“ fest, „daß der ganze Geist unmittelbar in die Fertigkeit der Hand übergeht, die nun mit der größten Leichtigkeit, ohne Versuch, in augenblicklicher Produktion alles, was im Geiste des Künstlers liegt, hinstellt“ [Hegel: Werke, S. 69]. Entscheidend ist hier die Betonung der Unmittelbarkeit („ohne Versuch“), die Geist und Hand verbindet, während die Malerei wohl noch das „Seelenvolle“ [ebd.] hinzufüge, aber den Umriss der Ganzheit nicht mehr tangiert.

tippen  Ankedote

Widerstände, querlaufende Gedanken preist Walsers Schreiben beständig als Movens: „Oh wie duften diese Fehler vor Vollkommenheit!“ Ein zweiter supplementärer Gedanke konnotiert diese Art des Schreibens als ‚schreibma­ schinenbedenklich‘: „In zweiter Hinsicht überwand ich jene Schreibmaschi­ nenbedenklichkeit dadurch, daß ich der Handschriftidee, dem Fingerprinzip treu blieb.“14 Mit der Rückführung der „Handschriftidee“ – die als Idee bereits eine Vorstellung des Ganzen, mithin eine Differenzunterscheidung voraus­ setzt – auf ein „Fingerprinzip“ nutzt Walser wiederum Widerständigkeiten des materialiter Gegebenen. Allerdings scheint der Gegensatz von Handschreiben und Fingertippen bei Walser nur metaphorisch eine Rolle zu spielen; umso bedeutsamer erscheint die neue Qualifizierung des Handschreibens aus der Medienkonkurrenz zum Tippen.15 Als Arbeit in der Sprache konstituiert sich die mediale Praxis des Schreibens neu; sie greift auf überlieferte semantische Aufladungen zurück: Die „finger sind eigentlich der ausdrucksvolle theil der hand, daher wird die im allgemeinen der hand beigelegte symbolische verrichtung in vielen fällen genauer durch finger bezeichnet.“16 Denken kann man hier etwa an den Fingersatz aus der Musik, der als zusätzliche Applikatur über oder unter Noten die klanglichen Gestaltungsräume eines Interpreten beeinflusst. Im Falle Walsers erinnert die vielgestaltige Fingerassoziation an Adornos sorgsam gemeißelte Wortleiber, an das Formeninventar einer Tastatur und die Multioptionalität des Tippens.17

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599

tippen  Etymologie

An die Stelle gleitender Skalen eines Schreibflusses tritt hier ein Hantieren mit der Möglichkeit der Diversifikation in der Schrift. In selbstironischer Weise ist es am Ende dabei stets der kleine Finger, die mit einem Kafka-Anklang ‚kleine Literatur‘, der Walsers Mikrografie folgt. „Mein kleiner Finger redet mir in einem fort vor“18, heißt es in einem narrativen Wunschbild von 1925, das an fingerspielende Kinderreime zu erinnern scheint; mit den Worten: „Nur klein werde ich hoffentlich hier sein. Hoffentlich werde ich hier nur wenig sagen“19, beginnt ein mikrografischer Entwurf. Walsers „Schreibmaschinenbedenklich­ keit“ entwickelt als metaphorischen Schreibhorizont genau das, was Walter Benjamin 1928 als Realphantasie entwarf, die sich im Computerzeitalter – der Zeit von Joysticks mit Force Feedback und Touchscreens mit versteckter Senso­ rik – als Realität abzuzeichnen beginnt; es ist, beinahe 100 Jahre später, der Abschied vom Tippen: „Die Schreibmaschine wird dem Federhalter die Hand des Literaten erst dann entfremden, wenn die Genauigkeit typographischer Formungen unmittelbar in die Konzeption seiner Bücher eingeht. Vermutlich wird man dann neue Systeme mit variabler Schriftgestaltung benötigen. Sie werden die Innervationen der befehlenden Finger an die Stelle der geläufi­ gen Hand setzen.“20 ETYMOLOGIE  Sensomotorische Differenziertheit und Bedeutung der Tak­ tilität als eines Kontaktsinnes gegenüber dem anthropologisch ‚Wesentlichen‘ der Handschrift spiegelt sich auch in den etymologischen Befunden. Das Wort Tippen ‚leicht berühren‘ ist ausgehend vom nieder- (und mittel-)dt. Raum seit dem 16. Jh. standardsprachlich belegt; seine Herkunft wahrscheinlich lautma­ lerisch. KLUGE listet keine Verbindung zu älteren Sprachstufen auf. Für die Wortgeschichte sind Beeinflussungen vom Engl. wichtig, wie etwa nhd. Tipp ‚Hinweis‘ verdeutlicht, das im 19. Jh. aus nengl. Tip entlehnt wurde, das zunächst ‚Spitze, Anstoßen‘ bedeutete.21 Der DUDEN beschreibt eine frühe genealogische Vermischung mit dem Nieder- und Mdt. dippen, tippen und engl. to dip, das

18 Walser: Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 241. 19 Ders.: Aus dem Bleistiftgebiet, S. 296. 20 Benjamin: Einbahnstraße. In: Ders.: Gesammelte Schriften, S. 105. 21 Vgl. (Art.) tippen. In: Kluge, S. 918; vgl. Venema: Zum Stand der Zweiten Lautverschiebung

im Rheinland, S. 169f.

600

im Nhdt. später zu tupfen wird.22 Auch das DEUTSCHE WÖRTERBUCH kennt Querbezüge zwischen dem Dt. und Engl. und erläutert tippen als „rasch mit einer spitze berühren“23. Valenzen wie die Betonung der Taktilität (gegenüber dem ‚Wesentlichen‘), der Flüchtigkeit (gegenüber dem zeitübergreifenden) und der äußersten Gliedmaße bis hin zum prothetischen Charakter (gegenüber dem ‚ganzen Mensch‘) prägen auch hiervon abgeleitete Verwendungsweisen.

ist an die Wortbedeutung ‚leicht anstoßen‘ (bspw. ‚auf die Schulter tippen‘) ange­ lehnt und beeinflusst von engl. to type (write), das auf den Gebrauch von type ‚Druckletter‘ im Druckwesen seit dem frühen 18. Jh. zurückgeht. Den Gebrauch im Dt. weisen die Wörterbücher als umgangssprachlich aus; er hängt mit der seriellen Schreibmaschinenproduktion und ihrer massenhaften Verbreitung v. a. seit den 1920er Jahren eng zusammen. Wortgeschichtlich aufschlussreicher ist die zwar nicht sprachgeschichtlich, aber wohl bedeutungsgeschichtlich (und auch klanglich nahe), interessantere Beziehung zu engl. type. Im Dt. bleibt Type deutlich ambig und setzt sich gegen Konkurrenzbegriffe wie Letter nicht klar durch. Frz./engl. type ‚Urbild, Muster, Ausführung, Sinnbild, Drucklet­ ter; Teil der Schreibmaschine‘ leitet sich ab von nlat. Typus ‚Drucktypus‘, lat. typus ‚Figur, Bild, Symbol, äußerliche Form‘, griech. τýπος týpos ‚Schlag, Stoß, Figur, Gepräge, Form‘, die Nominalform zu griech. τύπτειν týptein ‚schlagen, stoßen, hauen, stechen, treffen‘.25 Die Wuchtigkeit des vorelektronischen Tip­ pens findet hier ihren Resonanzboden. Als weiterer Kontext ist ‚wetten‘ (‚auf etwas tippen‘) denkbar.

tippen  Konjunkturen

KONTEXTE  Die transitive24 Bedeutung von tippen ‚Schreibmaschine schreiben‘

KONJUNKTUREN  Das Zeitalter der Schreibmaschine beginnt im späten 19. Jh.,

auch wenn die Idee zu einem Schreibapparat bereits spätestens 1714 von Henry Mill patentiert wurde. Als entscheidend für die Mediengebrauchsgeschichte war weniger die Geschichte der technischen Erfindungen: Giuseppe Ravizzas

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22 Vgl. (Art.) tippen. In: Duden. Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, S. 848. 23 (Art.) tippen. In: Grimm, Sp. 504. 24 Seltener auch intransitiv, z. B. ‚mit zwei Fingern tippen‘. 25 Vgl. Tischner: (Art.) tippen. Unter: http://www.heinrich-tischner.de/22-sp/2wo/wort/idg/

deutsch/t/tippen.htm [aufgerufen am 21.04.2012].

601

tippen  Konjunkturen

Cembalo Scrivano von 1855, mit Klaviertasten,26 verwendete bereits Typenhebel, Schreibwalze und Farbband; Peter Mitterhofers funktionstüchtige Modelle wurden von den Gutachtern des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. 1866 in ihrer Bedeutung verkannt. Als erster – zumindest in einer experimentellen Phase – maschineschreibender Philosoph gilt Friedrich Nietzsche; sein Modell, die „Skrivekugle“ des Dänen Rasmus Malling-Hansen, gilt als erste in Serie hergestellte Schreibmaschine (Entwicklung 1865, Patent 1870).27 Parallel wurde eine von Christopher Latham Sholes, Carlos Glidden und Samuel W. Soulé im Kleinsteuber’s Machine Shop in Milwaukee konstruierte Maschine ab 1873 als „Sholes & Glidden Type-Writer“ von der Remington Arms Company, New York – bis dato für Waffen und Nähmaschinen bekannt – seriell vermark­ tet. Für diese Maschine entwickelte Sholes 1868 die bis heute gebräuchliche QWERTY-Tastatur (s.u.). Auf der „Remington No. 1“ tippte u. a. der ‚erste‘ maschinenschreibende Schriftsteller, Mark Twain. Bereits um die Jahrhun­ dertwende waren Schreibmaschinen weit verbreitet; das Modell Underwood, mit dem beispielsweise Robert Musil schrieb, wurde seit 1896 über 12 Mio. Mal produziert. Die Elektrifizierung der Schreibmaschine ändert über Jahr­ zehnte wenig an den Gebrauchstechniken. Zu Ende geht das Zeitalter in den 1990er Jahren mit der Dominanz von Textverarbeitungsprogrammen am Computer; noch bis Ende der 1980er Jahre waren elektronisch unterstützte Schreibmaschinen mit Zwischenspeicher, Display usf. alternativen Textverar­ beitungssystemen mit den damals üblichen Matrixdruckern vom Schriftbild her überlegen. Demgegenüber ist die digitale Rechenmaschine dem Prinzip nach nicht an spezifische Eingabegeräte gekoppelt. Zwar bleiben Tastaturen wichtige analoge Eingabegeräte, durch Techniken wie copy & paste, die Maus als Steuerungsinstrument oder Grafiktabletts verliert das Tippen jedoch an Bedeutung im Feld des Schreibens/Eingebens. Gleiches gilt für die Topik der Sekretärin, die mit der Schreibmaschine „als bis dahin unbekannte[r] Typ der berufstätigen Frau“ den Wandel vom „Einmannbüro […] zum arbeitsteiligen Büro“28 prägte. Diese emanzipatorische Geschichte lässt sich bis zur ‚Tippse‘ – 26 Genealogisch erscheint das Klavierspielen der ‚höheren Töchter‘ als fingermotorische Vor­

übung für das Tippen der Sekretärinnen in der Moderne.

27 Hervorragend dokumentiert und kommentiert in Nietzsche: Schreibmaschinentexte. 28 Kunzmann: Hundert Jahre Schreibmaschine im Büro, S. 14.

602

tippen  Konjunkturen

abwertend als bloßes Schreibinstrument eines Chefs – jedoch auch kritisch von den Anfängen ‚weiblichen‘ Tippens gegenlesen: „Noch 1880 beauftragte man in den USA einen Ärztekongreß, festzustellen, ob den Frauen die Anstren­ gungen des Maschinenschreibens zuzumuten seien.“29 Der Maler Sam Messer hat den für das Schreiben maßgeblichen Einfluss der Schreibmaschine, mithin des Tippens für das Bild eines ‚Autors‘ in einer Bilderserie der Olympia-Schreibmaschine Paul Austers in emotiver Ausma­ lung verdeutlicht.30 Wie Auster in einem hierzu geschriebenen Text verdeut­ licht, bringt diese Bilderserie, mit der Auster sich 2002 selbst als „letzte[n] heidnische[n] Posten in einer Welt voller digitaler Konvertiten“31 charakteri­ siert, die Schreibmaschine prägnant zu einem Zeitpunkt zu Bewusstsein, als ihre unbewusst prägende Charakteristik zu schwinden beginnt. Gegenüber den simulativen und am Layout orientierten Funktionen, die eine Software am Computer bieten kann, orientiert sich die Schreibmaschine am Zeital­ ter des Bleisatzes; mithin kann sie das Phantasma einer privaten Druckerei unterstützen. Bei Walser spielen diese Vorstellungen eine Rolle, etwa wenn seine Mikrogramme – häufig Entwürfe fürs Feuilleton verfasst – mitunter mit dem Eindruck einer Zeitungsseite in nuce spielen. Als Kulturtechnik systematisch verfügbar gemacht, wird das Tippen mit dem Erlernen des Zehnfingersystems, das im Blind- oder Tastschreiben den koordinierten Einsatz von zehn (häufig auch unter Weglassung des linken Daumens neun) Fingern erlaubt, die im Ausgang von der Grundstellung a-sd-f (Finger der linken Hand) j-k-l-ö (Finger der rechten Hand) die gesamte Tastatur erschließen lässt. (Gegensatz: das ironisch als ‚Adlersystem‘ abgewer­ tete unqualifizierte ‚Kreisen und Stechen‘). Die QWERTZ-Tastaturbelegung (im angelsächsischen: QWERTY; nach der obersten Buchstabenreihe benannt) ist vielfach als unergonomisch kritisiert worden; Sholes Idee war es, in Texten häufig vorkommende Buchstabenkombinationen auf der Tastatur möglichst

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29 Ebd.; vgl. zu genderspezifischen Aspekten (sowie weiteren sozio-kulturellen Aufladungen der

Technik) den in der Zeitschrift autrement (Nr. 146, Juni 1994) veröffentlichten Band: Machines à écrire 30 Vgl. Auster/Messer: Die Geschichte meiner Schreibmaschine, S. 24. Originaltitel: The Story of my Typewriter. 31 Ebd.

603

tippen  Gegenbegriffe

zu trennen, um ein Verhaken der Typenhebel einzuschränken.32 Doch haben sich unter veränderten technischen Gegebenheiten weder Einhandtastaturen für das Fünffingerblindschreiben durchgesetzt noch alternative Tastaturbele­ gungen.33 Während es das Blindschreiben erlaubt, sich beim Tippen (sofern die Konstruktion der Schreibmaschine es ermöglicht) dem Ergebnis oder (beim Abschreiben oder Diktat) der Quelle zu widmen, rückt bei Computertastaturen die Relevanz von simultanen Tastenkombinationen in den Vordergrund. Dies nähert das ‚kürzende Tastschreiben‘ der Organisationsform eines Hypertextes an, der über Links funktioniert. Mit der Pluralisierung der Eingabegeräte und dem Verlust der primären Linearität des Schreibens,34 wie es für Hand- und Maschinenschriftlichkeit kennzeichnend ist, verschiebt sich auch die technik­ affine Aufmerksamkeitsökonomie: Galten Schreibmaschinen um 1900 als technische Meisterwerke, deren Konstruktionsprinzipien bücherfüllend sind,35 und konnte die Schreibmaschine im Verlauf des 20. Jhs. zum schriftstelleri­ schen Fetischobjekt werden, hat sich die mediale Vorrangstellung des Tip­ pens zugunsten von Touchscreens und v. a. Interfaces und Displays verlagert. GEGENBEGRIFFE  Kurt Tucholsky hat die für Schreibprozesse im 20. Jh. lei­ tende Unterscheidung von Handschreiben und Tippen in einer Glosse aus dem Jahr 1931 pointiert: „Darf man tippen –?“36 So rhetorisch die Frage ist, verrät der Gedankenstrich doch das provokative Potenzial. Eine Reihe an Synony­ men entsprechen dieser Wertigkeit, indem sie der für kulturtragende Werte wie die bis in die Handschriftlichkeit des Lebenslaufes getragene Kopplung von Individualität und Handschrift eine Flüchtigkeit, Beiläufigkeit oder gar Destruktivität einzeichnet: Als ‚Eingeben‘ erscheint das Maschinenschreiben

32 Vgl. die verschiedenen Tastaturen in der Übersicht bei Beeching: Century of the Typewriter,

S. 43–75.

33 Auch konnten sich auf dem Markt beispielsweise ‚geräuschlose‘ Schreibmaschinen über Jahr­

zehnte nicht durchsetzen; vgl. insgesamt zur ‚Benutzerfreundlichkeit‘ Campbell-Kelly: The Userfriendly Typewriter. In: The Rutherford Journal online. Unter: http://www.rutherfordjournal.org/ article010105.html [aufgerufen am 27.01.2014]. 34 Vgl. Flusser: Gesten, S. 33. 35 Das Standardwerk stammt von Burghagen: Die Schreibmaschine. 36 Erschienen unter dem Pseudonym Peter Panter. Vgl. Panter (= Tucholsky): Darf man tip­ pen –? In: Vossische Zeitung, S. 24.

604

neutralisiert; man kann aber auch ‚in die Tasten hauen‘, ‚hacken‘ oder ‚über die Tasten fliegen‘ (300 bis 400 Anschläge pro Minute erreicht ein professio­ neller Tipper). Diese an die Herkunft des Wortes Schreiben aus dem griech. γράφειν (graphein) ‚ritzen, schreiben‘ erinnernde Sprache spielt noch bei soge­ nannten Vollzeichendruckern mit Aufschlagtechnik eine Rolle, die aber von Tintenstrahldruckern und Laser- oder LED-Druckern mit entsprechendem Belichtungsverfahren und Tonerpartikel-Druckverfahren weitgehend abgelöst wurden.37 Unterbegriffe wie Blind- oder Tastschreiben denotieren spezifische Leistungen des Tippens. Oberbegriffe wie ‚schreiben‘, ‚abfassen‘, ‚zu Papier bringen‘, ‚notieren‘, ‚texten‘ oder ‚verfassen‘ verweisen das Tippen in je spezi­ fische Anwendungs- mitunter auch Zeitkontexte. Alternativen wie (Daten-) Typist, von engl. typist, haben sich nicht durchgesetzt.

bis Auster zeigen, verknüpft sich das Tippen mit einerseits modernistischen Phantasmen vom Verschwinden des Menschen in der maschinisierten Masse, andererseits aber gibt es der Figur des modernen Schriftstellers eine direkte körperliche Signatur. Gegenüber den vergeistigten Autorenbildern der Goe­ thezeit, die an Geniekonzepte oder emphatische Individualitätstopoi ange­ schlossen sind, setzt sich hiermit ein ‚realkörperliches‘ Autorenverständnis durch: Der Schriftsteller gewinnt wieder Züge eines Handwerkers, eines Bildhauers der Worte. Die zugrundeliegende Vorstellung ist dabei jedoch nicht weniger phantasmatisch als im Falle jenes ingenium est ineffabile,38 der Unaussprechlichkeit des Genies: Der Extremfall Walser zeigt prägnant, wie die Handschriftlichkeit im Lichte einer „Schreibmaschinenbedenklichkeit“ neu konstituiert wird. Gegenüber dem leichthändigen Schreibfluss, der Ideen zu beflügeln scheint, rückt eine bodenständigere Fabrikationsidee in den Vordergrund: „Ich habe mich im Leben aufs Vielfachste auf meine

tippen  Perspektiven

PERSPEKTIVEN  Wie die Beispiele von Nietzsche über Walser und Wilder

T

37 Eine Übersicht über Eingabegeräte (neben Ausgabegeräten und externen Speichern) gibt

Proebster: Peripherie von Informationssystemen. Die Übersicht wäre weniger kategorial als viel­ mehr in der Gewichtung fortzuschreiben. 38 Vgl. zur Nachgeschichte des Geniegedankens im 19.  Jh. Blamberger: Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabile?

605

beiden Hände gestützt.“39 Während die Wörterbücher den Wortgebrauch von Tippen als umgangssprachlich ausweisen und damit das ‚unintellektuelle‘ Moment bloß mechanischer Tätigkeit bezeichnen, erscheint in der Unter­ scheidung zum digitalen Zeitalter die alltägliche Gebrauchstauglichkeit des Tippens und seines Gerätes, der Schreibmaschine, als Indikator des, so Paul Auster, „Homo scriptorus des 20. Jahrhunderts“40. Ohne Schreibmaschine ist der Schriftsteller keiner mehr, wie es beispielsweise Don Birnam in Billy Wilders THE LOST WEEKEND41 (USA 1945) an sich erkennt. Der Schriftsteller als historisch konkrete Figuration, in seiner existentiellen Körperlichkeit, und nicht nur als Substrat idealtypischer Konzeption, erscheint hiermit eng verflochten.

tippen  Forschung

FORSCHUNG   Eine solche figurative und topologische Beschreibung mit

historischer Tiefenschärfe und Gegenzeichnung von der Mediennutzung des Computerzeitalters her kann von verschiedenen Forschungsperspekti­ ven profitieren.42 Vilém Flussers phänomenologische Ansätze liefern hierzu ebenso Ansatzpunkte wie eine Medien- als Technikgeschichte im Sinne von Friedrich Kittlers GRAMMOPHON, FILM, TYPEWRITER43. Direkt an Adornos Kritik an Heideggers Essentialisierung der Handschriftlichkeit schließt eine Beobachtung Flussers an: „Auf einer Maschine zu tippen […] ist die kenn­ zeichnendste Geste des Schreibens.“44 Denn „[w]er mit der Hand schreibt, befindet sich in den Außenbezirken der Schriftkultur, nämlich dort, wo noch

39 Walser: Aus dem Bleistiftgebiet, S. 50. 40 Auster/Messer: Die Geschichte meiner Schreibmaschine, S. 25. Vgl. die Variation der For­

mel im technik- und unternehmensgeschichtlichen Standardwerk von Beeching: Century of the Typewriter. Liebhaber alter Schreibmaschinen greifen zurück auf Martin: Die Schreibmaschine und ihre Entwicklungsgeschichte; Schreibmaschinen ab 1940 finden sich beschrieben in Ding­ werth: Lexikon historischer Schreibmaschinen. Einzelne Bedeutungsaspekte (wie etwa die ver­ schiedenen Schrifttypen oder die Einführung in Büros usf.) bietet: Laufer (Hrsg.): La machine à écrire, hier et demain. 41 The Lost Weekend. 1945. Paramount. 42 Einen Überblick zur Forschungslage verschafft Kammer: Tippen und Typen. In: Henkes/ Saller/Richter (Hrsg.): Text und Autor, S. 191–206. 43 Kittler: Grammophon, Film, Typewriter; vgl. ebd., S. 290–311 zu Nietzsche und zu gender­ spezifischen Aspekten. 44 Flusser: Gesten, S. 35.

606

45 Ders.: Die Schrift, S. 117. 46 Beim Tippen handelt es sich „um eine Automation (das heißt Verinnerlichung, Ver-Ichung)

tippen  Forschung

Kalligrafie und Grafologie, diese mittelalterlich anmutenden Lesarten, walten.“45 Kennzeichnend erscheint das Tippen auch deshalb, weil es direkt an den ety­ mologischen Befund des Schreibens im Sinn von graphein anschließt; ges­ tisch deshalb, weil es der automatisierten46 Schreibbewegung einen im Sinne Adornos bildhauerischen, dreidimensionalen Gestaltungsraum zurückgibt. Für Kittler wiederum erscheint der „Kult der Type“ um 1900 als Konsequenz eines „literarische[n] Bilderverbot[s]“, das Schreiben der Zeichnung entfremdet, indem es an Apparate, Schreibmaschinen delegiert wird.47 Das typing/Tippen ist Schaltstelle einer technischen Anordnung, die das Maschinenschreiben als direkte Kopplung von Apparat und Mensch in der Medienkonkurrenz zum automatisch abspielenden Filmbild konstituiert. Das Tippen als Kulturtech­ nik wäre demzufolge der simplen Rechenkunst des alphanumerischen Codes geschuldet, mithin der Kombinierbarkeit von Buchstaben, Zahlen und einigen Sonderzeichen. Auch dies erklärt, weshalb sich im digitalen Rechenzeitalter die Aufmerksamkeitsökonomien vom Schreiben weg zu den simulativen Periphe­ riegeräten verschieben, zur High Fidelity, zum Bildschirm und zur stufenlosen Sensomotorik sensibler Eingabegeräte, die technisch kaum von biometrischer Erkennungssoftware unterschieden sein müssen (Unterschied zur Tastatur: ein rechengesteuerter Prozessor steuert etwa mithilfe eines Lasers menschliche Fingerkuppen, die Iris des Auges o. Ä. und nicht umgekehrt). Für Untersuchungen zur Schriftbildlichkeit gilt im Allgemeinen „die Vernachlässigung des Maschinengeschriebenen als material rest “48, wohinge­ gen schreibgenealogische Untersuchungen dem „Zeitalter der Typoskripte“49 eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet haben – wohl auch wegen der inte­ ressanten Wechselbeziehungen zwischen Typoskript und handschriftlicher

T

[…], bei welcher das Schreiben wie das Gehen und das Sprechen zu einer Geste wird, bei der wir vergessen, ob wir sie jemals gelernt haben“ [ebd., S. 116]. 47 Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900, S. 304, 303. 48 Kammer: Tippen und Typen. In: Henkes/Saller/Richter (Hrsg.): Text und Autor, S. 198. Eine Ausnahme etwa Frensel/Hoffmann: Maschinenschriftenphilologie. In: Text: Kritische Bei­ träge, S. 33–57. 49 Vgl. die Reihe „Zur Genealogie des Schreibens“, hier insbes. Bd.  2: Giuriato/Stingelin/­ Zanetti (Hrsg.): Schreibkugel ist ein Ding von mir: von Eisen.

607

tippen  Forschung

Vorstufe ex ante oder Korrektur ex post.50 Jenseits typografischer Debatten spielt die Ästhetik des Schreibmaschinentexts, die sich ‚dicktengleichen‘ Schriften (nichtproportionale Schrittweite beim Tippen) verdankt, nur eine untergeordnete Rolle. In theoretischen Diskussionen gilt die Auf­ merksamkeit meist der Unterscheidung analog/digital oder kontinuierlich/ diskret, die meist in der Differenz von Handschrift und digitalem Code erläutert wird.51 Einen interessanten Nebenaspekt bietet die Geschichte der Schreib­ maschinen-Schriftarten: Seit dem frühen 19. Jh. waren bereits sogenannte Egyptienne-Schriftarten (engl. slabserif ) entworfen worden, die sich auf­ grund der breiten Serifen als besonders geeignet für Schreibmaschinen erwiesen. Denn ähnlich wie im Bleisatz bedarf das getippte Druckbild zwar eines eindrückenden Abdrucks; dabei benötigen die Buchstaben jedoch eine ausgeglichene Strichstärke und möglichst ausgeprägte Serifen, um sich nicht durch das Papier zu drücken. Solche Spezifika des getippten Schriftbildes prägen Vorstellungen vom Schriftsatz, die bis in die Gegenwart virulent sind: Die Frage, ob etwa Briefe in Satz- oder in Schreibmaschinenschrift geschrieben werden müssten, ist Gegenstand eines Typografenstreits zwi­ schen Hans Peter Willberg und Friedrich Forssman.52 Zu den Besonder­ heiten gehört dabei, dass für die digitale Recodierung alter Schriftarten die Simulation des Handschriftlichen – gemessen an der Fülle verfügbarer fonts – einen weitaus größeren Raum einnimmt als das alte Tipp-Bild.53 Solche Fragehorizonte betreffen den Nexus des historischen Mediengebrauchs, der Medientechnik und jeweiliger (impliziter und expliziter) kultureller Leitvorstellungen.

50 Die Bedeutung der Unterscheidung von Drucktype/Maschinenschrift und Handschrift

ist in der Regel maßgeblich für editionsphilologische, am Standardisierungswert der Schrift orientierte Unterscheidungen wie zwischen ‚Haupttext‘ und ‚Randbemerkung‘ oder die Präfe­ renz bei Faksimileausgaben für die Wiedergabe von Handschriften und nur selten Druckbil­ dern etc. 51 Vgl. Giuriato/Kammer: Die graphische Dimension der Literatur? In: Dies. (Hrsg.): Bilder der Handschrift, S. 12, mit Hinweis auf Kammer: Tippen und Typen. 52 Vgl. Willberg: Typolemik, S. 76. 53 Vgl. ebd.

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schreiben |482|

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T

611

TWITTERN ISABELL OTTO

twittern  Ankedote

ANKEDOTE  Alwyn Collinson, ein Absolvent der Oxford University im Fach

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Geschichte, twittert seit Ende August 2011 über den Account @RealTime­WWII den Zweiten Weltkrieg in Echtzeit. Alwyn übersetzt Kriegsereignisse in die sprachliche Kurzform der maximal 140-Zeichen umfassenden Tweets und das schlichte Layout der Plattform. Zeitgenössische Dokumente wie Zeitungsarti­ kel, Bilder und kurze Filmbeiträge finden über Links Eingang in den EchtzeitStrom1 des Twitterns, in dem die jeweils neueste Nachricht für wenige Augen­ blicke ganz oben in der umgekehrt chronologischen Liste der Public Timeline erscheint, um bald schon in die Tiefen der Seite zu wandern und durch aktuellere Tweets ersetzt zu werden. Die Direktheit und Schnelligkeit des MikrobloggingDienstes greift Alwyn auf, indem er vorgibt, die Kriegsereignisse am gleichen Datum und fast zur gleichen Zeit zu twittern, wie sie sich 72 Jahre zuvor ereig­ net haben: „No Luftwaffe or RAF bombers today – tacit truce in Blitz“2 twittert Alwyn z. B. am 25. Dezember 2012 aus einem Londoner Luftschutzkeller des Jahres 1940. Der Tweet wird weitergeleitet (in so genannten ‚Retweets‘), favori­ siert und mit Kommentaren zum verlinkten Foto direkt beantwortet (‚@-reply‘).3 Alwyn hat sein Projekt im Jahr 1939 (respektive 2011) begonnen und plant es bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, also bis zum Jahr 2017 fortzusetzen. Eine spezielle Software-Applikation erlaubt es Alwyn, seine Tweets selbst in Zeiten zu versenden, in denen er arbeitet oder schläft. Ende des Jahres 2012 ‚folgen‘ ihm über 250.000 Twitter-Nutzer, haben also seine Nachrichten abonniert, so dass sie aus dem Twitter-Strom herausgefiltert in ihrer persönlichen Timeline erscheinen. Das Geschichte-Twittern hat Alwyn einige Berühmtheit eingebracht, 1 Die Echtzeit bei Twitter ist jedoch nicht ohne Aufschübe und Verzögerungen zu denken,

so dass die ‚Real Time Analysis‘ nach wie vor als ‚Mythos‘ [vgl. Kittler: Real Time Analysis. In: Tholen/Scholl (Hrsg.): Zeit-Zeichen, S. 363–377] bezeichnet werden muss und Strategien der Inszenierung bedarf – was Alwyn Collinsons Projekt eindrücklich zeigt. 2 WW2 Tweets from 1940 (= @RealTimeWWII): Tweet (25.12.2012). Unter: https://twitter. com/RealTimeWWII/status/283651308802699264 [aufgerufen am 30.12.2012]. 3 Vgl. Herwig: Die 140-Zeichen-Frage. In: Neumann-Braun/Autenrieth (Hrsg.): Freund­ schaft und Gemeinschaft im Social Web, S. 195–209.

612

die über die Grenzen der Twitter-Community hinausreicht. Er gibt Interviews z. B. für die BBC 4, hält Vorträge und erläutert seine Mission. In einem Inter­ view mit dem Blogger Derek Mead beschreibt er, dass seine Beobachtung der Rolle Twitters während des Arabischen Frühlings der Ausgangspunkt für sein eigenes Projekt war. Ihn haben der persönliche Ton und die Umgangsformen auf Augenhöhe beeindruckt: I thought you could use Twitter to do something similar for history, in the voice that people in modern media use Twitter. I thought you could share the good voices from history using the same technique, and also engage people. That’s really the strength of Twitter, that real time aspect, the feeling that what you’re reading is happening now.5

Gedächtnis in Echtzeit-Tweets lebendig zu halten, der Logik des Twitterns völlig entgegenzulaufen. Twitter wurde 2006 von einer US-amerikanischen Pod­ casting-Firma entwickelt. Bei der Namensgebung inspiriert hatte man sich an der zweifachen Bedeutung des engl. Verbs ‚to twitter‘: Über eine Menge unwich­ tiger Dinge reden und zwitschern wie ein Vogel. Auch bezeichnet als die ‚SMS des Internets‘, war es das ursprüngliche Konzept der Twitter-Entwickler, den Internetnutzern ein Mittel zur persönlichen Statusaktualisierung über Kurzmit­ teilungen bereitzustellen, die nicht nur von Handy zu Handy, sondern weltweit ins Netz verschickt werden können.6 Der blaue Vogel im Twitter-Logo, einige Jahre später Larry getauft, wurde zum Symbol für diesen Austausch von kurzen

twittern  Etymologie

ETYMOLOGIE  Auf den ersten Blick scheint Alwyns Projekt, ein kulturelles

4 Vgl. BBC News Oxford: Oxford Graduate Starts Six-Year WWII Twitter Project. In: BCC

online. Unter: http://www.bbc.co.uk/news/uk-england-oxfordshire-15689722 [aufgerufen am 30.12.2012]. 5 Mead: Live-Tweeting the Second World War. In: Vice online. Unter: http://motherboard. vice.com/en_ca/blog/live-tweeting-world-war-two-q-a [aufgerufen am 24.01.2014]; vgl. auch Schuessler: The Tweets of War. In: NYT online. Unter: http://www.nytimes.com/2011/11/28/ arts/re-enacting-historical-events-on-twitter-with-realtimewwii.html?_r=0 [aufgerufen am 30.12.2012]; Schwarze: Auf Twitter tobt der Zweite Weltkrieg. In: Zeit online. Unter: http:// www.zeit.de/digital/internet/2011-12/zweiter-weltkrieg-twitter [aufgerufen am 30.12.2012]. 6 Vgl. Sarno: Twitter Creator Jack Dorsey Illuminates the Site’s Founding Document. In: L.A. Times online. Unter: http://latimesblogs.latimes.com/technology/2009/02/twitter-creator.html [aufgerufen am 30.12.2012].

T

613

und trivialen Informationen, die dem Mikroblogging-Dienst einige Kritik ein­ gebracht hat. Die etymologische Formierung des Twitterns greift z. B. Christian Schuldt pejorativ auf, wenn er es in seine Mediengeschichte des Klatschs ein­ ordnet und von einem „Zwitscher-Konzert“, „körperlose[m] Getschilpe“ von „virtuelle[n] Vögelchen“ und von einem „vielstimmige[n] Durcheinander“ spricht, das zur „Verbreitung von Gerüchten und Unwahrheiten“ verleite.7

twittern  Kontexte

KONTEXTE  Nimmt man jedoch Alwyns Plädoyer ernst, dass es Twitter beson­

ders gut gelinge, durch die Minimierung des Abstands zwischen Verfassen und Lesen eines Tweets einen Eindruck der zeitlichen Unmittelbarkeit von Geschehnissen herzustellen, die (scheinbar) an ganz verschiedenen Orten stattfinden, dann lässt sich das Twittern ganz allgemein mit Praktiken oraler Kulturen und damit mit viel älteren Gebrauchsweisen des Mediums Stimme beim Erzählen von Geschichte(n) in Verbindung bringen. Twitter, das „Wei­ tererzähl-Web“8, übersetzt in diesem Sinne orale Kulturtechniken in Ver­ fahren einer telepräsentischen Schrift-/Bildlichkeit und übernimmt – in der Praxis des Retweeting oder der thematischen Zuordnung und Bündelung von Tweets über Hashtags (z. B. #history) – bestimmte Ordnungselemente wie rekursive Strukturen in der Weitergabe von (historischem) Wissen, wie sie aus mündlichen Kulturen bekannt sind und deren Kernfunktion in einer Herstellung von Gemeinschaftlichkeit besteht.9 Gerade im Fall der Weiter­ gabe und des Wiederholens von historiografischen Erzählbausteinen, was für das Twittern des Zweiten Weltkriegs zentral ist, wird deutlich, dass dieser Gemeinschaftsaspekt im Social Web des 21. Jhs. im Vordergrund steht, die Weitergabe von Wissen oder Geschichtsbewusstsein im Sinne einer linea­ ren, chronologischen Abfolge von Ereignissen dagegen in den Hintergrund tritt.10 In Alwyns Experiment geht es um Vernetzung: um die Zirkulation seiner Tweets, um ihre Transformation auf andere Plattformen wie Facebook und ihre Übersetzung in unterschiedliche Sprachen. 7 Schuldt: Klatsch!, S. 119f. 8 Reißmann/Lischka/Stöcker: Fünf Jahre Twitter-Geschichte. In: Spiegel online. Unter: http://

www.spiegel.de/netzwelt/web/fuenf-jahre-twitter-geschichte-meilensteine-des-weitererzaehlwebs-a-751859.html [aufgerufen am 30.12.2012]. 9 Vgl. Liu: Friending the Past. In: New Literary History, S. 4. 10 Vgl. ebd., S. 17.

