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German Pages [759] Year 2022
Heiko Christians Matthias Bickenbach Nikolaus Wegmann (Hg.)
HISTORISCHES WÖRTERBUCH DES MEDIENGEBRAUCHS BAND 3
Heiko Christians, Matthias Bickenbach, Nikolaus Wegmann (Hg.) Judith Pietreck (Redaktion), Sina Drews (Mitarbeit)
HISTORISCHES WÖRTERBUCH DES MEDIENGEBRAUCHS Band 3
Böhlau Verlag Wien ∙ Köln
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildungen: Alfred Ehrhardt. „Iberus gualterianus L., Südost-Spanien, 1940/41“. Silbergelatine. © Alfred Ehrhardt Stiftung. „Epidauros Theater, Greece“. Bild: barbar34/Shutterstock. Radioteleskop Stockert, Bad Münstereifel, 1956. Bild: Telefunken/ Deutsches Technikmuseum Berlin, Sig. I.2.060 COL 57.0015. hinten (von links nach rechts): Rangierbahnhof Nürnberg, August 1957. Bild: DB Museum/Deutsche Bahn Stiftung. „Parlophon C. Lindström – Schalldose 2“. Bild: HPhotowerk, Hendrik Peusch. „Antique typewriter“. Bild: toadberry/Shutterstock.
© 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktion: Judith Pietreck, Sina Drews, Potsdam Korrektorat: Simone Buckreus, Regensburg Einbandgestaltung: Christina Bretschneider, Potsdam Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51432-7
Inhaltsverzeichnis 7 Vorwort 8 Gebrauchsanweisung 12
Begriffsgeschichte als Gebrauchsg eschichte
36 AUFLEGEN 58 ERFINDEN 88 FAKEN 113 FINDEN 134 IDENTIFIZIEREN 163 INFLUENCEN 180 INSTAGRAMMEN 197 KONSUMIEREN 235 LEITEN 254 MONTIEREN 278 NUMMERIEREN 289 NUTZEN 310 PROZESSIEREN 333 RANKEN 351 REPARIEREN 372 RHYTHMISIEREN 384 SAMMELN 404 SCHWÄRMEN 430 SCREENSHOTTEN 454 SEHEN 487 SELFIEMACHEN 500 SHAREN 530 SPOILERN 558 STREAMEN 574 SUCHEN 595 TAGGEN 614 TAKTEN 631 TRACKEN 650 UNTERHALTEN 674 VORLESEN 695 ZENSIEREN 725 ZOOMEN 5
749 Personenregister 755 Gesamtverzeichnis aller Artikel in den B änden I, II und III
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Vorwort
Hiermit legen wir den dritten und letzten Band des HISTORISCHEN WÖRTERBUCHS DES MEDIENGEBRAUCHS vor. Eine Fortsetzung wäre denkbar, ist aber angesichts einer kaum endlichen Anzahl an möglichen Begriffen nicht beabsichtigt. Uns ging es von Anfang an nicht um Vollständigkeit oder endloses Erscheinen, sondern um eine Idee, die exemplarisch vor- und durchgeführt wird. Das Muster, mit dem wir eine Welt der Medien in 100 historischen Querschnitten ihres Gebrauchs porträtiert haben, sollte hinreichend klargeworden sein. Das dynamische, aber unumgänglich vorläufige Gesamtbild kann in Zukunft auf diese Weise weiter ausgemalt werden. Wir würden uns darüber freuen. Aber wir haben auch rückblickend allen Beiträger:innen zu danken, die diesen Weg fast ein Jahrzehnt lang mitgegangen sind. So große Projekte sind Gemeinschaftswerke für eine Gemeinschaft. Was kann man Schöneres zum Abschluss sagen? Die Herausgeber Potsdam, Köln, Princeton im März 2022
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Gebrauchsanweisung
Nachschlagewerke versprechen einfachen Zugang zu Wissen. Effizient und leicht zugänglich, sind sie für die schnelle Orientierung geeignet. Weniger selbstverständlich ist, dass unser HISTORISCHES WÖRTERBUCH DES MEDIENGEBRAUCHS nicht als Datenbank publiziert wird, sondern als Buch – und das ausgerechnet beim Thema Medien. Doch das Format Buch ist nur dort überholt, wo man es als simplen Container für Wissen versteht. Das Buch kann mehr. Die Herausgeber haben sich für das Buch entschieden, weil es handlicher ist. Das bezieht sich nicht nur auf das Haptische, sondern auch auf die leichte Verwendbarkeit in bestimmten Kontexten. Das Wörterbuch ist gedacht für die Lehre und das Selbststudium in den vielen Studiengängen im Bereich Medien. Das schließt den nicht-akademischen Leser nicht aus, im Gegenteil. Als Buch soll es die Leserin und den Leser anregen, vom je eigenen Gebrauch der Medien her sich auf eine Geschichte des Mediengebrauchs einzulassen, auf seine vielfältigen Formen, auf seine praktische Definitionsmacht in der Welt der Medien. Das Buch kann einen neuen Blick auf das Bekannte werfen, benachbarte Einträge in Reichweite bringen und so den Leser allererst zum interessierten Leser werden lassen. Dass es dafür keine Garantie gibt, ist den Herausgebern bewusst. Hilfestellung gibt die Struktur der einzelnen Artikel. Alle Lemmata zielen auf eine mittlere Abstraktionsebene, zwischen bloßer Empirie und überambitionierter Theorie. Mediale Gebrauchsweisen werden weder reduziert auf quantitative Messungen und Statistiken noch werden sie wegabstrahiert in das idiosynkratische Vokabular eines Meisterdenkers. Nicht zuletzt: Die Artikel verlieren sich nicht in Details, die allein noch Expert:innen etwas sagen. Der Aufbau der Beiträge folgt einer Heuristik, die zuverlässig auf Problemstellungen und deren politisch-soziale, technische und historische Kontexte hinführt. Als verbindliches Verfahren für alle Artikel gesetzt, ermöglicht diese Heuristik die vergleichende Beobachtung unterschiedlicher medialer Gebrauchsweisen. Jeder Artikel beginnt mit der Anekdote. Das können überraschende und gerade darin aufschlussreiche Erzählungen sein, die ihr Material aus der
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Literatur, der Politik, der Historie oder dem Alltag nehmen. Als signifikante Story führt diese Geschichte in den Gegenstand ein, erweckt als unerwarteter Fund die Neugierde und regt so zum Weiterlesen an. Das ist der Ort, an dem die Gebrauchsweisen wie nirgends sonst anschaulich werden. Mediale Praktiken sind nicht in simplen Daten und Belegen archiviert, sie sind vielmehr erst aus Geschichten herauszulesen. Zusammen mit der Etymologie der Begrifflichkeit ist die Anekdote – neben den konkreten Gebrauchsformen – der rote Faden des Artikels. Die historische Dimension der jeweiligen Gebrauchsweise wird weiter erschlossen durch die überlieferten (Gebrauchs-)Kontexte des Begriffs und die Konjunkturen, welche Schwankungen im semantischen Feld, aber auch eines technoiden oder (alternativ) alltagsförmigen Sprachgebrauchs anzeigen. Schließlich werden in einem weiteren Schritt Gegenbegriffe zur jeweils untersuchten Praxis abgesteckt und erkundet. Am Beispiel: Wenn es eine medien- und kulturkritische Schimpfrede gegen „zerstreuen“ gibt, dann gibt es zugleich das Lob für das dagegen gesetzte „konzentrieren“. Ein Historisches Wörterbuch bleibt nicht im Vergangenen, schließlich wird das Wissen aus der Gegenwart heraus gewonnen. Jeder Artikel führt am Ende die jeweils behandelte Problemlage einer konkreten Medienpraxis bis in die Gegenwart und ihre notorisch unübersichtlichen Verhältnisse. Gebündelt wird das in Überlegungen zu Perspektiven der Anwendbarkeit des vorher versammelten Wissens. An diese Einschätzung knüpft sich die Skizzierung der Forschung, die aus dem Artikel heraus motiviert ist. Literaturempfehlungen regen eine Fortführung der Lektüre an. Verweise orientieren innerhalb des Wörterbuchs, mit einer vollständigen Bibliografie endet jeder Artikel. Das klassische enzyklopädisch-alphabetische Register suggeriert Abgeschlossenheit und Repräsentativität, die es bei den hier zu erschließenden alten und neuen medialen Umgebungen, den sich ständig wandelnden Formen des Gebrauchs, nicht geben kann. Allein durchgängig ist, nach einem Wort Hans Freyers von 1965, eine permanente „Veränderung der Normalitätsgrundlagen des gesellschaftlichen Lebens durch den Einbruch der neuen Technik“. Technik ist nicht nur das in Patente gegossene Wissen des Ingenieurs oder Tüftlers, Technik ist auch die konkrete Handhabung der Maschinentechnik durch Anwender und Nutzerinnen. In der ausschließlichen Konzentration auf die konkreten Formen des Mediengebrauchs steckt eine eigenständige,
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analytische Perspektive: Der Gebrauch wird als medienhistorischer Widerpart zur bloßen Maschinentechnik und ihrer bestimmungsgemäßen Verwendung ins Spiel gebracht. Medien sind das, was ihr Gebrauch aus ihnen erst macht. Mit dieser gegen-intuitiven Setzung nehmen wir hier ein altes Buch- und Wissensformat auf, um es den aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Dass die Herausgeber sich für diese Heuristik entschieden haben, hat auch mit der Lage der Medienwissenschaft zu tun. Ihr schneller Aufstieg ist unstreitig spektakulär. Doch dieser Erfolg muss erst noch gesichert werden. Vielleicht kann das nun vorliegende HISTORISCHE WÖRTERBUCH DES MEDIENGEBRAUCHS zur Konsolidierung beitragen – als Arbeit an den für jedes Fach unvermeidlichen disziplinären Grundbegriffen. Ganz analog hat sich die Soziologie nach dem Ersten Weltkrieg das „Gerippe“ (Max Weber) solcher Grundbegriffe gegeben. In der Medienwissenschaft gibt es noch keinen Kanon der Grundbegriffe. Ein Kandidat für einen solchen Kanon, so die Arbeitshypothese für dieses Wörterbuch, ist der Begriff des Mediengebrauchs. Mit seiner Hilfe kann es gelingen, die Welt der Medien dort zu beobachten, wo die sprichwörtliche Dynamik der Medien evident wird: in vorderster Linie. „Unterhaltungsindustrie ist in jedem Wortsinn Missbrauch von Heeresgerät.“ Friedrich Kittlers großer Satz zitiert nicht nur den Topos, wonach der ‚Krieg Vater aller Dinge‘ ist. Als Aphorismus mit epistemologischem Mehrwert gelesen, ist Kittlers Satz das historische Exempel auf die definitorische Macht des Mediengebrauchs. Ursprünglich für das Militär entwickeltes Heeresfunkgerät wird umgenutzt zu Unterhaltungszwecken. Statt Befehlen wird Musik übertragen. Medienapparate, so der Lehrsatz Kittlers, lassen sich auch gegensinnig zu einem ersten Verwendungszweck benutzen. Jeder neue und andere Gebrauch kann wieder weitere, nicht minder gewichtige Erfolge zeitigen. Das nun vorliegende Wörterbuch will daher auch nicht die korrekten oder auch nur geläufigen Gebrauchsweisen aufführen oder gar dem Leser und der Leserin als Orientierung empfehlen. Vielmehr soll deutlich werden, dass selbst noch der am weitesten verbreitete Mediengebrauch stets nur eine Möglichkeit ist, mit einem Medium umzugehen. Innovation und Kreativität stecken nicht nur im technischen Apparat, sie gibt es auch auf der Seite des Mediengebrauchs.
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Die einzelnen Beiträge des Wörterbuchs setzen nicht bei der Frage an, was Medien eigentlich sind, wie sich Buch, Schrift oder Videospiel voneinander unterscheiden. Auch interessieren nicht die Grundlagen analoger oder digitaler Kodierung von Medien. Einträge wie Intermedialität oder Information wird man hier vergebens suchen. Stattdessen eröffnet die Verbform den Blick auf die Wechselwirkung zwischen Medien und ihrem Gebrauch. Diese komplexe Relation ist als solche nicht theoriefähig. Machbar ist allein eine historische Analyse von Einzelgeschichten, ohne Anspruch auf einen übergeordneten Zusammenhang. Wir sind überzeugt, dass das vorliegende Wörterbuch zur Aufbereitung eines breit gefächerten medienwissenschaftlichen Wissens das richtige Format darstellt. Die Vorgabe einer verbindlichen Heuristik als Grundgerüst für jeden Einzelbeitrag verlangt eine intensive Kooperation zwischen Beitragenden und Herausgebern. Die Herausgeber und die Redaktion danken den Autorinnen und Autoren, dass sie diese aufwändige Abstimmung auf sich genommen haben. Die Herausgeber
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Begriffsgeschichte als Gebrauchsgeschichte HEIKO CHRISTIANS
ZUR DIDAKTIK Im Jahr 1938 erschien im renommierten New Yorker Verlag
William Morrow eine umfangreiche revolutionsgeschichtliche Studie des 1933 aus Deutschland vertriebenen Staatsrechtslehrers, Soziologen und Historikers Eugen Rosenstock-Huessy.1 Unter dem Titel OUT OF REVOLUTION. AN AUTOBIOGRAPHY OF WESTERN MAN beabsichtigte der Autor nichts Geringeres, als den Grundstein für ein „dictionary of Europe’s cultural and political language“2 zu legen. Für das Projekt gab er seinen Zeitgenossen eine damals etwas seltsam anmutende Begründung: „This is of immediate practical importance in the days of radio.“3 Rosenstock-Huessy hatte das Buch als Zeichen und Programm seiner Ankunft in der Neuen Welt geschrieben. Er hatte mit ihm aber auch ein neues Kapitel der Universalgeschichtsschreibung in jenem historischen Augenblick aufgeschlagen, in dem der amerikanische Wirtschafts- und Marinehistoriker Robert G. Albion erstmals – wie er eigens betonte – aus rein didaktischen Gründen die Phrase von der Communication Revolution prägte: „in helping the student to visualize and coordinate historical movements and influences“.4 Die 1931 noch in Deutschland erschienene Vorgängerschrift von OUT OF 5 REVOLUTION sollte sich aufgrund der radikal gewandelten kulturellen und
1 Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973) hatte von 1923 bis 1933 den Lehrstuhl für Rechts-
geschichte, Bürgerliches Handels- und Arbeitsrecht an der Universität Breslau inne. Nach einer Zwischenstation 1934 als Kuno Francke Lecturer in German Art and Culture an der Harvard University lehrte Rosenstock ab 1935 bis zum Eintritt in den Ruhestand 1957 Sozialphilosophie am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire. 2 Rosenstock-Huessy: Out of Revolution, S. 11. 3 Ebd. 4 Albion: The Communication Revolution. In: The American Historical Review, S. 718. Später konkretisierte er seine Vorstellung: „This ‚revolution‘, which began in the England of George III with canals and turnpikes, later developed the steamboat, railway, telegraph, cable, telephone, automobile, and airplane, and still continues with radio and television.“ [Hall/Albion: A History of England and the British Empire 1937, S. 506]. Vgl. dazu heute Behringer: Im Zeichen des Merkur, S. 643–688. 5 Rosenstock-Huessy: Die europäischen Revolutionen.
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politischen Kontexte Europas in der Neuen Welt schnell als unübersetzbar erweisen. Aber auch der theoretische Kontext hatte sich zwischen 1931 und 1938 gewandelt, wie der Autor selbstkritisch anmerkt: „Though treating the same problem with the old method of the romantic historical school“.6 Das neue Buch setzte in theoretischer Hinsicht – stark vereinfacht gesprochen – das Wörterbuch an die Stelle des Volkscharakters. In noch heute faszinierenden Exkursen führt Rosenstock-Huessy den amerikanischen Leser darin in die politische, soziale und ästhetische Sprachund Ideengeschichte so grundlegender europäischer Wortfelder wie révolution – Revolte – Revolutionär7, mundus – Westen – western world, Topik – Erörterung – debate – discussion, polis – policey – Polizei oder Landschaft – country – county ein. Aber der Autor situierte nun – wie Robert G. Albion – das politische Grundvokabular in einer je spezifischen medialen Umgebung: „Each inspired form of society must reshape its environment before it can begin to influence the world.“8 EPOCHENBILDUNG ODER MEDIALE UMGEBUNG? Die Einbettung eines
politischen Grundvokabulars in medial geprägte Umgebungen wurde – beginnend mit Harold A. Innis’ in den späten 1940er Jahren gehaltenen Oxforder Vortragsreihe EMPIRE AND COMMUNICATIONS9 – schließlich in unseren Tagen auch zum medienbewussten Standardrepertoire der Kultur-, Sozialund Politikwissenschaften. Kaum eine Studie kommt heute mehr ohne den einleitenden Hinweis aus, dass „wir in einer Welt leben, deren verschiedene
6 Ders.: Out of Revolution, S. 11. 7 Vgl. dazu auch ders.: Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit. 8 Ders.: Out of Revolution, S. 291. Das ist ein Grundgedanke, den Marshall McLuhan wir-
kungsmächtig verbreitete und der heute – ähnlich breit ausgeführt – etwa bei Moran: Introduction to the History of Communication zu finden ist. 9 Innis: Empire and Communications. Innis diente während des Ersten Weltkriegs in der kanadischen Armee als Artilleriefunker. Zu seiner Biografie und zur Geschichte (und dem Miss erfolg) der von Innis gehaltenen Beit-Lectures an der Universität Oxford im Jahr 1948 vgl. Watson: Marginal Man: The Dark Vision of Harold Innis und ders.: General Introduction. In: Innis: Empire and Communications, S. 14 f.
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nationale und regionale Kontexte durch Staaten und Medien unterschiedlich strukturiert werden“.10 Tatsächlich aber ist es nach wie vor schwer, politische und kulturelle Prozesse wie die Nationwerdung oder die Globalisierung und spezifische mediale Praktiken und Infrastrukturen differenziert und produktiv ins Verhältnis zu setzen. Benedict Anderson schrieb 1983, über 30 Jahre nach Harold Innis und fast 20 Jahre nach Marshall McLuhans Klassiker über die GUTENBERG11 12 GALAXIS, mit seinem Werk IMAGINED COMMUNITIES eines der wenigen Erfolgsbücher über die medialen Strukturen, Praktiken und Prozessualitäten, die solchen politischen Großbewegungen zugrunde liegen. Dass etwa Romankultur und politische Kultur im Vermittlungsmodus der (massenhaft ermöglichten) Individuallektüre etwas miteinander zu tun haben, wies Anderson eindrucksvoll am Beispiel der Staats- und Nationwerdung Indonesiens nach. Die Standardisierung einer überregionalen Hochsprache durch den Buchdruck und die gleichzeitige Öffnung eines imaginären nationalen Raumes im Bewusstsein der Leser durch das Identifikationsangebot mit einem Helden, der diesen Raum stellvertretend wahrnimmt und ‚durchwandert‘, waren Konstituenten eines neuen Blicks auf den Nationalismus, den Anderson – im Rückgriff auf McLuhan – einrichtete. McLuhan hatte in Fortführung von Innis’ Werk schon 1964 festgehalten, dass „die politische Vereinigung von Völkerschaften nach Idiom und Sprache ausgerichtet“ undenkbar war, bevor „der Druck jedes Idiom zu einem umfassenden Massenmedium machte“.13 Man ahnt die theoretischen Schwierigkeiten, mit denen ein ähnlich ambitionierter Blick auf die gegenwärtige, diffus-dialektische Prozessualität von Globalisierung und medialen Praktiken in Zusammenhang mit dem World Wide Web zu kämpfen hat. Eine bis heute relativ geringe Zahl solcher Studien findet ihre Erklärung darin, dass erfolgreiche Medientechniken bzw. -formate und die
10 Appadurai: Die Geographie des Zorns, S. 13. 11 McLuhan: The Gutenberg Galaxy. Marshall McLuhan war ein Kollege von Harold Innis an
der University of Toronto und schrieb 1964 das Vorwort zur 2. Auflage von Innis’ Werk THE BIAS OF COMMUNICATION von 1951. 12 Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. 13 McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, S. 193.
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Gebrauchsformen oder Umgangsweisen mit ihnen nicht einfach mit epochalen, religiösen, politischen oder philosophischen Ideen und den diese Ideen anzeigenden Begrifflichkeiten zur Deckung zu bringen sind. Kurt Flasch stellte noch vor Kurzem zu seiner und unserer Verwunderung fest, dass verschiedene, renommierte historische Großprojekte im Falle der Frühen Neuzeit gleich ganz auf die Erwähnung Johannes Gutenbergs und des Buchdrucks verzichteten.14 Substantivische Schlagworte für Haltungen oder auch maschinelle Innovationen setzen offenbar leichter Epochen an als verbalisierte Praktiken in diesen Strukturen. Der Blick auf die Gebrauchsformen und Umgangsweisen aber ermöglicht eine neue Durchlässigkeit zwischen ‚Zeitaltern‘: „Wir würden“, schreibt Lothar Müller, „die Mediengeschichte besser begreifen, wenn wir uns von der starren Opposition von Buchkultur und Internet lösen. Und stattdessen beginnen würden, den Verbindungslinien nachzuspüren – zwischen den Kulturtechniken der Digitalisierung und denen der Papiertechnologie.“15 EIN BEISPIEL Geht man etwa von den Begriffen der ‚Nachfolge‘ oder ‚imitatio‘
einerseits und dem Prinzip der ‚Nachahmung‘ andererseits aus, ordnen wir das Feld möglicher Materialien und Zusammenhänge (zu) schnell nach religiösen und säkularen Perioden der Geschichte: hier die inbrünstig-weltlose und vor allem handschriftliche Nachfolge des Mittelalters – dort die soziale Anpassung und Überbietung mittels Nachahmung des schon industrialisierten 19. Jhs., wie sie etwa in den Werken von René Girard umfassend analysiert wurde.16 Gehen wir indessen von der Praxis eines sogenannten identifikatorischen Mediengebrauchs, z.B. von jener Praxis des ‚Sich-(lesend-)in-jemanden-Hineinversetzens‘ aus, erblicken wir im Kern ganz verschiedener epochaler Zielbegriffe häufig eine vergleichbare Praxis. Ein Selbstbericht Claude Lanzmanns über seine
14 Vgl. Flasch: Ideen und Medien. In: Gutenberg-Jahrbuch, S. 27. 15 Müller: Stiller Teilhaber. In: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, S. 66. Vgl. auch die Ka-
pitel ‚Parchment and Paper‘ und ‚Paper and the Printing Press‘. In: Innis: Empire and Communications, S. 141–217. Für eine Anwendung im Zeichen der Metapher Navigation in Informationsfluten zwischen Bücher-Bildung und ‚surfing the internet‘ vgl. Bickenbach/Maye: Metapher Internet. 16 Vgl. Girard: Deceit, Desire, and the Novel.
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Sartre-Lektüre hat das vor Kurzem noch einmal eindrucksvoll vorgeführt: „Für uns Zwanzigjährige waren ‚Die Wege der Freiheit‘ eine Pflichtlektüre, die nach ‚Nachahmung‘ rufen im gleichen Sinn, in dem der heilige Franz von Sales von der ‚Nachahmung Jesu Christi‘ spricht, einem Übermaß an Hingabe, das sich im Handeln fortsetzen muss, in unserem Handeln.“17 GRUNDBEGRIFFE Nach dem Zweiten Weltkrieg war es im deutschen Sprach-
raum verschiedenen disziplinären Projekten hervorragender Wissenschaftler vorbehalten, die Anregungen Rosenstock-Huessys systematisch und umfassend auszuarbeiten. Fast zeitgleich mit dem Erscheinen von OUT OF REVOLUTION konzipierte der Historiker Otto Brunner Ende der 1930er Jahre die Umrisse der erst ab 1972 erscheinenden, insgesamt acht ingeniösen Bände der 18 GESCHICHTLICHEN GRUNDBEGRIFFE. Unterstützt wurde er nach dem Krieg dabei zunächst von Werner Conze, der – zeitgleich mit regelmäßigen Gastprofessuren Rosenstock-Huessys an der Universität Münster zwischen 1951 und 1957 – dort tätig war.19 Conze las über neuere amerikanische Geschichte, Rosenstock-Huessy über die ‚Gesetze der christlichen Zeitrechnung‘.20 Die einzelnen Artikel der GESCHICHTLICHEN GRUNDBEGRIFFE wurden so konzipiert, dass man es mit kleinen, äußerst gehaltvollen Monografien zum angeführten Stichwort zu tun hat. Allein der Artikel ‚Gesellschaft, Gemeinschaft‘ von Manfred Riedel ersetzt die Lektüre ganzer Bibliotheken.21 Er hatte seinen berühmtesten Vorgänger wohl in Ferdinand Tönnies’ Beitrag ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘ für das von Alfred Vierkandt 1931 herausgegebene
17 Lanzmann: Der patagonische Hase, S. 198. 18 Geschichtlichen Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in
Deutschland, Stuttgart (1972–1997). Vgl. Horn Melton: Otto Brunner und die ideologischen Ursprünge der Begriffsgeschichte. In: Joas/Vogt (Hrsg.): Begriffene Geschichte, S. 124. 19 Vgl. Dunkhase: Werner Conze, S. 68–75. 20 Vgl. Rosenstock-Huessy: Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung und ders.: Das Geheimnis der Universität. 21 Vgl. Riedel: (Art.) Gemeinschaft. In: Brunner et al. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, S. 801–862.
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voluminöse HANDWÖRTERBUCH DER SOZIOLOGIE.22 Es war vor allem diese von Reinhart Koselleck, dem dritten Herausgeber der GESCHICHTLICHEN GRUNDBEGRIFFE, in Auseinandersetzung mit den Schriften Ferdinand Tönnies’ und Carl Schmitts Ende der 1960er Jahre dann ausgearbeitete (polemische) asymmetrische ‚Gegenbegrifflichkeit‘ politisch-kultureller Semantiken, die eine spezifische Schubkraft und Aktivität der Begrifflichkeiten selbst voraussetzte.23 Ein Hinweis auf die gemeinschaftsbildende und -entzweiende Kraft medialer Praktiken allerdings fehlte hier wie dort.24 JENSEITS VON FACHWÖRTERBUCH UND REINER THEORIE Zum gleichen
Zeitpunkt starteten Joachim Ritter und Karlfried Gründer das HISTORISCHE WÖRTERBUCH DER PHILOSOPHIE, das ebenfalls bis heute seinesgleichen sucht. Auch hier sind umfassende Begriffsgeschichten entstanden. Das hier entworfene kleine Wörterbuch kann auf seinem Gebiet nicht einmal ansatzweise das leisten, was den genannten Werken auf den ihren gelang, auch wenn wir uns an der Länge und Durchdringungsintensität ihrer Artikel orientieren wollen. Wenn wir aber – nahezu analog zu unserer eigenen Liste – im HISTORISCHEN 25 WÖRTERBUCH einen Eintrag ‚Wiederholung‘ schon vorfinden, müssten wir
22 Tönnies: (Art.) Gemeinschaft und Gesellschaft. In: Vierkandt (Hrsg.): Handwörterbuch der
Soziologie, S. 180–191. Nicht zu unterschätzen für die Vorgeschichte der genannten Wörterbuchprojekte sind Heinrich Wölfflins KUNSTGESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE von 1915. Diese fordern einleitend eine an Alois Riegls Monografie zur ‚Spätrömischen Kunstindustrie‘ von 1901 geschulte „Verfeinerung der begrifflichen Werkzeuge“. [Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. VIII]. 23 Vgl. Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Weinrich (Hrsg.): Positionen der Negativität, S. 65–104. Vgl. dazu auch Mehring: Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt. In: Joas/Vogt (Hrsg.): Begriffene Geschichte, S. 156 f. und Lübbe: Begriffsgeschichte als dialektischer Prozess. In: Archiv für Begriffsgeschichte XIX, S. 8–15. Fast parallel erarbeitet Raymond Williams unter dem Titel CULTURE AND SOCIETY einen weiteren Entwurf der Begriffsgeschichte für den anglo-amerikanischen Raum [Williams: Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte.], der schon wesentlich früher in eine mediengeschichtliche Ansicht transformiert wurde [Vgl. Ders.: Televison. und ders.: Communications Technologies and Social Institutions. In: Ders. (Hrsg.): Contact, S. 225–238]. 24 Vgl. Koselleck: Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels. In: Bödeker: Begriffsgeschichte, S. 31–47. 25 Vgl. Theunissen/Hühn: (Art.) ‚Wiederholung‘. In: Ritter/Gründer/Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Sp. 738–746.
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uns davon absetzen können. Wir möchten das in dem Bewusstsein leisten, dass – z.B. im Falle der ‚Wiederholung‘ – die substantivierende Verschlagwortung einer Praxis oft genug dazu verführt, unter dem betreffenden Rubrum nur eine paraphrasierend-chronologische Auslegung prominenter Theorien oder Stellen ‚von Kierkegaard bis Deleuze‘ zum Thema zu versammeln. Diese scheinen dann jeweils immer schon bestimmten Epochen anzugehören, deren etablierten Auslegungsprämissen sie sich dann umso leichter unterwerfen lassen. Dem gegenüber setzen wir mit der Verb- und Gebrauchsform Ansichten des Wiederholens in den Mittelpunkt, die zwar Gemeinsamkeiten aktueller und historischer Erörterungen reflektieren, aber technische Differenzen im Zeichen des Mediengebrauchs ebenso deutlich markieren – jenseits von Fachwörterbuch und reiner Theorie. Ein ‚Wörterbuch‘, das explizit auf die Medien zielt, ist natürlich keine Neuigkeit: Es gibt beispielsweise ein (zweisprachiges) FACHWÖRTERBUCH 26 27 HÖRFUNK UND FERNSEHEN , ein MEDIA AND COMMUNICATION DICTIONARY 28 oder ein DICTIONARY OF COMMUNICATION AND MEDIA STUDIES . Es gibt längst medienwissenschaftliche Veröffentlichungen, die sich gleich selbst mit einem umfangreichen ‚Glossar‘ ausstatten.29 Aber was ist im Falle von Wörterbüchern und Handbüchern von 500 Einträgen auf 300 Seiten zu halten, die nicht einmal kategorial unterschieden werden? Was ist im Falle von Fachlexika davon zu halten, dass sie Einträge zu Theorien, Theorieschulen, Autorennamen, Institutionen und Namen von Konsortien oder Stars auf engstem Raum aneinanderfügen und durcheinandermengen? Welchen Nutzen bieten sie – über ein schnelles informatives Nachschlagen hinaus –, wenn man ein zusammenhängendes historisches Wissen über zentrale, gewachsene und sich weiterentwickelnde mediale Strukturen und Praktiken erwerben will? Natürlich sind dies rhetorische Fragen, aber festzuhalten bleibt zumindest, was es bisher nicht gibt: ein Wörterbuch, das ‚die Medien‘ systematisch und begrifflich in Ansichten von Formen und Operationen ihres Gebrauchs auffächert, welche gleichzeitig umfassend und womöglich vergleichend historisch 26 Tillmann (Hrsg.): Fachwörterbuch Hörfunk und Fernsehen. 27 Kleinman: The Media and Communication Dictionary. 28 Watson/Hill (Hrsg.): A Dictionary of Communication and Media Studies. 29 Vgl. Engelbert: Global Images, S. 109–171.
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hergeleitet werden. Damit kann ein bestimmter Effekt erzielt werden: Mediale Aktivitäten, die normalerweise ganz in der Aktualität eines spezifischen technischen Standards aufzugehen scheinen (bzw. als überkommen gelten), erhalten ihre Geschichte (bzw. ihre Gegenwart) zurück. Durch die Annäherung über die Formen des Gebrauchs wird vermieden, dem Wortfeld schon klar abgezirkelte, theoretische oder historische Konturen zu verleihen und aus solchen Ergebnissen vorschnell Epochen zu konstruieren. Vielleicht ist die artikelweise Herangehensweise entlang medialer Gebrauchsformen und ihrer Geschichte auch eine Alternative zu den ausführlichen Monografien oder den heterogenen Sammelwerken einerseits und den unzähligen einführenden Klassiker-, Theorie- oder Konzeptübersichten andererseits, die häufig weder die Anwendungsebene noch die historische Grundlegung ihres (sekundären) Blicks auf ‚die Medien‘ besonders wichtig nehmen, nur um die möglichst dichte und konsistente Paraphrase einer ausgewählten und kapitelweise aufbereiteten ‚Theorie‘ nicht zu gefährden. Der Fokus scheint bei ihnen geradezu reflexhaft immer wieder auf die Theorie(n) oder je aktuelle Forschungskontexte zu fallen, die dann als ein den Gegenständen erst Bedeutung verleihender Generalnenner fungieren. Theorien scheinen gegenüber den Formen des Gebrauchs immer noch einen höheren Orientierungswert zu haben, indem sich mit den Namen ihrer Begründer auch Markierungen auf der politisch-ethischen Landkarte der Wissenschaften ergeben. Diese Markierungen erleichtern zweifellos eine Entscheidung im unübersichtlichen Dschungel der Methoden, Theorien und Turns.30 Doch auch eine zweite, zunächst naheliegende Alternative soll hier noch verhandelt werden: Was ist mit einer universal oder zumindest überblickshaft angelegten ausführlichen Gesamtmediengeschichte31 oder -chronik32, einer Institutionen- oder Strukturgeschichte33? Wir befürchten, dass hier 30 Zu diesen Turns gibt es unterdessen ebenso Handbücher wie zu einzelnen ‚Klassikern‘: Vgl.
etwa Bachmann-Medick: Cultural Turns und Parr (Hrsg.): The Deleuze Dictionary Revisited Edition. 31 Leonhard et al. (Hrsg.): Medienwissenschaft; Hans-Bredow-Institut (Hrsg.): Internationales Handbuch Medien und Noelle-Neumann/Schulz/Wilke (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik. Vgl. auch Hörisch: Der Sinn und die Sinne. 32 Hiebel/Hiebler/Kogler et al. (Hrsg.): Große Medienchronik. 33 Segeberg (Hrsg.): Mediengeschichte des Films.
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höchstens noch am Rande Platz fände, was in diesem Wörterbuch gerade als geschichtenförmige Ansicht zentraler medialer Gebrauchsformen zu Ehren kommen soll.34 Wir setzen deshalb auf eine Mischform der aufklärerischen Tradition des Dictionnaire und einer ‚Theorie in Geschichten‘, um einmal eine berühmte Formel Wilhelm Schapps wiederzugeben.35 Solche Fall- und Theoriegeschichten,36 festgemacht an einer populären Formel des Gebrauchs, vermeiden gerade eine ‚reine Theoriegeschichte‘. Die strikte Gegenüberstellung von Nutzer und Medium, von Theorie und Gegenstandsbereich, von Gebrauch und Gerät, von Geschichte und Gegenwart sowie von Geschichte und Geschichten wird aufgehoben: „Unter diesem Gesichtspunkt“, hält der Historiker Michel de Certeau 1987 fest, „unterscheidet sich der gelehrte Diskurs nicht mehr von den weitschweifigen Erzählungen unserer Alltags-Historiographie. Er gehört zu jenem System, das mithilfe von ‚Geschichten‘ die gesellschaftliche Kommunikation und die Bewohnbarkeit der Gegenwart organisiert.“37 VOM GEBRAUCH Es gilt nun den Begriff des Gebrauchs endgültig zu situie-
ren: Es gibt zwar hier und da Schriften, die den Begriff des ‚Mediengebrauchs‘ ausdrücklich in den Mittelpunkt (ihres Titels) stellen, doch zu einer konzeptuellen Gesamtansicht des Medialen wird er nicht ausformuliert.38 Auch die
34 Vgl. Wegmann: Der Original-Ton. In: Maye/Reiber/ders. (Hrsg.): Original / Ton, S. 15–24. 35 Vgl. Schapp: Philosophie der Geschichten. 36 Vgl. Lübbe: (Art.) Geschichten. In: Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3,
Sp. 403 f. Zur ‚Fallgeschichte‘ vgl. Bartz: Publizistische Fallgeschichten. In: Schneider/dies. (Hrsg.): Formationen der Mediennutzung I: Medienereignisse, S. 35–43; Pethes: Vom Einzelfall zur Menschheit. In: Blaseio/Pompe/Ruchatz (Hrsg.): Popularisierung und Popularität, S. 63–92; Neumeyer: ‚Schwarze Seelen‘. In: IASL, S. 101–132. 37 Certeau: Theoretische Fiktionen, S. 66. 38 Vgl. Schöttker (Hrsg.): Mediengebrauch und Erfahrungswandel oder Nitsch/Teuber (Hrsg.): Vom Flugblatt zum Feuilleton.
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Begriffe der Praktik39, der (Medien-)Nutzung40 oder der (Kultur-)Technik41 garantieren keine ausreichende Freiheit von Vorentscheidungen eines übergeordneten Theoriegebäudes oder von einer Abstraktheit, die es ihnen noch erlauben würde, sich diesen „Phantomen“ (M. de Certeau) auf möglichst
39 Der Begriff der medialen Praktiken ruft einerseits die komplexen und voraussetzungsreichen
diskurstheoretischen Arbeiten Michel Foucaults auf und hebt andererseits vor allem auf ein Potenzial der Medien ab, den etablierten modernen Kunstbegriff zu erweitern und die eigene Theoriearbeit dann endgültig an die experimentelle Ästhetik der performative arts anzuschließen. Dann aber wird Theorie zu einem Konzept von Mediengestaltung, dass sich explizit künstlerischen Kriterien verpflichtet sieht, aber nicht mehr nur ein wissenschaftliches Interesse umsetzt. Das Register der Traditionen wird ausgetauscht. Entsprechende Konzeptualisierungen in Forschung und Lehre heißen dann Experimentelle Medienwissenschaft oder Künstlerische Forschung. 40 Vgl. Schneider (Hrsg.): Formationen der Mediennutzung. Der Begriff Mediennutzung suggeriert eine Art zielstrebige Realisierung eines (unterhaltungs-)ökonomischen Kalküls mittels Medien oder versucht alternativ gerade mit der nüchternen Semantik der Nutzung (als NichtVerwertung) eine besondere Sachlichkeit des Blicks auf die medialen Verhältnisse zu etablieren. Der Begriff wird – ähnlich wie hier – zwar oft zunächst von anderen Begriffstraditionen abgesetzt, findet seine Beobachtungs-Beschränkung aber häufig in der Fixierung auf das Verhältnis und die Erkenntnisprozessualität zwischen Subjekt und Einzelmedium: So erscheint der Mediennutzungsforschung, wie einer ihrer wichtigsten Vertreter schreibt, „der Begriff der ‚Rezeption‘ ungeeignet, weil Mediennutzung nicht nur die Rezeption – Aufnahme und kognitive Verarbeitung – von Medieninhalten umfasst, sondern auch ihre Selektion. Nicht zuletzt gehören zur Mediennutzung subjektive Erlebensprozesse, die Entstehung und Veränderung individueller Medienkompetenzen und -bewertungen sowie soziale Strukturen und Prozesse im Umfeld der Medienzuwendung. Der neutrale Begriff ‚Nutzung‘ scheint uns deshalb angemessener.“ [Schweiger: Theorien der Mediennutzung, S. 14]. 41 Das Konzept der Kulturtechniken versucht einerseits mit dem Synonym ‚Körpertechniken‘ (Marcel Mauss) eine Re-Anthropologisierung der Medienwissenschaft und ist andererseits nicht exklusiv darauf verpflichtet, den Mediengebrauch medienkulturgeschichtlich und fallbeispielhaft zu kontextualisieren, sondern ihn auf basale kulturelle Operationen – wie Rechnen, Schreiben oder Zeichnen – zurückzuführen. [Vgl. Schüttpelz, Erhard: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken. In: Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph (Hrsg.): Archiv für Mediengeschichte, Weimar (2006), S. 87–110. Dagegen schreibt Siegert, Bernhard: Cacography or Communication? Cultural Techniques in German Media Studies. In: greyroom, Nr. 29 (2007), S. 27–47. Das Konzept schon resümierend: Maye, Harun: Was ist eine Kulturtechnik? In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Nr. 1 (2010), S. 121–135]. Damit entfällt aber streng genommen die Geschäftsgrundlage für das vorliegende Projekt, das eben nicht fixe Sets von Rechenoperationen oder von Schreibdispositiven am Grund der verschiedensten Kulturen ermittelt, sondern eine materialgesättigte polyphone Medienkulturgeschichte des Gebrauchs ansteuert.
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bewegliche und vorurteilsfreie Weise zu nähern. Über die Möglichkeiten der Fragestellung entscheidet also – wie so oft – schon der Sprachgebrauch mit. Mit dem Begriff des Mediengebrauchs wird daher hier an eine Frage angeknüpft, die sich periodisch stellt, wenn der Umgang mit Medien und das Leben in medialen Umwelten näher analysiert werden soll. José Ortega y Gasset spricht in seiner posthum veröffentlichten Soziologie DER MENSCH UND DIE LEUTE von einem „Ozean von Bräuchen […] Sie bilden sensustricto unsere Umgebung, unsere gesellschaftliche Umwelt.“42 Für zunehmend (medien-) technisch geprägte Umwelten ist das Konzept von Brauch und Gebrauch insofern besonders geeignet, als es seit den Arbeiten Max Webers – vor allem seit seinem später sogenannten Werkkomplex WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT – eine starke, noch laufende Formalisierung in Richtung auf den Gebrauch erfährt: „Eine tatsächlich bestehende Chance einer Regelmäßigkeit der Einstellung sozialen Handelns“, schreibt Weber 1921, „soll heißen Brauch, wenn und soweit die Chance ihres Bestehens innerhalb eines Kreises von Menschen lediglich durch tatsächliche Übung gegeben ist. Brauch soll heißen Sitte, wenn die tatsächliche Übung auf langer Eingelebtheit beruht.“43 Theodor Geiger wird dieses Konzept 1947 in seinen VORSTUDIEN ZU EINER SOZIOLOGIE DES RECHTS aufgreifen und beschreibt (am Leitfaden Max Webers) Sitte und Brauch als „zweckmäßige Gebarensmodelle, die Verhalten und Orientierung in einem jeweils spezifischen Milieu regulieren“.44 Allein schon wenn wir die weberschen Unterbegriffe von Regelmäßigkeit, Übung und Eingelebtheit herausgreifen und Geigers Begriffe Modell, Orientierung und Milieu hinzunehmen, entsteht eine aufsteigende Begriffspalette, die wie von selbst auf die Beschreibung technischer Umwelten und ihrer routiniert-regelhaften Realisierung im Gebrauch hinausläuft. Eingelöst wurde diese Beschreibung dann erstmals 1957 in der auf breiter empirischer Grundlage angelegten industriesoziologischen Studie TECHNIK UND INDUSTRIEARBEIT von einem Team um den Soziologen Heinrich Popitz. Es lieferte – finanziert von der Rockefeller Foundation und betreut von Walther G. Hoffmann, Carl Jantke und Reinhart 42 Ortega y Gasset: Der Mensch und die Leute, S. 263. 43 Weber: Soziologische Grundbegriffe, S. 51. 44 Zit. n. Korff: Kultur. In: Bausinger/Jeggle/Korff et al.: Grundzüge der Volkskunde, S. 25. Vgl.
dazu Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 95 ff.
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Koselleck – zwischen 1953 und 1954 eine akribische Analyse der „Arbeit als Verhalten zum technischen Gegenstand“ und seiner „einzelnen Grade der Habitualisierung“ am Beispiel der zunehmenden Maschinisierung der Hüttenindustrie.45 Wenige Jahre später sollte die Analyse von Arbeit als ‚Verhalten zum technischen Gegenstand‘ einer erneuten Revision unterzogen werden. Die bis heute zu verzeichnende Veränderung einer maschinellen Umwelt hin zu einer technischen Infrastruktur, in der „bereits ein minimaler Kontakt – ja sogar ein Telekontakt – all das in Bewegung zu setzen vermag, was die fortschrittlichste Technologie dem Computer an Möglichkeiten mitgegeben hat“,46 wurde früh registriert. Genauso frühzeitig wurden in genau diesem Zusammenhang auch die Grenzen der Habitualisierungs-Kategorie gesehen. Der Begriff der Habitualisierung47 war auch deswegen in die Diskussion eingegangen, da sich um die alten Begriffe ‚Brauch‘ und ‚Gebrauch‘ – mit der Hinzunahme der ‚Verbrauchs-Kategorie‘ unter dem Schlagwort ‚waste economy‘ – diesseits und jenseits des Atlantiks gerade eine erbitterte Auseinandersetzung um die richtige Charakterisierung der ‚westlichen Zivilisation‘ anbahnte, die einige politische Denker vor dem gänzlichen Aufgehen in Kategorien des Verbrauchs bewahren wollten: „Die Welt, das Haus“, schreibt etwa Hannah Arendt 1958, „das der Mensch sich selbst auf Erden baut und verfertigt von dem Material, das die Natur der Erde ihm in die Hand gibt, besteht nicht aus Gütern, die verbraucht und verzehrt werden, sondern aus Gegenständen und Dingen, die gebraucht werden können.“48 Michel de Certeau erläutert den Zusammenhang von ‚Brauch‘ und ‚Gebrauch‘ 20 Jahre später dann zwar noch einmal mit einem deutlichen Akzent in Richtung auf eine Kritik der Konsumgesellschaft, aber er macht gleichzeitig den Versuch, das ursprünglich volkskundliche Konzept des ‚Brauchs‘
45 Vgl. Popitz/Bahrdt/Jüres et al. (Hrsg.): Technik und Industriearbeit, S. VI, 112 u. 121. 46 Moles: Design und Immaterialität. In: Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein, S. 169. 47 Den vorgängigen Begriff ‚habitus‘ hat Josef Pieper philosophiegeschichtlich situiert. Vgl.
Pieper: Tugendlehre als Aussage über den Menschen. In: Ders.: Tradition als Herausforderung, S. 154 f. 48 Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 158 f.
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aus seiner Nähe zum ‚Gebrauch‘ heraus zu erklären. Zumindest damit wird er zu einem wichtigen Anreger des hier vorgelegten Wörterbuchs: Die Formen des Gebrauchs […] bezeichne ich als ‚Bräuche‘, auch wenn dieses Wort meistens die stereotypen Prozeduren bezeichnet, die von einer Gruppe übernommen und reproduziert werden, also ihre ‚Sitten und Gebräuche‘. Das Problem liegt in der Doppeldeutigkeit des Wortes, denn es handelt sich gerade darum, in diesen ‚Bräuchen‘ Handlungen oder ‚Aktionen‘ […] zu erkennen, die ihre eigene Form und Erfindungskraft haben und die insgeheim die ameisenhafte Tätigkeit des Konsums organisieren.49 DIE NATÜRLICHKEIT DER TECHNIK Webers, Geigers und Popitz’ Konzept
der Habitualisierung wird als ausformulierte Disziplin zuerst von der sich modernisierenden deutschen Volkskunde in den 1960er Jahren aufgegriffen.50 Das verheißungsvolle Konzept der Gebrauchsform war zuvor in den ideologisch-toten Seitenarm der Volksform überführt worden.51 Aus politischer Brauchtumskunde wird eine moderne Gebrauchskunde und Technikforschung.52 Die webersche Unterscheidung von Übung und Eingelebtheit wird nun gerade produktiv zusammengezogen, um die Natürlichkeit und Umwelthaftigkeit der neuen Technik zu analysieren. „Es wird dann plötzlich klar“, schreibt der Begründer der modernen Volkskunde (als Ethnographie des Alltags) in Deutschland, Hermann Bausinger, daß die ‚Natürlichkeit‘ der Technik nicht daraus entsteht, daß man diese völlig beherrschte, sondern daß sie Ergebnis der Gewöhnung und des Umgangs ist.
49 Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 79. 50 Unbedingt erwähnt werden muss auch Hans-Dieter Bahrs Pionier-Studie ÜBER DEN UM-
GANG MIT MASCHINEN von 1983. Bahr: Über den Umgang mit Maschinen, S. 151 f. u. ö.
51 Vgl. Dexel: Deutsches Handwerksgut, S. 12, 15: „Der gesunden, organisch weiterwachsenden
Formentwicklung folgen heißt aber, die Betrachtung der Prunkformen ausschalten und nur die Gebrauchsform behandeln. […] Wenn gleichbleibende Begabung, gleichbleibender Zweck und gleichbleibender Werkstoff ungestört zusammenwirken und die Formgebung einer Landschaft laufend beeinflussen, so entstehen die bodenständigen, an Volk und Land gebundenen Dauerformen, die man auch Volksformen nennen kann.“ 52 Vgl. Homepage Kulturwissenschaftliche Technikforschung. Unter: http://technikforschung. twoday.net/ [aufgerufen am 27.06.2013] und den wunderbaren Text von Fickers: Design als ‚mediating interface‘. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, S. 199–213.
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Jetzt zeigt es sich, daß man den technischen Ablauf nicht durchschaut. Ein Kind erschrickt, wenn es zum erstenmal die Taste des Rundfunkgeräts drückt und Musik antwortet; aber nachdem es sich an diese Antwort gewöhnt hat, erschrickt es ebenso, wenn sie einmal aus irgendwelchen Gründen ausbleibt. In der Lage dieses Kindes befindet sich jeder, sobald ein gewohnter technischer Vorgang, den er im Grunde nicht versteht, aus irgendeiner Ursache unterbrochen wird.53
Greifen wir Bausingers Idee der umweltkonstituierenden eingelebten Undurchschaubarkeit des medientechnischen Gebrauchs auf.54 Es ist die alte Frage, ob man sich technischer Medien lediglich bedient bzw. sie nutzt oder ob der Umgang mit Medien – ähnlich wie der Umgang mit Menschen – das Wesen, den Charakter, die Gattung formt, die sich hier neu stellt.55 Die Zentrierung um den Gebrauch jedenfalls versperrt die alten Reflexe, Medien pauschal entlang praxisferner Demarkationslinien anzusiedeln. Diese Linien hatten bisher Fortschrittlichkeit (als Interaktivität beispielsweise) von Schädlichkeit (als passive Berieselung) abgetrennt. Damit wäre eine zentrale, kulturindustriell grundierte Unterscheidung aus der (Medien-)Theorie vom Tisch. Aber welche Möglichkeiten, Rückkopplungen und Determinationen erfährt das Denken und Handeln derjenigen Menschen dann, die sich spielerisch-euphorisch, unbewusst oder auch nüchtern-gewinnorientiert einem täglichen Umgang mit der Technik, d.h. mit der Medientechnik, aussetzen? Heutige Entwicklungen, wie das moderne 3D-Kino oder der auf beliebige Oberflächen projizierbare Touchscreen, stellen uns eine (neue) Körperlichkeit des Mediengebrauchs in Aussicht, die in direktem Zusammenhang mit der Leichtigkeit zu stehen scheint, die der User täglich, weltweit und millionenfach an den Tag legt, wenn es beispielsweise darum geht, eine virtuelle Identität
53 Bausinger: Volkskultur in der technischen Welt, S. 43. Derselbe Gedanke (am selben Bei-
spielmedium entwickelt) findet sich schon bei Hagemann: Vom Mythos der Masse, S. 292.