614

twittern  Kontexte

Die Erinnerungspolitik des Projekts hat mehr mit Twitter zu tun als mit dem Anliegen, ein soziales Gedächtnis zu konservieren. Wichtiger als das Vorhaben, eine lebendige Erinnerung an den Krieg aufrechtzuerhalten, ist Twitter mit einer dezentralen, nicht-linearen historischen Dimension zu versorgen, dem sozialen Medium ein eigenes, dynamisches kollektives Gedächtnis zu geben. Das geschieht, indem seine Temporalität, die auf den Prozeduren der Echt­ zeit und der Telepräsenz basiert, in eine erzählte Vergangenheit ausgedehnt, gewissermaßen flexibilisiert wird. Dies kann nur in der Logik des Twitterns geschehen. Geschichte muss in kleine ‚twitterbare‘ Ereignisse übersetzt wer­ den, die genau jetzt zu geschehen scheinen. Das Projekt RealTimeWWII zeigt damit besonders deutlich, dass sich Twitter von der ursprünglichen Idee seiner Entwickler entfernt hat: In Twit­ ters erster Phase waren die Nutzer dazu eingeladen, in ihren Kurznachrich­ ten die Frage ‚What are you doing?‘ bzw. in der deutschen Sprachversion ‚Was tust du gerade?‘ zu beantworten. Viele Twitter-Nutzer haben diese Frage tatsächlich beantwortet und nutzen Twitter immer noch, z. B. um anzuzeigen, dass sie nun zu Bett gehen und den anderen Twitter-Nutzern – egal in welcher Zeitzone sie sich befinden – eine gute Nacht wünschen. Jedoch gibt es viele andere Gebrauchsweisen: Wissenschaftler schicken Links zu ihren kürzlich erschienenen Online-Publikationen, politische Parteien und NGOs verbreiten ihre Programme, Firmen bewerben ihre Produkte, Amateurjournalisten verlinken Bilder und Videos mit ihren Nachrichten aus erster Hand, Musikbands kündigen ihr nächstes Konzert an und bleiben mit ihren Fans in Kontakt. Dem Umstand Rechnung tra­ gend, dass Twitter nicht nur für persönliche Statusupdates genutzt wird, sondern um verschiedenste Dinge zu teilen, mitzuteilen und anzukündigen, hat Twitter Inc. die Eingangsfrage im November 2009 von ‚What are you doing?‘ in ‚What’s happening?‘ – ‚Was passiert gerade?‘ – geändert.11 Darin zeigt sich, dass sich Twitter nicht als neue Selbsttechnologie im Sinne eines öffentlichen Tagebuchs entwickelt hat, sondern eher als Technolo­ gie des Social Networking oder vielleicht genauer: Wie die Herausbildung einer ‚Twitter-Elite‘ belegt, die es besonders auf die Attraktion zahlreicher

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11 Vgl. Twitter Blog: What’s Happening. Unter: http://blog.twitter.com/2009/11/whats-­

happening.html [aufgerufen am 30.12.2012].

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twittern  Konjunkturen

Follower und die maximale Weiterverbreitung ihrer Tweets anlegt12 – als Selbsttechnologie, die über Social Networking operiert.13

616

KONJUNKTUREN Twittern bedeutet daher in vielen Gebrauchsweisen eine Mitteilung besonderes prägnant im 140-Zeichen-Limit unterzubringen und sie so zu gestalten, dass sie zur Favorisierung, Beantwortung oder Weiterleitung einlädt. Diese Praktiken haben nicht nur die Herausbildung neuer sprachlicher Konventionen zur Folge14, sondern auch neuer litera­ rischer Kunstformen wie ‚Twitter Poetry‘ oder ‚Twitterature‘15. Die Kürze der Nachrichten, ihre Direktheit und Schnelligkeit und die Schlichtheit der Benutzeroberfläche ermög­lichen Konjunkturen des Twitterns, in denen die Plattform zum Mediateur oder zur politischen Bühne historischer Ereignisse wird: „We just made history“16, twittert der „Twitterkönig“17 Barack Obama nach seinem ersten Wahlsieg am 5. November 2008; nach den Aufständen in Ägypten Anfang des Jahres 2011 entbrennt eine, nach der ‚Grünen Revolution‘ im Iran 2009, erneute Debatte, ob das Mikro­ bloggen konstitutiv für den Umsturz, der Begriff ‚Twitter-Revolution‘ also gerechtfertigt ist.18

12 Vgl. Boeschoten/Paßmann/Schäfer: The Gift of the Gab. In: Weller et al. (Hrsg.): Twitter

and Society, S. 331–344.

13 Vgl. hierzu etwa die Anleitungsschrift von Morris: All a Twitter; oder die zahlreichen Emp­

fehlungen, wie Twitter als Marketing-Instrument zu nutzen ist, z. B.: Landon/Wallis/Davies: Twitter for Museums; vgl. auch Murthy: Twitter. 14 Vgl. Zappavigna: Discourse of Twitter and Social Media. 15 Vgl. Kennedy: How Do I Love Thee? In: NYT online. Unter: http://www.nytimes. com/2011/03/20/weekinreview/20twitterature.html?_r=0 [aufgerufen am 30.12.2012]; Rudin: From Hemingway to Twitterature. In: JEP. Unter: http://dx.doi.org/10.3998/3336451.0014.213 [aufgerufen am 30.12.2012]. 16 Reißmann/Lischka/Stöcker: Fünf Jahre Twitter-Geschichte. In: Spiegel online. Unter: http:// www.spiegel.de/netzwelt/web/fuenf-jahre-twitter-geschichte-meilensteine-des-weitererzaehlwebs-a-751859.html [aufgerufen am 30.12.2012]. 17 Hebel: Politikbühne Internet. In: Spiegel online. Unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ zwei-drittel-aller-regierungs-und-staatschefs-twittern-a-846817.html [aufgerufen am 30.12.2012]. 18 Vgl. Hudson: The ‚Twitter Revolution‘ Debate. In: The Atlantic Wire online. Unter: http:// www.theatlanticwire.com/global/2011/01/the-twitter-revolution-debate-the-egyptian-testcase/21296/ [aufgerufen am 30.12.2012]; vgl. auch Howard/Hussain: The Upheavals in Egypt and Tunisia. In: Journal of Democracy, S. 35–48.

der Public Timeline erscheint eine immense Nachrichtenmenge: Laut der fortlaufend aktualisierten Beschreibung des sozialen Netzwerks Twitter durch ein anderes – die englischsprachige Wikipedia – posten Ende 2012 über 500 Millionen registrierte Twitter-Nutzer täglich insgesamt 340 Mio. Tweets und starten 1,6 Mrd. Suchanfragen.19 Das Gegenstück zu geschäftig oder belanglos durcheinander zwitschernden Tweets ist daher das Scheitern, der völlige Zusammenbruch des Systems. Wenn der Mikroblogging-Dienst überlastet ist, erscheint der ‚Fail Whale‘: „Too many tweets!“20 Von einem Element des Interface-Designs, das auf freundliche Weise ‚bitte warten‘ signalisiert, hat sich der Fail Whale zu einem Internet-Meme entwickelt, das in unterschiedlichsten Motiv-Variationen (als Tattoo, Flaschenetikett, Torte oder T-Shirt-Aufdruck) zirkuliert und als Icon für die Verbunden­ heit der Community mit ihrer Plattform auch Dauerthema des Twitterns selbst ist: „Twitter fell over when 10m people all tried to tweet: ‚Oh look, there’s the fail whale.....‘“ 21 Dass mit dem Fail Whale auch ein gegenbe­ griffliches Feld markiert ist, wird deutlich, wenn wir die Gebrauchsweise von twittern bedenken, wie sie in Alwyn Collinsons Projekt offensicht­ lich wird: das belanglose Zwitschern ist durch eine bestimmte Zeitlich­ keit gekennzeichnet, die Echtzeit, in der die telemediale Vermittlung zugunsten des Eindrucks von unmittelbarem Geplauder unsichtbar wird. Erscheint der Fail Whale wird die Medialität des Twitterns in ihrer Stö­ rung erkennbar. Die Zeitlichkeit ist die der Stagnation, der Verstopfung des Echtzeit-Flusses. In der Verwendung der engl. Phrase „have a whale of a time“ (sich amüsieren) wird deutlich, dass diese erzwungene MußeZeit der Leichtigkeit des Twitterns entgegensteht – „yup, hate it when

twittern  Gegenbegriffe

GEGENBEGRIFFE  Der Kürze der Tweets korrespondiert ihre Vielzahl. In

T 19 Vgl. (Art.) Twitter. In: Wikipedia. Unter: http://en.wikipedia.org/wiki/Twitter [aufgerufen

am 30.12.2012].

20 Fail Whale, gefunden unter: Brian Murff: Tech + Lifestyle. Unter: http://techpluslifestyle.

wordpress.com [aufgerufen am 30.12.2012].

21 Schofield (= @jackschofield): Tweet. Unter: https://twitter.com/jackschofield/status/29701405

8668916738 [aufgerufen am 06.08.2013]; vgl. o.A.: Fail Whale. In: Know Your Meme. Un­ ter: http://knowyourmeme.com/memes/fail-whale [aufgerufen am 06.08.2013]; Lu: This Is Not a Whale. In: Yiyinglu online. Unter: http://www.yiyinglu.com/failwhale/ [aufgerufen am 06.08.2013].

617

twitter forces us to have a whale of a time... i really hope they dont take their ‚failure brand‘ too seriously :|“22. PERSPEKTIVEN  Die Fülle der Tweets bietet, wenn der Echtzeitstrom wieder in Gang kommt, jedoch auch eine Fülle von Weiterverwendungen. Twitter wird zugetraut, da es „von Anfang an auch sein eigenes Archiv war“23, nicht nur Geschichte und Gemeinschaft mitteilen zu können, sondern selbst eine Spielwiese für Programmierer24 zu sein oder die Rezeption anderer Medien wie das Fernsehen auf eine neue Ebene der sozialen Interaktion zu heben. Das gemeinsame Krimi-Raten in Social TV-Episoden der ARD-Reihe TATORT wäre ein Beispiel für die Fortsetzung des Geschichtenerzählens mit den Mitteln des Twitterns.25

twittern  Perspektiven

FORSCHUNG Twitter bietet eine wichtige Quelle für historische, sozio­

logische oder kommunikations- und sprachwissenschaftliche Forschun­ gen.26 Auch für die Medienwissenschaft stellt die Plattform vielfältige Forschungsmöglichkeiten bereit: Tweets können gesammelt, gespeichert und verglichen werden. Die Einbettung von Bildern, Videos und schrift­ lichen Dokumenten erlaubt die Analyse von intermedialen Bezügen und Verfahren der Remediatisierung27 von älteren Medien im Echtzeit-Strom des Twitterns.

22 Manuscrypts: Kommentar zu Allen: As The Twitter Turns or Days of My Twitter. Unter:

http://www.centernetworks.com/twitter-failwhale-soap-opera [aufgerufen am 06.08.2013].

23 Reißmann/Lischka/Stöcker: Fünf Jahre Twitter-Geschichte. In: Spiegel online. Unter: http://

www.spiegel.de/netzwelt/web/fuenf-jahre-twitter-geschichte-meilensteine-des-weitererzaehlwebs-a-751859.html [aufgerufen am 30.12.2012]. 24 Vgl. Russell: Mining the Social Web; Crenna: Professional Twitter Development. 25 Rückwardt: Der Tatort mit dem Plus – Zuschauer wird zum Kommissar. In: We Make Social TV online. Unter: http://we.makesocial.tv/social-tv/der-tatort-mit-dem-plus-zuschauer-wirdzum-kommissar [aufgerufen am 06.08.2013]. 26 Vgl. z. B. das australische Projekt „Mapping Online Publics“ von Axel Bruns und Jean Bur­ gess, unter: http://mappingonlinepublics.net [aufgerufen am 30.12.2012]. 27 Vgl. z. B. Bolter/Grusin: Remediation.

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WIEDERHOLEN STEFANIE DIEKMANN

für Einstellung, mit nur wenigen Auslassungen und damit acht Sommer und den Rest ihrer Schulzeit verbracht. Als sie mit dem Projekt anfingen, war Steven Spielbergs RAIDERS OF THE LOST ARK (USA 1981) gerade ein Jahr alt und lief als Re-Release in ihrem lokalen Paramount-Kino in Gulfport, Mississippi. Als sie die letzten Einstellungen drehten, hatte Spielberg das erste und das zweite Sequel zu RAIDERS, INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM (1984) sowie INDIANA JONES AND THE LAST CRUSADE (1989), längst fertig gestellt und in die Kinos gebracht, worauf ihr eigener Film noch einmal 13 Jahre warten musste, bevor eine VHS-Kassette an den Filmemacher Eli Roth und von diesem an Harry Knowles, Betreiber der einflussreichen Website Ain’t-it-Cool-News, weitergereicht wurde. Die Geschichte von RAIDERS OF THE LOST ARK: THE ADAPTATION (USA 1982–89) ist, so betrachtet, eine der Wiederholungen, aber auch eine der Wiederentdeckung. Wie kaum ein anderes Remake scheint es dazu bestimmt, als heroisches Unternehmen zu figurieren: Ein Langzeit- und Low-Budget-Projekt, ein Produkt aus Fandom, mimetischem Begehren und kreativer Intelligenz, erst vergessen, dann gefeiert, das Dokument eines prädigitalen Zeitalters der Kinematografie, das 2003, als THE ADAPTATION eine verspätete Premiere im Alamo Drafthouse in Austin feierte, durchaus der Vergangenheit angehört.1 Zugleich ist es das Produkt einer Medienkultur im Wandel, in der sich die Bedingungen der wiederholten Sichtung ebenso verändern wie die Auswertung von Filmen, die Verfügbarkeit von Aufzeichnungs- und Abspielgeräten, die Distributionsformen und nicht zuletzt das Rollenverständnis derjenigen, die mit der Wiederverfilmung befasst sind.2

wiederholen  Anekdote

ANEKDOTE  Sie haben ihn noch einmal gedreht. Den ganzen Film, Einstellung

1 Zehn Jahre später wird eine Live-Action-Version von TOY STORY auf YouTube mit vergleich-

barer Begeisterung rezipiert werden. Unter: http://www.youtube.com/watch?v=5G0j_Huv2Fg [aufgerufen am 01.08.2013]. 2 Zwei ausführlichere Darstellungen des Projekts finden sich bei Windolf: Raiders of the Lost Backyard. In: Vanity Fair. Unter: http://www.vanityfair.com/culture/features/2004/03/ raiders200403; sowie Halter: A Jones for Indiana. In: The Village Voice. Unter: http://www. villagevoice.com/2007-06-26/nyc-life/a-jones-for-indiana [beide aufgerufen am 01.08.2013].

W

621

Was Walter Benjamin bereits 1936 prognostizierte: Dass „die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff [ist], ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren“3, ist für das Projekt RAIDERS OF THE LOST ARK: THE ADAPTATION zum Status quo geworden, acht Sommer lang und dann wieder nach der verspäteten Entdeckung ihrer RAIDERS-Version. Dass dieser Status quo, der auch einer der Verwischung, Verunklarung ist, nicht ohne Ambivalenz wahrgenommen wird, dokumentiert die Fortsetzung der Geschichte, in der Treffen mit Spielberg ebenso eine Rolle spielen wie Termine mit Produzenten, exklusive Screenings und Einladungen ins Studio, kurz: die ganze Perspektive des real Hollywood, während zugleich die Vorführungen des Remakes selten bleiben und eine legale Kaufkopie bis auf Weiteres nicht existiert. Wohin mit den Wiederholern? Oder: Was, wenn das Wiederholen zur Heldengeschichte werden kann, aber nicht zu einer, in der ein Markt für die Wiederholung existierte (oder ein Platz, der innerhalb der existierenden Märkte etabliert würde)? „A touching story, but slightly disturbing as well“4, schrieb die VILLAGE VOICE einige Jahre nach der Premiere. Jenseits der mythischen Erzählung bleibt RAIDERS OF THE LOST ARK: THE ADAPTATION ein Beispiel zum prekären Status der Repetition.

wiederholen  Etymologie

ETYMOLOGIE  Im Adelung, GRAMMATISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DER

HOCHDEUTSCHEN MUNDART,

ist das Wort wiederholen nicht verzeichnet; dafür existiert ein Eintrag im DEUTSCHEN WÖRTERBUCH von Jacob und Wilhelm Grimm, der auf das lat. iterare verweist, das später für die philosophische und literaturtheoretische Reflexion der Wiederholung kons­ titutiv werden wird. Der Eintrag vermerkt weiter, dass das Wort im Mhdt. nicht belegt sei und erst seit dem 15. Jh. in „zwei Bedeutungssträngen“ verfolgt werden könne, deren literarische Belegung im 16. Jh. beginnt.5 Die erste Bedeutung, in trenn-

3 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.:

Gesammelte Schriften, S. 493.

4 Halter: A Jones for Indiana. In: The Village Voice. Unter: http://www.villagevoice.com/2007-

06-26/nyc-life/a-jones-for-indiana [aufgerufen am 01.08.2013].

5 Vgl. (Art.) wiederholen. In: Grimm online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ [aufge-

rufen am 01.08.2013].

622

barer Komposition, die für den medienwissenschaftlichen Kontext nur eine geringe Relevanz besitzt, ist die restitutive, restaurative: „[B]is heute lebt trennbar zusammengesetztes wiederholen ‚zurückholen‘, ‚wieder herbeischaffen‘, ‚zurückschaffen‘.“6 Die zweite Bedeutung entwickelt sich aus der ersten und ist, in fester Komposition, v. a. repetitiv, rekursiv bestimmt: „[S]eit dem 15. Jh. erscheint die bed. ‚noch einmal sagen bzw. tun‘“.7 In der Grundformel des noch einmal ist bereits jene temporale Deutungslogik ausbuchstabiert, von der die Diskursivierung von Wiederholungspraktiken und -strukturen bis in die Gegenwart geprägt bleibt: Eine Logik des Vorgängigen und des Nachfolgenden, in der die zeitliche Abfolge tendenziell auch als eine hierarchische gefasst wird. Original und Kopie, Prototyp und Reproduktion, Ereignis und Aufzeichnung, Äußerung und Zitat sind Varianten dieser Leitdifferenz, wobei auffällig ist, dass die Beispiele des DEUTSCHEN WÖRTERBUCHS (noch einmal sagen, vortragen, tun, sich ereignen etc.) den performativen Aspekt des Wiederholens akzentuieren, während in den Wiederholungskonzepten der Kunst- und Medienwissenschaft v. a. die produktionsästhetische Dimension pointiert wird.

auch eine transdisziplinäre Figur und findet dementsprechend in verschiedenen Kontexten Erwähnung und Anwendung. In der Rhetorik bezeichnet der Begriff eine Reihe von Repetitionsphänomenen: neben den strikt rhetorischen (als Wiederholung von Phonemen, Einzelwörtern, Wortgruppen) auch semantische und syntaktische sowie die Rekapitulation als Teil der antiken dispositio. Zugleich gilt: „Der übergeordnete Sammelbegriff [Wiederholung] selbst wird in den rhetorischen Theoriewerken nicht diskutiert; auch gibt es in der Tradition keine Ansätze zu einer inte­ gralen Systematik“8. An die Stelle der Systematisierung tritt in der Theoriebildung vielmehr von der Antike (Quintilian, Cicero) bis in die Handbücher des 20. Jhs. (Lausberg) die Analyse von konkreten Figuren der Wiederholung,

wiederholen  Kontexte

KONTEXTE   Die Wiederholung ist nicht allein eine transmediale, sondern

W 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Till: (Art.) Wiederholung. In: Ueding, Bd. 9, S. 1371.

623

wiederholen  Kontexte

die im HANDBUCH DER LITERARISCHEN RHETORIK durch den Verweis eingeleitet wird: „Die Terminologie hat unscharfe Grenzen.“9 Auffallend ist, dass bereits in der Rhetorik Quintilians die Wiederholung im Zeichen von Variation und Differenz konzipiert wird. Die ‚reine‘ Wiederholung ist Redundanz, keine rhetorische Figur; Wiederholung zu Lehr- oder Lernzwecken (Vermittlung, Auswendigkeit) erfüllt nicht die Kriterien der formalen Auffälligkeit und semantischen Wirksamkeit, die für jene Formen der Wiederholung kennzeichnend sind, mit denen sich die Rhetoriker befassen.10 In der Linguistik steht bei der Untersuchung sprachlicher Wiederholungen ebenfalls die Auseinandersetzung mit konkreten Figuren im Vordergrund: in der textorientierten Linguistik häufig in gewisser Nähe zur rhetorischen Tradition als Versuch, Typologien der Wiederholung zu entwickeln; in gesprächslinguistischen Modellen mit Blick auf die Funktion von Wiederholung im Gespräch, wobei die affektive und die interaktive Dimension der Wiederholung (z. B. Selbstwiederholung und Fremdwiederholung) fokussiert werden. Wenn die pathologische Wiederholung als nicht-intentionale aus den rhetorischen Studien ausgeschlossen wird, so spielt sie eine umso größere Rolle in den Schriften der Freudschen Psychonanalyse. Wiederholung als Manifestation des Verdrängten, als Erfahrung der ungewollten oder unkontrollierbaren Wiederkehr werden in dem Aufsatz DAS UNHEIMLICHE von 1919 thematisiert.11 In der fünf Jahre zuvor entstandenen Schrift ERIN12 NERN, WIEDERHOLEN UND DURCHARBEITEN figuriert das Wiederholen zum einen als Material der psychoanalytischen Erkenntnis, zum anderen als Gegenbegriff zum „Durcharbeiten“, in dem, anders als in der pathologisch grundierten Wiederholung, ein verändertes Verhältnis zum auslösenden Ereignis hergestellt werden kann.

9 Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 311 (§ 611). 10 Vgl. Till: (Art.) Wiederholung. In: Ueding, Bd. 9, S. 1373. 11 Freud: Das Unheimliche. In: Ders.: Gesammelte Werke, S. 126–136. 12 Ders.: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. In: Ders.:  Gesammelte Werke, S. 227–

278.

624

In Musik, bildender Kunst und Literatur spielt die Wiederholung eine „ubiquitäre Rolle“ und wird, „in den dafür zuständigen Disziplinen unter einer Reihe von Begriffen und mit divergenten theoretischen Ansätzen untersucht“.13 Während die BROCKHAUS ENZYKLOPÄDIE repetitive Strukturen und Figuren fast ausschließlich mit Blick auf Werke der Musik thematisiert, in denen sie, als unmittelbare oder als partielle Wiederholung, in Teilstücken, in der Gesamtstruktur oder innerhalb der Aufführung manifest werden kann („da capo“),14 ist die Wiederholung ebenso bedeutsam als Form-, Struktur- und Verweisprinzip innerhalb der Literatur, wo sie u. a. als repetiertes sprachliches Material, als wiederholtes Formelement, als wiederholbare Formel mit performativer Wirkung, als explizite (Zitat) oder als implizite (Intertextualität) Referenz und Repetition auftritt. Wenn dabei zunächst von einer stabilisierenden, strukturierenden Wirkung der Wiederholung ausgegangen wird, so behandelt sie der Poststrukturalismus seit den 1970er Jahren als Figur der Destabilisierung: ‚Iterabilität‘ ist demnach als Phänomen zu begreifen, durch das der sprachliche Kontext fortlaufend zersetzt und mit jeder Wiederverwendung eines Wortes oder einer Wendung eine konstitutive Differenz etabliert wird.15

paradigmas im 20. Jh. steht weniger eine kontinuierliche Vorgeschichte der Missachtung als eine der wechselnden Konjunkturen, in denen die Wiederholung durchaus Anerkennung und Anwendung erfährt. Im Zuge der „Ablösung der Nachahmungs- durch die Genieästhetik“17 indes tritt sie zugunsten anderer Kategorien ab dem 18. Jh. mehr und mehr in den Hintergrund, um erst 150 Jahre später erneut profiliert zu werden – mit einer prominenten Ausnahme: Der scheiternde, aber deshalb nicht weniger insistente Versuch einer geglückten Wiederholung, nicht von ungefähr organisiert um/durch das

13 Till: (Art.) Wiederholung. In: Ueding, Bd. 9, S. 1375. 14 Vgl. (Art.) Wiederholung. In: Brockhaus Enzyklopädie, S. 48. 15 Vgl. Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: Ders.: Randgänge der Philosophie, S. 291–314;

sowie ders.: Limited Inc. 16 Buchmann: Wiederholung ist nicht, was sich wiederholt. In: Dies. et al. (Hrsg.): Wenn sonst nichts klappt, S. 72. 17 Häseler: (Art.) Originalität. In: Barck et al. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, S. 643.

wiederholen  Konjunkturen

KONJUNKTUREN   Vor der „positive[n] Umdeutung“16 des Wiederholungs-

W

625

wiederholen  Konjunkturen

Ereignis eines Theaterbesuchs, ist das Thema der gleichnamigen Schrift von Sören Kierkegaard von 1843. Zu den interessantesten und facettenreichsten Konzepten der Wiederholung gehört das der aemulatio, ursprünglich als ein Verfahren zur Genese und Gestaltung von (antiker) Literatur entwickelt,18 aber später auch in den Bildkünsten (v. a. der Renaissance) wirksam.19 Nicht unähnlich der späteren Praxis des Remakes, verschränken sich in der aemulatio affirmative und agonale Positionen zu einem Programm der rekursiven Produktion, in der neue Werke am Modell von älteren orientiert werden, um später selbst als „Modell für zukünftige Nachschöpfungen“20 zu figurieren. In Abgrenzung zur imitatio bezieht die aemulatio ihre Legitimation aus dem Anspruch, nicht auf der Stufe des Kopistischen zu verbleiben, sich also von einer „unselbständigen, pedantischen Nachahmung“21 klar zu unterscheiden. Als Konzept in gewisser Nähe zum Paragone wird die aemulatio in der Frühen Neuzeit reaktiviert und bleibt bis ins 18. Jh. in Regelpoetiken und Anweisungsliteratur wirksam. Zugleich zeichnet sich seit dem 15. Jh. immer mehr der Gegensatz zwischen verschiedenen produktionsästhetischen Prinzipien ab, verbunden mit der Durchsetzung anderer ästethischer Wertbegriffe, die dem Konzept der Wiederholung entgegengesetzt sind. Als der Klassiker der modernen Wiederholungstheorie kann Walter Benjamins Aufsatz über DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT bezeichnet werden. Das Nachdenken über Wiederholung gestaltet sich dort als ein Nachdenken über die „Organisation der Wahrnehmung“22 im Zeitalter des technischen, reproduzierbaren Abbildes, durch dessen Auftreten sowohl das Verhältnis zum traditionellen Kunstwerk als auch das zu anderen Gegenständen der Wahrnehmung neu bestimmt werden. Im Fokus der Rezeption des Aufsatzes steht v. a. die Auseinandersetzung mit dem „massenweise[n] Vorkommen“23 von Kunstwerken in Form von

18 Vgl. Bauer: Aemulatio. In: Ueding, Bd. 1, S. 145. 19 Vgl. Müller et al. (Hrsg.): Aemulatio. 20 Bauer: (Art.) Aemulatio. In: Ueding, Bd. 1, S. 145. 21 Ebd. 22 Benjamin: Das Kunstwerk, S. 478. 23 Ebd., S. 477.

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24 Diederichsen: Von der Makromontage zum Mikrosampling. In: Buchmann et al. (Hrsg.):

wiederholen  Konjunkturen

Reproduktionen (damals: Abbildungen, Kunstdrucken, Dia-Projektionen; in der Medienkultur der Gegenwart auch: Bilddateien, Bildschirmschoner, Online-Galerien etc.). Durch diesen veränderten Modus des „Vorkommens“ wird v. a. das Konzept der Singularität und Geschlossenheit des Kunstwerks irritiert, das seither in Kunsttheorie und -praxis immer wieder in Frage gestellt worden ist. Die Serialisierung der technischen Bilder, aber auch die durch das technische Bild eröffnete Option der wiederholten, kontrollierten Sichtung von Abläufen und Auftritten sind Themen, die den Kunstwerk-Aufsatz zu einem zentralen Bezugstext der Medien- wie der Kunstwissenschaften gemacht haben. Der Kunstwerk-Aufsatz entsteht zu einer Zeit, als verschiedene Erscheinungsformen des Recycling und der Rekursivität bereits durch die historischen Avantgarden etabliert sind: Allen voran die Verfahren des cut & paste, unter denen v. a. die Montage als ein „Zauberwort des Modernismus“24 umfassend theoretisiert worden ist. Montageverfahren finden sich in der Bildenden Kunst (dort häufiger gegen den Begriffe der Collage abgegrenzt), im Varieté, im Theater (Bauhaus, Volksbühne), v. a. aber im Film, von der sowjetischen Filmpraxis und -theorie bis zu den experimentellen Projekten des abstrakten Kinos. Nach den Avantgarden der 1920er ist es v. a. die bildende Kunst seit den 1960er und -70er Jahren, die als Schauplatz der Ausdifferenzierung programmatisch repetitiver und rekursiver Praktiken in den Blick rückt. Wiederholung figuriert dabei nicht so sehr als ein produktionsästhetisches Prinzip unter anderen, sondern als ein Paradigma, dem neben den Spielarten der „massenweisen“ (Benjamin) und der kopistischen Produktion auch diverse Formen der Wiederverwertung und -aneignung inbegriffen sind. Korrespondierende Begriffe der Kunst-, Kultur- und Medientheorie sind u. a. „Serialität“ als Parameter einer repetitiv organisierten Bildproduktion und -anordnung,25 „Loop“ als die temporalisierte Form des Seriellen im Ablauf kleiner und kleinster Fragmente in Musik, Film, Video; „Appropriation“, seit Ende der 1970er v. a. in den Schriften von Douglas Crimp als Prinzip einer zitationellen, transformativen

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Wiederholung wiederholen, S. 138. Zum Diskurs der Montage in den historischen Avantgarden vgl. Möbius: Montage und Collage. 25 Vgl. Coplans: Serial Imagery (Katalog); Sykora: Das Phänomen des Seriellen in der Kunst.

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wiederholen  Gegenbegriffe

Aneignung von Bildvorlagen aus dem Feld der Populär- aber auch der Hochkultur entwickelt26 sowie „Sampling“, von Diedrich Diederichsen als das „digitale Produktionsdispositiv“ der 1990er bezeichnet und in zahlreichen Publikationen als Praxis zwischen künstlerischer Intervention und industrieller Fertigung diskutiert.27 Ein dezidiert kunst- oder medienspezifisches Wiederholungskonzept existiert dabei nicht, auch keine fachspezifische Ausprägung. Vielmehr ist die anhaltende diskursive Investition in den Wiederholungs-Begriff immer auch von dem Bestreben gekennzeichnet, Recycling und Rekursivität als transmediale Erscheinungen zu adressieren, d. h. Wiederholung als Paradigma zu behaupten, ohne dabei die Diversität der entsprechenden Praktiken und Positionen aus dem Blick zu verlieren. Eine Verschiebung von der produktionsästhetischen zur performativen Perspektive im Umgang mit Wiederholungsstrukturen markiert die aktuelle Konjunktur vom Remake zum Reenactment: Zwei Erscheinungsformen der Reinszenierung, die nicht nur als künstlerische, sondern auch als Projekte in der der Amateur- und Fankultur (vgl. die RAIDERS-Adaption) eine neue Popularität verzeichnen. GEGENBEGRIFFE  Vor die affirmative Neudeutung des Wiederholungspara-

digmas zu Beginn des 20. Jhs. hat die Theoriegeschichte dessen umfassende Abwertung gesetzt. „In dem Maße, wie der schöpferische Freiraum des Subjekts gegenüber der Bindung an Produktionsregeln […] aufgewertet wurde, rückte die Einbildungskraft (Imagination, Phantasie) in einen Gegensatz zur Nachahmung“28 – und zur Wiederholung als einem produktionsästhetischen Prinzip. Frühe Gegenbegriffe zur aemulatio sind dementsprechend novitas (Neuheit) und ingenium (Einfallskraft). Mit dem ausgehenden 18. Jh. etablieren sich die ästhetischen Wertbegriffe des Genies und der Originalität,29

26 Vgl. Crimp: Pictures. In: October, S. 75–88; ders.: Appropriating Appropriation. In: Ders.: On

the Museum’s Ruins, S. 126–137; ders.: Der Kampf geht weiter. In: Texte zur Kunst, S. 34–42.

27 Vgl. Diederichsen: Von der Makromontage zum Mikrosampling. In: Buchmann et al. (Hrsg.):

Wiederholung wiederholen, S. 145.

28 Bauer: Aemulatio. In: Ueding, Bd. 1, S. 177. 29 Vgl. Häseler: (Art.) Originalität. In: Barck et al. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, S. 643–644.

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30 Benjamin: Das Kunstwerk, S. 435. 31 Vgl. ebd., S. 477. Zu weiteren Verwendungen des Begriffs bei Benjamin vgl. Fürnkäs: Aura.

wiederholen  Gegenbegriffe

deren Verabschiedung 150 Jahre später zur zentralen Agenda von Benjamins Kunstwerk-Aufsatz gehören wird. Bereits die Vorrede des Aufsatzes präsentiert einige Gegenbegriffe zu dem der technischen Reproduzierbarkeit, wenn dort vermerkt wird, dass diese das Potenzial berge, eine „Anzahl überkommener Begriffe wie Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis“30 beiseite zu setzen. Ein mindestens ebenso wichtiger Gegenbegriff, in der Aufzählung indes nicht aufgeführt, ist derjenige der „Aura“,31 die Benjamin durch technische Reproduktion und Serialisierung in Auflösung gebracht sieht – anders als noch durch die traditionellen Reproduktionsverfahren, in denen die konstitutive Distanz des Originals zur Kopie eher bestätigt wird. Tatsächlich spricht vieles dafür, den Begriff der Aura v. a. als Chiffre des Entzugs und der Unverfügbarkeit zu deuten (in Benjamins viel zitierter Wendung: „eine Ferne, so nah sie sein mag“32.) Das Gegenprogramm zur auratischen Distanz, in der das Kunstwerk, aber auch andere Gegenstände der Betrachtung primär als Objekte der andächtigen Kontemplation figurieren, wäre es jene wiederholte, „prüfende“ Sichtung, die, durch technische Aufzeichnungs- und Vervielfältigungsverfahren ermöglicht, das kontemplative Verhältnis durch ein analytisches ersetzt. Der „Zerfall der Aura“ ist in dieser Perspektive durchaus positiv grundiert, da sich mit ihr die Behauptung eines neuen, kritischen Wahrnehmungsmodus verknüpft.33 Die Begriffsbildungen, die zur Beschreibung konkreter Praktiken und Positionen in den Avantgarden der Moderne und Postmoderne erfolgen, ließen sich auch als ein Gegenprogramm zu jenen „überkommenen Begriffen“ lesen, deren Behandlung von Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz zugunsten der Ausführungen über die Aura zurückgestellt worden ist.34 So ist der Begriff

In: Opitz (Hrsg.): Benjamins Begriffe, S. 95–146.

32 Benjamin: Das Kunstwerk, S. 479. 33 Vgl. Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, S. 94. 34 „Repetitive, mechanische, standardisierte, serielle Verfahren wurden gegen essenzialistische

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Gebote der Originalität, Einzigartigkeit und Geschlossenheit in Stellung gebracht“ [Buchmann: Wiederholung ist nicht, was sich wiederholt. In: Dies. et al. (Hrsg.): Wiederholung wiederholen, S. 72].

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wiederholen  Gegenbegriffe

der Serialität, um 1970 zur Kennzeichnung repetitiver Bildlichkeit geprägt, denkbar verschieden von dem der Einmaligkeit, von der die Anwesenheit des Kunstwerks in einem „Hier und Jetzt“ bestimmt scheint; „Appopriation“, aber auch Zitat, Pastiche, cut & paste sind Gegenbegriffe des Schöpfertums; ebenso vertragen sich die sehr technischen Konzepte des cut & paste, der Montage und erst recht des Sampling kaum mit den Begriffen Geheimnis und Ewigkeitswert, da es in den entsprechenden Praktiken immer auch darum geht, die Materialien und Verfahren der Produktion kenntlich zu machen; die Einzigartigkeit wiederum wird nicht nur durch Serialisierung oder Appropriation affiziert, sondern auch durch die Parameter der Wiederaufnahme und Wiederaufführung, von denen Remake und Reenactment bestimmt sind. Wie die Herausgeber des Bandes WIEDERHOLUNG WIEDERHOLEN angemerkt haben, steht die Wiederholung in der Kunsttheorie und -praxis stets in Verbindung mit Begriffen, die gegen die Idee originärer künstlerischer Produktion oder Subjektivität ins Feld geführt werden.35 Die Gegenbegriffe zur Wiederholung und jenen Konzepten, denen sie implizit ist, wären somit prinzipiell im Umfeld dieser Ästhetik und der entsprechenden Schriften zu suchen. In der Perspektive „Remediation“ als einem sehr populären Begriff neuerer Medienhistoriografie ist das bestimmende Prinzip der Mediengenese weder der (medientechnologische oder medienästhetische) Fortschritt noch der (technologische, ästhetische etc.) Umbruch, sondern eine Dynamik der fortgesetzten Um- und Anverwandlung, in der ältere Medien durch neuere emuliert werden – und in der umgekehrt bereits etablierte Medien auf Veränderungsprozesse mit Annäherungen an das Erscheinungsbild und die Eigenschaften ‚neuer‘ Medien reagieren.36 Die Rekursivität medialer Evolution wird damit zum zentralen Theorem eines Entwurfs, der als Mediengeschichte in Wiederholungen und Reprisen bezeichnet werden kann. Wenn dieser Entwurf auf der einen Seite in älteren medientheoretischen Schriften (McLuhan) präfiguriert ist, so hat er auf der anderen sein Gegenmodell in denjenigen Theorieerzählungen, die Mediengeschichte vom Prinzip der 35 Buchmann et al.: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Wiederholung wiederholen, S. 9. 36 „[R]emediation operates in both directions: users of older media such as film and television

can seek to appropriate and refashion digital graphics, just as digital graphics artists can refashion film and television“ [Bolter/Grusin: Remediation, S. 48].

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PERSPEKTIVEN   Nach den historischen Verwendungskontexten der (u. a.) Rhetorik, Psychoanalyse, Linguistik sind Medien- und Populärkultur sowie Bildende Kunst und Medienkunst diejenigen Zusammenhänge, in denen praktisch wie theoretisch eine besonders umfassende Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen der Wiederholung stattfindet. Mit Blick auf die entsprechenden Konjunkturen bleibt festzuhalten, dass es nicht mehr darum gehen kann, für die Relevanz des Wiederholungs-Begriffs zu argumentieren, sondern allenfalls darum, weitere Perspektiven der Anwendung zu skizzieren – oder aber auf weniger beachtete Perspektiven hinzuweisen. Dies gilt auch für das Konzept der technischen Reproduzierbarkeit, in dessen Rezeption zunächst v. a. die Destabilisierung der Kategorien „Singularität“ und „Unverfügbarkeit“ durch die Serialisierung des technischen Bildes bestimmend gewesen ist. In einer zweiten Perspektive beschreibt „Reproduzierbarkeit“ jedoch weniger die materiale Vervielfältigung einer fotografischen oder filmischen Aufzeichnung als vielmehr die „größere Analysierbarkeit der filmisch dargestellten Leistung“37, die erst durch die kinematografischen Operationen der Verlangsamung, Beschleunigung, Vergrößerung, Perspektivwechsel, Montage, v. a. aber: durch die prinzipielle Wiederholbarkeit der Sichtung ermöglicht wird.38 Es gehört zu den bemerkenswerten Aspekten des Kunstwerk-Aufsatzes, dass die filmische Darstellung bereits konsequent als ein Konstrukt aus Teilstücken und damit als „tendenziell unabschließbar“39 wahrgenommen wird, wenngleich in erster Linie mit Blick auf den Prozess der Produktion. Dieser

37 Benjamin: Das Kunstwerk, S. 499. 38 Die kinematografisch erfasste „Leistung“ (Benjamin) erscheint damit, ebenso wie das Kunst-

wiederholen  Perspektiven

Linearität (Flusser) oder des Bruchs (Bolz, Kittler, auch: Benjamin) dominiert sehen. Da Figuren der Kontinuität in der aktuellen Mediengeschichtsschreibung ohnehin gegenüber solchen der Diskontinuität oder der Disruption (vgl. Manovich, Friedberg) favorisiert werden, ist die Theorie der Remediation indes weniger überraschend, als es ihren Autoren erscheinen mag.

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werk, nicht länger als singulär und als situativ gebunden. Stattdessen wird sie als technisch reproduzierbare in wechselnden Zusammenhängen „vor das Publikum gebracht“. 39 Kramer: Benjamin zur Einführung, S. 97.

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wiederholen  Perspektiven

Wahrnehmung implizit ist jedoch ebenso die De-Komposition: als sezierender Blick auf das im Film fixierte Geschehen, aber auch auf die filmischen Verfahren selbst, durch die dieses ‚Geschehen‘ zeitlich, räumlich, kompositorisch, dramaturgisch und narrativ organisiert wird sowie als sezierender Zugriff mit der Option einer Wiederverwertung des Ausgangsmaterials. Die beiden letzteren Operationen: die De- und Rekomposition des Materials zum Zweck der Untersuchung filmischer Verfahren, gehört zu den wichtigsten Methoden des sogenannten Filmvermittelnden Films, der sich v. a. seit der Digitalisierung des Kinos als populäre, künstlerische und forschende Praxis (in den letzten Jahren außerdem: als ein Gegenstand medienwissenschaftlicher Diskussion) etabliert hat.40 Wiederholung ist dabei zum einen als grundlegendes Prinzip wirksam (Re-Komposition, Re-Kontextualisierung, Re-Vision), zum anderen als konkrete Operation der wiederholten Sichtung und Kommentierung einzelner Ausschnitte. Die Pointe dieser Anwendung besteht darin, dass die analytische Perspektive gegenüber der produktionsästhetischen profiliert wird, ohne letztere dabei aufzugeben. Filmvermittelnder Film ist zugleich angewandte Filmforschung und populäre Praxis in der Nähe zu Appropriation, Pastiche, Hommage. Eine Sonderform der radikalen Wiederholung stellt dabei der Supercut dar, der als Kompilation kleiner und kleinster Ausschnitte die repetitiven Strukturen innerhalb eines Genres, Œuvres etc. kenntlich machen kann.41 Wenn, wie in einer neueren Publikation konstatiert, die „Verfahren des Kopierens, Zitierens oder Reproduzierens allgegenwärtige Kulturtechniken sind“42, so ist damit auch angedeutet, dass die Durchsetzung des Wiederholungsparadigmas zumindest auf der Ebene der Praktiken als fait accompli behandelt werden kann. Zukünftige Anwendungen des Begriffs in Kontexten der Produktionsästhetik wären dementsprechend nicht mehr subsumtiv, 40 Vgl. die Online-Dokumentation des BMBF-geförderten Projekts „Kunst der Vermittlung“.

In: Baute et al.: Kunst der Vermittlung. Unter: http://www.kunst-der-vermittlung.de [aufgerufen am 01.08.2013]. 41 Verschiedene Definitionen und einige schöne Fallbeispiele finden sich auf dem Blog „Cut and Cakes“, das sich dem Thema Supercut widmet. Unter: http://cutsandcakes.tumblr.com [aufgerufen am 01.08.2013]. 42 Schumacher et al.: Praktiken des Sekundären – Eine Enleitung. In: Dies. (Hrsg.): Originalkopie, S. 7.

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43 Ebd., S. 17. 44 Eine Ausnahme: Ruelfs/Berger (Hrsg.): Images Recalled. Dieser Katalog dokumentiert die

wiederholen  Perspektiven

sondern spezifizierend zu begreifen: als Beitrag zu einer „differentiellen Typologie“43 des Wiederholens in den Medienkulturen und -künsten sowie als historische Perspektivierung konkreter Praktiken und ihrer Verschiebung zwischen wechselnden Produktions- und Rezeptionszusammenhängen. Für diese Perspektive spricht nicht zuletzt die Demokratisierung bzw. Popularisierung der oben genannten Verfahren unter den Bedingungen der Digitalisierung und des Internet. Kopieren, Reproduzieren, Zitieren, cut & paste, etc. sind nicht mehr nur künstlerische Produktionsformen (als die sie im wissenschaftlichen Kontext nach wie vor primär wahrgenommen werden44). Es sind längst auch populäre Praktiken, die sowohl in der Tausch- und Verweiskultur der Social Media eine Rolle spielen als auch in medienbasierten Interventionen im Zeitalter des Web 2.0, in denen Clips eingefügt, Bildmotive kompiliert, Töne, Texte, Bilder rekontextualisiert werden, in denen die Liebhaber von Filmen einzelne Einstellungen extrahieren und als bearbeitete Datei ins Netz zurückspielen, in denen Online-Galerien für Glitches, Animated Gifs etc. existieren und die Streitigkeiten um Copyrights nicht allein illegale Tauschbörsen, sondern eben auch diejenigen Nutzer betreffen, die sich, nach dem Vorbild der RAIDERS-Adapteure aus den 1980er Jahren, appropriativ mit dem Material ihrer Wahl befassen. Neben den verschiedenen Spielarten der Wiederholung, die als Verfahren für die ästhetische Praxis der Gegenwart kennzeichnend geblieben sind, profilieren sich seit den 1990er Jahren das Remake und das Reenactment als zwei Formen der rekursiven Bezugnahme, in denen der Aspekt der Produktion gegenüber den Parametern der Prozesshaftigkeit und der Partitur zurücktritt. Die inszenatorischen Praktiken exponieren mithin gerade jenes performative, transitorische Moment der Wiederholung, das in den historischen Wörterbüchern die Beispiele zum Begriff der Wiederholung dominiert. Weder Remake noch Reenactment sind dabei als ‚Erfindungen‘ der Gegenwart zu betrachten. In der industriellen Filmproduktion ist das (ökonomisch motivierte) Prinzip der wiederholten Auswertung von Stoffen, Skripten,

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gleichnamige Foto-Triennale aus dem Jahr 2009, die sich dezidiert auch mit populären und amateurhaften Praktiken des Recycling und der Rekontextualisierung befasste.

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wiederholen  Perspektiven

Figuren bereits in den 1940er Jahren Standard;45 das Reenactment ist als ‚Reanimation‘ und Rekonstruktion von historischen Begebenheiten sogar deutlich älter und ein Teil der theatralen Populärkultur des 19. Jhs.46 Mit dem Remake ist das Reenactment durch diverse Parameter und teils vergleichbare mediale Voraussetzungen verbunden. In beiden Fällen ist die Inszenierung nicht von der Idee der Neuschöpfung bestimmt, sondern von den Prinzipien der Recherche, der Rekonstruktion und der Reinszenierung;47 bei beiden handelt es sich um medienbasierte Projekte, die zu ihrer Realisierung auf Bild- und Ton- (in frühen Reenactments auch: Text-)Dokumente rekurrieren, und ihrerseits darauf ausgerichtet sind, neues Bildmaterial zu generieren; beide orientieren sich an einem je spezifischen Werk/Modell (Remake) oder Ereignis (Reenactment); beide sind gekennzeichnet durch ihre Nähe zu nicht-pychologischen Darstellungskonzepten (‚nach-stellen statt darstellen‘ 48), durch die Koexistenz von populären und künstlerischen Projekten und durch den hohen Anteil von nicht-professionellen Akteuren. Im einen wie im anderen Fall kann die Wiederholung außerdem Ausdruck einer affirmativen Beziehung zur Vorlage sein, aber auch Ausdruck einer agonalen Tendenz.49 Grundsätzlich ließe sich das ‚direktionale‘, identifizierbare Remake in der Film- wie in der Musikindustrie als Kristallisationsform eines Produktionszusammenhanges betrachten, der durch das stetige Recycling von ästhetischen Formeln und Elementen und nicht zuletzt den repetitiven Einsatz von technischen Verfahren und Effekten gekennzeichnet ist. „[W]hat distinguishes the remake is not the fact of its being a repetition, [but] rather the fact of its being a precise institutional form of the structure of repetition, the citationality or iterability, that exists in and for every film.“50

45 Vgl. Verevis: Film Remakes, S. 37–78. 46 Zur Praxis des Reenactments im (frühen) Dokumentarfilm vgl. Wortmann: Reenactment

als dokumentarisches Narrativ. In: Roselt/Otto (Hrsg.): Zur performativen Praxis des Reenactments, S. 139–154. 47 Vgl. Roselt/Otto: Nicht hier, nicht jetzt. Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Zur performativen Praxis des Reenactments, S. 9. 48 Vgl. Klappentext von: Dies. (Hrsg.): Zur performativen Praxis des Reenactments. 49 Vgl. Arns: History Will Repeat Itself. In: Dies./Horn (Hrsg.): History Will Repeat Itself, S. 40f. 50 Wills: The French Remark. In: Horton/McDougal (Hrsg.): Play It Again Sam!, S. 148.

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dern als Forschungspraxis zu begreifen, ist eine Tendenz, die derzeit in verschiedenen Bereichen der künstlerischen und wissenschaftlichen Praxis und v. a. an ihren Schnittstellen erkennbar wird.51 So sind z. B. neuere Reenactments von der Idee geleitet, dass die Repetition nicht allein kritisch statt affirmativ grundiert sein kann, sondern dass sie außerdem eine besondere Form des Studiums ermöglicht: Re-Inszenierung als Analogon des Close Reading oder als eine Spielart des Durcharbeitens. Dies geschieht teils mit dem Effekt der Verschiebung, indem durch das Reenactment andere Akteure, Positionen, Blickwinkel exponiert werden, teils als Akzentuierung von Details, die erst durch die Rekonstruktion als relevante kenntlich gemacht bzw. etabliert werden.52 Hat Benjamin die „Veränderung der Wahrnehmungsverhältnisse“ im Zeichen der Reproduzierbarkeit noch als Projekt konzipiert, so behauptet sechzig Jahre später Hillel Schwartz in THE CULTURE OF THE COPY die absolute Dominanz von Wiederholungsstrukturen. Auf den ersten Blick als Untersuchung zu verschiedenen Kulturtechniken und Phänomenen der Wiederholung angelegt, erweist sich die Publikation auf den zweiten als universalistische Bestandsaufnahme zu „unserer Kultur der Kopie“53 und deren Konsolidierung seit der frühen Neuzeit. Zu den problematischen Aspekten dieser Bestandsaufnahme gehört dabei eine Theorieerzählung, die darauf angelegt ist, das Grundmuster des Kopismus in fast allen Gegenständen der Beschreibung (wieder) zu finden, sowie die kulturkonservative bzw. -pessimistische Perspektive: „Am dunklen Ende des Weges stehen also Plagiat, Fälschung und Verdruß. Stadien einer zwanghaften, zuweilen fatalen Wiederholung.“54

51 Für das derzeit viel diskutierte Projekt der „Künstlerischen Forschung“ (Artistic Research)

könnten die Praktiken der Wiederholung als geradezu exemplarische Verfahren bezeichnet werden, insofern sich in ihnen Aspekte der Sichtung, der Analyse, der Kommentierung und der Re-Kontextualisierung verschränken, lange bevor die Frage nach dem Forschungsscharakter künstlerischer Praxis für die Diskussion akademischer Ausbildung relevant zu werden beginnt. 52 Vgl. Arns: History Will Repeat Itself. In: Dies./Horn (Hrsg.): History Will Repeat Itself, S. 40–55. 53 Schwartz: The Culture of the Copy, zit. n. der deutschen Übersetzung: Déjà vu, S. 329. 54 Ebd., S. 326.

wiederholen  Forschung

FORSCHUNG  Wiederholung nicht nur als Forschungsgegenstand, son-

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wiederholen  Forschung

Weniger pessimistisch grundiert, aber vergleichbar universalistisch, präsentiert sich das Konzept der „Remediation“, 1999 von Jay David Bolter und Richard Grusin vorgestellt und derzeit wahrscheinlich die populärste Wiederholungsfigur auf dem Feld der Theoriebildung.55 Die gleichnamige Publikation entwickelt das Tableau einer Medienevolution, die in Rekursen und Reprisen verläuft: „What is new about new media comes from the particular ways in which they refashion older media and the ways in which older media refashion themselves to answer the challenge of new media.“56 Beiden Publikationen gemeinsam ist die Behauptung eines universalen, omnipräsenten Wiederholungsprinzips anstelle einer spezifizierenden Auseinandersetzung mit den Spielarten der Wiederholung, Wiederverwertung, Wiederkehr, wie sie etwa 2004 in der Einleitung des Tagungsbandes ORIGI57 NALKOPIE. PRAKTIKEN DES SEKUNDÄREN vorgeschlagen wird. Der Filmvermittelnde Film operationalisiert die Wiederholung als Analyseverfahren. Dabei verschiebt sich der Fokus vom Sujet auf die filmischen Operationen, die in der repetitiven Betrachtung erkundet werden.58 Das Projekt der analytischen, kritischen Betrachtung unter den Bedingungen technischer Reproduzierbarkeit, wie Benjamin es im zweiten Teil des Kunstwerk-Aufsatzes entwickelt, erfährt dabei eine Aktualisierung, insofern Wiederholung als eine Technik der Beobachtung des Films durch sich selbst eingesetzt wird: Im Modus der Repetition, den Protagonisten wie Alain Bergala, Harun Farocki, Tag Gallagher et al. als Grundmuster ihrer Filmvermittlung profiliert haben, soll erkennbar werden, was in der transitorischen Sichtung unbeachtet bleiben muss oder allenfalls flüchtig erfasst werden könnte.59 Die Kompilation als Verfahren der Sammlung und Reihung technischer Bilder, die durch motivische, ikonografische oder andere Affinitäten verbunden sind, kann sich als eine Verknüpfung verschiedener Wiederholungs-Muster

55 Bolter/Grusin: Remediation. 56 Ebd., S. 15. 57 Fehrmann et al. (Hrsg.): Originalkopie, S. 17. 58 Vgl. Baute/Pantenburg: Klassiker des ‚Filmvermittelnden Films‘. In: Henzler/Pauleit (Hrsg.):

Filme sehen, Kino verstehen, S. 216–235.

59 Vgl. die entsprechenden „Dossiers“ zu Bergala; Farocki; Gallagher. In: Baute et al.: Kunst der

Vermittlung. Unter: http://www.kunst-der-vermittlung.de/ [aufgerufen am 01.08.2013].

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wiederholen  Forschung

gestalten. Besonders populär (und auf den einschlägigen Plattformen vielfach geklickt und kommentiert) sind jedoch v. a. jene exzessiven Inszenierungen, die auf die einförmige Wiederholung setzen: 10.000 Sonnenuntergänge auf Flickr, unzählige Auftritte des zentralen Four-Letter-Words der SOPRANOS, Iterationen eines Todesschreis durch fünfzig Jahre Filmgeschichte etc. – Was diese Akkumulationen primär kenntlich machen, ist, dass sich etwas wiederholt und dass diese Wiederholung auch außerhalb der Kompilation existiert. Die Bedeutung der Kompilation liegt demnach weniger in der Analyse als darin, ein Prinzip industrieller Medienkultur zu exponieren. Eine andere Perspektive, eher in der Kunstwissenschaft zu verorten, ließe sich aus einer Beobachtung entwickeln, die mit Blick auf die aktuellen „Praktiken des Sekundären“ eher nebenbei formuliert wurde: „[D]er Mythos der Originalität [ist] – entgegen den berühmten Diagnosen Benjamins – auch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit gerade im Kunstsystem und dem entsprechenden Markt nach wie vor beinahe ungebrochen“60. Es gehört zu den schizophrenen Strukturen des Kunstbetriebs, den Wiederholungsbegriff ausführlich und vielerorts zu mobilisieren (dies geschieht in Katalogtexten, Texttafeln, Artikeln, Rezensionen) und zugleich Begriffe wie „Originalität“ oder „Einzigartigkeit“ keineswegs zu verabschieden, weder in der diskursiven Behandlung von Künstlern und Kunstwerken noch in deren Vermarktung. Zu fragen wäre mithin nach der Persistenz jener Kategorien und Kriterien, die durch die Konjunktur der Wiederholung zwar theoretisch „beiseite gesetzt“ (Benjamin) scheinen, de facto jedoch weiterhin relevant und implizit wie explizit in Gebrauch sind. Was der Wiederholung argumentativ, technisch oder institutionell entgegengesetzt worden ist (vgl. etwa die Limitierung von Editionen61), wäre nicht weniger interessant zu studieren als die Bemühungen „Wiederholung“ und „Originalität“ diskursiv kompatibel zu machen – oder wenigstens in ein Verhältnis der Koexistenz zu bringen. (Der Kunstmarkt der Wiederholung ist ein Paradox;62 aber eines, das vielleicht resistenter beschaffen ist als die Kunstwissenschaft bislang realisiert hat.)

W 60 Fehrmann et al.: Originalgenie. In: Dies. (Hrsg.): Originalgenie, S. 12. 61 Vgl. Finkel: Seltenheit und Exklusivität. In: Fotogeschichte, S. 59–61. 62 Vgl. Häseler: Originalität, S. 643.

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wiederholen  Literaturempfehlungen

Wenn der Kunstbetrieb nach wie vor eine Bühne für den Auftritt von Gegenbegriffen der Wiederholung abgibt, so lässt sich in der Unterhaltungsindustrie der Gegenwart eine zunehmende Diffusion zwischen den Wiederholungs-Strukturen des Remakes und der Remediatisierung beobachten, da die wiederholte Auswertung eines Stoffes längst nicht mehr auf verschiedene Schnittversionen (‚Director’s Cut‘) und DVD-Editionen beschränkt bleibt, sondern in andere Bereiche der Medienindustrie ausgreift, zu denen neben der Entwicklung von Computerspielen und Soundtracks auch die Konzeption von Websites und Themenparks oder die Herstellung von MerchandisingArtikeln gehört.63 Mit Blick auf die Ausbildung dieser neuen Wiederholungs-Ökonomie, in der die großen Filmstudios allenfalls auf der mittleren Hierarchiestufe eines Medienkonzerns stehen und ihre Produktionen von den Bedingungen multimedialer Vermarktung modelliert sind, ließe sich der Begriff der „Remediation“ in neuer Verwendung produktiv machen: diesmal nicht als Formel einer universalistischen Medienhistoriografie, sondern zur Kennzeichnung einer spezifischen Verschiebung: vom intramedialen Remake zur inter- und transmedialen Remediatisierung. LITERATUREMPFEHLUNGEN Bolter, Jay David/Grusin, Richard: Remediation. Understanding New Media, Cambridge/MA (2000).

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VERWEISE  fernsehen |225|, inszenieren |297|, kopieren |369|,

nachahmen |445|, serialisieren |498|

63 Zur multimedialen Auswertung von Stoffen wie PIRATES OF THE CARIBBEAN (ursprünglich

als Themenpark entwickelt), HARRY POTTER, SHREK, TRANSFORMERS vgl. Hagener: Wo ist Film (heute)? In: Sommer/Hediger/Fahle (Hrsg.): Orte filmischen Wissens, S. 45–61. Vgl. auch Balio: Hollywood in the New Millenium.

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WISCHEN OLIVER RUF

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1 Vgl. die Videoaufzeichnung unter: iPhone Keynote 2007 Complete. In: YouTube. Unter: https://

www.youtube.com/watch?v=t4OEsI0Sc_s sowie die Pressemitteilung von Apple unter Apple Presseinformation: Apple erfindet mit dem iPhone das Mobiltelefon neu. Unter: http://www.apple. com/de/pr/library/2007/01/09Apple-Reinvents-the-Phone-with-iPhone.html (bzw. Apple Press Info: Apple Reinvents the Phone with iPhone. Unter: https://www.apple.com/pr/library/2007/ 01/09Apple-Reinvents-the-Phone-with-iPhone.html) oder einen der zahlreichen Presseartikel, etwa unter Donner: „Wir werden das Telefon neu erfinden“. In: SZ online. Unter: http://www. sueddeutsche.de/digital/apples-iphone-wir-werden-das-telefon-neu-erfinden-1.837045 [alle aufgerufen am 10.03.2014]. 2 Vgl. u. a. Noriege: iPhone Keynote 2007 Complete. In: YouTube. Unter: https://www. youtube.com/watch?v=t4OEsI0Sc_s [aufgerufen am 10.03.2014].

wischen  Anekdote

ANEKDOTE  Eine neue Mediengeschichte setzt am 09. Januar 2007 mit einem

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641

zentrale Geste, die darin ihre Entfaltung erfährt und die – mit Giorgio Agamben gesagt – „weder etwas hervorbringt bzw. macht noch ausführt bzw. handelt, sondern etwas übernimmt und trägt“ (die die „Darbietung einer Mittelbarkeit [medialità] “ bzw. das „Sichtbarmachen eines Mittels [mezzo] als solchem“ darstellt),3 wird bereits in dem Augenblick ersichtlich, in dem das genannte Mediengerät eingeschaltet wird. Man ist hierzu darauf angewiesen, den eigenen Finger auf die Bildschirmoberfläche des AppleSmartphones zu legen bzw. auf einen dort virtuell simulierten Schalter zu setzen und diesen gestisch von links nach rechts zu ziehen oder besser formuliert: darauf hin und her zu wischen. So funktionieren seither alle hierfür eigens programmierten Applikationen auf nachfolgenden bzw. ähnlichen technischen Medien, sei es, um Bildschirmseiten zu wechseln, angezeigte Menüs zu steuern oder bestimmte Informationen zu löschen; das Wischen per Fingerbewegung verändert von Grund auf den digitalen Mediengebrauch.

wischen  Etymologie

ETYMOLOGIE  Der Begriff des Wischens lässt sich etymologisch ursprüng-

lich im ahhdt. Verb wisken registrieren, das im Mittel- und Frühnhdt. dann bereits in der heutigen Schreibung in Erscheinung tritt und dessen Bedeutungsspektrum von „abwischen, sich wegmachen, entrinnen“, über „kehren, sich schnell bewegen, huschen“, „geschäftig umherrennen“, „entwischen“, „werfen, schleudern“ bis hin zu „mit einem wisch hantieren, flüchtig über etwas hinwischen“ und „sich wie ein wisch bewegen“ reicht.4 Grundsätzlich ist zwischen einer transitiven und einer intransitiven Verwendung zu unterscheiden, wobei erstgenannte mit einem „Objekt des Gegenstandes, der gewischt wird“ gebildet wird.5 Den einzelnen Gebrauchsweisen gemeinsam ist die Ausgangsbedeutung einer raschen Reibegebärde, die beschreibt, dass über etwas reinigend oder wegnehmend gerieben wird (etwa über einen zu säubernden Boden, beim Schwitzen über die Stirn oder als Abwischen der

3 Agamben: Noten zur Geste. In: Ders.: Mittel ohne Zweck, S. 53–55. 4 (Art.) wischen, vb. In: Grimm online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ [aufgerufen

am 10.03.2014].

5 Vgl. ebd.

642

Tafel);6 überhaupt ist die im Wischen enthaltene schnelle, rasch huschende Bewegung symptomatisch,7 z. B. wenn man sich den Schlaf aus den Augen wischt und damit die (innerliche) Trägheit oder Ruhe abschütteln respektive vertreiben will. Hier setzt auch der weiterführende Bedeutungsgehalt ein, der unter wischen etwas zu „fassen“ und zu „greifen“ versteht: wischen auf, an, über etc. heißt dann, „fassend nach etwas sich bewegen“, z. B. mit der „sinnlichen Vorstellung einer Arm- oder Handbewegung“8.

es „falsch“ ist, „Mediengeräte als bloße Konsumptionsmittel zu betrachten“, da sie „im Prinzip immer zugleich Produktionsmittel“ sind,9 wird in einem entsprechend medialen Kontext Wischen heute im Anwendungsfeld produktiver Medien(be)nutzung lokalisiert: Indem wir über Bildschirme von Smart­phones und Tablet-Computer wischen, bedienen wir diese rein körperlich, mithin mit einer körperlichen Bewegung unserer Hand einschließlich deren Finger.10 Während wir dies tun, ist die Möglichkeit eröffnet, Medieninhalte sowohl zu nutzen (indem wir beispielsweise wischend in einem e-Paper blättern) als auch diese selbst zu erschaffen (indem wir etwa einen schriftlichen Kommentar mittels einer virtuellen Tastatur und der dazu gehörenden Finger-Tipp- oder -Streich-Bewegung erstellen). Hinzu kommt, dass mit der Einführung darauf abgestimmter Medienmaschinen, die auf Berührungen ihrer Bildschirmoberflächen sensorisch zu reagieren vermögen, die Verwendung des Wischens zum Namen zuvor nicht in dieser Form existierender Gestensteuerungen avanciert ist – diese werden seitens der Industrie meist als „Multi-Touch-Gesten“11 bezeichnet

6 Vgl. (Art.) wischen. In: Hense: Handwörterbuch der deutschen Sprache, S. 1961 sowie u. a.

auch (Art.): wischen. In: Sommerfeldt/Schreiber: Wörterbuch der Valenz etymologisch verwandter Wörter, S. 142f. 7 Vgl. (Art.): Wischen. In: Campe (Hrsg.): Wörterbuch der Deutschen Sprache, S. 744. 8 (Art.) wischen, vb. In: Grimm online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ [aufgerufen am 10.03.2014]. 9 Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch, S. 167. 10 Vgl. ausführlich Ruf: Die Hand. 11 Vgl. Apple: Mac-Grundlagen: Multi-Touch-Gesten. Unter: http://support.apple.com/kb/ HT4721?viewlocale=de_DE&locale=de_DE [aufgerufen am 11.03.2014].

wischen  Kontexte

KONTEXTE  Gemäß dem älteren Diktum Hans Magnus Enzensbergers, dass

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643

wischen  Kontexte

und sind seit Einführung des Apple iPhones im Jahr 2007 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, nachdem die zugrundeliegende Technologie bereits ab 1982 entwickelt worden ist12 und Apple diese 2004 als Patent13 anmelden konnte –: So kann man durch das Wischen mit einem bzw. mehreren Fingern in die Richtung, in die der Inhalt der betrachteten Bildschirmseite verschoben werden soll, nach unten und oben bzw. nach links oder rechts scrollen (und lässt man die Finger nach dem Wischen etwas in dieselbe Richtung schwingen, wird der Vorgang beschleunigt); zudem lassen sich visuell animierte Objekte (Bilder, Ansichten etc.) mittels des Auseinanderziehens bzw. wiederum Zusammenführens zweier Finger bei fortlaufendem Kontakt auf einem Display oder Trackpad vergrößern und verkleinern, d. h. es lässt sich mittels Wischen zoomen, aber auch skalieren oder drehen; und: Wischen ermöglicht das Navigieren durch Webseiten im Browser sowie durch Dokumente in Dateivorschauen. Es handelt sich bei all dem um Funktionsweisen, die unter dem Titel natürlicher Gestensteuerung bekannt geworden sind, da ein solches wischendes Berühren und Beeinflussen der virtuellen Objekte dem wischenden Berühren und Beeinflussen realer Objekte ähnelt. Damit steht der noch junge, medientechnologisch geprägte Verwendungskontext des Wischens in unmittelbarer Verbindung mit dessen Etymologie. Wie das Wischen spätestens seit dem Mittelalter sprachhistorisch auftritt, um alltägliche Handlungen zu benennen, wird gegenwärtig unter Wischen die Übertragung dieser Handlungen aus dem Alltag in das digitale System verstanden. Aufgrund von Erfahrungswissen bzw. durch die Aktivierung von bestehenden Wissensstrukturen und der Anwendung von Vorwissen aus der realen, alltäglichen Umwelt soll dessen Nutzern die Bedienung besonders leicht fallen, indem Parallelen zu den virtuellen Objekten gezogen und Handlungsweisen übertragen werden. Diese These bestätigen Aussagen wie diejenige des Psychologen Manfred Spitzer („Wir haben Erfahrungen mit der Umwelt, das macht es uns leichter, die Tablets zu benutzen – weil sie genauso

12 Vgl. Buxton: Multi-Touch Systems that I Have Known and Loved. Unter: http://www.

billbuxton.com/multitouchOverview.html [aufgerufen am 11.03.2014].

13 Vgl. die Angaben im United States Patent No. US 7,633,607 B2 (16.02.2010).

644

KONJUNKTUREN  Als Medien- bzw. genauer: als Smartphone- und TabletOperation hat das Wischen seit der oben kurz skizzierten Einführung des Apple iPhones eine sowohl begriffliche wie material-mediale Erfolgsgeschichte erlebt, die medienhistorisch beinahe beispiellos ist; seit Etablierung der entsprechenden Medientechnologie wischt man fast ausschließlich über Computerbildschirme; die herkömmliche Tastatur – bei welchen Gerät auch immer – war dabei im Zuge des entsprechenden Medien-Hypes auf dem Rückzug, ja eine Zeitlang regelrecht in Vergessenheit geraten; das Wischen hat sich hier – zur Benutzung von Apps und Kleingeräten – durchgesetzt. Gleichwohl hat es aber nicht eine Dominanz im Zuge komplexerer Kulturtechniken (wie derjenigen der Erstellung und Gestaltung großer Texte) zugewiesen erhalten. Gerätehersteller greifen auf Wisch-Weisen daher insbesondere für tastaturunabhängige Maschinen zurück (dies fängt bei der mobilen Telekommunikation an und reicht mittlerweile über Fotografie und Video bis hin zu Game-Konsolen und ähnlichen Objektivationen). Es ist deshalb davon auszugehen, dass wir in Zukunft weiterhin verstärkt medial wischen werden, bis die nächste Mediengeste noch einmal unseren Mediengebrauch komplettiert.

14 Zit. in Grün: Warum wir so gerne wischen. In: Zeit online. Unter: http://www.zeit.de/digital/

wischen  Konjunkturen

funktionieren“14) oder des Designers Frank Jacob („Jeder hat ein Gefühl für die Grundprinzipien der Physik, weil sie uns immer umgibt. Und viele kleine Details an den Tablets ahmen das allgemein Bekannte nach“15). Hinter all diesen Implikationen gestischer Handhabungen steht der Begriffszusammenhang des Wischens, der die betroffenen Mediengeräte qua haptischer Bedienbarkeit, ihres Wahrnehmungsgehalts – und trotz ihres technologischen Charakters – in die Nähe des Natürlichen rückt. Daher erscheint das Wischen, wie es bei Friedrich Kittler in Bezug auf den Computer schlechthin heißt, als die „allgemeine Schnittstelle zwischen Gleichungssystemen und Sinneswahrnehmung, um nicht Natur zu sagen.“16

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mobil/2011-07/tablet-bedienung-haptik [aufgerufen am 11.03.2014].