54 Zum Umwelt-Begriff vgl. den Auszug aus einer leider unveröffentlichten Vorlesung Josef
Piepers WELT UND UMWELT von 1950. [Pieper: Welt und Umwelt. In: Ders.: Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Grundstrukturen menschlicher Existenz. In: Ders.: Werke in 8 Bänden, Bd. 5, S. 180–206]. 55 Erstaunlicherweise hat sich die als eigene Forschungsrichtung längst etablierte Environmental History der Umwelt als einer zunehmend medientechnisch geprägten und konstituierten Umwelt noch kaum angenommen. [Vgl. etwa Simmons: Global Environmental History; Mosley: The Environment in World History; Radkau: Natur und Macht].
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in sozialen Netzwerken zu hinterlegen. Wie man heute weiß, hat auch diese Leichtigkeit eine Kehrseite: Der Kontrollverlust über die eingestellten Daten droht unmittelbar. Der Schrecken darüber stellt sich beim Benutzer allerdings immer noch plötzlich ein. Der Mediengebrauch ist tatsächlich keine isolierte und temporäre Inanspruchnahme eines technischen Geräts, sondern verschaltet oder verstrickt den Benutzer mit technischen Infrastrukturen, die zunehmend z.B. als gewaltige, aber störungsanfällige, anonyme Daten- und Warenlogistik ins Bewusstsein der User treten. In der Abwesenheit des selbstverständlichen Funktionierens wird plötzlich spürbar, dass wir längst vollständig abhängig sind von einer perfekt organisierten ‚Supply Chain‘, die unser Leben prägt – von der privaten Reiseplanung bis zu den Marktbewegungen ganzer Volkswirtschaften. Die Logistik ist deshalb die DNA einer globalisierten Welt.56
Die kulturwissenschaftliche Forschung – deshalb wird hier ein tagesaktuelles Medium zitiert – kommt mit den Analysen dieser Verhältnisse nur langsam nach.57 Der Mediengebrauch als nur halbbewusste, eingeübte und schließlich eingelebte Interaktionsroutine mit sich wandelnden technischen Umwelten wird aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu einem kulturstiftenden stabilisierenden Gebarensmodell (Th. Geiger) des Menschen. Dass die neueste GeräteGeneration der Computertechnologie den Gebrauch wieder in quasi-natürliche Gesten des Zeigens, Herüberziehens und Nachformens bringt, erscheint wie eine ironische Reminiszenz der Hypertechnologie an die Anthropologie. Die Entwicklung ist hier so rasant, dass sich Begriffe für diese Gebrauchsweisen kaum mehr etablieren: Die sanfte, teilende, wischende oder ziehende Fingerkuppenbewegung auf den Displays der iPhones hat – anders als das Scrollen
56 Engelke/Osswald: Pantarhei – alles fließt. In: Die Welt, S. 2. Zum Forschungsstand selbst
vgl. Neubert: ‚The End oft the Line‘. In: Bublitz/Kaldrack/Röhle et al. (Hrsg.): Unsichtbare Hände Automatismen in Medien-, Technik- und Diskursgeschichte, S. 191–214. Und: Dommann: Handling, Flowcharts, Logistik. In: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte, S. 75–103. 57 Vgl. aber Laack: Infrastrukturen. In: König (Hrsg.): Alltagsdinge, S. 81–91.
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oder Tippen – keinen stabilen Begriff mehr ausgeprägt, bis heute keine Benennung mehr erfahren: „Unsere Gewißheiten sind Bestandteile unserer Körper.“58 Umso dringlicher müssen diese Gesten, Techniken, Interaktionen beschreibbar gemacht und historisiert werden.59 Es müssen zwischen der übermächtigen Umwelt und dem ungezählten Einzelnen Einübungen, Routinen, Ebenen und Prozesse ausgemacht werden, die weder Anonymität androhen noch Intimität versprechen, sondern Beschreibbarkeit gewährleisten. Dieses Wörterbuch will die kultur- und medienwissenschaftliche Beschreibbarkeit ansteuern, die die Phantome (M. de Certeau) der Gebräuche transparenter machen, welche uns mit der Umwelt verbinden – und mit welchen wir unsere Umwelten, einer unausweichlichen materialen Dialektik gehorchend, konstituieren. ANEKDOTEN UND FALLGESCHICHTEN Solche Aufhebungen von etablierten
Unterscheidungen werten auch das Anekdotische auf.60 Es ist für den ehemaligen Artillerieoffizier Eugen Rosenstock-Huessy deshalb weit mehr als ein Detail, dass die Bolschewiki nach ihrem Sieg vom 7. November 1917 in Petrograd schon am 12. November 1917 vom (zurück-)eroberten Radio-Sender ZarskojeSelo aus „ihre Leitartikel ‚an alle‘ funken“.61 Für Rosenstock-Huessy ist dies eine logische medienstrategische Maßnahme, die sich in einer langen Kette revolutionshistorischer Kontexte stetig wiederholt: „The Russian broadcasts in 1917 ‚to all‘ men are no more universal than the Lutheran pamphlets written for all Christians or the English Great Remonstrance addressed to the public.“62
58 Gebauer: Hand und Gewißheit. In: Kamper/Wulf (Hrsg.): Das Schwinden der Sinne, S. 248.
Dazu auch Stingelin/Thiele (Hrsg.): Portable Media. und Robben/Schelhowe (Hrsg.): Begreifbare Interaktionen. 59 Für einen beschreibenden Ansatz vgl. Flusser: Gesten. 60 Vgl. Weber: Anekdote. 61 Marcu: Lenin, S. 274. Der vollständige Funkspruch ist abgedruckt in: Lenin: Werke, S. 265. Dazu ausführlicher Figes: Die Tragödie eines Volkes, S. 509 ff. Zum (immer noch) „morsealphabetischen“ Funkspruch vom November 1917 vgl. Schrage: ‚Anonymes Publikum‘. In: Gethmann/ Stauff (Hrsg.): Politiken der Medien, S. 179. Die Adressierung des Funkspruchs ‚An alle! An alle!‘ untersucht medienhistorisch Schneider: Radiophone Praktiken des (Selbst-)Regierens in der Weimarer Republik. In: Dies./Otto (Hrsg.): Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung, S. 37 f. 62 Rosenstock-Huessy: Out of Revolution, S. 467 f.
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Dieses Detail der Russischen Revolution ist dem Autor von OUT OF REVOLUTION im Übrigen so wichtig, dass er es 28 Jahre später – wenige Jahre vor seinem Tod – erneut hervorholt, um es noch zu ergänzen und aus ihm die ‚Öffentlichkeit‘ als mediale Praxis abzuleiten: Als die Bolschewiki 1917 ihre Funksprüche an Alle in die Welt funkten, als die deutschen Funker 1918/19 beim Zusammenbruch einen eigenen Funkerstaatssekretär verlangten und zu seiner Erzwingung mit dem Streik drohten, da trat nicht die menschliche Sprache in den einzelnen zurück; vielmehr wurde ein neues Vervielfältigungsmittel dem Buche angereiht und wurde ‚politisch‘ wichtig.63
Dieser neue Posten eines ‚Funkerstaatssekretärs‘ wurde am 1. April 1921 mit dem Ingenieur, Ministerialdirektor im Reichspostministerium und späteren Vorsitzenden der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft Hans Bredow, der in diesem Jahr auch den Begriff ‚Rundfunk‘ prägte, besetzt.64 Schließlich aber wird sichtbar, dass diese aus verschiedenen anekdotischen Beständen rekonstruierte Geschichte, in der sich die Zeitungsredaktion durch den Funkverkehr ersetzt sah, von einigen bolschewistischen Theoretikern, Akteuren und Praktikern selbst schon in geradezu McLuhan’scher Manier verstanden wurde: Ein schnelleres, effektiveres Medium hat immer ein anderes älteres und langsameres zum Inhalt und das schnellere hatte sich das langsamere Prinzip als „Mittel zu freier Transformation“65 angeeignet – oder in den noch einfacheren Worten Lenins: Man hatte „eine Zeitung ohne Papier“ kreiert, wie dieser am 2. Februar 1920 in einem kurzen Brief an den ehemaligen zaristischen Fernmeldeoffizier und Leiter des ‚Radio-Laboratoriums Nischni-Nowgorod‘ Michael Alexandrowitsch Bontsch-Brujewitsch schreibt: Ich benutze die Gelegenheit, Ihnen für die große Arbeit, die Sie auf dem Gebiet der Radioerfindungen leisten, meine tiefe Dankbarkeit und Sympathie auszudrücken. Die Zeitung ohne Papier und ‚ohne Entfernungen‘, die Sie schaffen, wird
63 Rosenstock-Huessy: Buch und Funk. In: Hundert Jahre Kohlhammer 1866–1966, S. 253 f. 64 Vgl. dazu Lerg: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik, S. 38 ff. Zu Funktechnik und
Kriegsführung im Ersten Weltkrieg informiert umfassend Kaufmann: Kommunikationstechnik und Kriegsführung 1815–1945, S. 260–278. 65 Valéry: Cahiers/Hefte, S. 23.
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eine großartige Sache sein. Ich verspreche Ihnen, Sie bei dieser und bei ähnlichen Arbeiten in jeder Weise und nach Kräften zu unterstützen.66 WORT- UND SACHGESCHICHTEN Der Leipziger Soziologe und Historiker
Hans Freyer, der als Emeritus zwischen 1953 und 1963 (wiederum zeitgleich mit Conze und Rosenstock-Huessy) an der Universität Münster lehrte, prägte 1959 aus einem konservativen Verständnis der Industriegesellschaft (und gleichzeitig als ein weiterer deutscher Pionier der Industriesoziologie neben RosenstockHuessy67) die kulturkritische Formel vom Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft, um die spezifische etymologische und semantische Dynamik dieses Begriffsfeldes näher zu untersuchen. Dabei nahm sich Freyer das Wort ‚schalten‘ zuerst vor und wechselte damit schon frühzeitig in das von uns favorisierte aktivische Register möglicher Einträge in ein historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. „Es hing noch vor 150 Jahren mit walten zusammen“, beginnt er, um seinen Ausführungen noch eine Klassiker-Lektüre vorschalten zu können, das Subjekt eines Schaltens und Waltens war etwa die züchtige Hausfrau in Schillers Lied von der Glocke, und jedenfalls schaltete man nicht irgend etwas, sondern man schaltete irgendwo, irgendworin, in einem Tätigkeitsbereich, im Raum einer Verantwortung. Heute ist das Verbum schalten klar transitiv geworden, und es hat sich auf technische Verrichtungen konzentriert. […] Der andere, korrelative Prozeß, gleichfalls in allen heutigen Sprachen im Gang, besteht darin, daß Worte, die in der Technik ihren Ursprung haben, weit über sie hinausgreifen und dann z. B. auch seelische Zustände, sittliche Haltungen, soziale Beziehungen und Verhältnisse bezeichnen können. So etwa Einstellung, Leerlauf, Friktion, ankurbeln, auslösen und hundert andere. Beide Prozesse können sich übrigens auch durchdringen und überlagern.68
66 Lenin: Briefe, S. 134. Zu Michael Alexandrowitsch Bontsch-Brujewitsch (1888–1940) vgl.
den gleichnamigen Artikel in Jäger (Hrsg.): Lexikon der Elektrotechniker, S. 49 f.
67 Vgl. Rosenstock: Der Lebensraum des Industriearbeiters. In: Fürstenberg (Hrsg.): Industrie-
soziologie I: Vorläufer und Frühzeit 1835–1934, S. 219–228 und ders.: Vom Industrierecht.
68 Freyer: Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriel-
len Gesellschaft. In: Ders.: Gedanken zur Industriegesellschaft, S. 131 f.
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Diese korrelativen Prozesse der Sprachumbildung in (hoch-)technischen Umgebungen nennt der österreichisch-kroatische Philosoph Ivan Illich 20 Jahre später ‚technische Kreolisation‘.69 Er hebt aus ihnen allerdings noch einmal „Schlüsselwörter“ heraus, denen er – wie etwa der Vokabel ‚Transport‘ – die suggestive, den „Anschein von common sense“ vermittelnde Bezeichnung von „Grundbedürfnissen“70 unterstellt. Beiden Beobachtungen ist unübersehbar ein kulturkritischer Vorbehalt eingeschrieben.71 Wir wollen die produktive Kraft dieser denkerischen Tradition nicht in Frage stellen, sind aber der Meinung, dass wir es hier auch mit der spezifischen Produktivität eines weitverzweigten Diskurses industrieller und postindustrieller Gesellschaften zu tun haben, den man nun zeitgemäß fortsetzen sollte.
69 Zu Illichs wissenschaftlicher Biografie vgl. Kaller-Dietrich: Ivan Illich (1926–2002). Eine
problematische Fortsetzung erfährt Illichs Arbeit u.a. in Pörksen: Plastikwörter.
70 Illich: Genus, S. 12. 71 Die beiden Texte von Illich und Freyer haben – auch in ihren Entstehungsbedingungen –
mehr gemein, als man vermuten würde. Freyers gesammelte ‚Gedanken zur Industriegesellschaft‘ erscheinen erst 1970. Illichs Analyse des ‚Transports‘ als eines ‚Schlüsselwortes‘ der Industrialisierung geht zurück auf seine umfassende Analyse des Verkehrs als einer ‚Technologie mit hohem Energieverbrauch‘, die er in seiner Schrift ‚Energie und Gerechtigkeit‘ 1970 und 1971 am Center for Intercultural Documentation in Cuernavaca (Mexiko) entwickelte und 1973 in ‚Le Monde‘ erstmals veröffentlichte. Vgl. Illich: Energie und Gerechtigkeit. In: Ders.: Fortschrittsmythen, S. 73–112. Illichs zweite umfangreiche Schrift aus dieser Periode, TOOLS FOR CONVIVIALITY (1973), legt eine gemeinsame Quelle von Freyers und seinen Überlegungen zu ‚Technik und Industrialisierung‘ nahe: Lewis Mumfords materialreiches Buch TECHNICS AND CIVILISATION (1934) bzw. sein Spätwerk THE MYTH OF THE MACHINE, das zwischen 1967 und 1970 erschien. Vgl. Illich: Selbstbegrenzung, S. 53.
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A
Anekdote Auflegen
AUFLEGEN ERIK VEENSTRA
ANEKDOTE Die Kamera zeigt einen kleinen Raum mit dunklem Holzinterieur,
weiße Zugjalousien halten Sonnenstrahlen von den im Halbkreis angeordneten Fenstern ab. Wir sehen: 30 Plattenspieler inklusive Schallplatten auf den Plattentellern, die meisten davon auf dem Boden, 30 perfekt sitzende Anzüge, 60 Schuhe, dazu eine Menge Kabel und Tontechnik: The Philharmonic Turntable Orchestra in voller Aktion.1 Am 19. April 2018 veröffentlichte Panasonic das Video, das einige der weltbesten Turntablisten dabei zeigt, wie sie Mendelssohns KONZERT IN E-MOLL, eine der ersten weltweit gepressten Langspielplatten, nach einer dreitägigen Probephase live remixen.2 Das Setting wirkt merkwürdig – dieser feierliche, orchestrale Habitus inmitten verkabelter Tonabspielgeräte. Die Bearbeitung ist ebenso eine blasphemische Zerstückelung der Musik in ihre atomaren Bestandteile und kleinsten gemeinsamen Nenner wie eine filigrane, technisch versierte Neukomposition unter Aneignung von „störrischer Technik“3 als Instrumentarium. Dass Panasonic, weltweit führender Technikkonzern und Herstellerfirma der ikonischen Technics-Turntables, einen derartigen Promotionsaufwand für ein solches Projekt betreibt, zeigt die weiterhin bestehende Strahlkraft der popkulturellen Figur des DJ.4 Wer war nun aber der erste DJ? Der amerikanische Patentanmelder der Triode, Lee De Forest, sendete 1907 aus seinem New Yorker Labor eine Aufnahme der OUVERTÜRE ZU WILHELM TELL von Rossini für die wenigen Radioempfänger
1 Hierbei handelt es sich mitnichten um das erste Musikprojekt, das den Plattenspieler als
eigenständiges Instrument und DJs als Musiker ansieht. Bereits in den 1990er Jahren gab es im Hip-Hop- und Turntablism-Bereich einige Ensembleprojekte, die rein mit Plattenspielern neue Musik produzierten. Vgl. hierzu Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 278. 2 Vgl. Juice: Das „Philharmonic Turntable Orchestra“ interpretiert Mendelssohns „Violinkonzert in e-Moll“ neu // Video. In: Juice Videos. Unter: www.juice.de/das-philharmonicturntable-orchestra-interpretiert-mendelssohns-violin-concerto-in-e-minor-video [aufgerufen am 02.11.2019]. 3 Schrey: Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur, S. 245. 4 Vgl. Oricon: The Philharmonic Turntable Orchestra. In: YouTube. Unter: www.youtube.com/ watch?v=55AQBdwytKU [aufgerufen am 02.11.2019].
36
des frühen 20. Jhs. über den Äther. Er selbst postulierte: „I was the first disc jockey“5 – in Wirklichkeit war ihm jedoch Reginald Fessenden zuvorgekommen, der am Heiligabend 1906 in Massachusetts für die funkbefähigten Schiffe an der US-Ostküste die vermutlich erste frei empfängliche Radiosendung der Welt aussendete und dabei auf seinem Phonographen eine Schallplattenaufnahme von Händels LARGO aus XERXES einspielte.6 Die beiden Pioniere scheinen ihre Forschungsversuche unabhängig voneinander ohne Kenntnis des jeweils anderen durchgeführt zu haben. Wie in vielen mediengeschichtlichen Arbeiten kann hier festgestellt werden, dass das Wiedergeben einer scheinbar linearen Geschichtsschreibung mit festgeschriebenen Erfindungsdaten und aufeinanderfolgenden Verbesserungen eine simplifizierte Darstellung voller Auslassungen wäre.7 Zum Zeitpunkt von Fessendens Weihnachtsansprache mit Musikuntermalung war die Schallplatte – geht man nach der Anmeldung des Patents für scheibenförmige Tonträger durch Emil Berliner im Jahr 18878 – schon beinahe 20, Edisons Skizzen zum Phonographen sogar fast 30 Jahre alt und Schallplattenhören im privaten Umfeld bereits gängig.9 Das Auflegen einer Schallplatte ist dementsprechend in der engeren Definition nicht nur eine durch DJs mit Sendungsbewusstsein stattfindende Aufführungspraktik. Es ist vielmehr eine Tätigkeit, die dem privaten Musikkonsum im inzwischen vergangenen Zeitalter des Massenmediums Schallplatte notwendigerweise voranging und daher als synonyme Bezeichnung für das Musikabspielen und anschließende -hören verwendet wurde und wird. Dennoch soll es in diesem Artikel um den engeren Mediennutzungsbegriff des Auflegens gehen, der die Tätigkeit des Musikauflegens für ein Publikum – sei es in Form einer Radiohörerschaft oder auf der Tanzfläche einer Diskothek – bezeichnet.
Anekdote Auflegen
A
5 Poschardt: DJ Culture, S. 50. 6 Vgl. Poschardt: DJ Culture, S. 53 f.; Laube: (Art.) Übertragen. In: Christians/Bickenbach/
Wegmann (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 2, S. 458; Brewster/ Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 28 f. 7 Vgl. (Art.) erfinden in diesem Band, S. ###. 8 Vgl. Riess: Knaurs Weltgeschichte der Schallplatte, S. 25 ff. 9 Vgl. Gronow/Saunio: An International History of the Recording Industry, S. 1 f.
37
Etymologie Auflegen
ETYMOLOGIE Bereits um 1000 n. Chr. taucht das althochdeutsche ‚ūfleg
( g)en‘ auf.10 In den meisten hochdeutschen Nachschlagewerken sind – falls Auflegen als eigenständiges Lemma genannt wird – die folgenden Bedeutungen angeführt: das Auferlegen einer Entbehrung oder einer Strafe, das Auslegen zur An- und Einsicht, sich mit jemandem anlegen, im Verlagswesen ein Werk vervielfältigen und herausbringen, in der Wirtschaft Waren in einer hohen Stückzahl fabrizieren, ein Wertpapier anbieten oder in der Seefahrt ein Schiff stilllegen. Die gängigste Gebrauchsform des Wortes auflegen im Sinne des Beendens eines Telefongesprächs wird meist erwähnt.11 Die ebenfalls im konkreten „auf etwas Legen“ begründete Bedeutung des Auflegens als Schallplattenabspielen hingegen wird in einigen Lexika ausgespart und taucht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. auf. Anhand der Lexikoneinträge zum Auflegen lässt sich der gesellschaftliche Status des Mediums der Schallplatte ablesen: In WEIGANDS DEUTSCHEM WÖR12 TERBUCH von 1909 gibt es kein Lemma zum Auflegen, ebenso wie in TRÜB13 NERS DEUTSCHEM WÖRTERBUCH von 1939. Im WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN GEGENWARTSSPRACHE von 1964 hat das Auflegen einen eigenen Eintrag, und neben den vielen oben bereits genannten anderen Bedeutungen heißt es hier auch: „eine neue (Schall)-platte a. (auf den Teller des Grammophons legen)“.14 In der 1984 erschienenen Neuauflage desselben Wörterbuchs ist das Grammophon sowie die Neuartigkeit der Schallplatte aus dem Eintrag verschwunden. Er lautet nun „eine (Schall)-platte a. (auf den Teller des Plattenspielers legen)“.15 Im DUDEN von 1999 heißt es bereits „eine alte [Schall]platte a. (auf den Teller des Plattentellers legen)“.16 Eine Schallplatte ist jetzt, gut zwei Dekaden nach der Einführung der CD,17 ein historisch konnotiertes Abspielmedium, gleichwohl spricht man immer noch vom Auflegen. Hier zeigt sich bereits eine Bedeutungsverschiebung des Begriffes. 10 11 12 13 14 15 16 17
38
Vgl. (Art.) Legen. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 2 (1989), S. 989 f. Vgl. (Art.) Auflegen. In: Duden, Bd. 1 (2014), S. 236. Vgl. Deutsches Wörterbuch (1909), S. 106. Vgl. Trübners Deutsches Wörterbuch, Bd. 1 (1939), S. 147. (Art.) Auflegen. In: Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Bd. 1 (1964), S. 259. (Art.) Auflegen. In: Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Bd. 1 (1984), S. 91. (Art.) Auflegen. In: Duden, Bd. 1 (1999), S. 336. Vgl. Gronow/Saunio: An International History of the Recording Industry, S. 191 f.
A vom öffentlichen Kontext des Auflegens. Zwar legt man streng genommen auch dann eine Schallplatte auf, wenn man dies für sich alleine tut, doch im weiteren Wortsinn kann nur dann vom Auflegen gesprochen werden, wenn man für mindestens eine andere Person Musik auflegt. Dem Senden von Musik über das Radio beispielsweise wohnt „das Gefühl von Gemeinsamkeit in der Gleichzeitigkeit eines feierlichen Moments“18 inne, das sich nur im faktisch anwesenden oder über den Signalübertragungsweg erreichten Publikum manifestiert. Das Auflegen erscheint somit nicht nur als rein technischer Vorgang, der zum Erklingen von Musik ‚aus der Büchse‘ notwendig ist, sondern als prozessualer Akt des Vermittelns, der das Herzeigen von Musik bezeichnet und ausmacht. Im DUDEN von 2014 taucht die Wortbedeutung des Auflegens im DJ-Kontext auf: „wer legt heute auf ? (wer arbeitet heute als Discjockey?)“.19 Dieser Unterpunkt des Lemmas weist keine Referenz zur Schallplatte auf, sondern benutzt den Begriff des Auflegens als singuläre Tätigkeitsbeschreibung. Somit ist ein DJ also jemand, der auflegt, aber nicht notwendigerweise mit ‚alten‘ Schallplatten. Ein erster historischer Kontext des Auflegens im Sinne des DJing war eng mit der Erfindung des Radios verbunden. Das Auflegen war hier eine Verbindungstätigkeit zwischen der speichermedialen Technik der Phonographie und dem elektromagnetischen Übertragungsmedium des Radios.20 Nach den Vorstößen von Fessenden und De Forest sollte es jedoch einige Jahre dauern, bis das Abspielen von Schallplatten im Radio zur Norm wurde. Live-Musik war den Schellack-Platten klanglich weit überlegen. Zu Zeiten der großen Depression in den USA konnten es sich allerdings nur die größten Radiosender leisten, Studio-Orchester zu betreiben – der Rest verließ sich aufs Grammophon. Wie oftmals in der Geschichte trat das Auflegen in direkte Konkurrenz mit dem Musizieren, wobei das reine Abspielen einer Platte für Publikum als minderwertiger galt, da es nicht nur schlechter klang, sondern die Musiker
Kontexte Auflegen
KONTEXTE Schon die Urszene des DJing in Fessendens Radiosendung zeugt
18 Laube: (Art.) Übertragen. In: Christians/Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches Wör-
terbuch des Mediengebrauchs, Bd. 2, S. 467.
19 (Art.) Auflegen. In: Duden, Bd. 1 (2014), S. 236. 20 Vgl. Laube: (Art.) Übertragen. In: Christians/Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches
Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 2, S. 470 sowie 477.
39
Kontexte Auflegen
auch nicht zusätzlich dafür bezahlt wurden, was zu Konflikten zwischen Orchestermitgliedern und deren gewerkschaftlicher Vertretung, Radiosendern, Plattenfirmen und den staatlichen Instanzen führte. Bei kleineren Sendern versuchten einige Radio-DJs sogar, das Publikum darüber zu täuschen, aus welcher Quelle die ihnen dargebotene Musik stammte, und behaupteten, eine bestimmte Band sei vollzählig bei ihnen im Studio – obwohl die Musik vom Grammophon kam.21 Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist zu erwähnen, dass bei den meisten Radio-DJs nicht nur die Musikauswahl, die oftmals aus mit großem Aufwand importierten Platten und anderen Raritäten bestand,22 sondern besonders auch die Fähigkeiten im Bereich der verbalen Unterhaltung geschätzt wurden. In KNAURS GROSSEM WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE heißt es 1985 unter dem Stichwort Diskjockey: „jmd., der Schallplatten auflegt und dazu unterhaltende Ansagen macht“.23 In der Nachkriegszeit gerieten Radio-DJs auch in Deutschland groß in Mode – in den ersten Jahren ebenfalls als „Nothilfe, da die Sender nicht mehr das nötige Geld hatten, um sich den Luxus eines eigenen Orchesters zu leisten“.24 Der Prozess des Auflegens, der händisch auf den im Radiostudio dafür vorgesehenen Plattenspielern stattfand, war hierbei einer des bewussten Selektierens: Radio-DJs erhielten im Zuge der „Plattenbemusterung“ von Plattenfirmen eine Vielzahl von Promotionsexemplaren.25 Die Titel, die die DJs auswählten und on air spielten, erfuhren also im Zuge der kritischen Auseinandersetzung mit der Masse an insgesamt eingesandter Musik eine positive Hervorhebung, die ihrerseits den Verkauf ankurbelte.
21 Vgl. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 38. 22 Vgl. Bayerischer Rundfunk: The Early Years. In: BR Podcast, ab Timecode 11:15. Unter:
www.br.de/mediathek/podcast/album-der-woche-im-zuendfunk/the-early-years-wernergoetze-blacky-fuchsberger-georg-kostya-und-jimmy-jungermann/1632621 [aufgerufen am 02.11.2019]. 23 (Art.) Diskjockey. In: Knaurs grosses Wörterbuch der deutschen Sprache (1985), S. 273. 24 Bayerischer Rundfunk: The Early Years. In: BR Podcast, Timecode 11:55. Unter: www.br.de/ mediathek/podcast/album-der-woche-im-zuendfunk/the-early-years-werner-goetze-blackyfuchsberger-georg-kostya-und-jimmy-jungermann/1632621 [aufgerufen am 02.11.2019]. 25 Vgl. ebd., ab Timecode 25:00.
40
Von den ersten Radio-DJs Anfang des 20. Jhs. über Schwarze BreakbeatJockeys und Disco-Helden bis zu den Superstar-DJs der 1990er Jahre – immer waren DJs konstitutiv für das gesellschaftliche Bild von und das Verhältnis zur Musik. Und nicht nur das: Wie der Payola-Skandal26 schon Mitte der 1950er Jahre zeigte, waren sie nicht nur industrieunabhängige Propheten neuer musikalischer Entdeckungen, sondern auch von der Musikwelt gut bezahlte Werbe- und Meinungsmacher. Ein zweiter, im Vergleich zum Radio unmittelbarerer Kontext des Auflegens lässt sich im Entstehen der Diskotheken als Musik- und Tanzorte ohne Konzertcharakter verorten: Hier waren DJs Menschen, die für ein im selben Raum befindliches Publikum moderierten und tanzbare Platten auflegten. In den USA waren es in den 1950er Jahren sogenannte ‚sock hop‘ Partys, bei denen Radio-DJs in lokalen Schulturnhallen – diese waren nur ohne Schuhe, also auf Socken zu betreten – Tanzveranstaltungen als Werbung für ihre Sendungen oder Sponsoren betrieben.27 Somit wurde das Auflegen nicht nur mittelbar, sondern unmittelbar zu dem performativen Akt, der es noch heute ist.28 Genau wie im Radio war auch in den frühen Diskotheken das Anmoderieren der für das Publikum aufgelegten Platten die bedeutendste Aufgabe eines Disc-Jockeys.29 Der deutsche DJ Klaus Quirini, der seit 1959 im Aachener Scotch-Club als Ansager fungierte und die verbalen Zwischenspiele immer als Hauptteil der DJ-Tätigkeit begriff, erklärt in seiner Autobiografie, der erste DJ in der weltweit ersten Diskothek gewesen zu sein.30 Andere Wegbereiter kamen ihm jedoch in allen wesentlichen Punkten zuvor. Bereits 1943
Kontexte Auflegen
A
26 Unter der Bezeichnung Payola (für „pay for play“) versteht man den amerikaweiten Skandal
um Korruption unter Radio-DJs, der 1959 sogar einen eigenen Kongressausschuss zur Folge hatte. Vgl. hierzu Poschardt: DJ Culture, S. 79 ff. 27 Vgl. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 58. 28 Vgl. Sinnreich: Mashed Up, S. 153. 29 Vgl. Bayerischer Rundfunk: The Early Years. In: BR Podcast, ab Timecode 24:44. Unter: www.br.de/mediathek/podcast/album-der-woche-im-zuendfunk/the-early-years-wernergoetze-blacky-fuchsberger-georg-kostya-und-jimmy-jungermann/1632621 [aufgerufen am 02.11.2019]. 30 Vgl. Quirini: Die Geschichte der Discotheken, S. 4 ff. Die in diesem Text verwendete Berufsbezeichnung „Plattenaufleger“ war dementsprechend für Quirini, der sich als professioneller Verbalunterhalter sah, ein Schimpfwort. Vgl. ebd. S. 59.
41
Konjunkturen Auflegen
veranstaltete Jimmy Savile mit einem improvisierten Soundsystem aus einem mit einem Kurbelgrammophon verbundenen Röhrenradio eine Tanzparty im englischen Leeds. In Deutschland tanzten bereits Jahre zuvor Swing-Kids zu verbotenen Jazzplatten,31 in Frankreich gingen die Pariser aus Mangel an Jazzbands während der deutschen Besatzung dazu über, Platten in Kellern an der Seine aufzulegen und dazu zu tanzen;32 die erste offizielle ‚discothèque‘ eröffnete vermutlich bereits 1944. Im Nachkriegslondon wurden ebenfalls in Kellern und Hinterzimmern Jazz-Tanzabende organisiert.33 Und auch als launischer Kommentator der gespielten Platten war Quirini nicht der erste: 1955 gab es ca. 500 Schwarze Radio-DJs in Amerika, von denen viele ihr ebenfalls Schwarzes Publikum im Jive-Slang unterhielten und in gereimter, sprachgewandter Art und Weise Songtitel ankündigten, Produkte bewarben34 und den Weg für die kommerzielle Verbreitung von Rhythm and Blues-Musik und deren von und für Weiße abgekupfertes Pendant, den Rock’n’Roll, ebneten.35 In den meisten Tanzetablissements spielten ursprünglich entweder Livebands oder Jukeboxen, die bereits seit 1889 existierten und somit gewissermaßen die Tätigkeit eines Plattenauflegers in automatisierter Form präfigurierten. DJs legten zum Beispiel in der Umbaupause zwischen zwei Konzerten auf.36 In Deutschland war es zudem üblich, dass die Schallplatten dem Etablissement, nicht dem DJ gehörten.37 Dies zeigt auch die eigentliche Bedeutung des Wortes Diskothek als „Schallplattensammlung“.38 KONJUNKTUREN Einige Dekaden nach dem Beginn der ersten Konjunktur
des Auflegens im Radio setzten sich ab den 1950er Jahren weltweit Diskotheken mit DJs durch, wobei sich davon ausgehend auch die technische Ausstattung der ‚Booth‘ genannten DJ-Pulte änderte. Jimmy Savile kam beispielsweise auf die Idee, zwei Plattenspieler mit dem Lautsprechersystem zu verbinden, um 31 Vgl. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 59. 32 Vgl. Poschardt: DJ Culture, S. 125. 33 Vgl. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 61 ff. 34 Vgl. ebd., S. 40 ff. 35 Vgl. Poschardt: DJ Culture, S. 105 ff. 36 Vgl. u. a. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 56 ff. 37 Vgl. Quirini: Die Geschichte der Discotheken, S. 56. 38 (Art.) Diskothek. In: Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Bd. 2, S. 827.
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die Pausen zwischen den Songs zu minimieren. So wurde, während die Diskotheken und mit ihnen erstmals auch die dort beschäftigten DJs Konjunktur erfuhren, die Grundkonstellation des heutigen Auflegens geboren: zwei Musikabspielgeräte, die das pausenlose Abspielen von aneinandergereihten Songs ermöglichten. Auch diese technische Erweiterung des Equipments war bereits an verschiedenen Orten von verschiedenen Akteuren mit abweichenden Vorrichtungen ausprobiert worden. Schon 1955 spielte der amerikanische DJ Bob Casey bei New Yorker ‚Sock-Hops‘ mit einem maßangefertigten Doppelturntable mit zwei Lautstärkereglern und einem Umschaltknopf.39 Die dritte Konjunktur des Auflegens kann zu dem Zeitpunkt angesetzt werden, als die DJs das durch moderierende Rede konterkarierte Feld des bloßen Abspielens von Schallplatten verlassen hatten, sich aber auch nicht mehr mit dem Aneinanderreihen thematisch passender, tanzbarer Musiknummern begnügten, sondern begannen, eigene Manipulationen am Sound vorzunehmen. Der frühe Disco-Sound und High-Energy waren hier die prägenden Musikrichtungen.40 Ende der 1960er Jahre begannen DJs in Underground Clubs von New York, die Drum Parts zweier Platten – wobei es sich um zwei Exemplare derselben Platte handeln konnte41 – ineinander zu mischen, um so die rhythmischen Trommelparts der Songs zu strecken.42 Schließlich wurden einige DJs nach und nach selbst zu Musikproduzenten: Sie begannen eigene, längere und tanzbarere Versionen ihrer Lieblingsstücke zu erarbeiten, indem sie die an den Plattentellern erprobten Techniken bei der Studioarbeit anwandten.43 So schufen sie einen Kreislauf, der ausgehend von der unsachgemäßen Behandlung von Songs auf Schallplatten eine neue Musikpraxis begründete, deren Früchte schließlich wiederum auf eigenen Schallplattenpressungen veröffentlicht und im Club erneut gemixt wurden.44 Gerade innerhalb der oftmals improvisierten Heimstudios der ersten Stunde waren Kassettenaufnahmegeräte
Konjunkturen Auflegen
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39 Vgl. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 59. 40 Die Diskotheken, in denen dieser Sound gespielt wurde, wurden meist von homosexuellen
und nicht-Weißen Partygängern frequentiert und auch betrieben, sodass sich die Geschichte der Schwulenszene und der Clubs an vielen Punkten überschneiden. Vgl. hierzu u. a. ebd., S. 134 ff. 41 Vgl. Goetz/Westbam: Mix, Cuts & Scratches, S. 50. 42 Vgl. Campana: Vinylmania, ab Timecode 2:30. 43 Vgl. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 137. 44 Vgl. Goetz/Westbam: Mix, Cuts & Scratches, S. 132.
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Konjunkturen Auflegen
und Tonbandmaschinen wichtige Werkzeuge, um Material aufzunehmen, zusammenzuschneiden und wiederzugeben. Einige DJs spielten im Radio und in Diskotheken neues, unveröffentlichtes oder seltenes Material – das nicht auf Vinyl veröffentlicht worden war – auf Kassetten oder Tonbändern ein. Dennoch blieb die Schallplatte das Hauptmedium und der Begriff auflegen anstatt des Verbes einlegen als Synonym für das DJing im deutschen Sprachraum gebräuchlich. Club-DJing wird oft mit der Metapher des Geschichtenerzählens – Storytel ling – beschrieben und Schlagworte wie Narrativ, Dramaturgie und roter Faden werden benutzt, um den Verlauf und die Qualität eines DJ-Sets zu beschreiben. Wie aber läuft das Ineinandermischen zweier Songs ab? Auf einem Plattenspieler läuft ein Song auf einer Vinylplatte.45 Um das Tempo des neuen Musikstücks zu regulieren, benutzen DJs bis heute den Temporegler – Pitchfader – am Plattenspieler der zweiten Platte, die noch nicht laut zu hören ist, sondern hineingemischt werden soll. Im Zuge des Beatmatching werden dann beide Platten mit den Händen derart angestoßen oder zurückgehalten, dass die zwei Musikstücke punktgenau übereinanderlaufen. Nun wird nach und nach die neue Platte am Mischpult46 lauter und die alte Platte leiser gedreht. Schließlich läuft nur noch das neu hineingebrachte Musikstück und die DJs wenden sich ihrem Plattenkoffer zu, um eine Platte für den nächsten Übergang herauszusuchen. Diese Technik – durch ein gleichbleibendes Tempo dafür zu sorgen, dass die Tanzenden nicht aus dem wortwörtlichen Takt geraten – ist bis heute die Grundlage des DJing mit elektronischer Musik. So wird das
45 Nach über 20 Jahren, in denen verschiedene Ingenieure mit dem Werkstoff Polyvinylchlo-
rid experimentierten, kam 1948 die Vinyl-Schallplatte auf den amerikanischen Markt und verdrängte vergleichsweise schnell die zuvor übliche Schellack-Platte. Vgl. hierzu z. B. Gronow/Saunio: An International History of the Recording Industry, S. 192 ff. sowie Haffner: His Master’s Voice, S. 122 f. 46 Das erste kommerzielle DJ-Mischpult – genannt Mixer –, bei dem man zur besseren Soundmanipulation einzelne Frequenzbereiche (typischerweise Bässe, Mitten und Höhen) lauter und leiser stellen konnte, war der 1971 auf den Markt gebrachte Bozak (vgl. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 150). Die DJ-Geschichte ist jedoch reich an selbstgebautem Equipment, das viele Entwicklungen auf dem kommerziellen Audiomarkt vorwegnahm.
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Wort Mixen von DJs wie Westbam und Laurent Garnier47 in eigenen Texten als eine Art Synonym für das Auflegen angeführt. Hierbei wird klar, dass die Definition des Begriffes sich in Richtung einer Tätigkeit verschoben hat, die ein DJ ausführt, um für einen kontinuierlichen Musikfluss zu sorgen. Die aus den Manhattaner Disco-Clubs stammende Technik des Mixing gedieh auch auf Block-Partys in der New Yorker Bronx48 und wurde Grundlage für die Erfindung des Hip-Hop. Hierbei spielte das Ineinandermischen zweier Drum Breaks eine zentrale Rolle – daher auch der Name „breakbeat“.49 Hip-Hop entwickelte sich weiter und mit ihm auch die Handlungspalette der DJs, die nun neben dem Mixing auch andere Formen der Turntablism genannten Manipulation des Vinyl-Sounds am Plattenspieler beinhaltete. In Form von Techniken wie Scratching, Beat-Juggling und Backspinning50 verließ das Auflegen nun endgültig den Raum des Abspielens und auch den oben genannten Vorgang des reinen Mischens von Musikstücken in Richtung einer Neuinterpretation der auf Platten gepressten Musikstücke.51 Techno, eine von Kraftwerk und anderen Synthesizer-Projekten inspirierte, härtere Gangart des House,52 eroberte von Detroit aus ab Mitte der 1980er
Konjunkturen Auflegen
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47 Vgl. Goetz/Westbam: Mix, Cuts & Scratches, S. 56 sowie Brun-Lambert/Garnier: Elektro-
schock, S. 275.
48 Vgl. Schmidt: (Art.) Samplen. In: Christians/Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches
Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 2, S. 383. 49 Vgl. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 230. 50 Vgl. ebd., S. 277 ff. Scratching bezeichnet das „Vor- und Zurückdrehen der Schallplatte [auf dem Turntable] bei gleichzeitigem Öffnen und Schließen des Tonkanals an einem Mischpult“ (Schrey: Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur, S. 241). Backspinning ist das rhythmische Zurückdrehen der Platte – DJs benutzen dies als Soundeffekte oder, manchmal lautlos (also mit heruntergezogenem Fader am Mischpult), um zu einem gewissen Punkt des Songs zurückzukehren und diesen erneut abzuspielen. Beat-Juggling ist eine Weiterentwicklung des Scratchens, bei der ein Teil eines Beats intakt bleibt – anstatt wie beim Scratching zu einem verzerrten Quietschen umgestaltet zu werden – und mit einem anderen Beatteil einer anderen Platte zu einem neuen, collagierten Rhythmusmuster umarrangiert wird. 51 Vgl. ebd., S. 248. 52 Der Name dieses Nachfolgegenres des Disco-Sounds leitet sich vom Chicagoer ‚Warehouse Club‘ ab, in dem Ende der 1970er Jahre die ersten genuin elektronischen Tanzmusikstücke dieser neuen Stilrichtung gespielt wurden. Vgl. hierzu Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 266 ff.
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Konjunkturen Auflegen
Jahre als „letzte musikalische Revolution des Jahrhunderts“53 die europäischen Metropolen.54 Hierbei fiel Berlin eine Schlüsselrolle zu, dessen weiträumige Freiflächen und leerstehende Gebäude im Ostteil der Stadt sich ideal als Brutstätte der Rave-Kultur eigneten. In dieser Stadt ohne Sperrstunde leiteten DJs und Clubbetreiber die kommerziell größte Konjunktur des Auflegens ein. Zu deren Hochzeit am Ende des 20. Jhs. führten Techno- und TrancePlattenaufleger in ihrer Doppelfunktion als Entertainer und eigenständige Musikproduzenten viele Ländercharts an und legten bei Massenveranstaltungen wie der Loveparade oder der Mayday55 vor einem Millionenpublikum auf. Im Bereich der Musiktechnologie, sei es in Form von Synthesizern, Drum Machines und vor allem Samplern oder später bei DAWs56, waren seitdem die Ansprüche der DJs an die Musik Anreiz dafür, neue Produktionsmöglichkeiten zu schaffen.57 Die Technik der DJ-Mixes oder -Remixes, also aus der DJ-Tätigkeit entstandene Neuarrangements, Collagen und Zusammenschnitte verschiedener existierender Ton- und Musikdokumente,58 kann als eine Wende in der Musikgeschichte angesehen werden, die Fragen nach der klassischen Urheberschaft mithilfe technischer Produktionsmittel obsolet werden lässt. Bezeichnenderweise verwendet der US-amerikanische Autor Lawrence Lessig für seine Beschreibung einer neuen, digital untermauerten, collagen-, zitat- und samplebasierten Kunst- und Kulturproduktion den Terminus „remix culture“.59 Hierbei ersetzen Prozesse der Aneignung, Kopie, Neu-Kontextualisierung und Re-Montage von bereits bestehendem Material tradierte Schaffensvorgänge.60 DJ-inspirierte Montagetechniken stellen inzwischen in den verschiedensten
53 Brun-Lambert/Garnier: Elektroschock, S. 272. 54 Vgl. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 341 ff. 55 Vgl. Denk/Thülen: Der Klang der Familie, S. 216 ff. 56 Digital Audio Workstations sind digitale Musikbearbeitungsprogramme wie z.B. Ableton oder
Logic. 57 Vgl. Goetz/Westbam: Mix, Cuts & Scratches, S. 60. 58 Vgl. Sinnreich: Mashed Up, S. 101 sowie Reitsamer: Die Do-it-yourself-Karrieren der DJs, S. 14. 59 Lessig: Remix, S. 79. Aram Sinnreich bezieht sich ebenfalls auf Remixe und Mash-UpSongs und schlägt in Abgrenzung zu Lessig den Begriff „configurable culture“ vor. Vgl. Sinnreich; Mashed Up, S. 70. 60 Vgl. Schmidt: (Art.) Samplen. In: Christians/Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 2, S. 377 f.
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Kulturbereichen Dichotomien wie Kunst und Handwerk, Komposition und Performance, Original und Kopie in Frage. Mit dem Verschwinden von Originalität und Urheberschaft stehen die Konzepte von Urheberrecht und die mit diesen Rechten und deren Durchsetzung betrauten Institutionen vor erheblichen Definitionsproblemen.61 DJs und ihre Kulturtechnik des Zusammenpuzzelns neuer Musiken aus Bruchstücken vorheriger Kompositionen haben eine kulturelle Realität katalysiert, deren vollständige Ausdeutung die definitionsmächtigen Institutionen bisher schuldig geblieben sind. Die bislang letzte Konjunktur des Auflegens besteht im digitalen DJing, das zur massentauglichen, schnell erlernbaren Freizeittätigkeit geworden ist.62 Von der Synchronisierung der Songs in Echtzeit über Loops – also das endlose Abspielen eines bestimmten Abschnitts eines Stücks – bis hin zu automatisierten Übergängen zwischen Liedern sind alle nur erdenklichen Vorgänge des DJing auf Knopfdruck automatisierbar geworden. Musik wird dadurch einerseits zur „low hanging fruit“,63 andererseits haben digitale Auflege-Systeme den Zugang zur DJ-Tätigkeit demokratisiert und finanzielle Aspekte64 in den Hintergrund gerückt. Für einige DJs und Musikenthusiasten gilt das Auflegen von Vinyl in Abgrenzung zur digitalen Auflegepraxis nun als Demonstration von Kompetenz.65 Es ist zwar immer noch vom Auflegen die Rede, die DJ-Praktiken haben den Bereich der Vinyl-Nutzung bei den meisten DJs allerdings zugunsten digitaler Musikabspielvorgänge verlassen. Das Kompositum auf-legen ist durch die Loslösung vom einstmals sinnstiftenden
Konjunkturen Auflegen
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61 Vgl. Sinnreich: Mashed Up, S. 95 ff. 62 Mehr zum digitalen DJing folgt unter dem Stichwort Perspektiven. 63 Bartmanski/Woodward: Vinyl, S. 26. 64 Digitale Downloads sind weitaus kostengünstiger als Vinylschallplatten und das Programm
DJay Pro bietet sogar eine Spotify-Integration an, sodass bei funktionierender Internetverbindung überhaupt keine Musikstücke mehr käuflich erworben werden müssen. Auch benötigen Digital DJs weit weniger Equipment als Plattenaufleger – theoretisch gesehen reicht ein Laptop mit DJ-Software, eventuell flankiert von einem DJ-Controller, der die besagte Software ansteuert. 65 Vgl. ebd. Gleichzeitig zu den digitalen Möglichkeiten des DJing erlebt auch die Schallplatte nach einer schweren Rezession in den 1990er Jahren seit Anfang des 21. Jhs. eine Renaissance, auf die in diesem Text nicht eingegangen wird. Stattdessen sei hier auf VINYL. THE ANALOGUE RECORD IN THE DIGITAL AGE von Dominik Bartmanski und Ian Woodward verwiesen.
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Gegenbegriffe Auflegen
Trägermedium zu einer Tätigkeitsbeschreibung geworden, die ohne weitere Erklärung den gesamten Auswahl- und Präsentationsprozess von Musik vor und für ein Publikum beschreibt. GEGENBEGRIFFE Als Gegenbegriff zum Plattenauflegen galt lange Zeit das
tatsächliche Spielen von Musik, die Live-Performance. Mit dem Aufstieg der Radio-DJs wurde die Praxis, in Radio-Studios leibhaftige Musiker zu beschäftigen, zur Ausnahme und schließlich zur Rarität. Dies führte 1942 zu einem über ein Jahr andauernden Streik amerikanischer Musiker der American Federation of Musicians, die sich weigerten, neue Platten aufzunehmen.66 Interessanterweise gilt es andererseits in der elektronischen Musik- und Clubkultur des 21. Jhs. als begrüßenswert, wenn ein Künstler ein Live-Set spielt, anstatt als DJ aufzulegen. Hierbei wird der live-Begriff von einer Szene umgedeutet, die sich vom Akt des instrumentalen, live geschehenden Ein- und Vorspielens von Musik emanzipiert hat, wie Mark J. Butler in seinem Essay KOMMUNIKATIVE STRATEGIEN UND 67 IDEOLOGIEN VON LIVENESS BEI LAPTOP-PERFORMANCES erklärt. Der Moment der Liveness hat sich vom Moment des tatsächlichen Live-Erschaffens von Musik zum Moment des Live-Collagierens und Neu-Arrangierens verschoben. Der Künstler bringt im Fall eines elektronischen Live-Sets nur eigene Stücke zu Gehör, die mithilfe von Synthesizern68, Drum Machines und Samplern – eventuell flankiert von oder ersetzt durch eine DAW und Software-Controller – arrangiert und zu einem Set verwoben werden. Was mit der Manipulation der Plattenteller im New York des letzten Jahrhunderts seinen Anfang nahm, hat sich derart fortentwickelt, dass bei den von Butler beschriebenen Live-Sets ein nominativ als DJ tätiger Akteur nun als Musiker auftritt. Dieser DJ legt nicht mehr wortwörtlich – in Form von Schallplatten – Musik auf und spielt und mischt auch nicht in der symbolischen, digitalen Repräsentation des Auflegens Musik anderer Interpreten. Stattdessen wird nun vielmehr die Grundpraxis des
66 Vgl. Brewster/Broughton: Last Night A DJ Saved My Life, S. 34. 67 Vgl. Butler: Kommunikative Strategien und Ideologien von Liveness bei Laptop Perfor-
mances. In: Feser/Pasdzierny (Hrsg.): techno studies, S. 211. Butler wendet in seinem Artikel den Begriff der Live-Performance bewusst unscharf auf DJ-Sets und Live-DJ-Performances im hier verwendeten Sinne an. 68 Vgl. ebd., S. 214 f.