15 Zit.n. ebd. 16 Kittler: Optische Medien, S. 297.

645

GEGENBEGRIFFE   Um überhaupt über/mit Medienelemente(n) wischen

zu können, bedarf es dem Ergreifen mittels des menschlichen Körpers bzw., mit Foucault gesagt, einer geschichtlich konzipierten Körperlichkeit,17 die es möglich macht, mit den medialen Artefakten in ihrer Form als Mediengehäuse wie mit den virtuell zu bewegenden Bildern bzw. auf dem Bildschirm zu manipulierenden Zeichenwelten zusammenzuwirken.18 Ihren Ausdruck erfährt diese Körperlichkeit v. a. im Feld des Interaktionsdesigns digitaler Medien, indem darin die menschliche Hand als besonderes Organ zum Einsatz kommen muss:19 „[S]ie ist gleichzeitig Sinnesorgan [...] – des Greifens, Tastens und Fühlens –“ und „Handlungsorgan – des Ergreifens, Fassens und Manipulierens.“20 Das Greifbare und mithin Fühlbare ist dem Wischen (nicht allein schon etymologisch) vorgeschaltet, auch wenn mit ihm am Ende doch eine andere Bewegung ausgeführt wird; als ‚härtere‘ Gegenbegriffe lassen sich ‚drücken‘ und ‚touchen‘ anführen.

wischen  Gegenbegriffe

PERSPEKTIVEN   Die Reflexion auf das Wesen des Wischens als Medien-

geste und als gleichermaßen neue Kulturtechnik steht in engstem Kontakt mit anwendungsorientierten Funktionen auf dem Gebiet von Telefon- und Computertechnik; in diesen Bereichen kann das Wischen neue Möglichkeiten für vornehmlich schriftliche Kommunikation erweisen. Diese werden anhand neuer Applikationen für die vorausgesetzten Mediengeräte innoviert. Ein treffendes Beispiel ist die Eingabemethode Swype für Android- und Smartphones, die es möglich macht, durch die Bewegung des Fingers quer über die Tastatur Texte [...] einzugeben: Der Finger fährt auf der sich auf dem Oberflächenbildschirm digital erscheinenden Eingabetastatur von Buchstabe zu Buchstabe, ohne zwischen den Buchstaben angehoben werden zu müssen; die Applikation bearbeitet währenddessen diese ‚wischende‘ Eingabe selbständig durch Autovervollständigung bzw.

17 Vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen; ders.: Der Gebrauch der Lüste; ders.: Die Sorge um

sich.

18 Vgl. Hansen: New Philosophy for New Media, S. 10. 19 Vgl. Ruf: Die Hand. 20 Robben: Die Bedeutung der Körperlichkeit für be-greifbare Interaktion mit dem Computer.

In: Ders./Schelhowe (Hrsg.): Be-greifbare Interaktionen, S. 28.

646

FORSCHUNG  Beforschungen des Wischens liegen zum jetzigen Zeitpunkt nur sehr spärlich und v. a. im Kontext gestaltungsbezogener Explikationen vor; in daraus hervorgegangenen Publikationen, die in dominanter Weise im englischsprachigen Raum22 (und mit wenigen Ausnahmen auch mit deutschsprachiger Provenienz23) veröffentlicht worden sind, werden insbesondere die technischen Voraussetzungen (wie Tangible User Interfaces, Wearables und Ubiquitous Computing24) ausgeführt und mit konkreten Anweisungen zur Umsetzung im Interaktions- und Mediendesign einschließlich hierfür notwendiger Programmiergrundlagen versehen. Für die medienkulturwissenschaftliche Betrachtung des Wischens fruchtbar zu machen ist demgegenüber die von Vilém Flusser prominent vorgetragene Medienphilosophie einer Phänomenologie der Gesten,25 in der dieser zwischen kommunikativen Gesten, Gesten der Arbeit, interessensfreien Gesten und rituellen Gesten differenziert;26 gleichwohl darin an keiner Stelle von Wischen die Rede ist (sondern grundsätzliches Verhalten wie Sprechen, Malen, Fotografieren, Filmen, Telefonieren, Pflanzen, Rasieren, Musikhören u. Ä. im Fokus steht), bietet es sich an, jenes als Mediengeste im Sinne Flussers zu explorieren. Denn dessen medienphänomenologische Betrachtung zeigt die „mögliche Basis für

21 Ruf: Wischen und Schreiben, S. 56. 22 Vgl. etwa Wigdor/Wixon: Brave NUI World; Saffer: Designing Gestural Interfaces. 23 So etwa Dorau: Emotionales Interaktionsdesign. 24 Vgl. Robben/Schelhowe (Hrsg.): Be-greifbare Interaktionen. 25 Vgl. Krtilova: Vilém Flussers ‚Theorie der Gesten‘ als Medienphilosophie. In: Richtmeyer/

wischen  Forschung

Worterkennungssystem; [...] Es ist der künstlichen Intelligenz der Konzeption geschuldet, dass Schreiben hier möglich wird; die Tastatur verfügt gleichsam über eine Lernfähigkeit, die beim Wischen von einer Taste zur nächsten das potentielle Wort antizipiert – und dies qua Wisch-Bewegung. Das Programm lernt; insbesondere lernt es den Schreibstil des Be-Nutzers, womöglich – aber sicherlich nicht zwangsläufig – seine Schreibweise einschließlich seines häufig benutzten Vokabulars bereits während der Installation, indem es dies aus auf dem Gerät vorliegenden Anwendungen interpretiert (Facebook, Twitter, Gmail und SMS werden automatisch analysiert).21

W

Goppelsröder/Hildebrandt (Hrsg.): Bild und Geste.

26 Vgl. Flusser: Gesten.

647

wischen  Forschung

eine Ästhetik der Taktilität“27, zumal die theoretische Untersuchung der Geste diese als eine „basale Dimension der Kommunikation“ offenbart, als „Bedingung wie Realität von Kommunikation“, die fragt, „was es ermöglicht, das[s] etwas in Erscheinung kommt, ohne dass es mit dem, was in Erscheinung gekommen ist, identisch wäre“: „[E]s ist ein Außen, eine Unterbrechung, ein Zwischenraum, der gleichwohl affiziert.“28 Im Ausgang dieses Frageinteresses der Medienkulturwissenschaft ist bislang lediglich ein einziges Mal vorgeschlagen worden, die Mediengeste des Wischens mit einer der wichtigsten basalen Kulturtechniken zu konfrontieren: mit derjenigen des Schreibens.29 Aufgabe anwendungsorientierter Forschung ist es denn auch, aus der natürlich genannten Gestensteuerung des Wischens neue bzw. effektive und daher nützliche Gebrauchsweisen zu entwickeln, die – wie dies bei Swype deutlich wird – die Medien(be)nutzung vereinfachen oder beschleunigen oder wiederum weiterhin ‚revolutionieren‘. Dies geht technologisch mittlerweile so weit, dass zum Wischen keine materielle Wischoberfläche (wie ein Touchscreen) vorhanden sein muss: So kann etwa mit Leap Motion (gesteuert über Kamera- und Infrarotsensoren) in der Luft gewischt werden, um Dateien und Inhalte auf einem Computermonitor berührungslos zu verschieben.30 In einem der interessantesten Texte zur digitalen Medientheorie, den wiederum Friedrich Kittler verfasst und ihm den Titel ES GIBT KEINE SOFTWARE verliehen hat, ist zu lesen, wie Schreiben und Programmieren eine Wesensverwandtschaft eingehen und wie dann „[m]oderne Medientechnologien [...] grundsätzlich darauf angelegt“ sind, „die Sinneswahrnehmungen zu unterlaufen“, ein Befund, aus dem Kittler den Schluss zieht, dass „schlichtweg nicht mehr zu wissen“ sei, „was unser Schreiben tut, und beim Programmieren am Allerwenigsten.“31 Aus dieser These ist die Idee abzuleiten, dass nicht nur Schreibprodukte durch Softwarecodes programmierter Maschinen hervorgebracht werden können, sondern dass auch die Maschine möglicherweise – beinahe – unabhängig schreiben könnte. Swype und das dadurch realisierte

27 Diaconu: Tasten, Riechen, Schmecken, S. 96. 28 Görling: Einleitung. In: Ders./Skrandies/Trinkaus (Hrsg.): Geste, S. 10f. 29 Vgl. Ruf: Wischen und Schreiben, insbes. Kap. 1.2: Geste und Medium, S. 20. 30 Vgl. Ruf: Die Hand, Kap. 2.V.: Virtuelles Berühren (Leap Motion), S. 77–92. 31 Kittler: Es gibt keine Software. In: Ders.: Die Wahrheit der technischen Welt, S. 288.

648

32 Ruf: Wischen und Schreiben, S. 57. 33 Vgl. etwa Miyazaki: Algorhythmisiert. 34 Vgl. Ruf: Die Hand, S. 86. 35 Vgl. Mareis/Joost/Kimpel (Hrsg.): entwerfen – wissen – produzieren. 36 Vgl. Leroi-Gourhan: Le Geste et la Parole. 37 Vgl. McNeill: Hand and Mind; Kendon: Gesture; Tomasello: Origins of Human Communi-

wischen  Forschung

„‚wischende‘ Schreiben“32 deutet die Richtung an, in der eine derart fokussierte Forschung verlaufen würde. Diese ist methodisch darauf angewiesen, dass unterschiedliche Wissenschaften miteinander in Dialog treten, Wissen austauschen und so einerseits neue Interpretamente, andererseits neue Technologien erfinden: Die medienkulturwissenschaftlich geschulte und digital ambitionierte Medienarchäologie33 hat hierzu die Aufgabe, Begriffe zu klären, Beobachtungen phänomenologisch zu fundieren und Technikfolgen kritisch abzuschätzen; der ingenieurwissenschaftlich geprägten Medieninformatik fällt zugleich die Aufgabe zu, flexibel reagierende Programmiersprachen zu entwickeln, die der Maschine am Ende solche Impulse geben können, die aus einer Wisch-Bewegung einen – womöglich autonom – geschriebenen Text machen (wie dies ansatzweise bereits mit Hilfe der so genannten Fleksy-Applikation gelöst worden ist34). Weitere Forschungsaufgaben, in deren Zentrum das Wischen zu stehen hat, ergeben sich im Hinblick auf die Gestaltungs- bzw. Designwissenschaften, die sich in einer ihrer maßgeblichen Ausprägung für Entwurfstheorie und -praxis interessieren.35 Für sie stark zu machen wäre wiederum eine Philosophie der Gesten, die eine grundlegende Befragung der gestischen Grundlagen von Sozialität und Kultur gestalterisch privilegiert. Vielversprechende Leitlinien bieten hier neben Flussers Begriffsbemerkungen zum einen anthropologisch geprägte Studien, wie sie André Leroi-Gourhans Arbeit LE GESTE ET LA PAROLE darstellt,36 zum anderen psycholinguistische/verhaltensorientierte Ansätze, die menschliche Kommunikation nicht als in sich geschlossenes System lautlicher Zeichen, als vielmehr als multimodale, um das Modell der Geste gruppierte Erscheinung exemplifizieren.37 Zu diesen Forschungswegen haben Untersuchungen zum Performativitätsgehalt von Kultur- und Medienbeständen im Übrigen ihrerseits Vorschläge

W

cation.

649

unterbreitet, Inszenierungs- und Aufführungspraktiken aus dem Blickwinkel der Geste neu zu bedenken.38 In den genannten Disziplinen zu Gestaltung/ Design, Philosophie/Theorie, Anthropologie/Archäologie/Soziologie, Linguistik/Semiotik, Kunst/Theater/Film ist das Wischen als Forschungsgegenstand jedoch überhaupt erst vorzuschlagen. Dazu liegen erste Hinweise vor, dieses als Ansatzpunkt medientheoretischer wie am Designprozess orientierter Deutungen zu beforschen: Unter dem Schlagwort des ‚digitalen Textentwurfs‘, dem „[v]isuelle und taktile Erfahrungen“ wesentlich sind und der sich „als Aktivität, […] mit sehr neuen Medien produziert“, auf „sehr neue [...] Medienbenutzung“ – „wie diejenige des ‚Wischens‘“ – bezieht,39 geht es dann darum, „das Kultur prägende Gefüge aus Medientechnik, Medienmaterialität, Medienraum, Medienentwurf und Medientext theoriegeleitet zu beobachten und im Hinblick auf die Diskursivierungen ihrer Produktionspraxis reflexiv zu befragen.“40 LITERATUREMPFEHLUNGEN Dorau, Rainer: Emotionales Interaktionsdesign. Gesten und Mimik interaktiver Systeme,

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ZAPPEN HARUN MAYE

ANEKDOTE  Am 01.12.1993 geht VIVA in direkter Konkurrenz zu MTV Europe

auf Sendung. Im November 1994 veröffentlicht der deutsche Schriftsteller Christian Kracht im Nachrichtenmagazin Der Spiegel das Protokoll eines Selbstversuchs, dessen Zweck und Methode unmissverständlich erläutert werden: ‚Fahr in die häßlichste Stadt Deutschlands‘, sagen mir die Leute in der Redaktion. ‚Fahr dorthin, Junge, nimm dir ein Hotelzimmer, schalte den Fernseher ein und schalte ihn nicht wieder aus‘. Ich begreife sofort, worum es geht. ‚Sehr gut‘, sage ich denen in der Redaktion. ‚Sehr gut. Fernsehen, bis die Augen bluten‘. Ich überlege schnell, welches die häßlichste und gemeinste Stadt Deutschlands ist, und dann packe ich eine Stange Zigaretten ein und meine Zahnbürste, und dann fahre ich los, nach Frankfurt.1

Erst nachdem Kracht sein Hotelzimmer bezogen hat, wird klar, wie die vereinbarte Mediennutzung konkret umgesetzt werden soll:

Natürlich hält man das nicht lange aus: „Beim Stück Hey, Süßer von Lucilectric passiert es: Ich sehe zum erstenmal weg. VIVA läuft jetzt seit zwei Stunden. Es ist kurz vor drei Uhr“3. Bei den strengen Vorschriften und fast schon unzumutbaren

1 Kracht: 60 STUNDEN ... ... VIVA. In: Spiegel Special, S. 8. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 9.

zappen  Anekdote

Das Zimmer ist in Ordnung. Hier werde ich die nächste Zeit leben, nicht hi­nausgehen, nicht umschalten, nicht ausmachen. Ich hänge das Do-not-disturb-Schildchen an den Türgriff, mache die Tür zu, gehe zum Fenster und schaue hinaus auf die Hochhäuser. Frankfurt ist wirklich eine ausgesprochen grauenvolle Stadt. Ich ziehe die Vorhänge wieder zu und schalte den Fernseher ein – den Kanal Viva, das deutsche MTV. Ich bin sehr gut gelaunt. […] Mal schauen, wie lange hintereinander ich auf den Schirm gucken kann, ohne wegzusehen.2

Z 653

zappen  Anekdote

Härten des Experiments bleibt temporäres Versagen kein Einzelfall: „02:45 Ich bin eingeschlafen. Das Kopfkissen ist naß, weil mir Speichel aus dem Mund gelaufen ist im Schlaf“4. Und so geht es immer weiter, drei Tage lang. Der Selbstversuch ist interessant, weil 1994, zeitgleich zur Einführung von VIVA, erste Studien zur durchschnittlichen Rezeption einer Fernsehsendung in Deutschland veröffentlicht werden.5 Das Ergebnis ist ernüchternd, v. a. für die Programmacher. Denn bereits Anfang der 1990er Jahre betrug die durchschnittliche Zeit, in der eine Sendung ohne Umschalten angesehen wurde, nur noch 10 Minuten. Dieses Ergebnis ist das Symptom einer neuen Rezeptionsform: Seit Einführung der drahtlosen Fernbedienung als Massenprodukt (in Deutschland zwischen 1972–1975) und der Erweiterung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch privatrechtlich organisierte und finanzierte Sendeanstalten (1984) können die Zuschauer in schneller Folge durch die Kanäle schalten.6 Ein Gerät, das ursprünglich nur der Bequemlichkeit des Zuschauers dienen sollte, ist plötzlich zu einer ‚Waffe‘ geworden, die unter anderem dazu genutzt wird, Werbespots auszuweichen. Eine Antwort der Sender auf diese unerwünschte Entwicklung bestand unter anderem in der Synchronisierung von Werbeblöcken sowie einer gesteigerten Geschwindigkeit und verdichteten Bildästhetik, das ist eine schnelle Abfolge von bewegten Bildern und sprunghafte Schnitte. Zapping wurde offenbar als Wunsch nach einem anderen Fernsehen interpretiert, dessen Imitation in Form von ‚vorgezappten‘ Formaten die Zuschauer nicht nur vom ständigen Umschalten abhalten soll, sondern auch ein Fernseherlebnis verspricht, in dem auf einen Knopfdruck die Zapping-Ästhetik direkt verfügbar ist, ohne dass der Zuschauer die Fernbedienung selbst betätigen muss. Videoclips waren in den 1990er Jahren der Inbegriff einer solchen Formatierung. Krachts Selbstversuch bezeugt daher einen intelligenten Umgang mit den neuen Fernsehverhältnissen, indem er den Musikkanal VIVA auf eine Weise beobachtet, die eher für das Ansehen von Informationssendungen oder Bildungsfernsehen typisch ist: konzentriert, ausdauernd und reflexiv. 4 Ebd., S. 10. 5 Vgl. Hasebrink/Krotz: Wie nutzen Zuschauer das Fernsehen? In: Media Perspektiven, Nr. 12,

S. 515–527; Krotz: Alleinseher im „Fernsehfluss“. In: Media Perspektiven, Nr. 10, S. 505–516.

6 Vgl. Hörisch: Der Sinn und die Sinne, S. 344f.

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Nach einigen Stunden ununterbrochenen Zuschauens kommt Kracht zu einem ersten Zwischenergebnis: Viva ist Scheiße. Midnight Oil. Unfaßbar. Australier haben alle einen Schaden. Dafür danach Beastie Boys, Sabotage, so ein Starsky & Hutch-Video mit fetten Koteletten und breiten Autos. Das ist, glaube ich, in Ordnung, obwohl ich davon nichts verstehe. Danach sofort Jule Neigel. Erst Beastie Boys und dann das. Warum mischt man so was?7

Warum mischt man so was? Die Frage wird im Verlauf des Experiments nicht mehr beantwortet, der Algorithmus, der die Rotation der Clips bestimmt, bleibt für Kracht unsichtbar. Nach 40 Stunden wird allerdings deutlich, dass die Musikauswahl und die Programmgestaltung durch ein unsichtbares Muster strukturiert sind:

Was hier sichtbar wird, ist das gar nicht so geheime Wissen über die berechnete Anordnung von Wortbeiträgen, Nachrichten, Jingles, Werbeblöcken und Musiktiteln, die einem Schema folgt, das mithilfe einer speziellen Software erstellt wird. Die Wiederholungen fallen allerdings erst auf, wenn man das Programm, wie Kracht, gegen die Gebrauchsanweisung betrachtet. Dass Kracht und der Redaktion des Spiegel der zeitgenössische Diskurs über Fernsehnutzung und Zapping bekannt ist, lässt sich an einem Zwischentext ablesen, der unter der Überschrift „Fernsehen oder nicht“ ausgewählte

7 Kracht: 60 STUNDEN ... ... VIVA. In: Spiegel Special, S. 9. 8 Ebd., S. 14.

zappen  Anekdote

07:00 Ganz kurz, wirklich nur ganz kurz geschlafen. Sinead O’Connor, Fire In Babylon. Fürchterliches Lied. Jetzt sieht sie so aus wie Winona Ryder, mit Kurzhaarschnitt. Dann, eine Viertelstunde später: ein Werbespot für ihre neue Platte. So läuft das. Erst kommt der Videoclip, dann kommt die Werbung für die Platte, und vier Stunden später kommt nochmal derselbe Videoclip. So etwas merkt aber niemand, weil ja niemand länger als zwei Stunden hintereinander Videoclips anschaut. Das Muster hinter allem, die geheimen Verbindungen, kann man erst erkennen, wenn man, Moment mal, 40 Stunden am Stück gesehen hat. Dann beginnt sich ein klares Bild aufzubauen im Gehirn.8

Z 655

Ergebnisse aus der Spiegel-Jugendstudie von 1994 montiert. Diese Montage ist, eingerahmt von Krachts Essay, ein selbstironischer Kommentar zur gesellschaftlichen Sorge um den jugendlichen Fernsehkonsum. Man kann diese Form der Anordnung auch als eine Parodie der Ergebnisse empirischer Sozialforschung lesen: Jugendliche, die vier und mehr Stunden am Tag fernsehen, unterscheiden sich von anderen Jugendlichen dadurch, daß sie häufiger Geborgenheit in einer eigenen Familie suchen, Haß gegen irgendwas oder irgendjemanden empfinden, Hieb- und Stichwaffen bei sich führen, mal ein Hakenkreuz ritzen, die Deutschen anderen Völkern überlegen sehen, sich nicht für Politik interessieren, damit rechnen, daß sich die Menschen in Zukunft immer mehr isolieren und nur noch an sich selber denken, den Tag des Mauerfalls für einen Volkstrauertag halten, den meisten Respekt vor Franz Beckenbauer haben, Punks und Ökos nicht mögen.9

zappen  Etymologie

Erkennbar werden hier einige Klischees über das politische und psychologische Profil von Vielsehern und Zappern persifliert, was sich v. a. an der Differenz zu jenen Jugendlichen ablesen lässt, die täglich weniger als eine Stunde oder gar nicht fernsehen. Denn diese „unterscheiden sich von anderen Jugendlichen dadurch, daß sie häufiger wählen gehen, in der Arbeit Erfüllung finden, die Zukunft der Gesellschaft düster sehen, Angst vor Gewalt haben, von Lehrern in ihrem Denken beeinflußt werden, sich verantwortlich fühlen für das, was im Land passiert“10. Wie die Sympathien im Allgemeinen und Einsichten in die Bedingungen von Kommunikation im Besonderen hier verteilt sind, daran lässt der Essay keinen Zweifel. ETYMOLOGIE   Das Verb zappen bedeutet wörtlich ‚auslöschen‘ oder ‚abschie-

ßen‘ und soll ursprünglich die onomatopoetische Umschreibung für das Geräusch einer ‚Laserkanone‘ gewesen sein, deren Strahlen außerirdische Lebewesen auslöschen:

9 Ebd., S. 12. 10 Ebd.

656

the term originated in the old Buck Rogers comic strip as the written description of the sound a ‚raygun‘ made, when the bad guys were being ‚vaporized‘ – or to put it another way: Buck made them disappear. In effect, the term ‚Zapping‘ describes quite accurately what advertisers fear is a growing phenomenon – viewers are making our commercials disappear.11

Diese gedruckte Umschreibung eines Geräuschs, das angeblich zum ersten Mal in einer berühmten Comic-Serie der 1950er Jahre nachgewiesen werden kann, wurde in den 1970er Jahren auf die ‚Infrarotkanone‘ in den Händen des Fernsehzuschauers übertragen, der damit nicht nur die Außerirdischen auf dem Bildschirm, sondern auch Werbespots und ganze Sendungen zerstückeln oder abschießen konnte. Bei einer so vagen Überlieferungsgeschichte sind natürlich auch Alternativen im Umlauf. Klemens Gruber ist z. B. der Auffassung, dass, zu Zeiten des analogen Fernsehens, in der Zehntelsekunde des Wechsels von einem Kanal zum nächsten ein elektromagnetisch induziertes Geräusch oder Rauschen entsteht, das als „zapping“ beschrieben werden kann.12 Ferner bedeutet „to zap somebody/something“, dass feindliche Soldaten oder ein umkämpftes Gebiet mit ganzen Salven von Gewehrfeuer großflächig oder anhaltend beschossen werden. Auffällig ist jedenfalls die Tatsache, dass diese mehr oder weniger erfundenen Etymologien alle eine Verbindung zwischen dem Akt des Schießens und des Umschaltens nahelegen, so dass zappen bereits etymologisch entweder als gezielter Angriff auf das Fernsehprogramm oder als Selbstverteidigung erscheint.

bedienung ermöglichtes rasches Wechseln des Zuschauers von einem Kanal zu einem anderen, entweder um die Werbeblöcke zwischen und innerhalb von Sendungen zu vermeiden oder aus purer Lust am Wechsel selbst. Da diese Form des Mediengebrauchs durch eine Metapher angezeigt wird, ist es nicht verwunderlich, dass Binnendifferenzierungen dieser ausgezeichneten Gebrauchsform ebenfalls mit Metaphern bezeichnet werden. Denn zappen bildet nur den Oberbegriff für eine ganze Reihe von Verwendungsweisen der

11 Kaplan: Zapping – The Real Issue is Communication. In: Journal of Advertising Research, S. 9. 12 Vgl. Gruber: Der fernbediente Zuschauer. In: Grazer Kunstverein (Hrsg.): Fernbedienung, S. 21.

zappen  Kontexte

KONTEXTE  Unter zappen versteht man üblicherweise ein durch die Fern-

Z 657

Fernbedienung, die unterschiedliche Intentionen und Muster der Nutzung (viewing styles) erkennen lassen: So wird mit flipping eine Form der Programmselektion bezeichnet, die zunächst eine erste Orientierung über das gesamte Programm anstrebt, aus dem dann eine Sendung ausgewählt und ohne weitere Umschaltvorgänge angesehen wird. Diese Übersicht erfolgt im Regelfall entweder durch das geordnete Vor- und Zurückschalten der Sender mit den beiden ‚Pfeiltasten‘ der Fernbedienung (arrowing) oder durch ungeordnetes Springen zwischen den Sendern mithilfe der Programmwahltasten (jumping). Wenn dieser Vorgang andauert, ohne dass ein bestimmter Kanal oder eine Sendung ausgewählt wurden, nennt man das grazing. Dabei wird das gesamte Programm immer wieder ‚abgegrast‘. Hopping bezeichnet dagegen das nahezu gleichzeitige Verfolgen von zwei oder mehreren Sendungen, zwischen denen in kurzen Abständen hin- und hergeschaltet wird. Beim switching oder channel surfing wird das Umschalten selbst zur Kunstform erhoben. Dabei wird nicht nur ganz bewusst die Zufälligkeit der ausgewählten Sequenzen betont, sondern auch die Dynamik und Eleganz der Bewegung sowie die Kreativität der Assoziationen, die der Zapper dem von ihm selbst erzeugten Bilderfluss unterlegt. Erst diese bewusst ausgeübte kreative Nutzung macht Zapping auch kulturwissenschaftlich interessant. Es ist allerdings fraglich, ob wirklich neue Sinnzusammenhänge erzeugt werden oder ob die spontan zusammengestellten Bilder nicht vielmehr im selben Augenblick vergehen, in dem sie entstanden sind.

zappen  Konjunkturen

KONJUNKTUREN  Seit Mitte der 1980er Jahre lässt sich ein gesteigertes öko-

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nomisches, publizistisches und wissenschaftliches Interesse am Zapping beobachten, das, ausgelöst durch die Einführung der Fernbedienung und ein stark erweitertes Programmangebot (duales Rundfunksystem), zu einer zentralen Mediengebrauchsform avanciert ist. Vor allem als Methode der gezielten Werbevermeidung ist Zapping in den Fokus der Werbewirtschaft und der Medienwirkungsforschung geraten, die Antworten auf die Frage suchen, ob Marketing und Werbung durch dieses Rezeptionsverhalten beeinträchtigt werden. Der Begriff ist in die Alltagssprache diffundiert und kann mittlerweile als Synonym für jede Form von Wechseln bzw. Umschaltvorgängen gebraucht werden. „Zapper-Behandlung“, „Party-Zapping“ und „Single-Zapping“ sind

nur eine kleine Auswahl aus einem großen Feld möglicher Kombinationen. Ob die Häufigkeit solcher Komposita mit einer steigenden oder sinkenden Popularität der Kulturtechnik rückgekoppelt ist, bleibt abzuwarten. GEGENBEGRIFFE  Als Medientypus ist dem Zapper der Sticker entgegengesetzt.

PERSPEKTIVEN  Zapping gilt überraschenderweise nicht als ein Anzeichen von Medienkompetenz, sondern als Zerstreuung, als ein bloß passiver Umgang mit dem Medium Fernsehen. Zapping sei keine aktive Mediennutzung, sondern Konsum, so die Quintessenz der Forschung. Die vermuteten Ursachen für das häufige Hin- und Herschalten werden nicht etwa in Korrelation mit einer veränderten Fernsehsituation (duales System, Kabelfernsehen, Digitalisierung) oder einem neuen Medienumfeld (Computerspiele, Interaktivität, Internet) betrachtet, sondern sind eine Wiederauflage kulturkritischer Gemeinplätze, die reflexartig mit dem Gebrauch neuer Medientechnologien

zappen  Perspektiven

Als Sticker werden jene Zuschauer bezeichnet, die nicht nur eine bestimmte Sendungen, sondern auch die unterbrechenden Werbeblöcke ansehen, ohne umzuschalten.13 Dem entspricht auf der Ebene der Operationen der Gegensatz zwischen einem raschen Um- oder Durchschalten und dem konzentrierten Sehen einer Sendung von Anfang bis Ende. Diese Unterscheidung hat auch Konsequenzen für den Begriff ‚Fernsehen‘ selbst. Wer darauf besteht, dass die Sendungen und deren Inhalte das Zentrum der Fernsehanalyse bilden, der betont nicht nur den Werkcharakter der Sendung, sondern hält auch Zapping sowie die Reaktionen der Programmmacher auf dieses Nutzungsverhalten für eine Unsitte, Störung oder den Niedergang der Fernsehkultur. Wer dagegen das Fernsehprogramm nicht als eine Einheit von Sendungen, sondern als horizontale (stripping) und vertikale Programmierung (blocking) beschreibt, der analysiert nicht mehr eine Abfolge diskreter Einheiten, sondern die Programmabfolge als solche. Zapping erscheint dann als eine notwendige Technik, die eine bestimmte Zeiteinheit (Day Time, Prime Time, Late Night u. a.) sichtbar werden lässt.

13 Zur medienpsychologischen Typologie siehe Niemeyer/Czycholl: Zapper, Sticker und an-

dere Medientypen.

Z 659

verbunden werden: Eskapismus, Informationsstress, sozialer Druck, Aufmerksamkeitsdefizite, Vergnügungssucht sind typische Topoi dieser Kulturkritik. Die Argumentation folgt dabei einem vertrauten hermeneutischen Schema. Das folgende Beispiel ist einem Begleitbuch der Fernsehreihe „Deutsch“ des Bayerischen Rundfunks entnommen, das sich an Schüler der gymnasialen Oberstufe richtet und „Medienkompetenz“ als Lernziel ausgibt:

zappen  Perspektiven

Durch das rege Hin- und Herschalten mindern Sie Ihre Chancen, das Medium aktiv zu nutzen. Durch enthusiastisches Zapping, nebenher Telefonieren oder Essen geben Sie auch dem oft gescholtenen Programmangebot der Sender keine faire Chance. […] Schauen Sie sich lieber eine einzige Sendung von vorne bis hinten an, als zehn nur ein bisschen. Strukturieren Sie ihren Fernsehabend selbst, überlassen Sie das nicht den Sendern. Schalten Sie aus, wenn die gewählte Sendung vorbei ist.14

Der Umgang mit dem Medium Fernsehen ist erkennbar an einem normativen Umgang mit dem Medium Buch orientiert, was sich besonders deutlich an der räumlichen Metaphorik von „vorne“ und „hinten“ zeigt. Spätestens seit Schleiermachers Universalhermeneutik werden Leser systematisch darauf verpflichtet, ein Buch im ganzen Umfang – von vorne bis hinten – zu lesen, um überhaupt in der Lage zu sein, die Stellen und Passagen innerhalb des Buchs auf den Sinn des Ganzen zu beziehen. Die einschlägige Bestimmung von Schleiermacher lautet: „[I]nnerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es muß deshalb eine kursorische Lesung, um einen Überblick des Ganzen zu erhalten, der genaueren Auslegung vorangehen“15. Das Ganze soll also aus dem Einzelnen verstanden werden und das Einzelne wiederum aus dem Ganzen. Da das Ganze, also die leitenden Ideen und Hauptgedanken, nicht in jedem Teil einer Schrift auch ganz zu haben ist, muss der Leser durch alle Teile ‚hindurchgehen‘, um die Hauptgedanken zu erfassen. Erst dann, nach einer kursorischen Lesung der gesamten Schrift, soll der Leser – in einer zweiten, sogenannten statarischen Lektüre, die langsam, wiederholt und vergleichend liest – zu einem

14 Kinskofer/Bagehorn: Lesen, Zappen, Surfen, S. 223. 15 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 97.

660

16 Vgl. ebd., S. 98–100. Zur historischen Unterscheidung zwischen einer kursorischen und sta-

tarischen Lektüre siehe Kopp/Wegmann: Das Lesetempo als Bildungsfaktor? In: Der Deutschunterricht, S. 45–58, bes. S. 52ff. 17 Vgl. Williams: Television, S. 77–120.

zappen  Perspektiven

vollkommenen Verstehen aller Teile und des Ganzen fähig sein.16 Wer dagegen bloß in Büchern blättert oder die Lektüre abbricht, kann kein adäquates Textverständnis erzielen. Diese hermeneutische Anweisung wird von den Autoren des oben zitierten Deutschbuchs auf das Ansehen einer Fernsehsendung übertragen, ohne die Mediendifferenz ausreichend zu beachten. Medienkompetenz, die ja das eigentliche Anliegen der pädagogischen Bemühungen sein soll, wird hier gerade nicht vermittelt. Denn eine Sendung hat zwar einen Anfang und ein Ende, auch wenn diese Zeiteinheiten nicht räumlich (vorne/hinten) verortet werden können, aber dieser Anfang und dieses Ende sind relativ im Verhältnis zum gesamten Programm und auch nicht immer so leicht erkennbar, wie der unausgesprochene Vergleich mit dem Buch suggeriert. Zudem, und darauf kommt es an, ist die moderne Programmgestaltung nicht mehr an einzelnen Sendungen orientiert, sondern als Flow strukturiert, wie Raymond Williams in einer für die Fernsehwissenschaft bahnbrechenden Studie zeigen konnte. Nach Williams unterscheidet sich das neue Fernsehen (mit Fernbedienung und Programmvielfalt) vom alten Fernsehen durch einen signifikanten Wechsel vom Konzept der Abfolge als Programm hin zum Konzept der Abfolge als Bilderfluss.17 Wenn diese Beschreibung zutrifft, dann erscheint gerade Zapping als ein kompetenter Umgang mit den neuen Medienverhältnissen, die mit den vertrauten geisteswissenschaftlichen Begriffen und Methoden nicht erfasst werden können. Das Wissen um die Realität des Mediums, die während des Zuschauens normalerweise abgeblendet im Hintergrund bleibt, kann jederzeit zum eigentlichen Interesse des Zuschauers werden und durch das Betätigen der Fernbedienung auch jederzeit wieder ins Bewusstsein treten. Beim Zapping verfolgt man weder eine Sendung von Anfang bis Ende noch mehrere Sendungen gleichzeitig, sondern das Durchschalten ermöglicht eine Sicht, die eigentlich nicht zu haben ist: die Einsicht in das Medium selbst. Das Wort ‚Fernsehen‘, das zwischen Verb und Substantiv oszilliert, macht diesen Zusammenhang

Z 661

unmittelbar deutlich. Von geübten Zuschauern erhält man auf die Frage, was sie am Abend unternommen hätten, nicht selten die Antwort, sie hätten ferngesehen. Also nicht diese oder jene Sendung, sondern Fernsehen ‚an sich‘. Aber was sieht man dann? Man sieht das Fernsehen als Organisation in seiner Eigenlogik. Also nicht die einzelnen Sendungen, sondern Formate und Formatierungen. Damit sind nicht nur wiederkehrende Genres oder die Unterscheidung zwischen Kanälen mit Spartenprogramm und Vollprogramm gemeint, sondern auch die Zeitzonen im Tagesverlauf des Fernsehens, Instrumente der Programmplanung und dergleichen. Wenn man zu verschiedenen Zeiten ein- und öfter umschaltet, sieht man, wie TV-Sender arbeiten.