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DJing – das schichtweise Collagieren einer repetitiven, jedoch wandelbaren elektronischen Klangstruktur auf Basis von Musikfragmenten, sogenannten Loops – auf die Bausteine selbstproduzierter Musikstücke angewandt. Als weiterer Gegenbegriff kann die algorithmenbasierte, programmierte Playlist gelten. Der Streamingdienst Spotify bietet seinen Nutzern beispielsweise mit dem MIX DER WOCHE eine klar am DJ-Vokabular orientierte, wöchentlich aktualisierte Zusammenstellung von Songs an, die sich an den Vorlieben der jeweiligen User orientiert. Hierbei werden Schlüsselcharakteristika eines DJ-Sets mithilfe von Features wie „Songs überblenden“ und „Autoplay“ in automatisierter Form angeboten. Derlei Entwicklungen veranlassen bereits einige Verfechter der Auflegezunft zu dystopischen Zukunftsvisionen einer Musikwelt ohne DJs.69 Und tatsächlich scheint Spotify auch mit einer anderen Kernthematik des DJing, dem Beatmatching, zu experimentieren. So begann die Software 2018 bei einigen hausintern kuratierten Playlists wie DRUM & 70 BASS FIX und HOUSEWERK automatisch, Songs korrekt zu beatmatchen und in bester DJ-Manier ineinander überzuleiten. Der Musikblog bonedo schlussfolgerte: „Die Playlist an sich ist prinzipiell schon eine Bedrohung für den DJ geworden – je besser diese gemixt [wird], desto schwieriger wird es, sich dagegen zu behaupten.“71
Perspektiven Auflegen
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PERSPEKTIVEN Einerseits hat sich das Bild des in die Plattenteller vertief-
ten Disc Jockeys ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt und wird noch heute vielfach mit positiver Bezugnahme auf die Fähigkeit des Umgangs mit Schallplatten reproduziert. Andererseits hat die popkulturelle Sichtweise auf DJs sich ausgehend vom großen Jahrzehnt der Techno-Musik Ende der 90er Jahre bis zur heute existierenden Vorherrschaft des Digital Audio in Richtung einer Star- und Sehnsuchtsfigur verschoben. So rief der Romanautor Nick Hornby 69 Vgl. Schwiegershausen: Spotify statt DJ. In: Weser Kurier. Unter: https://www.weser-kurier.
de/bremen/bremen-wirtschaft_artikel,-spotify-statt-dj-_arid,1684431.html [aufgerufen am 02.11.2019]. 70 Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels trug die Playlist den Namen STEPPING OUT. 71 Behrens: Robo-DJ: Spotify mit neuem Auto-Mixing für Playlists. In: Bonedo. Unter www. bonedo.de/artikel/einzelansicht/robo-dj-spotify-mit-neuem-auto-mixing-fuer-playlists.html [aufgerufen am 02.11.2019].
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Perspektiven Auflegen
1997 seinen musik- und sammelversessenen Zeitgenossen zu: „Deine Helden waren Gitarristen, jetzt stehen die Kids auf DJs.“72 Und auch im Zeitalter einer durch digitale Errungenschaften scheinbar demokratisierten elektronischen Musikkultur hat die Figur des DJ ihre Strahlkraft nicht eingebüßt: Im 2015 veröffentlichten Hollywood-Musikfilm WE ARE YOUR FRIENDS spielt Zac Efron den jungen Kalifornier Cole Carter, der sich eine große Karriere als EDMProduzent erhofft.73 DJ und elektronischer Musikproduzent sind in der hier dargestellten musikindustriellen Aufmerksamkeitsökonomie Synonyme, aufgelegt wird mit digitalem Equipment. Das Hauptaugenmerk liegt nicht auf der Selektion der Tracks, sondern auf der Qualität der eigenen Produktionen – und darauf, mit markigen Sprüchen gut aussehende Studentinnen auf Clubveranstaltungen zu locken, um schließlich nach Vorbild des Instagram-Gründers Kevin Systrom reich zu werden.74 Der Themenkomplex des Collagierens als Schlüsselkompetenz im Feld der elektronischen Musik wird auf bildlicher Ebene reflektiert, wenn die Filmsequenzen mit Material von menschlicher Anatomie in lehrfilmhafter Comicästhetik und tanzenden Menschenmengen in Found Footage Manier konterkariert werden. Schallplatten tauchen in dem Film nur auf, wenn ein DJ zu Showzwecken auf der Bühne damit wedelt oder sie dekorativ in einem schicken Stadthaus die Regale schmücken. Doch das beutetet nicht, dass die Schallplatte zu Zeiten digitaler Auflegepraxis tatsächlich verschwunden ist. Vermeintlich tote oder obsolete Medien verschwinden nicht vollständig, sondern die neuen Medien weisen ihnen, wie Friedrich Kittler 1993 in seinem Essay GESCHICHTE DER KOMMUNIKATIONS75 MEDIEN feststellt, „andere Systemplätze“ zu. Unter anderem bedeutet Kittlers These, dass neue Medien alte Medien integrieren und weiterentwickeln. So
72 Hornby: Sammlerwahn. In: Nonhoff (Hrsg.): Off Limits, S. 71. 73 Die popkulturelle Beschäftigung mit dem DJ-Kult ist freilich wesentlich älter als der oben
genannte DJ-Streifen: Bereits 1979 besang David Bowie in DJ auf zynische Weise den Plattenaufleger-Kult und in MUSIC aus dem Jahr 2000 erklärt Madonna, was ein guter DJ mithilfe der Macht der Musik mit dem Publikum anzustellen vermag: „Hey Mister D. J. / Put a record on / I want to dance with my baby / And when the music starts / I never want to stop / It’s gonna drive me crazy / […] Music makes the people come together / […] Music makes the bourgeoisie and the rebel.“ 74 Vgl. Joseph: We Are Your Friends, Timecode 21:00. 75 Kittler: Geschichte der Kommunikationsmedien. In: Konrad et al. (Hrsg.): On Line, S. 72.
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hat die Schallplatte einen Platz in der Verweismatrix der digitalen Musikwelt eingenommen. Das heute gängige und auch in WE ARE YOUR FRIENDS präsentierte Club-Setup besteht aus CD- und USB-Spielern – CDJs genannt – sowie einem Mixer, wie er schon zu Vinyl-Zeiten üblich war. Die CDJs sind eine Emulation der Funktionsweise eines Plattenspielers: inklusive Jogwheel, Vinyl Mode, Pitchfader und „Nadelsuche“.76 Auch die Interfaces gängiger DJSoftwares wie Traktor, Serato, Virtual DJ, rekordbox und Algoriddim DJay Pro haben allesamt runde, auf die Schallplatte verweisende Logos und imitieren in ihrem GUI77 bis ins kleinste Detail ein analoges Auflege-Setup mit zwei Plattenspielern und einem Mixer. Diese ‚Bildschirminszenierungen‘78 zeigen an, dass der neue Systemplatz der Schallplatte neben dem teilweise noch verbreiteten tatsächlichen Gebrauch der Schallplatte innerhalb eines traditionellen DJ-Setups der einer „material metaphor“79 ist, wie Marianne van den Boomen sie beschreibt. Ähnlich wie die „kleine ikonische Darstellung“80 des Telefonhörers auf dem Smartphone oder das Icon des Briefes im E-Mail-Programm ist das Plattensymbol ein Verweis auf altbekannte Mediengebrauchstechnik.81 Dieser Verweis wird benötigt, da User Interfaces die im Hintergrund laufenden kybernetischen Prozesse verdecken können und dabei gleichzeitig die Bedeutung dieser Prozesse für die User unter Zuhilfenahme bekannter
Perspektiven Auflegen
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76 Pioneer DJ: Nadelsuche. In: Pioneer DJ. Unter: www.pioneerdj.com/de-de/product/features/
generic/needle-search/ [aufgerufen am 02.11.2019].
77 GUI steht für „Graphical User Interface“. Vgl. hierzu Boomen: Interfacing by material me-
taphors. In: Boomen et al. (Hrsg.): Digital Material, S. 253. Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff und der Funktionsweise der Interfaces – und deren politischer Tragweite – unternimmt Jan Distelmeyer in dem Text DEPRÄSENTIEREN: AUF DER SUCHE NACH DER GEGENWART DES COMPUTERS. 78 Vgl. Distelmeyer: Depräsentieren. In: Ritzer/Steinweder (Hrsg.): Politiken des Populären, S. 59. 79 Boomen: Interfacing by material metaphors. In: Boomen et al. (Hrsg.): Digital Material, S. 253. Der Begriff der „material mataphor“ soll in diesem Artikel nicht als abgeschlossenes Theorem dargestellt werden, sondern vielmehr einen Denkanstoß zu einer noch zu leistenden Theoriebildung verdeutlichen. 80 Nake: Schnittstelle Mensch-Maschine. In: Michel (Hrsg.): Kursbuch 75, S. 112. 81 Vgl. Boomen: Interfacing by material metaphors. In: Boomen et al. (Hrsg.): Digital Material, S. 264.
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Perspektiven Auflegen
Mediennutzungsmetaphern verstehbar machen.82 Unterdessen scheinen die tatsächlichen Gegenstände oder Vorgänge, auf die die bildlichen Metaphern abzielen, aus dem Sichtfeld der mediennutzenden User zu entschwinden. Ihre Existenz nähert sich der eines nur in sich selbst existierenden, nicht mehr über die ikonische Referenz hinausragenden Verweises an, während der Computer „zum potentiellen digitalen Integrator aller vorherigen Medien“83 wird. Die komplexen Vorgänge, die nötig sind, um beispielsweise das Auflegen kybernetisch zu reproduzieren, finden in der bildlichen Metapher des DJ-Pults mit Plattenteller und Mixer ihre menschenlesbare Entsprechung und übersetzen so Maschinencode in Menschencode.84 Das Auftauchen des Disc Jockeys als Wunschbild und Sehnsuchtsfigur könnte als ein Anzeichen dafür gewertet werden, dass im „Übertragungsdickicht“85 der allgemein als digitales Zeitalter bezeichneten Deutung unseres Lebensumfeldes86 Vorstellungen von einem repräsentativen, weiter- und wiederverwertenden Kunst- und Musikerschaffungsprozesses die göttlich oder geniekultisch eingefärbte Vorstellung des kreativen Schaffens ‚aus dem Nichts‘ ergänzen.87 Ähnliches beobachtet Aram Sinnreich und konstatiert, dass Mechanismen der ‚configurable culture‘ in Bereichen wie Film- und Musikaufnahmen die Grenzen zwischen Kunst und Handwerk erodieren, indem Pastiche-Techniken konfigurierbarer technischer Geräte integraler Bestandteil der Schaffens prozesse werden.88 Selbst wenn sich, wie Sinnreich erklärt, die meisten von ihm befragten DJs und samplebasierten Musikproduzenten im Allgemeinen als Künstler bezeichnen, wird weiterhin festgestellt, dass die Abgrenzung des
82 Vgl. Distelmeyer: Depräsentieren. In: Ritzer/Steinweder (Hrsg.): Politiken des Populären,
S. 65.
83 Coy: Aus der Vorgeschichte des Mediums Computer. In: Bolz/Kittler/Tholen (Hrsg.): Com-
puter als Medium, S. 30.
84 Vgl. Boomen: Interfacing by material metaphors. In: Boomen et al. (Hrsg.): Digital Material,
S. 256 ff.
85 Vgl. Laube: (Art.) Übertragen. In: Christians/Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches
Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 2, S. 474. 86 Vgl. Distelmeyer: Depräsentieren. In: Ritzer/Steinweder (Hrsg.): Politiken des Populären, S. 55. 87 Vgl. Bröckling: Über Kreativität. In: Menke/Rebentisch (Hrsg.): Kreation und Depression, S. 89 ff. 88 Vgl. Sinnreich: Mashed Up, S. 82 ff.
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Schemas der Kunstproduktion zu handwerklichen und technischen Tätigkeiten einerseits immer schwieriger zu vollziehen, andererseits praktisch immer bedeutungsloser wird.89 Hiermit reiht sich – so könnte argumentiert werden – die Routine des DJs als eigenständige Tätigkeit außerhalb der scharfen Trennlinie verschiedener Schaffensbereiche neben Einschnitten wie Marcel Duchamps FOUNTAIN90 und Andy Warhols SUPPENDOSEN91 in die Kunstgeschichte des 20. Jhs. ein. Es bleibt zu konstatieren, dass der feste Sitz der althergebrachten Vorstellung künstlerischen Schaffens ins Wanken geraten ist: Ein DJ agiert heute als ein zusammenführendes Element verschiedener Musikstücke, die selbst wiederum oft Teil einer Verweiskette innerhalb der elektronischen Musikproduktion sind. Das Auflegen könnte anstatt als Kunst beispielsweise als ein kuratorisches Unterfangen betrachtet werden.92 Schließlich trifft hier die Selektion, das Aneinanderreihen und das Präsentieren der Stücke auf einen handwerklichen Teil – das Mixing, also die Handhabung der Technik. Im besten Fall enthält der Vorgang zusätzlich einen Schuss kreativer Möglichkeiten im Spiel „gegen den Apparat“93 – wie Flusser den aneignenden Umgang mit medientechnischen Apparaten in Bezug auf die Fotografie einst nannte.
Forschung Auflegen
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FORSCHUNG Eine Handvoll spezifisch kultur- und mediengeschichtlicher Werke beschäftigt sich ausschließlich mit der individuellen (Musik-)Geschichte der DJs und ihrer Tätigkeit, dem Auflegen. Das herausragendste Werk ist Bill Brewsters und Frank Broughtons 1999 veröffentlichtes Buch LAST NIGHT A DJ SAVED MY LIFE, das in der 2006 erschienenen Neuauflage auf 600 Seiten die inzwischen über 100-jährige Geschichte des DJing detailliert wiedergibt. Im deutschen Sprachraum gibt es ein vergleichbares Werk: Ulf Poschardt beschreibt ebenfalls 1999 in seiner von Friedrich Kittler betreuten Doktorarbeit
89 Vgl. ebd., S. 96 f. 90 Der Elektronik-Musiker Thomas Fehlmann beispielsweise nannte sein erstes Soloprojekt,
das sich stark an der Technik des Samplings orientierte, „Readymade“. Vgl. Denk/Thülen: Der Klang der Familie, S. 53. 91 Vgl. Sinnreich: Mashed Up, S. 95 ff. 92 Vgl. Groove: Am Deck. Nicola Kazimir. In: Groove, S. 15. 93 Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 72.
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Popgeschichte anhand der Geschichte des DJing; 2015 wurde das Buch ergänzt und neu aufgelegt. Die beiden Werke sind die Hauptquellen des vorliegenden Artikels. Seit der Erstveröffentlichung der beiden oben genannten Werke ist die Geschichte des Auflegens breiter erschlossen worden: Wie Poschardt selbst 2015 unter Bezugnahme auf Brewster und Broughton erklärt, sind inzwischen über 100 Bücher und zahlreiche Dokumentarfilme zum Thema erschienen.94 Eine forschende Beschäftigung mit der über 100-jährigen Geschichte des Auflegens kann ausgehend vom DJing jedoch auch andere Phänomene der Kulturproduktion und -vermittlung untersuchen. Dies tun viele der hier zitierten Autoren und beispielsweise auch die Wiener Soziologin Rosa Reitsamer. In ihrer Studie DIE DO-IT-YOURSELF-KARRIEREN DER DJS rezipiert sie Pierre Bourdieus Theorie der kulturellen Felder. Sie legt ausgehend von den selbstorganisierten Karrieren der befragten DJs offen, wie in jugendkulturellen, elektronischen Musikszenen postfordistische Produktionsmaximen in Gestalt von Selbstvermarktung und -präsentation im Spannungsfeld zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital in die Kulturproduktion inkorporiert werden.95 Reitsamer ist auch mit einem Artikel im Sammelband TECHNO STUDIES: ÄSTHETIK UND GESCHICHTE ELEKTRONISCHER TANZMUSIK vertreten, der wissenschaftliche Beiträge verschiedener Disziplinen zu elektronischer Tanzmusik, Clubkultur und angrenzenden Feldern versammelt. In einem weiteren, bereits zitierten Beitrag in diesem Band beschäftigt sich Mark Butler mit Konzeptionen und Politiken der Authentizität bei DJ-Performances mit Laptops.96 Die Forschung kann im besten Falle nicht nur Licht auf die verschiedenen Kontexte werfen, in denen Menschen Musik- und Popkultur vermitteln und vermittelt bekommen. Sie muss keinesfalls singulär bei der Betrachtung des DJing bleiben, sondern kann diese vielmehr als Schablone nutzen, um aufzuzeigen, wie sich aus der konkreten Mediennutzungspraxis neue Medienformen und Vermittlungsinstitutionen herausbilden, die ihrerseits wiederum die Produktion der medial distribuierten Musikstücke beeinflussen und
Forschung Auflegen
DJ CULTURE
94 Vgl. Poschardt: DJ Culture, S. 50. 95 Vgl. Reitsamer: Die Do-it-yourself-Karrieren der DJs, S. 11 f. 96 Vgl. Butler: Kommunikative Strategien und Ideologien von Liveness bei Laptop Perfor-
mances. In: Feser/Pasdzierny (Hrsg.): techno studies, S. 211 ff.
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bedingen. Dabei kann auch das Narrativ entkräftet werden, das technischen Fortschritt als in vom gesellschaftlichen Nutzen abgetrennten Räumen und Laboratorien geschaffene Entwicklung sieht, die wiederum mit schlagartiger Marktreife tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringt. An der Geschichte des DJing lässt sich erkennen, dass es sich bei technischen Neuerungen, veränderten Mediennutzungspraktiken und wandelbaren Kulturproduktionsprozessen um fluide Vorgänge handelt, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen, ohne dabei notwendigerweise einem roten Faden oder Zeitstrahl zu folgen. Die Geschichte und Praxis des Auflegens zu befragen, sollte zeitgleich heißen zu fragen, welche Ausblicke die Bedeutungsverschiebungen in der DJ-Geschichte im Hinblick auf zukünftige Musik- und Medienproduktionsprozesse zulassen und welche Handlungsmöglichkeiten in der aneignenden Manipulation und dem Spiel mit den Apparaten liegen. Diese Befragung kann ein Versuch sein darzulegen, welche Bedeutung der Akt des performativen Abspielens von Musik – der zwischen kreativem Spielvorgang und bloßer Reproduktion oszilliert – für Menschen zu haben scheint, die vor der Aufgabe stehen, neue Konzepte von Kreativität, Originalität und künstlerischer Tätigkeit zu formulieren.
Forschung Auflegen
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Literaturempfehlungen Auflegen
LITERATUREMPFEHLUNGEN Brewster, Bill/Broughton, Frank: Last Night A
DJ Saved My Life. The history of the disc jockey, London (2006).
Poschardt, Ulf: DJ Culture. Diskjockeys und
nyl. The Analogue Record in the Digital Age,
London/New York (2015).
Popkultur, Stuttgart (2015).
VERWEISE aufzeichnen |I 69|, erfinden |III 58|, samplen |II 376|, über
tragen |II 458|
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ERFINDEN SUSANNE MÜLLER
Anekdote Erfinden
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ANEKDOTE Am 24. Mai des Jahres 2001 meldet der Australier John Keogh
aus Hawthorn/Victoria eine Vorrichtung namens circular transportation facilitation device zum Innovationspatent1 an. Die Beförderungserleichterungsvorrichtung, so heißt es im Abstract zur Patentschrift, enthält eine kreisförmige Einfassung, ein Lager, in dem ein hohlzylindrisches Element um eine Stange drehbar ist, die innerhalb des hohlzylindrischen Elements angeordnet ist, und eine Reihe an Verbindungselementen, die die kreisförmige Einfassung mit dem hohlzylindrischen Element verbinden, um die kreisförmige Einfassung und das hohlzylindrische Element in einer im Wesentlichen festen Beziehung zu halten, wobei der Stab auf einer Achse senkrecht zur Ebene der kreisförmigen Einfassung und im Wesentlichen zentral zur kreisförmigen Einfassung positioniert ist.2
Bebildert ist das Ganze mit zwei handgemalten Skizzen: Die erste zeigt einen Kasten mit zwei Achsen und vier Rädern, die zweite ein Rad, kreisrund, mit dem hohlzylindrischen Element in der Mitte und acht Speichen, die das Innere mit der kreisförmigen Einfassung verbinden. Keogh ist nicht irgendwer, sondern Patentanwalt, und die kreisförmige Beförderungserleichterungsvorrichtung ist nicht irgendetwas, sondern – man ahnt es bereits – ein ganz normales Rad. Gute zwei Monate später erteilt ihm die Behörde das Patent mit der Nummer AU2001100012. Einen weiteren Monat später erhalten beide, das Australien Patent Office und Keogh, als Anerkennung für diese Leistung den satirischen Ig-Nobelpreis in der Rubrik
1 Es muss erwähnt werden, dass Innovationspatente ohne Prüfung und ohne größere Kos
ten erteilt werden und dass sie eigentlich die stufenweise und kostengünstige Absicherung von Forschungsarbeiten ermöglichen sollen. Die Anforderungen an die Erfindungshöhe sind eher gering. Erwähnt werden muss auch, dass das APO die Patentvergabe für das circular transportation facilitation device inzwischen widerrufen hat. Allerdings hätte es ohnehin nur für acht Jahre Bestand gehabt. 2 Keogh: Circular transportation facilitation device (2001) [eigene Übersetzung].
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We are honoring achievements that make people laugh, then think. Good achievements can also be odd, funny, and even absurd; so can bad achievements. A lot of good science gets attacked because of its absurdity. A lot of bad science gets revered despite its absurdity.5
Getreu dieser Anregung soll also die Patentierung einer Erfindung, die längst erfolgt ist und deren wahre Urheber für immer unbekannt bleiben, den Ausgangspunkt bilden, um über das Erfinden nachzudenken. Die Einzelheiten des Patentrechts werden dabei lediglich eine Nebenrolle spielen; der Akt der Patentierung hingegen, seine historischen Ursprünge und die Auswirkungen bis in die Gegenwart sind bedeutsam, wenn nachfolgend gezeigt wird, dass es sich beim Erfinden nur auf den ersten Blick um einen eindeutig konnotierten Sachverhalt handelt. Weder beruht jedes Patent auf einer Neuigkeit, noch lässt sich für jede Erfindung auch eine Erfinderperson benennen. Wieder andere Erfindungen haben mehrere Erfinder*innen und noch andere werden erfunden und umgehend vergessen, um Dekaden später als neue Idee wiederaufzuerstehen. Zahlreiche Umbrüche haben ihre Spuren in der Geschichte des Erfindungsbegriffs hinterlassen. Deswegen wird ein weiter Weg zu gehen sein, wenn nachfolgend sowohl der historische Werdegang des Erfindens als auch seine semantische Bandbreite ausgeleuchtet werden. Es wird sich im Verlauf des Textes auch zeigen, dass selbst zwischen scheinbar diskrepanten Bedeutungen und Praktiken elementare Überschneidungen und Zusammenhänge bestehen.
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Anekdote Erfinden
Technology, den die Zeitschrift Annals of Improbable Research jährlich an der Harvard University vergibt.3 Keogh und das australische Patentamt befinden sich damit in bester Gesellschaft – beispielsweise mit Donald J. Smith und seinem Vater Frank J. Smith, denen im Jahr 2004 die gleiche Ehrung für die Patentierung des Comb over zugekommen ist – eine Technik, um mit dem verbliebenen Haar eine Halbglatze zu kaschieren.4 Auf der Website von Annals of Improbable Research heißt es zum Ig-Nobelpreis:
3 Vgl. Abrahams (Hrsg.): Annals of Improbable Research: The 2001 Ig Nobel Prize Winners
(2001).
4 Vgl. Ders. (Hrsg.): Annals of Improbable Research: The 2004 Ig Nobel Prize Winners (2004). 5 Abrahams (Hrsg.): About the Ig Nobel Prizes [Hervorh. i. Orig.].
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Etymologie Erfinden
ETYMOLOGIE Unter Erfinden wird in der Regel der Vorgang verstanden,
„bisher noch nicht Vorhandenes [zu] ersinnen oder [zu] erschaffen“. Es ist abgeleitet vom althochdt. irfindan (erfahren, erkennen, erfassen) und vom mittelhochdt. ervinden (ausfindig machen, bemerken, erfahren).6 Das MITTELHOCHDEUTSCHE WÖRTERBUCH führt für ervinde zudem die Bedeutung nehme wahr auf („da' ich min lantgesinde ervorsche und ervinde“).7 Das Wort Erfinder ist im europäischen Sprachraum erst seit dem 15. Jh. nachweisbar. Im Franz. taucht in dieser Zeit der inventeur (Entdecker) als Ableitung vom lat. inventor (Erfinder) auf.8 Der Hinweis auf die lat. Herkunft ist deshalb wichtig, weil das Substantiv inventio in der Antike in einer seiner Bedeutungen das meint, was heute Erfindung genannt wird; eigentlich ist es in der Rhetorik zu verorten. Auch das lat. invenire lässt sich nicht eindeutig als erfinden übersetzen. Es entspricht gleichzeitig auch dem dt. Finden, Auffinden oder Entdecken. Der lat. inventor (Erfinder, Begründer) wird insbesondere im Mittelalter auch in theologischen Kontexten verwendet und ist hier eher negativ besetzt.9 Das Konzept des inventors als Inhaber von Rechten entsteht erst in der Frühen Neuzeit.10 An der Wende zum 19. Jh. kommt dem Erfinden die noch heute geläufige Bedeutung zu. Die Enzyklopädien und Konversationslexika bezeichnen es seitdem einhellig als „jene Art der Thätigkeit des menschlichen Geistes, mittelst welcher er durch neue Zusammenstellungen, also auf eigenthümliche Weise, etwas bis dahin noch nicht Vorhandenes hervorbringt“.11 Nach wie vor besteht eine enge Verwandtschaft zum Finden, wobei das Präfix er- auf die Zielgerichtetheit jeder erfinderischen Tätigkeit hinweist, während die findende Person „durch Zufall, durch Suchen, durch Nachdenken auf etw.“ stößt.12
6 7 8 9 10 11 12
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(Art.) finden. In: Pfeifer et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. (Art.) ervinde. In: BMZ = Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 91. Vgl. Dohrn-van Rossum: Novitates – Inventores, S. 37. Vgl. ebd., S. 29. (Art.) Erfindung. In: Brockhaus Conversations-Lexicon, Bd. 3, S. 491. (Art.) finden. In: Pfeifer et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen.
KONTEXTE Es sind die zuletzt dargelegten, seit dem frühen 19. Jh. vorherr-
Erfindung, die Ausstellung einer Sache, welche noch gar nicht, wenigstens nicht in ihrer Zusammensetzung, vorhanden war [...] Dagegen ENTDECKT man etwas, was schon vorhanden war, dessen Daseyn man aber nicht kannte. Nachdem der Compaß erfunden war, konnte Amerika entdeckt werden.15
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Kontexte Erfinden
schenden Bedeutungsebenen des Erfindens, die hier zunächst kontextualisiert, dann ausdifferenziert und schließlich auf einen Nenner gebracht werden sollen. In der Literatur, ja selbst in der Allgemeinsprache, besteht spätestens seit diesem Zeitraum die Übereinkunft, dass das Erfinden ein aktiver Prozess ist, der mit einem Innovationspotenzial daherkommt. Es handelt sich also um „das Hervorbringen dessen, was bis dahin noch nicht vorhanden war. Die E. ist [...] entweder das Resultat mühevoller Forschung und angestrengter Beobachtung, oder das Werk des Zufalls“.13 Das herausstechende Merkmal der Erfindung aber ist in beinahe allen deutschsprachigen Enzyklopädien der Umstand, dass sie keine Entdeckung ist.14 So heißt es im RHEINISCHEN CONVERSATIONS-LEXICON (1824):
Das CONVERSATIONS-LEXIKON (1837) aus dem Hause Brockhaus formuliert es dann so: ERFINDUNG wird gewöhnlich die Hervorbringung von etwas in Wissenschaf-
ten und Künsten noch nicht Vorhandenem durch eine eigenthümliche Thätigkeit der menschlichen Fähigkeiten genannt und darf nicht mit Entdeckung verwechselt werden, worunter blos das Auffinden von Vorhandenem durch Zufall oder Beobachtung verstanden wird, wie z.B. eines Landes.16
Bis ins frühe 19. Jh. hinein gilt es nicht unbedingt als ausgemacht, dass Erfindungen grundsätzlich ökonomisch verwertbar und technischer Natur sein müssen. Im RHEINISCHEN CONVERSATIONSLEXIKON (1824) werden explizit auch ästhetische Erfindungen, also jede Form der Kunst, mit eingeschlossen: „Der Erfinder führt in der Wissenschaft eine neue Idee in das Gebiet der 13 14 15 16
(Art.) Erfindung. In: Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 6, S. 269. Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 77. (Art.) Erfindung. In: Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. 4, S. 629. (Art.) Erfindung. In: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Bd. 1, S. 684.
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Kontexte Erfinden
menschlichen Erkenntniß, in der Kunst eine neue Form in das Gebiet der Darstellung ein.“17 Noch heute ist es üblich zu sagen, man hätte eine Romanfigur, eine Geschichte oder eine Ausrede erfunden. Im gleichen Moment, in dem im 19. Jh. die Hinweise aufs ästhetische Erfinden in den Wörterbüchern weniger werden, vermehren sich die Verweise aufs Patentrecht, das gemacht ist, „um dem Besitzer neuer Erfindungen den daraus zu ziehenden Nutzen wenigstens auf eine bestimmte Zeit zu sichern.“18 Das patentrechtliche Erfinden ist jedoch trotz seiner Dominanz ein Sonderfall, denn Patente haben auch schon im 19. Jh. „den Zweck, ihm [dem Erfinder] sowohl als seinem Vaterlande den aus den Erfindungen entspringenden Nutzen und Vortheil wenigstens auf eine Reihe Jahre zu sichern“.19 Es wird also unterstellt, dass mit dem durch das Patent definierten Standard eine ökonomische Verwertbarkeit einhergeht. Das ist insofern bemerkenswert, als dass es sich hierbei eigentlich um einen angenehmen Nebeneffekt handelt, aber um kein genuines Kennzeichen einer Erfindung. Hinzu kommt, dass es für das Ausstellen eines Erfindungspatents nicht nur Erfindungstitel, sondern auch den Namen eines oder mehrerer erfindender Personen bzw. einer Institution braucht. Diesen kreationistischen Aspekt betonen selbst jüngste Patentregelungen. Seit 1871 ist in der deutschen Gesetzgebung der Begriff der Erfindungshöhe definiert. In MEYERS ENZYKLOPÄDIE (1973) heißt es hierzu: Da andererseits der Begriff Entdeckung im Unterschied zur E. als reine Erkenntnis definiert ist, die als solche noch keine Naturbeherrschung ermöglicht, muß die E. eine ausführbare Regel für ein techn. Handeln, für die Lösung eines techn. Problems geben. Sie muß einen techn. Fortschritt bringen, d.h. eine Vermehrung der techn. Mittel, mit der eine Verbesserung der menschl. Bedürfnisbefriedigung verbunden ist.20
Das funktioniert allerdings nur, wenn über dinghafte, technologische Erfindungen gesprochen wird. Genau genommen wird nämlich nie das Endprodukt 17 (Art.) Erfindung. In: Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. 4, S. 629. 18 (Art.) Erfindung. In: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Bd. 1, S. 685. 19 (Art.) Erfindungspatente. In: Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. 4, S. 567. 20 (Art.) Erfindung. In: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 8.
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einer Erfindung (beispielsweise ein Prototyp oder ein Impfstoff gegen einen Virus) geschützt, sondern die Methode, mit der ein Produkt hergestellt wird.
Etwas Unschärfe muss hier aber bleiben, und zwar nicht nur, weil bereits an dieser Stelle verraten werden soll, dass das Entdecken gar nicht als Gegenbegriff für das Erfinden taugt. Auch wenn das Erfinden in seiner gegenwärtigen Bedeutung von der patentrechtlichen Auslegung geprägt ist, existieren nach wie vor auch die anderen Bedeutungsebenen. Erfunden werden können – und dieser Aspekt wird später vertieft – immer noch fiktive Geschichten, Lügen oder Konzeptionen (im Folgenden dingloses Erfinden) und technische Innovationen, die für das Patentrecht nicht relevant sind (im Folgenden ereignishaftes Erfinden). Ereignis und Standard, schreibt Stefan Heidenreich, „stellen zwei Seiten ein und derselben Geschichte der Technik dar“, doch während Ereignisse von Fortschritten berichten, die einen stabilen Zustand aufbrechen, halten Standards Punkte der Irreversibilität fest.22 Das heißt, dass jede Art des Erfindens eine Veränderung in die jeweils üblichen Gepflogenheiten einführt, doch erst mit dem Patent etabliert das vormals ereignishafte Erfinden einen Standard.
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Konjunkturen Erfinden
Der Erfinder eines Medikaments ist nicht geschützt gegen eine weitere Erfindung, die dasselbe Leiden mit anderen Substanzen heilt. Der Erfinder der Glühbirne ist nicht geschützt gegen das Patent der Leuchtstoffbirne, die ein ähnliches Resultat mit einem unterschiedlichen Verfahren erreicht. Geschützt ist nur die Form, nicht der Inhalt.21
KONJUNKTUREN Die Gewährung des Patents auf das circular transportation
facilitation device führt nicht nur die Absonderlichkeiten des Patentrechts im Allgemeinen und die Unzulänglichkeiten australischer Innovationspatente im Speziellen vor Augen, es verweist auf einen blinden Fleck, dessen Existenz sich auch in den Enzyklopädien zeigt. So heißt es sehr pragmatisch im HEINISCHEN CONVERSATIONS-LEXIKON (1837): R
21 Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 81. 22 Vgl. Heidenreich: Flipflop, S. 73.
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Konjunkturen Erfinden
Wer der erste Maler, Musiker, Dichter, Bildhauer gewesen sei, wer den Wagen, die verschiedenen Hausgeräthe u.a.m. erfunden habe, ist unbekannt und selbst spätere Angaben über wissenschaftliche E.n und Entdeckungen sind noch immer sehr schwankend. Man sieht also, daß bei diesem gänzlichen Mangel an sichern historischen Nachrichten jede Untersuchung erfolglos sein muß. Wir übergehen deßhalb die ältere Zeit.23
Es wird deutlich, dass den meisten Erfindungsgeschichten seit der Wende zum 19. Jh. eine Art Meta-Erzählung zugrunde liegt; und diese erfordert einen Schöpfungsakt, einen (in der Regel männlichen) Erfinder und zeugt vom aufsteigenden Fortschritt. Doch vielen Erfindungsgeschichten fehlt der Anfang, weshalb sie nicht erzählbar sind. Somit werden sie bisweilen umgeschrieben, neu erfunden oder eben übergangen. Ironischerweise ergibt sich ein ganz ähnliches Problem auch für den Erfindungsbegriff und seine Konjunkturen. Als Tatbestand ist er so alt wie die Menschheit selbst, doch wie und wo fängt er an? Erschwerend kommt hinzu, dass dem Sachverhalt nicht nur der Anfang fehlt – ihm fehlen über viele Jahrhunderte hinweg auch die Begriffe. Deswegen können die Konjunkturen dessen, was letztlich erfinden genannt wird, in einem ersten Schritt nur entlang des historischen Verlaufs gesucht werden, in dem der Begriff Erfinden geprägt wird und sich zu dem entwickelt, was er seit ca. 1800 ist. Es wird hier also zu zeigen sein, wie aus einer rhetorischen Praxis eine poetische, ästhetische und schließlich eine technologische Angelegenheit wird. Den Ausgangspunkt für eine zweite Betrachtungsweise bildet dann das ‚Erfinden im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‘.24 An diesem Punkt, an dem der ‚homo faber‘ als technischer Erfinder zur exemplarischen Figur der Moderne wird, stabilisiert sich das Erfinden in den noch heute bekannten Bedeutungen. Vor dem Hintergrund der Patentgesetzgebungen kristallisieren sich schließlich drei Konjunkturen des Erfindens heraus, die in enger gegenseitiger Wechselbeziehung und in keiner zeitlichen Abfolge stehen. Somit wäre zu zeigen, wie neben dem dominierenden patentrechtlichen Erfinden auch vom ereignishaften Erfinden und vom dinglosen Erfinden gesprochen werden kann.
23 (Art.) Erfindung. In: Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. 4, S. 565. 24 Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 79.
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E
Konjunkturen Erfinden
Um nun also in einem ersten Durchgang zu klären, wie das Erfinden zu seiner heutigen Existenz gekommen ist, ist es notwendig, etwas weiter auszuholen. „Um von der Erfindung bzw. Invention zu sprechen,“ so heißt es bei Jacques Derrida, „müssen wir uns stets eine Latinität des Wortes in Erinnerung rufen. Sie markiert die Konstruktion des Begriffs und die Geschichte der Problematik.“25 Bereits in der Antike existiert ein Konzept vom Erfinden. Die antike inventio ist dem technischen Erfinden nicht ganz unähnlich, hat aber keine Schöpfungshöhe, sondern kann allenfalls als Emanzipationsversuch des Menschen gegenüber dem Göttlichen verstanden werden. Innovative Zeitgenossen entdecken also das Verborgene, das ohnehin schon Existente, das Gott nur ‚versteckt‘ hat.26 Auch vom Fortschrittsdenken ist sie weit entfernt, „denn die Grundfigur des antiken Geschichtsverständnisses ist der Kreis, nicht die ansteigende Linie“.27 Das eigentliche Gebiet der antiken inventio ist zudem nicht die Technik, sondern die Rhetorik. Inventio bedeutet, die richtigen Argumente für eine einwandfreie Beweisführung zu finden. Sie gilt für Sachen, von denen man spricht.28 Diese Ideen müssen aber herausgefunden bzw. herausgedacht werden. Die inventio impliziert also das Sichtbarmachen von Verborgenem und invenire ist demzufolge das enthüllende Auffinden. Man muss nur die Stellen (loci) kennen, an denen man zu suchen hat. Somit steht die antike inventio dem Entdecken deutlich näher als dem Erfinden.29 Erst im Spätmittelalter deutet sich ein Umbruch an, in dessen Verlauf es immer wieder vorkommt, dass die inventio das Gebiet der Rhetorik verlässt und auch in ästhetischen, vor allem poetologischen Zusammenhängen verwendet wird.30 Mit dieser Bewegung ändert sich auch ihr Gegenstand vom Argumentativen aufs Repräsentative. „Zwar ist ihr Objekt damit immer noch das ‚Ding‘ [...]: doch nicht, um sie (als Argument oder wirklichen Gegenstand) zu finden, sondern um sie als einen fiktiven Gegenstand hervorzubringen.“31
25 Derrida: Psyche. Erfindung des Anderen, S. 12. 26 Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 100. 27 Ebd., S. 102. 28 Vgl. Derrida: Psyche. Erfindung des Anderen, S. 13. 29 Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 102 f. 30 Vgl. ebd., S. 123. 31 Ebd., S. 124.
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Konjunkturen Erfinden
Diese Form der inventio steht dem heutigen ästhetischen Erfinden durchaus nahe, denn sie ist eine Art Bildvorstellung oder Idee, die einer Eingebung gleich in den Geist kommt. Zumindest auf dem Gebiet der Bilder und Worte werden Menschen also selbst zu Schöpfer*innen. Sie repräsentieren nicht mehr nur, sondern konstruieren Realitäten.32 Damit ändert sich auch der Umgang mit Innovationen. Bislang wurden novitas (Neuigkeiten) und novitates (Neuheiten/Erfindungen) eher abwertend betrachtet. Das hatte rein praktische Gründe, denn „die Berufung auf Tradition, auf Verfahren und auf Texte, die als ehrwürdig und unangreifbar galten, entlastete von Entscheidungszwängen und schuf Legitimität“.33 Der Grundton jeder Veränderung gegenüber, insbesondere im Religiösen, war pessimistisch. Akteure und Objekte im Bereich der Artes mechanicae fanden – auch wenn die akademische Wissensklassifikation sie allmählich aufwertete – kaum Interesse [...]. Handwerkliche und technische Neuerungen gehörten zum Bereich der Praxis, und blieben daher theoretisch lange irrelevant. Einer Fokussierung der Aufmerksamkeit auf technische Entwicklungen fehlte auch mangels eines Begriffs von Technik jegliche Grundlage.34
Diese Denkweise bricht nun auf und Neuerungen, die dem Bereich der Technik zuzuordnen sind, erhalten zunehmend Aufmerksamkeit.35 In diesem Zeitraum, an der Grenze zwischen dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit, wird dann tatsächlich der Erfinder ‚erfunden‘ und taucht das erste Mal in den modernen Sprachen auf. Zunächst allerdings ganz anders als gedacht, denn – und das mag nun wirklich überraschen – es ist, wie Florian Borchmeyer herausgearbeitet hat, die Erfinderin, die 1431 als inventeresse in Frankreich erstmals schriftlich belegt ist. Leider ist der Kontext, in dem die Proto-Erfinderin auftaucht, weder feministisch noch nett gemeint; die inventeresse ist ein Schimpfwort, bezeichnet wird damit Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans.36 Und die hatte bekanntlich keine gute Presse, sondern wurde noch im selben Jahr
32 Vgl. ebd., S. 125. 33 Schmidt: Ist das Neue das Bessere?, S. 11. 34 Dohrn-van Rossum: Novitates – Inventores, S. 28. 35 Vgl. ebd., S. 24. 36 Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 90.
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Konjunkturen Erfinden
auf dem Scheiterhaufen ermordet. „Die Klassifizierung Johannas als Erfinderin stammt von ihren Richtern in Rouen, die ihr mit diesem Vorwurf einen Hexenprozess machten. Jeanne-la-pucelle erfindet keine technischen Errungenschaften, sondern Lügen.“37 Seit der Mitte des 15. Jhs. findet man dann in Frankreich auch den inventeur und im Deutschen den Erfinder und die Erfindung. Der inventeur hat allerdings die Bedeutung des heutigen Entdeckers („die person, die etwas fand“).38 Damit scheinen sich der männliche inventeur und die weibliche inventeresse diametral gegenüberzustehen. Während der eine etwas entdeckt, verbreitet die andere Lügen. Diese Doppeldeutigkeit im Erfindungsbegriff hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Erfunden werden können nicht nur Maschinen oder Formate, sondern auch Fiktionen oder Fake News. „Man erfindet, indem man fabuliert ... oder man erfindet, indem man eine neue operative Möglichkeit produziert (den Buchdruck oder eine Nuklearwaffe zum Beispiel ...).“39 Es stehen sich also techné und methodos auf der einen Seite und fabula und fictio auf der anderen Seite gegenüber, Know-how oder Kunst. Und wie das Beispiel der Nuklearwaffe zeigt, kann sich selbst noch das Schöpferische am Ende als dämonisch erweisen.40 Doch wie wird nun aus dem entdeckenden Erfinden in der Frühen Neuzeit das Erfinden in der uns heute geläufigen Bedeutung? Es sind, wie Borchmeyer detailliert darstellt, die Werke zweier Philosophen, die hier Aufschluss geben. Der erste ist Francis Bacon, der bereits 1620 in seiner Abhandlung NOVUM ORGANUM das Erfinden neu definiert. Ganz anders als bei seinen rationalistischen Zeitgenossen, die der inventio nach wie vor jede Nützlichkeit absprechen, entstehen Bacons Erfindungen durch die Abkehr von den antiken Autoren. Während das Erfinden bisher immer auf dem Bekannten beruhte, implementiert er endgültig das Neue in die Erfindung:41 „Die einzig wahre inventio ist die der ‚neuen Werke‘ (novorum operum).“ Das führt jedoch zu einer erneuten
37 Ebd. 38 Vgl. (Art.) inventeur/inventor. In: Wartburg: Französisches Etymologisches Wörterbuch
(FEW), S. 790. Vgl. (Art.) finden. In: Pfeifer et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen.
39 Derrida: Psyche. Erfindung des Anderen, S. 25. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 146 f.
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Konjunkturen Erfinden
Spaltung im Erfindungsbegriff, denn in Bacons invenire geraten nun die Bedeutungen von finden und entdecken/erfinden miteinander in Konflikt. „Der Wissenschaft (scientia) als modus inveniendi, als gezielte Suche nach Neuem stehen die nur dem Zufall entsprungenen Werke der inventa gegenüber.“42 Bacon verleiht also dem ‚eigentlichen‘ Erfinden erstmals einen Gegensatz: das Entdecken. Im Englischen liest sich das allerdings etwas anders, als es hier verstanden werden könnte, denn die eigentliche Innovation (und heutige technische Erfindung) wird als to discover (entdecken) bezeichnet, während das uneigentliche, wiedergewinnende Erfinden to recover (zurückgewinnen) genannt wird. Unter letzterem ist das topische Herausdenken von Argumenten aus der Antike gemeint und da das, nach Bacon, keine ‚richtige‘ Erfindung ist, bleibt es für ihn fortan ausgeschlossen. Die ‚echte‘ Erfindung hingegen muss zwar nach Bacon erst ‚entdeckt‘ werden, zugleich legt er aber erstmals einen weitgehend technischen Erfindungsbegriff vor. Das zeigt sich auch an seinen Beispielen für inventiones, die sich später allesamt und oftmals genau in dieser Reihenfolge in den Enzyklopädien wiederfinden: die Buchdruckerei, das Schießpulver und der Kompass.43 Auch bei Bacon bleibt die Rolle des Neuen dabei relativ, denn „Erfinden ist Entdecken (‚for to invent is to discover‘)“.44 Was wir bei Bacon allerdings auch lesen, ist dieses: „Die Erfindungen sind gleichsam neue Schöpfungen (novae creationes) und sind Nachahmungen der göttlichen Werke.“45 Somit mag Bacons inventor zwar ‚nur‘ entdecken, gleichsam legt er jedoch keine Dinge frei, die Gott nur versteckt hat. Er kreiert etwas Neues. Und mit dieser Gleichsetzung von Göttlichem und Erfinderischem kommt erstmals der Geniegedanke auf. Und damit ist, man kann es nicht anders sagen, ein weiterer Umbruch vollzogen.46 Durch die Erneuerung der inventio [...] soll ein einziger Begriff, der ursprünglich eine rhetorische Technik des enthüllenden Findens bezeichnete, nun sowohl seine ‚uneigentliche‘, dialektische Ausformung als Wiederfinden von Bekanntem
42 Ebd., S. 147. 43 Vgl. ebd., S. 148 f. 44 Bacon: Novum Organum I, S. 183. 45 Ebd., S. 269. 46 Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 151.
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Möglicherweise ist das die Ursache dafür, dass sich ein weiterer Philosoph, nämlich Immanuel Kant, dem Erfinden annimmt. Und dieser zieht schließlich die uns heute so vertraute Grenzlinie zwischen der Erfindung und der Entdeckung. In seiner Schrift VON DER ORIGINALITÄT DES ERKENNTNISSVERMÖGENS ODER DEM GENIE, die er zwischen 1796 und 1797 verfasst, heißt es: Etwas erfinden ist ganz was anderes als etwas entdecken. Denn die Sache, welche man entdeckt, wird als vorher schon existierend angenommen, nur daß sie noch nicht bekannt war, z.B. Amerika vor dem Kolumbus; was man aber erfindet, z.B. das Schießpulver, war vor dem Künstler, der es machte, noch gar nicht bekannt. Beides kann Verdienst sein. Man kann aber etwas finden, was man gar nicht sucht (wie der Goldkoch den Phosphor), und da ist es auch gar kein Verdienst.48
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im Kanon der Autoritätsschriften umschließen als auch seine die ‚eigentliche‘, nämlich das mystische Enthüllen des Neuen als etwas von Gott im Schoß der Natur Verborgenen, aber auch die nova creatio dieses Neuen durch den Menschen selbst – eines Neuen, das es insofern vorher noch gar nicht gegeben hat [...] Das Eindringen des nova creatio treibt den klassischen Erfindungsbegriff ans Ende seiner Tragfähigkeit.47
Und damit kreiert Kant nun die Definition fürs Erfinden schlechthin, die die Enzyklopädien seitdem beinahe wortgleich wiederholen. Er beschließt diesen Absatz mit den Worten: „Nun heißt das Talent zum Erfinden Genie.“49 Fortan ist es die schöpferische Kraft, die Gottähnlichkeit, die alle Schöpfer*innen von Erfindungen eint – seien es nun technische, philosophische oder ästhetische Werke. Dabei stellt Kant nicht nur das eben noch vorherrschende ErfinderEntdecker-Modell endgültig auf den Kopf, sondern begründet diese Definition mit dem Zusammenspiel von genialer Kreation und Reproduzierbarkeit.50 Man legt aber diesen Namen [das Genie] immer nur einem Künstler bei, also dem, der etwas zu machen versteht, nicht dem, der bloß vieles kennt und weiß; ... einem seine Werke ursprünglich hervorzubringen aufgelegtem Künstler; endlich
47 Ebd., S. 152. 48 Kant: Von der Originalität des Erkenntnißvermögens oder dem Genie, S. 543. 49 Ebd. 50 Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 151.
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auch diesem nur, wenn sein Produkt musterhaft ist, d.i., wenn es verdient, als Beispiel (exemplar) nachgeahmt zu werden.51
In diesem Moment betritt also der schöpfende homo faber die Bildfläche (und geht auch nicht mehr weg). Und damit kann dieser Abschnitt in seine zweite Runde gehen und aufzeigen, wie sich die Schichtungen des Erfindens in ihren heutigen, nach wie vor disparaten Bedeutungen zueinander verhalten. Vermehrt taucht nun nämlich die Frage auf, wem die geniale, musterhafte und nachahmenswerte Erfindung gehört. Und obwohl die meisten Patentgesetze in Europa im 18. und 19. Jh. etabliert werden, finden sich erste Zeugnisse für die Namhaftmachung von Erfinderpersönlichkeiten schon viel früher. So bestätigt Johann von Luxemburg, König der Böhmen, im Jahr 1315 einen Vertrag mit den Gewerken der Altengerber Erzgruben in Mähren, in dem einem Heinrich Rotärmel ein Entgelt für ein Entwässerungssystem zugesichert wird.52 „Rotärmel und seine Erben sollten einen Anteil an den Erzeinnahmen erhalten, solange die neue Vorrichtung funktionierte.“53 Das erste überlieferte Patentgesetz stammt aus einem venezianischen Senatsbeschluss aus dem Jahr 1474 und ist in dieser Form tatsächlich vorbildlos. Es wird festgesetzt, dass „neue Erfindungen [...] in Zukunft gemeldet und nach einer Prüfung auf Brauchbarkeit für zehn Jahre vor Nachahmern geschützt werden“54 sollen. Bis zum Beginn des 19. Jhs. setzen sich Erfindungspatente dann weltweit durch, wobei unterschieden werden muss zwischen Patenten im Sinne von Privilegien und echten Erfindungspatenten. Früh, nämlich schon im Jahr 1623, wird diese Unterscheidung im englischen Königreich manifest. Durch einen Parlamentsbeschluss wird der oftmals willkürlichen Vergabe von Gewerbsprivilegien und Monopolen durch die Krone ein Riegel vorgeschoben. Nur noch „die Gewährung eines Erfindungspatents an den wahren und ersten Erfinder“55 ist gestattet. Es dauert eine Weile, bis andere Staaten ähnliche Verordnungen und Gesetze erlassen. In den Vereinigten Staaten von Amerika wird der Schutz erfindender Personen 1776 als eines der vom Kongress beschlossenen
51 Kant: Von der Originalität des Erkenntnißvermögens oder dem Genie, S. 543. 52 Vgl. Dohrn-van Rossum: Novitates – Inventores, S. 35. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 (Art.) Erfindung. In: Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 6, S. 269.
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Menschenrechte proklamiert. In Frankreich wird dieser Schutz als eine Folge der Revolution erstmals 1791 per Gesetz garantiert. In den deutschen Fürstentümern hingegen gibt es noch lange Privilegien, die durch die Landesherren nach oftmals undurchsichtigen Regeln gewährt werden. Erst im Jahr 1815 wird das Erteilen von Erfindungspatenten beispielsweise in Preußen dem Handelsminister übertragen. Auch in anderen deutschen Staaten (Bayern 1825, Württemberg 1836 oder Sachsen 1853) werden Patentgesetze erlassen.56 1877 nimmt das Kaiserliche Patentamt seine Tätigkeit auf. Nur einen Tag später wird das erste deutsche Patent für ein Verfahren zur Herstellung einer rothen Ultramarinfarbe erteilt. Zwischen 1919 und 1945 trägt die Behörde den Namen Reichspatentamt, 1945 wird sie als Deutsches Patentamt wiedererrichtet und 1998 in Deutsches Patent- und Markenamt umbenannt.57 Beinahe alles, was das patentrechtliche Erfinden heute ausmacht, ist in den ersten Regelungen schon angelegt. Da Patente erst gelten, wenn sie publiziert sind, kommt es um 1800 zu einer bisher nie dagewesenen Sichtbarkeit von technischen Innovationen. Als eine Konsequenz daraus entwickelt sich nach Jahrhunderten der Traditionsbewusstheit das Fortschrittsdenken zum gesellschaftlichen Leitbild. Es wird, wie Reinhart Koselleck schreibt, „zum allgemeinen Erfahrungssatz der wissenschaftlich-technischen Erfindungen, dass sie weitere Fortschritte verheißen, ohne sie im Voraus berechnen zu können“.58 Aufschwung erhält dieses Konstrukt noch einmal, als Charles Darwin 1859 seine Theorien ÜBER DIE ENTSTEHUNG DER ARTEN vorstellt. „Seitdem die Natur historisiert wurde, konnte auch sie progressiv ausgelegt werden und damit Aussichten eröffnen, die den zivilisatorischen Fortschritt naturgeschichtlich absicherte.“59 Und auch wenn das Fortschrittsdenken inzwischen kritisch hinterfragt wird, ist der Glaube daran, dass technische Innovationen die Gesellschaft in eine höhere Vollkommenheit bringen, nach wie vor verbreitet.60 Das
56 Vgl. ebd., S. 269 f. 57 Vgl. Deutsches Patent- und Markenamt: Geschichte des Deutschen Patent- und Markenam-
tes im Überblick.
58 Koselleck: (Art.) Fortschritt. In: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 410. 59 Ebd., S. 420. 60 Vgl. Schmidt: Ist das Neue das Bessere?, S. 9.
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wirkt unmittelbar auf die Praxis des Erfindens zurück, denn dieses unterliegt, wie Derrida anmerkt, einer ausgeprägten Programmatik. Wir verfügen heute über vergleichende Statistiken bezüglich der Erfindungspatente, die jedes Jahr von sämtlichen Ländern der Welt erteilt werden. Die heftige Konkurrenz aus offensichtlichen wirtschaftspolitischen Gründen bestimmt die Entscheidungen auf Regierungsebene. Wenn Frankreich zum Beispiel der Ansicht ist, in diesem Wettlauf um Erfindungspatente Fortschritte machen zu müssen, beschließt die Regierung, einen bestimmten Budgetposten zu erhöhen und über ein bestimmtes Ministerium öffentliche Gelder zuzuschießen, um die patentierten Erfindungen zu bestellen/befehlen (commander), zu induzieren oder anzuregen.61
Mit dieser Entwicklung, mit der Einführung und Etablierung der Erfindungspatente, dürfte der aus heutiger Sicht nachhaltigste Umbruch und gleichsam die bedeutsamste Konjunktur des Erfindens benannt sein. Fortan und bis in die Gegenwart scheint nur noch eine einzige Bedeutung zu existieren, nämlich die des patentrechtlichen Erfindens. Folgerichtig heißt es 2021 in der OnlineAusgabe des BROCKHAUS’: Im engeren Sinn versteht man unter Erfindungen nur technisch wirkende Einfälle. Auf diesem Gebiet sind Erfindungen patent- oder gebrauchsmusterrechtlichem Schutz zugänglich, wenn sie mit neuen Mitteln ein bereits bekanntes oder mit bekannten Mitteln ein neues Ergebnis (Produkt oder Verfahren) hervorbringen, wenn sie sich zudem ausreichend vom handwerklichen Durchschnittskönnen abheben (Erfindungshöhe) und zu gewerblich anwendbaren Problemlösungen führen.62
Die Möglichkeit eines ereignishaften Erfindens, das Innovationen ohne Patente schafft, wird erwähnt, steht aber unter der Bedingung, dass nicht nur eine individuelle Leistung, sondern auch eine „wiederholbare Anweisung zur Nutzbarmachung von Natur- und Formgesetzen mit dem Ziel der Befriedigung
61 Derrida: Psyche. Erfindung des Anderen, S. 53. 62 (Art.) Erfindung. In: Brockhaus-Online.
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menschlicher Bedürfnisse“63 nachweisbar sein muss. Dinglose (ästhetische oder ideelle) Erfindungen fallen, da sie „Schöpfungen“64 sind, aus der Kategorie heraus. Das stimmt einerseits, denn wer möchte die Autorität einer renommierten Enzyklopädie in Frage stellen? Es stimmt andererseits nicht, und zwar nicht nur, weil es Erfindungen ohne Erfinder*innen gibt. Vielmehr steht hier die ganze Begriffsgeschichte, in der die Mehrdeutigkeit des Erfindens ja auch historisch dargelegt wurde, auf dem Spiel. Drei kurze Geschichten zeigen nachfolgend, dass der Begriff des Erfindens auch in der Moderne nichts von seiner Vielschichtigkeit eingebüßt hat. Es kommt nur darauf an, auf welchem Gebiet das Erfinden angesiedelt wird – auf dem Gebiet der Technik, der Sprache, der Fiktion, der ideellen Vorstellungen oder eben des Rechtswesens.65 Die erste Erfindungsgeschichte geht so: Im Jahr 1800 erfindet Robert Fulton das Unterseeboot. Am 24. Juli 1800 geht in der Seine bei Rouen die Nautilus zu Wasser. Sie hat einen 6,5 Meter langen, zylindrischen, mit Kupferblech beschlagenen Bootskörper, ist mit einem umlegbaren Mast und zwei Segeln für den Überwasserantrieb, einem Tiefenruder und einem Handkurbelmechanismus für den Unterwasserantrieb ausgestattet. Die Tiefenmessung erfolgt mit Hilfe eines Barometers, die Luftversorgung durch an Bord befindliche Pressluftbehälter. Unter Verwendung einer am Bug angebrachten Spiere mit einer Explosivladung kann die Nautilus Schiffe sprengen.66 Dem eher praktisch veranlagten Napoleon, der den Prototypen finanziert hat, wird schnell klar, dass ein Tauchboot ohne vernünftigen Antrieb als Kriegsgerät unbrauchbar ist; zumal Fultons Variante für die Bediener potenziell tödlicher ist als für den Feind, denn der Luftvorrat reicht bei Kerzenlicht nur für drei Stunden und die mitgeführte Waffe ist nichts anderes als ein Fass Schießpulver mit einem Zeitzünder.67 Auch Fulton erkennt diese Makel und kanalisiert seine Bemühungen fortan auf die Entwicklung dampfbetriebener Schiffsmotoren.
63 Ebd. 64 Ebd. 65 Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 75. 66 Vgl. Hutchinson: Kampf unter Wasser, S. 10. 67 Vgl. Preston: Die Geschichte der U-Boote, S. 9; vgl. Duppler: Die ‚Erfindung‘ des Uboo-
tes und seine Entwicklung bis zur Einsatzreife zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Deutsches Schiffahrtsarchiv, S. 26.
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Was er hingegen nicht weiß, ist, dass er gerade vollkommen unbemerkt den Propellerantrieb erfunden hat.68 Doch als dessen Erfinder gilt der österreichische kaiserlich-königliche Marineforstintendant Josef Ressel, der im Jahr 1827 ein Patent dafür erhält. Für die Nautilus dagegen existiert kein Patent. Wir kennen Fulton heute als den Erfinder des Dampfschiffs. Auch das ist freilich nur die halbe Wahrheit, aber eine andere Geschichte. Die zweite Erfindungsgeschichte ist diese: Im Jahr 1869 erfindet Jules Verne das Unterseeboot. Vernes Nautilus ist jedoch ein fiktives Unterseeboot und spielt eine zentrale Rolle in den Abenteuerromanen ZWANZIGTAUSEND MEILEN UNTER DEM MEER und DIE GEHEIMNISVOLLE INSEL. Die Angaben über die Größe des Schiffs sind eher vage. Es befördert vermutlich über 20 Personen, ist 70 Meter lang und bis zu 8 Metern breit. Das Schiff ist glatt und zigarrenförmig und scheint in drei Decks und unzählige Abteilungen eingeteilt zu sein. Erbaut wurde die Nautilus auf der einsamen Insel Vulcania im Pazifik, die nach wie vor ihr Heimathafen ist; die Baukosten betrugen ca. 5 Mio. Francs. Verne nimmt in seiner Beschreibung der Nautilus zahlreiche Anlagen vorweg, die zu dieser Zeit noch gar nicht erfunden sind. Antrieb, Steuerung und Beleuchtung werden elektrisch und vermutlich mittels Brennstoffzellen betrieben. Auf- und abtauchen kann sie mit Hilfe ihrer Ruder und durch ihren Zweihüllenrumpf, dessen Kammern entweder geflutet oder leer gepumpt werden. Für die Frischluftzufuhr existieren Presslufttanks. Kein einziges zeitgenössisches U-Boot ist so weit entwickelt, dass es der Nautilus als Vorbild dienen könnte.69 Schließlich die dritte Erfindungsgeschichte: Im Jahr 1900 erfindet Maxime Laubeuf das Unterseeboot. Schon im Jahr 1896 hat das französische Kriegsministerium einen Wettbewerb für ein neues U-Boot ausgeschrieben. Es soll eine Reichweite von 100 Meilen über dem Wasser haben, vier Torpedos besitzen, eine Standardverdrängung von 200 Tonnen Wasser aufweisen und wenigstens zehn Seemeilen weit tauchen können. Der französische Ingenieur Laubeuf kann sich gegen zahlreiche Konkurrenten durchsetzen. Das Schiff wird in Auftrag gegeben und kann als Narval im Jahr 1900 den Dienst antreten. Die Einzigartigkeit des Prototyps besteht einerseits in seinem Antrieb, denn er
68 Vgl. Schmitt: Robert Fultons erstes Dampfschiff, S. 67–71. 69 Vgl. Verne: 20.000 Meilen unter dem Meer, u.a. S. 46, 55 ff.
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besitzt sowohl einen Elektromotor für Tauchfahrten als auch einen Dampfhubkolbenmotor für Überwasserfahrten und zum Aufladen der Akkumulatoren. Alle modernen U-Boote (mit Ausnahme der Atom-U-Boote) benutzen bis zum heutigen Tag dieses kombinierte Antriebssystem. Andererseits verwendet Laubeuf erstmals erfolgreich den Zweihüllenrumpf, den Verne bereits seiner Nautilus zugeschrieben hat. Das bedeutet, dass sich die Treibstofftanks und die Tauchzellen, die zum Ab- und Auftauchen gefüllt oder geleert werden, zwischen einer äußeren und einer inneren Hülle des Schiffsrumpfes befinden. Dieses Konzept bleibt lange grundlegend bei der Konstruktion von U-Booten und wird noch heute bei einigen Modellen verwendet.70 Laubeuf hat sich am Beginn des 20. Jhs. eine Vielzahl von Patenten gesichert, die alle im Zusammenhang mit dem Bau und Design von U-Booten stehen.71 Als der Industrielle Friedrich Krupp, der 1902 die Kieler Germaniawerft gekauft hat, 1904 ein U-Boot nach Russland liefert, löst das beinahe eine diplomatische Krise aus, denn es ähnelt in jeder Hinsicht den Bauplänen Laubeufs, was daran liegen könnte, dass der federführende Konstrukteur Raimondo Lorenzo d’Equevilley Montjustin zuvor für Laubeuf gearbeitet hat. Die Plagiatsvorwürfe sind bis heute nicht widerlegt.72 Die drei Geschichten liefern unterschiedliche Konzepte auf die Frage nach dem Erfinden. So ist es für Laubeufs Narval eine notwendige Voraussetzung, dass er ein funktionierendes ‚Ding‘ erschaffen hat; ein Unterseeboot also, das der vorangegangenen Ausschreibung entspricht, das ab- und wieder auftauchen kann, seine Passagiere in der Zwischenzeit nicht umbringt und nebenbei militärische Erfolge generiert. Die Einzigartigkeit der Antriebstechnik und der Zweihüllenrumpf führen dazu, dass die Narval prägend für alle zukünftigen Unterseeboote wird und Laubeuf zudem aus patentrechtlicher Sicht als Erfinder eines Unterseebootes gilt. Das wäre anders, wenn Laubeuf die Narval zwar erfunden, aber nicht hätte realisieren können. So könnte beispielsweise sein
70 Vgl. Preston: Die Geschichte der U-Boote, S. 15; vgl. Duppler: Die ‚Erfindung‘ des Uboo-
tes und seine Entwicklung bis zur Einsatzreife zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Deutsches Schiffahrtsarchiv, S. 30. 71 Google Patents verzeichnet alleine für Frankreich 14 Patente auf Laubeufs Namen (zwischen 1906 und 1915). Alle stehen im Zusammenhang mit dem Schiffsbau. 72 Vgl. Preston: Die Geschichte der U-Boote, S. 18 f.
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Entwurf auf falschen Tatsachen beruhen oder sich als nicht funktionstüchtig erweisen. Das hätte zur Folge gehabt, dass Laubeuf entweder der Erfinder eines theoretischen Konzepts oder ein Geschichtenerzähler oder gar ein Lügner wäre. Und dann hätte er das Unterseeboot nur – erfunden. Dies nun aber in einer ereignishaften oder ästhetischen Bedeutung, der der Umstand zugrunde liegt, dass die reale Welt keine solchen Ideen oder Gegenstände kennt. Verne hingegen hätte, wenn seine Geschichte wahr gewesen wäre, die Nautilus nicht erfunden (im ästhetischen Sinne), sondern das erzählte Abenteuer erlebt. Oder er hätte sie tatsächlich erfunden, indem er beispielsweise einen Bauplan für ein Unterseeboot vorlegt (ereignishaftes Erfinden) oder ein solches Fahrzeug zur Patent- oder Marktreife bringt (patentrechtliches Erfinden). Schaut man auf die Nachwirkungen seiner Geschichte, auf die zahlreichen Adaptionen und auf die Unterseeboote, die im 20. Jh. zum Standard werden, so könnte man sogar von einer ideengeschichtlichen Erfindung sprechen. Er hat ein wirksames ideelles Motiv erschaffen, das für alle Erzählungen, die von der Fahrt mit einem Unterseeboot berichten (egal ob real oder fiktiv) prägend ist. Für Vernes Art des Erfindens jedoch lässt sich keine Methode festhalten und sie lässt sich, wie wir spätestens seit Walter Benjamin wissen, auch nicht ohne Auraverlust reproduzieren. Man kann sie lediglich nachahmen, weshalb sie aus dem Bereich aller dinghaften und technischen Erfindungen auszuschließen ist. Fultons Nautilus hingegen ist keine Fiktion und keine Lüge – sie existiert, doch sie funktioniert nicht besonders gut und hat es deshalb nicht zur Marktreife gebracht. Zudem hatte der zuständige Minister in Frankreich Bedenken geäußert, ob ein bewaffnetes Tauchboot, das andere Schiffe versenken kann, tatsächlich eine „ehrliche Waffe für französische Soldaten“ sei.73 Obwohl die Nautilus also neu und innovativ ist und sogar Potenzial zur Patentierung besitzt, bleibt sie damit ereignishaft.74 Es ist nicht ungewöhnlich, dass Begriffe ein Eigenleben besitzen und im Laufe der Zeit unterschiedliche Bedeutungsebenen durchlaufen. Dennoch hinterlassen die Umbrüche und Konjunkturen des Erfindens – angefangen
73 Duppler: Die ‚Erfindung‘ des Ubootes und seine Entwicklung bis zur Einsatzreife zu Beginn
des 20. Jahrhunderts. In: Deutsches Schiffahrtsarchiv, S. 26.
74 Vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 76 f.
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mit der antiken Praxis der inventio und endend bei den disparaten Bedeutungsebenen in der Gegenwart – ein verstörendes Gefühl, weil sich etwas, das doch anfangs eindeutig zu sein schien, als höchst widersprüchlich erweist. Erstaunlicherweise ist es nun Derrida, der in seinen Gedanken über die ERFINDUNG DES ANDEREN genau diese Vieldeutigkeit zum Ausgangspunkt nimmt, um das Erfinden nicht nur zu dekonstruieren, sondern es am Ende in einer eindeutigen Bestimmung wieder auferstehen zu lassen. Natürlich, so Derrida, ist das Erfinden mehrdeutig. „Einerseits erfindet man Geschichten (fiktive oder fabelhafte Erzählungen), andererseits Maschinen [...] im weitesten Sinne des Wortes.“75 Sein erstes Auftreten ist jedoch immer ereignishaft und die Erfindung muss sich durch ein irgendwie geartetes System von Konventionen legitimieren.76 Deshalb repräsentiert das Erfinden immer eine Abweichung vom Status, mit der etwas Neues zum Vorschein kommt.77 „Die Erfindung kommt plötzlich herauf und kommt zuvor, sie geht über das Wissen hinaus, zumindest in seinem aktuellen Stand, seinem gegenwärtigen Status. Diese Differenz im Rhythmus verleiht der Zeit der Erfindung Kraft einer produktiven Bahnung.“78 Somit kann abschließend festgehalten werden, dass jedes Erfinden, sei es nun objektgebunden oder dinglos, technischer oder ästhetischer Natur, patentrechtlich abgesichert oder ereignishaft, einen Unterschied ‚macht‘. Es fügt kraft seines Innovationspotenzials und seiner Ereignishaftigkeit einen Bruch in technische, gesellschaftliche, kulturelle, ästhetische oder andere Gepflogenheiten oder Denkweisen ein und etabliert eine bis dahin unbekannte Differenz. GEGENBEGRIFFE Bis zum heutigen Tag kennt das Erfinden in den Wör-
terbüchern nur einen einzigen ‚Gegenpol‘: das Entdecken. In der neuesten Brockhaus-Enzyklopädie aus dem Jahr 2021 heißt es: „Von der Erfindung ist die Entdeckung abzugrenzen. Hierunter versteht man die bloße Auffindung einer Naturgesetzlichkeit“.79 Nun dürfte im Laufe des Textes deutlich geworden sein, dass das Entdecken nur aus der Perspektive des patentrechtlichen Erfindens ein
75 Derrida: Psyche. Erfindung des Anderen, S. 25. 76 Vgl. ebd., S. 18. 77 Vgl. ebd., S. 16. 78 Ebd., S. 66. 79 (Art.) Erfindung. In: Brockhaus-Online (2021).
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Gegenbegriffe Erfinden
sinnvoller Gegenbegriff sein kann. Aus historischer Sicht kann das Entdecken gar nicht vom Erfinden getrennt werden und noch in der Gegenwart finden wir Überlappungen zwischen den Begriffen. So merkt Claude Lévi-Strauss in seinen Gedanken zur bricolage an, dass Ingenieure/Gelehrte einerseits und Bastler andererseits „auf Botschaften [lauern], für den Bastler aber handelt es sich um Botschaften, die in gewisser Weise vorübermittelt sind und die er nur sammelt; [...] während der Mann der Wissenschaft, sei er nun Ingenieur oder Physiker, immer auf die andere Botschaft spekuliere.“80 Man muss dieser Differenzierung nicht bis ins letzte Detail folgen, doch selbst wenn es wahr ist, dass allein der Ingenieur das ‚Andere‘ sucht, während der Bastler es ‚nur‘ aufsammelt, gelten doch die Arbeitsergebnisse von beiden als Erfindungen. Ihnen gemein ist nicht nur eine Suchbewegung, sondern auch das Hervorbringen eines neuen Anderen. Umgekehrt lehrt uns die Geschichte der ‚großen Entdeckungen‘, dass auch diese erst in einem ideengeschichtlichen Sinne erfunden werden müssen. Als Christoph Kolumbus die ‚Neue Welt‘ findet, macht er sie umgehend mit der alten kompatibel, indem er versucht, „das von ihm vorgefundene Land ohne Unterschied hinsichtlich Wahrheit oder Fiktionalität den Berichten des Marco Polo, des fiktiven mittelalterlichen Weltreisenden John de Mandeville oder den Prophezeiungen der Medea-Tragödie des Seneca und der Bibel kommensurabel zu machen.“81 Und noch während er diese Kompatibilität herstellt, geht die alte Welt über in die Neuzeit. Man könnte also sagen, dass im Vorfeld von und im Anschluss an Kolumbus’ Reise durch die Lektüre zeitgenössischer und oft fiktional aufgeladener Texte eine neue Welt erfunden worden und eine neue Zeit angebrochen ist. Es ist inzwischen Konsens, dass sich mit dem ‚Anderen‘ auch immer das ‚Eigene‘ neu erfinden muss. Wenn also der kleinste gemeinsame Nenner allen Erfindens das Neue und das Aufbrechen eines vorherrschenden Zustandes ist, dann kann der Gegenbegriff des Erfindens nur das Traditionelle sein. Das Neue „führt in die friedliche Ordnung der Dinge eine Unordnung ein, sie bringt Unruhe in die gewohnten
80 Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 33. Lévi-Strauss verwendet tatsächlich nur die männli-
chen Formen.
81 Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 23.
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1. Alles, was es schon gibt, wenn du auf die Welt kommst, ist normal und üblich und gehört zum selbstverständlichen Funktionieren der Welt dazu. 2. Alles, was zwischen deinem 15. und 35. Lebensjahr erfunden wird, ist neu, aufregend und revolutionär und kann dir vielleicht zu einer beruflichen Laufbahn verhelfen. 3. Alles, was nach deinem 35. Lebensjahr erfunden wird, richtet sich gegen die natürliche Ordnung der Dinge.84
Es muss natürlich nicht das Lebensalter sein, das die Grenze für die Einordnung von Innovation bildet. Das Zitat zeigt aber, dass das Traditionelle, die ‚Ordnung der Dinge‘ also, immer der Maßstab ist, an dem die Erfindung gemessen wird. Das wiederum führt zu einer fortwährenden Dynamik zwischen den Polen des Traditionellen und des Innovativen. René Girard hat dieses vermeintliche Paradox sehr anschaulich auf die Ökonomie angewendet. Wenn, so Girard, ein Unternehmen nicht so erfolgreich ist, dann schaut es häufig zunächst auf das, was die erfolgreichen Unternehmen anders machen. Es imitiert also, ohne etwas Neues zu erschaffen. Doch die Imitation kann kühner werden, das vormals gefährdete Unternehmen kann Änderungen vornehmen, die über diesen Standard hinausgehen.85 „In diesem Stadium kann sie – oder auch nicht – zu einer neuen Verbesserung führen, die zunächst unbedeutend erscheint, weil sie nicht auf eine Anregung des Vorbilds zurückgeht, in Wahrheit aber die eigentliche, umstürzende Innovation ist.“86 Es kommt also zu
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Schicklichkeiten“.82 Diese Unordnung kann sowohl ermutigend und revolu tionär als auch bedrohlich und düster daherkommen. Einen anschaulichen Beleg für diese Janusköpfigkeit liefert Douglas Adams, der „ein paar Regeln aufgestellt [hat], die unsere Reaktionen auf technische Neuigkeiten“83 einordnen:
82 Derrida: Psyche. Erfindung des Anderen, S. 11. 83 Adams: Lachs im Zweifel, S. 134. 84 Ebd. 85 Vgl. Girard: Nachricht von Neuerung, die drauf und drunter geht, S. 41. 86 Ebd.
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einem ständigen Wechselspiel zwischen Nachahmung und Neuerung, denn „in Wahrheit verläuft der kürzeste Weg zur Innovation über die Imitation.“87
Perspektiven Erfinden
PERSPEKTIVEN Es kristallisiert sich heraus, dass das Erfinden, als Praxis oder
als Begriff, fortwährend Abweichungen in Form von Neuigkeiten, Innovationen oder Ideen generiert. Diese Unbeständigkeit und Beweglichkeit innerhalb der Bedeutungsebenen steht diametral der Immobilität der zugrunde liegenden Rechtspraxis gegenüber. So ist etwa die Pariser Konvention von 1883 in nur geringfügiger Änderung (1967) bis heute gültig. Wie wenige andere Bereiche der Rechtsprechung hat das internationale Patentrecht sämtliche wirtschaftlichen, politischen und philosophischideologischen Peripetien des 20. Jahrhunderts nahezu unbeschadet überstanden und ist eines der wenigen noch heute gänzlich intakten Monumente positivistischer Metaphysik des 19. Jahrhunderts.88
Es gibt aber Perspektiven, die abseits vom dominierenden juristischen Narrativ stattfinden, denn erst als grundlegende Praxis in der Kultur- und Technikgeschichte erhält das Erfinden seine Daseinsberechtigung als Mediengebrauchsform. Eine solche kultur- und technikhistorische Perspektive ergibt sich, wenn hinterfragt wird, warum manche Innovationen Erfolg haben, während andere vergessen werden. Erfindungen wie Charles Babbages Differenzmaschine und die darauffolgende Konzeption der Analytischen Maschine sind papierne Monumente geblieben, Babbage gilt nicht als Erfinder des Computers. Andere Innovationen hingegen, wie die Fotografie oder das Telefon, wurden mehrmals und an unterschiedlichen Orten zugleich erfunden. In all diesen Fällen ist die Frage nach der Erfinderperson gar nicht zielführend, weil sie über die Bedingungen, unter denen Innovationen notwendig oder eben
87 Ebd. 88 Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 84. Einige wenige (allerdings nicht sehr
grundsätzliche) Änderungen gibt es aber doch, so hat das DPMA 2011 die elektronische Schutzrechtsakte eingeführt, nach der Patente und Gebrauchsmuster nun papierfrei und vollelektronisch verwaltet werden können. Seit 2013 ist eine Online-Anmeldung möglich. Im Jahr 2014 wird dann aus dem ‚Geschmacksmuster‘ das ‚eingetragene Design‘. (Vgl. Deutsches Patent- und Markenamt: Kernaufgaben).
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nicht notwendig waren, gar keine Auskunft gibt. „Die Technik kommt, wenn man sie braucht“ verkündet Béla Balázs deshalb in seiner frühen Filmtheorie. „Erfindungen, auch künstlerische, werden nie zufällig oder aus der Laune eines Genies geboren. Sie sind fällig, wenn ein ökonomisches oder ideologisches Bedürfnis danach vorhanden ist. (Der Erfinder braucht nichts davon zu wissen.)“89 Das ist nicht naiv, denn Balázs fordert zu nichts Geringerem auf, als sich vom Geniekult zu verabschieden und das Erfinden (in all seinen Facetten) in einen weiteren Kontext zu stellen, der sowohl das GesellschaftlichTechnische miteinschließt als auch die Frage nach dem Gebrauch. Solche Betrachtungsweisen, in denen Erfindungen medienkulturhistorisch verortet werden, existieren bereits in großer Zahl. Schon früh hat Wolfgang Schivelbusch das Innovationspotenzial der Eisenbahn mit den kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Gegebenheiten des 19. Jhs. abgeglichen. Dabei werden andere technische Entwicklungen ebenso zum Teil der Geschichte wie die Reisenden, die die Welt aus den Fenstern des Verkehrsmittels heraus ganz neu entdecken (oder vielleicht sogar neu erfinden).90 Christoph Asendorf hat die Geschichte der Luftfahrt untersucht, indem er ihre Auswirkungen auf die Kunst und Kultur der Moderne analysiert und nach der Veränderung des Raumbegriffs gefragt hat.91 Friedrich Kittler hat sich mit den Beziehungen zwischen technischen Erfindungen und militärischen Interventionen beschäftigt. Das wurde oft – und vielleicht auch zu Recht – kritisiert, denn er agiert mit drastischen Formulierungen, nach denen die Unterhaltungsindustrie ohnehin nichts anderes sei als der „Missbrauch von Heeresgerät“.92 Doch Innovation und Intervention vereint ja nicht nur der Moment des Bruchs mit einem Status Quo. Kriege sind tatsächlich Auslöser oder Katalysatoren technischer Entwicklungen. Fortwährend wandern militärische Erfindungen in die zivile Gesellschaft aus. Letztlich zeigt sich also, dass immer da, wo dem Versuch widerstanden wird, Patentgeschichten oder Erfinderbiografien zu erzählen, eine Perspektive für das Erfinden im medien-, kultur- und technik historischen Sinne besteht. Die Fragen, warum eine Erfindung in die Welt 89 Balázs: Der Geist des Films, S. 21. 90 Vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. 91 Vgl. Asendorf: Super Constellation – Flugzeug und Raumrevolution. 92 Vgl. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 149.
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Perspektiven Erfinden
gekommen ist oder warum ein vorherrschender Zustand aufgebrochen wird, lassen sich besser beantworten, wenn der Fokus vom Erfindungsgegenstand weg auf das Umfeld und die Bedingungen des Erfindens gerichtet wird. Eine weitere Perspektive ergibt sich in Bezug auf die Erfinderpersonen. Einerseits, weil sie keinesfalls immer männlich waren und schon gar nicht immer männlich sind. Andererseits, weil Erfindungsgeschichten erzählt werden können, ohne in den Modus der Heldengeschichte zu verfallen. Das Erfinden wird nicht nur zunehmend institutionalisiert und findet projektbasiert statt; Erfindernamen sind oftmals nur Variablen, das zeigt Keoghs Patent auf das Rad ganz deutlich. Die Regeln erfordern, dass es sie gibt, damit die Patentämter einen Namen für ihr Schriftstück haben und damit Erfindungsgeschichten besser erzählt werden können. Doch auch beim Erfinden muss die Autorenfigur in Frage gestellt werden: „Denn wenn die Geschichte der Technik den Erfindern zugeschrieben wird, verdeckt sie die Eigendynamik einer Forschung, die nicht nur gerichtet, sondern zusehends absehbar erscheint.“93 Stefan Heidenreich verweist in diesem Zusammenhang auf Bruno Latour, der „den Versuch unternommen [hat], wissenschaftliche Entdeckungen so zu beschreiben, dass die Akteure ihre Plätze vertauschen“.94 Exemplarisch erzählt Latour die Geschichte von Louis Pasteur und dem Milchsäureferment. Danach berichtet Pasteur, der so manchem Nachschlagewerk ohnehin nicht als Erfinder gelten würde, weil er das Milchsäureferment ja ‚nur‘ entdeckt hat, im Jahr 1858 von einer eigenen Hefe der Milchsäure.95 „Am Anfang von Pasteurs Bericht hat die Milchsäuregärung noch keine klare, isolierbare Ursache [...]. Am Ende des Berichts ist die Hefe dagegen eine voll entwickelte, eigenständige Entität.“96 Er erreicht das, indem er der ‚Entität‘, also dem späteren Milchsäureferment, so viel Stabilität und Aktivität wie möglich zuschreibt.97 „Zunächst besteht die Entität aus flottierenden Sinnesdaten, dann wird sie als Aktionsname
93 Heidenreich: Flipflop, S. 48. 94 Ebd. 95 Vgl. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 140. 96 Ebd., S. 141. 97 Vgl. ebd., S. 145.
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verstanden und schließlich in ein organisches, pflanzenähnliches Lebewesen verwandelt, das einen Platz in einer feststehenden Taxonomie einnimmt.“98 An dieser Stelle ist ein Punkt erreicht, an dem belegt wird, dass nichtmenschliche Wesen in der Lage sind, Informationen durch Transformation zu transportieren, „wenn sie sich [...] aus kaum existierenden Attributen in eine vollgültige Substanz verwandeln“.99 Pasteur hat also, mit anderen Worten, einen Akteur designt; „wir müssen verstehen, dass das Milchsäureferment nicht von Pasteur, sondern vom Ferment erfunden wird.“100 Doch damit nicht genug, bei Latour tauschen der Erfinder und die Erfindung am Ende gänzlich die Plätze. Pasteur und das Milchsäureferment erfinden sich nämlich gegenseitig. „Pasteur verhilft dem Ferment dazu, seine Standfestigkeit zu beweisen, und das Ferment verhilft Pasteur zu einer seiner vielen Medaillen [...]. Wenn Pasteur gewinnt, finden wir unterm Strich zwei (teilweise) neue Akteure: eine neue Hefe und einen neuen Pasteur!“101 Somit sind es nicht die Biografien, die Erfindungen hervorbringen, sondern es verhält sich umgekehrt: „Biografien werden erst dann notiert und publiziert, wenn ein Ereignis den Anlass dazu gegeben hat. Es löst die Erzählung der Biografie aus.“102 FORSCHUNG Der vorliegende Text zeigt, dass der Begriff des Erfindens,
sobald er in seiner ganzen Bandbreite betrachtet wird, fortwährend droht auseinanderzufallen. Deshalb besteht die vorgeschlagene Forschungsperspektive darin, einen Begriff zu entwickeln, der mehr kulturelle, mediale und technische Besonderheiten in sich birgt und dafür weniger von der juristischen Praxis abhängig ist. Erfinden ist nämlich nicht das Gegenteil vom Entdecken, die Erfindung ist nicht allein der reproduzierbare Standard, der zwangsläufig auf ein Erfindungsereignis folgt, Erfinden betrifft nicht nur ökonomisch verwertbare Produkte, sondern auch Prototypen, die unverwertbar bleiben, sowie Entwürfe oder ästhetische und ideelle Erfindungen, die weder Dinge noch Sachen sind. Und Erfinden ist keine genuin männliche Eigenschaft, obwohl
98 Ebd., S. 147. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 150. 101 Ebd. 102 Heidenreich: Flipflop, S. 18.
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Forschung Erfinden
das Patentgesetz das bis zum heutigen Tage suggeriert, weil es – wie alle anderen Gesetze auch – im generischen Maskulinum verfasst ist.103 Man darf das pingelig finden – es ist aber mehr als offensichtlich, dass das weibliche Geschlecht in der Geschichte des Erfindens, ja sogar in seiner Grammatik, deutlich unterrepräsentiert ist. Die Gründe dafür sind vielschichtig, insbesondere für die Vergangenheit fehlen nicht nur Aufzeichnungen von und über Frauen mit erfinderischem Potenzial – ihre Arbeit wurde auch systematisch behindert, indem ihnen der Zugang zu Universitäten und Forschungseinrichtungen verwehrt blieb. Inzwischen dürfte dieser Trend, wenn schon nicht gestoppt, dann doch zumindest erkannt worden sein. Das Problem ist jedoch nach wie vor existent. Charles Babbage beispielsweise hatte mit den von ihm erfundenen Maschinen bekanntermaßen kein Glück; ein echter Segen hingegen war seine produktive Bekanntschaft mit Ada Lovelace. Im Gegensatz zu Babbage wusste Lovelace schon längst, dass Maschinen auch anderes als Zahlen verarbeiten [könnten], wenn man Gegenstände fände, deren wechselseitige Basisrelationen sich abstrakt logisch ausdrücken und an das Funktionieren von Notierung und Mechanismus der Maschine anpassen ließen. Nehmen wir zum Beispiel an, die Basisrelationen von Tönen einer bestimmten Tonart in Harmonie- und Kompositionslehre ließen sich solcherart ausdrücken und adaptieren, so wäre die Maschine in der Lage, elaborierte wissenschaftliche Musikstücke jedweder Komplexität und Länge zu komponieren.104
Lovelace erfindet in ihrer Übersetzung des SKETCH OF THE ANALYTICAL ENGINE von L. F. Menabrea den Computer in seiner modernen, universalen Bedeutung, denn niemand sonst, nicht einmal Babbage selbst, kann sich in der Mitte des 19. Jhs. vorstellen, dass eine Rechenmaschine noch einen anderen Verwendungszweck haben könnte als den, mathematische Probleme zu lösen. Ihr Text ist über lange Zeit die einzige Form, in der man die Analytische Maschine
103 Nur ein Beispiel: aus dem Patentgesetzt: „Das Recht auf das Patent hat der Erfinder oder sein
Rechtsnachfolger.“ Patentgesetz, PatG, 1. Abschnitt: Das Patent §6.
104 Lovelace: Anmerkungen zu: Skizze der Analytical Engine … von L. F. Menabrea, zit. n.:
Bexte/Schimm: Lady Ada Lovelace/L.F. Menabrea …, S. 116.
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überhaupt als existent bezeichnen kann.105 Ada Lovelace ist nicht vergessen – doch als Erfinderin des Computers dürfte sie kaum jemandem ein Begriff sein. Die Lösung dieses Dilemmas ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach, zumal sie im Widerspruch steht zur Anregung, den Erfinderbiografien weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn nun hier dazu aufgefordert wird, sich einen schärferen Begriff vom Erfinden zu machen (ohne ihn übrigens gänzlich neu zu erfinden), dann wäre die Untersuchung der kulturhistorischen Einflüsse, die das Weibliche über Jahrhunderte hinweg insbesondere aus dem technischen Erfinden getilgt haben, immerhin schon ein Anfang, um zu zeigen, was die Welt mit der Erfinderin und dem Erfinder, mit der Erfindung (als Ding und Maschine) und der Erfindung (als Lüge oder Einfall) ‚macht‘. Das Erfinden in der Gegenwart hat sich denkbar weit von der antiken inventio entfernt. Dennoch bleibt die Gemeinsamkeit der Differenz zwischen einem stabilen Zustand und einer produktiven Kraft, die diesen Zustand (kurzzeitig oder dauerhaft) aufbricht. Würde die Lücke zwischen den Bedeutungspolen geschlossen werden, so stünde nicht nur ein Begriff zur Verfügung, mit dem abseits von Patentgesetzen ein Diskurs über einen hochkomplexen Sachverhalt geführt werden kann. Es könnte auch ein Instrumentarium, ja ein Schlüsselbegriff in der Kulturgeschichte entwickelt werden, mit dem man dem Auftauchen des Neuen, sei es als Ding oder als Idee, begegnen kann.
105 Vgl. Bexte/Schimm: Lady Ada Lovelace/L.F. Menabrea: Skizzen der analytischen Maschine,
S. 107.
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FAKEN PETRA S. MCGILLEN
ANEKDOTE Im Frühling 1763 wird der in Rom lebende Altertumsforscher
Anekdote Faken
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und Begründer der Klassischen Archäologie, Johann Joachim Winckelmann, zum „Ober-Aufseher der Alterthümer der Apostolischen Kammer“1 ernannt. Jede antike Statue, jedes Gemälde, das aus Rom exportiert werden soll, muss fortan über seinen Schreibtisch und der päpstliche Antiquar ist über neue Funde bestens informiert. Etwa ein Jahr später berichtet er einem Freund brieflich von einer bis dato unbekannten Venus-Statue, die in einem römischen Haus – anderen Quellen zufolge im Keller des Palazzo Barberini – entdeckt worden sei und sich nun in den Händen des englischen Kunsthändlers Thomas Jenkins befinde. Laut Winckelmann übertrifft die Statue, die nach heutigem Kenntnisstand auf das 1. oder 2. Jh. n. Chr. zurückgeht, „alle übrige Venus“. Sie stelle „ein junges Mädgen von völligem Gewächse vor“ und sei „dermaßen wohl erhalten, daß kein einziger Finger fehlet“. Winckelmanns abschließendes Urteil lässt keinen Zweifel am Wert der Entdeckung: „Es ist eine entzückende Schönheit, und verdiente allein eine Reise nach Rom.“2 Winckelmanns Mitmenschen sind ähnlich hingerissen – einer von ihnen, der englische Neureiche William Weddell, so sehr, dass er Jenkins die marmorne Liebesgöttin für eine unerhörte Summe abkauft und ihr zu Ehren sogar die Gemälde- und Skulpturengalerie auf seinem Anwesen in Nord-Yorkshire, Newby Hall, umbauen lässt. Was weder der arglose Käufer noch der päpstlich autorisierte Kunstgutachter wissen: Die von Jenkins als ‚intakt‘ angepriesene Statue ist nur dank einer rigorosen ‚Restauration‘ so (vermeintlich) vollständig erhalten. Die Nasenspitze, der rechte Arm, der linke Unterarm sowie Teile des Haars, Gesäßes, eines Beins und eines Fußes sind das Werk eigens angeheuerter Skulpteure aus Jenkins’ Umfeld; bis heute wird diskutiert, ob nicht vielleicht sogar der gesamte Kopf einer anderen Statue abgeschnitten und kurzerhand auf den
1 Winckelmann: Briefe, Bd. 2, S. 308. 2 Winckelmann: Briefe, Bd. 3, S. 44.
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Anekdote Faken
Körper der „Jenkins-Venus“ gesetzt wurde.3 In einem einschlägigen Ausstellungskatalog des British Museum wird die „Jenkins-Venus“ daher als ein „paradigmatic example of a fake“4 geführt. Die Einordnung durch das British Museum wirft Fragen auf und führt zugleich in die Problematik des Fakens ein. Welche Maßstäbe werden angelegt, wenn man die Venus als ‚gefakt‘ kategorisiert? Jedenfalls nicht die des 18. Jhs. Dass antike Skulpturen restaurierend ergänzt werden, um ein Ideal von Einheit und Vollständigkeit zu erfüllen, ist in dieser Epoche weder ungewöhnlich noch problematisch. Der Aspekt des Betrugs, der in der Klassifizierung als Fake ausgedrückt ist, bezieht sich auf das Ausmaß der verändernden Eingriffe, das Jenkins verschwiegen hatte.5 Dem Fake wohnt immer die betrügerische Absicht inne. Damit ist aber nicht gesagt, dass ein durch Faken hergestelltes Artefakt automatisch wertlos oder immer mit einer bloßen Fälschung gleichzusetzen wäre (mehr zum Verhältnis von Faken und Fälschen im Abschnitt „Gegenbegriffe“). Vielmehr hängt die Frage nach dem ontologischen Status und der Bewertung eines Fakes von ganz verschiedenen, dem historischen Wandel unterliegenden Faktoren ab. Die jeweils gültige Konzeption des ‚Authentischen‘, zu dem der Fake als Unterscheidung gedacht wird, spielt dabei eine ebenso zentrale Rolle wie Wahrnehmung und Erwartungshaltung der Rezipierenden. Die Karriere der berühmten „Jenkins-Venus“ verdeutlicht die Perspek tivabhängigkeit der Bewertung von Fakes. Als Winckelmann im Sommer 1765 die Exportgenehmigung für die hochpreisige Statue ausstellt, weiß auch er vom Ausmaß der ‚Restauration‘. Unter den neuen Vorzeichen fällt sein Urteil nun merklich gedämpft aus: „Bey genauer Untersuchung zeigete sich, daß das eine Bein und beyde Arme neu sind, und der Kopf gehört nicht [der] Statue. Dieserwegen habe ich die Erlaubniß zur Ausfuhre nicht schwer gemacht.“6 Der Berühmtheit und Hochschätzung der Statue unter Kunstliebhaber*innen tut 3 Vgl. Bellingham: The Jenkins Venus: Reception in the Art World and the Market. In: God-
frey (Hrsg.): Understanding Art Objects, S. 122 ff. Der jüngste Kenntnisstand zum Umfang der Restaurierung ist der Objektbeschreibung des Auktionshauses Christie’s zu entnehmen. Vgl. Christie’s: The Jenkins Venus. Unter: https://www.christies.com/en/lot/lot-3928868 [aufgerufen am 01.08.2021]. 4 Jones: Introduction: Why fakes? In: Ders. (Hrsg.): Fake? The Art of Deception, S. 14. 5 Vgl. ebd., S. 14. 6 Winckelmann: Briefe, Bd. 3, S. 106.
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die historische Unechtheit einiger Teile indes keinen Abbruch. Mehr als 230 Jahre lang ist sie der Star der Antikensammlung in Newby Hall, bis sie 2002 im Auktionshaus Christie’s zur Finanzierung der Renovierung des englischen Anwesens versteigert wird. Die anonyme Bieteschlacht gewinnt Scheich Saud Al-Thani aus Katar, der sich die Statue 7,9 Millionen Pfund – zu dem Zeitpunkt der höchste Betrag, der je für einen antiken Gegenstand bezahlt wurde – kosten lässt.7 Der Versuch der britischen Regierung, den Verkauf zu vereiteln und einen Ausfuhrbann zu erwirken, führt vollends vor Augen, wie sehr die Bewertung eines Fakes eine Frage der Perspektive ist. Während die britische Regierung der „Jenkins-Venus“ Einzigartigkeit zuschreibt, argumentiert Scheich Saud Al-Thani ironischerweise wie zuvor Winckelmann, es handele sich um eine umfassend restaurierte Antiquität, deren Rolle in Großbritannien keineswegs einzigartig sei, sondern auch durch andere antike Objekte erfüllt werden könne.8 Den Fake sieht, wer den Fake sehen will. Obwohl der Ausfuhrbann scheitert, bleibt in Newby Hall aber dennoch eine „Jenkins-Venus“ zurück – vor der Versteigerung hat die Eigentümerfamilie nämlich die Anfertigung eines Replikats in Auftrag gegeben und dafür weder Kosten noch Mühen gescheut. Die Herstellung des Replikats macht schon wegen der Komplexität des Verfahrens Schlagzeilen. Zunächst tastet ein spezieller Laser-Scanner die Statue ab und erzeugt einen dreidimensionalen Scan. Die Daten werden zu einer hochspezialisierten Firma nach Italien geschickt; auf ihrer Basis stellt ein robotergesteuerter Diamantenschneider ein Modell aus Polyurethan her. Der Skulpteur Roberto Pedrini setzt unter Benutzung antiker Bildhauertechniken das Modell in Carrara-Marmor aus demselben Steinbruch um, aus dem auch die „Jenkins-Venus“ stammt.9 Das Ergebnis gleicht der echten „Jenkins-Venus“ bis auf den letzten Riss und erhält sogar eine historisch anmutende Patina aus Schwarztee.10 Seit 2005 steht die neue „Jenkins-Venus“ mit demselben Label in derselben Nische, in der auch
7 Vgl. Bellingham: The Jenkins Venus. In: Godfrey (Hrsg.): Understanding Art Objects, S. 129. 8 Vgl. ebd., S. 130. 9 Vgl. ebd., S. 129. 10 Vgl. Bennett: The art of replacing £8m goddess. In: Daily Telegraph. Unter: https://www.
telegraph.co.uk/news/uknews/1486182/The-art-of-replacing-8m-goddess.html [aufgerufen am 05.08.2021].
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die echte gestanden hatte.11 Ist sie ein Kunstwerk eigener Art? Schlichtweg eine gut gemachte Kopie? Eine Fälschung? Oder doch ein Fake?
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Etymologie Faken
ETYMOLOGIE Die Etymologie des Verbs faken ist schnell geschildert: Faken ist ein vergleichsweise junger Anglizismus, geht auf das engl. „to fake“ zurück und fungiert im Dt. als schwaches Verb mit regelmäßigen Beugungsformen (fakte, hat gefakt; im Netz kursiert auch die Schreibung „gefaked“ in Analogie zur engl. Partizipbildung auf -ed).12 Daneben gibt es auch das Nomen „der Fake“ sowie das Halbaffix „Fake-“. Im DEUTSCHEN REFERENZKORPUS (DeReKo) ist faken seit 1985 belegt.13 Die Ehre der ersten Belegstelle gebührt dem Nachrichtenmagazin Spiegel mit einem Bericht über die gefakten Behördenschreiben einer anonymen „Spaß-Guerilla“, die mit der „amtlichen“ Ankündigung eines zusätzlichen Feiertags Hunderte Berliner Bürger*innen verwirrte. Der Bericht zitiert den Ex-Kommunarden Dieter Kunzelmann mit den Worten: „Heutzutage ist ja die Irrealität der Realität so weit vorangediehen, daß man mit dem Faken* schon Politik machen kann.“14 Dass die Spiegel-Redaktion sich in der Pflicht fühlte, das Verb mit einer Glosse – „engl. fälschen, schwindeln, heucheln“ – zu versehen, verdeutlicht, wie unbekannt der Anglizismus seinerzeit noch war. Wie weit das heutige Bedeutungsspektrum über die Glossierung des Spiegels hinausgeht, zeigt sich an den vielen Verben, mit denen faken synonym gebraucht wird: neben „fälschen“, „schwindeln“ und „heucheln“ bedeutet faken so viel wie „frei erfinden“, „(sich etwas) aus den Fingern saugen“, „klittern“, „manipulieren“, „schönen“, „verfälschen“, aber auch „(die) Illusion erwecken“, „(etwas) vorgaukeln“, „markieren“ und „inszenieren“.15 Während die Geschichte des anglizistischen Sprachimports schnell erzählt ist, erweist sich der eigentliche etymologische Hintergrund als wesentlich
11 Vgl. Bellingham: The Jenkins Venus. In: Godfrey (Hrsg.): Understanding Art Objects, S. 130. 12 Vgl. (Art.) Faken. In: Duden online. Unter: https://www.duden.de/node/138806/revision/
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13 Deutsches Referenzkorpus DeReKo 2021–I, Suchanfrage „faken“. Unter: https://www.ids-
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Etymologie Faken
komplizierter, da bisher nicht verbindlich geklärt werden konnte, woher der engl. Begriff stammt. In den frühesten Verwendungen des engl. „to fake“ ist das Bedeutungsspektrum noch breiter als in der dt. Anverwandlung des Verbs, was die Suche nach Ursprüngen erschwert – zunächst einmal bedeutet „to fake“ wohl so viel wie „to do“, „go ahead; act“ mit allen möglichen Spezifikationen, von „to darn (a stocking)“ bis „to copulate“.16 Zudem hat dem Linguisten und Literaturwissenschaftler Anatoly Liberman zufolge „to fake“ zahlreiche „lookalikes“ mit ganz ähnlichen Bedeutungen wie das obsolet gewordene Verb „to feague“. Die Existenz benachbarter Wörter mit ähnlicher Bedeutung steht der Zurückführung auf einen eindeutigen Ursprung zusätzlich im Weg. Als immerhin relativ gesicherte Hypothese gilt, dass „to fake“ und nächste Nachbarn wie „to feague“ Lehnwörter dt. oder niederl. Herkunft sind – „to feague“ geht wahrscheinlich auf das niederdt. „fegen“ zurück und trägt somit auch Bedeutungen wie „polieren“ und „aufputzen“ in sich – und Mitte des 18. Jhs. von Angehörigen der Londoner Unterwelt aufgegriffen wurden, wodurch sich die äußerst weite Bedeutung auf Aktivitäten mit betrügerischen Absichten einengte.17 Aus dem engl. Unterwelt-Slang fanden Verb, Nomen und Adjektiv ihren Weg in die Umgangssprache und von dort schließlich in die Schriftsprache und den öffentlichen Diskurs.18 Der Eintritt in die Schriftsprache erfolgte spät; im OXFORD ENGLISH DICTIONARY gibt es keine Belege für „to fake“ als Beschreibung von Aktivitäten mit betrügerischer Intention, die vor 1819 liegen.19 Laut Liberman verdankt sich die Einführung in die Schriftsprache möglicherweise Charles Dickens; der literarische Fachmann für die Ausdrucksweise der Londoner Unterwelt benutzte demnach „fake“ und „faker“ in OLIVER TWIST (1837–1839) zur Charakterisierung des Taschendiebs Fagin und seiner Schüler. Mit dem Eintritt in die Schriftsprache wird nachweisbar, wie
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Etymologie Faken
dynamisch sich die Bedeutungen des Verbs „to fake“ und des Adjektivs und Nomens „fake“ entwickelt haben. Zahlreiche Bedeutungen, die im OXFORD ENGLISH DICTIONARY aufgeführt werden, haben Karrieren von nur wenigen Jahrzehnten und gelten inzwischen als ungewöhnlich oder obsolet, so etwa die Verwendung im Sinne von „stehlen“ („We fake eggs every night and then roast ’em“) oder „zusammenschustern“ („She happened to lean a little too heavily on the bed, which was ‚faked‘ from a number of ginger-beer crates.“).20 Noch etwas kann als gesichert gelten: Im Dt. sind „faken“, „der Fake“ und vor allem das Halbaffix „Fake-“ ungeheuer produktiv geworden. Nach zunächst eher sporadischer Verwendung sind diese Wörter seit den späten 1990er Jahren aus der Alltagssprache nicht mehr wegzudenken. Faken wurde 2004 erstmals in den Rechtschreibduden aufgenommen.21 Dass Wortverbindungen mit „Fake“ zwischen 2013 und 2019 dreimal aufs Podium für den „Anglizismus des Jahres“ kamen, ist ein Beleg für einen weiteren, massiven Produktivitätsschub ab den 2010er Jahren (2013: 2. Platz für „Fake-“; 2016: 1. Platz für „Fake News“; 2019: 3. Platz für „deepfake“).22 Folgt man der Anglistin und Linguistin Susanne Flach, lässt sich die Produktivität dadurch erklären, dass „Fake-“ „zügellos mit entlehntem und einheimischem Material kombiniert wird. Das unterscheidet „Fake-“ deutlich von anderen engl. Affixen, wie etwa „-ing“, das in der Regel nur mit entlehntem Material auftritt (Clubbing, Nordic Walking, Casting).23 Flach hat weitere Gründe für die hohe Produktivität ausgemacht: Darunter das Potenzial von „Fake-“, Verbindungen mit Komposita einzugehen, wodurch sich sehr komplexe Wörter und Gelegenheitsbildungen zusammensetzen lassen („Fake-Anti-Viren-Programme“); Verben zu modifizieren („fakeverprügeln“), Kontaminationen zu bilden („Fakepedia“ aus „Fake“ und „Wikipedia“) und
20 (Art.) Fake, v.2. In: Oxford English Dictionary Online. Unter: www.oed.com/view/
Entry/67778 [aufgerufen am 11.08.2021].