zappen  Forschung

FORSCHUNG  Nachdem die Fernbedienung als Massenprodukt in den Fern-

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sehalltag einzog, kam es in den 1980er und 1990er Jahren zu einer regelrechten ‚Schwemme‘ von Veröffentlichungen, die sich mit Zapping beschäftigt haben. Die Forschung lässt sich entweder der Kommunikationswissenschaft oder der Medienkulturwissenschaft zuordnen. Die Methoden und Forschungsinteresse dieser beiden Disziplinen sind sehr unterschiedlich, so dass in Bezug auf Zapping mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auffallen. Die Kommunikationswissenschaft orientiert sich v. a. an quantifizierbaren Kontakten zwischen Zuschauern und Medienprodukten und berechnet auf dieser Basis Reichweiten und durchschnittliche Sehdauern, die das Hauptinteresse der empirischen Zuschauerforschung ausmachen. Hier interessieren Summenzahlen und Durchschnittswerte. Die ermittelten Zahlen und deren Bewertung weichen stark voneinander ab. Man findet Studien, die behaupten, dass 80% oder 90% der Zuschauer Sticker sind, die nie oder nur ganz selten umschalten, man findet aber auch Studien, die das genaue Gegenteil behaupten. Diese extrem abweichenden Ergebnisse erklären sich dadurch, dass keine einheit­ lichen Verfahren der Prozentuierung benutzt werden und auch die gemessenen Zeitspannen sehr unterschiedlich sind. Mit ‚Zeitspanne‘ ist die Anzahl an Schaltvorgängen gemeint, die notwendig ist, damit ein Zuschauer als Zapper bezeichnet werden kann. Der enge methodische und theoretische Rahmen der Kommunikationswissenschaft beschränkt deren Interesse daher v. a. auf den Aspekt der Werbevermeidung. Im Rahmen dieses Paradigmas kann daher nicht erklärt werden, ob Zapping auch ästhetische Effekte hat, welche Motivationen damit

zappen  Forschung

einhergehen oder was im Moment des Umschaltens geschieht. Eine Ursache dieser Unfähigkeit ist die Summierung und Zurechnung der Operationen auf einen angenommenen durchschnittlichen Zuschauer als Typus. In den Durchschnittswerten und Klassifikationen verschwinden nicht nur die genauen Zu- und Abgänge, die eigentlichen Bewegungen des Zappings, sondern auch die Faszination und das intensive Erlebnis, die diese Rezeption den meisten Fernsehzuschauern offensichtlich verspricht. Die medienkulturwissenschaftliche Forschung möchte sich diesen Aspekten des Zappings zuwenden, verliert sich aber in unpassenden Vergleichen aus dem Arsenal der Moderneforschung. Zapping wird entweder in der Tradition der „Collage“ oder „Montage“ verortet oder direkt zum „offenen Kunstwerk“ veredelt. Offen sind dabei v. a. die Fragen nach der Mitautorschaft des Zuschauers, der sich als „Wohnzimmer-Regisseur“ oder „Teleflaneur“ seine eigenen bewegten Bilder zusammenstellt. Ob es allerdings einen Erkenntnisgewinn darstellt, zappen mit moderner Kunst zu vergleichen oder den Zapper zum Autor zu machen, kann bezweifelt werden. Dagegen spricht nicht nur die Zufälligkeit des Vorgangs, die unvorhersehbare Kombinatorik von vorproduzierten Bildern, über die der Zapper keine Kontrolle hat, sondern v. a. der nichthermeneutische Charakter der Operation selbst. Die Störung von Sinnstrukturen ist das auffälligste Merkmal von Zapping und es sollte nicht die Aufgabe von Theorie sein, dagegen die Erhebung des Zappers zum Autor oder die Konstruktion neuer Sinnstrukturen zu propagieren. Das Interesse der Forschung nimmt seit den 2000er Jahren deutlich ab; heute findet man nur noch vereinzelt Aufsätze zum Thema, die das bereits Publizierte zusammenfassen, aber kaum eigene Akzente setzen. Typisch sind resümierende Überblicksartikel, die von der – in der frühen Forschung noch häufig anzutreffenden – Verdammung oder Verherrlichung des Gegenstands Abstand nehmen, aber keine eigenständige Perspektive anbieten. Es bleibt bei einer abgeklärten Betrachtung bereits bekannter Thesen. Eine naheliegende Erklärung für die rasche Erschöpfung der Forschung könnte in der vieldiskutierten Konversion von Fernsehen und digitalen Medien zu finden sein, ein immer noch andauernder Prozess, in dessen Verlauf Zapping als (potenziell subversives) Rezeptionsverhalten sich entweder erledigt hat oder in unterschiedlichen Formen des Mediengebrauchs aufgegangen ist. Eine Einschätzung des aktuellen Stellenwerts von Zapping fällt daher schwer. Sicher ist nur, dass die zielgenaue und individuelle

Z 663

Auswahl aus einem immer größer werdenden Angebot, das in digitalen Archiven bereitgehalten wird und auch längst versendetes Material wieder verfügbar macht, viele Aspekte, die Zapping in Zeiten des analogen Fernsehens so attraktiv gemacht haben (Selektion, Parallelrezeption, Stellenlektüre usw.), ersetzt oder aufgehoben hat. Dennoch sind sowohl die Fernbedienung als auch Gesten der Auswahl, der multiplen Rezeption oder auch des Durchschaltens weiterhin in Gebrauch. Aber ein so flüchtiges und schwer beobachtbares Rezeptionsverhalten, das in der digitalen Praxis durch eine Abfolge vieler verschiedener Operationen gekennzeichnet ist, lässt sich nicht mehr unter einem einzigen Begriff subsummieren. Um eine adäquate medien- und kulturwissenschaftliche Beobachtung leisten zu können, müsste das Zusammenspiel von Kulturtechniken wie Browsen, Klicken, Surfen, Wischen und Zappen in die Analyse einbezogen werden. Der Hybridisierung der Medien im Zeichen des Digitalen (Flachbildschirm, Notebook, Smartphone, Tablet-PC) entspricht auch eine Hybridisierung jener Kulturtechniken, aus denen diese Medien hervorgegangen sind und durch die sie bedient werden. LITERATUREMPFEHLUNGEN Ayaß, Ruth: Zur Sozio-Logik der Fernbedienung. In: Zeitschrift für Literaturwissen-

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surfen |564|

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ZEICHNEN ULRICH RICHTMEYER

ANEKDOTE  Im Unterschied zum expressiven Kritzeln oder dem flüchtig visi-

onären Skizzieren gilt das Zeichnen eher als ein ruhiges, planvoll geordnetes, konzentriertes und selbstbeherrschtes Tun. Ob dieser Eindruck stimmt, sei zunächst dahingestellt, sicher ist jedoch, dass wir die Praxis des Zeichnens besser verstehen, wenn wir sie dort betrachten, wo sie mit sozialen Konflikten, emotionalen Anspannungen, festen Überzeugungen und schwierigen Charakteren verbunden ist. Zum Beispiel hier:

zeichnen  Anekdote

Meine bösen Geister bringen mich in die dümmsten Stimmungen, die Du Dir nur denken kannst. Als ich nach der Unterredung mit Lamb aus der Universität gehen will, führt mich mein Weg an dem Zeichensaal der Maschinen-Ingenieure vorbei, ich wusste, daß an diesem Tag gezeichnet würde und trat ein. [...] Wie Du weißt, kann ich die Methode, nach welcher Ingenieurwesen gelehrt wird nun nicht ausstehen, [...] und als ich nun sah, was die Leute für Sachen zusammengezeichnet und fand, daß der bewusste Assistent damit ganz zufrieden war, geriet ich ganz außer mich und fing an, dem guten Mann, der für die ganze Geschichte nichts konnte, einen sehr erregten Vortrag zu halten. Da mir nichts ärger war als ihn so gleichgültig zu sehen, wurde ich immer aufgeregter und es war ein Glück für mich, daß der Assistent plötzlich weggerufen wurde, so daß ich zu mir kam und [...] wegging.1

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Die Passage entstammt dem ersten Brief des jungen Studenten des Ingenieurwesens und späteren Philosophen Ludwig Wittgenstein an seine Schwester Hermine, nachdem er von der Technischen Hochschule Charlottenburg (später TU Berlin) zu den eher praktisch orientierten Studiengängen nach Manchester gewechselt war. Sie gibt nicht nur Auskunft über den Charakter Wittgensteins – darüber, dass er feste Überzeugungen zu bestimmten Lehrmethoden hat und sie recht offensiv vertritt. Wir erfahren auch, dass das Zeichnen professionalisiert betrieben und thematisch spezialisiert sein kann,

1 Ludwig Wittgenstein an Hermine, Glossop, 20.10.1908, zit. n. Nedo: Wittgenstein, S. 84f.

2 Zu Wittgensteins mäßigem Erfolg: McGuinness: Wittgenstein, S. 51. Zum Zeichnen in den

Berliner Studienjahren: Ebd., S. 61f. u. folgende Anm.

3 An Wittgensteins erstem Studienort hatten sich die beiden Ingenieure Franz Reuleaux und

Alois Riedler eine heftige Auseinandersetzung um die richtigen Darstellungs- und Abbildungskonventionen für Ingenieure geliefert, in der sich letztlich Riedler durchsetzte; vgl.: Riedler: Das Maschinenzeichnen. 4 Sie wurde mitunter als ein durch das technische Zeichnen erworbenes Imaginationsvermögen verstanden, vgl. Ferguson: Engineering and the Mind‘s Eye.

zeichnen  Anekdote

dass es sich lehren und lernen lässt und mitunter sogar ein institutionell verankertes Bildungsgut ist. Wie viele seiner Zeitgenossen erlernte Wittgenstein das technische Darstellen bereits in der Schule, wo es fester Bestandteil einer polytechnischen Schulbildung ist, die sich im ausgehenden 19. Jh. gegen den klassischen Bildungskanon der humanistischen Gymnasien positionierte.2 Über den anekdotischen Einzelfall hinaus lässt der zitierte Passus zudem ahnen, welche Bedeutung grafischen Visualisierungen im Planen und Kon­s­ truieren des Maschinenbaus und der Ingenieurwissenschaften zu Beginn des 20. Jhs. zukam. Man erkennt, dass verschiedene Schulen und Personen offenbar konträre Darstellungskonventionen verfochten haben.3 Daran lässt sich die Frage anschließen, ob eine entsprechende Abhängigkeit des Zeichnens nicht auch zu anderen Zeiten und jenseits einer technischen Spezialisierung gegolten hat. Auch das wissenschaftliche Zeichnen der Geometrie ist stark konventionalisiert und wie das künstlerische Zeichnen prinzipiell lehr- und lernbar. Gerade weil die Methoden des Zeichnens historisch und kulturell relativ sind, kann man für sie, wie Wittgenstein es tut, Partei ergreifen. Zeichnen folgt aber nicht nur diversen expliziten Regeln und impliziten Konventionen, die den Gebrauch, die Anfertigung und die Lektüre umfassen. Es bezieht zudem eine sensomotorische Erfahrung und Könnerschaft4 ein und stützt sich in seiner Ausführung auf den korrekten Umgang mit Instrumenten, Apparaten und Materialien. So wie die Maschinenbau-Ingenieure in einem „Zeichensaal“ an vertikalen Reißbrettern zeichnen, die mit beweglichem Winkel und Lineal ausgestattet sind, gelten für andere Gebrauchsweisen wieder andere Bedingungen (die Zeichner in Platons Dialogen zeichnen im Sand). Auch ist das Zeichnen nicht nur auf eine zeichnende Hand beschränkt, sondern benötigt einen agierenden Körper, dessen zweite Hand z. B. das Blatt fixiert

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und die zeichnende Hand orientiert.5 Der Streit über die richtige Ausführung kann daher den Blick auf die Komplexität der Vor- und Randbedingungen des Zeichnens richten.

zeichnen  Etymologie

ETYMOLOGIE  Im Dt. steht das Zeichnen mit dem Zeichen in Verbindung:

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„denn das Ahdt. zeihannen bedeutet eigentlich, ‚Zeichen legen‘ oder ‚mit einem Zeichen etwas ‚ausdrücken‘ bzw. ‚anzeigen‘ oder ‚versehen‘.“6 GRIMMS WÖRTERBUCH stellt für die zahlreichen etymologischen Varianten des dt. Verbs zeichnen zwei Grundbedeutungen fest, die sich tendenziell auch im Feld der unten diskutierten Praktiken und Gebrauchsweisen wiederfinden lassen: „von beiden flexionsweisen des verbums lassen sich die zwei grundbedeutungen von z. ableiten, die entstehn, je nachdem der nachdruck auf dem inhalt oder dem träger des zeichens ruht. in oder mit einem zeichen etwas angeben oder andeuten, einen mit einem zeichen versehen.“7 Im zweiten Fall meint der Ausdruck Zeichnen das Setzen eines Zeichens, das als Markierung dient, um einen Zeichenträger be- oder auszuzeichnen, wobei es sich um Menschen, Tiere, Pflanzen, Gegenstände, Sachen oder Orte handeln kann. Der erste Gebrauch von Zeichnen meint die sichtbare Hervorbringung eines bestimmten Inhalts, der mittels einer Zeichnung ausgedrückt oder angedeutet werden soll. Solch ein Zeichnen, das Zeichnungen entstehen lässt und nicht Zeichen, scheint wiederum zwei möglichen Orientierungen folgen zu können: „im speziellen Sinne zeichnen, d. h. linien und umrisse nach einem sichtbaren oder vorgestellten vorbilde auf papier oder eine andere unterlage bringen, so dass ein abbild entsteht“8. Die Orientierung des Zeichnens an physischen oder ideellen Vorbildern korreliert mit einer Doppeldeutigkeit des italienischen Begriffs vom Disegno, wobei man unter physischen Vorbildern im weiteren Sinne auch die technische und handwerkliche Berücksichtigung der verwendeten Instrumente und

5 Vgl. Pichler/Ubl: Vor dem ersten Strich. In: Busch/Jehle/Meister (Hrsg.): Randgänge der

Zeichnung, S. 231–255. 6 Mersch: Das Medium der Zeichnung. In: Engell/Bystricky/Krtilova (Hrsg.): Medien denken, S. 84f. 7 (Art.) Zeichnen. In: Grimm, Bd. 31, Sp. 488. 8 Ebd., Sp. 489.

Mittel nennen müsste. Das ist zugegeben eine moderne Interpretation, die die Zeichnung nicht mehr als Abbild ansieht. Verwandt ist das Zeichnen gleichwohl mit den aus der romanischen Wortfamilie stammenden Ausdrücken disegno und dessin, sie meinen sowohl das künstlerische oder handwerkliche Entwerfen „von künstlern, die ein bild zeichnen und umreiszen, bevor sie zu mahlen anfangen“9 als auch einen kognitiven Prozess, „in gedanken entwerfen, den plan zu etwas fassen.“10 Mit dem Begriff des Disegno werden also die heuristischen Qualitäten des Zeichnens betont, allerdings subsummiert er die eigentliche Handlung des Zeichnens einem ideellen Vorhaben und dessen handwerklicher Ausführung.11 Das zeichnerische Tun entstammt nach dem griech. Wort für die Zeichnung skiagramm oder skiagraphia einem Ritzen, weil es auf graphein, den „Vorgang der Einritzung oder Einkerbung verweis[t], wobei unter Hinblick auf grapho oder diagraphé die Praxis des Schreibens und Zeichnens durchweg synonym verwendet wurden.“12 Das Zeichnen bildet einen Oberbegriff für alle grafischen Verfahrensweisen, die von der Motorik der menschlichen Hände, zumindest aber des menschlichen Körpers ausgehen und sich dabei auch verschiedenster Instrumente bedienen können.

9 (Art.) Entwerfen. In: Grimm, Bd. 3, Sp. 655. 10 Ebd. 11 Vgl. Kemp: Disegno. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, S. 219–240. „Disegno

ist mit Idea gleichgestellt und mehr noch: er wird begriffen als das Gefäß aller geistigen Vorgänge. [...] Der Disegno ist autark; aus seiner Vollkommenheit spaltet er einen niederen Aspekt seiner selbst ab, der die Ausführung des unmittelbar im Geist erzeugten Concetto bewerkstelligt“ [ebd., S. 235]. 12 Mersch: Das Medium der Zeichnung. In: Engell/Bystricky/Krtilova (Hrsg.): Medien denken, S. 84f. Vgl. Flusser: Die Schrift, S. 14: „‚Schreiben‘ kommt vom lat. ‚scribere‘, das ‚ritzen‘ bedeutet. Und das griech. ‚graphein‘ bedeutet ‚graben‘“.

zeichnen  Kontexte

KONTEXTE   Lascaux und Altamira (sowie viele andere Beispiele für Höhlenzeichnungen, -malereien und Petroglyphen) deren Entstehungszeit mind. 15.000 Jahre zurückliegt, dokumentieren das Zeichnen als eine der ältesten überlieferten Kulturtechniken. Sie sind seit Jahrhunderten bekannt, aber erst prominente Entdeckungen im 20. Jh., wie die in Lascaux 1940, haben komplexe anthropologische Interpretationen und immer wieder korrigierte Datierungen

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angeregt.13 Durch diese späte Aufmerksamkeit für die Resultate einer sehr alten Kulturtechnik wird eine These Vilém Flussers bestätigt, wonach erst mit dem Medium der Schrift Geschichte beginnt, die vorangegangenen Jahrtausende des Zeichnens aber einer nichtlinearen Vorgeschichte angehören, die weder eine chronologische Abfolge noch einmalige historische Ereignisse kannte.14 Für Flussers Medien- und Kulturgeschichte wird bereits durch das Zeichnen, d. h. die Anfertigung traditioneller Bilder, eine wichtige Zäsur im mensch­ lichen Bewusstsein markiert. Das Kreisen der Augen auf dem Bild entspricht der zirkulären Zeitempfindung der Vorgeschichte und konstituiert damit zugleich deren ‚magische Bewußtseinsform‘. Dass Flusser sowohl recht hat als auch für seinen etwas simplifizierenden Zugriff auf die frühe Menschheitsund Mediengeschichte, bzw. Vorgeschichte zu kritisieren ist, lässt sich durch Einsichten aus der neueren Theorie der Zeichnung belegen. Norman Brysons Text A WALK FOR A WALK’S SAKE15 kommt zu dem Schluss, dass Zeichnungen eine besondere „Gegenwärtigkeit“16 zukommt. Denn im Unterschied zur Malerei werden zeichnerische Operationen in Zeichnungen nicht verdeckt oder durch Farbschichten überlagert, sodass die Zeichnung wesentlich als ein irreversibles Bildmedium gelten muss:

zeichnen  Kontexte

Obwohl sich die genaue Abfolge, in der sich die gezeichneten Linien schließlich zu einem fertigen Bild fügen, nicht wirklich rekonstruieren lässt, bedeutet die ständige Sichtbarkeit jeder Herstellungseinheit – jeder einzelnen Linie für sich –, dass man der Entwicklungsrichtung der Linie nicht entgehen kann.17

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Damit stellt die Zeichnung immer den gesamten Produktionsprozess, das Zeichnen selbst in all seinen Spuren, den tastenden, vorläufigen, unsicheren ebenso wie den entschlossenen, festen und kräftigen Linien aus, die selbst dann noch sichtbar bleiben, wenn man sie auszulöschen versucht (z. B. die ERASED 13 Z. B. Leroi-Gourhan: Prähistorische Kunst. 14 Vgl. Flusser: Die kodifizierte Welt. In: Ders.: Medienkultur, S. 21–28. 15 Bryson: A Walk for a Walk’s Sake. In: Zegher (Hrsg.): The Stage of Drawing, S. 149–158; dt.

Übersetzung: Ein Spaziergang um seiner selbst willen. In: Bach/Pichler (Hrsg.): Öffnungen, S. 27– 42. [Folgend „Bryson: Spaziergang“]. 16 „Die gezeichnete Linie existiert in gewisser Weise immer in der Gegenwart, in der Zeit ihrer eigenen Entfaltung“ [ebd., S. 28]. 17 Ebd.

Robert Rauschenberg (1953) oder die Arbeiten von Cy Twombly). Zugleich fehlt dem präsentierten grafischen Gebilde aber jeglicher Hinweis auf die Chronologie der getätigten zeichnerischen Operationen, sie sind zwar vollständig zu sehen, aber nicht in der Reihenfolge, in der sie auf den Zeichenträger aufgetragen wurden. Es ist die Kombination dieser beiden Aspekte, die die Zeichnung als Wiedergabe eines Werdens erscheinen lässt, das von den gezeichneten Linien präsentiert wird.18 Überträgt man nun diese Überlegungen zurück auf Flussers medienhistorische These zu den ‚Leuten in Lascaux‘, so lässt sich der Begriff des traditionellen Bildes sowohl bestätigen als auch korrigieren. Während Flusser ihm unter Hinweis auf die kolorierten, vorgeschichtlichen Höhlenzeichnungen attestiert: Es verlange nach einer ‚Diachronisierung seiner Synchronizität‘19, findet man die gleiche Eigenheit in Brysons medientheoretischen Überlegungen zum Zeichnen ausgedrückt. Statt mit der Spezifik eines Rezeptionsgeschehens begründet zu werden (bei Flusser: das Kreisen der Augen auf dem Bild), verweist Bryson aber auf eine im Zeichenblatt konservierte Produktionslogik des Zeichnens, die der Erfahrung der Gegenwärtigkeit, Präsenz und Echtzeit20 entspricht. Dem Zeichnen komme deshalb immer eine spezifische Unabgeschlossenheit zu, weshalb es im Unterschied zu Flussers Thesen auch nicht vergehen, historisch überwunden oder im technischen (fotografischen oder digitalen) Bild „aufgehoben“ werden kann. Als eine klassische ‚Urszene‘ des Zeichnens, die selbstredend erst aus der geschichtlichen Zeit der schriftlichen Überlieferung stammt, gilt gemeinhin der von Plinius d. Ä. überlieferte Butades Mythos.21 In ihm beginnt

18 „Die Linie bietet ihnen das Bild zusammen mit der gesamten Geschichte der Bildwerdung.

[...] Eine letzte Linie gibt es, aber die Zeit des Abschließens des Bildes als Produkt in der Vergangenheitsform, vorbei und fertig – diese Zeit des endgültigen Beendens des Bildes tritt nie ganz ein“ [ebd., S. 28]. 19 „Ein Bild ist eine Oberfläche, deren Bedeutung auf einen Blick erfasst wird: Es ‚synchronisiert‘ die Sachlage, die es als Szene bedeutet. Aber nach dem erfassenden Blick muss das Auge im Bild analysierend wandern, um seine Bedeutung tatsächlich zu empfangen, es muss die ‚Synchronizität diachronisieren‘“ [Flusser: Kodifizierte Welt, S. 24]. 20 Zum Begriff der Echtzeit, vgl. Bryson: Spaziergang, S. 32. Zur Herkunft aus Paul Klees Pädagogischem Skizzenbuch, ebd., S. 28. 21 Vgl. Plinius Secundus d. Ä.: Naturalis historiae, Buch XXXV, XLIII, 151.

zeichnen  Kontexte

DE KOONING DRAWING, von

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zeichnen  Kontexte

das Zeichnen als eine Fixierung und Erinnerung, mit der die Tochter des Töpfers Butades den Schattenriss des scheidenden Geliebten an der Wand festhält.22 Für Bryson besteht die ‚Urszene‘ des Zeichnens hingegen in seiner Medienspezifik: Genauer in der „Unbeschriebenheit des Papiers und einer Hand, die sich anschickt, ihre erste Spur auf der Oberfläche zu ziehen.“ 23 Weil aber das weiße Blatt oder der unbezeichnete Untergrund immer „perzeptiv vorhanden, doch konzeptuell abwesend“24 ist, ergeben sich aus dieser ‚Reserve‘ verschiedene bildlogische Konsequenzen. Während die Malerei ihren Malgrund vollständig bedeckt, kann sich die Zeichnung mit der Doppeldeutigkeit der ‚Reserve‘ auch der Totalität des Formats entziehen, d. h. die einzelne zeichnerische Operation muss sich nicht in den Gesamtplan eines Formats fügen und ihre Linien oder Figuren an den vier Rändern eines Bildträgers ausrichten: „Stattdessen kann die Linie in dem Moment, in dem sie gezogen wird, ihre Art und Gestalt allein in Bezug auf den lokalen Bereich bestimmen, dem sie unmittelbar angehört: einer ‚Vignette‘, die als einzelne Zelle der Zeichnung existiert, von ihrer Umgebung abgesondert, abgeriegelt durch die neutralisierende Wirkung des schützenden Kokons der Reserve.“25 Daher erfolgt das Zeichnen immer lokal, es entzieht sich der Totaliät einer Bildkomposition und auch dieses Merkmal lässt sich schon in Lascaux studieren. So führt in der Zeichnung die Doppeldeutigkeit des Zeichenträgers (‚perzeptiv vorhanden, doch konzeptuell abwesend‘) zu einer Befreiung der zeichnenden Hand: „In der Zeichnung befreit die Reserve den Stift von dieser komplizierten Berechnung der Totalität und reduziert seinen Entscheidungsspielraum auf einen Bereich, der auf einmal erfasst werden kann, einen lokal begrenzten Bereich, der dort liegt, wo sich die Hand jetzt befindet, in praesentia.“26

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22 Hubert Damisch hat darauf hingewiesen, dass das Nachziehen der Kontur des Schattens

nicht schon als ein souveränes Erzeugen von Linien verstanden werden kann, sondern vielmehr als eine tastende, immer wieder neu ansetzende Handlung, vgl. Damisch: Traité du trait. 23 Bryson: Spaziergang, S. 28. 24 Ebd., S. 29; vgl. zur Benennung der „Urszene des Zeichnens im Zeitalter des Papiers“ als die „weiße Szene“, Ubl/Pichler: Vor dem ersten Strich, S. 237. 25 Bryson: Spaziergang, S. 29f. 26 Ebd., S. 30.

KONJUNKTUREN  Die neuzeitlichen Konjunkturen des Zeichnens beginnen in der Renaissance. Sie thematisiert das Zeichnen explizit als das leitende bildliche Entwurfsverfahren in Malerei, Skulptur und Architektur. Giorgio Vasari nennt den Disegno entsprechend den ‚Vater unserer drei Künste‘.28 Zu dieser Zeit werden zwei wichtige Paradigmen der zeichnerischen Konstruktion formuliert, die in Ansätzen bereits vorlagen und zukünftige Regeln für das bildliche Entwerfen aufstellen. Einerseits die besonders für den räumlichen Bildaufbau der Malerei verwendete Perspektivkonstruktion29 und andererseits die für die Architektur verwendete Parallel- oder Orthogonalprojektion. Letztere wird im sogenannten Raffael Brief an Papst Leo X. als ein Verfahren dargestellt, mit dem sich die antiken Baudenkmäler Roms, von denen nur noch die Grundmauern existierten,

27 Dieser Imperativ des Zeichnens wird gleichwohl in verschiedenen Synonymen formuliert,

die allesamt grafische Operationen meinen: Man zeichne, ziehe, teile, errichte usw, zit. n. Euklid: Die Elemente. 28 Vgl. Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei. 29 Ihre Erfindung wird Filippo Brunelleschi zugeschrieben, vgl. Schmeiser: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft. Zur Konjunktur der Perspektive vgl. Panofsky: Die Perspektive als symbolische Form. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/1925.

zeichnen  Konjunkturen

Die Urszene des wissenschaftlichen Zeichnens ist die Geometrie. Besonders mit der Axiomatik der euklidischen Geometrie kommt die Regelhaftigkeit der Ausführung ins Spiel. Ihre gezeichneten Beweise folgen Axiomen und für die Ausführung sind die einzelnen Schritte und deren verbindliche Abfolge festgelegt (Methode). Zudem ist in geometrischen Zeichnungen jedes verwendete oder auszuführende grafische Element fest definiert (z. B. Hypotenuse, Winkelhalbierende, Tangente usw.) und aus einem endlichen Spektrum distinkter Elemente ausgewählt. Die euklidische Geometrie ist eine Urszene des Zeichnens, weil sie ihre Beweise im Wesentlichen mit dem Imperativ „Zeichne!“ oder auch „ziehe/teile eine Linie“ anhebt.27 Damit wird die je singuläre ‚Ausführung‘ des bloß Anschaulichen aber zur Grundlage einer bildlichen Materialisation der geometrischen Regel und auch zur Bedingung der Möglichkeit ihres Überzeugens.

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als vollständige räumliche Gebilde rekonstruieren lassen.30 Zeichnen wird also ausgerechnet dort zur Entwurfshandlung, wo ihm eine dokumentarische Verpflichtung auferlegt wurde.31 Daran wird ein Doppelcharakter des Zeichnens ersichtlich: Es folgt expliziten Regeln, die genauestens beschrieben werden können, betreibt aber eine Weise der Sichtbarmachung, die über das Bekannte und Vertraute implizit schon hinausgeht und damit einer Erfindungskunst gleichkommt. Die Orthogonalprojektion lässt sich in Raffaels schriftlicher Darstellung als eine regelorientierte und von ‚Vernunft‘ geleitete 32 aber zugleich auch willkürlich verfahrende Zeichenpraxis rekonstruieren. Im Unterschied zu der von Alberti für die Malerei reklamierten Perspektivkonstruktion kann sie Formen ‚unverzerrt‘ wiedergeben und ihre Längen ‚maßstäblich‘ abgreifbar machen. Zudem ermöglicht die kombinatorische Dreiteilung der Orthogonalprojektion in Grundriss, Aufriss und Schnitt,33 die als Bildkomplex notwendig gleichrangig operieren müssen, die ‚vollständige‘ Wiedergabe eines Baukörpers oder Gegenstandes.34 Allerdings entzieht sich die zeichnerische Darstellung ihrer dokumentarischen Auftragslage, wenn Raffael den Wiederaufbau unbemerkt in den architektonischen Idealen seiner Gegenwart formuliert.35 Orthogonalprojektion und Parallelprojektion sind seitdem einflussreich für die Entwicklung der Baukunst, wo Zeichnungen zunehmend zum

zeichnen  Konjunkturen

30 Raffaello Santi: Brief an Papst Leo X. betreffend die Bewahrung, Vermessung und zeich-

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nerische Aufnahme der antiken Baudenkmäler Roms [um 1518], genannt Raffael-Brief; Jahn: Kommentar zum so genannten Brief Raffaels an Papst Leo X. In: ZMK, S. 73–95. 31 „Ich befinde mich also von Eurer Heiligkeit dazu beauftragt, dass ich das antike Rom zeichnerisch aufnehme,“ um es „mit richtiger Beweisführung unfehlbar“ [ebd., S. 76] in den ursprünglichen Zustand zurückzuführen. 32 „[...] verbleibe noch, dass ich von der Weise spreche, welche ich angewandt habe, sie zu vermessen und zu zeichnen, damit Eure Heiligkeit wisse, [...] dass ich mich in der Beschreibung, die folgen wird, nicht vom Zufall und allein von der Praxis habe leiten lassen, sondern von wahrer Vernunft“ [ebd., S. 79]. 33 Ebd., S. 82. 34 Ebd., S. 84. 35 Vgl. den Einwand von Jahn: Kommentar zum so genannten Brief Raffaels an Papst Leo X. In: ZMK, S. 92.

entscheidenden statisch-planerischen Medium werden, ohne das komplizierte Baukörper nicht konstruiert werden können.36 Das Zeichnen spezialisiert in der Architektur die Bauberufe aus und macht Arbeitsteilungen zwischen Architekten und Bauleitern möglich sowie insgesamt zwischen Entwerfenden (Designern) und ausführenden Handwerkern. Insbesondere der Steinschnitt im Frankreich des 17. Jhs. etablierte die Anfertigung von ‚Traits‘, d. h. Zeichnungen, die in der Steinbearbeitung als Schablonen fungierten.37 Sie wurden „auf Papier, als Brett oder Zinktafel“38 dem Steinmetz übergeben. Insbesondere durch Gerard Desargues wurde der „Steinschnitt der Geometrie Euklids unterworfen“ und damit zu einer „Angelegenheit der Wissenschaft“.39 Es war, als ob die Technik den Praktikern aus den Händen genommen und den Intellektuellen überantwortet würde. [...] So trennten sich die Wege [...] zwischen denen, die sahen, und denen, die dachten; zwischen Baumeistern und Architekten; zwischen Handwerkern und Fachleuten, zwischen denen, die Steine schnitten, und denen, die Linien zogen.40

36 Beispielsweise die zeichnerische Konstruktion einer Trompe, eines „einwärts gebogenen, ko-

nischen Mauerstücks, dessen Form an eine Trompete erinnert“, die Philibert Delorme Mitte des 16. Jhs. entwarf und in seinem Buch PREMIER TOME DE L’ARCHITECTURE beschrieb, vgl. Pircher: Kraftvolle Zeichnungen, S. 273f. 37 Diesem Thema ist Robin Evans Aufsatz Gezeichneter Stein gewidmet: „Unter Traits verstand man Konstruktionsrisse, die den präzisen Zuschnitt zusammengesetzter Steinblöcke erlaubten, welche bei komplexen architektonischen Formen, namentlich Gewölben verwendet wurden. Auf ihrer Grundlage konnten die Teile in genauer Form für den Bau vorgefertigt werden“ [Evans: Gezeichneter Stein. In: Arch+, S. 56]. 38 Pircher: Kraftvolle Zeichnungen, S. 274. 39 Ebd. 40 Evans: Gezeichneter Stein, S. 62. 41 Vgl. Pircher: Kraftvolle Zeichnungen, S. 273, 275f.

zeichnen  Konjunkturen

Diese Zweiteilung, die bereits für das frühe Disegno beschrieben wurde (Kemp), hat besonders das ingenieurwissenschaftliche Zeichnen, das von Gaspard Monge in Form der Darstellenden Geometrie als Sprache des Ingenieurs etabliert wurde, mit dem Anspruch auf theoretisches Wissen assoziiert.41 Die vielen Konjunkturen des Zeichnens lassen sich auch mit den Wandlungen erklären, die diese Praxis in den unterschiedlichen Bereichen der

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zeichnen  Konjunkturen 676

Technik, der Wissenschaft und der Künste durchlaufen hat. In der Kunst folgte das Zeichnen dabei oft der experimentellen Befragung seiner instrumentellen, materiellen und körperlichen Vor- und Randbedingungen, die Ubl und Pichler unter dem Begriff des Dispositivs beschrieben haben. Es umfasst den Bildträger, sein Verhältnis zur Unterlage und die Haltung des Zeichners.42 Während das klassische Dispositiv diese Voraussetzungen des Zeichnens zum Verschwinden zu bringen versuchte, hinterfragten die Zeichner im neoklassischen Dispositiv der 70er Jahre des 20. Jhs. seine Bedingungen in den genannten drei Bereichen: Sol LeWitts WALL DRAWINGS thematisierten den Bildträger, ebenso wie Dorothea Rockburne oder Dieter Roth durch Operationen des Knickens und Faltens des Papiers – William Anastasis Serie SUBWAY DRAWING (1973) die Unterlage, indem ihre Destabilisierung während der U-Bahnfahrt ausgestellt wird und Robert Morris BLIND TIME DRAWINGS (1973) die nicht mehr kontrollierende Beteiligung des Körpers, wie sie sich noch in Derridas Überlegungen wiederfindet.43 Die Entscheidung zwischen beiden Dispositiven ist aber nicht alternativlos, so machen Ubl und Pichler noch auf ein drittes, materialistisches Dispositiv aufmerksam, das etwa in den Arbeiten von Cy Twombly oder Henri Matisse zum Tragen kommt und das zeigt, wie die diversen Vor- und Randbedingungen des Zeichnens in den Prozess der Bildfindung einbezogen werden können, ohne selbst als eigenständiges Thema vorgeführt werden zu müssen. So demonstrieren die Arbeiten von Matisse etwa einen produktiven Konflikt zwischen der Körperlichkeit des Zeichners und der Materialität des Blattes, der nicht zugunsten nur einer der beiden Seiten entschieden werden kann, sondern vielmehr produktiv in die Bildfindung eingeht.44 Zeichnen ist ein Mediengebrauch, der seit der Antike nicht nur wissenschaftlich legitimiert ist, sondern ebenfalls nachhaltiges philosophisches Interesse auf sich zog. So wird das Zeichnen etwa in Platons MENON als ein heuristischer Prozess zelebriert, bei dem man sich falsch anstellen kann wie der Sklave, der die Ausführung und den Lernprozess durchlaufen soll, und richtig,

42 Vgl. Ubl/Pichler: Vor dem ersten Strich, S. 238. 43 Vgl. Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. 44 Vgl. Ubl/Pichler: Vor dem ersten Strich, S. 249.