21 Vgl. (Art.) Faken. In: Duden Online. Unter: https://www.duden.de/node/138806/revision/
138842 [aufgerufen am 11.08.2021].
22 Vgl. die Liste der „Anglizismen des Jahres“. Unter: http://www.anglizismusdesjahres.de/
anglizismen-des-jahres/ [aufgerufen am 11.08.2021].
23 Flach: Kandidaten für den Anglizismus 2013: Fake-. In: Sprachlog. Unter: http://www.
sprachlog.de/2014/01/06/kandidaten-fuer-den-anglizismus-2013-fake/ 25.05.2021].
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Kontexte Faken
Ableitungen zu ermöglichen („Fakerei“).24 In der Tat hat die Benutzung von faken, „Fake“ und „Fake-“ so stark zugenommen, dass dadurch nun auch historische Phänomene charakterisiert werden, die zeitlich vor der Entstehung des Begriffs liegen. Wie erhellend und zugleich problematisch solche Verwendungen von faken sein können, illustriert die Geschichte der „Jenkins-Venus“. KONTEXTE Angesichts des breiten Bedeutungsspektrums, der dynamischen Entwicklung und der Produktivität von faken/to fake kann es kaum überraschen, dass die historischen und zeitgenössischen Kontexte, in denen Begriff und Praxis auftreten, äußerst vielfältig sind. Wörterbücher und Referenzkorpora wie das OXFORD ENGLISH DICTIONARY und das DEREKO tragen dementsprechend Verwendungsbeispiele aus allen möglichen Gebieten zusammen. Die Vielfalt ist kaum zu überschauen: Vom Faken spricht man im Zusammenhang mit begehrten Gegenständen, Konsumgütern, Pharmazeutika und Drogen (wie etwa Antiquitäten, Gemälden, Luxus-Uhren, exklusiven Weinen, Potenzpillen), Evidenz und überhaupt Daten aller Art (Quellenangaben, Statistiken, Wahlergebnissen, Produktbewertungen), amtlichen Dokumenten und Zeugnissen (Personalausweisen, Impfbescheinigungen, Universitätsabschlüssen), virtuellen Existenzen (IP-Adressen, Benutzer*innenkonten, Follower*innen, Likes), persönlichen Merkmalen (Narben, Akzenten), Emotionen, Verhaltensweisen und sogar ganzen Lebenshaltungen (Lachen, Schmerzensschreien, Konservatismus), beruflichen Rollen sowie – und mit Ausrufungszeichen – Narrativen über das vergangene und aktuelle Weltgeschehen (historischen Quellen, Nachrichten, Interviews, Augenzeug*innenberichten, Fotos, Videos). Ein gemeinsamer Nenner dieser Verwendungskontexte ist die beim Faken immer vorhandene Täuschungsabsicht, sei sie nun betrügerisch, opportunistisch, politisch, satirisch, ästhetisch, subversiv oder anderweitig motiviert.25 Die Liste der Kontexte ließe sich mühelos fortsetzen, und Versuche, unter den verschiedenen Verwendungsweisen und Spielarten des Fakens auch nur heuristisch Ordnung zu schaffen, erweisen sich wegen fehlender Trennschärfe zwischen den einzelnen Kategorien als nicht überzeugend (so nimmt Flach
24 Diese Beispiele sind Flachs Blog-Beitrag entnommen. 25 Zu Intentionalität als Kriterium des Fakens, siehe Tucher: Not Exactly Lying, S. 4.
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in ihrem ansonsten sehr aufschlussreichen Blog-Beitrag eine Unterteilung in sechs Spielarten des Fakens mit jeweils eigenem Bedeutungsakzent vor und setzt unter anderem die „Gestellt“-Gruppe von der „Unaufrichtigkeit“-Gruppe ab, ohne dass plausibel würde, was „Fake-Berlinerisch“ in der einen Gruppe von einem „Fake-Fan“ in der anderen Gruppe unterscheidet, wie Flach auch selbst anmerkt26). Statt die uferlose Empirie ordnen zu wollen, scheint es lohnender, sich auf Kontexte und Begriffsverwendungen zu konzentrieren, die dem Verständnis von faken/to fake überraschende Aspekte hinzufügen. Einen solchen Kontext liefert die amerikanische Journalismusgeschichte des ausgehenden 19. Jhs. Wie die Journalismus-Historikerin Andie Tucher aufgearbeitet hat, durchlief der amerikanische Zeitungsjournalismus in den späten 1880ern und 1890ern eine kurze, aber prägende Phase, in der „faking“ unter Mitarbeiter*innen der Presse nicht nur intensiv diskutiert, sondern auch offen praktiziert und sogar wertgeschätzt wurde. „Faking“ bot eine Methode, mit der sich das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit in der Berichterstattung austarieren ließ.27 Unter „Faking“ verstanden Journalist*innen eine Praxis, die der Herausgeber der Zeitschrift The Writer, William H. Hills, 1887 in einer Kolumne für angehende Reporter*innen bündig als „not exactly lying“ definierte. Hills’ ausführliche Definition gibt näheren Aufschluss über die Wertschätzung des Fakens. „Faking“ bezeichne the supplying, by the exercise of common sense and a healthy imagination, of unimportant details, which may serve an excellent purpose in the embellishment of a dispatch. It differs from lying in this delicate way: the main outline of the skillfully ‚faked‘ story is strictly truthful; the unimportant details, which serve only the purpose of making the story picturesque, and more interesting to the reader, may not be borne out by the facts, although they are in accordance with what the correspondent believes is most likely to be true.28
26 Flach: Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2013, a.a.O. 27 Tucher: The True, the False, and the ,Not Exactly Lying‘. In: Canada (Hrsg.): Literature and
Journalism, S. 92.
28 Hills zit. n. ebd. S. 93.
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Faken lief also auf die Ausschmückung von Berichten mit erfundenen, farbenfrohen Details hinaus. Reporter*innen, die geschickt fakten, könnten mit Hilfe ihrer Vorstellungskraft kompensieren, was ihnen vor Ort möglicherweise entgangen sei oder was das zu berichtende Ereignis nicht hergebe, so Hills. Andere praktizierende Journalist*innen gingen einen Schritt weiter und segneten sogar Erfindungen größeren Stils ab, solange sie nur plausibel waren.29 Hills und seine Kolleg*innen betonten, dass das Faken, solange es die Grenze zur ‚Lüge‘ nicht überschreite, keinem schade. Ganz im Gegenteil führe es letztlich dazu, dass Journalist*innen die besseren Geschichten lieferten, also Geschichten, die „truer to life“ waren als trockene Berichte und die nicht nur Wahrheit, sondern „höhere“ Wahrheit vermittelten.30 Gefakt wurde also angeblich im Dienste der Leserschaft. Beflügelt wurde die Praxis dadurch, dass amerikanische Zeitungen im 19. Jh. noch nicht dem Anspruch unterlagen, ausschließlich auf Tatsachen basierende Nachrichten zu enthalten. Eine Zeitung war ein Kessel Buntes, in dem Ereignisberichte und Nachrichten neben Poesie, Kurzgeschichten, Reisebeschreibungen, Witzen, Seemannsgarn und anderen Genres standen, und der Leserschaft war bewusst, dass die verschiedenen Genres unterschiedlich gehandhabt werden wollten.31 Dass es in diesem Medienkontext für fantasiebegabte Journalist*innen beim Verfassen von Ereignisberichten kreative Spielräume gab, liegt auf der Hand. Die Hochphase des positiv besetzten Fakens dauerte allerdings nicht lange. Die Praxis wurde aus dem ‚seriösen‘ Journalismus verbannt, als etablierte Zeitungen unter Druck gerieten, sich von der aus dem Boden schießenden PennyPress abzugrenzen.32 Faken wurde ab der Jahrhundertwende von mehr und mehr Mitgliedern der jungen journalistischen Zunft als unredlich und Symptom mangelnder Fähigkeiten oder moralischer Korruptheit verschrien. Wie Tucher betont, verübten den Fake nun immer die anderen – die Boulevardblätter, die illegitimen oder inkompetenten Reporter*innen, die Feindespresse usw. Die Diskussion rund um das Faken war somit eng mit der Professionalisierung des Journalismus und der Etablierung verbindlicher Normen und Werte verbunden. 29 Ebd., S. 94. 30 Vgl. ebd., S. 93. 31 Vgl. ebd., S. 98. 32 Vgl. ebd., S. 103–104.
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Kontexte Faken
Bezeichnenderweise durchlebte der Foto-Journalismus rund zehn Jahre später genau dieselbe, kurze Romanze mit dem Faken, die der Nachrichtenjournalismus gerade durchgemacht hatte. Die vergleichsweise schlechte Qualität früher Pressefotos forderte dazu auf, ‚verbessernd‘ einzugreifen, Negative oder Positive zu bearbeiten oder gleich ganze Szenen nachzustellen, ohne dabei den Anspruch an ‚Wahrheitsvermittlung‘ aufzugeben.33 Die Grenze zwischen „Wahrheit“ und „Fake“, erlaubter Ausschmückung (oder Nachbearbeitung) und Lüge war im Journalismus immer schon gleichermaßen prekär wie umkämpft – und ist es bis heute, wie die 2018 begonnene Diskussion um die teils gefakten Reportagen des Spiegel-Mitarbeiters Claas Relotius gezeigt hat. Auf einen weiteren überraschenden Kontext soll hier noch kurz eingegangen werden, der mit dem positiv besetzten Faken im Journalismus entfernt verwandt ist: Faken als Improvisationspraxis in der Musik und insbesondere im Jazz. Mit dem Begriff wird die Fähigkeit bezeichnet, ein Stück oder prominente Teile eines Stückes (etwa das Thema oder eine Begleitstimme) passabel aus dem Stegreif zu spielen, obwohl man das Stück nie formal erlernt hat. In dieser Verwendung belegt ist der Begriff seit dem späten 19. Jh.34 Eng mit der musikalischen Improvisationspraxis verbunden ist das seit den 1940er Jahren geläufige „Fake Book“. Darunter versteht man eine von Hand geschriebene oder gedruckte, in jedem Fall aber informelle (lose Blatt-)Sammlung von Noten und Partituren zu populären Stücken und Standards.35 Die im „Fake Book“ enthaltenen Noten sollen Musiker*innen befähigen, das Standardrepertoire zu spielen, und dienen als Basis, die beim Live-Auftritt jeweils individuell ausgestaltet wird; wie bei der Verwendung im Journalismus steht auch hier die gelungene Ausschmückung eines feststehenden Gerüsts mit frei erfundenen, aber stimmigen Details im Vordergrund. Da sich in „Fake Books“ häufig auch Transkriptionen von Stücken finden, die urheberrechtlich geschützt sind,
33 Vgl. hierzu nochmals Tucher: „I believe in faking“: The Dilemma of Photographic Realism at
the Dawn of Photojournalism. In: Photography and Culture, S. 195–214.
34 Vgl. (Art.) Fake, v.2. In: Oxford English Dictionary Online. Unter: www.oed.com/view/
Entry/67778 [aufgerufen am 11.08.2021].
35 Witmer/Kernfeld: (Art.) Fake book. In: Grove Music Online. Unter: https://www-
oxfordmusiconline-com.dar tmouth.idm.oc lc.org/grovemusic/vie w/10.1093/gmo/ 9781561592630.001.0001/omo-9781561592630-e-2000144800 [aufgerufen am 16.08.2021].
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wurden und werden viele dieser Notensammlungen nur unter der Hand vervielfältigt.36 Für die Ausbildung von Jazz-Musiker*innen sind „Fake Books“ bis heute zentral. Die Begriffsverwendung ist in der Jazz-Szene immer noch geläufig und inzwischen auch in andere Musikbereiche vorgedrungen.
Konjunkturen Faken
KONJUNKTUREN Fakes im Sinne von betrügerischen Imitationen sind avant
la lettre schon unter altbabylonischen Tempelmonumenten aus dem 2. Jahrtausend v. u. Zr. zu finden,37 und für nahezu jede darauffolgende Epoche gibt es Berichte über Einzelfälle besonders kurioser, folgenreicher oder dreister Fakes. Der Schluss liegt daher nahe, dass faken historisch gesehen Dauerkonjunktur hat. Das stimmt – gesagt ist damit aber noch nicht alles, denn es lassen sich zugleich Bedingungen ausmachen, unter denen faken als kulturelle Praxis ganz besonders boomt. Faken antwortet auf Nachfrage. Oder, um es mit dem Kurator Mark Jones zu sagen, „each society, each generation, fakes the thing it covets most“.38 Die Kommerzialisierung von Kultur und die damit einhergehende Hochschätzung von ‚Originalen‘ befeuert daher das Faken.39 Es prosperiert auch, wenn Technologien Einzug halten, die neue Möglichkeiten zur Repräsentation von Wirklichkeit eröffnen, aber noch nicht durch Gebrauchsregeln, Normen oder professionelle und ethische Codes reguliert sind.40 Außerdem blüht faken, wenn angesichts eines neuen oder überraschenden Phänomens noch keine Expertise oder kritische Tradition bereitsteht, mit deren Hilfe Fakes entlarvt werden können.41 Drei Konjunkturen, die sich unter solchen Bedingungen entwickelt haben, treten in der Geschichte des Fakens deutlich hervor. Faken nahm erstmals im späteren 19. Jh. Fahrt auf, was mit dem Eintritt des Wortes in den öffentlichen Diskurs korreliert. Es mag zunächst paradox klingen, aber motiviert war diese
36 Vgl. ebd. 37 Vgl. Mendleson: Old Babylonian forged inscription. In: Jones (Hrsg.): Fake? The Art of
Deception, S. 60.
38 Jones: Introduction: Why fakes? In: Ders. (Hrsg.): Fake? The Art of Deception, S. 13. 39 Vgl. hierzu Lowenthal: Forging the past. In: Jones (Hrsg.): Fake? The Art of Deception, S. 18. 40 Im Kontext von Journalismus-Geschichte spricht Tucher von einer Phase des „anything
goes“, die typischerweise die Implementierung neuer Medientechniken einläute. Der Befund ist auf andere Kontexte übertragbar. Siehe Tucher: Not Exactly Lying, S. 4. 41 Vgl. Jones: Introduction: Why fakes? In: Ders. (Hrsg.): Fake? The Art of Deception, S. 14.
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Konjunkturen Faken
Konjunktur durch ein gesteigertes Interesse am ‚Realen‘: Neue Beobachtungsund Datenerfassungsmethoden in Bereichen wie Naturwissenschaft, Ökonomie und historischer Forschung zielten darauf ab, die Welt so zu erfassen, wie sie ‚wirklich‘ war, und auf der Rückseite dieses Ansatzes wuchs auch das Interesse am Fake.42 Besonders bemerkbar machte sich die Konjunktur auf zwei Gebieten: im bereits oben angesprochenen amerikanischen Journalismus und in der Welt der Sammelobjekte und Antiquitäten. Für den Bereich des Journalismus lässt sich besonders deutlich nachzeichnen, wie technologische Entwicklungen faken begünstigen. Mit zunehmender Vernetzung der Welt durch Telegrafenleitungen und den Aufstieg der Nachrichtenagenturen in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. sahen sich Zeitungen mehr und mehr der Erwartung ausgesetzt, zu jedem Zeitpunkt interessante Nachrichten aus allen Erdteilen bringen zu müssen. Rissen aber beispielsweise unwetterbedingt die Telegrafendrähte einmal ab oder ließen sich keine bezahlbaren Auslandskorrespondent*innen finden, die packende, persönlich bezeugte Berichte von einer Katastrophe liefern konnten, lag es nahe, aus alten Agenturmeldungen und anderen schon gedruckten Quellen eine glaubhafte und flüssig lesbare Geschichte zu faken.43 Zusätzliche Anreize zum Faken ergaben sich aus dem Bezahlsystem, das Journalist*innen nach der Länge ihrer Beiträge entlohnte, was zum Ausschmücken einlud; sie ergaben sich insbesondere in Lokalredaktionen, aber auch aus der Ereignislosigkeit und Banalität des Alltags.44 Natürlich ging es außerdem um Auflage. So druckte die zu dem Zeitpunkt noch junge New Yorker Zeitung The Sun im Jahr 1835 eine der elaboriertesten Fake-News-Geschichten aller Zeiten, eine Artikelserie über die Entdeckung von Leben auf dem Mond, und versuchte, damit ihren
42 Vgl. Tucher: The True, the False, and the „Not Exactly Lying“. In: Canada (Hrsg.): Literature
and Journalism, S. 91 f.
43 Über den Fall Relotius und Verfahren gefakter Augenzeugenschaft aus historischer Pers
pektive, vgl. McGillen: „I Was There Today:“ Fake Eyewitnessing and Journalistic Authority, from Fontane to Relotius. In: Ziemer (Hrsg.): Journalistic Knowledge in the Newspaper Age, im Druck. 44 Vgl. Tucher: The True, the False, and the „Not Exactly Lying“. In: Canada (Hrsg.): Literature and Journalism, S. 95 f.
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Konjunkturen Faken
direktesten Konkurrenten, den New York Herald, zu verdrängen.45 Im Nachrichten-Journalismus ebbte die Konjunktur des (offen praktizierten) Fakens nach der Jahrhundertwende ab, wobei die Implementierung neuer Medientechnologien wie Radio, Film und Fernsehen jeweils zu neuen Schüben führte. Ein weiteres Zugpferd für die Konjunktur von faken im 19. Jh. war der Markt für historische Sammelstücke. War das Sammeln von historischen Gegenständen im 18. Jh. überwiegend auf Antiquitäten beschränkt und Aristokrat*innen oder neureichen Personen wie dem bereits genannten William Weddell vorbehalten, popularisierte die mit einem neuen Geschichtsbewusstsein verknüpfte ‚Sammelwut‘ das Sammeln bis in Amateur*innenkreise hinein.46 Das breite Interesse an Dingen wie mittelalterlichem Schmuck und Waffen, RenaissanceSkulpturen oder Keramiken des 18. Jhs. warf das Verhältnis von Angebot und Nachfrage aus dem Gleichgewicht. Wo die enorme Nachfrage nach ‚Originalen‘ nicht auf legitime Weise gestillt werden konnte, brachten unehrliche Händler*innen, Handwerker*innen und verbitterte Künstler*innen, die den Durchbruch in der Kunst nicht geschafft hatten, Fakes historischer Objekte auf den Markt.47 Diese Hochphase des Fakens lief Jones zufolge in den 1930er Jahren aus, als faken in der öffentlichen Wahrnehmung stärker in Verruf geriet, mehr Gewicht auf ‚saubere‘ Provenienz von Sammelstücken gelegt wurde und die Vorliebe für schnörkelloses, zeitgenössisches Design der Wertschätzung von elaborierten historischen Gegenständen den Rang ablief. Die zweite Konjunktur des Fakens ereignete sich auf dem Gebiet von Markenartikeln und Designermode. Sie setzte in den 1990er Jahren ein und hat nicht nur bis heute angehalten, sondern an Intensität noch dazugewonnen. Wirtschaftshistoriker*innen bringen die Anfänge dieser Entwicklung mit der Öffnung Chinas für die westliche Wirtschaft in Zusammenhang, im Zuge derer westliche Produkte auf den chinesischen Markt kamen, Firmen wie Burberry und Prada Teile ihrer Produktion in die Volksrepublik verlegten
45 Vgl. Grant: Great Astronomical Discoveries Lately Made by Sir John Herschel. In: New York
Sun, S. 1. Unter: http://hoaxes.org/text/display/the_great_moon_hoax_of_1835_text/ [aufgerufen am 11.08.2021]. 46 Vgl. hierzu grundlegend Crane: Collecting and Historical Consciousness, S. 1–37. 47 Vgl. Jones: The 19th century: the great age of faking. In: Ders. (Hrsg.): Fake? The Art of Deception, S. 161.
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Konjunkturen Faken
und der Anreiz wuchs, Imitate dieser Produkte herzustellen. China ist nach wie vor das wichtigste Herkunftsland gefakter Handelsgüter; einer Studie der Organization for Economic Cooperation and Development (OECD) und des European Union Intellectual Property Office (EUIPO) zufolge stammten 2016 über 50 Prozent aller beschlagnahmten Fakes von dort.48 Das Verlangen, auf das faken im Bereich Markenartikel und Designermode antwortet, ist das Verlangen nach Status: Wer sich mit einer gefakten Louis-Vuitton-Handtasche oder dem Imitat einer Rolex-Uhr ausstaffiert, möchte am Status partizipieren, den diese Produkte vermitteln, ohne den hohen Preis dafür zu bezahlen.49 Zu den am häufigsten gefakten Handelsprodukten gehören seit Jahren Schuhe, Kleidung, Lederwaren, elektronische Geräte, Uhren, Schmuck und Computerspiele.50 Der Internethandel, durch den die Hersteller*innen gefälschter Produkte direkt mit Abnehmer*innen aus aller Welt in Kontakt treten können, und der Versand in kleinen Postpaketen statt in (leichter zu entdeckenden) Großcontainern hat das Volumen der gehandelten Fakes weiter ansteigen lassen. Die OECD nimmt an, dass gefakte Produkte 2016 bis zu 3,3 Prozent des Gesamtvolumens des Welthandels ausmachten – die Tendenz ist steigend. Die dritte und zugleich stärkste Konjunktur erlebte (und erlebt) faken seit der zweiten Hälfte der 2010er Jahre wiederum im Bereich Medien und Journalismus, und zwar im Zusammenhang mit Fake News. Der Begriff Fake News, worunter üblicherweise bewusst lancierte Falschnachrichten verstanden werden, dominiert seitdem das semantische Feld. Die Begriffsverwendung, die für diese Konjunktur zentral ist, erweist sich zugleich als Fortsetzung wie als Bruch mit dem bis dato etablierten Verständnis von faken im Journalismus. Sie ist eine Fortsetzung in dem Sinne, dass Fake News schon Ende des 19. Jhs. als Kurzformel und Kampfbegriff zur Charakterisierung von Fehlinformationen
48 Vgl. OECD/EUIPO (2019): Trends in Trade in Counterfeit and Pirated Goods. Unter:
https://doi.org/10.1787/g2g9f533-en, S. 28 f. [aufgerufen am 11.08.2021].
49 Vgl. Jones: Introduction: Why fakes? In: Ders. (Hrsg.): Fake? The Art of Deception, S. 13. Es
gibt weitere, komplexere Gründe; vgl. hierzu OECD/EUIPO: Trends in Trade, a.a.O., S. 33.
50 Vgl. OECD/EUIPO: Trends in Trade, a.a.O., S. 29–33. Die Statistik beruht auf durchge-
führten Beschlagnahmungen durch Zollbehörden und bezieht sich daher lediglich auf entlarvte Fakes.
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Konjunkturen Faken
existierte und in Journalist*innenkreisen auch so benutzt wurde.51 Der Bruch besteht darin, dass sich in der Person des 45. amerikanischen Präsidenten, Donald J. Trump, ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt den Begriff zu eigen machte, um unablässig Berichterstattung zu diskreditieren, die an seiner Präsidentschaft (2017–2021) Kritik übte oder ihm anderweitig ungelegen kam – ein Verhalten, das sonst aus Diktaturen und Ländern mit eingeschränkter Pressefreiheit bekannt ist.52 Der Republikaner Trump, der schon im Wahlkampf mit polarisierender Rhetorik und rüden Angriffen auf verschiedene Medien aufgefallen war, bezeichnete kurz nach seiner Amtsübernahme in einem berühmt gewordenen Tweet die Presse als „enemy of the American people“ und bezichtigte insbesondere die Vertreter*innen der sogenannten „mainstream media“ (NBC News, CNN, New York Times u.a.) immer wieder, Fake News zu verbreiten.53 Hierbei drehte er die zwei Seiten der Unterscheidung ‚fake/real‘ nach Belieben um: Tatsachen, die ihm unbequem waren, bezeichnete er als „fake“, während er selbst mehr erfundene ‚Tatsachen‘ in die Welt setzte und dabei ausdauernder, häufiger und dreister log als jeder seiner Amtsvorgänger, wie der Präsidentschaftshistoriker Michael Beschloss konstatiert.54 Trumps Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2016 wird als medienhistorischer Einschnitt gesehen, mit dem die spektakuläre Konjunktur von Fake News begann. Die eigentliche Tragweite des Phänomens ging und geht jedoch über sein prominentestes Gesicht weit hinaus. Fake News sind seit Mitte der 2010er Jahre nicht nur ein amerikanisches, sondern ein globales Problem. Als zentraler ermöglichender Faktor muss der Umbruch der weltweiten Medienlandschaft durch digitale Kommunikationstechnologien – allen voran Internet und soziale Medien – gelten. So haben die Produzent*innen von Fake News nur noch eine sehr niedrige Schwelle zur Publikation zu überwinden und können ihre
51 Vgl. Kalsnes: (Art.) Fake News. In: Oxford Research Encyclopedia of Communication. Un-
ter: https://doi.org/10.1093/acrefore/9780190228613.013.809 [aufgerufen am 19.08.2021].
52 Vgl. ebd. 53 Vgl. Grynbaum: Trump Calls the News Media the „Enemy of the American People“. In:
New York Times. Unter: https://www.nytimes.com/2017/02/17/business/trump-calls-the-newsmedia-the-enemy-of-the-people.html?smid=url-share [aufgerufen am 30.08.2021]. 54 Beschloss zit. n. Timm: Trump versus the truth: the most outrageous falsehoods of his presidency. Unter: https://www.nbcnews.com/politics/donald-trump/trump-versus-truth-mostoutrageous-falsehoods-his-presidency-n1252580 [aufgerufen am 30.08.2021].
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Konjunkturen Faken
Inhalte nahtlos in bereits zirkulierende Medienangebote integrieren. Benötigte man im ausgehenden 20. Jh. zur Veröffentlichung nennenswerter Auflagen noch Zugang zu einer Druckerpresse und allen damit verbundenen Ressourcen, reichen unter Bedingungen der Digitalisierung ein billiger Computer mit Internetanschluss, ein Smartphone oder schlicht ein Facebook-Konto. Zudem erleichtert die Allverfügbarkeit von Textmaterialien, Bildern und Videos im Netz die Produktion von Fake News. Schon im 19. Jh. hatten Journalist*innen mit dem Dilemma zu ringen, dass ihre redliche Arbeit die Produktion von Fake News beflügelte, denn je mehr ‚wahre‘ Texte und Bilder über aktuelle Ereignisse im Umlauf waren und je sichtbarer alle möglichen Teile der Welt wurden, desto einfacher fiel es unredlichen Akteur*innen, aus der Vielzahl der zirkulierenden Versatzstücke echt aussehende Falschnachrichten zusammenzuzimmern – und desto komplizierter wurde die Beweisführung, dass es sich dabei um Fakes handelte.55 Unter den technologischen Bedingungen des 21. Jhs. wirkt sich dieses Dilemma umso stärker aus, da sich nun nicht nur Nachrichteninhalte faken lassen, sondern ganze Nachrichtenformate, Genres und journalistische Evidenzformen – man denke an sogenannte ‚deepfakes‘, also Verfälschungen von Video- und Audio-Inhalten mit Hilfe Künstlicher Intelligenz, die es ermöglichen, in Videos Gesichter auszutauschen oder Personen O-Töne in den Mund zu legen, die sie nie gesagt haben. Die Algorithmen von Suchmaschinen und sozialen Medien tragen außerdem dazu bei, dass Falschnachrichten schnell verbreitet werden, da ein Artikel, Video oder Post mit vielen „Likes“ oder „Shares“ in Suchanfragen und persönlichen Feeds nach oben rückt und dann mit höherer Wahrscheinlichkeit erneut angeklickt und geteilt wird.56 Die Motive von Fake-News-Produzent*innen unter digitalen Kommunikationsbedingungen konvergieren im Erhaschen von Aufmerksamkeit; sie ist das knappe Gut, das im Netz hoch gehandelt wird – egal, ob es schlicht um ‚clickbait‘ oder um die breit angelegte Beeinflussung von Wählermeinungen,
55 Vgl. hierzu McGillen: The False Correspondent’s Real Scene of Writing: Capturing an Elu-
sive Figure in the History of Nineteenth-Century News Work. In: Klausmeyer/Wankhammer/ Krauss (Hrsg.): Modern Language Notes, Special Issue: The Scene of Writing, S. 1034–1035. 56 Vgl. Kalsnes: (Art.) Fake News. In: Oxford Research Encyclopedia of Communication. Unter: https://doi.org/10.1093/acrefore/9780190228613.013.809 [aufgerufen am 19.08.2021].
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Gegenbegriffe Faken
die Popularisierung von Verschwörungstheorien oder die Konzeptionen von ganzen parallelen Wirklichkeiten geht. Auf der Seite der Rezipient*innen wird die Verbreitung von Fake News dadurch begünstigt, dass viele InternetNutzer*innen Vermittlungsinstanzen wie Tageszeitungen und die damit verbundenen Qualitätssicherungen umgehen, Nachrichten direkt von politischen Parteien, Regierungen, Interessengruppen o.Ä. beziehen und durch das ‚Filterblasenproblem‘ verstärkt Botschaften erhalten, die ihr bereits existierendes Weltbild immer weiter bestätigen und somit für Manipulation besonders empfänglich machen. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen werden von Fachleuten seit Jahren als gefährlich eingeschätzt; die Schlagworte lauten ‚Bedrohung der Demokratie durch Fake News‘ und ‚Realitätsverlust‘. Der Sturm auf das Washingtoner Kapitol im Anschluss an Trumps Abwahl und gezielt verbreitete Fehlinformationen im Zusammenhang mit der CoronaPandemie werden in jüngster Zeit als Belege für die potenziell tödlichen Folgen von Fake News herangezogen. GEGENBEGRIFFE Etwas kann nur im Gegensatz zu etwas ‚Echtem‘, ‚Authen-
tischem‘ oder ‚Wahrem‘ als Fake ausgewiesen werden (im Dt. ist ein weiterer wichtiger Gegenbegriff das Faktum, wie sich in der Wortschöpfung „postfaktisch“ widerspiegelt). Einen Fake als solchen zu bezeichnen, ist daher zunächst einmal ein Akt der Grenzziehung.57 Die Gegenbegriffe und die damit verbundenen Unterscheidungen sind aber nicht stabil. Was als ‚echt‘, ‚authentisch‘ oder ‚wahr‘ gilt, ist der historischen Veränderung unterworfen und somit von Epoche zu Epoche verschieden. So wäre es im späten 18. Jh. ungewöhnlich gewesen, eine antike Statue wie die „Jenkins-Venus“ nicht zu restaurieren und eventuell fehlende oder beschädigte Teile nicht zu ergänzen, da nur als ‚echt‘ und ausstellungswürdig galt, was dem gültigen ästhetischen Ideal von Einheitlichkeit und Ganzheit entsprach.58 Mit einem heutigen Verständnis von historischer Echtheit wäre eine solche Praxis wiederum gerade nicht zu vereinbaren.
57 Vgl. Tucher: Not Exactly Lying, S. 5. 58 Vgl. Jones: Introduction: Why fakes? In: Ders. (Hrsg.): Fake? The Art of Deception, S. 14.
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Gegenbegriffe Faken
Die Instabilität der Unterscheidung fake/echt ist fester Bestandteil des Diskurses über Fakes und wird von Akteur*innen nicht nur mitreflektiert, sondern teils bis zur Umkehrung der beiden Seiten der Unterscheidung gesteigert. So hält das Museum of Hoaxes online nicht nur eine „Gallery of Fake Viral Images“ bereit, sondern stellt auch eine Sammlung von „Real Photos That Look Fake“59 aus. Die Umkehrungen von fake/echt, die Trump unablässig ausrief, waren simpler motiviert, machten sich aber dieselbe Instabilität der Unterscheidung zunutze. Trotz der grundsätzlich problematischen Natur der fake/ echt-Unterscheidung beharren zahlreiche Institutionen, z.B. Banken oder Literatur-, Kunst und Wissenschaftsakademien, auf ihr. Eine konsequente Einebnung der Unterscheidung, wie sie etwa der Literaturwissenschaftler Kenneth K. Ruthven fordert60 und wie sie Jean Baudrillard schon in den späten 1970er Jahren mit seinen Ausführungen zum Simulakrum theoretisierte,61 hätte für das kulturelle Werte- und Bewertungssystem und die kritische Tradition radikale Folgen. Ein weiterer Begriff, zu dem faken in Beziehung gesetzt werden muss, ist das Fälschen. Das Verhältnis beider Begriffe kann unterschiedlich gedacht werden. Zum einen lässt sich die Fälschung als Spezialfall des Fakes verstehen. Eine Fälschung im herkömmlichen Sinne setzt ein bestimmtes Original voraus; der Fake hingegen imitiert einen Typus oder ein Genre wie Luxushandtaschen oder Agenturnachrichten. Hier sei zur Illustration abermals auf die „Jenkins-Venus“ verwiesen: Die zusammengesetzte Statue war keine Fälschung einer bestimmten Original-Statue (wobei römische Statuen im Allgemeinen schon auf griechische Vorbilder zurückgingen, in diesem Fall auf die Statuen des Praxiteles), sondern versuchte, der damaligen Konzeption des Typus „antike Venus Florentinischer Art“ möglichst glaubwürdig nahezukommen. Die nachgebaute „Jenkins-Venus“ – das Replikat – hingegen hatte ganz klar ein ‚Original‘ zur Vorlage. Das Verhältnis lässt sich aber auch anders auffassen. Beispielsweise argumentiert der Medienwissenschaftler Martin Doll, der Unterschied zwischen Fälschungen und Fakes bestünde gar nicht in der 59 Museum of Hoaxes. Unter: http://hoaxes.org/photo_database/photo_category/category/real
[aufgerufen am 30.08.2021].
60 Vgl. Ruthven: Faking Literature, S. 3, 200. 61 Vgl. Baudrillard: Agonie des Realen, bes. S. 7–69.
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Frage, ob ein einzelnes ‚Original‘ als Vorlage im Spiel sei, da es gerade in der Kunst auch Fälschungen gebe, die einen Stil und nicht etwa ein bestimmtes, singuläres Werk imitierten. Vielmehr sieht er den Hauptunterschied in der Intentionalität: Der Fake sei darauf angelegt, irgendwann aufgedeckt zu werden, und kalkuliere den Moment der Aufdeckung mit ein; die Fälschung dagegen nicht – ihre Aufdeckung bleibe dem Zufall überlassen.62
Perspektiven Faken
PERSPEKTIVEN Gerade weil fake/echt keine stabile Unterscheidung bildet,
geben Fakes Einblick in die „values and perceptions of those who made them, and of those for whom they were made“.63 Fakes – insbesondere Fakes historischer Objekte – lassen sich also daraufhin befragen, was sie über das Geschichtsbewusstsein ihrer Produzent*innen preisgeben: „In the fakers’ work we can see exactly what it was that they believed to characterise the antiquity of the object faked; exactly what was necessary to meet expectations about such objects and to secure their acceptance“.64 Fakes stecken den Rahmen des gesellschaftlich und wissenschaftlich Glaubhaften ab und machen durch die Störungen, die sie in disziplinären Kontexten, Institutionen und „Kommunikationsordnungen“65 hervorrufen, Diskursbedingungen sichtbar. Sie erlauben Aufschlüsse darüber, wie Erwartungen und Vorannahmen Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse strukturieren und wie leicht Expertise fehl gehen kann, wenn sie sich zu stark von Vorannahmen leiten lässt – so geschehen beim berühmten „Piltdown Man“, einem ‚Frühmenschen‘, dessen (vermeintliche) Schädel- und Kieferknochen 1912 in einer englischen Kiesgrube ‚entdeckt‘ wurden und der durch die Verbindung eines menschlichen Schädels mit einem affenartigen Gebiss als der schon lange gesuchte ‚missing link‘ zwischen Affe und Mensch gefeiert wurde. Unbefangenen Paläontolog*innen kämen sofort Zweifel an der Echtheit des Fundes, wie Jones schreibt. Doch „present [Piltdown Man] to a palaeontologist whose predictions about the ‚missing link‘ have been awaiting just such evidence and it will seem entirely credible“.66
62 Vgl. Doll: Fälschung und Fake, S. 13 f. 63 Jones: Introduction: Why fakes? In: Ders. (Hrsg.): Fake? The Art of Deception, S. 11. 64 Ebd., S. 12. 65 Doll: Fälschung und Fake, S. 12. 66 Jones: Introduction: Why fakes? In: Ders. (Hrsg.): Fake? The Art of Deception, S. 11.
106
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Perspektiven Faken
Fakes geben aber nicht nur Aufschluss über Diskursbedingungen, Konzeptionen von Wahrheit und – damit verknüpft – über Macht- und Autoritätsverhältnisse. Sie werfen auch ästhetische Fragen auf, z.B.: Warum werden Fakes grundsätzlich als zweitwertig abgetan, obwohl sie unter Umständen genauso viel ästhetisches Wohlgefallen auslösen können wie „echte“ Objekte – oder sogar mehr?67 Das erst umrissartig konturierte Feld der „spuriosity studies“ spricht dem Faken angesichts solcher übergeordneten Fragestellungen viel „kritische[s] Potenzial“68 zu, das längst nicht ausgeschöpft ist. Die FakeNews-Forschung dagegen ist zum Teil noch mit Grundsatzdiskussionen ihres zentralen Begriffs beschäftigt. Während die einen versuchen, Defini tionen und Typologien von Fake News zu erarbeiten, sehen die anderen den Begriff als ideologisch korrumpiert an und fordern, ihn ganz abzuschaffen.69 Den interessantesten Vorschlag zur perspektivischen Erweiterung der FakeNews-Forschung lieferte in jüngster Zeit Tucher. Sie argumentiert, das Problem der Fehlinformationen habe inzwischen systemische Ausmaße angenommen und die nächste Potenzstufe erreicht: Es gehe gar nicht mehr um einzelne Produzent*innen und Fälle von Falschnachrichten, sondern um „fake journalism“ oder die umfassende Aneignung einer ganzen Reihe von Praktiken, mit deren Hilfe Akteur*innen die äußeren Formen von unabhängigem Journalismus imitieren, um auf dem Rücken etablierter Medien und Formate Falschheiten den Anschein von Glaubwürdigkeit zu verleihen.70 Dass sich ein illegitimer „Parallel-Journalismus“ etablieren konnte, ist unter anderem der Schwächung der gesamten journalistischen Branche und insbesondere dem Niedergang der Tageszeitungen durch die kompromisslose Ausrichtung auf Gewinnmaximierung geschuldet. Da Redaktionen personell immer weiter ausgedünnt wurden und werden, haben die verbleibenden Mitarbeiter*innen immer weniger Zeit für eine auch nur minimale Überprüfung einlaufender Nachrichten oder für eigene Recherchen, was insbesondere clever gemachten
67 Vgl. ebd., S. 15. 68 Doll: Fälschung und Fake, S. 12. 69 Vgl. hierzu Kalsnes: (Art.) Fake News. In: Oxford Research Encyclopedia of Communication.
Unter: https://doi.org/10.1093/acrefore/9780190228613.013.809 [aufgerufen am 19.08.2021]; Habgood-Coote: Stop talking about fake news! In: Inquiry, S. 1033–1065. 70 Vgl. Tucher: Not Exactly Lying, S. 6.
107
Falschnachrichten das ‚Durchkommen‘ erleichtert und zur Verwischung der Grenzen zwischen wahr und falsch führt. Nick Davies, selbst praktizierender Journalist und Sachbuchautor, bringt diese Entwicklung auf die griffige Formel: „Take away time, and you take away truth.“71 Der Journalismus des 21. Jhs. steht hier vor Herausforderungen, die sich zwar historisieren lassen, aber in der Praxis ungelöst sind.
Forschung Faken
FORSCHUNG Die aktuelle Forschung zum Thema faken ist – genau wie das
semantische Feld – von Fragestellungen aus dem Bereich Fake News bestimmt. Durch die schnelle Entwicklung und Vielzahl an Projekten ist sie überblicksartig nicht zu erfassen;72 es lassen sich aber zwei Leitfragen identifizieren, die besonders intensiv diskutiert werden: 1. Warum werden Fake News geglaubt? Hieran forschen nicht nur Psychologie, Soziologie, Betriebswirtschaftslehre, Politik- und Kommunikationswissenschaften, sondern in Kontexten wie dem „Filterblasenproblem“, „confirmation bias“ und sich selbst verstärkenden Wahrnehmungsprozessen auch Informatik und Neurowissenschaften. 2. Wie kann man Fake News beikommen? Auch hierzu stammen die Ansätze und laufenden Projekte aus verschiedenen Fachgebieten und haben unterschiedliche Schwerpunkte. Während die Medienpädagogik unter dem Stichwort ‚Medienkompetenz‘ oder ‚media literacy‘ Vorschläge zum Umbau von Schul-Curricula entwickelt und auf deren Umsetzung drängt, werden zugleich mehr und mehr Rechenzentren und Labore mit Hochleistungscomputern und Forschungspersonal ausgestattet, um Algorithmen zu entwickeln, die in der Lage sind, Fake News und „deepfakes“ mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz zu identifizieren.73 Diese Forschung vollzieht sich in der Form eines ‚Wettrüstens‘ mit Hacker*innen und Fake-News-Produzent*innen. Schließlich wird diskutiert, auf welche Weise und in welchem gesetzlichen Rahmen soziale Medien darauf 71 Davies: Flat Earth News, S. 64. 72 Zumindest grundsätzliche Orientierung in der Forschungslandschaft bietet der MIT Lib-
Guide, ein Bibliotheksportal des Massachusetts Institute of Technology, zum Thema „disinformation“. Unter: https://libguides.mit.edu/c.php?g=1117973&p=8152586 [aufgerufen am 17.09.2021]. 73 Für eine kritische Kurzbeschreibung dieser Forschung, vgl. Knight: Deepfakes Aren’t Very Good. Nor Are the Tools to Detect Them. In: Wired Magazine. Unter: https://www.wired.com/ story/deepfakes-not-very-good-nor-tools-detect/ [aufgerufen am 17.09.2021].
108
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Forschung Faken
verpflichtet werden können, Verantwortung für die zirkulierenden Inhalte zu übernehmen.74 Zwei Desiderate stechen in der aktuellen Forschung besonders hervor. Zum einen kümmern sich Studien über Fake News einer Beobachtung Tuchers zufolge zu wenig um eine solide Theoretisierung und Definition von „news“, einem Begriff, der mindestens ebenso schwammig ist wie „fake“, aber nicht halb so intensiv hinterfragt wird.75 Mit wenigen Ausnahmen fehlt in der anwendungsbezogenen und empirischen Forschung zudem eine gründliche Problematisierung der oft zu einfach gedachten fake/echt-Unterscheidung. Nötig sind die sorgfältige Rekonstruktion der epistemologischen und historischen Kontexte, in denen die Unterscheidung Form annimmt, sowie vor diesem Hintergrund die Einbettung von Fake News in ein breiteres Verständnis von faken als kultureller Praxis. Die zu einfach konstruierte Unterscheidung führt nicht nur zu schwachem Forschungsdesign, sondern auch zu einem reduzierten Verständnis von Lektüre, das ‚Lesen‘ mit ‚Fact-checking‘ gleichsetzt. Medien- und Literaturwissenschaft sollten sich klar gegen einen solchen vereinfachten Lektürebegriff positionieren.
74 Vgl. Kalsnes: (Art.) Fake News. In: Oxford Research Encyclopedia of Communication. Un-
ter: https://doi.org/10.1093/acrefore/9780190228613.013.809 [aufgerufen am 19.08.2021].
75 Vgl. Tucher: Not Exactly Lying, S. 5.
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FINDEN JULIAN DREWS
ANEKDOTE Die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 2020 endete
F
Anekdote Finden
mit der Niederlage des amtierenden Präsidenten Donald J. Trump. Dieser war indes nicht bereit, das Ergebnis anzuerkennen. Am Tag nach der Wahl, während noch verbliebene Stimmen ausgezählt wurden, trat Trump im Weißen Haus vor die Kameras und erklärte, den Obersten Gerichtshof anrufen zu wollen, um die Wahl zu beenden. Man wolle schließlich nicht, so Trump, dass um vier Uhr morgens noch irgendwelche Stimmzettel gefunden und angerechnet würden. Darauf reagierte der britisch-amerikanische Fernsehkomiker John Oliver in seiner wöchentlichen Satiresendung LAST WEEK TONIGHT mit dem Kommentar: „They weren’t finding ballots, they were counting them. And finding and counting are just not the same thing. That’s why the movie ‚Finding Nemo‘ wasn’t called ‚Counting Nemo‘, because that would’ve been a very different and much shorter movie. One Nemo, the End.“1 In einem Telefonat im Januar 2021 forderte Trump den Secretary of State des Bundesstaates Georgia, Brad Raffensperger, auf, das Wahlergebnis in seinem Staat noch einmal nachzurechnen, und fügte hinzu, er wolle nur 11.780 Stimmen für die eigene Partei finden. Ein Mitschnitt des Gesprächs wurde von der Washington Post veröffentlicht und dahingehend interpretiert, Trump habe Raffensperger unter Druck gesetzt, um ihn dazu zu bringen, das Wahlergebnis nachträglich zu ändern.2 In beiden Fällen benutzte Trump das Wort finden (bzw. to find), um den Ursprung der fraglichen Stimmzettel betont offenzulassen. In seiner Ansprache sollte dies offenbar dazu beitragen, den Prozess der Stimmenauszählung zu delegitimieren, im Fall des Telefonats – so sah es die Washington Post – sollte
1 Election Results 2020: Last Week Tonight with John Oliver (HBO). In: YouTube. Unter:
https://www.youtube.com/watch?v=LyC855KdBKo [aufgerufen am 10.01.2021].
2 Gardner: ,I just want to find 11,780 votes‘: In extraordinary long hour-long call, Trump pres-
sures Georgia secretary of state to recalculate the vote in his favor. In: The Washington Post. Unter: https://www.washingtonpost.com/politics/trump-raffensperger-call-georgia-vote/2021/01/03/ d45acb92-4dc4-11eb-bda4-615aaefd0555_story.html [aufgerufen am 14.3.2021].
113
Etymologie Finden
eine gewisse Flexibilität bei der Beschaffung der für ihn notwendigen Stimmen eingefordert werden. Die Frage der Legitimität, die in beiden Äußerungen des Präsidenten wie auch in den Kommentaren der Zeitung und des Komikers mitschwingt, besteht in einem bestimmten semantischen Spielraum, den der Begriff mit sich bringt. Was gefunden wird, ist plötzlich verfügbar. Es war schon vorher vorhanden, jedoch nicht in Reichweite. Verglichen mit ‚erfinden‘3, ‚entdecken‘ oder ‚erobern‘ steht das Wort finden für den denkbar sanftesten Übergang von einem Stadium ins andere. Es lässt den Anteil des Subjekts offen – alles Finden könnte auch Zufall oder glückliche Fügung sein. Diese betonte Harmlosigkeit mag, je nach Zusammenhang, als verdächtig oder als Bemühen um Objektivität verstanden werden. In jedem Fall wird durch das Finden ein Faktum geschaffen, das eine gewisse Indifferenz gegenüber seiner eigenen Vorgeschichte an den Tag legt. Die Gründe oder die Art und Weise des Findens sind wesentlich anfälliger für Ambivalenzen, für Interpretation und für Fiktion als das Gefundene selbst. ETYMOLOGIE Dem ETYMOLOGISCHEN WÖRTERBUCH DES ALTHOCHDEUT-
von Albert L. Lloyd und Rosemarie Lühr zufolge kommt das Verb ‚findan‘ in folgenden Bedeutungen vor: ‚finden‘, ‚wiederfinden‘, ‚antreffen‘, ‚stoßen auf‘, ‚entdecken‘, ‚bemerken‘, ‚erkennen‘, ‚erfahren‘, ‚befinden (als)‘, ‚erlangen‘, ‚festsetzen‘, ‚bestimmen‘, ‚erfinden‘, ‚ausdenken‘, ‚aufsuchen‘ und ‚heimsuchen‘. Für das mittelhochdt. ‚vinden‘ sind noch die Bedeutungen: ‚finden‘, ‚sich zeigen‘, ‚erweisen‘, ‚erlangen‘, ‚wahrnehmen‘ und ‚erfinden‘ belegt.4 Als wahrscheinlichste Herkunft gilt den Autoren die urindogerm. Wurzel pent- in der Bedeutung ‚gehen‘. Von dort könnte sich die Form über die Bedeutung ‚zu jemandem gehen‘ zu ‚besuchen‘, ‚aufsuchen‘ weiter zu ‚vorfinden‘, dann SCHEN
3 Siehe (Art.) erfinden in diesem Band, S. ###. 4 (Art.) findan. In: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen, Sp. 251 ff. Als lat. Ent-
sprechungen nennt der Eintrag: constituere, decernere, definire, deprehendere, fingere, inesse, inspicere, invenire, investigare, iudicare, moderari, nancisci, perpendere, ponere, providēre statuere, reperire, respicere, sancire, statuere und vidēre. Ebd., Sp. 251.
114
F
Kontexte Finden
‚an einem bestimmten Ort (in einem bestimmten Zustand) antreffen‘ und schließlich zu finden entwickelt haben.5 Die alternative Deutung, nach der die Form von der Wurzel pet- in der Bedeutung fliegen oder ‚fallen‘ abstammt (daher ‚auf etwas verfallen‘), wird in KLUGES ETYMOLOGISCHEM WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE vertreten.6 Der DUDEN verweist wiederum auf pent- und die Grundbedeutung von finden als ‚auf etwas stoßen‘, ‚auf etwas treten‘ oder ‚auf etwas kommen‘. Im aktuellen Sprachgebrauch finden sich noch Spuren älterer Verwendung u. a. in Formen wie ‚unerfindlich‘ oder ‚spitzfindig‘.7 GRIMMS WÖRTERBUCH vermutet, dass finden und ‚bitten‘ ursprünglich dasselbe Wort gewesen sein müssen, was noch in der begrifflichen Verwandtschaft nachvollziehbar sei, denn: „der bittende sucht, fragt und forscht [...] umgekehrt der suchende sucht, macht ausfindig, der verlangende erlangt, acquirit, erhält, findet [...] erhalten, erlangen und finden sind die ziele des bitten und suchens, liegen auf demselben weg und die begriffe wie die wörter laufen ineinander, es musz einen punct geben, wo der suchende ein findender wird.“8 KONTEXTE Die aktuelle Bedeutung (Stand 1862) wird von GRIMMS WÖRTER-
BUCH in sieben Varianten geteilt: 1. ‚finden‘ als Ergebnis einer Suche, 2. ‚zufällig
finden‘, 3. ‚finden‘ im Sinne von ‚wahrnehmen‘, ‚gewahren‘, ‚erkennen‘, ‚dafür halten‘, 4. ‚finden‘ im Sinne von ‚erfinden‘, 5. Formen mit dem Partizip Perfekt ‚gefunden‘ (z. B. ‚ein gefundenes Fressen‘), 6. ‚finden‘ mit Genitivverbindung (z. B.: ‚Ich fand ihn guter Dinge‘), 7. das reflexive ‚sich finden‘.9 Die erste, dem heutigen Sprachgebrauch wohl nächste Bedeutung – also finden als Ergebnis einer Suche – soll hier nicht behandelt werden. Denkt man in diese Richtung, erweist sich ‚suchen‘ besonders mit Blick auf die Geschichte des Technik- und Mediengebrauchs als der passendere und ergiebigere Begriff.10 Ebenso wenig geht es um das Finden im Sinne des Dafürhaltens, z. B. „Ich
5 6 7 8 9 10
Ebd., Sp. 254. (Art.) finden. In: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 295. (Art.) finden. In: Duden. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, S. 187 f. (Art.) finden. In: Grimm. Deutsches Wörterbuch, Sp. 1642. Ebd., Sp. 1643–1649. Vgl. (Art.) suchen in diesem Band, S. ###.
115
Kontexte Finden
finde das interessant.“ Unter Rückgriff auf das Bedeutungsspektrum, das etymologisch vorhanden ist, bieten sich aber auch andere Möglichkeiten. Die semantischen Bereiche, auf die sich die momentane Kernbedeutung von finden in diachroner Perspektive hin öffnet, können auch in synchroner Perspektive produktive Verbindungen für die Kulturanalyse bilden. Im Weiteren soll daher das Verhältnis zweier komplementärer Gebrauchsweisen von finden betrachtet werden, nämlich das Paar ‚finden‘ und ‚erfinden‘. Während ‚erfinden‘ ein kreatives Moment als Ursprung von etwas Neuem hervorhebt, verweist ‚finden‘ immer auf eine Vorgängigkeit. Finden heißt, dass etwas bereits Vorhandenes in Reichweite rückt. Medien- und theoriegeschichtlich folgenreich wurde diese Verbindung im Begriff der inventio. In ihm fließen Bedeutungen ineinander, welche die modernen europäischen Sprachen begrifflich getrennt haben, z. B. ‚finden‘, ‚erfinden‘ und ‚entdecken‘.11 Die Rhetorik bezeichnet seit der Antike das erste Produktionsstadium der Rede als inventio.12 Heinrich Lausbergs ELEMENTE DER LITERARISCHEN RHETORIK beschreibt das Konzept folgendermaßen: Die inventio wird nicht als Schöpfungsvorgang (wie in manchen Dichtungstheorien der Neuzeit), sondern als Finden durch Erinnerung (analog der platonischen Auffassung von Wissen) vorgestellt: die für die Rede geeigneten Gedanken sind im Unterbewußtsein oder Halbbewußtsein des Redners bereits als copia rerum vorhanden und brauchen nur durch geschickte Erinnerungstechnik wachgerufen und durch dauernde Übung möglichst wachgehalten zu werden. Hierbei wird das Gedächtnis als ein räumliches Ganzes vorgestellt, in dessen einzelnen Raumteilen (‚Örter‘: ‚π‘, loci) die einzelnen Gedanken verteilt sind. Durch geeignete Fragen werden (analog der sokratischen Fragemethode) die in den loci verborgenen Gedanken in die Erinnerung gerufen. – Die generelle Vorgegebenheit der zu findenden Gedanken schließt eine Originalität (ingenium) des Redners und Künstlers nicht aus.13
11 Vgl. Hügli/Theissmann: (Art.) Invention, Erfindung, Entdeckung. In: Historisches Wörter-
buch der Philosophie, Sp. 545.
12 Die übrigen Stadien der Produktion sind die dispositio (Gliederung des Vortrags), elocutio (die
Formulierung), memoria (das Einprägen des Vortrags) und actio oder pronuntiatio (das Vortragen). 13 Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, S. 24.
116
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Kontexte Finden
Inventio markiert also einen dem schöpferischen Akt inhärenten Rückgriff auf bereits Bestehendes. Moderne Erläuterungen des Begriffs betonen häufig jeweils eine dieser beiden Seiten, entweder die Verbindung zur schöpferischen Produktion oder das Vorfinden. Übersetzt worden ist er folgerichtig sowohl als ‚finden‘ wie auch als ‚erfinden‘.14 Für Fragen des Mediengebrauchs ergeben sich hier eine historische und eine systematische Pointe. Die Rückbindung an die platonische Ideenlehre und die Geschichte der Mnemotechnik, welche Lausberg betont, stellt den Begriff automatisch auch in einen mediengeschichtlichen Zusammenhang. Niklas Luhmann weist darauf hin, dass die Mnemotechnik nach der Erfindung des Buchdrucks beginnt, an Wichtigkeit zu verlieren.15 Parallel verändern sich auch die Auffassungen vom Funktionieren des Gedächtnisses. Das seit der Antike vorherrschende passive Bild von einem Siegelring, der seinen Abdruck im Wachs hinterlässt, weicht der aktiveren Vorstellung vom Gedächtnis als einem inneren Schreiber.16 Insgesamt lassen sich einige der kulturgeschichtlich relevanten Verschiebungen der Neuzeit bis um 1800 als Abkehr von den bewusst kultivierten Rückgriffen auf semantische Bestände beschreiben, welche die europäische Kultur seit 14 Ciceros Schrift DE INVENTIONE trägt in der Übersetzung von Theodor Nüßlein den Ti-
tel „Über die Auffindung des Stoffes“. Der Text enthält allerdings die Definition: „Inventio est excogitatio rerum verarum aut veri semilium, quae causam probabilem reddant“ (Cicero: De inventione, S. 24). Nüßlein übersetzt: „Die Auffindung des Stoffes ist das Ersinnen wahrer oder wahrscheinlicher Tatsachen, die den Fall glaubwürdig machen sollten“. (Ebd., S. 25). Andere übersetzen diese Stelle mit „Sich-ausdenken, oder auch Sich-einfallen-Lassen wahrer oder auch wahrscheinlicher Sachverhalte“ (Ramus: Dialektik, S. 27). Auch die inventio selbst ist schon als ‚Erfindung‘ übersetzt worden (Quintilianus: Ausbildung des Redners I, S. 291). Andererseits ist für die inventio im literarischen Bereich bemerkt worden, sie sei „nicht die Vorstellung neuer Inhalte, sondern das Aufspüren der bekannten und bewährten Stoffe und Argumente zu einem bestimmten Thema. [...] Inventio heißt nicht er-finden, sondern auf-finden“ (Löwenstein: Literatur und Topik. Anmerkungen zu einer nicht selbstverständlichen Beziehung. In: Dörpinghaus/ Helmer (Hrsg.): Topik und Argumentation, S. 191). Niklas Luhmann dagegen weist in seiner Beschreibung der Herausbildung des modernen Kunstsystems auf den im 16. und 17. Jahrhundert wachsenden Bedarf hin, literarisch Bewunderung hervorzurufen und in diesem Zusammenhang die als zu leicht betrachtete imitatio zugunsten der inventio zurückzustellen: „Statt imitatio wird inventio betont, und inventio heißt jetzt nicht mehr Finden, sondern Erfinden“ (Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 423) (alle Unterstreichungen von mir, J. D.). 15 Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 475 f. 16 Vgl. Harth: Gedächtnis und Erinnerung. In: Wulf (Hrsg.): Vom Menschen: Handbuch his torische Anthropologie, S. 739.
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der Antike dominiert haben. Die Wissenschaften koppeln nach und nach die verschiedenen Domänen des menschlichen Geistes vom Erinnern ab: „Petrus Ramus trennte die Phantasie, Montaigne den Intellekt und Diderot die Vernunft vom Gedächtnisvermögen“.17 Die Naturbeschreibung ersetzt die Orientierung an großen Vorbildern durch die zunehmend methodische Produktion von Erfahrungswissen.18 Mit dem Wechsel der Autoren von der lateinischen Schrifttradition in die Volkssprachen entsteht schon rein formal die Notwendigkeit sprachlicher Innovationen. Entsprechend erlangt das Wort ‚Innovation‘, das im 17. Jh. zunächst in despektierlicher Bedeutung in Gebrauch kommt, während der Aufklärung seine positive Konnotation.19 Im poetischästhetischen Bereich erlebt besonders das 18. Jh. die Abkehr von der lern- und lehrbaren ars poetica und dem poeta doctus zum schöpferisch-autonomen oder kritisch urteilenden Genie.20 Zusammenfassend ließe sich die Entwicklung der Neuzeit als Ausweitung eines dem Subjekt offenstehenden Zukunftpotentials verstehen. Hans Blumenberg sieht diese Dimension in den Vorstellungen „Terra incognita“ und des „unvollendeten Universums“ verdeutlicht, an denen er sein Konzept der absoluten Metaphern erläutert: Für beide ist charakteristisch, daß sie von ganz bestimmten historischen ‚Erfahrungen‘ ausgehen: die eine nimmt das Fazit des Entdeckungszeitalters metaphorisch, daß die durch Jahrtausende ziemlich konstante ‚bekannte Welt‘, die nur an ihren Rändern noch gewisse Unbekanntheitszonen zu haben schien, sich im nachhinein nur als ein kleiner Winkel der Erde herausstellte; die andere zieht aus der neu aufkommenden Vorstellung der evolutionären Kosmogonie, indem sie das Universum nach Analogie eines Werkstückes betrachtet, die metaphorische Folgerung einer dem Menschen verbleibenden, in der Vollendung des Werkstückes liegenden ‚Aufgabe‘. ‚Entwicklung‘ wird auf dem Wege über die Metapher zu einer transitiven Vorstellung; die Vorleistung der Natur wird transformiert in einen Leistungsrahmen des Menschen.21
17 Ebd., S. 740. 18 Vgl. Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte, S. 30. 19 Vgl. Girard: Nachricht von Neuerung, die drauf und drunter geht. In: FAZ, S. 41. 20 Vgl. Kaminski/De Rentiis: (Art.) Imitatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik,
Sp. 276.
21 Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 78.
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KONJUNKTUREN Historisch sind viele Aspekte des Potentials, das in der Verbindung finden/erfinden liegt, im Begriff der inventio gespeichert, dessen lange Karriere als Teil des Triviums hier nicht im Detail referiert werden muss. Die Bezeichnung geht auf Ciceros rhetorisches Frühwerk mit dem einschlägigen Titel DE INVENTIONE zurück. Ursprünglich wohl wesentlich umfangreicher konzipiert, beschränkt sich der fertige Text auf den ersten und teilweise den zweiten Schritt22 bei der Produktion der Rede. Angeführt werden mögliche Streitfälle, die in den drei Gattungen nach Aristoteles – der darlegenden Rede, der beratenden Rede und der Gerichtsrede – auftreten können, mehrheitlich aber dem Kontext von Anklage und Verteidigung vor Gericht entlehnt sind. Diese Streitfälle und ihre Bestandteile bilden allgemeine Typen, denen jeder konkrete Fall zugeordnet werden kann. Da zu jedem Typus wiederum bestimmte Formen des Argumentierens gehören, gewinnt der Redner aus der richtigen Zuordnung seines Falls ein Schema, anhand dessen er seinen eigenen Beitrag ausrichten kann. Dies wiederum bedeutet, dass die einzelnen funktionalen Glieder, in welche die Rede standardmäßig unterteilt wird, den Anforderungen des Falls entsprechend gestaltet werden. Einen wichtigen Teil der Rede bilden auch die loci communes, die Cicero auflistet und die, je nach beabsichtigtem Effekt, in den verschiedenen Abschnitten des Beitrags verwendet werden können. Sie zielen darauf ab, die Zuhörer
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Systematisch ergibt sich dann die Frage nach dem Stellenwert der historischen Veränderungen. Ist die Erzählung der Abkehr vom bewusst kultivierten Rückgriff zugunsten der Befreiung moderner Subjektivität von religiöser und traditionalistischer Dogmatik nicht unvollständig? Könnte es nicht sein, dass die schulmäßige Orientierung an Regeln und Vorbildern vielmehr durch eine zunehmend ungesteuerte und durch komplexere Lese- bzw. Rezeptionsbiografien möglicherweise auch unbewusste Orientierung ersetzt wurde? Dann würden Begriffe wie Erfahrung, Vernunft und Genie, als Ressourcen der Generierung neuer Sinngehalte, ihre immer noch vorhandenen rekursiven Anteile unterschlagen.
22 Grundsätzlich sind inventio und dispositio schwer voneinander abzugrenzen, siehe hierzu
weiter unten die Bemerkung von E. R. Curtius.
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für den eigenen Standpunkt einzunehmen, den Gegner abzuwerten und bei Bedarf Empörung oder Mitleid im Auditorium hervorzurufen.23 Cicero kombiniert damit bereits zwei von den Griechen übernommene Ansätze. Seine Analyse der Falltypen entstammt der Statuslehre, die auf Hermagoras von Temnos zurückgeht. Der Katalog der Topoi wiederum orientiert sich an der TOPIK und der RHETORIK des Aristoteles.24 Ciceros Schriften (neben DE INVENTIONE vor allem DE ORATORE, ORATOR, TOPICA und die ihm fälschlich zugeschriebene RHETORICA AD HERENNIUM) bilden einen wichtigen Bezugspunkt für die rhetorische Tradition, teils durch direkte Rezeption, teils durch seine Wirkung auf Autoren wie Quintilian oder Boethius, die auch ihrerseits stark rezipiert wurden. Dabei weist die Kontinuität entsprechender Schriften in Spätantike und Mittelalter auch auf eine grundlegende Ambivalenz im Gebrauch von Handbüchern und Lehrwerken hin. Vorschriften etablieren immer auch eigene Maßstäbe für Erfolg und Misserfolg. Neben dem offensichtlichen Kriterium, nämlich der gelingenden oder nicht gelingenden Überzeugung der Richter, gibt es nun noch das Kriterium des korrekten Beachtens der Vorschriften. Ist eine Gattungstradition erst einmal etabliert, kann nicht mehr eindeutig entschieden werden, in welchem Kausalverhältnis diese Kriterien stehen. Macht die Beachtung der Vorschriften die Rede so effektiv, dass sie die Richter überzeugt, oder macht die Beachtung der Vorschriften die Richter gewogen, weil letztere sie bereits kennen und erwarten? Diese Ambivalenz wird besonders relevant, wenn sich kulturelle Praktiken verändern, so dass überlieferte Texte in neue Sprachspiele übernommen werden. So lässt sich sowohl die relativ konstante Behandlung der inventio als Teil des Triviums im Mittelalter als auch ihre gleichzeitige Ausdehnung über den Bereich der Rhetorik hinaus erklären. In den im 7. Jh. n. Chr. erschienenen ETYMOLOGIAE Isidors von Sevilla wird die inventio zunächst lediglich als erste der fünf Phasen der Produktion erwähnt, an welche sich die Darstellung der drei Redegattungen und der typischen Streitfälle anschließen.25 Diese Schilderungen stehen bei Isidor am Anfang des Buchs II seiner Enzyklopädie,
23 Vgl. Cicero: De inventione, S. 147–163. 24 Vgl. Kienpointner: (Art.) Inventio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Sp. 563 f. 25 Vgl. Isidor: Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, S. 86.
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welches neben der Rhetorik auch die Dialektik behandelt. Als Teil der Dialektik wird auch die Topica, d. h. die Wissenschaft von der Auffindung der Argumente, beschrieben.26 Die Grundstruktur des Werks, die mit der Vorstellung des Triviums beginnt, anschließend die Teile des Quadriviums behandelt, um danach zu den übrigen Wissensbereichen zu kommen, findet sich noch beinahe 900 Jahre später in der MARGARITA PHILOSOPHICA des Gregor Reisch, die erstmals 1503 in Freiburg erschien.27 Hier werden die einzelnen Teile der Rede – Einleitung, Erzählung, Einteilung, Gestaltung, Widerlegung und Schluss – als Teile der Erfindung behandelt.28 Die Ausdehnung auf Bereiche jenseits der rhetorischen bzw. dialektischen Literatur verortet Ernst Robert Curtius bereits in der Spätantike. Mit dem Untergang der antiken griechischen Stadtstaaten und der römischen Repu blik sieht er zunächst einen Funktionsverlust der Rhetorik einhergehen: „Das bedeutet nichts anderes, als daß die Rhetorik ihren ursprünglichen Sinn und Daseinszweck verlor. Dafür drang sie in alle Literaturgattungen ein.“29 Bereiche, die im Mittelalter dazukommen, sind besonders die Briefschreibkunst, die Predigttheorie und die Dichtungstheorie. Dabei zeigt sich, dass mit dem Konzept auch die typische Spannung zwischen ‚finden‘ und ‚erfinden‘ importiert wird. So konstatiert Manfred Kienpointner für die Briefschreibkunst: „Daraus ergibt sich eine Spannung zwischen der Absicht, aus praktischen Gründen möglichst viele Textbausteine fertig formuliert vorzugeben und dem Prinzip freier Erfindung“.30 In der Predigttheorie wird die Existenz spezifischer loci der Heiligen Schrift angenommen, die von dialektischen und rhetorischen Mustern zu unterscheiden wären. Auch die Lehre vom vierfachen Schriftsinn wirkt sich auf die inventio aus, insofern das Thema der Predigt mit Rücksicht auf diese Interpretationsmöglichkeiten entwickelt werden muss.31 In der Dichtungstheorie finden sich Bezüge auf den bei Cicero angelegten Katalog an loci, die zur Charakterisierung eines Sachverhalts herangezogen werden
26 Vgl. ebd., S. 117 ff. 27 Reisch: Margarita philosophica. 28 Vgl. ebd., S. 112 ff. 29 Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 79. 30 Kienpointner: (Art.) Inventio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Sp. 570. 31 Vgl. ebd., Sp. 571.
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sollen, darunter auch die bis in unsere Gegenwart gebrauchten sieben Fragen (Wer? Was? Wo? Wann? Warum? Wie? Wozu? bzw. Mit welchen Mitteln?).32 Es ist allerdings nicht nur die Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten der inventio seit dem Mittelalter, die das Konzept schwer fixierbar macht, sondern auch die schillernde Abgrenzung von anderen Stadien der Produktion der Rede. Schon Quintilians INSTITUTIO ORATORIA macht deutlich, dass Einteilungen und Abgrenzungen innerhalb der Rhetorik Gegenstand von Diskussionen sind und von Autor zu Autor variieren können.33 Diese Einschätzung wird noch in der Moderne etwa durch Ernst Robert Curtius geteilt, der in seinem Werk über EUROPÄISCHE LITERATUR UND LATEINISCHES MITTELALTER zur Unterscheidung von inventio und dispositio anführt: „Sie [die Lehre von der Anordnung, J. D.] hat sich erst spät und nie mit völliger Klarheit von der Findungslehre gelöst.“34 In Renaissance und Barock kommt es zu einer intensiven Rezeption der antiken Rhetorik. Darüber hinaus werden einerseits die bereits existierenden thematischen Linien fortgeführt, andererseits kommen wiederum neue Bereiche hinzu. In der Dialektik bzw. der Philosophie lässt sich allerdings auch die im vorhergehenden Abschnitt (Kontexte) genannte Dynamik ausmachen: Im Anschluß an R. DESCARTES betont A. ARNAULD in seiner gemeinsam mit P. NICOLE verfaßten Logik von Port-Royal, daß nur das mathematische Schließen auf der Grundlage notwendig wahrer Prämissen akzeptabel sei. Damit wird der klassischen I., die (zumeist) von bloß wahrscheinlichen Prämissen ausging, die Grundlage entzogen. Arnauld kritisiert darüber hinaus auch den Praxiswert der herkömmlichen I. vernichtend. Er bestreitet Ramus’ Ansicht, daß eine Inventiolehre dem Urteil (iudicium) der Logik vorangestellt werden müsse. Die loci seien für die I. vielmehr völlig nutzlos: kein Advokat, kein Prediger, kein Schriftsteller würde den Stoff mithilfe der loci finden. Das Finden der Argumente beruhe stattdessen auf Sachkenntnis, gesundem Menschenverstand und genauer Analyse des jeweiligen Gegenstandes.35
32 Vgl. ebd. 33 Vgl. Quintilianus: Ausbildung des Redners I, S. 291 ff. 34 Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 80. 35 Kienpointner: (Art.) Inventio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Sp. 576.
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Der allmähliche Niedergang der inventio vollzieht sich jedoch nicht in allen Bereichen zeitlich analog. In den Poetiken des Barocks ist das Konzept noch präsent und verschmilzt teilweise mit der aristotelischen Mimesis.36 Besonders im deutschsprachigen Raum nimmt das Erstellen umfangreicher Sammlungen von loci enzyklopädische Ausmaße an.37 Neu hinzu kommen die Anwendung der inventio auf die inhaltliche Gestaltung von Bildern in der Theorie der Malerei und das Finden von musikalischen Themen in der Musiktheorie, indem für die entsprechenden Bereiche Produktionsstadien, analog denen für die Produktion der Rede, definiert werden.38 Die Übernahme in den Bereich der Musik scheint allerdings bereits im Zeichen des Bedeutungswandels zum reinen Erfinden zu stehen: „Seit dem 16. Jahrhundert werden in ganz Europa Musikstücke im nicht-terminologischen Sinn als ‚Inventionen‘ (‚inventiones‘, ‚inventions‘, ,invenzioni‘) bezeichnet, wenn deren Neuartigkeit oder der Reichtum an musikalischen Einfällen betont werden soll.“39 In den romanischen Sprachen und im Englischen ist die Bedeutungsverschiebung von ‚finden‘ zu ‚erfinden‘ lexikalisch klar erkennbar. Im Spanischen etwa vollzog sie sich im Laufe des 18. Jhs. in engem Verhältnis zu Fragen der künstlerischen Produktion und der Ablehnung regelpoetischer Vorgaben.40 Die Spannung zwischen ‚finden‘ und ‚erfinden‘, die am Begriff der inventio hängt, lässt sich also einerseits synchron verstehen, z. B. mit Blick auf die unterschiedlichen Übersetzungen (vgl. Anm. 11), andererseits als ein historisches Nacheinander. Insgesamt bringt die zunehmende Geringschätzung der Rhetorik die Tradition der inventio im 18. Jh. zum Erliegen.41 Erst das 20. Jh. feiert die Renaissance der Findungslehren unter anderen Vorzeichen. Dafür ist nicht zuletzt der sich stetig ausdifferenzierende Markt für Handbuchliteratur verantwortlich. So können, neben der rhetorischen Literatur im engeren Sinne, Anleitungen zu Debattenführung, Werbung, Journalismus und kreativem Schreiben an die
36 Vgl. ebd., Sp. 577. 37 Vgl. ebd., Sp. 578. 38 Vgl. ebd., Sp. 578 f. 39 Ebd., Sp. 579. 40 Vgl. Jacobs: Vom Entdecken zum Erfinden. In: Archiv für Begriffsgeschichte, S. 61–88. 41 Vgl. Kienpointner: (Art.) Inventio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Sp. 584.
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Darstellungen der inventio anschließen.42 In THE CAMBRIDGE INTRODUCTION TO CREATIVE WRITING etwa empfiehlt David Morley Übungen, um Sujets, Stimme oder Sprache zu finden.43 LA ROCHES EINFÜHRUNG IN DEN PRAKTISCHEN JOURNALISMUS greift die topischen sieben Fragen Ciceros wieder auf, um den vollständigen Informationsgehalt einer Nachricht zu beschreiben.44 Darüber hinaus ist das Verhältnis von ‚finden‘ und ‚erfinden‘ akademisch bzw. theoretisch ein wichtiges Thema geworden, das durch die moderne Entdeckung soziologischer Gegenstände und spezifisch durch den linguistic turn ermöglicht wurde. Entscheidend dafür ist die Transformation, die das semantische Feld zwischen ‚finden‘ und ‚erfinden‘ unter den Bedingungen der Moderne erfahren hat. Die Findungskunst als normatives Verhalten zur Möglichkeit, Sinn in den unterschiedlichsten medialen Zusammenhängen herzustellen, ist in einem langen Prozess verabschiedet worden. Dieser Abschied erfolgte zunächst im Zeichen vermeintlich naturwüchsiger Kräfte wie der Vernunft, der Erfahrung und dem Genie. Solche Größen bilden am Eingang in die Moderne die Quellen, aus denen neue Sinnformen geschöpft werden können. Ob die Wiederaufnahme der inventio in Ratgebern und Handbüchern eine funktionale Parallele zum System der artes liberales bilden kann, darf bezweifelt werden. Wichtiger scheint mir, welche Form die Finden-Erfinden-Dynamik im 20. Jh. im Bereich akademisch-theoretischer Kulturanalyse angenommen hat. Die Kulturtheorien sind es, die, nun eher deskriptiv, den Raum zwischen ‚finden‘ und ‚erfinden‘ ausleuchten und Sinnzusammenhänge, die als Ausdruck natürlicher Sachlagen auftreten, nach ihrer kulturellen Bedingtheit befragen. In diesem Sinne sind wirkmächtige Hermeneutiken entstanden, die darauf abzielen, den versteckten Vorlauf des scheinbar Neuen, Unmittelbaren oder Notwendigen aufzuzeigen. Eben diese Koinzidenz – das Verschwinden der Findungslehre als bewusst kultiviertem Rückgriff auf Vorfindliches und das Auftauchen umfassender Lehren der Entschleierung – kann als Hinweis (wenn auch nicht als Beleg) aufgefasst werden, dass die im vergangenen Abschnitt formulierte historische These zutreffen könnte. Der Wegfall der inventio und
42 Vgl. ebd., Sp. 585 f. 43 Vgl. Morley: The Cambridge Introduction to Creative Writing, S. 47 und 198. 44 Vgl. Hooffacker/Meier: La Roches Einführung in den praktischen Journalismus, S. 74.
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Konjunkturen Finden
in beschränkterem Umfang auch derjenige der imitatio hätte dann nicht einfach das Subjekt dazu befähigt, Sinn aus seinen naturgegebenen Anlagen zu ziehen, sondern er hätte gleichzeitig eine Kultur des Verbergens der eigenen Voraussetzungen etabliert. Einen wesentlichen Bereich der modernen Hermeneutiken stellt die Historische Epistemologie dar.45 Hier werden die Bedingungen wissenschaftlicher Entdeckungen bzw. Erfindungen aufgearbeitet, womit eben jene Belange in den Blick kommen, die in der Selbstbeschreibung der Disziplinen in Form von Fachgeschichten traditionell nicht beachtet werden. Entscheidend für das Thema des Findens ist wiederum die Frage, wie wissenschaftliche Fakten aus dem Bereich der Vermutung, der Theorie oder schlicht des Unbekannten in den Modus des Konkreten wechseln oder, um den einschlägigen Klassiker Ludwik Flecks zu zitieren, die ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG EINER WIS46 SENSCHAFTLICHEN TATSACHE . In einem weiteren Grundlagenwerk dieser Forschungsrichtung bemerkt Thomas Kuhn: „Die normale Wissenschaft strebt nicht nach Tatsachen und Theorien und findet auch keine, wenn sie erfolgreich ist.“47 In welchem Verhältnis steht also das auf geschriebenen und ungeschriebenen Regeln beruhende Forschungsgeschehen, das Fleck als „Denkstil“, Kuhn als „normale Wissenschaft“ bezeichnet, zu Innovationen, die so grundlegend sind, dass sie die Art des Forschens selbst verändern? Wie im Spannungsverhältnis von Regelpoetik und dichterischer Improvisation stellt sich auch hier die Frage, wie man das Unvorhersehbare, das Unwahrscheinliche wahrscheinlicher macht bzw. wie man der Aktivität einen Rahmen setzt, den sie im besten Fall obsolet macht. Ein Stichwort, unter dem diese Fragen behandelt werden, ist die Serendipität, häufiger in ihrer englischen Ursprungsform serendipity. Der von Horace Walpole eingeführte Begriff wird für das zufällige Entdecken oder Finden ursprünglich nicht gesuchter Sachverhalte verwendet.48 Der Begriff wird wiederum auch über den wissenschaftsgeschichtlichen und
45 Vgl. Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung. 46 Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. 47 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 65. Hervorhebung von mir, J. D. 48 Vgl. Merton/Barber: The Travels and Adventures of Serendipity.
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Gegenbegriffe Finden
-theoretischen Bereich hinaus in die Ratgeberliteratur zu unterschiedlichen Themen übernommen, etwa im Bereich der Wirtschaft.49 Systematisch wird der Umgang mit Vorgefundenem auch bei Niklas Luhmann, für den jeder kommunikative Vorgang an bereits bestehende Kommunikation anschließen muss. „Ohne rekursive Bezugnahmen dieser Art fände sie [die Kommunikation, J. D.] überhaupt keinen Anlaß, sich zu ereignen.“50 Die systemtheoretisch grundlegende Unterscheidung von Medium und Form nimmt die Verwaltung semantischer Bestände, wie sie in den drei Bereichen des Triviums vorliegt, wieder auf. Das Medium besteht aus lose verbundenen Elementen, die sich temporär zu stärker gekoppelten Formen verbinden, ohne das Medium zu verbrauchen.51 Es ist aber nicht möglich, alle Elemente des Mediums gleichzeitig zu einer Form zu verbinden. Das bedeutet, dass jede konkrete Form, ergo jede Kommunikation, immer als kontingent, d. h. als Wahl aus verschiedenen Möglichkeiten, die latent präsent bleiben, begriffen werden muss. GEGENBEGRIFFE Neben dem bereits genannten ‚erfinden‘, bildet ‚verste-
cken‘ den wichtigsten Gegenbegriff zu finden. ‚Verstecken‘ im Hinblick auf die Suche, beispielsweise als Selbstzweck im Spiel, soll dabei wiederum außen vor bleiben. Stattdessen geht es hier um die Frage, inwiefern der Gebrauch von finden selbst etwas versteckt, wie in der einleitenden Anekdote finden als unbestimmtes Erscheinen den Vorwurf oder Vorschlag der Manipulation unausgesprochen im Raum stehenlassen kann. Die mit der inventio verbundene Topik entwickelt im Schatten der Findungslehre immer auch eine Lehre des Versteckens. Verborgen werden muss für den erfolgreichen Einsatz die Kontingenz bei der Wahl der Formen. In der Rhetorik darf der Gemeinplatz nicht als solcher erkennbar werden, da er sonst seine Wirkung verliert. Die Zuhörer sollen den Eindruck haben, durch den dargestellten Sachverhalt selbst und nicht durch die Kunst des Redners
49 Vgl. Muller/Lane: Get Lucky: How to Put Planned Serendipity to Work for You and Your
Business.
50 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 190. 51 Vgl. ebd., S. 196.
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Gegenbegriffe Finden
zu Mitleid oder Empörung gereizt zu werden.52 In der DIALEKTIK eines Petrus Ramus grenzt sich das Verständnis der inventio offensiv von der scholastischen Aristotelik ab. Erkenntnis wird hier an logisch hergestellte Notwendigkeit gebunden. Ramus selbst stellt aber seine vermeintlich universellen Werkzeuge in der letzten Fassung seiner Dialektik dar, indem er seinen, neben Rudolf Agricola, wichtigsten Ideengeber, nämlich Aristoteles, unterschlägt: „Ramus verschleiert somit die Quellen, denen er implizit nach wie vor verbunden ist“.53 Wo das moderne Kunstverständnis Originalität und individuelle Leistung in den Vordergrund rückt, tritt gleichzeitig Einflussangst zutage, die dem Autor nahelegt, die Genealogie, in der er sich selbst befindet, zu verbergen, um nicht als Epigone oder gar als konventionell zu gelten.54 In Luhmanns Systemtheorie trifft jeder Beobachter in der Benennung eines Sachverhalts eine (möglicherweise unbewusste) Unterscheidung zwischen dem Bezeichneten und dem gerade durch die Bezeichnung Ausgeschlossenen. Das Ausgeschlossene wird erst für einen weiteren Beobachter sichtbar, der wiederum den Beobachter beobachtet. Doch auch dieser Beobachter zweiter Ordnung benutzt seinerseits eine Unterscheidung, die eine Seite verbirgt, was eine weitere Beobachtung ans Licht bringen kann usw.55 Die Engführung von finden und ‚verstecken‘ scheint ein sine qua non der Sinnschöpfung unter Kontingenzbedingungen zu sein. An einer bestimmten Form des Findens, nämlich an der Entdeckung, wird die ganze Ambivalenz der Setzung deutlich. Spricht man heute über die Entdeckung Amerikas am 12. Oktober 1492, wird der fragliche Begriff i.d.R. eingeklammert oder in Anführungszeichen gesetzt. Darin zeigt sich die anhaltende Irritation durch einen Sprachgebrauch, der offenbar nicht einfach zu korrigieren ist. Jakob Wassermann hat sie 1929 in seiner Kolumbusbiografie mit Blick auf die unmittelbar nach der Entdeckung vollzogene Inbesitznahme ausbuchstabiert:
52 Vgl. Cicero: De inventione, S. 149. 53 Ramus: Dialecticae libri duo, S. XXV. 54 Vgl. Bloom: The Anxiety of Influence. 55 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1110 ff.
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Perspektiven Finden
Ich war ein zehnjähriger Junge, als ich zum erstenmal las, wie Kolumbus von Guanahani „rechtskräftig“ Besitz ergriff. Ich entsinne mich, daß mich der Ausdruck „rechtskräftig“ so in Erstaunen setzte, daß ich tagelang darüber grübelte. [...] Mich erstaunte vor allem die Selbstverständlichkeit des Vorgangs und daß sich die Spanier nicht wenigstens vorher erkundigten, ob das Land bereits jemandem gehörte. In diesem Fall schien es mir höchst seltsam, von Rechtskraft zu sprechen, und die Begriffe verwirrten sich mir. Es war natürlich eine kindliche Auffassung, ich sah es später ein, besonders da die Tatsache in allen Büchern mit der gleichen Selbstverständlichkeit berichtet wurde und ich auf keinen Menschen stieß, der mein Befremden geteilt hätte.56
Hier scheinen bereits die Bedingungen auf, unter denen von zwei sich begegnenden Welten eine nachhaltig zur „Neuen Welt“ deklariert werden kann. Dies gelang, weil diejenigen semantischen Bestände, nach denen die neue eigentlich die alte Welt war, samt ihren Nutzern vernichtet wurden. Diese Neue Welt wiederum, die in ihrer Benennung nach Amerigo Vespucci den eigentlichen „Entdecker“ Christoph Kolumbus versteckt, führt in eine Moderne, in welcher zur Etablierung oder Aufrechterhaltung des Status quo immer wieder Menschen verschwinden müssen.57 PERSPEKTIVEN Außer dem Nachleben normativer Findungslehren in Hand-
büchern und Ratgebern bleibt das Finden von Sinn wohl die wichtigste Komponente des Begriffs. Hier bezeichnet das Lemma im Grunde die Theorie der Theorie. Wollte man vom Desiderat automatisch auf den Bedarf schließen, würde sich die Frage nach einer einheitlichen Terminologie stellen, welche, nach der Art der Selbstreferenzialität in der Systemtheorie, eine allgemeine Form für das Vorfinden und Aufnehmen von Sinnbezügen bieten könnte. Vielleicht noch wichtiger als der begriffliche Zuschnitt wäre dafür aber die verfügbare Hintergrundmetaphorik. Momentan sind es häufig biologische
56 Wassermann: Christoph Columbus, der Don Quichote des Ozeans, S. 75. 57 Vgl. Seiler: Zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Zur technik- und mediengeschicht-
lichen Seite dieses Phänomens vgl. Drews: Die Gefahrengemeinschaft in Jean Lartéguys Militärroman Les Centurions. In: Christians/Mein (Hrsg.): Zur Geschichte von Kalkül und Einbildungskraft, S. 189–203. Zum Themenkomplex finden/erfinden der Neuen Welt vgl. Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten.
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FORSCHUNG Als Forschungsgegenstand gehört finden in dem hier bespro-
chenen Sinn in den Bereich der historischen Semantik.59 Der Begriff und seine Antagonisten beschreiben im Grunde die geschichtliche Dynamik der Sinnentwicklung selbst. Eine für die Literatur- und Kulturwissenschaft folgenreiche Verschiebung hat sich dabei am Verständnis der Topik vollzogen. Beschrieb sie in der Antike eher argumentative Muster, wird sie heute meistens mit inhaltlichen Stereotypen in Verbindung gebracht. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung dieses Verständnisses von Topik spielt vermutlich Ernst Robert Curtius’ EUROPÄISCHE LITERATUR UND LATEINISCHES MITTELALTER. Die Literatur zur Topik ist kaum überschaubar, muss aber in der Regel mehr als einen Begriff verwenden, etwa: „als (1.) bewegliche Verhältnisbestimmung, als (2.) Argumentationsvorrat zu einem ideologisch strukturierten Themenkomplex (Recht/Gericht, Ethik, Glaube) und als (3.) Element eines ewigen Weisheitsvorrats bzw. einer ideenlosen konventionellen Verlegenheitsrede.“60 Dabei wären Arbeiten, in denen der Nachweis von Rhetorizität einen wichtigen Teil des Erkenntnisgewinns ausmacht und die daher tendenziell eher moderne Gegenstände behandeln, von solchen zu trennen, die historische Konstellationen beschreiben, in denen der Rückgriff noch normativ bestimmt war.61
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Forschung Finden
Konzepte, die das Zusammenfassen von Sinnformen in Genealogien steuern. Das gilt bereits für die modellbildenden Untersuchungen Nietzsches und deren implizite Darwinrezeption.58 Aber auch die Rede von der Autopoiesis von Kommunikationssystemen orientiert sich an der naturwissenschaftlichen Beschreibung des Lebens. Es bleibt abzuwarten, ob sich im Bereich der Medientechnologie Innovationen als bildgebende Konzepte semantisch durchsetzen oder ob beispielsweise die Entdifferenzierung durch Rückgriff auf alte Formen methodisch vielversprechender sein kann.
58 Vgl. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. 59 Für einen umfangreichen Überblick vgl. Müller/Schmieder: Begriffsgeschichte und histori-
sche Semantik.
60 Christians: Über den Schmerz: eine Untersuchung von Gemeinplätzen, S. 99. Hervorhebun-
gen im Orig.
61 Vgl. z. B. Schmitz: Die Poetik der Adaptation: literarische inventio im ‚Eneas‘ Heinrichs von
Veldeke.
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Forschung Finden
Semantische Einheiten sind schwer bestimmbare Größen, weshalb die Forschung ihre Gegenstände auf unterschiedlichen Ebenen verortet. Dazu gehören auch Beziehungen, wie sie häufig unter dem Stichwort Intertextualität behandelt werden. Immer noch herausragend in dem Bereich ist Gérard Genette’s Untersuchung PALIMPSESTE. DIE LITERATUR AUF ZWEITER STUFE, welche unterschiedliche Typen von Text-zu-Text-Beziehungen terminologisch aufschlüsselt.62 Das von soziologischer Begrifflichkeit und lebenswissenschaftlicher Metaphorik informierte Schreiben hat das Subjekt nachhaltig eingeklammert. Bei Michel Foucault führt das zu einer Diktion, in welcher es schließlich die Worte sind, die ihren Autor finden.63
62 Vgl. Genette: Palimpseste, S. 9–14. 63 Vgl. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 9.
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IDENTIFIZIEREN SEBASTIAN GIEßMANN1
ANEKDOTE
„Identities seek control.“ Harrison White2
Anekdote Identifizieren
I
Joy Buolamwini ist eine Superheldin. Oder zumindest ein Star der Algorithmenkritik. Denn sie hat 2018 die Algorithmic Justice League gegründet, die in Fragen maschineller und sozialer Vorurteile und der Macht von Algorithmen eine klare Haltung hat. Algorithmic bias existiert, gerade in kommerziellen Gesichtserkennungssystemen. Die kluge Öffentlichkeitsarbeit von Buolamwini, um deren Status als Superheldin man sich ob populärer TED talks keine Sorgen machen muss, verdeckt aber leicht die wissenschaftliche Substanz der öffentlichen Mission. So hat die Doktorandin des MIT Media Lab 2018 zusammen mit Timnit Gebru von Microsoft Research einen ebenso furiosen wie positivistischen Artikel vorgelegt, in dem die intersektionalen Abgründe der Massen-Gesichtserkennung einer computerwissenschaftlichen Analyse unterzogen werden. GENDER SHADES: INTERSECTIONAL ACCURACY DISPARITIES IN COMMERCIAL GENDER CLASSIFICATION zielt auf faire, transparente und rechenschaftspflichtige Gesichtserkennungs-Algorithmen ab.3 Vergleichbare Ziele werden auch von anderen aktivistischen Initiativen zur algorithmic accountability in Europa verfolgt, die aber im Gegensatz zu Buolamwini und Gebru automatisierte Gesichtserkennung komplett ablehnen.4 1 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 262513311 – SFB 1187 Medien der Kooperation. Dieser Text beruht auf Gedanken, die im Rahmen der Werkstatt Praxistheorie des SFB 1187 „Medien der Kooperation“ an der Universität Siegen entwickelt worden sind. Mein Dank gilt Jenny Berkholz für die Durchsicht des Texts, Francis Hunger für seine kritischen Anregungen und Friedemann Vogel für ein gemeinsames Siegener Seminar zu Zeichen, Medien und Praktiken des Identifizierens im Sommersemester 2021. 2 White: Identity & Control, S. 1. 3 Buolamwini/Gebru: Gender Shades. In: Proceedings of Machine Learning Research, Bd. 81 (2018), S. 1–15. 4 #Ban Facial Recognition Europe bzw. Reclaim Your Face. Unter: https://ban-facialrecognition.wesign.it/droitshumains/verbot-der-gesichtserkennung-in-europa bzw. https:// reclaimyourface.eu [aufgerufen am 01.04.2021].
134
I
Anekdote Identifizieren
Angesichts der bisher schnellen Entwicklung maschinellen Lernens und rezenter Fälle wie dem Agieren der Firma Clearview, die weltweit wild Gesichtsdaten aus drei Milliarden Fotografien aggregiert hat,5 muss man vorsichtig fragen: Was war Gesichtserkennung bis zum Jahr 2018 und was bedeutet sie für die Identifikation menschlicher Körper? Zunächst einmal bedarf sie einer infrastrukturellen Grundlage, die auch vor Clearview auf dem capturing möglichst großer Datensets beruhte. Buolamwini und Gebru halten fest, dass auf Basis von Sammlungen wie Megaface und LFW zwar hohe Erkennungsraten in der automatischen Gesichtserkennung postuliert wurden – etwa 97,35 Prozent im Falle von LFW – jedoch ohne die Qualität nach ethnischen (race) und geschlechtlichen (gender) Kriterien zu differenzieren. Demgegenüber unterziehen sie sowohl das labeling der digital-fotografisch repräsentierten Hautfarbe als auch den Umgang von Algorithmen mit Geschlechtsklassifikation einem Audit-Prozess. Diese Praxis soziotechnischen Prüfens akzeptiert dabei die welterzeugende Kraft digitalen Klassifizierens und Identifizierens. Sie achtet vor allem auf Disparitäten – etwa, wenn in den Datensets dunkelhäutige Frauen am wenigsten repräsentiert werden (IJG-A, 4,4 Prozent) oder dunkelhäutige Männer (Adience, 6,4 Prozent).6 Lediglich eines von drei Datensets, PPB, ist ausgewogener hinsichtlich der Repräsentation von dunkleren und helleren Hauttönen. Kommerzielle Gesichtserkennungssysteme, die vor allem im polizeilichen und juristischen Kontext genutzt werden, testen Buolamwini und Gebru anhand von API bundles, also Schnittstellenzugängen von Microsoft, IBM und der chinesischen Firma FACE++. Die Resultate des Vergleichs sind schlagend: Alle Klassifikatoren erkennen hellhäutigere männliche Subjekte besser. Am schlechtesten waren die Erkennungsraten für dunkelhäutige Frauen. Demgegenüber argumentieren die Autorinnen: „Future work should explore intersectional error analysis of facial detection, identification and verification.“7 Bezeichnend ist dabei, dass weniger die Gesichtserkennung selbst als ihre
5 Vgl. Hill: The Secretive Company That Might End Privacy as We Know It. In: New York Times. Unter: https://www.nytimes.com/2020/01/18/technology/clearview-privacy-facial- recognition.html [aufgerufen am 30.03.2020]. 6 Vgl. Buolamwini/Gebru: Gender Shades, S. 7. 7 Ebd., S. 12.
135
Etymologie Identifizieren
informatische Qualität, öffentliche Transparenz und Rechenschaftspflicht auf dem Prüfstand stehen. Wie lässt sich eine solche kontrollgesellschaftliche Eskalation, die auch kritische Medienforschungen unterwandert, medienhistorisch begründen? Wie kam es zu immer neuen Kaskaden des Registrierens, Identifizierens und Klassifizierens? Nahezu alle Medientheorien des Identifizierens betonen die asymmetrische Verteilung von Identifikationsmacht, die insbesondere staatliche und privatwirtschaftliche Medienagenturen in den Vordergrund rücken lässt. Die polizeilich-geheimdienstliche Disposition der Erkennungsdienste lässt sich kaum leugnen; sie ist aber das zu Erklärende und nicht die Erklärung selbst. Zu erklären bleibt auch, warum und vor allem wie fortwährend identifizierbar gehaltene Subjekte mit staatlichen und privatwirtschaftlichen Erkennungsdiensten umgehen. Denn Gesicht, Sprache und Körper bleiben in medienanthropologischer Sicht offene semiotische Ressourcen, deren Praktiken immer auch Maskierungen, Inszenierungen und anderslautende Berichte (accounts) beinhalten: Nicht ohne Grund trägt die Superheldin der Algorithmic Justice League eine weiße Gesichtsmaske. ETYMOLOGIE Das franz. Verb identifier gilt als Bezugspunkt der angelsäch-
sischen und dt. Etymologien. Identifier wiederum bezieht seine Herkunft als transitives Verb aus dem scholastischen Latein, wenn man dem LAROUSSE folgt: „latin scolastique identificare, du latin classique idem, le même, et facere, faire“.8 Identifikation ist Gleichmacherei, könnte man sagen. Etwas als gleich oder gleich gemacht zu erkennen, ist jedoch eine komplexe Praktik, die das Inrechnungstellen von kulturellen Schemata und ein Agieren zwischen Kategorien erfordert. Das dt. Substantiv ‚Identität‘, das für „völlige Übereinstimmung, Gleichheit, Wesenseinheit“ steht und das Verb identifizieren, das „die Identität feststellen, einander gleichsetzen“ bedeutet, werden im 18. Jh. aus dem Lat. entlehnt.9 Im 19. Jh. kommt hierzu die ‚Identifizierung‘.10 Die enzyklopädisch
8 (Art.) Identifier. In: Larousse. Unter: https://larousse.fr/dictionnaires/francais/identifier/
41414#definition [aufgerufen am 30.03.2020].
9 (Art.) Identität. In: Pfeiffer. Etymologisches Wörterbuch, S. 570. Unter: https://www.dwds.
de/wb/identifizieren [aufgerufen am 30.03.2020].
10 Ebd.
136
I
Etymologie Identifizieren
nachweisbare dt. Sprachgeschichte erscheint gegenüber den Praktiken des Identifizierens nachläufig, die sich mit der franz., engl., span. und ital. Etymologie deutlich früher im 17. Jh. ansetzen lassen.11 So notiert das für praxeologische Forschung vielleicht am besten geeignete OXFORD ENGLISH DICTIONARY für die transitive Nutzung von identify – im Sinne von „to regard or treat as identical“ – frühneuzeitliche Fundstellen ab 1626. Identify im Sinne von „to serve as a means of identification for; to show something or somebody to be“ wird als transitives Verb vor allem im späten 18. Jh. gebräuchlich.12 Etymologie und historische Semantik allein, so muss man es festhalten, helfen beim Identifizieren des Identifizierens nur begrenzt. Valentin Groebner hat in seiner vielgelesenen Studie DER SCHEIN DER PERSON festgehalten, wie schwer ein Anschluss an postmoderne Begriffe der (pluralen) ‚Identität‘ ist, wenn man sich identifizierender Praktiken historisch versichern will. So ist der Begriff der identitas in der mittelalterlichen Logik häufig gebraucht worden – freilich nicht als Ausweis von Einzigartigkeit, „sondern vielmehr für diejenigen Merkmale, die verschiedenen Elementen einer Gruppe gemeinsam waren, abgeleitet von idem, der- oder dasselbe, oder identidem, zum wiederholten Mal.“13 Groebners Schlussfolgerung, sich besser dem Identifizieren als den „Identitäten“ zuzuwenden, bleibt eine wertvolle mikrohistorisch-anthropologische Lektion: „Denn Identifizieren ist immer ein Vorgang, an dem mehr als eine Person beteiligt ist.“14 Um diese ko-operative Verfassung des Identifizierens soll es im Folgenden gehen. Sie steht im engen Zusammenhang mit den Praktiken des Registrierens – die jedwede Identifikation bedingen – und denen des Klassifizierens, die ein Verorten in kategorialen Ordnungen und etablierten Schemata erlauben. Eine Medienpraxistheorie des Identifizierens beruht auf der infrastrukturellen Engführung des Registrierens und Identifizierens, ist Teil der langen Geschichte von Klassifikationssystemen und adressiert auf dieser Grundlage
11 Vgl. (Art.) Identify. In: Oxford English Dictionary. Unter: https://www.oed.com/view/
Entry/90999 [aufgerufen am 30.03.2020].
12 Ebd. 13 Groebner: Der Schein der Person, S. 20. 14 Ebd., S. 21.
137
notwendigerweise symbolische Ordnungen. Ich möchte zunächst den Rahmen einer solchen Medienpraxistheorie abstecken, bevor ich mich am Beispiel des Passes, des Kredits und seiner Praktiken der Geschichte des wechselseitigen Identifizierens zuwende. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei jenen bürokratischen Medienagenturen, durch die Personen, Zeichen und Dinge verschaltet werden.
Kontexte Identifizieren
KONTEXTE Praktiken des Registrierens und Identifizierens sind systematisch
nicht voneinander zu trennen.15 Denn kein Medieneinsatz kennt ein bloßes Speichern, alle Inskriptionen werden semiotisch und soziotechnisch durch Identifikationsprozesse, Referenzproduktion oder schlicht Spurenlesen relevant. Medienpraktiken der Registrierung und Identifizierung beginnen bereits vor der Schrift, in wechselseitiger Interaktion, in sprachlichen und gestischen Praktiken des Verweisens, Verdeutlichens und Adressierens. Sie sind, entgegen einer vermeintlichen Dominanz der Schrift und anderer Inskriptionen, ebenso körpertechnisch-interaktional verfasst. Die Interkorporealität,16 in der wechselseitig Körperbewegungen, Gestik, Mimik und Sprechakte indexikalisch zur Geltung gebracht werden, umfasst all diejenigen Situationen, in denen wir unsere Körper wechselseitig zu Medien machen. Besonders deutlich haben dies ethnomethodologische und anthropologische Forschungen zeigen können, die sequenzanalytisch vorgehen.17 So umfasst Harold Garfinkels Begriff der ‚Accountability‘18 nicht nur die schriftlichen Formen des Berichtens, Kontierens und Rechtfertigens, sondern gerade den mündlichen account als Erzählung, die Berührung unter miteinander arbeitenden Kolleg*innen als verkörperte Accountability19 oder das Aktenförmig-Werden juridischer Sprechakte. Sich
15 Der folgende Abschnitt basiert auf meinen Überlegungen in Gießmann: Elemente einer
Praxistheorie der Medien. In: ZfM, Bd. 19 (2018), S. 95–109, hier S. 104 f.
16 Vgl. Merleau-Ponty: Der Philosoph und sein Schatten. In: Ders.: Zeichen, S. 233–264, hier
S. 246.
17 Vgl. Meyer/Streeck/Jordan (Hrsg.): Intercorporeality. 18 Garfinkel: What is Ethnomethodology? In: Ders.: Studies in Ethnomethodology, S. 1–34,
hier S. 33 f.
19 Vgl. Suchman: Technologies of Accountability. In: Button (Hrsg.): Technology in Working
Order, S. 113–126.
138
I
Kontexte Identifizieren
accountable zu machen, produziert fortwährend identifizierbare Daten in kooperativen Settings ‚mit mehr als einer Person‘.20 Eine weitere interaktionale und interkorporeale Begründung des Regis trierens und Identifizierens lässt sich anhand der anthropologischen Forschungen Charles Goodwins zum ko-operativen Handeln vornehmen. Goodwins Studien zur Ethnologie und Sequenzanalyse menschlicher Interaktion und Zeichenpraktiken weisen nach, wie wir semiotische Ressourcen, die durch das Gegenüber (sprachlich, gestisch, mimisch) zur Verfügung gestellt werden, kooperativ als registrative Grundlage für die Identifikation der jeweiligen weiteren turns der Interaktion nutzen. Sie stellen auch die öffentliche Basis für verkörperte Lernprozesse dar, wie sie Goodwin etwa im Falle der PROFESSIONAL VISION von Archäolog*innen nachdrücklich beschrieben hat, in der die Medien des Sehen-Lernens (Wie erkennt man Erdschichten?) zugleich Instrumente des wissenschaftlichen Registrierens, Identifizierens und Klassifizierens sind. Identifizieren ist, wenn man Goodwin folgt, ganz normale Alltagspraxis und zugleich Bedingung für hochdifferenzierte skills.21 Garfinkels und Goodwins sozialtheoretische und anthropologische Diag nosen bleiben für die interkorporeale, ko-operative Dimension des Identifizierens zentral. Gerade an vormodernen Praktiken, wie sie Valentin Groebner exzellent beschrieben hat, wird dies besonders deutlich. Zwar waren die Registraturen – ob nun in der Kanzlei Friedrichs II., den kirchlichen Bürokratien des Mittelalters oder der Kolonialmacht Spaniens unter Philipp II. – Ausdruck einer von Europa aus betriebenen Verschriftlichung der Welt. Die konkreten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Praktiken des Identifizierens von Einzelpersonen mobilisierten aber eine Vielzahl semiotischer Ressourcen, deren Prüfung situativ und indexikalisch entlang von Ähnlichkeitskriterien erfolgte: Haar- und Hautfarben, Gesichtsmerkmale, Kleider, Tätowierungen, Wappen, herrschaftliche Siegel, (Geleit-)Briefe und schlussendlich Ausweise, passeportes – als bleibendes Erbe des europäischen Mittelalters. Konstitutiv für die Medien- und Datenpraktiken des Identifizierens war dabei die begrenzte
20 Vgl. Groebner: Der Schein der Person, S. 21. 21 Vgl. Goodwin: Professional Vision. In: American Anthropologist, New Series, Bd. 96, Nr. 3
(1994), S. 606–633; ders.: Co-Operative Action.
139
Kontexte Identifizieren
Vervielfältigung der mobilen Person durch ihre mobilen Papiere, die dadurch zugleich zum Rechtssubjekt wurde.22 Die Lücke zwischen einer Person und ihren Zeichen blieb dabei allerdings über Jahrhunderte lang bestehen, so dass nur die Praxis des Identifizierens von Ähnlichkeiten selbst diese überwinden konnte: „Ausweisen heißt schließlich herzeigen.“23 Zugleich heißt es, sich medienpraktisch als Rechtssubjekt zu behaupten, indem man sich berichtbar, eben accountable macht. Die Medientheorie hat sich diesen kleinen, verteilten Praktiken – zu denen auch die Listen von Hochstapler*innen und Identitätsbetrüger*innen gehören – traditionell weniger gewidmet als den Haupt- und Staatsaktionen des Identifizierens und der durch diese eingeführten, disziplinierenden MIKROPHYSIK 24 DER MACHT. Tatsächlich kann man sagen, dass eine medieninteraktionistische Perspektive den Blick auf die klassischen Verdatungstechniken staatlicher Registrierung und Identifizierung, darunter die Staatstabellen seit dem 17. Jh.,25 polizeiliche Erkennungsdienste, optische und akustische Überwachung, Sozialstatistik, und neuerdings Big Data und Biometrie26 verschiebt, ja sogar zugunsten der agency der identifizierbaren Person verschieben muss. Denn das perfekte Aufschreibesystem bleibt ein – meist folgenreicher – bürokratischer Traum, der zum Alptraum werden kann. Geoffrey C. Bowker und Susan Leigh Star haben dieser Janusköpfigkeit der infrastrukturellen Moderne ihr großes Buch SORTING THINGS OUT gewidmet, das die Konsequenzen kategorialer Ordnungen des Registrier- und Identifizierbaren durchdenkt.27 Es zeigt zugleich den Aufstieg neuer Medienagenturen, die mit der Verwaltung des Identifizierbaren entstehen. Die infrastrukturellen Rückseiten der Mediengeschichte sind darin der Ort, an dem Datenverarbeitung und Klassifikationspraxis miteinander verkoppelt werden. Klassisch ist Bowker und Stars Analyse der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) geworden, die seit der ersten Auflage im
22 Vgl. Groebner: Der Schein der Person, S. 173 f. 23 Ebd., S. 169. 24 Foucault: Mikrophysik der Macht. 25 Vgl. Vismann: Akten, S. 204 f. 26 Vgl. Wichum: Biometrie. 27 Bowker/Star: Sorting Things Out.
140
I
Kontexte Identifizieren
Jahr 1900 zwischen Wissensverwaltung und medizinischer Identifikationspraxis zu vermitteln sucht. Die ICD übernimmt als global angelegte, wachsende Informationsinfrastruktur eine koordinative und standardisierende Funktion, die die jeweiligen lokalen Praktiken des Registrierens, Identifizierens und Klassifizierens von Krankheiten unterstützt. Sie war – und ist – ein Weltprojekt, das eine andere Art von Erkennungsdienst eingesetzt hat als etwa die polizeiliche Verwaltung von Verbrechens- und Verbrecherdaten am Ende des 19. Jhs.28 Für sie gilt der Abstand zwischen Person und Klassifikation noch genau so wie für die von Groebner beschriebene Differenz zwischen Körper und Ausweispapieren: „The crack comes when the messy flow of bodily and natural experience must be ordered against a formal, neat set of categories.“29 Das gilt für die Formularförmigkeit moderner Ausweise ebenso wie für die Pragmatik des medizinischen Identifizierens: Wer identifiziert, klassifiziert. Medientheoretisch spricht also viel dafür, Praktiken des Identifizierens nicht allein entlang eines erkennungsdienstlichen Paradigmas zu verstehen, das polizeiliche, geheimdienstliche und sozial-bewertende Verfahren privilegiert. Vielmehr gehören kleinere wie größere Medienagenturen des Identifizierens von Personen erstens zum modernen infrastrukturellen Staat und zweitens zu denjenigen „centers of calculation“,30 die Privatwirtschaft, Konsumforschung und statistische Durchmusterung von Öffentlichkeiten hervorbringen. Gegen die Asymmetrie dieses Verhältnisses hat es immer Gegenbewegungen gegeben – etwa das „right to be let alone“ gegenüber der Pressefotografie um 1900 –, den Datenschutz gegenüber staatlichen Rasterfahndungen ab den 1970er Jahren oder den Verschlüsselungsaktivismus der 2010er Jahre. Für diese Gegenbewegungen gibt es in der Regel gute normative und politische Gründe. Erklärungsbedürftig ist aber, warum die interaktionalen Formen des Sich-Berichtbar-Machens zu immer neuen Kaskaden des Registrierens, Identifizierens und Klassifizierens führen – bis hin zu der durch die Algorithmic Justice League kritisierten Appropriation des maschinellen Lernens für eine schlechte Automatisierung eben dieser Zwecke.
28 Vgl. Meyer: Operative Porträts, S. 131 ff. 29 Bowker/Star: Sorting Things Out, S. 68. 30 Latour: Science in Action, S. 215 f.
141
Kontexte Identifizieren
Denn eine künstliche Trennung von Daten, Kalkulation, Körpern und Gesichtern lässt sich innerhalb digitaler Medienkulturen kaum mehr vornehmen. Registrieren und Identifizieren beinhalten darin alltägliche logistische Medien- und Datenpraktiken, Adressieren, Einschätzen, Auffinden, Tracking und das Liefern einer Nachricht, eines Objekts oder einer Person. Registrierungs- und Identifizierungstechniken ermöglichen die Referenz auf singularisierte Personen, Zeichen und Objekte, aber auch auf lokalisierte und datierte Verschickungsvorgänge. All dies wäre jedoch nicht möglich ohne das interaktionale und interkorporeale Vermögen des Registrierens und Identifizierens, in seiner jeweiligen Modifikation durch infrastrukturelle und logistische Medien. Phil Agre hat diese Praktiken 1994 mit dem logistischen Begriff der capture charakterisiert.31 War dieser zunächst durchaus als Differenz zu visuellen Modi der surveillance wie dem von Michel Foucault beschriebenen Panoptismus gedacht, ist mittlerweile das fortwährende capturing von Daten zur überwachenden Mustererkennung weit etabliert: Personalisierte Logins per Benutzer*innennamen, Gesichtserkennung und andere Biometrien gehen davon aus, dass der menschliche Körper die beste Grundlage identifizierbarer Individualität bereitstellt. Unsere semiotischen Ressourcen führen so ein nicht mehr voneinander trennbares Doppelleben: Die interkorporeale, ko-operative und wechselseitige Verfertigung von accounts wird nicht erst seit dem Aufstieg der Social-Media-Plattformen untrennbar von ihrer Bürokratisierung, Valorisierung, Profilierung und Datenverarbeitung. Medien- und Datenpraktiken des Identifizierens konvergieren in digitalen Gegenwartskulturen, Big Data wie maschinelles Lernen sind Mittel zu diesem Zweck. Auf welchen Mediengeschichten beruht diese beunruhigende Entwicklung? Man kann sie kultur-, staats- und kapitalismuskritisch verstehen, aber ob ihrer anderen Genealogien in der medizinischen Datenverarbeitung, Konsum- und Öffentlichkeitsforschung ebenso als eine Form von „banal surveillance“, Normalisierung verteilter Kontrolle und fortwährende Indexikalisierungsleistung digital vernetzter Medien. Ich möchte daher im Folgenden an eine gemeinsam
31 Vgl. Agre: Surveillance and Capture. In: Wardrip-Fruin/Montfort (Hrsg): The New Media
Reader, S. 740–760.
142
mit Asko Lehmuskallio, Paula Haara und Heikki Heikkilä generierte Frage anschließen32 und fragen: Was haben Pässe und Kreditkarten gemeinsam? KONJUNKTUREN Ausweispapiere tragen eine echte longue durée der Medien-
I
Konjunkturen Identifizieren
geschichte, in der sich die mobile Nutzung und Identifizierung mit großen Registraturprojekten verbindet. Zum Abstand zwischen der Person, ihren Erkennungszeichen und den Medien des Identifizierens gehört vom 15. bis ins 21. Jh. die strukturelle Nicht-Identität von beweglichen Körpern und ihren stets stabilisierungsbedürftigen, tendenziell obrigkeitlich produzierten Daten. Bernhard Siegert hat dies nachdrücklich anhand der Zeichenpraktiken der spanischen Krone im 16. Jh. beschrieben, die PASSAGIERE UND PAPIERE auf dem Weg in die amerikanischen Kolonien strikt zu regulieren versuchte.33 In Valentin Groebners Geschichte von Steckbrief, Ausweis und Kontrolle erscheinen die „großen Apparate“ bzw. Medienagenturen der Moderne wie ein Echo der – multiplen, auf Ähnlichkeiten gerichteten, verteilten – mittelalterlichen Praktiken des Identifizierens. Wendepunkte in dieser langen Geschichte des Identifizierens waren oftmals politische, sei es der Westfälische Friede, seien es die nach der Französischen Revolution erlassenen strikten Namensgesetze34 oder der mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wiedereingeführte Zwang zu Ausweis, Pass und Identifikationskarten.35 Zugleich beruhten auch Zeiten des liberalen Verkehrs von sozial höher gestellten Personen, wie sie das letzte Drittel des 19. Jhs. in West- und Mitteleuropa kennzeichneten, auf staatlichen Strategien, die ‚gute‘ Zirkulation ermöglichen und ‚schlechte‘ Zirkulation präventiv verhindern wollten.36 Privilegien im Weltverkehr galten für Bürger*innen kolonialer Weltreiche und administrative Eliten, nicht aber für die working class und noch weniger für die Menge der Kolonialisierten.
32 Vgl. das Forschungsprojekt BANSUR zur ‚banal surveillance‘. Unter: https://www.tuni.fi/
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Konjunkturen Identifizieren
Über die Person hinaus zeichnete sich das 19. Jh. durch ökonomisch-technische Innovationen zur Entstehung neuer Registrier- und Identifikationsmedien aus. So hat etwa Monika Dommann zeigen können, wie im expandierenden Welthandel Frachtbriefe und Speditionsbücher zu Transportnormen werden konnten.37 JoAnne Yates hat die Geschichte von Aktenordnern, Memoranden und Ablagepraktiken als Arbeitsmedien in der amerikanischen control revolution seit Mitte des 19. Jhs. rekonstruiert, mit denen industrielle und bürokratische Praxis im neuen Stil systematisch dokumentiert wurde.38 Delphine Gardey verdanken wir einen parallelen, auf Frankreichs Industrialisierung gerichteten Überblick zu den Medien des modernen Büros, der Schreib-, Rechen- und Archivierungspraktiken in ihrer materiellen und institutionellen Kultur grundiert.39 Infrastrukturelle Medieninnovationen dieser Art waren untrennbar mit den Arbeitswelten ihrer Organisationen und Institutionen verwoben und Teil dessen, was man die bürokratische Hintergrundkooperation des Identifizierens nennen kann. Besonders deutlich wird der Zusammenhang von ökonomischem Liberalismus und hintergründiger Identifizierung an der Entstehung von Kreditprüfungsagenturen in den USA. So gründete Lewis Tappan 1841 seine Mercantile Agency in New York, um kleine Berichte zur Zahlungsfähigkeit von Kreditkunden narrativ – und nicht primär numerisch – einzuholen und für Anfragen der zahlenden Abonnenten bereitzustellen.40 In den großen Brooklyner Foliobänden wurden accounts von Geschäftsmännern aus dem ganzen Land zentral registriert – darunter z.B. derjenige von Abraham Lincoln, dessen Inhalt im Zuge seiner politischen Karriere gelöscht wurde. Agenturen wie Lewis Tappan’s Mercantile Agency oder die Bradstreet Company waren von vorneherein auf hohe territoriale Reichweite und wachsenden Geltungsbereich hin angelegt. Sie verschoben die Informations- und Identifikationspraktiken primär auf ihr Netzwerk menschlicher Agenten und fusionierten 1933 als Dun & Bradstreet.
37 Vgl. Dommann: Verbandelt im Welthandel. In: Werkstatt Geschichte, Bd. 58 (2012), S. 29–
48.
38 Vgl. Yates: Control Through Communication. 39 Vgl. Gardey: Schreiben, Rechnen, Ablegen. 40 Vgl. Lauer: Creditworthiness, S. 33.
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American households thus incurred small debts with local shopkeepers that were settled when hard money was available, often six to twelve months later, and sometimes longer. The spread of installment credit after the Civil War, conventionally viewed as the takeoff point of modern consumer credit, merely expanded the scope and impersonality of practices already in place.42
Die seit den 1870er Jahren v.a. in den größeren Städten der USA entstehenden Agenturen zur lokalen Überwachung von Kund*innen bewerteten deren Zahlungsfähigkeit mit Kurzklassifikationen. So notierte die in Brooklyn ansässige Retail Mercantile Agency 1874 „A“ für schnelle Bezahlung, „B“ für Bargeldnutzung, „C“ für späte Rückzahlungen, „K“ für Nicht-Zahlungsfähigkeit und „&“ für Nicht-Bewertbare, über die Details nur im Büro erfragt werden konnten.43 Während der Erste Weltkrieg die Fixierung einer auf Identitätsdokumenten basierenden Mobilität mit sich brachte, etablierten sich im Aufstieg des US-Konsumerismus in den 1920er Jahren neue Zeichen finanzieller Identität.44 Zu diesem Zeitpunkt wurde es erstmals möglich, gesammelte Schulden wiederum zu verkaufen, worauf vor allem Kaufhausketten wie Sears, Roebuck & Company zurückgriffen.45 Die ohnehin hohe Nachfrage nach installment
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Für Privatkund*innen etablierte sich in den großen Städten ab den 1880er Jahren die Vergabe von temporärem Kredit durch US-amerikanische Kaufhäuser, die substanziell in die Identifizierung der Stammkund*innen und die entsprechende Buchführungsarbeit investierten.41 Möglich wurde diese Bürokratisierung auf Basis der weit verbreiteten Praktiken des gegenseitigen ‚Anschreibens‘ bzw. des keeping a tab, mit denen die wechselseitigen sozialen Verpflichtungen tabelliert wurden. Identifizierungen blieben in beiden Fällen – dem persönlichen Verschulden und dem Einräumen temporären Kredits durch größere Kaufhäuser – primär lokal und interaktional:
41 Vgl. ebd., Kap. 2 und 3. 42 Ebd., S. 51. 43 Ebd., S. 68. 44 Die folgende Darstellung beruht auf meinen Überlegungen in Gießmann: Ein amerikani-
scher Standard. In: Archiv für Mediengeschichte (2017), S. 55–68, hier S. 56.
45 Vgl. Hyman: Debtor Nation, Kap. 1.
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credit – für größere Anschaffungen, darunter Automobile und Schallplattenspieler – und rechtlich abgesicherten persönlichen Krediten (small loan lending) korrespondierte mit dem neuen Kaufen und Verkaufen von angesammelten Schulden im Finanzsystem. Auf der Ebene der alltäglichen ökonomischen Praktiken verbreiteten sich Kundenkarten, die eine Registrierung und Identifizierung der Konsument*innen erleichterten. Neben der entsprechenden Buch- und Karteiführung beinhaltete dies eine spezielle Form der Kundenkarte, die sogenannten charge-a-plates oder charge plates. Es handelte sich dabei um einfache, mit einigen wenigen drucktechnischen Elementen versehene Objekte, die zunächst basale Zahlungspraktiken in Kaufhäusern, an Tankstellen und in Hotels erleichtern sollten, wie etwa die um bis zu 30 Tage verspätete Zahlung bei bewährten, ‚guten‘ Kundenbeziehungen. Die Zahlung mit charge plates – oder mit den verwandten charge coins – war einerseits eine Angelegenheit des sozioökonomischen Prestiges. Andererseits korrespondierte jede Karte mit einem lokalen Kundenkonto, weswegen Name und Unterschrift konstitutiv zur Personalisierung der charge plates beitrugen. Die Buchführungspraktiken, mit denen Geschäfte Kredit einräumten, schufen auf diese Weise eine neue Verbindung von Konto und Person. Konto, Körper und Karte erlaubten als Medienverbund eine Identifizierung und Adressierung des zahlenden – und kreditfähigen – Subjekts ebenso, wie sie Personen eine Erweiterung ihrer Zahlungsmöglichkeiten boten. Dabei blieben bestehende Interaktionsordnungen des Bezahlens, des Gebens und Überreichens weitestgehend erhalten bzw. wurden um die Registrierung und Identifizierung per plate oder coin ergänzt. Die individualisierten Karten und Münzen wurden dabei mit dem Körper der Kund*innen verbunden und vice versa. Bezahltechniken und Infrastrukturen blieben weiterhin körpernah und interaktionistisch. Sie benötigten von allen Beteiligten einen hohen Vorschuss an wechselseitigem Vertrauen, das nur teilweise an die bürokratischen Registrierungs- und Identifizierungstechniken delegiert werden konnte. Mittels Buchführung wurden die verzögerten Zahlungen der entsprechenden Person zugeordnet, die sich wiederum durch ihre Karten und Münzen identifiziert hatte. Die für Drucktechniken konstitutive Zweizustandsdifferenz,46 die durch hochstehende Zeichen
46 Vgl. Giesecke: Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit, S. 63 ff.
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und Tinteneinfärbung bzw. Kohlepapierdurchschlag genutzt wird, wurde hier zur Grundlage eines veritablen Aktenerzeugungsprogramms, in dem Karten und Münzen die formularförmige Interaktion unterstützten. Dieses Erbe der charge cards ist den späteren Kreditkarten erhalten geblieben, wenn auch nicht auf direktem Wege. So bestand die spezielle Funktion des oftmals als ‚erste‘ Kreditkartenfirma benannten Diners Club zu seiner Gründung 1949/1950 im bequemen monatlichen Bezahlen der bei Geschäftsessen in New York entstandenen Rechnungen. Hierfür nutzte Diners Club zunächst keine charge card aus Metall oder Plastik, sondern kombinierte eine Pappkarte mit einem Heft aller teilnehmenden New Yorker Restaurants. Es handelte sich eher um eine debit card als eine credit card,47 die wiederum mehr mit einem Rabattmarkenheft als mit einer charge plate gemeinsam hatte. Die materielle Vielfalt der neu entstehenden Kreditkarten, bei der aber stets der Name des Kontoinhabers – und sukzessive auch der Kontoinhaberin –, die Kontonummer, Adresse und ein Unterschriftsfeld vorhanden waren, führte zu einem regelrechten Wildwuchs an Designs und Formaten. Da sowohl lokale Händler, national agierende Ketten (Hotels, Tankstellen, Luftlinien), spezialisierte Unternehmen wie American Express und Banken seit den 1950er Jahren eigene Karten auf den Markt warfen,48 stellten sich technische Standardisierungsfragen, die schnell mit juristisch-regulatorischen Einsätzen korrespondierten. Nach einer Phase unregulierter Markteroberung Mitte der 1960er Jahre, die durch Massenmailings ohne weitergehende Identifizierung prospektiver Kund*innen gekennzeichnet war, markierte die erste Standardisierung der Plastikkreditkarte 1971 einen deutlichen Einschnitt.49 Sie legte die zu speichernden Daten weitestgehend fest und fügte mit dem Magnetstreifen ein entscheidendes frühes Moment digitaler Identifizierung hinzu. Korrespondierend hierzu etablierte sich eine Marktforschung, welche die sozialen
47 Vgl. Swartz: Gendered Transactions. In: Women’s Studies Quarterly, Bd. 41, Nr. 1–2 (2014),
S. 137–153, hier S. 137 f.
48 Vgl. Zumello: The ‚Everything Card‘. In: Business History Review, Bd. 85 (2011), S. 551–
575.
49 Vgl. Gießmann: Money, Credit, and Digital Payment 1971/2014. In: Administration and
Society, Bd. 50, Nr. 9 (2018), S. 1259–1279, hier S. 1262 f.
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Identitäten der Kund*innen genauer zu fassen und beziffern suchte.50 Dies war umso herausfordernder, als nach der anfänglichen Konzentration auf weiße reisende Geschäftsmänner in den 1960er Jahren Kreditkarten als Mittelschichten-Produkte auch für weiße Frauen und Familien vermarktet wurden, insbesondere die Bank Americard und MasterCharge. Die Option einer bequemen Verschuldung verlockte vor allem ärmere Nutzer*innen. Finanzmarktprodukte entstehen bekanntlich da, wo sie gebraucht werden – und mit dem Bedürfnis nach mobilem easy credit ging eine soziale Selbstklassifikation einher, die Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit ausweisen wollte. Auf dieser Basis – der Finanzialisierung von Mittelschichten – verfolgten die amerikanischen Kreditkartenanbieter seit den 1970er Jahren die Globalisierung ihres Produkts, mitsamt des konfliktträchtigen Exports der entsprechenden, US-amerikanisch geprägten sozialen Tatsachen und ökonomischen Praktiken.51 Waren die bisherigen soziotechnischen Identifikationsmechanismen noch stark an papierne Aufschreibesysteme und eine repräsentationale Überprüfung der Angaben gebunden, führten die auf zwei der drei Tracks des Magnetstreifens gespeicherten persönlichen Daten ein zwar unverschlüsseltes, aber tendenziell unsichtbares maschinenlesbares Element ein. Überprüfungen anhand der Magnetstreifendaten sollten die auf kritischen Blicken und Telefonanrufen basierende Identifizierung durch digitale Autorisierungsinfrastruktur ersetzen. Dies hieß aber nicht, dass die bisherigen Identifikationsmechanismen durch die Teilautomatisierung umgehend weniger genutzt wurden oder gar verschwanden. So waren die Grundlagen für den Magnetstreifen durch einen Auftrag der US-Regierung zur Herstellung von lokal einsetzbaren Identifikationskarten gelegt worden.52 Die mühsame, durch IBM 1969 bis 1971 in laboratorischer Feinarbeit in Los Gatos ermöglichte Applikation des Magnetstreifens auf Plastik wurde zur Basis einer ganzen infrastrukturellen
50 Vgl. Mandell: Credit Card Use in the United States. 51 Vgl. zur europäischen Kreditkartengeschichte Gießmann: „Ein weiteres gemeinsames Me-
dium zur Banken-Kooperation“. In: Gießmann/Röhl/Trischler (Hrsg.): Materialität der Kooperation, S. 169–198. 52 Gilles Deleuze führt deutlich später in seinem POSTSKRIPTUM ÜBER DIE KONTROLLGESELLSCHAFTEN (1990) eine Fantasie von Félix Guattari an, der sich eine Stadt vorstellt, in der der Zugang zu Räumen über elektronische (dividuelle) Karten erfolgt. Ebd., S. 261.
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Kaskade von Techniken des Identifizierens. Im alltäglichen Einsatz an den Bezahlterminals des Point of Sale hieß dies auch, Verzögerungen in der Verifizierung in Kauf zu nehmen.53 Immer neue integrierte Elemente kennzeichnen die Mediengeschichte des Identifizierens mit Kreditkarten. Dazu zählen etwa Hologramme, Sicherheitsnummern auf der Rückseite und Projekte zur breiten Einführung von smart cards in den 1980er Jahren. Der EMV-Standard integrierte ab 1998 weltweit Chips und Personal Identification Numbers (PINs). Im Zuge dessen wurden „card not present“-Funktionen eingeführt, die sich speziell für das E-Commerce im Aufstieg des World Wide Webs als wichtig erwiesen haben. Neuere Entwicklungen umfassen Near Field Communication (NFC) bzw. Nahfunk für die Mobiltelefone der 2000er Jahre, one-time tokens – als temporäre Identifizierung während Transaktionen54 – und die Smartphone-basierte Fingerabdruck- und Gesichtsidentifikation. Die Frage, die sich anhand dieser fortwährenden Eskalation infrastrukturellen Misstrauens stellt, lautet: Auf was antworten die immer weiter erneuerten Infrastrukturen des Registrierens und Identifizierens eigentlich? Was für eine Art von Vertrauen sollen sie (wieder-)herstellen und welche Praktiken sollen sie wie ermöglichen, einhegen oder verhindern? Geldtheoretisch ist die Sache vergleichsweise klar: Je mehr Buch- bzw. Giralgeld es gibt, je mehr Kredit administriert werden muss, umso mehr kommt es auf das Sichern und Verifizieren von Soll- und Habenseinträgen an, die auch nur ein Datum unter anderen sind – „data that could pass as money“.55 Im Gegensatz zur politisch geprägten Geschichte der Ausweisdokumente lassen sich große Wendepunkte wie das Ende des Kalten Krieges oder die Terroranschläge vom 11. September 2001 für neue finanzmediale Identitätsnachweise nur begrenzt zur Begründung heranziehen. Pässe, Ausweise und Kreditkarten sind zwar parallel mit immer neuen Sicherheitsmerkmalen versehen worden, die teilweise von denselben industriellen Dienstleistern produziert werden. Im Detail unterscheiden sie sich aber deutlich, auch wenn z.B.
53 Vgl. Stearns: Electronic Value Exchange, S. 30 f. 54 Vgl. Gießmann: Money, Credit, and Digital Payment 1971/2014, S. 1270 f. 55 Brunton: Digital Cash, S. 200.
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Personalausweise und Führerscheine ihr Scheckkartenformat von 85,6 mal 53,98 mal 0,76 Millimeter der Herkunft aus der Kreditkartenstandardisierung verdanken.56 So hat sich beispielsweise die Option der Personalisierung von Kredit- und Debitkarten mit Ausweisfotografien weitestgehend nicht durchsetzen können. Vielmehr galt offenbar weiterhin der 1984 von American Express geprägte Werbeslogan „Bezahlen Sie einfach mit ihrem guten Namen“, was sich u.a. in der hartnäckigen Persistenz des handschriftlichen Unterschreibens von Rechnungen manifestierte.57 Eine vergleichsweise einfache Begründung für die Aufschichtung immer neuer Identifikationsmöglichkeiten lässt sich anhand technischer Pfadabhängigkeiten und unerwünschter Nutzungsweisen geben: Weder reichte der unverschlüsselte, kopierbare Magnetstreifen auf Dauer für vertrauliche Transaktionen aus noch die auf der Rückseite notierte Sicherheitsnummer. Sperrlisten, mit denen im Hintergrund geprüft und – negativ – identifiziert wird, sind wie schon im 19. Jh. die Bedingung unkritischer Transaktionen. Zu den wirtschaftlichen Programmen der Kreditkarte existieren also immer starke medienpraktische Gegenprogramme, nicht nur des Kreditkartenbetrugs wegen: Skimming – also Auslesen und Missbrauch der Daten –, Diebstahl von Rohlingen oder der postalisch versendeten Karten, Hacking von accounts und Transaktionen, Übernutzung von Optionen wie Rabattprogrammen, Verschulden durch das Hantieren zwischen mehreren Kreditkarten und vieles mehr. Eine weiterreichende Begründung besteht hingegen darin, dass alle infrastrukturellen, digitalen und rechtlichen Zurüstungen die spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Lücken zwischen Personen und Papieren ebenfalls kaum schließen können. Diesem Abstand wird mit immer neuen verschalteten Referenzen zwischen Konto, Karte und Person entgegengewirkt. Alle Mittel des persönlichen Identifizierens vermitteln so die Zertifizierung von Personen, 56 Das 1985 erstmals standardisierte ID-1 Format bezieht diese Abmessungen aus den US-
amerikanischen ANSI-Kreditkartenstandards seit 1971, die wiederum als eine Grundlage der ISO-Standards 7810, 7811-1 bis 6 und 7813 fungierten. 57 „Handschrift ist auch so ein indexikalisches Zeichen, denn anders als Druckschrift verweist sie wie ein Fingerzeig auf ihren Grund, oder Urheber. Die juridische Logik der Signatur beruht auf genau dieser Indexikalität, denn die Behauptung einer authentischen und physischen Präsenz des Urhebers beim Akt des Schreibens bleibt fortbestehen, auch und gerade, wenn dieser nicht mehr anwesend ist – als testamentarisches Instrument.“ Neef: Abdruck und Spur, S. 43.
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,money of account‘, Transaktionen, Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit. So gebildete Medienverbünde der finanziellen Aktenführung sind notorisch instabil, was im Gegenzug durch die Proliferation immer neuer Kontrollen, Bewertungen (scores)58 und Zertifizierungen59 aufgefangen werden soll. Dies unterscheidet die Identifikationen des wirtschaftlichen Austauschs von der Beglaubigung durch eine staatliche-territoriale Autorität. Nur in seltenen Fällen konvergieren beide, etwa bei Debitkarten, die – wie in Nigeria seit 2014 üblich – gleichzeitig als elektronische und biometrische Ausweise fungieren.60 Von daher ist es konsequent, wenn die neuesten Smartphone-basierten Bezahloptionen das persönliche Identifizieren qua Fingerabdruck oder Gesichtserkennung vorsehen. Die infrastrukturelle Fusion von Körperzeichen und Geldzeichen zugunsten genau einer maschinenlesbaren Identität verspricht dabei die Überwindung des alten Abstands zwischen Person und Identifikationsmedien: Be yourself, no matter what they say. Via Biometrie können wir Körperdaten-identifiziert an Apps und Finanzplattformen teilhaben, wenn wir uns in unseren accounts auf deren methodologischen Individualismus einlassen. Banken und Kreditkartenfirmen bleiben dabei rechtlich, zumal nach der Finanzkrise von 2008, auf das Prinzip „Know Your Customer“ angewiesen.61 Sie werden so gezwungenermaßen Nutznießer staatlicher Identifikationsregime und – in Europa – per Zahlungsdiensterichtlinie von 2007 und 2015 (PSD 1 bzw. 2) zur fortwährenden Identifikation finanzieller Identitäten verpflichtet.62 Außerhalb dieses finanzmedialen Mainstreams werden auch in der Flüchtlingshilfe die Kaskaden von Identifizierungen ausgeweitet. Dies gilt z.B. für die im Lager von Zaatari, Jordanien durch das World Food Programme der
58 Vgl. Mau: Das metrische Wir, S. 103 f. 59 Vgl. Busch: Standards, Kap. 4. 60 Die nigerianische National Identity Management Comission arbeitet hierzu mit Mastercard
zusammen. Vgl. Meister: Nigeria – Elektronischer Personalausweis ist gleichzeitig Führerschein, Krankenkarte und Mastercard-Kreditkarte. „Die Tendenz, Geld und Meldewesen zu koppeln, ist aus afrikanischen Fintech-Lösungen bekannt.“ Blumentrath et al.: Jenseits des Geldes, S. 123. 61 (Art.) Know-your-customer-Prinzip (KYC). In: Gabler Wirtschaftslexikon. Unter: h ttps://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/know-your-customer-prinzip-kyc-53389/ version-276482 [aufgerufen am 30.03.2020]. 62 Vgl. Europäisches Parlament und Rat: Zahlungsdiensterichtlinie 2007/64/EG (PSD 1); Zahlungsdiensterichtlinie (EU) 2015/2366 (PSD 2).
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Gegenbegriffe Identifizieren
UN seit 2014 eingesetzte OneCard. Schon deren Präsenz wirkte ob des auf ihr sichtbaren MasterCard-Zeichens paradox – und wurde noch hinsichtlich der personellen Identifikation durch Irisscans übertroffen, in denen die biometrischen Daten das Anrecht auf Lebensmittelrationen im World Food Programme der UN gewissermaßen ‚freischalten‘.63 Für die Gegenwart gilt deshalb: Je mehr registrierende und identifizierende Vermittlungsschritte zur Realisierung einer Transaktion unternommen werden, umso realer wird eine Bezahlinteraktion. Je körpernäher die Beglaubigung der Zahlungsfähigkeit in vernetzter Buchhaltung erfolgt, umso glaubwürdiger erscheint diese – ob nun per Irisscan, Gesichtserkennung oder Fingerabdruck. Kontrollgesellschaften schätzen offenbar die vergleichsweise anonyme Wertzirkulation des Bargeldes nicht mehr und ersetzen sie durch neue Medienverbünde zwischen Konten, Körpern und Personen. Gegenüber solchen Kaskaden des Registrierens und Identifizierens brauchen wir digitale (Finanz-)Medien, die Pseudonymität und Nichtklassifizierung wieder ermöglichen. Denn ansonsten gilt vorerst weiterhin ein tief asymmetrisches Machtgefälle in digitalen Handlungs- und Kontrollräumen: Jede Vermittlung zählt, wird in digitalen Akten registriert und identifiziert, mit Körper und Person vernäht und damit als fait social berechen- und klassifizierbar gemacht. Digitale Infrastrukturen des Identifizierens beruhen mehr denn je auf den von User*innen ausgehenden Medien- und Datenpraktiken. Nutzer*innen machen sich weiterhin accountable und klassifizieren sich selbst, trotz der konstitutiven Asymmetrien gegenüber allen neuen Erkennungsdiensten. Identität sucht Kontrolle angesichts der Überwachung, könnte man im Anschluss an Harrison White sagen. GEGENBEGRIFFE Denn man kann sich gegenwärtig sowohl gegenüber dem
Datenhunger von Staaten wie gegenüber dem algorithmischen tracking und tracing privatwirtschaftlicher Medienagenturen nicht nicht-identifizieren. Wenn die Algorithmic Justice League antritt, nicht so, sondern anders und entlang höherer Erkennungsraten von Ethnie und Geschlecht in der Gesichtserkennung identifiziert zu werden, ist das bezeichnend für eine Gegenwartskultur,
63 Vgl. Blumentrath et al.: Jenseits des Geldes, S. 121 f.
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Gegenbegriffe Identifizieren
in der es vor allem darum geht, etwaige maschinierte Vorurteile im Identifizieren zu vermeiden. Ein guter Gegenbegriff zum Identifizieren ist daher im „surveillance capitalism“64 schwer zu finden, denn auch Maskieren, Tarnen, Täuschen und Faken setzen einen virtuosen Umgang mit den Medien des Identifizierens voraus. Medientheoretisch kann man darauf insistieren, dass die eindeutige Identifikation von Individuen unmöglich bleibt – sowohl aufgrund ihrer multiplen, dividuellen Identitäten wie aufgrund der Verteilheit, Vagheit und Dividualität der zum Identifizieren herangezogenen Daten.65 Als konträre Bewegung können zudem publizistische, rechtliche wie technische Praktiken des Pseudonymisierens und Anonymisierens gelten, die sich Klarnamenzwängen strukturell zu entziehen suchen. Individuelle Entnetzung setzt hingegen auf den Rückzug aus denjenigen Medien- und Datenöffentlichkeiten, in denen Individuen strategisch identifiziert werden – mit entsprechenden Konsequenzen für soziale Mobilität und Status. Wenn immer schon öffentlich identifiziert und klassifiziert wird, ist Verschlüsselung die naheliegende, eher kurzfristig wirkende infrastrukturelle Antwort. Sie adaptiert aber eine geheimdienstliche Praxis, mitunter durch direkte Umnutzung: Die Herkunft der weit genutzten Verschlüsselungssoftware TOR (The Onion Router) aus geheimdienstlicher und militärischer Auftragsforschung hält Aktivist*innen weltweit nicht davon ab, diese intensiv zu verwenden.66 Juridische Einhegungen des Identifizierens sind – zumindest in den Rechtsstaaten, die noch darauf Wert legen – aufwendig, umstritten und langwierig. Sie stehen zudem im konstanten Konflikt mit staatlichen Identifikationsregimen, die sich zur Verbrechens- und Betrugsbekämpfung immer weiter in Finanzmedien hinein verlagern.67 Kompromisslos können hingegen diejenigen Künstler*innen und Aktivist*innen intervenieren, die Identifikation und Klassifikation gezielt stören. So wendet sich etwa eine taktische Medienintervention wie adversarial.io gegen Massengesichtserkennung, indem sie
64 Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism. 65 Vgl. – im Anschluss an Michaela Ott und Gerald Raunig – Hunger: Epistemic Harvest. In:
A Peer Reviewed Journal About Research Values, Bd. 7, Nr. 1 (2018), S. 53–65. 66 Vgl. Levine: Surveillance Valley, S. 219 f. 67 Vgl. Basel Committee on Banking Supervision: Basel III: International framework for liquidity risk measurement, standards and monitoring.
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Perspektiven Identifizieren
digitalen Bildern gezielt Störungen (adversarial noise) gegen die Erkennung durch maschinelles Lernen hinzufügt und typische Metadaten entfernt.68 Die kategoriale Arbeit der entsprechenden neuralen Bilderkennungsnetze wird dadurch gestört oder zumindest verschoben. Für finanzmediale Identitäten, die untrennbar mit dem Aufstieg des modernen Konsums und seiner Logistik verbunden sind, stellt sich dies als ungleich schwerer heraus. So ist etwa die 2018 ins Leben gerufene aktivistische Initiative OpenSchufa, die sich gegen die Intransparenz des algorithmischen Scorings durch die deutsche Auskunftei Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung (Schufa) richtet, bisher weitestgehend folgenlos geblieben.69 Als informatische Gegenpraktik lässt sich ebenso das Entstehen neuer digitaler Bezahlungssysteme verstehen, die dem für Buchgeld typischen Identifikationsimperativ pseudonyme Nutzungsweisen entgegensetzen.70 PERSPEKTIVEN So ist der eigentliche Clou digitaler Infrastrukturen, die auf
das verteilte Rechnen in Blockchains setzen, ihre pseudonyme, aber digitalöffentliche Nutzungsweise. Während die ersten zehn Jahre der Kryptowährung Bitcoin weltanschaulich zumindest fragwürdig und ökologisch mit Sicherheit desaströs waren, haben sich durch den Bitcoin und seine Nachfolger verschlüsselte Infrastrukturen weit verbreiten können.71 In deren verteilten Transaktionsdatenbanken und den Wallets der Nutzer*innen werden die Einträge anonym registriert, bleiben dabei aber in der Regel über ihre Pseudonyme öffentlich identifizierbar und somit für jeden prüfbar.72 Die Identifizierung verschiebt sich
68 Vgl. Hunger/Fluppke: adversarial.io – Fighting mass image recognition. Unter: http://
adversarial.io/about [aufgerufen am 30.03.2020]. Watch/Open Knowledge Foundation: OpenSCHUFA. Unter: https:// openschufa.de [aufgerufen am 30.03.2020]. 70 Vgl. zu widerständigen Praktiken gegenüber der Identifikation monetärer Transaktionen O’Dwyer: Cache Society. In: Journal of Cultural Economy, Bd. 12, Nr. 2 (2019), S. 133–153, hier S. 147 f. O’Dwyer führt hierzu Geldverbrennung, Pro-Bargeld-Bewegungen, Spurenverwischung bzw. obfuscation und algorithmic accountability an. 71 Vgl. DuPont: Cryptocurrencies and Blockchains. 72 Ausgenommen davon sind die immer zahlreicher genutzten privaten, „permissioned“ Blockchains. Vgl. ebd., S. 109. 69 Algorithm
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Perspektiven Identifizieren
damit von der Person auf die Transaktion.73 Allerdings hat sich eine zentrale Hoffnung des Blockchain-Urhebers Satoshi Nakamoto – bezeichnenderweise auch ein unaufgelöstes Pseudonym, das für mehr als eine Person stehen kann74 – und anderer Apologeten des digital cash nicht erfüllt. So sind tatsächliche Peer-to-Peer-Überweisungen von Bitcoin aufgrund der Gebühren finanziell unattraktiv und tendenziell gegenüber anderen Optionen langsam. Der spekulative Umgang mit dem neuen Finanzmedium dominiert daher nach wie vor; Kryptowährungen spielen für Alltagsbezahlungen kaum eine Rolle, auch wenn PayPal seit März 2021 in den USA das Bezahlen mit Bitcoin, Ethereum, Litecoin und Bitcoin Cash erlaubt. Zahlreiche alternative Kryptowährungen beheben zwar erfolgreich Probleme des ursprünglichen Bitcoin-Designs, dennoch bleibt der Bitcoin die größte, tatsächlich genutzte öffentliche Blockchain. Als strukturell offene Technologien werden Blockchain-Anwendungen aber auch für das genaue Gegenteil in Sachen Identifizierung angeeignet, oft auf Basis der Open-Source-Plattform Ethereum. So hat die Nicht-Änderbarkeit einmal errechneter Blöcke – die das vertrauenslose Vertrauen bei Blockchains garantieren soll – auch verführerische Qualitäten für die Festlegung und Prüfung digitaler Identitäten. Dieser strukturelle Konservatismus soll digitale Daten eineindeutig verteilt beglaubigen, d.h. infrastrukturell accountable machen – vom einfachen Dokument75 bis zur persönlichen Identität. Das Spektrum an kleinen wie großen Projekten zur digitalen Identifizierung, deren Hintergrund auf Blockchain-Registrierung beruht, ist groß. Vielleicht am bemerkenswertesten sind Unternehmen wie das mittlerweile gescheiterte Berlin-Budapester Start-up Taqanu, das von 2016 bis 2018 die Entwicklung einer mobilen Bankapp und self-sovereign digital identity für Flüchtlinge versprochen hatte.76 Taqanu war kein Einzelfall, auch das US-amerikanische Start-up BanQu versprach Dignity Through Identity™, bevor es sich als Prüf- und Verifikationsmedium für
73 Vgl. Ferguson: Bitcoin: A Reader’s Guide. In: Critical Inquiry, Bd. 46, Nr. 1 (2019), S. 140–
166, hier S. 143.
74 Vgl. Nakamoto: Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System. 75 OriginStamp: Immutable Data Trails. Unter: https://originstamp.org/home [aufgerufen am
30.03.2020].
76 Taqanu: Blockchain Based Digital Identity. Unter: https://www.taqanu.com [aufgerufen am
30.03.2020].
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Perspektiven Identifizieren
sozial faire Lieferketten neu erfand.77 Taqanu wie Banqu wollten dabei explizit, dass die Nutzer*innen das Eigentum an ihren Identifikationsdaten behalten. IBM verfügt hingegen über mehr finanzielles und organisatorisches Durchhaltevermögen als die idealistischen Start-ups. Big Blue ist weiterhin und parallel zu den Gesichtserkennungs-Services im Bereich dezentraler Identifikation aktiv. Der Konzern bewirbt IBM Verify Credentials als lang fehlende, dezentrale Identitätsschicht des Internets, die eine hohe Autonomie der sich identifizierenden Personen gewährleisten soll.78 IBM empfiehlt sich damit auch den größten politischen Akteuren in Sachen globaler Identifizierung, für Zwecke der Entwicklungs- und Flüchtlingshilfe: der Weltbank, den Vereinten Nationen, dem World Food Programme und dem Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR). Die Vereinten Nationen haben die weltweite Verfügbarmachung rechtlicher Identität für jeden Menschen im Rahmen der UN Legal Identity Agenda bis zum Jahr 2030 in Aussicht gestellt.79 Mit weiteren Kaskadierungen des Identifizierens ist vor diesem Hintergrund zu rechnen, ob Blockchain-basiert oder nicht. Dies betrifft insbesondere die zahlreichen digitalen Impfausweise zur medizinischen Identifizierung, die im Kontext der Covid-19-Pandemie entstanden sind. IBM gehört auch hier in Deutschland zu den zentralen Akteuren. Zusammen mit dem Kölner Start-up ubirch, dem IT-Dienstleister Bechtle und der Digitalgenossenschaft GovDigital erhielt Big Blue im März 2021 den Zuschlag zur Entwicklung eines digitalen Impfpasses, der zunächst auf nicht weniger als fünf Blockchains basieren sollte.80 Technisch notwendig war dies jedoch nicht. So wurde die CovPass-App aufgrund politischer Vorgaben zur Interoperabilität des europäischen Covid-Zertifikats im Juni 2021 ohne BlockchainTechnologie publiziert. Offenbar war die avisierte Blockchain-Infrastruktur
77 BanQu: Dignity Through Identity™. Unter: https://banqu.co/our-purpose bzw. https://web.
archive.org/web/20190124081611/https://banqu.co/# [aufgerufen am 30.03.2020].
78 IBM Verify Credentials: transforming digital identity into decentralized identity. Unter:
https://www.ibm.com/blockchain/solutions/identity#908081 [aufgerufen am 30.03.2020].
79 United Nations Legal Identity Agenda. Unter: https://unstats.un.org/legal-identity-agenda
[aufgerufen am 30.03.2020].
80 Vgl. Borchers: Digitaler Corona-Impfpass: IBM, Ubirch und fünf Blockchains. Unter:
https://www.heise.de/news/Digitaler-Corona-Impfpass-IBM-Ubirch-und-fuenf-Blockchains5076161.html [aufgerufen am 01.04.2021].
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hier Ausdruck biopolitischer Wünsche nach perfekter Identifizierung und Zertifizierung in einer krisenhaften Situation, in der das Soziale durch medizinische Datenpraxis vermittelt wird. Im alltäglichen Einsatz der CovPass-App und anderer QR-Code-basierter Biozertifikate zeigt sich hingegen die ganz normale Übersetzung durch multiple Mediatoren des Identifizierens, die in und zwischen Situationen vermitteln.81 FORSCHUNG Welchen Auftrag müsste vor diesem Hintergrund eine wis-
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Forschung Identifizieren
senschaftliche Identification Justice League haben? Offensichtlich scheint sich das Verhältnis von personaler Selbstidentifikation und Fremdidentifikation durch digital vernetzte Medien noch einmal zu verschieben. Paradoxerweise erzeugt sie mehr Souveränität der Nutzer*innen über ihre Arten des SichAusweisens für die gleichzeitige Aufschichtung neuer Identifikationsinfrastrukturen, die wiederum Kontroll- und Abrechnungsoptionen verschärfen. Besonders deutlich ist diese Dynamik zwischen deklarativen und relationalen Identifizierungen durch die parallele Entwicklung von Social Media und netzwerkanalytischer Geheimdienstüberwachung geworden.82 Informationelle Selbstbestimmung und Datenfremdbestimmung sind Teil desselben kon troversen Feldes. Man kann hierzu verwundert notieren, wie sich gerade die Nutzer*innen von Social Media oder Selftracker*innen zu Kompliz*innen des Erkennungsdiensts machen,83 oder aber die verschiedenen datenpraktischen Modi des Zusammenspiels von banaler Überwachung, Authentizierung84 und alltäglicher Accountability empirisch ernst nehmen. Denn die Maximierung erbetener Beobachtung in sozialen Medien ist nur eine Option, der meist das feine, graduelle Austarieren relationaler Privatheiten gegenübersteht.85 Mit Laurent Thévenot kann man festhalten, dass ein „investment in forms“, also das Sich-Investieren in (digitale) Formulare und Interaktionsordnungen, zu 81 Vgl. Pelizza: Identification as Translation. In: Social Studies of Science, Bd. 51, Nr. 4 (2019),
S. 487–511.
82 Vgl. Engemann: Digitale Identität nach Snowden. In: Hornung/ders. (Hrsg.): Der digitale
Bürger und seine Identität, S. 23–64, hier S. 48 f.