45 Meine Darstellung widerspricht allerdings Platons Intention. Denn der Sklave (oder Knabe)

soll weder das noch mit dem Zeichnen etwas lernen. Vielmehr sollen seinen Schwierigkeiten in der Ausführung der geometrischen Aufgabe der Verdoppelung eines Quadrats einen Prozess der Wiedererinnerung anregen und demonstrieren. Platon: Menon, bes. 82 B 9–85 B 4. Vgl. Krämer: Operative Bildlichkeit. In: Heßler/Mersch (Hrsg.): Logik des Bildlichen, S. 112. 46 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 154. 47 Ebd., B 156. 48 Vgl. Wittmann: Das Porträt der Spezies. In: Hoffmann (Hrsg.): Daten sichern, S. 42–72.

zeichnen  Konjunkturen

wenn die entscheidenden Instruktionen (hier in Form von Fragen) gegeben und befolgt werden.45 Einen anderen Fokus auf das (philosophische) Zeichnen wirft Kant, wenn er schreibt: „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben.“46 Selbst die Zeit können wir uns nicht anders „vorstellig“ machen, „als unter dem Bilde einer Linie, sofern wir sie ziehen.“47 Folgt man der Suggestivität von Kants Hinweis auf das Zeichnen, so kann jedoch schnell ein der ursprünglichen Argumentationsabsicht entgegenlaufender Effekt entstehen, der selbst wiederum auf das Zeichnen als Praxis verweist. Denn zwar betont das Zitat ein Denken der geometrischen Figuren, bei dem wir uns immer schon räumlich orientieren. Hierzu wird aber direkt die Vorstellung eines zeichnerischen Handelns angesprochen, man erinnert oder imaginiert sich als jemanden, der die besagten Figuren konkret zeichnet. Kants Argument schöpft seine Anschaulichkeit aus dem Erfahrungsgrund des Zeichnens, um die Transzendentalität der Anschauungsformen von Raum und Zeit zu belegen. Der Erfahrungsgrund des Zeichnens hat sich im 20. Jh. extrem pluralisiert: Mit Disney beginnt das Zeichnen von Einzelbildern, die je nach Konvention Bewegungsabläufe in verschiedene Sekundenbruchteile auflösen, um sie filmisch darzustellen – ein hoch sequenzierter Gebrauch der Zeichnung, der dem zu erzeugenden filmischen Sehereignis entgeht bzw. vorenthalten wird. Ähnlich spezialisiert sind auch die Werkzeichnung, die Grabungszeichnung der Archäologie, die Prototypenzeichnung fürs Patentamt oder die SpezimenZeichnung in der Biologie.48 Sie zeigen das Zeichnen im 20 Jh. als eine hoch spezialisierte, beruflich ausdifferenzierte Gebrauchsweise mit je eigenen Darstellungskonventionen, Anfertigungsweisen und Beglaubigungseffekten. Sie fusioniert mit ausgewählten Techniken und so wie bereits elektromechanische

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Aufzeichnungsapparate seit dem 18. Jh. in die Wissenschaften eindringen, beginnt im 20. Jh. der Druck gezeichneter Schaltkreise auf Leiterplatten für die Elektronik.49

zeichnen  Gegenbegriffe

GEGENBEGRIFFE  Mit Flusser ist die erste Gegenbegrifflichkeit des Zeich-

nens oder traditionellen Bildermachens das Schreiben. Allerdings führt er gerade dieses in seiner phänomenologischen Struktur wieder auf ein Zeichnen zurück: „Die schreibende, die Feder führende Hand weist die Kanäle an, Tinte in Form von Schriftzeichen aufzutragen. Daher ist der Schreiber kein Maler, er ist ein Zeichner.“ Besonders der hektische Charakter des Schreibens wird demnach auf das Zeichnerische an ihm zurückgeführt: „Der Schreibende ist ein Zeichensteller, ein Zeichner, ein Designer, ein Semiologe. Und zwar ist er ein schneller Zeichner. Sein Zeichnen heißt ‚skizzieren‘, ein Wort, das vom griech. Stamm ‚sche‘ herkommt, welcher ‚haschen‘ bedeutet.“50 Bei Flusser ist das Schreiben also keine echte Gegenbegrifflichkeit, weil es das Zeichnen ebenso integriert wie dieses das Skizzieren. Blickt man auf das Skizzieren und Kritzeln, so ergibt sich auch nach diesen Seiten kein echtes Gegenüber: Im Unterschied zu ihnen ist das Zeichnen zwar ein regelbewusstes und regelorientiertes Tun, es kann deren Potenziale und Dynamik allerdings nie wirklich ablegen. Barthes These vom Linkischen im Zeichnen hat dies auf den Punkt gebracht.51 Wenn der Begriff des Zeichnens Praktiken benennt, die sich über viele Jahrhunderte, Disziplinen und Konventionen erstrecken, so entstehen Gegenbegrifflichkeiten v. a. intern, zwischen unterscheidbaren Variationen. Eine dieser internen Gegenbegrifflichkeiten verläuft zwischen dem künstlerischen und dem technischen Zeichnen. Ein anderer Antagonismus begleitet die verschiedenen Praktiken des Zeichnens von Anbeginn: Das Verhältnis der Materialien und Prozesse zu den zeichnerischen Regeln. Dieser Konflikt tritt bereits in der euklidischen Geometrie zwischen der singulären Anschaulichkeit einer Zeichnung und ihrer 49 Vgl. Pircher: Kraftvolle Zeichnungen, S. 281f. 50 Flusser: Die Schrift, S. 22. 51 Vgl. Barthes: Cy Twombly oder non multa sed multum. In: Ders.: Der entgegenkommende

und der stumpfe Sinn, S. 165–183.

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52 Wittgenstein: Vorlesungen, S. 381f. 53 Solche Einwände gegen die Geometrie werden zuletzt noch einmal mit dem Aufkommen der

nicht-euklidischen Geometrien geäußert, vgl. Bachelard: Der Neue wissenschaftliche Geist.

54 „Unabhängig von jeder künstlerischen Begabung verkörpert die Zeichnung als erste Spur des

Körpers auf dem Papier das Denken in seiner höchstmöglichen Unmittelbarkeit.“ Bredekamp: Denkende Hände. In: Lammert et al. (Hrsg.): Räume der Zeichnung, S. 24. 55 Bryson: Spaziergang, S. 33.

zeichnen  Gegenbegriffe

abstrakteren, theoretischen Regelhaftigkeit auf. Im Kern geht es dabei um die Frage, welchem Part für das Wesen der Zeichnung der Vorrang gebührt. Denn je stärker das Zeichnen instrumentell und konzeptuell normiert ist, umso mehr geraten seine grafischen Qualitäten mit seinen Regeln in Konflikt: „Man hat behauptet, Konstruktionen mit Lineal und Zirkel seien stets ungenau, denn niemals könne man eine im geometrischen Sinne gerade Linie ziehen, und folglich sei die Zeichnung nicht exakt. Dieser Einwand ist nicht angebracht“52, denn geometrische Zeichnungen werden innerhalb von Konventionen erstellt, die verschiedenen grafischen Erscheinungen bereits einen begrifflichen Status zuschreiben. Hier überwiegt der Regelbezug des Zeichnens, der von einer Linie spricht, wo Künstler nur einen Strich sehen.53 Das regelgeleitete zeichnerische Darstellen hat zahlreiche Einwände evoziert. So wurde einerseits eine unmittelbare Verbindung der Handzeichnung zum Denken und damit auch zur Subjektivität betont54 und andererseits die Materialien, die Mittel und die Performativität als bestimmende Faktoren zeichnerischer Darstellungen ermittelt. Sowohl gegen die regelgemäße Auffassung des Zeichnens als auch gegen die Annahme, es könne das Denken unmittelbar ausdrücken, richtet sich ein Verständnis der Zeichnung, das dessen Materialität und Prozessualität betont. Diese interne Gegenbegrifflichkeit findet sich z. B. in Brysons Diskussion des Werkes von Alexander Cozens. Er betont, dass das „Zeichnen von äußeren Anstößen und nicht von inneren Vorgängen veranlasst wird. Der die Zeichnung Ausführende gesteht ein, dass der Prozess die Richtung weist und der Geist folgt: zuerst der materielle Signifikant, Spuren am Papier; dann, danach, das Signifikat, die dargestellte Szene, der nominelle Referent.55 Letztlich sind es also historische Varianten im weiten Begriffsfeld des Zeichnens, die interne Gegenbegrifflichkeiten wieder aufheben, korrigieren

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oder verschieben. In nuce findet man diese Bewegung in Yve-Alain Bois Studie zur Axonometrie ausgedrückt,56 einer zeichnerischen Konvention, die um 1920 manifestartig vertreten wurde und die in der Lage ist, den klassischen Antagonismus zwischen Zentralperspektive und Parallelprojektion aufzuheben, die also anschauliche Einzelzeichnungen erschafft, in denen Linien maßstäblich und unverzerrt dargestellt sind. Ihre Entwicklung geht, wie Bois zeigt, auf diverse zufällige, singuläre, oft unbemerkt bleibende Variationen zwischen beiden Paradigmen zurück, sodass die neue Regel also nach Jahrhunderten ihrer zeichnerischen Erprobung irgendwann einmal formuliert werden konnte.57 PERSPEKTIVEN  Wilhelm Buschs ANLEITUNG ZU HISTORISCHEN PORTRÄTS58

zeichnen  Perspektiven

ist eine ironische und unterhaltsame Abhandlung, die sich auf den ersten Blick in das Spektrum anderer Zeichenratgeber einreihen lässt. Mit der thematischen Einschränkung auf die Porträts berühmter Personen der Zeitgeschichte, denen nun statt Ölgemälden oder Reiterstandbildern simple und einfach zu reproduzierende Strichgrafiken gewidmet sind, reflektiert Buschs Anleitung das Verhältnis der Vor- zur Nachzeichnung, die Reproduktion von zeichnerischen Regelsystemen und Darstellungskonventionen und die Singularität des zeichnerischen Prozesses selbst.59 Wittgenstein hat das anerkannt, als er Buschs Zeichnungen als eigentlich philosophische Hervorbringungen ansprach: „He has the real philosophical urge!“60 Zeigte die eingangs geschilderte Anekdote noch, wie fest sich der junge Wittgenstein mit den ihm vertrauten gleichwohl jedoch historisch relativen Darstellungskonventionen identifiziert hatte, so demonstrieren seine

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56 Vgl. Bois: Metamorphosen der Axonometrie. In: Daidalos, S. 40–58. 57 Vgl. ebd., S. 46. 58 Busch: Anleitung zu historischen Porträts. In: Ders.: Und die Moral von der Geschicht. 59 In Wittgensteins Manuskript (MS 148, 15v) und in den Vorlesungen findet sich z. B. eine

Napoleonskizze, die sich an Busch orientiert, und thematisch auf Evidenzeffekte bezogen ist, die sich im Nachzeichnen ergeben, vgl. Wittgenstein: Vorlesungen, S. 383f. 60 Wittgensteins Brief vom 22.01.1950 an Rush Rhees, zit. n. dem gleichnamigen Beitrag von Rothhaupt in: Munz/Puhl/Wang (Hrsg.): Language and World, S. 297–316. In den VERMISCHTEN BEMERKUNGEN heißt es über die Zeichnungen von Busch sie seien tief und metaphysisch, sie seien Striche in einer „Sprache ohne Grammatik“, einer Sprache, deren „Regeln sich nicht angeben“ [Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, WA Bd. 8, S. 556] lassen.

61 Bereits im BRAUNEN BUCH heißt es: „Systeme der Verständigung [...] will ich Sprachspiele

nennen. [...] Wenn wir in der Schule spezielle technische Zeichensprachen lernen, wie den Gebrauch von Diagrammen und Tabellen, darstellende Geometrie, chemische Formeln, etc. lernen wir weitere Sprachspiele“ [Wittgenstein: Braunes Buch, WA Bd. 5, S. 121f.]. 62 Wittgenstein beschreibt in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik das geometrische „Beweisbild“ als ein „Instrument des Überzeugens“, das erst durch „das Ziehen der Linien überzeugt“ [Wittgenstein: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, WA Bd. 6., S. 53]. 63 Wittgenstein: Philosophische Grammatik, WA Bd. 4, S. 163. 64 Ders.: Vermischte Bemerkungen, WA Bd. 8, S. 466.

zeichnen  Perspektiven

zahlreichen Bemerkungen zum Zeichnen aus den späteren Lebensabschnitten die Freiheitsgrade, die selbst regelkonform angefertigten Zeichnungen zukommen. Neben Bemerkungen zu offenkundig anwendungsbezogenen Zeichnungen wie den „Werkzeichnungen“ und ihren Gebrauchsweisen, überträgt Wittgenstein das Thema des Zeichnens nun v. a. auch auf klassisch philosophische Themen. Ein genaueres Verständnis des Zeichnens wird nun exemplarisch auf das Denken, Philosophieren sowie insgesamt auf das Thema des regelorientierten Handelns ausgedehnt. Zeichnen wird somit auch zum „Sprachspiel“61. Während frühere Philosophen das Zeichnen metaphorisch zum Zweck der Veranschaulichung eines philosophischen Arguments erwähnt haben, steigt Wittgenstein hier durchaus schon in eine Reflexion seiner Medienspezifik ein, die nicht mehr bloß die Zeichnung als ein abgeschlossenes grafisches Werk, sondern vielmehr bereits deren Gebrauchsweisen und die Performativität ihrer Hervorbringung untersucht.62 Schon die Geschichte der darstellenden Geometrie analogisierte vernünftiges Handeln (Raffael) und präzises Wissen (Monge) mit dem Zeichnen. Wittgensteins Analogiebildungen zwischen Denken und Zeichnen werten diese Tendenz nun philosophisch auf: „Das Denken ist ganz dem Zeichnen von Bildern zu vergleichen.“63; oder: „Der Denker gleicht sehr dem Zeichner, der alle Zusammenhänge nachzeichnen will.“64 Die genannte Gleichsetzung zwischen Zeichnen und Denken steht dabei offensichtlich unter dem Einfluss Spenglers, der zu ‚Goethes Philosophie‘ erklärte: „Jede logische Operation lässt sich zeichnen. Jedes System ist eine

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zeichnen  Perspektiven

geometrische Art, Gedanken zu handhaben.“65 Wenn Spengler prinzipiell eine zeichnerische Darstellbarkeit des Logischen konstatiert, so stellt dies eine epistemische Aufwertung des Zeichnens dar, die sich besonders auf eine wissenschaftliche Konjunktur beruft: die Geometrie. Als Korrektur zu Spengler kann man aber sagen: Nicht alles was gezeichnet wird, muss auch denkbar sein. Denn weil Zeichnen immer auch seiner eigenen Dynamik folgt, kann es mitunter fehlgehen und auch das hat es nach Wittgenstein mit dem Denken gemein: „Wir sind, wenn wir philosophieren, oft in der Versuchung, die Dinge so darzustellen, wie der Maler Klecksel als Kind die menschlichen Gesichter im Profile.“66 Damit wird auf eine Figur des Zeichners bei Wilhelm Busch angespielt, der uns wiederum eine biografische Urszene des Zeichnens illustriert, wenn er über Maler Klecksel schreibt: „Und zeigt bereits als kleiner Knabe | Des Zeichnens ausgeprägte Gabe. | Zunächst mit einem Schieferstiele | Macht er Gesichter im Profile; | Zwei Augen aber fehlen nie, | Denn die, das weiß er, haben sie. | Durch Übung wächst der Menschenkenner. | Bald macht er auch schon ganze Männer.“67 Des‚ Zeichnens ausgeprägte Gabe‘ kann hier nur noch ironisch kommentiert werden, weil ihre Artifizialität ignoriert wurde. Zeichnen ist kein rein abbildliches sondern ebenfalls ein konstruierendes Verfahren, selbst dort, wo seine Regeln missverstanden werden. Es ist nicht absehbar, zu welchem Ergebnis ein zeichnerischer Prozess führt, auch dann nicht, wenn er strengen Regeln zu folgen scheint. Nicht die Tatsache, dass die Handlung des Zeichnens methodisch geregelt ist und innerhalb tradierter Konventionen erfolgt, macht sie dem Denken ähnlich, sondern dass sie diesen statischen Rahmen als Praxis trotzdem notorisch übersteigt, permanent Abweichungen68 erzeugt und Variationen hervorbringt, die im glücklichen Falle Anderes denkbar machen und damit

65 Spengler: Der Untergang des Abendlandes, S. 163 [Herv. i. O.]. 66 Wittgenstein: Braunes Buch, WA Bd. 5, S. 226. 67 Busch: Maler Klecksel, S. 133. 68 Hierzu auch: „Es ließe sich leicht darlegen, dass das Zeichnen immer ein Abweichen bedeutet.

Es gibt Plausibilitäten, aber keine definitive Identität zwischen der zeichnerischen Darstellung und ihrem Gehalt“ [Boehm: Spur und Gespür, S. 51].

682

allererst (zukünftige) Regelsysteme, die Wittgenstein Paradigmen, Vorbilder oder auch Grammatiken nennt,69 hervorbringt. FORSCHUNG  Mit den Arbeiten Bruno Latours,70 die sich aus der Pers-

69 Vgl. Richtmeyer: Paradoxe Paradigmen. In: Fritz et al. (Hrsg.): Kategorien zwischen Denk-

form, Analysewerkzeug und historischem Diskurs, S. 85–103.

70 Z. B. Latour: Drawing Things Together. In: Lynch/Woolgar (Hrsg.): Representation in Sci-

entific Practice, S. 19–68.

71 Ders.: Der Pedologenfaden von Boa Vista. In: Rheinberger/Hagner/Wahrig-Schmid (Hrsg.):

Räume des Wissens, S. 225.

72 Vgl. ebd., S. 242. 73 Z. B. der Pedokomparator, eine Art Setzkasten mit Erdproben: „Er ist fast ebenso flach wie

ein Diagramm, ebenso leicht zu beobachten wie eine Karte, ebenso leicht mischbar wie ein Kartenspiel und ebenso leicht transportierbar wie ein Koffer“ [ebd., S. 239]. 74 Ebd., S. 225.

zeichnen  Forschung

pektive einer soziologischen Wissenschaftstheorie mit dem Zeichnen befasst haben und der Papierförmigkeit naturwissenschaftlicher Objekte dabei eine besondere theoretische Aufmerksamkeit widmeten, eröffnen sich zahlreiche weitere Forschungsfelder für interdisziplinäre Studien zum Zeichnen. Zwei zentrale Begriffe in Latours Theoriegebäude wie der des paperwork sowie das damit verbundene Konzept der immutable mobiles erkunden die epistemischen und heuristischen Qualitäten zweidimensionaler Aufzeichnungen in wissenschaftlichen Forschungsprozessen. Bodenproben oder getrocknete Pflanzen drücken sich demnach im Forschungsprozess „selbst auf das Papier oder verwandel[n] sich ihm zumindest an“ 71, um letztlich in Karten, Tabellen oder Diagramme transformiert zu werden. Diese einzelnen Forschungsschritte werden als Glieder einer Referenzkette interpretiert, die tendenziell von der Materie zur Form, vom Ding zum Zeichen schreitet.72 Dieser Papierwerdung dienen auch eigens konstruierte Apparate.73 Die Fläche des Blattes ermöglicht ein „synoptisches Tableau“74 das konsistente Zusammenstellungen und Kombinationen heterogener Elemente erlaubt. Indem wissenschaftliche paperwork ihre Objekte schrittweise flächig fixiert und damit gleichzeitig für andere Anwendungen, Übersetzungen und Transformationen beweglich macht, operiert sie mit immutable mobiles, mit unbeweglichen Beweglichen.

Z 683

zeichnen  Forschung 684

Obwohl Latours Arbeiten das Zeichnen nicht exklusiv thematisieren, haben sie doch die Diskussion von zeichnerischen Entwurfspraktiken und Kulturtechniken stark inspiriert.75 So knüpft z. B. Barbara Wittmann an Latour an, um die Zeichnung als Instrument des Entwurfs zu diskutieren.76 Denn da noch in der gegenwärtigen Architekturtheorie das zeichnerische Entwerfen im Anschluss an das klassische Disegno als eine Sache des Geistes (una cosa mentale) verstanden wird, dem Werkzeuge, Instrumente und Medien nachgeordnet sind, kann mit Latour das heuristische Potenzial der Praktiken selbst adressiert werden. Latour wendet sich gegen eine „Zerebralisierung“ der Werkzeuge. Die vielschichtige Relevanz des Zeichnens stammt aus der Diver­sität seiner historischen und gegenwärtigen Gebrauchsformen sowie aus der Möglichkeit sie in jeder einzelnen Zeichnung zu kombinieren. „[A]llerdings übersieht Latour, dass die abendländische Zeichnung immer schon ein Korallenriff verschiedenster Repräsentationsformen und modaler Zugriffe war; und dass in der Möglichkeit des innermedialen Wechsels zwischen verschiedenen Modi die wesentliche Macht und Leistung des Zeichnens gründen dürfte.“77 Überlieferte Verfahren, die etwa von den Höhlenzeichnungen in Lascaux über die euklidische Geometrie, Dürers grafischem Werk, den Perspektivkonstruktionen der Renaissance, Daumiers Karikaturen öffentlicher Personen, Wilhelm Buschs Bilderzählungen, technischen Patentzeichnung, bis hin zu Disneys Innovationen für den Animationsfilm reichen, folgen zwar jeweils etablierten Darstellungskonventionen. Allerdings erfindet sich die Zeichnung im Zeichnen immer wieder neu. Zeichnen ist demnach eine Praxis, die Regeln konserviert und variiert, sie im gelingenden grafischen Handeln aber auch bricht, um neue zu etablieren. Das erklärt auch das interdisziplinär anhaltende Interesse etwa seitens der Wissenschaftstheorie und -geschichte, der Diagrammatik, der Entwurfsforschung, der Kulturtechnikforschung, der Kunstgeschichte, der Bildtheorie oder der Philosophie.

75 Vgl. Siegert: Wasserlinien. In: Voorhoeve (Hrsg.): Welten schaffen, S. 17–37. 76 Vgl. Wittmann: Papierprojekte. In: ZfM, S. 135–150. 77 Ebd., S. 150.

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ZERSTREUEN PETRA LÖFFLER

mann unter dem Titel DER STRUWWELPETER ein Bilderbuch für Kinder in deutlich erzieherischer Absicht, das er seinem dreijährigen Sohn CarlPhilipp widmete. In der ein Jahr später erschienenen zweiten Ausgabe findet sich die drastische Geschichte vom ZAPPEL-PHILIPP, der bei Tisch nicht stillsitzen kann, mit dem Stuhl kippelt und schließlich, Geschirr und Speisen mit sich reißend, zu Boden fällt: „Er gaukelt | Und schaukelt. | Er trappelt | Und zappelt | Auf dem Stuhle hin und her.“1 Hoffmanns Zappel-Philipp ist zerstreut, unfähig, sich zu konzentrieren und den Anweisungen des Vaters zu folgen. Diese pädagogisch fragwürdige Geschichte stellt die Blaupause für die Vorstellung einer pathologischen Disposition dar, die heute unter dem Namen Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndrom bekannt ist und längst nicht nur Pädagogen und Mediziner umtreibt.2 Berichte über zerstreute Kinder und Jugendliche, mehrheitlich Jungen, aber auch Erwachsene füllen längst nicht mehr nur die Seiten wissenschaftlicher Abhandlungen und Vortragsmanuskripte, sondern v. a. die Spalten von Tageszeitungen und Zeitschriften sowie die Foren des World Wide Web. Erzählt werden die Leidensgeschichten von Kindern, die ihre Tätigkeiten häufig wechseln und denen deshalb ein Mangel an dauerhafter Aufmerksamkeit unterstellt wird. Die Diagnose lautet ADHS und wird oft mit Psychopharmaka behandelt. Das Phänomen ist indes nicht neu. Unter der Bezeichnung

1 Hoffmann: Der Struwwelpeter, S. 18. 2 Hoffmanns Bildergeschichte gilt in der Medizingeschichte als Beleg für historische Formen

von Zerstreuung; vgl. Lange et al.: The History of Attention Deficit Hyperactivity Disorder. Unter: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3000907/pdf/12402_2010_ Article_45. pdf [aufgerufen am 27.10.2013].

zerstreuen   Anekdote

ANEKDOTE  1845 veröffentlichte der deutsche Psychiater Heinrich Hoff-

Z 687

„hyperkinetische Reaktion des Kindesalters“3 tauchte das Krankheitsbild 1968 in der medizinischen Diagnostik auf. Es wurde von den amerikanischen Psychiatern Leon Eisenberg und Mike Rutter eingeführt. 2009, kurz vor seinem Tod, distanzierte sich Eisenberg jedoch von seiner einstigen Entdeckung und bezeichnete die mittlerweile als ADHS bekannte Störung als „Paradebeispiel für eine erfundene Krankheit“,4 die massenhaft und zumeist fälschlich diagnostiziert wird und an der v. a. die Pharmaindustrie verdient. Als verhaltensauffällig gilt dabei schon, wer gerne tobt und in der Schule nicht mitkommt.5 Als Ursachen wird neben familiären Problemen und genetischen Veranlagungen immer wieder die wachsende Reizüberflutung in der medialen Kultur angeführt. ETYMOLOGIE  Das deutsche Verb zerstreuen geht auf das mhdt. ‚zerströu-

zerstreuen   Etymologie

wen‘ zurück.6 Es meint sowohl etwas in verschiedene Richtungen auszustreuen (Samen), zu verteilen oder zu zerteilen, auseinander zu treiben oder zu vertreiben (eine Herde oder ein Volk) als auch etwas aufzulösen (eine Demonstration), auszuräumen oder zu beseitigen (bestimmte Zweifel) bzw. auszumerzen oder auszulöschen. Zedlers UNIVERSAL-LEXIKON von 1749 liefert für diese Bedeutungsvalenzen zahlreiche Belege. Als Quelle wird das griech. Verb ‚διασκορπιζειν‘ angeführt, das so viel heißt wie geordnete

688

3 Der Begriff ‚hyperkinetic reaction of childhood (or adolescence)‘ wurde 1968 in das von der American Psychiatric Association herausgegebene DIAGNOSTIC AND STATISTICAL MANUAL OF MENTAL DISORDERS aufgenommen und ersetzte die Krankheitsbezeichnung ‚minimal brain dysfunction‘. Darin heißt es: „This disorder is characterized by overactivity, restlessnes, distractability, and short attention span, especially in young children“ [American Psychiatric Association: DSM II, S. 50]. Erst in der 2000 veröffentlichten vierten Ausgabe des DSM taucht der Begriff ‚ADHS‘ auf. 4 Der Wissenschaftsjournalist Jörg Blech hat die Geschichte von ADHS und anderer „Modekrankheiten“ rekonstruiert und mit Eisenberg gesprochen; vgl. Blech: Schwermut ohne Scham. In: Spiegel online. Unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-83865282.html [aufgerufen am 03.09.2013]. Der Artikel hat wiederum hierzulande und in den USA zahlreiche kritische Reaktionen ausgelöst. 5 Vgl. Hoffmann/Schmelcher: Wo die wilden Kerle wohnten. Ritalin gegen ADHS. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung online. Unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ritalingegen-adhs-wo-die-wilden-kerle-wohnten-11645933.html [aufgerufen am 03.09.2013]. 6 Vgl. (Art.) zerstreuen. In: Duden. Herkunftswörterbuch, S. 822. Auch das Substantiv ‚zerströuwunge‘ ist seit dem späten Mittelalter bekannt.

Man zerstreut z. B. etwas im eigentlichen Sinne, wenn man es durch Streuen auseinander bringt; metaphorisch sagen wir daher von der Aufmerksamkeit des Menschen, dass sie zerstreuet ist, wenn sie auf zu viele Gegenstände, und daher

7 Vgl. (Art.) zerstreuen, (unter die Heyden). In: Zedler, Sp. 1724. In diesem Zusammenhang

wird auch die mehrfache Vertreibung der Juden als Zerstreuung erwähnt sowie auf die babylonische Sprachverwirrung als Ereignis verwiesen. 8 Ebd., Sp. 1725. In diesen Kontext gehört auch der Begriff ‚Zerstreuungslinse‘. 9 Die folgende Argumentation bezieht sich weitgehend auf meine Studie: Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung. 10 (Art.) zerstreuung, f. In: Grimm, Sp. 784f.

zerstreuen   Etymologie

Mengen hin- und herzutreiben und auf das Ausstreuen von Samen bezogen wird. Vor allem im ALTEN TESTAMENT wird immer wieder die Macht Gottes beschworen, Hochmütige oder gottlose Völker wie Blätter im Wind zerstreuen zu können, denn „zerstreuen heisset verwüsten, verjagen, vertreiben“7. Auch der engere optische Sinn von zerstreuen („Zerstreuungs=Punct“ 8) wird bereits von Zedler erwähnt. Darüber hinaus wird das Verb besonders seit dem 18.  Jh. reflexiv gebraucht (‚sich zerstreuen‘) im Sinne von ‚sich ablenken‘ bzw. ‚sich die Zeit vertreiben‘. Die reflexive Form bezeichnet Tätigkeiten, die auf die kulturelle Relevanz von Erholung und Unterhaltung verweisen und den Selbstbezug dieser Operationen unterstreichen.9 Diese Begriffsverwendung hat sich in Anlehnung an das frz. ‚distrait‘ eingebürgert, das dem GRIMMSCHEN WÖRTERBUCH zufolge „unaufmerksam, durch fremdartige eindrücke abgelenkt“ bedeutet und im Sinne von „ablenkende, angenehme beschäftigung, zeitvertreib, vergnügung“ 10 gebraucht wird. In dieser modernen Begriffsbedeutung wird besonders das Attribut ‚zerstreut‘ und das Subs­ tantiv ‚Zerstreuung‘ verwendet, das selbst eine lange Vorgeschichte als philosophisches und theologisches Konzept aufweist. Die verschiedenen Bedeutungskomponenten von zerstreuen haben sich durch metaphorischen und metonymischen Gebrauch weithin amalgamiert und wurden zur Charakterisierung menschlichen Verhaltens herangezogen, wie der Arzt Johann Christoph Hoffbauer 1808 in einem wissenschaftlichen Beitrag bemerkt hat:

Z 689

auf keinen mit der nöthigen Stärke gerichtet ist. Nach einer bekannten Metonymie sagen wir dann auch von einem Menschen, daß er zerstreuet ist.11

Wird dieser Zustand einer verteilten Aufmerksamkeit habituell, attestiert man der betreffenden Person, sie sei zerstreut. Als zerstreut gilt aber auch, wer zu sehr in eine Sache vertieft ist und deshalb geradezu geistesabwesend erscheint. Anthropologisch betrachtet, lässt sich Zerstreuung demnach in zweifacher Hinsicht als Unaufmerksamkeit verstehen. Sie wird, wie Johann Friedrich Pierer 1829 in einem medizinischen Lexikonartikel betont, verursacht

zerstreuen   Etymologie

einmal [...] durch den lebhaften Wechsel von andern Vorstellungen, die dem Geiste sich aufdringen und ihn in einem schwankenden Zustand erhalten; dann aber auch, in wie fern gerade eine concentrirte Aufmerksamkeit auf nur einen Gegenstand [...] die Sinne für Wahrnehmung äußerer Vorgänge unempfänglich macht.12

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Als Operation besteht das Zerstreuen entweder im ständigen Wechsel der Bewusstseinsinhalte oder im Fokussieren auf einen dieser Inhalte. Das Zerstreuen der Aufmerksamkeitsgegenstände und die Konzentration auf nur einen Gegenstand scheinen sich auf den ersten Blick auszuschließen. Als ‚äußere‘ bzw. ‚innere‘ Zerstreutheit verstanden, bestimmen beide Begriffsbestimmungen jedoch gleichermaßen den Wissensraum der Anthropologie und verwandter Disziplinen, in denen die Praktiken des sich Zerstreuens bzw. des zerstreut Seins erfasst, untersucht und normativ verhandelt werden. Sie umfassen sowohl Körpertechniken einer gesteigerten Individualität (Versenkung, Trance) als auch solche der Entspannung und Erholung (Ablenkung, Unterhaltung). Sich zu zerstreuen meint hier v. a. die gemeinschaftliche Unterhaltung im öffentlichen Raum und umfasst Operationen, die die menschlichen Sinne durch eine Fülle von Reizen stimulieren sollen. Massenmedien wie das Panorama oder das Kino nehmen deshalb in den Diskursen und Praktiken ebenso eine wichtige Rolle ein wie die spezifischen Orte und Schauplätze, die der Zerstreuung dienen.

11 Hoffbauer: Ueber die psychologischen Ausdrücke in der Sprache mit Bemerkungen über

die psychische Benutzung der Sprachen. In: Reil/ders. (Hrsg.): Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege, S. 136. 12 Pierer: (Art.) Zerstreuung. In: Ders. (Hrsg.): Medizinisches Reallexikon, S. 794.

streuung (griech. ‚σχέδασις‘, ‚διάχυσις‘, lat. ‚dispersio‘, ‚dissipatio‘) bekannt. In der platonischen Philosophie wurde sie strikt von der Sammlung der Gedanken, der Konzentration auf das Eine, die Seele oder das Geistige getrennt.13 Von Mystik und Pietismus wurde sie als schädliche Ablenkung der Seele von Gott angeprangert.14 Doch schon Michel de Montaigne billigte der Zerstreuung (diversion) einen positiven Wert zu. Er empfahl sie in seinen ESSAIS (1580) als Schutz vor Unlust und Überdruss sowie vor seelischen Krankheiten. Trost spenden demnach v. a. leichte Romane, die Leser von ihren Seelenqualen ablenken.15 Als Seelentrost avanciert Zerstreuung bei de Montaigne gleichzeitig zur Selbsttechnik. Unter umgekehrten Vorzeichen steht hingegen das Bedürfnis, sich zu zerstreuen, ein Jh. später. Es entspringt für Blaise Pascal dem Gefühl einer unerträglichen Unruhe, das die Menschen zu ständiger Betriebsamkeit und Zerstreuung verleite: „Nichts ist dem Menschen so unerträglich, als wenn er sich in vollkommener Ruhe befindet, ohne Leidenschaften, ohne Beschäftigungen, ohne Zerstreuungen, ohne Betriebsamkeit.“16 Seine Moralphilosophie sah in der Äußerlichkeit weltlicher Beschäftigungen, den Möglichkeiten gemeinschaftlicher Unterhaltung (‚divertissement‘, ‚amusement‘) zugleich das Grundübel menschlicher Verfehlungen. Besonders das Theater stellte Pascal in seinen PENSÉES (1670) unter Generalverdacht: „Alle großen Zerstreuungen sind für das christliche Leben gefährlich; aber unter all jenen, welche die Welt erfunden hat, ist keine mehr zu fürchten als das Schauspiel.“17 Die Kritik an der Zerstreuung avanciert damit zur Medienkritik. Zwischen diesen beiden Polen der Trost spendenden Ablenkung (diversion) bei de Montaigne einerseits und der die geistige Gesundheit und die Moral gleichermaßen gefährdenden Unterhaltung (divertissement) bei Pascal andererseits blieb

13 Vgl. Hühn: (Art.) Zerstreuung. In: Ritter, Sp. 1310. 14 Vgl. die zahlreichen Belegstellen in Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus,

S. 108–111, 399, 409, 437, 455, 461, 463, 465, 468.

15 Vgl. Montaigne: Über die Ablenkung. In: Ders.: Essais, S. 75–90: „Es braucht wenig uns

abzulenken und zu zerstreuen, denn es braucht wenig, uns festzuhalten“ [ebd., S. 85].

16 Pascal: Gedanken über die Religion und einige andere Themen, S. 271. 17 Ebd., S. 407.

zerstreuen   Kontexte

KONTEXTE  Bereits in der antiken Philosophie war das Phänomen der Zer-

Z 691

das kulturkritische Denken der Zerstreuung bis ins 18. Jh. hinein gefangen. Erst im Zeichen der entstehenden Humanwissenschaften, namentlich der wissenschaftlichen Pädagogik, der experimentellen Physiologie und Psychologie, zeichnete sich eine Neubestimmung ihrer Praktiken und Normen ab, die sich von nun an in zahlreichen Diskursen und Wissensfeldern niederschlug.18 In der Medizin wird der Zerstreuung als Körpertechnik, die auch Routinen wie das kurzzeitige Unterbrechen einer Tätigkeit, Entspannungsübungen und Ablenkungen aller Art umfasst, verstärkt Beachtung geschenkt. In dieser Perspektive soll zerstreuen einen Ausgleich für Ermüdung und Stress schaffen. Auf diesen Umstand hat bereits Samuel Tissot in seiner 1768 erschienenen Schrift VON DER GESUNDHEIT DER GELEHRTEN hingewiesen, worin er empfiehlt, sich vor den negativen Folgen übermäßiger geistiger Arbeit durch gesellige körperliche Zerstreuungen wie zum Beispiel Spaziergänge, Ballspiele oder Jagden zu schützen.19 Auch in der Pädagogik wurde Zerstreuung nicht nur wie in Hoffmanns ZAPPEL-PHILIPP unter disziplinarischen Gesichtspunkten verhandelt, sondern besonders reformpädagogisch als Lernmethode eingeführt. Die experimentellen Lebenswissenschaften haben sich im 19. Jh. hingegen v. a. der Messung von Aufmerksamkeitsspannen verschrieben und Zerstreuungsfaktoren experimentell erforscht – ohne jedoch diese Experimente ausreichend theoretisch zu reflektieren oder der Zerstreuung einen begriffsgeschichtlichen Rahmen zu geben. KONJUNKTUREN  Gotthold Ephraim Lessing hat 1767 in seiner HAMBURGER

zerstreuen   Konjunkturen

DRAMATURGIE aus Anlass einer Aufführung von Jean-François Regnards Lust-

spiel LE DISTRAIT die vorherrschende Meinung über die damals populäre Figur des Zerstreuten kolportiert: „Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglück; und kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene eben so wenig ausgelacht zu werden, als einer der Kopfschmerzen hat.“20 Lessing betont einerseits die Neuheit dieser Figur, indem er darauf verweist, dass noch Johann Elias Schlegel ‚le distrait‘ mit Träumer übersetzt habe, während neuerdings die wörtliche 18 Vgl. Crary: Suspensions of Perception. 19 Vgl. Tissot: Von der Gesundheit der Gelehrten und derer, die in kränklichen Umständen sind,

S. 58.

20 Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, S. 321.

692

Übersetzung bevorzugt werde. Gleichzeitig erklärt er dessen Habitus zur „üblen Angewohnheit“ und behauptet: „Und was ist die Zerstreuung anders, als ein unrechter Gebrauch unserer Aufmerksamkeit.“21 Zur Gefahr für Moral und Gesundheit wird sie damit für Lessing, weil der Zerstreute seine Gedanken nicht kontrolliert, seine Aufmerksamkeit nicht dort ist, wo sie sein sollte. Zerstreuen hat in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. v. a. als Charakterschwäche (‚zerstreut‘) und pathologischer Zustand (‚Zerstreutheit‘) Konjunktur. Im Geist der Aufklärung erhebt Lessing den Vorwurf eines unrechten Gebrauchs der Aufmerksamkeit, um das Ideal eines selbstmächtigen Subjekts zu verteidigen. Im Zuge solcher Zuschreibungen werden bis heute Aufmerksamkeitsökonomien eingefordert und einer angeblich maßlosen Zerstreuung pathologische Züge attestiert. Zur damaligen Zeit wurden v. a. die weibliche Lesesucht und die Sehsucht großstädtischer Panorama­ besucher attackiert. Ein Brief Johann Wolfgang Goethes vom 9. August 1797 an seinen Dichterfreund Friedrich Schiller ist in dieser Hinsicht aufschlussreich:

Die Großstadt erscheint dem Verfasser dieser Zeilen als privilegierter Ort und Schauplatz massenhafter Vergnügungen. Theater, Journale und Romane werden explizit als Medien der Zerstreuung benannt, die den ‚Taumel von Erwerben und Verzehren‘ in die Freizeit verlängern und dadurch potenzieren, ohne zwischen einer öffentlichen (vergemeinschaftenden) und einer privaten (individualisierenden) Rezeption zu unterscheiden. Goethe prangert zugleich mit der zerstreuten Zerstreuung den Missbrauch einer kulturellen Praxis an,

21 Ebd., S. 322. 22 Schiller/Goethe: Ihre Briefe sind meine einzige Unterhaltung, S. 383f. [meine Herv., P.L.].

zerstreuen   Konjunkturen

Sehr merkwürdig ist mir aufgefallen wie es eigentlich mit dem Publico einer großen Stadt beschaffen ist. Es lebt in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren, und das was wir Stimmung nennen, läßt sich weder hervorbringen noch mittheilen. Alle Vergnügungen, selbst das Theater, sollen nur zerstreuen, und die große Neigung des lesenden Publikums zu Journalen und Romanen entsteht eben daher, weil jene immer und diese meist Zerstreuung in die Zerstreuung bringen.22

Z 693

die für ihn von Permanenz und Maßlosigkeit geprägt ist und seinem poetischen Ideal der Stimmung zuwiderläuft. Goethe kritisiert auch auf der Bühne wie im Vorspiel auf dem Theater seines FAUSTS die Zerstreuungssucht seiner Zeitgenossen. In dieser Hinsicht haben bereits vor 1800 Jahrmärkte, Zirkusse und Panoramen und seit Mitte des 19. Jhs. besonders Weltausstellungen und Warenhäuser ihre Besucher immer wieder dazu verleitet, sich an für sie inszenierten Sensationen und sinnlichen Reizen zu zerstreuen. Bezeichnend ist deshalb auch folgende Briefstelle Sigmund Freuds aus dem Jahr 1873, in der er verkündigt, nach überstandener MaturaPrüfung jeden Tag auf die Weltausstellung gehen zu wollen, denn dort sei es „unterhaltend und zerstreuend“23. Sich zu zerstreuen bedeutet demnach nicht nur, sich zusammen mit Gleichgesinnten unterhalten zu lassen, sondern auch, sich von Strapazen geistiger oder körperlicher Arbeit zu erholen. Zur Konjunktur dieser kulturellen Praxis um 1800 hat nicht zuletzt Immanuel Kant beigetragen, der den unterschiedlichen Formen der Zerstreuung in seiner 1798 erschienenen ANTHROPOLOGIE IN PRAGMATISCHER HINSICHT einige wichtige Seiten gewidmet hat. Während auch er die habitualisierte Zerstreutheit als unsoziales Verhalten kritisiert, wertet er Tätigkeiten des gemeinsamen sich Zerstreuens deutlich auf. Zunächst unterscheidet er eine absichtliche und eine unbewusste Form der Zerstreuung:

zerstreuen   Konjunkturen

Zerstreuung (distractio) ist der Zustand einer Abkehrung der Aufmerksamkeit (abstractio) von gewissen herrschenden Vorstellungen, durch Verteilung derselben auf andere, ungleichartige. Ist sie vorsätzlich, so heißt sie Dissipation; die unwillkürliche aber ist Abwesenheit (absentia) von sich selbst.24

694

Die unabsichtliche Form der Zerstreuung (absentia) lehnt Kant als Gemütsschwäche ab, weil sie den Betreffenden „für die Gesellschaft unnütze“25 mache. Als notwendig betrachtet er hingegen solche Praktiken, Aufmerksamkeit bewusst zu verteilen (dissipatio) und sich zu zerstreuen, die „der Vorsorge für die Gesundheit“26 dienen. Als eine „Kunst für Beschäftigte, um Kräfte zu 23 Freud: Briefe 1873–1939, S. 5f. 24 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 44, S. 519, 518 [meine Herv., P.L.]. 25 Ebd., S. 520. 26 Ebd., S. 519.

sammeln“27 erhebt er Zerstreuung zur Lebenskunst, zur notwendigen Sorge um sich. Während sie für Goethe geradewegs in die Verausgabung führt, soll sie Kant zufolge die Beschäftigten im Gegenteil davor schützen und der Vorbereitung auf neue Tätigkeiten dienen. Genau aus diesem Grund hat die entstehende Psychotherapie zur selben Zeit begonnen, Praktiken der Zerstreuung als Heilmethode anzuwenden. So wurde etwa geistiger Erschöpfung mit einem ganzen Arsenal sinnlicher Anreize begegnet, das auf die Erregung von Schockmomenten abzielende Theateraufführungen ebenso wie die Anwendung von Drehstühlen umfasste.28 Das Ziel bestand dabei zum Beispiel darin, die Sinne abgestumpfter oder apathischer Patienten zu erregen und dadurch ihre Vitalität zu steigern. An dieser Stelle wird deutlich, welchen Veränderungen nicht nur die Auffassung von Zerstreuung, sondern auch ihre Praktiken unterworfen sind. Sich zu zerstreuen wird im Verlauf des 19. Jhs. zu einer Angelegenheit der städtischen Bevölkerung und der Massenmedien, wie Walter Benjamin in seinem PASSAGEN-WERK herausgearbeitet hat:

Zerstreuung soll nun außerhalb und jenseits der Arbeit stattfinden. Innerhalb dieser Sphäre wird sie wiederum als Bedrohung erkannt, die nicht nur einen Abfall der Produktivität, sondern auch Gefahr für Leib und Leben zur Folge haben kann. Sich zu zerstreuen wird vermehrt zum Ereignis einer medial vermittelten Wahrnehmung, die in stationären Architekturen des Vergnügens wie dem Panorama oder dem Kino ebenso in Bewegung versetzt wird wie durch

27 Ebd., S. 520. 28 Vgl. Löffler: Schwindel, Hysterie, Zerstreuung. In: Hahn/Schüttpelz (Hrsg.): Trancemedien

zerstreuen   Konjunkturen

Der Müßiggang kann als eine Vorform der Zerstreuung oder des Amusements betrachtet werden. Er beruht auf der Bereitwilligkeit, eine beliebige Abfolge von Sensationen allein auszukosten. Sobald aber der Produktionsprozeß große Massen ins Feld zu führen begann, entstand in denen, die ‚frei hatten‘, das Bedürfnis, sich massenweise gegen die Arbeitenden abzusetzen. Diesem Bedürfnis entsprach die Vergnügungsindustrie.29

und Neue Medien um 1900, S. 373–399.

29 Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 967 [Müßiggang].

Z 695

zerstreuen   Konjunkturen 696

moderne Verkehrsmittel, allem voran der Eisenbahn.30 In den phantom rides des frühen Kinos wird diese Mobilisierung der menschlichen Sinne an einem expliziten Ort der freizeitlichen Zerstreuung massenmedial erzeugt. Im ersten Drittel des 20. Jhs. erfahren Begriff und Praxis des Zerstreuens deshalb wiederum eine merkliche Konjunktur. Benjamin zufolge erlangt die „Rezeption in der Zerstreuung“ im Kino geradezu normativen Charakter als Wahrnehmungstraining. Sie wird zum Imperativ einer Kultur, wie er 1935/36 in seinem Kunstwerk-Aufsatz betont, die die Wahrnehmung ganzer Kollektive durch schockartige Reize zerstreut: „Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendem Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht und das Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Wahrnehmung ist, hat in den Kinos ihren zentralen Platz.“31 Dort wird sie als Übung und Gewöhnung pragmatisch bestimmt. Die gewohnheitsmäßige Zerstreuung ist für Benjamin eine politisch eminent wichtige Operation, soll sie doch Geistesgegenwärtigkeit erzeugen und zur Politisierung der Kunst beitragen. Siegfried Kracauer hatte die mehrere tausend Sitze umfassenden Groß­ kinos der Metropolen bereits 1926 als ‚Paläste der Zerstreuung‘ tituliert und den Angestellten in einer ihnen gewidmeten Studie 1929 eine besondere Affinität zur glanzvollen Welt des Films attestiert.32 Darin führt er den Nachweis, dass die „Pläsierkasernen“33 der Vergnügungsindustrie eine notwendige Ablenkung vom monotonen Arbeitsalltag und zugleich uneinlösbare Glücksversprechen darstellen. Sinnvoll erschien Kracauer die Zerstreuung jedoch nur als Improvisation, die „als Abbild des unbeherrschten Durcheinanders unserer Welt“34 zugleich zur Revolution der bestehenden Verhältnisse aufruft. Die Hoffnungen, die Kracauer an das Kino und den „Kult der Zerstreuung“ geheftet hat, sind in den 1930er Jahren angesichts einer etablierten Filmindustrie zunehmend großer Skepsis gewichen. Geistesgegenwärtig auf verschiedene Reize zu reagieren, war für Kracauer und Benjamin eine Fertigkeit mit utopischem

30 Vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 35ff. 31 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.:

Gesammelte Schriften, S. 466.

32 Vgl. Kracauer: Kult der Zerstreuung. In: Ders.: Das Ornament der Masse, S. 311–317. 33 Ders.: Die Angestellten, S. 95. 34 Ders.: Kult der Zerstreuung. In: Ders.: Das Ornament der Masse, S. 316.

35 Vgl. Jackson: Distracted. 36 Anderson: In Defense of Distraction. In: New York Magazine online. Unter: http://nymag.

com/news/features/56793 [aufgerufen am 11.02.2014], S. 1.

37 Ebd., S. 3. Ausnahmen betreffen Routinetätigkeiten, bei denen verschiedene Sinne gleichzei-

zerstreuen   Konjunkturen

Potenzial: Eine verteilte Aufmerksamkeit, eine bis zum Exzess gesteigerte Zerstreuung, die neue Handlungsoptionen freisetzen sollte. Sich auf diese Weise zu zerstreuen, nimmt hier Züge einer unkontrollierbaren, rauschhaften Praxis an, die gemeinhin auch Revolutionen zugeschrieben werden. Aktuell genießen Geschichten über ADHS (wieder) große mediale Aufmerksamkeit – häufig im notorischen Tonfall der pessimistischen Kulturkritik.35 Allerdings wird den medienkritischen Erklärungsversuchen auch die Version einer medialen Praxis entgegengestellt, für die Zerstreuung unverzichtbar ist. So hat der Journalist Sam Anderson am 17. Mai 2007 auf der Internetseite des New York Magazine unter dem kämpferischen Titel IN DEFENSE OF DISTRACTION einen Artikel veröffentlicht, der auf alarmierende Berichte über Aufmerksamkeitsstörungen v. a. bei Jugendlichen und Erwachsenen reagiert, die ständig mit ihren digitalen Tools beschäftigt sind und das meistens mit mehreren gleichzeitig. Gegen die Überzeugung vieler Zeitgenossen, die den Verlust von Aufmerksamkeit auf das gestiegene Informations- und Unterhaltungsangebot der digitalen Medien zurückführen, besteht Anderson darauf, dass zerstreuen eine unverzichtbare Medienpraxis darstellt.36 Anderson geht in seinem Artikel auch auf neurologische Studien ein, die belegen, dass das im Zusammenhang mit diesem Phänomen immer wieder diskutierte Multitasking in den meisten Fällen ein schneller Wechsel zwischen verschiedenen Aufmerksamkeitsgegenständen und daher als kultureller Mythos zu entlarven ist: „When you think you’re doing two things at once, you’re almost always just switching rapidly between them, leaking a litte mental efficiency with every switch.“37 Zerstreuen ist also nichts anderes, als ein sehr schneller Fokuswechsel der Aufmerksamkeit. Ein zeitgemäßes Aufmerksamkeitsmanagement betreiben aus seiner Sicht deshalb Netzaktivisten, die sich dem so genannten „lifehacking“ verschrieben und Strategien entwickelt haben, Phasen von Ablenkung und Zerstreuung zu kontrollieren und damit zu limitieren.38 So

tig angesprochen werden wie Bügeln oder Autofahren etc. und gleichzeitiges Radiohören.

38 Vgl. ebd., S. 5f.

Z 697

kommt Anderson zu dem Schluss, dass Zustände von Aufmerksamkeit und Zerstreuung sich notwendig abwechseln müssen und eine verteilte Aufmerksamkeit trainierbar ist. GEGENBEGRIFFE  Durch die platonische Philosophie einerseits und mystisch-

zerstreuen   Gegenbegriffe

pietistische Schriften andererseits wurde die Auffassung verbreitet, wonach Zerstreuung das Gegenteil von Aufmerksamkeit (sowie deren Synonymen Sammlung bzw. Kontemplation) sei und die Konzentration auf das Eine höchste Weihen genieße.39 Besonders aufschlussreich ist deshalb, dass der mystisch-pietistische Wortgebrauch von Zerstreuung als Gegenbegriff zur religiösen Sammlung für die reflexive Verwendung des Begriffs (‚sich zerstreuen‘) und damit für seine moderne säkularisierte Fassung ohne Auswirkung geblieben ist.40 Wie Irmela Schneider vermutet hat, eignet sich der Begriff der Zerstreuung besonders, um irritierende Erfahrungen im Zusammenhang mit ungewohnten Mediennutzungen sprachlich zu fassen. Die Opposition Zerstreuung versus Kontemplation soll diese Irritationen kanalisieren.41 Walter Benjamin hat sie im Zuge seiner Studien zu modernen massenmedialen Rezeptionsweisen entscheidend gewendet, wenn er das Sehen von Filmen als ein zerstreutes kennzeichnet, das der Einübung in und der Gewöhnung an schnell aufeinander folgende visuelle, akustische und taktile Reize diene.42 Diese Nobilitierung der Zerstreuung wird in aktuellen kulturkritischen Debatten um Aufmerksamkeitsdefizite in der Informationsgesellschaft wieder kassiert. Stattdessen lebt der platonisch-pietistische Gegensatz zwischen Zerstreuung und Konzentration/Kontemplation wieder auf.43

698

39 Hühn verweist auf Platons PHAIDON (67c, 83a) sowie Schriften von Cicero, Plotin, Proclus, Thomas von Aquin, Heinrich Seuse, Meister Eckhart und die Lutherbibel; vgl. Hühn: (Art.) Zerstreuung. In: Ritter, Sp. 1310. 40 Vgl. Lerch: Zerstreutheit. In: Archiv für die gesamte Psychologie, S. 388–460. 41 Vgl. Schneider: Konzepte vom Zuschauen und vom Zuschauer. In: Dies./Spangenberg (Hrsg.): Medienkultur der 50er Jahre, S. 245–269. 42 Vgl. Benjamin, Kunstwerk, S. 465. 43 Hierzulande wurde diese Debatte u. a. anlässlich von Frank Schirrmachers 2009 erschienenen Buchs PAYBACK geführt, das den Untertitel ‚Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen‘ trägt.

kultur“44 bedient sich nicht selten rhetorischer Strategien der Übertreibung bzw. Zuspitzung und führt einseitige Belege aus wissenschaftlichen Studien an. Sich zu zerstreuen, eine zerstreute Aufmerksamkeit, hat in dieser Perspektive ausschließlich negative Auswirkungen und muss unter allen Umständen vermieden bzw. bekämpft werden. Das Festhalten an Bildungstraditionen oder der Wunsch nach einem Schulfach namens „Ritualkunde“,45 in dem z. B. das Auswendiglernen von Gedichten und Liedern eine wichtige Rolle spielen soll, verheißt dabei jedoch nur auf den ersten Blick Stabilität, denn selbst die basalen Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens haben sich nicht erst unter Bedingungen einer „digitalen Grammatikalisierung“46 rasant verändert, sie haben auch Konkurrenz bekommen durch technische Gesten wie dem Bedienen von Touchscreens und dem Scrollen oder auch dem Surfen im Internet. Eine verteilte Aufmerksamkeit ist dabei viel eher von Nutzen als ein ‚starrer‘ Blick auf den Bildschirm. In der Informationsgesellschaft gewinnen Reaktionsschnelligkeit und Spontaneität gleichermaßen an Wert, die von einer verteilten Aufmerksamkeit profitieren. Versteht man deshalb unter zerstreuen im Wortsinn Operationen der Wahrnehmung und des Bewusstseins, Aufmerksamkeit auf mehrere (äußere sowie innere) Gegenstände zu verteilen, dann lassen sich weitreichende Perspektiven auf gegenwärtige mediale Umgebungen entwickeln. William Bogard hat die Auffassung vertreten, Zerstreuung sei ein komplexes Gefüge verschiedener Kräfte, bestehend aus Körperteilen und der materiellen Infrastruktur technischer Geräte, „a diagram of ritualized, social behavior“47. Zerstreuung ist für ihn in Anlehnung an Félix Guattari eine maschinische Anordnung, die sich permanent selbst organisiert.48 Sie steht in dieser Perspektive immer im Austausch mit Prozeduren der Macht und wird von Bogard dezidiert als eine politische Praxis verstanden, die gegen herrschende Machtverhältnisse gerichtet

44 U.a. Türcke: Hyperaktiv! 45 Vgl. ebd., S. 79–118. 46 Stiegler: Von der Biomacht zur Psychomacht, S. 100. 47 Bogard: Distraction and Digital Culture. Unter: http://www.ctheory.net/articles.aspx?id=131

zerstreuen   Perspektiven

PERSPEKTIVEN   Das verbreitete Schlagwort einer „Auf­merk­sam­keits­de­fi­zit­

[aufgerufen am 11.02.2014], S. 14.

48 Vgl. Guattari: Chaosmose.

Z 699

ist. Dieses Verständnis verdankt sich nicht zuletzt der Anerkennung, die dem Begriffsfeld zerstreuen in poststrukturalistischen Ansätzen zukommt. Derridas Instrumentarium der différance erprobt ebenso eine Ver- bzw. Zerstreuung des Sinns (dissémination)49 wie Deleuze’ Überlegungen zu den Paradoxien des Sinns50 oder das von ihm gemeinsam mit Guattari entwickelte Konzept des Rhizoms.51 Das permanente Verteilen von Sinn wie von Macht stellt für diese Denker eine wichtige Operation dar, um Handlungsoptionen im Sinne einer dezentralen, lokal agierenden Mikropolitik zu entwickeln, die hegemonialen Machtansprüchen begegnen kann.

zerstreuen   Forschung

FORSCHUNG   Aktuelle Diskussionen um Aufmerksamkeitsspannen, Auf-

700

merksamkeitsstörungen und pathologisierte Mediennutzungen behaupten immer wieder einen direkten und universalen Zusammenhang zwischen psychischer Disposition und Mediengebrauch. Bernard Stiegler beklagt die Psychomacht moderner Medientechnologien und betrachtet Aufmerksamkeit als notwendig, um soziale Beziehungen zu knüpfen. Diese notwendige Sozialität gegenseitiger Aufmerksamkeit, die er als „Techniken des Wir“52 begreift, werde von der digitalen Grammatikalisierung nicht mehr gewährleistet. Auffällig ist, dass die lautstark geübte Kritik an Zerstreuung, Multitasking oder Aufmerksamkeitsdefiziten häufig im Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen um staatliche Bildungsinstanzen sowie Chancen und Probleme der nachfolgenden Generationen steht. Die gegenwärtige Konjunktur von Debatten um ‚Aufmerksamkeitstechniken‘ ist v. a. durch die Frage motiviert, welchen Einfluss digitale Medien auf das Denken und auf Vergemeinschaftungsprozesse haben. Geert Lovink hat für eine verteilte Ästhetik und eine Kunst der Verteilung plädiert, die neue Nutzungsformen von Netzwerken aufspüren und vernetzte Prozesse initiieren kann. Ziel dieser mikropolitischen Überlegungen ist es, soziale Gefüge und kulturelle Praktiken zu verändern und anders zu gestalten.53 Zerstreuen

49 Vgl. Derrida: L’écriture et la différence; ders.: De la grammatologie. 50 Vgl. Deleuze: Logique du sens. 51 Vgl. in Deleuze/Guattari: Capitalisme et schizophrénie 2: Mille Plateaux. 52 Stiegler: Von der Biomacht zur Psychomacht, S. 28. 53 Vgl. Lovink: Zero Comments.

wird in dieser Forschungsperspektive nicht mehr als individuelle psychische Disposition oder gemeinschaftliche Unterhaltung verstanden, sondern als technisch-soziale Operation des Vernetzens. LITERATUREMPFEHLUNGEN Crary, Jonathan: Suspensions of Perception.

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ZITIEREN REMIGIUS BUNIA

ANEKDOTE   In den 1980er Jahren beobachtete eine Doktorandin, eine spä-

tere Germanistin, Niklas Luhmann beim ‚Durchsehen‘ mehrerer Bücher in der Bielefelder Universitätsbibliothek. Nach einer Stunde hatte Luhmann mehrere dicke Bücher komplett für seinen Zettelkasten verschlagwortet. In Bielefeld konnte man die Bücher nach Gebrauch schlicht auf dem Tisch liegen lassen: Luhmann ging, die Doktorandin kam. Sie nahm die Bücher, las sie über zwei Wochen gründlich und exzerpierte ausführlich, um zu prüfen, ob Luhmann in seinen späteren Publikationen die richtigen Stellen zitieren werde. Das Langzeitexperiment endete mit einem guten Ergebnis für Luhmann: Er hatte im Durchsehen die Kernargumente der Bücher entdeckt und diejenigen Stellen zitiert, die für seine Anliegen zentral waren.

15. Jhs. gebraucht, um die Ladung einer Person vor Gericht zu bezeichnen. Es ist dem Lat. entlehnt und geht auf ‚citare‘ zurück, das ‚herbeirufen‘, aber auch ‚erwähnen‘ meint.1 Diese ursprüngliche Bedeutung lebt bis heute in der Wendung ‚jemanden zu sich zitieren‘ fort. Als Wort, das die Praxis eines Verweisens auf Texte bezeichnet, entsteht es erst im 18. Jh.; dabei ist zunächst einmal das Substantiv ‚Zitat‘ gängig, das auf das lat. ‚citatum‘ zurückgeht (‚das Erwähnte‘).2 Ähnliches gilt für das eng. ‚to cite‘, das seit dem 16. Jh. für die Anführung oder Ladung einer Autorität verwendet wurde („to adduce as an authority“3). Hier wird die enge Verbindung zwischen Autoritätszuschreibung und Zitat deutlich, denn zunächst überwiegt die Bedeutung der Autoritätszuschreibung. Das andere engl. Wort, nämliche ‚to quote‘ bzw. ‚quotation‘, zielt hingegen auf den Akt der Bezugnahme auf einen Text und ist besonders faszinierend, weil es den Mediengebrauch aufruft. Das Wort geht auf das lat. 1 Vgl. (Art.) zitieren. In: Kluge online. Unter: http://www.degruyter.com/view/Kluge/kluge.

12764 [aufgerufen am 24.04.2014].

2 Vgl. (Art.) zitieren. In: Duden. Das Herkunftswörterbuch, S. 832f. 3 (Art.) cite. In: Onions: The Oxford Dictionary of English Etymology, S. 178.

zitieren  Anekdote

ETYMOLOGIE   Das Wort zitieren wird zunächst in der Rechtssprache des

Z 703

‚quot‘ und dann ‚quota‘ zurück, das eine Quantifizierung bezeichnet. Gemeint ist die Nummerierung von Textstellen: „[M]ark with numbers or (marginal) references“4. Diese Verwendung ist schon seit dem 13. Jh. belegt.5 Das passt zu dem Befund, dass sich im 12. und 13. Jh. Verfahren der Nummerierung von Texten durchsetzen und entfalten (also Paginierung, Register, Inhaltsverzeichnisse etc.).6 Demnach verweist das Wort ‚to quote‘ auf die Möglichkeit, Textstellen durch Verweis auf eine zahlförmige Textstellenmarkierung anzuführen. KONTEXTE Als Zitieren bezeichnet man Verfahren, die dazu dienen, beim

zitieren  Kontexte

Verfassen eines eigenen Textes Äußerungen anderer wiederzugeben und als so gesagt zu markieren, die Herkunft des behandelten Gegenstandes oder des untersuchten Materials zu benennen, Vorarbeiten oder Inspirationen zu nennen, die man benutzt und vielleicht weiterentwickelt, und Positionen anzuführen, gegen die man sich abgrenzt.7 Das Zitieren ist eine Praxis, die v. a. im Journalismus, in der Wissenschaft, in der Kunst und im Recht relevant ist. In all diesen Bereichen der Gesellschaft unterliegt sie je eigenen Regeln; einen einheitlichen Gebrauch des Zitierens in allen kommunikativen Kontexten gibt es nicht. Bisweilen entstehen Missverständnisse und enttäuschte Erwartungen, wenn es zu Berührungen zwischen den Bereichen kommt (z. B. zwischen Journalismus und Wissenschaft). Man unterscheidet zwischen verweisenden und wiederholenden Zitaten.8 Verweisende Zitate nennen nur die Quelle; wiederholende hingegen reproduzieren einen Ausschnitt des zitierten Materials. Jedes Zitieren hat dabei Anteil an Wiederholung und an Verweis. Eine Wiederholung, die die Quelle nicht sichtbar werden lässt, also eine Wiederholung ohne Verweis gilt als anrüchig und wird als Plagiat geächtet. Die Grenzen zwischen subtiler Anspielung und Plagiat sind indessen fließend.

704

4 5 6 7 8

(Art.) quote. In: Ebd., S. 734. Vgl. ebd. Vgl. Chartier: Culture écrite et société; Illich: Im Weinberg des Textes. Vgl. Garfield: Citation Indexing, S. 1. Für diese Terminologie vgl. Bunia: Zitieren. In: Frietsch/Rogge (Hrsg.): Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Die Unterscheidung selbst ist allerdings verbreitet, selbst wenn ausgerechnet die Bibliometrie der Differenz wenig Aufmerksamkeit schenkt. Dass der Begriff der Wiederholung zentral ist, zeigt Compagnon: La seconde main, S. 49–92.

9 Vgl. Menninghaus: Zum Problem des Zitats bei Celan und in der Celan-Philologie. In: Ha-

macher/ders. (Hrsg.): Paul Celan.

10 Vgl. Aczel: Intertextualität und Intertextualitätstheorien. In: Nünning (Hrsg.): Metzler Le-

xikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 330f.; Kristeva: Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman. In: Critique. 11 Vgl. Schmalzriedt: Peri Physeos, S. 106. 12 Vgl. Dembeck/Bunia: Mich zitieren. In: Jacob/Mayer (Hrsg.): Im Namen des anderen, S. 57; vgl. zum Selbstzitat bei Derrida: Krapp: Wer zitiert sich selbst? In: Pantenburg/Plath (Hrsg.): Anführen – Vorführen – Aufführen.

zitieren  Kontexte

Das Zitieren setzt in den meisten Bereichen Textmedien voraus. Speziell die Wissenschaft und das Recht priorisieren die schriftliche Publikation als Quelle: Sei es die wissenschaftliche Publikation, sei es das Gesetz, das Urteil oder der geschriebene Vertrag. In der Wissenschaft wiegt die bloße Äußerung auf Konferenzen oder im privaten Kreis weniger, selbst wenn sich diese Gewichtung in der vergangenen Dekade vorsichtig ändert. Ganz anders ist es im Journalismus: Zwar zitiert er auch aus schriftlichen Quellen, doch im Mittelpunkt steht für ihn die Übertragung des Mündlichen ins Schriftliche. Beim wiederholenden Zitat ist im Journalismus Wörtlichkeit nicht obligatorisch; Glättung und Abwandlung sind erlaubt. In der Kunst und in einschlägigen Kunstwissenschaften existiert eine unüberschaubare Vielfalt der Medien: Beispielsweise werden Gemälde oder Ausschnitte aus ihnen zitiert; musikalische Motive werden zitiert; es wird sogar diskutiert, ob es das Zitat metrischer Muster geben könnte.9 Die Grenze zwischen Zitat und Anspielung verwischt in der Kunst; außerdem sind seit der Antike spielerische Formen der Aneignung bekannt, die das Zitierte verzerren (Parodie, Pastiche, Karikatur etc.). In der Literaturtheorie werden diese unterschiedlichen Phänomene unter dem Begriff der Intertextualität diskutiert.10 Die frühsten Verweise mithilfe von Titeln unternimmt Aristoteles – und zwar auf sein eigenes Werk.11 Zugleich versteht sich ein solches Selbstzitat als Verweis bloß innerhalb des Œuvres und ist damit einem Verweis auf ein Kapitel im selben Buch strukturell ähnlich.12 Durch das Zitieren wertet man jedoch das zitierte Werk in der Antike und stärker noch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zu einer Autorität auf. Deswegen gilt das Selbstzitat zugleich als problematisch. In der Tat ist das Selbstzitat in den Geisteswissenschaften

Z 705

zitieren  Konjunkturen

deutlich seltener als in den Naturwissenschaften, für die vermutet wird, dass sie stärker ‚inkrementell‘ Wissen schaffen.13 Antoine Compagnon behauptet zugespitzt, in der Antike habe es noch kein Zitat gegeben: „L’antiquité: il n’y a pas la citation.“14 Auf den ersten Blick erscheint die Behauptung eigenartig, kennt doch die Antike bereits eine Markierung des Zitats (wie die heutigen Anführungszeichen), nämlich das Symbol .15 Compagnon meint indessen, dass die Wörtlichkeit kein Ideal gebildet habe. Die Wörtlichkeit existiert gleichwohl; Quintilian zum Beispiel markiert wörtliche Zitate durch die Wendung „suis verbis“16. Im Mittelalter wird Wörtlichkeit zu einem Ideal.17 Doch in der Frühen Neuzeit wieder geht es plötzlich darum, wer zuerst neue Ideen artikuliert. Besonders bezeichnend wird der Streit zwischen Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz darum, wer von ihnen die Infinitesimalrechnung erfunden habe.18

706

KONJUNKTUREN  Das Zitieren ist im World Wide Web seit Mitte der 2000er Jahre eine neue zentrale Texttechnik geworden. Einerseits kopieren und kommentieren freie Autoren die Texterzeugnisse anderer; beispielsweise erlaubt der Kurznachrichtendienst Twitter die Wiederholung samt Verweis der Kurznachrichten (‚Tweets‘) anderer (‚Retweet‘, ‚RT‘); als erfolgreich gelten besonders oft wiederholte Nachrichten. Andererseits werden Textstücke automatisiert von Suchmaschinen kopiert. Das Zitieren erscheint somit im World Wide Web als zentrale Medienpraxis. Die enge Verbindung von Zitat und Autorität ist für Kunst und Wissenschaft charakteristisch.19 Was man zitiert, macht man erst zum Werk. So zeigt sich in Europa der Anspruch eines Kunstwerkes auf eigenen Rang darin, dass es andere Kunstwerke von Rang zitiert.20 In der Wissenschaft ist die Lage

13 Vgl. Snyder/Bonzi: Patterns of self-citations across disciplines (1980–1989). In: Journal of

Information Science, S. 433.

14 Compagnon: La seconde main, S. 157. 15 Vgl. Turner: Greek Manuscripts of the Ancient World, S. 15. 16 Quintilian: Inst. orat. V, 11, 13. 17 Vgl. Compagnon: La seconde main, S. 157. 18 Vgl. Hall: Philosophers at War. 19 Vgl. Compagnon: La seconde main, S. 99. 20 Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 469–499.

komplizierter, da die Kritik an Autoritäten im 17. Jh. (durch Francis Bacon und René Descartes) dazu führte, dass sich Wissenschaft nicht über Autorität, sondern über Reputation organisierte.21 Die immense Textproduktion seit Mitte des 20. Jhs. führte in vielen wissenschaftlichen Disziplinen zu einer quantitativen Ermittlung von Reputation über Zitationsindizes. Systematisch errechnet wird dieser ‚Impact‘ in der v. a. von Eugene Garfield begründeten Bibliometrie seit den 1950er Jahren.22 Diese Messverfahren sind das Ergebnis einer überbordenden wissenschaftlichen Publikationsproduktion, die nicht mehr überschaubar ist. Die Bedeutung von Zitaten bzw. Zitationen, oft insbesondere dem ‚Impact‘, für die Messung wissenschaftlicher Leistung nimmt gegenwärtig international weiter zu – auch für die Bewertung jeweils kurzfristig zurückliegender wissenschaftlicher Leistungen.23 In den Geisteswissenschaften wird gegenwärtig indessen mehrheitlich abgelehnt, die vorliegenden Reputationsentscheidungen durch Zitationen transparent werden zu lassen.24 Das ist seltsam, hat doch gerade die Philosophie das wissenschaftliche Zitat samt Autoritätszuschreibung förmlich erfunden. Geisteswissenschaftliche Disziplinen mit stabilem Selbstverständnis – z. B. die Geschichtswissenschaft – zitieren in ungebrochen großem Umfang. Fächer mit geringer Identität – z. B. die Literaturwissenschaften25 – zitieren einen immer kleineren Anteil der Fachpublikationen; die meisten Fachpub­ likationen werden niemals zitiert.26 Einer der Gründe für den Rückgang an Zitaten könnte sein, dass die Fachpublikationen von den Beteiligten als

lichen Zitierens. In: Rommel (Hrsg.): Plagiate – Gefahr für die Wissenschaft?

22 Vgl. Garfield: Citation Indexing. 23 Zu einer Analyse und Kritik vgl. Bornmann: The problem of citation impact assessments for

recent publication years in institutional evaluations. In: Journal of Informetrics.