83 Vgl. Bernard: Komplizen des Erkennungsdiensts. 84 Vgl. Vogel: Authentifizierung. In: Linguistik Online, Bd. 105, Nr. 5 (2020), S. 43–67. 85 Vgl. Englert/Waldecker/Schmidtke: Un/erbetene Beobachtung. In: Kropf/Laser (Hrsg.):
Digitale Bewertungspraktiken, S. 215–236.
157
Forschung Identifizieren
einer bürokratischen und rechtlichen Anspruchsgrundlage digitaler Medienkulturen geworden ist.86 Gerade durch die Interfaces, Objekte und Infrastrukturen des Identifizierens lässt sich das Spiel von Selbstidentifikation und Fremdidentifikation kritisch nachvollziehen und öffentlich testen. Wir werden also weiterhin mit Pässen, Kredit- und Gesundheitskarten, Smartphones, gesichtserkennenden Kameras, Social-Media-Accounts und Netzwerkgraphen jonglieren und tanzen. Denn digitale Kulturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre elementaren Identifikations- und Klassifikationsleistungen durch infrastrukturelle Medien erbringen: Identifizieren heißt Akten produzieren, Klassifizieren ermöglicht ihre Anordnung, und die Registratur kann immer schon vorausgesetzt werden.
86 Thévenot: Rules and Implements: Investment in Forms. In: Social Science Information,
Bd. 23, Nr. 1, S. 1–45.
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INFLUENCEN CLAUDIA GERHARDS
ANEKDOTE Am 22. Februar 2018 veröffentlichte eine junge US-Amerikane-
I
Anekdote Influencen
rin folgende Zeilen auf ihrem Twitter-Account: „Sooo does anyone else not open Snapchat anymore? Or is it just me …ugh, this is so sad“. Der InstantMessenger-Dienst Snapchat hatte wenige Monate zuvor ein Update durchgeführt, was zur Folge hatte, dass die Nutzerin unzufrieden mit den neuen Funktionalitäten war und sich per Tweet erkundigte, ob auch andere die App nicht länger nutzten. Am Folgetag des Tweets brach der Aktienkurs von Snap Inc., dem Mutterkonzern von Snapchat, um 7,2 Prozent ein. Das Unternehmen war mit einem Schlag 1,3 Milliarden US-Dollar weniger wert.1 Was war passiert? Die US-Amerikanerin war kein Nobody, sondern Kylie Jenner, die rund 24,5 Millionen Follower auf ihrem Twitter-Account zu diesem Zeitpunkt hatte. Drei Jahre zuvor, als damals 18-Jährige, war Jenner wegen ihrer hohen Social-Media-Reichweite vom Time Magazine als einer der einflussreichsten Teenager der Welt betitelt worden.2 Nicht die Äußerung eines Unternehmenssprechers hatte also den Börsenwert beeinflusst, sondern der lapidare Tweet einer Influencerin. Heute gilt Kylie Jenner aufgrund ihrer Einnahmen aus zahlreichen Werbekooperationen im Rahmen ihrer Social-Media-Posts als jüngste Selfmade-Milliardärin der Welt.3 ETYMOLOGIE Influencen ist ein Neologismus, angelehnt an das englische
Verb to influence (dt. beeinflussen) und bezieht sich auf das beeinflussende Einwirken eines Influencers auf sein Publikum. Da influencen und Influencer nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, soll Influencer in den
1 Vgl. Vasquez: Kylie Jenner tweeted About Snapchat. In: Time Online. Unter: https://time.
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2 O.V.: The 30 Most Influential Teens of 2015. In: Time Online. Unter: https://time.
com/4081618/most-influential-teens-2015/ [aufgerufen am 08.08.2019].
3 Vgl. o.V.: Kylie Jenner ist die jüngste Selfmade-Milliardärin. In: Welt Online. Unter: https://
www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/boulevard_nt/article189838893/Kylie-Jenner-istdie-juengste-Selfmade-Milliardaerin.html [aufgerufen am 09.03.2020].
163
Etymologie Influencen
nachfolgenden Ausführungen mit einbezogen werden. Als Influencer wird heute eine Person bezeichnet, „die ihre starke Präsenz und Aktivität in den sozialen Netzwerken dazu nutzt, bestimmte Zielgruppen hinsichtlich ihrer Kaufentscheidungen zu beeinflussen“.4 Das DIGITALE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE beschreibt den Influencer als eine „Person, die in sozialen Netzwerken viele Kontakte oder Abonnenten hat, sich an diese regelmäßig mit informierenden Beiträgen wendet und ihren Einfluss dafür nutzt, um (gegen Entgelt von Wirtschaftsunternehmen) Werbung für bestimmte Produkte, Dienstleistungen o.Ä. zu machen“.5 Der Begriff Influencer geht auf das lat. influentia (von influere) bzw. influxus stellarum zurück und bezeichnete in seiner ursprünglichen astrologischen Verwendung in der Spätantike eine „unsichtbare Kraft, die von den Sternen aus in alle Körper hineinströmte und deren Schicksal bestimmte (wörtlich bedeutete es „das Hineinfließen der Sterne)“.6 Das lat. Verb influere bezog sich entsprechend auf „the flowing in of ethereal fluid (affecting human destiny)“.7 In dieser Bedeutung wurden Nomen und Verb ins Engl. übernommen und laut der OXFORD DICTIONARIES erstmals in den 1650er Jahren verwendet. Die Bedeutung weitete sich hier dann auf den Einfluss von Personen mit institutioneller Macht (insbesondere auf Staats- und Kirchenoberhäupter) aus. Ein influencer war nun „a person or a thing that influences another“.8 Das Verb to influence findet sich erstmals in einer Rede von Oliver Cromwell aus dem Jahr
4 (Art.) Influencer. In: Brockhaus. Unter: https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/influencer
[aufgerufen am 14.08.2019].
5 (Art.) Influencer. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Unter: https://www.dwds.
de/wb/Influencer [aufgerufen am 09.08.2019].
6 Stefanowitsch: Anglizismus des Jahres 2017: Influencer. In: Sprachlog. Unter: http://www.
sprachlog.de/2018/01/30/laudatio-zum-anglizismus-des-jahres-2017-influencer/ [aufgerufen am 09.08.2019]. Auch das seit dem 18. Jh. verwendete Wort Influenza (Grippe) entstammt dem lat. influentia bzw. influere, da man das unerklärbare Ausbrechen einer epidemischen Krankheit dem Einfluss der Sterne zuschrieb. Vgl. (Art.) Influenza. In: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Unter: https://www.dwds.de/wb/Influenza [aufgerufen am 09.03.2020]. 7 (Art.) Influence. In: Lexico. Unter: https://www.lexico.com/en/definition/influence [aufgerufen am 09.08.2019]. 8 (Art.) The increasing influence of the word ‚influencer‘. In: Oxford Dictionaries Online Blog. Unter: https://blog.oxforddictionaries.com/2018/05/09/the-increasing-influence-of-the-wordinfluencer/ [aufgerufen am 08.08.2018].
164
I
Etymologie Influencen
1658 und beschrieb das beeinflussende Verhalten des Papstes auf die Staatsoberhäupter Europas.9 Später galt influencer auch für solche Personen, „deren Einfluss sich aus der ihnen zugesprochenen Autorität und Relevanz in einem bestimmten Bereich ergibt“10 (z.B. „industry influencers“, „policy influencers“, „social media influencers“ etc.). In der heutigen Begriffsverwendung dominiert der Social-Media-Bezug. Influencer bezeichnet jetzt eine Person „with a large following on social media, allowing news of a particular product to reach a wide audience directly, whose opinion will be valued and trusted“.11 Wie die OXFORD DICTIONARIES in ihrem Corporate Blog herausstellen, gehören der Social-Media-Bezug wie auch der werbliche Aspekt („marketing sense“) in der heutigen Begriffsverwendung zwingend dazu. Auch das MACMILLAN DICTIONARY betont dies und definiert influencer als „someone who uses social media to promote or recommend products or services so that other people will buy or use them“.12 Gleiches gilt auch für das aus dem Engl. entlehnte Influencer im Deutschen: Das ONLINE WORTSCHATZ INFORMATIONSSYSTEM DEUTSCH beschreibt den Influencer als jemanden, der „durch Nutzung neuer Medien die Meinung von anderen, z.B. in Bezug auf bestimmte Produkte beeinflusst“.13 Wichtig bei der heutigen Begriffsbedeutung ist, dass sich der Einfluss der Person nicht aus einer „unabhängig von den sozialen Medien bestehenden Prominenz ab[leitet], sondern allein aus ihrer Reichweite in einem oder mehreren sozialen Netzwerken“.14 Influencer können zwar Prominente aus Poli-
9 Vgl. (Art.) influence. In: Oxford English Dictionaries. Unter: http://www.oed.com/view/
Entry/95520?rskey=MUlwjH&result=2&isAdvanced=false#eid [aufgerufen am 08.08.2018].
10 Stefanowitsch: Anglizismus des Jahres 2017: Influencer. In: Sprachlog. Unter: http://www.
sprachlog.de/2018/01/30/laudatio-zum-anglizismus-des-jahres-2017-influencer/ [aufgerufen am 09.08.2019]. 11 (Art.) The increasing influence of the word ‚influencer‘. In: Oxford Dictionaries Online Blog. Unter: https://blog.oxforddictionaries.com/2018/05/09/the-increasing-influence-of-the-wordinfluencer/ [aufgerufen am 08.08.2018]. 12 (Art.) influencer. In: Macmillan Dictionary Online. Unter: https://www.macmillandictionary. com/dictionary/british/influencer [aufgerufen am 09.09.2019]. 13 (Art.) Influencer. In: Online Wortschatz Informationssystem Deutsch. Unter: https://www. owid.de/artikel/407469 [aufgerufen am 09.08.2019]. 14 Stefanowitsch: Anglizismus des Jahres 2017: Influencer. In: Sprachlog. Unter: http://www. sprachlog.de/2018/01/30/laudatio-zum-anglizismus-des-jahres-2017-influencer/ [aufgerufen am 09.08.2019].
165
tik, Musik, Film oder Sport sein, „sind es aber normalerweise nicht, sondern werden erst durch ihre Social-Media-Präsenz“15 zu Berühmtheiten. Während ursprünglich nur den Sternen eine beeinflussende Macht attestiert worden war, diese dann später auf Kirchen- und Staatsoberhäupter ausgeweitet wurde, kann heute jedermann ein Influencer sein, sofern er eine entsprechende Reichweite auf Social Media erzielt. Anders als Influencer ist das Verb influencen bislang nicht in dt. Wörterbüchern vermerkt. Es findet sich jedoch in zahlreichen journalistischen Texten (vgl. bspw. „Influencen wie Kylie Jenner auf Instagram“16 und „Influencen explodiert zum Milliardengeschäft“17).
Kontexte Influencen
KONTEXTE Der Social-Media-Bezug in der heutigen Begriffsbedeutung von
Influencer und influencen konnte erst Einzug halten, nachdem Plattformen wie Facebook (2004), YouTube (2005) und Instagram (2010) entstanden waren. Mit dem Aufkommen dieser Distributionswege konnten Laien/Amateure18 erstmals selbstproduzierte Fotos und Videos einem weltweiten Publikum zugänglich machen. Das war neu, denn die Distribution von medialen Inhalten, die eine Öffentlichkeit erreichen sollten, oblag bis dahin vorrangig Verlagshäusern, Fernseh- und Radiosendern sowie Filmverleihern und Kinobetreibern. Sie besaßen als Schleusenwärter (Gatekeeper) die Macht, „den Zugang zur massenmedial hergestellten Öffentlichkeit [zu] kontrollieren“.19 Ihre Aufgabe war es (und ist es bis heute), Inhalte einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die in arbeitsteiligen Leistungserstellungsprozessen entstanden sind, in welchen
15 Ebd. 16 O.V.: Influencen wie Kyle Jenner auf Instagram. In: ntv Mediathek. Unter: https://www.n-tv.
de/mediathek/audio/Influencen-wie-Kylie-Jenner-auf-Instagram-article20904538.html [aufgerufen am 09.09.2019]. 17 O.V.: Influencen explodiert zum Milliardengeschäft. In: ntv Mediathek. Unter: https:// www.n-tv.de/mediathek/videos/wirtschaft/Influencen-explodiert-zum-Milliardengeschaeftarticle20616577.html [aufgerufen am 09.08.2019]. 18 Als Amateur gilt eine Person, die eine Tätigkeit aus Liebhaberei betreibt, also keine monetären Ziele damit verbindet, das Verhalten von Professionellen imitiert und – im Unterschied zu diesen – nicht für den Publikumsmarkt, sondern für den eigenen Gebrauch produziert. Vgl. Stichweh: Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft. In: Mayntz et al. (Hrsg.): Differenzierung und Verselbständigung, S. 283. 19 Neuberger: Meinungsmacht im Internet aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive. In: UFITA. Archiv für Medienrecht und Medienwissenschaft, S. 56.
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Kontexte Influencen
medientypische Berufsrollenträger (wie bspw. Wort- und Bildjournalisten, Werbefotografen, Kameramänner, Regisseure) zum Einsatz gekommen waren. Texte, Fotos und Videos, die von Laien/Amateuren hergestellt wurden, fanden vor der Erfindung des Internets i.d.R. keinen Zugang zu einem großen Publikumsmarkt. Erst die Digitalisierung von Distributionswegen, vor allem die Entwicklung des Web 2.0 und das Aufkommen von Social-Media-Plattformen, ermöglichten es Hobby-Textern, Video-Amateuren und Laien-Fotografen ihren Content nun unter Umgehung der traditionellen Schleusenwärter selbst zu vertreiben und einem weltweiten Publikum darzubieten, z.B. in Form von eigenen Weblogs, YouTube-Kanälen oder Instagram-Accounts. Für den Amateur, dessen Content ursprünglich nur für den eigenen Gebrauch, nicht aber für den Markt bestimmt war, und dessen Tätigkeit bislang unbezahlt blieb, bot sich nun die Gelegenheit, für ein Publikum zu produzieren und damit zugleich attraktiv für den Werbemarkt zu werden, mit dessen Hilfe er nun beginnen konnte, seine Social-Media-Inhalte zu monetarisieren. Die Digitalisierung der Distributionswege machte es also möglich, dass sich aus der Rolle des Amateurs die des Influencers in seiner heutigen Bedeutung herauslösen konnte. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch das Aufkommen von intermediären Agenturen, die Kooperationen zwischen Influencern und Werbepartnern ermöglichten. In Deutschland entstand mit Mediakraft im Jahr 2011 die erste Agentur (damals als Multi Channel Network bezeichnet), deren Geschäftsmodell auf der Vermarktung von Influencern beruhte. Im Jahr 2013 folgten TubeOne und Studio71. Hinzutraten ab 2013 sog. Online-Marktplätze (wie Reachhero und Tubevertise), die Influencer dabei unterstützten, ihre Social-Media-Produktionen zu monetarisieren. Ausdruck der zunehmenden Professionalisierung von Influencern ist auch, dass sich in der Werbewirtschaft der Begriff Influencer Marketing etabliert hat und Werbekooperationen mit Influencern für viele Unternehmen mittlerweile ein fester Bestandteil geworden sind. Die Unternehmen gehen dabei davon aus, dass der Einfluss von Influencern auf die Kaufentscheidung von jungen Zielgruppen größer ist als der von klassischer Mediawerbung (wie Werbespots, Print-Anzeigen). Dass das Influencen wichtiger Bestandteil in der heutigen Werbewirtschaft ist, zeigt sich zudem darin, dass sich spezifische Influencer-Wettbewerbe institutionalisiert haben. Hierzu zählt etwa der in Deutschland vergebene Preis About You Awards, der
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Kontexte Influencen
nach eigener Aussage die wichtigste Auszeichnung für Influencer in Europa darstellt. Auch das internationale Cannes Lions International Festival of Creativity weist seit dem Jahr 2018 eine Influencer-bezogene Kategorie (‚Social & Influencer Lions‘) auf. Influencer wurden für Unternehmen und Agenturen attraktiv, nachdem sie hohe Reichweiten im Publikumsmarkt erzielen konnten. Wie eine repräsentative Befragung des Bundesverbands Digitale Wirtschaft zeigt, hat heute jeder vierte Deutsche ab 16 Jahren täglichen Kontakt zu Influencern bei YouTube, Instagram & Co. Je jünger die Befragten, desto mehr Kontakt haben sie zu Influencern: So gaben 71 Prozent der Befragten zwischen 16 und 24 Jahren an, täglich Social-Media-Inhalte von Influencern zu konsumieren. Bei den 25- bis 34-Jährigen waren es 40 Prozent, bei den 35- bis 45-Jährigen lediglich 20 Prozent.20 Trotz dieser Erfolge stoßen sich Influencer interessanterweise an der Bezeichnung Influencer. Wie Claudia Wegener21 am Beispiel einer explorativen, qualitativen Befragung von (politischen) YouTubern zeigt, lehnen diese den Begriff für sich ab und favorisieren stattdessen „Content-Creator“ oder „Journalist“. Die Ablehnung des Begriffs dürfte damit zusammenhängen, dass auch Negativ-Konnotationen mit der heutigen Bedeutung von Influencer verknüpft sind. Diese Beobachtung teilen die OXFORD DICTIONARIES in ihrem Corporate Blog, wenn sie schreiben: „We are also starting to see some associations between influencer and more negative and devaluing terms such as wannabe and so-called.“22 Die mittlerweile längst eingesetzte Professionalisierung von Influencern (durch die erfolgreiche Monetarisierung ihres Contents durch institutionalisierte Strukturen) wird bei solchen semantischen NegativZuschreibungen ausgeblendet.
20 Vgl. Bundesverband Digitale Wirtschaft: Digitale Trends. Umfrage zum Umgang mit
Influencern, S. 6. Unter: https://www.bvdw.org/fileadmin/user_upload/190404_IM_Studie_ BVDW_2019.pdf [aufgerufen am 03.10.2019]. 21 Wegener: Politische YouTuber. In: tv diskurs, S. 58. 22 (Art.) The increasing influence of the word ‚influencer‘. In: Oxford Dictionaries Online Blog. Unter: https://blog.oxforddictionaries.com/2018/05/09/the-increasing-influence-of-the-wordinfluencer/ [aufgerufen am 08.08.2018].
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Kontexte Influencen
Die mit dem Terminus Influencer verbundenen Negativ-Konnotationen finden sich aber nicht erst heute, sondern bspw. schon in Andrew Keens Abhandlung THE CULT OF THE AMATEUR aus dem Jahr 2007. Der Autor bezeichnet darin die gerade erst entstandenen erfolgreichen Blogger und YouTuber als „wannabes“ und „poor fools“,23 die keinerlei „formal training or expertise“24 aufwiesen und deren ‚Können‘ sich erschöpfe in „dancing, singing, eating, washing, shopping, driving, cleaning, sleeping, or just staring into their computers“.25 Die Negativ-Konnotationen fußen also darauf, dass der Einfluss eines Influencers sich allein aus seiner Social-Media-Reichweite ableitet, nicht aber auf speziellen (z.B. im Rahmen einer Ausbildung erworbenen) Kenntnissen oder Fähigkeiten beruht, und die geposteten Inhalte (bspw. bei Beauty-, Foododer Fashion-Influencern) oftmals trivialer Natur sind. Vor diesem Hintergrund verwundert es daher nicht, dass Influencer vermehrt versuchen, sich vom ‚Amateur‘-Hintergrund als „DIY celebrity“26 zu emanzipieren und die Influencer-Bezeichnung für sich ablehnen. Wie erste Untersuchungen27 zeigen, scheint es dabei auch geschlechtsspezifische Besonderheiten zu geben: Männliche Influencer tendieren offenbar dazu, sich als „digital content creator“ oder „content producer“ zu betiteln, während Frauen den Influencer-Begriff als weniger problematisch betrachten und ihn zur Bezeichnung ihrer Tätigkeit eher akzeptieren. Es ist aber nicht allein der ‚Amateur‘-Hintergrund, der erfolgreiche SocialMedia-Produzenten vermehrt dazu bringt, Influencer als Tätigkeitsbezeichnung für sich abzulehnen, sondern auch das „Moment der Beeinflussung“,28 welches im Begriff impliziert ist. Häufig findet sich mittlerweile der Hinweis von Influencern, dass sie ihr Publikum nicht „beeinflussen“, sondern nur „inspirieren“ möchten.29 Offenkundig ist beeinflussen mit Negativ-Assoziationen
23 Keen: The cult of the amateur, S. 5. 24 Ebd., S. 47. 25 Ebd., S. 5. 26 Burgess/Green: YouTube. Online Video and Participatory Culture, S. 22. 27 Vgl. Grey Ellis: Why women are called ‚influencers‘ and men ‚creators‘. In: Wired On-
line. Unter: https://www.wired.com/story/influencers-creators-gender-divide/ [aufgerufen am 22.08.2019]. 28 Wegener: Politische YouTuber. In: tv diskurs, S. 58. 29 Vgl. Schuegraf/Lütticke/Börner: Influencing auf Instagram. In: tv diskurs, S. 83.
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Konjunkturen Influencen
behaftet. Jemand, der andere Personen beeinflusst, lenkt deren Handeln (im Verborgenen) – so, wie ja auch die ursprünglich astrologische Bedeutung von influencen von einem liquiden Fluid der Sterne ausging, das unbemerkt in die Körper der Menschen eindrang. Doch inwieweit beeinflussen Influencer tatsächlich das Handeln anderer, z.B. hinsichtlich ihrer Kaufentscheidungen? Schaut man sich hierzu empirische Studien an, zeigt sich, dass sich nur jeder fünfte Befragte bei der Markenpräferenz bzw. Kaufentscheidung durch Influencer beeinflussen lässt.30 Gleichwohl ist aber festzuhalten: Je jünger Personen sind, desto eher folgen sie den Empfehlungen von Influencern. Eine repräsentative Befragung (n=1051) aus dem Jahr 2019 des Bundesverbands Digitale Wirtschaft zeigt: In der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen geben immerhin 43 Prozent der Befragten an, schon einmal eine Marke ausgewählt und/oder ein Produkt gekauft zu haben, weil sie die Marke bei einem Influencer gesehen haben.31 Dennoch: In Summe betrachtet, scheint der messbare Einfluss von Influencern auf andere Personen weniger groß zu sein, als man vielleicht vermuten könnte. Zu solch einem Ergebnis kommt auch eine Befragungsstudie des Softwareunternehmens Bazaarvoice, an der 1000 Konsumenten aus Deutschland teilnahmen. „Demnach ziehen 71 Prozent der deutschen Befragten die Produkt- und Markenbewertung eines anderen Kunden der Empfehlung durch einen bekannten Influencer vor“.32 KONJUNKTUREN Während in der früheren Bedeutung influencer (im engl.
Sprachraum) einflussreiche Kirchen- und Staatsoberhäupter bezeichnete (s. Etymologie), ist heute mit dem Begriff eine Person gemeint, die aufgrund
30 Vgl. Bundesverband Digitale Wirtschaft: Digitale Trends. Umfrage zum Umgang mit In-
fluencern, S. 8. Unter: https://www.bvdw.org/fileadmin/user_upload/190404_IM_Studie_ BVDW_2019.pdf [aufgerufen am 03.10.2019]. 31 Vgl. ebd., S. 9. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Befragungsstudie von PricewaterhouseCoopers aus dem Jahr 2018. Hier gaben 51 Prozent der befragten 16–19-Jährigen an, ein Produkt aufgrund eines Influencers gekauft zu haben. Vgl. PricewaterhouseCoopers: Zwischen Entertainer und Werber – Wie Influencer unser Kaufverhalten beeinflussen, S. 15. Unter: https://www.pwc.de/de/handel-und-konsumguter/pwc-zwischen-entertainer-und-werber.pdf [aufgerufen am 04.10.2019]. 32 Rondinella: Deutsche vertrauen Kundenbewertungen mehr als Influencern. In: Horizont. Unter: https://www.horizont.net/marketing/nachrichten/studie-deutsche-vertrauenkundenbewertungen-mehr-als-influencern-168813 [aufgerufen am 03.10.2019].
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ihrer Social-Media-Reichweite beeinflussend auf ihr Publikum wirken kann. Erste Belege für die Integration des Lehnworts Influencer ins Deutsche finden sich ab Mitte der 2000er Jahre, der Begriff blieb allerdings zunächst auf „fachsprachliche Zusammenhänge“33 (z.B. Werbetexte) beschränkt. Wie das Deutsche Referenzkorpus des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim zeigt,34 stieg jedoch ab dem Jahr 2017 die Gebrauchshäufigkeit des Begriffs Influencer sprunghaft an und ist seitdem „in Zeitungstexten genauso häufig [nachgewiesen] wie alteingesessene Personenbezeichnungen wie Augenarzt, Bergarbeiter, […] Friseurin […] oder Werber“.35 Influencer wurde daher im Jahr 2017 auch zum Anglizismus des Jahres gekürt.36
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er durch Berufsrollenträger klassischer Medienerzeugnisse verkörpert wird). Das Versprechen, das dem heutigen Influencer-Dasein innewohnt, ist gerade, dass keine selektierenden Ebenen (z.B. Redaktionen) dazwischengeschaltet sind (die über Veröffentlichung oder Nicht-Veröffentlichung entscheiden), sondern dass jedermann Inhalte posten und bei entsprechender Reichweite und Publikumswahrnehmung damit Werbeerlöse generieren kann. Aufgrund der Tatsache, dass Influencer wie Julien Bam, Dagi Bee, LeFloid und Kylie Jenner keine Amateure mehr sind, sondern professionell agierende Produzenten, die hohe Werbeumsätze für sich verbuchen können, entwickeln sie sich zunehmend zu Wettbewerbern klassischer Medienerzeugnisse und deren Berufsrollenträger, da beide Seiten nun um den Publikums- und Werbemarkt (zumindest hinsichtlich junger Zielgruppen) konkurrieren. Food- und Fashion-Influencer auf Instagram treten so gesehen in Konkurrenz zu den von Journalisten und Werbefotografen produzierten Food- und Fashionzeitschriften
Gegenbegriffe Influencen
GEGENBEGRIFFE Der Gegenbegriff zum Influencer ist der Gatekeeper (wie
33 Stefanowitsch: Anglizismus des Jahres 2017: Influencer. In: Sprachlog. Unter: http://www.
sprachlog.de/2018/01/30/laudatio-zum-anglizismus-des-jahres-2017-influencer/ [aufgerufen am 09.08.2019]. 34 Vgl. Leibniz-Institut für Deutsche Sprache: Influencer. Unter: http://www1.ids-mannheim. de/kl/projekte/methoden/anglizismen20160.html [aufgerufen am 14.08.2018]. 35 Stefanowitsch: Anglizismus des Jahres 2017: Influencer. In: Sprachlog. Unter: http://www. sprachlog.de/2018/01/30/laudatio-zum-anglizismus-des-jahres-2017-influencer/ [aufgerufen am 09.08.2019]. 36 Vgl. ebd.
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Perspektiven Influencen
und politisch ambitionierte, reichweitenstarke YouTuber in Wettbewerb zu journalistisch aufbereiteten Online-, Print- oder TV-Erzeugnissen. PERSPEKTIVEN Fragt man nach den Perspektiven des Influencens bzw. der Influencer, so können hierbei drei Ebenen unterschieden werden: die technologische, wirtschaftliche und gesellschaftlich-soziale. Technologische Ebene: Das Influencen in seiner heutigen Bedeutung ist an die Existenz von Social-Media-Plattformen gebunden. Es ist davon auszugehen, dass Produkte, auch technikabhängige wie Social-Media-Plattformen, einen Lebenszyklus durchlaufen. Das (betriebswirtschaftliche) Modell des Produktlebenszyklus besagt, dass nach der Einführungs- und Wachstumsphase die Stagnation und schlussendlich auch die Degeneration folgen werden. Zu beobachten ist dies bereits bei Facebook. Die Plattform wird heute vielfach von älteren Usern genutzt, aber nicht mehr in der Intensität von den jüngeren, die längst zu Instagram, Snapchat oder zu der aus China stammenden Plattform TikTok gewechselt sind.37 Vermutlich werden auch diese jetzt so beliebten Social-Media-Plattformen zukünftig massiv Nutzer verlieren, da wieder neue digitale Kanäle den Publikumsmarkt erobern werden. Nichtsdestotrotz: Die Entwicklung, dass Laien/Amateure unter Umgehung der klassischen Gatekeeper ihre Fotos, Videos und Texte weltweit medial verbreiten und damit hohe Reichweiten erzielen können, dürfte nicht mehr umkehrbar sein. Insofern ist zu vermuten, dass es auch zukünftig Influencer geben wird, gleich, wie dann die populären Plattformen heißen werden. Wirtschaftliche Ebene: Der Einsatz von Influencern ist mittlerweile fester Bestandteil im Kommunikationsmix von Unternehmen geworden. Dabei geht der Trend hin zum sog. Micro- oder Nano-Influencer. Damit ist gemeint, dass Werbetreibende vermehrt mit Influencern kooperieren, die weniger als 10.000 Follower auf ihrem Social-Media-Hauptkanal aufweisen. Das Interesse von Marketingverantwortlichen und Agenturen verlagert sich zunehmend hin zu reichweitenschwächeren Influencern, da angenommen wird, dass diese besonders authentisch und glaubwürdig von ihrem Publikum wahrgenommen werden. Da auch kleinere Influencer für die Werbewirtschaft zunehmend
37 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM Studie 2018, S. 38.
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Perspektiven Influencen
attraktiver werden, ist davon auszugehen, dass der Influencer sich als Akteur in der Medien- und Werbebranche weiter festigen wird. Dafür spricht auch der Umstand, dass junge Menschen die Influencer-Tätigkeit (und die damit verbundenen Erwerbsmöglichkeiten mittels Werbeerlösen) offenkundig als eine erstrebenswerte Berufsrolle betrachten. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018, die rund 13.000 Kinder zwischen sieben und elf Jahren aus Großbritannien nach ihrem Berufswunsch fragte, rangiert „Social-Media“-(Influencer) auf Platz vier der am meist genannten Berufswünsche (noch vor Polizist, Musiker oder Pilot).38 Im Professionalisierungspfad von Influencern fehlt bislang allerdings, zumindest in Deutschland, die Gründung eigener Berufsverbände. Zwar existiert seit dem Jahr 2017 der Bundesverband Influencer Marketing, jedoch wurde dieser ausschließlich von Akteuren der Werbewirtschaft gegründet, nicht aber von Influencern, die auch keine Mitglieder im Verband sind. Solch eine Form der Institutionalisierung wäre insofern wichtig, als Influencer beginnen sollten, die Deutungsmacht über ihr werbliches Tun nicht allein den werbetreibenden Unternehmen und Agenturen zu überlassen. Gerade hinsichtlich der korrekten Kennzeichnung von Werbung in den Fotos, Videos und Texten von Influencern besteht Handlungsbedarf, da in den vergangenen Jahren zahlreiche Verstöße gegen bestehende Werberichtlinien national wie international für Aufsehen gesorgt haben. Wie die Studie PRODUCT PLACEMENT ON YOUTUBE39 aufzeigt, geht die Initiative, Werbekooperationen zu verschleiern, dabei oftmals gar nicht von den Influencern selbst aus, sondern von den Agenturen und Werbetreibenden, die die Produzenten z.T. auffordern, bei einer Kooperation auf eine rechtlich korrekte Werbekennzeichnung zu verzichten. Ein von Influencern initiierter und institutionalisierter Zusammenschluss könnte dabei helfen, die eigenen Interessen gegenüber Werbetreibenden sowie Regulierungsbehörden besser zu artikulieren und auch Qualitätsstandards hinsichtlich professionellen Verhaltens von Influencern im Kontext von Werbekooperationen zu formulieren.
38 Vgl. Education and Employers: Drawing the future. Unter: https://www.
educationandemployers.org/wp-content/uploads/2018/01/Drawing-the-Future-FINALREPORT.pdf [aufgerufen am 10.09.2019], S. 18. 39 Gerhards: Product placement on YouTube. In: Convergence, S. 516–533.
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Perspektiven Influencen
Gesellschaftlich-soziale Ebene: Dass Influencer nicht nur auf das Kaufverhalten ihres Publikums einwirken, sondern auch die Meinungsbildung bei gesellschaftlich relevanten Themen beeinflussen können, zeigte sich im Rahmen der Europawahl 2019. Der dt. Influencer Rezo hatte mit seinem am 18. Mai 2019 veröffentlichten YouTube-Video DIE ZERSTÖRUNG DER CDU die Politik der CDU/CSU und die der Großen Koalition insgesamt harsch kritisiert und zudem initiiert, dass ein weiteres Video („Ein Statement von 90+ YouTubern“) produziert und einen Tag vor der Europawahl am 25. Mai 2019 gepostet wurde, in welchem mehr als 90 dt. YouTuber ihr Publikum aufriefen, aus Klimaschutzgründen weder CDU, SPD noch AfD zu wählen. Wie eine im Spiegel veröffentlichte Analyse der Wahlergebnisse zeigt, könnten die Videos womöglich Einfluss auf das Wahlverhalten gehabt haben, zumindest bei den 18- bis 29-Jährigen in Deutschland: Der „Rezo-Effekt“40 hat nach dieser Interpretation dafür gesorgt, dass knapp vier Prozent der Wähler aus der o.g. Zielgruppe nach der Veröffentlichung der Videos zu Grünen-Wählern wurden. Zukünftig werden politische Parteien bzw. Institutionen (wie z.B. das Europäische Parlament) vermutlich vermehrt Influencer einsetzen, um ihre politischen Botschaften jungen Zielgruppen zu kommunizieren. Im Rahmen der Europawahl 2019 hat das bereits das Verbindungsbüro des Europäischen Parlaments in Deutschland praktiziert und drei dt. Influencer beauftragt, für die Kampagne Diesmalwähleich Videos zu produzieren und auf ihren jeweiligen Social-Media-Kanälen zu posten, um ihr Publikum von der Bedeutung der Europawahl zu überzeugen und zum Wahlurnengang zu bewegen.41 Perspektivisch werden sich Influencer als wichtige Akteure und Multiplikatoren von Botschaften etablieren und verstärkt durch Akteure der Medien, der Wirtschaft, der Politik und des Rechts wahrgenommen werden. Mit dieser Aufwertung des Influencers als ernstzunehmendem Akteur werden
40 Dambeck: Rezo-Effekt. In: Spiegel
Online. Unter: https://www.spiegel.de/politik/ deutschland/rezo-effekt-hat-er-der-cdu-geschadet-oder-den-gruenen-genuetzt-a-1270620. html [aufgerufen am 01.09.2019]. 41 Vgl. Meyer: Warum Influencer plötzlich Werbung für Europa machen. In: Der Tagesspiegel Online. Unter: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/kampagne-des-eu-parlamentswarum-influencer-ploetzlich-werbung-fuer-europa-machen/24359574.html [aufgerufen am 03.09.2019].
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FORSCHUNG Ein Großteil der bisherigen wissenschaftlichen Literatur ent-
stammt der betriebswirtschaftlichen Marketing-Forschung. Diese fragt zumeist danach, wie Unternehmen Influencer in ihrer Kommunikation einsetzen können, um ihre werblichen Botschaften an vorwiegend junge Zielgruppen besser zu adressieren.45 Auch wird untersucht, wie das Kampagnenmanagement zu gestalten ist, wie Agenturen also Kampagnen mit Influencern am besten konzeptionieren, umsetzen und steuern sollten.46 Medienwissenschaftliche Studien hingegen untersuchen z.B., inwiefern sich Social-Media-Stars von
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Forschung Influencen
zugleich auch vermehrt Forderungen nach verantwortungsvollem Handeln verbunden sein. Die Studie WEIBLICHE SELBSTINSZENIERUNG IN DEN NEUEN MEDIEN der MaLisa-Stiftung aus dem Jahr 2019 bemängelt bspw., dass sich die Geschlechterdarstellung in 100 untersuchten YouTube-Kanälen an „veraltet anmutenden Stereotypen“ orientiert: „Während Frauen sich überwiegend im privaten Raum zeigen, Schminktipps geben und ihre Hobbies präsentieren […], bedienen Männer deutlich mehr Themen von Unterhaltung über Musik bis zu Games, Comedy und Politik.“42 Eine für die Studie durchgeführte Analyse von Instagram-Accounts zeigt zudem, dass insbesondere solche Influencerinnen erfolgreich sind, die „einem normierten Schönheitsideal entsprechen“.43 Eine Rezeptionsstudie kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass jugendliche Zuschauerinnen die Influencerinnen als Vorbilder betrachteten und deren „Posen und Aussehen nachahmen“.44
42 MaLisa: Weibliche Selbstinszenierung in den neuen Medien, S. 2. Unter: https://
malisastiftung.org/wp-content/uploads/Selbstinzenierung-in-den-neuen-Medien.pdf [aufgerufen am 03.09.2019]. 43 Ebd., S. 3. 44 Ebd. 45 Vgl. Lammenett: Praxiswissen Online-Marketing; Lammers: Wie Unternehmen aus Micro-Influencern Co-Marketer machen. In: Jahnke (Hrsg.): Influencer Marketing, S. 107–125; Deges: Quick Guide Influencer Marketing; Linqia: The state of influencer marketing 2018. Unter: http://www.linqia.com/wp-content/uploads/2017/12/Linqia-The-State-of-InfluencerMarketing-2018.pdf [aufgerufen am 12.07.2018]. 46 Vgl. Enke/Borchers: Management strategischer Influencer-Kommunikation. Unter: https:// www.uni-leipzig.de/fileadmin/user_upload/Studie_Managment_Influencer-Kommunikation. pdf [aufgerufen am 10.09.2019].
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Forschung Influencen
klassischen Medienstars (aus TV, Film) unterscheiden.47 Kommunikationswissenschaftliche Analysen beschäftigen sich mit dem Einfluss, den Influencer auf ihr Publikum haben und fragen bspw., inwiefern eine parasoziale Beziehung zwischen Influencern und Fans vorliegt.48 Gerade Rezeptionsstudien betrachten den Einfluss von Influencern auf jugendliche Fans zumeist kritisch, in der Annahme, dass die Nutzer die vermittelten Botschaften naiv übernehmen und in entsprechende Handlungen (Kaufentscheidungen, Imitation von Schönheitsidealen etc.) überführen. Hierbei wird konzeptionell oftmals davon ausgegangen, dass das Publikum den Einflüssen medialer Stars schutzlos ‚ausgeliefert‘ sei. Eine Herausforderung weiterer Forschung wird sicherlich darin liegen, stärker einen aktiven Rezipienten zu konzeptionieren (gerade wenn nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Personen über 20 Jahren untersucht werden). Denn wie man in der Medien- bzw. Werberezeptionsforschung weiß, übernehmen Rezipienten keineswegs automatisch einszu-eins medial vermittelte (Werbe-)Botschaften, sondern können den Sinn von Botschaften während des Rezeptionsprozesses umdeuten und verändern. Weiterer Forschungsbedarf besteht zudem darin, zu untersuchen, inwiefern Konkurrenz- bzw. Komplementärbeziehungen zwischen Influencern und traditionellen Leistungsträgern der Medien- und Werbebranche entstehen. Zu vermuten ist bspw., dass klassische Werbefotografen wirtschaftliche Einbußen zu verzeichnen haben, seitdem Marketingverantwortliche und Agenturen vermehrt Influencer beauftragen, Fotos und Videos mit werblichen Botschaften zu produzieren. Zudem dürfte auch eine politikwissenschaftlich motivierte Forschung verstärkt ein Interesse daran haben, zu untersuchen, wie Influencer in der politischen Kommunikation wirken, wie sie eingesetzt werden und wie sie zur politischen Meinungsbildung beitragen.
47 Vgl. Hou: Social media celebrity and the institutionalization of YouTube. In: Convergence,
S. 534–553; Marwick: You may know me from YouTube. In: Marshall/Redmond (Hrsg.): A Companion to Celebrity, S. 333–349 und Abadin: Internet Celebrity. 48 Vgl. Nandagiri/Philip: Impact of Influencers from Instagram and YouTube on their followers. In: International Journal of Multidisciplinary Research and Modern Education, S. 61–65; Rihl/ Wegener: YouTube celebrities and parasocial interaction: Using feedback channels in mediatized relationships. In: Convergence, S. 554–566.
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[aufgerufen am 10.09.2019].
bloggen |I 612|, folgen |II 167|, liken |I 149|, posten |II 343|, twittern |I 412|, snapchatten |II 425|
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INSTAGRAMMEN LISA GOTTO
ANEKDOTE Am 4. Januar 2019 erschien auf Instagram ein unspektakuläres Bild.
Anekdote Instagrammen
I
Zu sehen war nichts anderes als ein braunes Hühnerei vor weißem Hintergrund. Erst die Bildunterschrift lieferte eine Art Gebrauchsanweisung: „Let’s set a world record together and get the most liked post on Instagram. Beating the current world record held by Kylie Jenner (18 million)! We got this“. Versehen mit den Hashtags „#LikeTheEgg #EggSoldiers #EggGang“ erhielt der Post bis Anfang Februar 2019 über 50 Millionen Likes, wodurch das Ei einen Instagram-Weltrekord aufstellte, den es bis heute mit weitem Abstand hält.1 Wenn ein Ei rekordwürdig wird, dann zeigt das, wie deutlich sich das Instagrammen von anderen fotografischen Praktiken unterscheidet. Nicht der Inhalt des Bildes gibt Aufschluss über das Außergewöhnliche, sondern die Einbettung in eine Überbietungslogik, die in der Gebrauchsstruktur der Plattform selbst angelegt ist. Eugene, so der bald darauf vergebene Spitzname des Eis, sieht nicht anders aus als andere Eier. Es zeigt nichts Besonderes, es teilt keine aufregenden Erlebnisse. Es wendet sich auch nicht an seine Mit-Eier, um seine attraktive Schale auszustellen. Was Eugene jedoch anbietet, ist der Aufruf zu einem Wettbewerb um Likes, der sich von der Ästhetik des Bildes, seiner Ausrichtung und Aussagekraft, abgelöst hat. Damit scheint das Ei die mediale Praxis des Instagrammens zu unterlaufen und zugleich zu bestätigen. Denn einerseits entfernt sich die Beliebigkeit des Bildes von der Forderung des Fotodienstes nach visueller Selbst-Optimierung. Andererseits aber betreibt Eugene eine Art Influencing, die sich eben jener kompetititven Mechanismen bedient, die die mediale Gebrauchslogik der Plattform ausmachen. Dass ein Ei zum Instagram-Star aufsteigen konnte, beruht wesentlich darauf, dass es nichts außerhalb von Instagram Liegendes mitzuteilen hatte.
1 Thorne: Egg photo breaks Kylie Jenner’s record for most liked image on Instagram. In: Gu-
iness World Records. Unter: https://www.guinnessworldrecords.com/news/2019/1/egg-photobreaks-kylie-jenners-record-for-most-liked-image-on-instagram-554801 [aufgerufen am 10.02.2021].
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ETYMOLOGIE Instagram ist der Name einer Photo-Sharing-App, die von
I
Etymologie Instagrammen
Kevin Systrom und Mike Krieger entwickelt und im Oktober 2010 veröffentlicht wurde. Hervorgegangen ist sie aus der Vorläufer-Anwendung Burbn, einer mobilen Check-In-App, die die Gründer nach ihrem bevorzugten Drink benannt hatten. Im Zuge einer Nachjustierung, die die Funktionen von Burbn um das Teilen von Fotos erweiterte, entschieden sich die Entwickler für eine Umbenennung der App: „We renamed because we felt it better captured what you were doing – an instant telegram of sorts. [...] It also sounded camera-y“.2 Als Neologismus setzt sich Instagram aus dem engl. „instant“ und „telegram“ zusammen, wobei sich der von den Entwicklern angesprochene Kamera-Anklang aus einer Verkürzung des engl. „instant camera“ (dt. „Sofortbildkamera“)3 herleitet. Beide Elemente des Kompositums verweisen auf einen Mediengebrauch, der durch Schnelligkeit, Komprimiertheit und Kompaktheit gekennzeichnet ist. Und beide Begriffe, sowohl „telegram“ als auch „instant camera“, sind ihrerseits Wortverschränkungen, die von Beginn an neue Medien bezeichneten. Der Ausdruck „telegram“, gebildet aus dem griech. tele (fern) und grámma (Schrift), ist laut OXFORD ENGLISH DICTIONARY seit 1852 belegt.4 Als Bezeichnung für eine telegrafisch übermittelte Nachricht verweist der Begriff auf die medientechnologisch ermöglichte schnelle Übertragung von kurzen Mitteilungen; mit dem Übergang in den allgemeinen Sprachgebrauch steht der Ausdruck auch für die Tendenz zur elliptischen Verknappung („Telegramm-Stil“). In Anlehnung an „telegram“ entstanden im 19. Jh. weitere sprachliche Neubildungen, von denen eine bereits die Kopplung an instantane Fotografie erkennen lässt: „Later formations suggested by this word are the hybrids cablegram for ‚cable telegram‘, pistolgram for an instantaneous
2 Sengupta/Pelroth/Wortham: Behind Instagram’s Success, Networking the Old Way. In: The New York Times. Unter: https://www.nytimes.com/2012/04/14/technology/instagramfounders-were-helped-by-bay-area-connections.html [aufgerufen am 07.07.2020]. 3 Als Nomen wird das engl. „instant“ als „ellipsis of instant camera“ verwendet. Vgl. (Art.) instant. In: Wiktionary. Unter: https://en.wiktionary.org/wiki/instant#English [aufgerufen am 07.07.2020]. 4 (Art.) telegram. In: Oxford English Dictionary. Unter: https://www-oed-com.uaccess.univie. ac.at/view/Entry/198685?result=1&rskey=j74tW6& [aufgerufen am 07.07.2020].
181
Etymologie Instagrammen
photograph“.5 Der Begriff „instant camera“, zusammengesetzt aus dem engl. instant (sofort) und camera (Kamera), entstand in den 1940er Jahren mit der Erfindung der ersten Sofortbildkamera6 und bezeichnet einen Fotoapparat, der gleich nach der Aufnahme einen chemisch entwickelten Abzug erstellt und als fertiges Bild auswirft. Die Vorteile des Fotografierens mit analogen Sofortbildkameras, etwa die Handlichkeit der Apparate, die Unabhängigkeit von Fotolabors und Entwicklungszeiten sowie die schnelle Verfügbarkeit der Bilder, wurden mit der Durchsetzung der digitalen Smartphone-Fotografie weitgehend übernommen bzw. durch sie ersetzt. Eine deutliche Anlehnung an die analoge instant camera zeigt sich in der Instagram-App durch die Verwendung eines Sofortbildkamera-Logos7 sowie die Übernahme eines charakteristischen quadratischen Bildformats, das an den Zuschnitt von PolaroidFotos erinnert.8 Ähnlich wie der Begriff „telegram“ ist auch der Neologismus Instagram offen für Hybridbildungen. Verwendet werden dabei sowohl das Präfix „insta“ (z.B. „instafood“, „instamood“) als auch das Suffix „gram“ (z. B. „foodstagram“, „travelgram“).9 Verstärkt und vorangetrieben wird diese Tendenz zur Wortneuschöpfung durch Hashtags, die zur Verschlagwortung der hochgeladenen Bilder verwendet werden. Die Instagram Plattform ermöglicht das Hochladen, Bearbeiten und Teilen von digitalen Fotos, seit 2013 auch Videos. Instagrammen steht für die Verwendung dieser Plattform. Im Duden ist bislang nur das Nomen Instagram
5 (Art.) -gram, comb. form. In: Oxford English Dictionary. Unter: https://www-oed-com.
uaccess.univie.ac.at/view/Entry/80545#eid2655353 [aufgerufen am 07.07.2020].
6 Vgl. Cumo: Polaroid Camera. In: Ryan/Schlup (Hrsg.): Historical Dictionary of the 1940s,
S. 305–306.
7 Während das erste im Jahr 2010 eingesetzte Logo die bildliche Anlehnung an eine alte
Polaroid-Kamera noch deutlich zeigte, wurde diese Ausrichtung in den Folgejahren zurückgenommen. Seit 2016 besteht das Logo der App aus einem reduzierten Symbol, das nur noch eine Linse und einen Sucher erkennen lässt. 8 Im Jahr 2015 wurde die vormalige Beschränkung auf nur ein Format aufgegeben und durch verschiedene Auswahl-Optionen erweitert. Seitdem ist es möglich, Bilder auch im Querformat („landscape“) oder im Hochformat („portrait“) zu posten. Das für Instagram typische quadratische Bild-Format bleibt aber auch weiterhin die automatische Voreinstellung der App. 9 Vgl. Veszelszki: Digilect, S. 45.
182
KONTEXTE Der Gebrauch von Instagram ist von Beginn an durch die Ver-
wendung von Filtern gekennzeichnet, die die Software der App standardmäßig bereitstellt. In der Frühphase des Instagrammens waren insbesondere Retrofilter beliebt, die die geposteten Bilder wie Fotos aus analogen Sofortbildkameras aussehen ließen. Digital simuliert werden durch diese Filterpraktiken ästhetische Eigenschaften wie geringe Kontrastschärfe, blasse Farben oder unscharfe Umrisse, jene Merkmale also, die auf ungestellte Momentaufnahmen und unaufwändige Produktionsbedingungen verweisen, wie sie etwa für Polaroid-Bilder typisch sind.13 Während die solcherart bearbeiteten InstagramBilder zwar die visuelle Anmutung von Polaroids aufrufen können, stehen sie gleichzeitig auch im deutlichen Kontrast zu den Praktiken der analogen Sofortbildfotografie. Polaroid-Fotos sind vor allem aufgrund ihrer Materialität und Haptik von anderen fotografischen Bildern unterscheidbar, sie können bspw. wegen ihrer charakteristischen Schwere und Dicke nicht umstandslos in Fotoalben geklebt werden. Weiterhin produzieren analoge Sofortbildkameras immer nur einen einzigen Abzug, d.h., die Bilder sind stets Unikate. Zeichnen sich Polaroid-Fotos durch fehlende Reproduzierbarkeit und eingeschränkte
I
Kontexte Instagrammen
verzeichnet,10 nicht jedoch die Verbform. Anders im Engl.: Für das Verb instagram vermerkt das MACMILLAN DICTIONARY folgende Definition: „to take a photo and post it on the social network Instagram“.11 Eine weitere Bedeutung findet sich im WIKTIONARY: „1. To post an image to Instagram. 2. To digitally manipulate a photograph using filter effects.“12 Damit ist das zentrale Angebot der App, nämlich die Bearbeitung des Bildmaterials durch voreingestellte Grafikfilter, angesprochen. Bei der Verwendung der Plattform Instagram geht es also nicht allein um das Publizieren, sondern auch und vor allem um das Modifizieren von Bildern.
10 (