24 Vgl. die Stellungnahme der European Science Foundation, die meint, gegen die unsinnigen

statistischen Erhebungen ein qualitatives System der Bewertung von Zeitschriften entworfen zu haben, vgl. ESF. Unter http://www.esf.org [aufgerufen am 07.05.2014]. 25 Gemeint ist, dass man sich nicht über aktuelle zentrale Publikationen der Gesamtdisziplin einig ist und überhaupt die Bewertung von Leistungen stark zwischen Gutachtern differiert; vgl. hierzu ausführlich Lamont: How Professors Think, S. 53–106; vgl. auch Wiemer: Ideen messen, Lektüren verwalten? In: Journal of Literary Theory. 26 Vgl. Bunia: Quotation Statistics and Culture in Literature and in other Humanist Disciplines.

zitieren  Konjunkturen

21 Vgl. ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 247; Bunia: Die Ökonomien wissenschaft-

Z 707

langweilig empfunden werden.27 Damit wäre eventuell das Ende der Konjunktur geisteswissenschaftlicher Forschung angezeigt. Denkbar ist auch, dass die Geisteswissenschaften ihr Selbstverständnis gar nicht aus Produktion und Rezeption wissenschaftlicher Texte beziehen; dann aber stellt sich die Frage, weshalb politisch so viel Druck besteht, so viel wie möglich zu publizieren. Die Literaturwissenschaften zitieren, wie die Bibliometrie zeigt, mit Vorliebe ‚Primärquellen‘;28 ihr Selbstverständnis könnte also darin liegen, besonders wichtige kulturelle Produkte zu wiederholen und ungewöhnliche zeitgenössische Erscheinungen aufzuzeichnen.29 In Recht und Journalismus hat das Zitieren eine gleichbleibende Aktualität und Bedeutung. GEGENBEGRIFFE  Eine wiederholende Wiedergabe gelesener Texte, die

zitieren  Gegenbegriffe

einen Verweis unterlässt, obwohl die Quelle nicht offenkundig ist, gilt als unstatthaftes Zitat und wird als Plagiat geächtet. So wird das Plagiat zum Gegenbegriff des Zitats schlechthin. Die Formen des Plagiats sind dabei keineswegs klar umrissen. 30 Bisweilen wird sogar die mehrfache Verwendung eigener Formulierungen als illegitimes Selbstplagiat angeprangert.31 Plagiate gibt es v. a. in Wissenschaft und Kunst; für das Recht und den Journalismus sind sie weniger bedeutsam, da dort das mehr oder minder wörtliche Zitieren auch ohne Quellenangabe seit jeher üblich ist. Nur besondere journalistische Leistungen oder Äußerungen besonderer Personen müssen im Journalismus zitiert werden.32

708

27 Für eine ausführliche Diskussion anderer Erklärungen; vgl. ebd. Hier sind allerdings nur

Spekulationen möglich. Sieht man von den geringen Zitationszahlen ab, ist die Tatsache, dass die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in Deutschland keine literaturwissenschaftlichen Titel mehr ans Fachpublikum verkaufen kann, ein kleines Indiz. Ansonsten fehlt soziologische und ethnologische Forschung zum Lektüreverhalten in der Literaturwissenschaft. 28 Vgl. Hammarfelt: Following the Footnotes, S. 31. 29 Zur nunmehr klassischen (allerdings fragwürdigen) These, die Geisteswissenschaften seien an Wissen gar nicht interessiert; vgl. MacDonnald: Professional Academic Writing in the Humanities and Social Sciences. 30 Vgl. Rieble: Das Wissenschaftsplagiat, S. 9–17. 31 Vgl. ebd., S. 32f. 32 Leider existiert zum Zitat im Journalismus keine mir bekannte Forschung.

33 Vgl. Theisohn: Verteidigung der Paraphrase In: Nach Feierabend. 34 Vgl. Derrida: Signature événement context. In: Ders.: Limited Inc., S. 15–51. 35 Vgl. Martyn: „“. In: Fohrmann (Hrsg.): Rhetorik, S. 412–419.

zitieren  Gegenbegriffe

Ein anderer Gegenbegriff zum Zitat steht indessen weniger im Scheinwerferlicht: die Paraphrase. Sie besteht in der eigenständigen Komprimierung und Reformulierung fremder Ideen oder in der Zusammenfassung anderer Texte. Die Paraphrase ist eine Arbeitstechnik in Wissenschaft, Recht und Journalismus, doch nirgendwo genießt sie einen guten Ruf, weil sie als nichtoriginäre Leistung gilt.33 Die Paraphrase steht nicht konträr zum Zitat, insofern sie auf dem Verweis beruht – eine Paraphrase mit vertuschter Quellenangabe ist eindeutig ein Plagiat. Sondern sie stellt sich gegen das Zitat, weil sie das Irreduzible und das Originäre der Quelle in Frage stellt, indem sie auf neuartige Weise die Quelle komprimiert. Die medialen Techniken, Paraphrasen auszuweisen, sind kaum ausgebildet und führen dazu, dass bisweilen legitime Paraphrasen illegitimen Plagiaten zum Verwechseln ähnlich sehen: In der Regel verweist man nur an einer Stelle auf die Paraphrasierung, etwa am Ende oder am Anfang, aber der genaue Umfang der Paraphrase wird nicht angezeigt. Während sich der Umfang im Falle komplett fremder Gedankengänge (etwa bei der Paraphrase einer Romanhandlung) meist klar anzeigt, ist der Umfang der Paraphrase von Forschungsliteratur nicht immer zu erkennen. Schließlich lässt sich Iteration im Sinne von Jacques Derrida als Gegenbegriff fassen.34 Derrida bemerkt, dass fast jede Sprachverwendung insofern Zitat ist, als man Ausdrücke wiederholt, die andere zuvor benutzt haben. Die eigene Sprache konstituiert sich als ‚nicht ausgewiesenes Zitat‘ fremder, unbekannter Rede.35 Ein Gegenbegriff ist die Iteration, weil auch sie eine Grenze zum ausgewiesenen und erkennbaren Verweis zieht: Der Verweis ist grundsätzlich nicht rekonstruierbar, obwohl die Wiederholung auf der Hand liegt (jedes Wort dieses Lemmas ist die Wiederholung von Wörtern, die andere schon benutzt haben). Zugleich ist die Wiederholung keine bloße Kopie der bisherigen Verwendung, sondern prägt sich den Wörtern als neue Verwendung ein. Das genau hat sie jedoch wiederum mit dem Zitat gemeinsam, weswegen Derrida die analytische Unterscheidung zwischen use und mention für

Z 709

irreführend hält.36 Freilich ist die Schlüssigkeit dieser Unterscheidung schon innerhalb der Analytischen Philosophie bezweifelt worden.37

zitieren  Perspektiven

PERSPEKTIVEN  Das Wiederholen von Textstücken mit Verweis auf Quellen findet gegenwärtig im World Wide Web, namentlich durch Suchmaschinen, statt (‚Snippets‘). Diese Praxis, die als Zitieren bezeichnet werden könnte, hat noch keine eigene Bezeichnung gefunden, obwohl sie Gegenstand juristischer und wirtschaftlicher Auseinandersetzungen ist, soweit Redaktionen der Massenmedien betroffen sind. Denn die Massenmedien sehen, dass diese Zitate sowohl Werbung für sie sind (dank des Verweises) als auch eine – bislang meist unbezahlte – Nutzung des journalistischen Produkts (dank der Wiederholung). In der Bundesrepublik Deutschland hat dies 2013 zu einer Änderung des Urheberrechts geführt (Leistungsschutzrechte der Presseverleger).38 Durch die Automatisierung des Wiederholens ist jedoch eine kulturelle Praxis aufgekommen, die die hergebrachte Idee des Zitierens herausfordert. Zitate sind in verschiedenen Medien auch insofern interessant, als sich verschiedene Formen der Rahmung etabliert haben. Die Wiederholung wird durch Markierungen angezeigt: Besonders charakteristisch sind die Anführungszeichen im Druck und in der Handschrift.39 Im World Wide Web kommen Markierungen wie das ‚Blockquote‘ hinzu, die v. a. in den Geisteswissenschaften als ‚eingerückte Zitate‘ bereits eine gewisse typografische Popularität erlangt haben.40 Auch Verweise bringen unterschiedliche Formen hervor: Fuß- und Endnoten werden bisweilen sogar metonymisch für Zitate benutzt;

710

36 Vgl. Derrida: Limited Inc abc. In: Ders.: Limited Inc., S. 61–197. Die analytische Position

wird von John Searle vertreten. Für einen Überblick über die Diskussion vgl. Werle: Die Kontroverse zwischen John Searle und Jacques Derrida über eine adäquate Theorie der Sprache. In: Klausnitzer/Spoerhase (Hrsg.): Kontroversen in der Literaturtheorie. 37 Vgl. Davidson: Quotation, S. 31. 38 Vgl. den Gesetzentwurf, Drucksache des Bundestages 17/11470 vom 14.11.2012. 39 Vgl. Sohoudé: Anführungszeichen. In: Frietsch/Rogge (Hrsg.): Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens, S. 30–34; Mitchell: Quotation Marks. In: The Library; Wirth: Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung. In: Fohrmann (Hrsg.): Rhetorik, S. 621. 40 In der typografischen Fachliteratur nennen sie sich „Texteinschübe“: Forssman/de Jong: Detailtypografie, S. 164f.

Literaturverzeichnisse gewinnen eine so eigene Form, dass ein poetischer Text, nämliche Akute Literatur41, sogar nur aus Literatureinträgen besteht; für die Verweise auf Texte sind teils in der Antike, v. a. aber im 12. Jh. umfangreiche Nummerierungstechniken (v. a. die Paginierung) samt Sonderzeichen – insbesondere das Paragrafen-Symbol – entwickelt worden.42 Im World Wide Web ergänzt der Hyperlink dieses Portfolio.43 Die wissenschaftlichen Plagiatsskandale in der Bundesrepublik Deutschland haben eine kurze Diskussion über das Selbstverständnis der Wissenschaft angestoßen. Dass das korrekte Ausweisen von Quellen und Anregungen eine wissenschaftliche Pflicht ist, dürfte dem breiten Publikum erstmals bewusst geworden sein. Zugleich zeigt sich, dass das Zitieren eher eine alltägliche Praxis ist, nicht jedoch methodisch reflektiert wird. Denn in den politischen Stellungnahmen seitens der Wissenschaftler ist nicht deutlich geworden, weshalb das korrekte Zitieren eine Kernpflicht in der Wissenschaft darstellt; vielfach erscheint falsches Zitieren bloß als Täuschungsversuch bei Prüfungsleistungen (‚Mogeln‘). An der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Zitieren kann sich erweisen, ob die Wissenschaft in der Lage ist, einem breiten Publikum ihre Arbeitsweise zu vermitteln.44

auf Textmedien. Eine Ausweitung wäre dringlich nötig. Insbesondere im Bereich der visuellen Darstellungsmedien sind Verfahren des Zitats zu wenig aus technischer und formaler Perspektive beschrieben worden. Es zeigt sich auch gerade in film- und fernsehwissenschaftlichen Publikationen, dass die Wissenschaft selbst noch nicht die Technik so sehr kennt, dass sie gut erkennbare und hochwertige Formen des Zitats entwickelt hat. Die Philosophie und die Literaturwissenschaft haben zwar Ansätze zu einer Zitattheorie entwickelt, 41 Vgl. Rademacher: Akute Literatur. 42 Vgl. Chartier: Culture écrite et société; Illich: Im Weinberg des Textes. 43 Zu einem Forschungsüberblick zum Vergleich zwischen Fußnote und Hypertext vgl. Klap-

pert: Hypertext und Fußnote. In: Metz/Zubarik (Hrsg.): Am Rande bemerkt, S. 209f.

44 Weitere Problemfelder bilden Zitate, die sich bei genauerem Hinsehen gar nicht auf den

zitierten Text beziehen (Abbott: Varianten der Unwissenheit. In: Nach Feierabend.), und Zitatnetzwerke unter Freunden (vgl. Bunia/Dembeck: Freunde zitieren. In: Stanitzek/Binczek (Hrsg.): Strong ties/Weak ties).

zitieren  Forschung

FORSCHUNG  Die Zitatforschung konzentriert sich nach wie vor sehr stark

Z 711

zitieren  Forschung

aber sie ist nur zaghaft geblieben. Frühe theoretische Beschreibungen des wiederholenden Zitats gehen davon aus, dass es sich um eine genaue Reproduktion handle.45 Erst in jüngerer Vergangenheit wird deutlich, dass auch wiederholende Zitate sich immer nur auf bestimmte Aspekte des Quellentextes beziehen. So werden v. a. typografische Eigenarten übergangen, teilweise sogar andere Zeichen benutzt als im Quellentext. Eine medienwissenschaftliche Analyse des Zitats steht noch weitgehend aus. Die bibliometrische Forschung sollte geisteswissenschaftlich begleitet und erweitert, nicht jedoch rundheraus abgelehnt werden. Die Auseinandersetzung verläuft im Moment nach Mustern eines Kulturkampfes; dabei verspricht die Konfrontation der geisteswissenschaftlichen Texttraditionen mit den Analysen der Bibliometrie wertvolle Erkenntnisse. Insbesondere zu untersuchen ist, ob tatsächlich geisteswissenschaftliche Fachpublikationen nicht zitiert werden, weil sie als langweilig gelten oder weil das Zitat nicht als obligatorisch gilt. Zu suchen sind ferner Verfahren, die die Manipulation von Impact-Werten vermeiden. Es ist ein Hauptproblem der quantitativen Bewertung von Publikationserfolgen, dass sie sich durch ‚qualitative‘ Interventionen relativ leicht beeinflussen lässt. 46 Das liegt daran, dass die Zahlen nur qualitative Urteile abbilden, nicht aber korrigieren oder kontrollieren können. Speziell für die Literaturwissenschaft ist das Verhältnis von Philologie, Lektüre und Zitat wenig beschrieben. Es ist dabei klar, dass die genaue und geschichtsbewusste Lektüre ein Charakteristikum philologischen Denkens ist und dass die Philologie eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Geist und Buchstaben einfordert.47 Insofern wundert es nicht, dass in der Philologie das Zitat eines der wichtigsten Werkzeuge bildet. Doch zeigt das Dilemma der Bibliometrie an, dass Zitieren und philologisches Lesen auseinanderfallen können. So kann die (unphilologische) Lektüre zu einer Auseinandersetzung mit den Textstellen gerinnen, die man immer und immer wieder aufs Neue

45 Vgl. Quine: Mathematical Logic, S. 26. 46 Vgl. bspw. die Kritik von Drummond: Fourth International Congress on Peer Review in

Biomedical Publication. In: The Journal of the American Medical Association.

47 Vgl. Wegmann: Was heißt einen „klassischen Text“ lesen? In: Fohrmann (Hrsg.): Rhetorik,

S. 371–398, 439–441.

712

zitiert und die die Tradition immer schon zitiert hat.48 Damit kann das Zitat die Abwesenheit von Lektüre markieren, indem es cachiert, was man nicht ‚gesichtet‘ hat. Dagegen lehrt Derrida die Achtung vor dem Buchstaben, indem er umfassend zitiert und wenig vertraute Textstellen in den Mittelpunkt rückt; damit hat er die jüngere Philologie nachhaltig geprägt. Zugleich warnt er, dass das Zitat selbst nicht Ausweis des Gelingens einer Lektüre sein kann: „Car, bien entendu, il ne suffit pas de citer pour prouver qu’on a compris ou même pour prouver quoi que ce soit en général.“49 Das Zitieren im Journalismus ist noch nicht hinreichend untersucht. Nur im Journalismus ist es üblich, die Rede einer Person spürbar abzuändern und dennoch zwischen Anführungszeichen zu setzen. Die zugehörigen Kulturund Arbeitspolitiken sind kaum beschrieben. Ganz breit zu untersuchen ist das Verhältnis zwischen wörtlicher Rede und Zitat – auch jenseits des Journalismus. Zitate werden nur in wissenschaft­lichen mündlichen Reden durch mündliche Markierungen ausgewiesen (‚quote‘/ ‚unquote‘ im Engl.). Grammatische Markierungen wie der Konjunktiv I im Deutschen erfüllen weitere Funktionen und verstehen sich nicht als Zitatmarkierungen. Überhaupt ist unklar, wo die Grenze zwischen Zitat und einfacher Redewiedergabe verläuft. Wenn jemand im Ladengeschäft sagt: „Meine Tante hat doch gesagt: bringen Sie zehn Rosen!“, so spräche man nicht davon, dass hier die Tante ‚zitiert‘ würde. Wieso eine alltägliche Redewiedergabe nicht als Zitat gilt, ist nicht erforscht. LITERATUREMPFEHLUNGEN Eine Untersuchung zur Funktionsweise über-

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VERWEISE  archivieren |55|, lesen |393|, schreiben |482|, wiederholen |621|

48 Vgl. Geulen: Stellen-Lese. In: MLN, S. 477. 49 Derrida: Mémoires, S. 226.

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PERSONENREGISTER A Acker, Kathy  352

Baumgarten, Alexander Gottlieb  307 Bausinger, Hermann  23

Adorno, Theodor W.  76, 216, 241, 294 , 597, 599,

Bayard, Pierre  146

Agamben, Giorgio  642

Bell, Alexander Graham  74 , 75 , 573 , 575 , 576

606, 607

Aischylos 300

Alberti, Leon Battista  674

Albion, Robert G.  11, 12

Alexandrowitsch Bontsch-Brujewitsch, Michail 27

Alföldi, Andreas  301 Althusser, Louis  48

Anders, Günther  202, 241, 244 , 249, 251

Beauvais, Vincent von  359

Beneken, Friedrich Burchard  38, 41

Benjamin, Walter  294 , 312 , 387, 600, 622 , 626, 627, 629, 631, 635– 637, 695 , 696, 698

Bergk, Johann Adam  145 , 402

Bergson, Henri  315

Berliner, Emil  74– 76

Beyer, Rudolph Gottlieb  145 Bilz, Rudolf  310, 311

Anderson, Benedict  13

Bismarck, Otto von  61

Anschütz, Ottomar  503

Boccaccio, Giovanni  502

Anderson, Sam  697, 698

Appia, Adolpho  303

Bloom, Harold  377

Bolter, Jay David  169, 636

Arco, Georg Graf von  78

Bolz, Norbert  169, 631

Aristoteles 118, 141, 401, 448, 705

Borde, Raymond  60, 61

Artaud, Antonin  69, 316

Boulez, Pierre  506

Arendt, Hannah  22

Arnim, Bettina von  494

Assmann, Aleida  57, 64 , 549

Assmann, Jan  547 Augustinus 402

Augustus 466

Auster, Paul  603 , 605 , 606

Bonaventura 355 , 363

Bosworth, Andrew  417

Brandstetter, Gabriele  303

Brecht, Bertolt  302 , 312– 314 , 316, 324

Bredow, Hans  26, 78, 282 Breton, André  526

Brinkmann, Rolf Dieter  352

Broneer, Oscar  301 Brunner, Otto  15

B Babbage, Charles  537

Bruno, Giordano  542

Bahr, Hans-Dieter  579, 581

Burckhardt, Jacob  259

Baker, Nicholson  579

Bury, Richard de  375

Balázs, Béla  249

Bush, Vannevar  333

Bacon, Francis  214 , 388, 707 Bähr, Hugo  303

Báky, Josef von  81

Bultmann, Rudolf  308 Burroughs, William S.  85 , 87 Busch, Wilhelm  680, 682 , 684

Balogh, Josef  402

Byzanz, Aristophanes von  183

Barthes, Roland  171, 209, 210, 212, 214 , 215 ,

C

Bataille, George  293 , 294

Cagliostro, Alessandro Graf von  220

Balzac, Honoré de  386

217 – 222 , 249, 316, 317, 388, 678

Baudrillard, Jean  388 Bauer, Rudolf  387

Cage, John  69, 81

Caillois, Roger  290

Campbell, Charles  165

717

Campe, Joachim Heinrich  35– 38

Engelsing, Rolf  403

Carruther, Mary  540

Eschenburg, Joachim  179

Casanova, Giacomo  136

Euripides 400, 402

Carr, Nicholas  570 Caruso, Enrico  78

Cäsar, Julius  432 , 466 Cassirer, Ernst  189

Cato d. Ä.  468, 479

Certeau, Michel de  19, 20, 22 , 25

Cézanne, Paul  507

Chladni, Ernst Florens Friedrich  72 , 82 Cicero 467, 468, 538, 539, 624

Clairvaux, Bernhard von  385 Compagnon, Antoine  706

Condorcet, Antoine Nicolas de  525 , 526

Conze, Werner  15 , 27

Enzensberger, Hans Magnus  643

Escosura, Capitain Ramon Diaz de la  369

F Fabricius, Johann Andreas  358 Farocki, Harun  636 Faure, Félix  61

Ficino, Marsilio  211 Fincher, David  250 Flasch, Kurt  14

Fleck, Ludwik  530, 531 Fludd, Robert  542

Flusser, Vilém  167, 168, 339, 388, 578, 579, 606, 631, 647, 649, 670, 671, 678

D Dädalus 529

Dahrendorf, Ralf  311 Dareios 316

Fontane, Theodor  362 , 417

Foucault, Michel  65 , 144 , 471, 646

Franklin, Benjamin  275 , 277

Franz Joseph I.  101, 602

Daumier, Honoré  684

Freud, Sigmund  215 , 216, 309, 316, 437, 439, 694

Debord, Guy  387

Friedberg, Anne  631

Derrida, Jacques  388, 407, 579, 581, 676, 700,

Fuchs, Peter  50

Day, Doris  578

Deleuze, Gilles  16, 388, 700 709, 713

Descartes, René  707 Dessoir, Max  491

Dickens, Charles  248, 307, 504 Diederichsen, Diedrich  628 Dilthey, Wilhelm  186, 405

Dirks, Rudolph  504 Disney, Walt  81

Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch  289

Dürer, Albrecht  684

E

Freyer, Hans  8, 27, 311

Friedrich II.  471

G Gable, Clark  457

Gadamer, Hans-Georg  405 , 406

Gall, Joseph  385

Garbo, Greta  249, 250

Gaßner, Johann Joseph  220

Gates, Bill  585

Geiger, Theodor  21, 23 , 25 Gessner, Konrad  543

Gibbon, Edward  430, 431 Gibson, William  567, 568

Eckert, Gerhard  195– 197, 201

Gilbreth, Lilian  503

Edison, Thomas Alva  60, 74– 76, 127

Ginzburg, Carlo  388

Eco, Umberto  482

Eisenberg, Leon  688

Eisenstein, Sergei  218 Eluard, Paul  526

718

Engelbart, Douglas C.  332– 334 , 338

Capella, Martianus  181

Gingrich, Newt  125 , 127 Girard, René  14

Glaser, Hermann  230

Goebbels, Joseph  62 , 229

Goethe, Johann Wolfgang von  37, 93 , 226, 274 , 295 , 361, 446 –448, 493 , 494 , 526, 681, 693 –

695

Goetz, Rainald  157

Hornbostel, Erich von  80

Hornschuch, Hieronymus  257

Hudson, Rock  578

Hufeland, Christoph Wilhelm  38

Goffman, Erving  311

Hugo, Victor  386

Gore, Al  293

Hüther, Gerald  40

Goldberg, Ivan  42, 44

Gould, Glenn  86

Grimm, Jacob und Wilhelm  184 Gryphius, Andreas  305

Guattari, Félix  699, 700

Gutenberg, Johannes  14 , 139, 370, 371 Gutzkow, Karl  190

H Halbwachs, Maurice  538 Handke, Peter  155

Harsdörffer, Georg Philipp  543 Hauff, Wilhelm  502

Hederich, Benjamin  185

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  430, 431, 526

Hegemann, Helene  149, 352– 354 , 357, 365 , 460

Heidegger, Martin  86, 597, 606 Heine, Heinrich  274 Hellwig, Albert  455

Helmholtz, Hermann von  73– 75

Herbst, Alban Nicolai  157

Herder, Johann Gottfried  189, 274 , 494

Herrndorf, Wolfgang  158 Hertz, Heinrich  277, 281

Herzog Ernst von Sachsen-Gotha  482 Hirsch, Eric  204

Hirzel, Hans Caspar  38

Hoff bauer, Johann Christoph  689

Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus  215

Hoffmann, Heinrich  687, 692

Hoffmann, Hilmar  230

Hoffmann, Walter G.  21 Hofmann, Werner  387 Hogarth, William  385

Hölderlin, Friedrich  187 Hollerith, Herman  545

Hölzel, Adolf  382 , 383 , 387 Homer 442 , 486 Horaz 402

Husserl, Edmund  250, 251

Huth, Johann Sigismund Gottfried  575

I Illich, Ivan  28, 402

Illyricus, Matthias Flacius  135 , 136 Innis, Harold A.  12 , 13 , 330 Irving, Washington  525

J Jagemann, Ludwig von  480 Jantke, Carl  21

Jean Paul  361, 373 , 374 , 403

Jefferson, Thomas  94– 97 Jelinek, Elfriede  157 Jenkins, Henry  170

Jessner, Leopold  302

Jobs, Steve  162, 173 , 332 , 641

Johnson, Steven  169, 263

Juarez, Benito  369

K Kafka, Franz  600

Kallimachos von Kyrene  183 Kandinsky, Wassily  387

Kant, Immanuel  145 , 214 , 219, 362 , 376, 385 , 425 , 677, 694 , 695

Karl der Große  488

Kaulbach, Wilhelm  386

Kayser, Wolfgang  292 Keaton, Buster  102

Keller, Gottfried  386

Kemp, Wolfgang  675

Kerner, Justinus  386 Kerouac, Jack  352

Keyserling, Eduard von  98, 103

Kierkegaard, Sören  16, 626 Kippenberger, Martin  346

Horkheimer, Max  216

719

Kittler, Friedrich  9, 50, 52 , 174 , 303 , 377, 442 , 495 , 598, 606, 607, 631, 645 , 648

Klee, Paul  71

Klein, Melanie  386

Kleist, Ewald Jürgen von  268, 269, 275 , 276

Köselitz, Heinrich  382

Koselleck, Reinhart  16, 21

M Malling-Hansen, Rasmus  602

Manovich, Lev  168, 631

Man, Paul de  407

Marey, Etienne Jules  503

Martinville, Édouard-Léon Scott de  74

Marx, Jenny  412–414 , 416

Kracauer, Siegfried  249, 696

Marx, Karl  189, 216, 412 , 414–416

Kraus, Karl  48

Maximilian von Österreich  369

Kraepelin, Emil  386

Matisse, Henri  676

May, Karl  362 , 369 – 371 McGann, Jerome J.  131

L Lacan, Jacques  217, 218, 221, 547

McLuhan, Marshall  13 , 262 , 339, 565 , 570, 579,

Lang, Fritz  55

Melanchthon, Philipp  541

Latour, Bruno  96, 97, 683 , 684

Merleau-Ponty, Maurice  388

Lavater, Johann Caspar  385

Michaux, Henri  387

Le Corbusier  81

Molière 305

Leibniz, Gottfried Wilhelm  521– 523 , 533 , 706

Mondrian, Piet  507

Lachmann, Karl  185

Lanzmann, Claude  14

Lausberg, Heinrich  624

Le Bon, Gustave  215

Legendre, Pierre  299

582 , 630

Méliès, Georges  60

Mesmer, Franz Anton  215

Mittermaier, Carl Joseph Anton  474 , 475 Mommsen, Theodor  430, 466

Lenin, Wladimir Iljitsch  27

Monet, Claude  507

Leroi-Gourhan, André  649

Monk, Egon  302

Lessing, Gotthold Ephraim  179, 180, 448, 692 ,

Morhof, Daniel Georg  360

Leonardo da Vinci  385

Le Roy Ladurie, Emmanuel  479 693

Levinas, Emmanuel  249

Monge, Gaspard  675 , 681

Montaigne, Michel de  691

Müller, Lothar  14

Münchmeyer, Heinrich Gotthold  370

Lévi-Strauss, Claude  389

Murner, Thomas  541

Lichtenberg, Georg Christoph  361, 393 , 394

Musschenbroek, Peter van  268, 269, 276

LeWitt, Sol  676

Liesegang, Raphael Edmund  226 Lobo, Sascha  153 , 155 , 158

Lohenstein, Caspar von  305

Musil, Robert  602

Muybridge, Eadweard  503

N

London, Jack  566

Nadar, Paul  209

Lovink, Geert  700

Negroponte, Nicholas  171, 172

Lorenzer, Alfred  309, 310

Ludwig XV.  276

Luhmann, Niklas  527, 528, 703 Lukian von Samosata  402 Lynch, David  508

Napoleon III.  369 Nelson, Ted  130

Nettesheim, Agrippa von  213 Neumann, Gerhard  316, 317

Neumann, John von  435 , 439 Neuss, Wolfgang  233 Newton, Isaac  706

720

Nicolais, Friedrich  179

R

Nietzsche, Friedrich  315 , 382 , 383 , 442 , 495 , 532 ,

Rabelais, François  441

Niggemeier, Stefan  153 , 445

Rauschenberg, Robert  671

548, 602 , 605

Nipkow, Paul  226

Nollet, Jean-Antoine  269, 276, 277 Novalis 386

Raffael 673 , 674 , 681

Ravizza, Giuseppe  601

Réaumur, René-Antoine Ferchault de  276 Regnard, Jean-François  692

Reich-Ranicki, Marcel  425 Renaudot, Théophraste  49

O Odysseus 442

Ritter, Joachim  16

Opitz, Martin  356

Rorschach, Hermann  386

Ostwald, Wilhelm  259

Roth, Dieter  676

Ovid 442

Rötzer, Florian  43

P

Rückert, Friedrich  278

Ortega y Gasset, José  20, 314– 316 Otto, Rudolf  216, 299

Papst Leo X.  673 Paracelsus 213

Pascal, Blaise  691

Passig, Kathrin  35 , 38, 158

Rosenstock-Huessy, Eugen  11, 12 , 15 , 25– 27

Rotterdam, Erasmus von  376, 397, 541

Rousseau, Jean-Jacques  136, 377 Ruttmann, Walter  77

S Saenger, Paul  402

Pausanias 529

Sales, Franz von  14

Pichler, Wolfram  676

Samothrake, Aristarch von  183

Pirmasens, Deef  149

Sattler, Dietrich E.  187

Perseus 214

Pinthus, Kurt  244 , 245 , 249

Platon 212 , 395 , 400, 435 , 436, 448, 452 , 525 , 539, 667, 676

Plinius d. Ä.  355 , 671

Salinger, Jerome David  352

Sarrazin, Otto  280, 281

Saussure, Ferdinand de  406 Saxton, Robert  424

Schiller, Friedrich  274 , 693

Plutarch 212, 401, 468

Schirrmacher, Frank  156

Poe, Edgar Allan  564 , 565 , 570

Schlegel, Johann Elias  692

Pocci, Franz von  386

Schlegel, Friedrich  179 – 181, 184

Popitz, Heinrich  21, 23

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  136, 141,

Porta, Giambattista della  213 Price, Vincent  241

Prinzhorn, Hans  386 Proust, Marcel  209

142 , 145 , 404 , 405 , 660

Schlingensief, Christoph  302

Schmitt, Carl  16

Schöffler, Herbert  305

Ptolemaios I.  182

Schönberg, Arnold  506

Q

Schröpfer, Johann Georg  220

Quintilian 401, 493 , 528, 529, 538, 539, 624 , 706

Schön, Erich  452

Scorsese, Martin  513

Seneca d. J.  271, 401, 403

Serres, Michel  388

Sevilla, Isidor von  355 Seymour, Robert  307

721

Shannon, Claude E.  324 Simonides von Keos  539 Slaby, Adolf  281

Snowden, Edward  173 Sokrates 400, 435

Speer, Albert  303

Spengler, Oswald  681, 682 Spiegelman, Art  505

Spielberg, Steven  621, 622 Spigel, Lynn  204 , 205

Spitzer, Manfred  35 , 38, 41, 644 Splett, Jochen  279, 282

Steinbeck, John  33

Sterne, Laurence  385

Stern, Lesley  248, 249

Stiegler, Bernhard  700

Stieler, Kaspar  48

V Varèse, Edgar  81

Vasari, Giorgio  385 , 673

Vidor, King  596

Vierkandt, Alfred  15

Vietor, Iohann Ludwig  258

Vismann, Cornelia  57 Vives, Juan Luis  441

Volta, Allessandro Graf von  277

W Wagner, Richard  81

Walser, Robert  598– 600, 603 , 605

Stockhausen, Karlheinz  506

Warhol, Andy  507

Stumpf, Carl  80

Weinrich, Harald  441, 442

Stokowski, Leopold  80, 81

St. Victor, Hugo von  402

Weber, Max  9, 21, 23

Weizsäcker, Viktor von  310, 316

Sue, Eugène  307, 308, 504

Welles, Orson  596

Swift, Jonathan  495

Wieland, Christoph Martin  294 , 402

Sulzer, Johann Georg  529

T Tarantino, Quentin  460 Tarde, Gabriel de  458 Taylor, Frederick  503

Tessenow, Heinrich  303

Tetzner, Karl  195– 197, 201 Teusen, Gertrud  570

Thackeray, William Makepeace  90

Thalhofer, Florian  261

Theophilos von Alexandria  432

Wertheimer, Max  80

Wilder, Billy  596, 605 , 606 Wilhelm II.  281

Williams, Raymond  661

Wilson, Adolfo Z.  55

Winckelmann, Johann Joachim  361

Winnicott, Donald W.  386

Wittgenstein, Hermine  666

Wittgenstein, Ludwig  666, 667, 680 – 683

Wols 387

X

Tieck, Ludwig  184 , 215 , 502

Xenakis, Iannis  81

Tissot, Samuel  692

Y

Toth, André de  241

Young, Kimberly  40

Tillmans, Wolfgang  346

Tönnies, Ferdinand  15 , 16 Toynbee, Arnold J.  430

Tucholsky, Kurt  604

Young, Edward  361, 373 , 377

Young, Thomas  73

Tufte, Edward R.  253

Z

Turkle, Sherry  172

Zenodot von Ephesos  182 , 183

Turing, Alan  435 , 436, 439

Twain, Mark  602

Twombly, Cy  388, 671, 676

Tzara, Tristan  526

722

U Uexküll, Jakob Johann von  310

Zamenhof, Lazar Ludwig  573 , 578 Zielinski, Siegfried  236

ANNA BOHN

DENKMAL FILM BAND 1: DER FILM ALS KULTURERBE BAND 2: KULTURLEXIKON FILMERBE

Inwiefern sind Filme als Kulturgüter geschützt? Welche Defi zite bestehen beim Schutz des Filmerbes? Und welche Standards sollen für seine Sicherung gelten? In zwei Bänden stellt Anna Bohn unter Berücksichtigung zahlreicher Filmbeispiele und Archivquellen erstmals und umfassend die Grundlagen zum Schutz des Filmerbes dar. Der erste Band behandelt wesentliche Aspekte des audiovisuellen Kulturgutschutzes aus historischer Perspektive wie die Grundlagen fi lmischer Überlieferung, die Geschichte der Filmarchivierung und die Chronik der Verluste sowie internationale Vereinbarungen und nationale Gesetzgebungen zum Filmerbe. Der zweite Band definiert Schlüsselbegriffe zum Schutz des Filmerbes wie Sicherung, Konservierung, Restaurierung, Rekonstruktion. Mit seiner interdisziplinär vergleichenden Methode richtet sich dieses Handbuch sowohl an die Film- und Medienwissenschaften, die Denkmalpflege, Kunstwissenschaft, Philologie, Archiv- und Bibliothekswissenschaften, Museumskunde als auch an die Kultur- und Geschichtswissenschaft. 2012. 880 S. 157 S/W-ABB. UND 54 FARB. ABB. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-412-20990-2

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

Helmut ReinalteR, PeteR J. BRenneR (Hg.)

lexikon deR geisteswissenscHaften sacHBegRiffe – disziPlinen – PeRsonen

Das Lexikon der Geisteswissenschaften bietet eine Zusammenschau aller geisteswissenschaftlichen Sachbegriffe, Disziplinen und Forscherpersönlichkeiten. Der Begriff Geisteswissenschaften wurde dabei weit gefasst und bezieht auch die Kulturwissenschaften mit ein. Der besondere Mehrwert dieses Projektes besteht darin, dass sich die AutorInnen nicht darauf beschränken, den aktuellen Forschungsstand zusammenzufassen, sondern eigene Forschungen miteinfließen zu lassen. Dieses Lexikon versteht sich auch als Leistungsnachweis der Geisteswissenschaften, die nicht nur wissenschaftliche Bedeutung aufweisen, sondern auch Gesellschaftsrelevanz. Sie dienen der Kultur, der Lebenswelt, der Aufklärung und Humanisierung der Gesellschaft und arbeiten ideologiekritisch. 2011. X XIV, 1409 S. Gb. 170 X 240 mm. ISbN 978-3-205-78540-8

Ein imposantes Werk […] in Buchform gegossene „Leistungsschau“ [der Geisteswissenschaften]. (Die Presse)

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43 (0) 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar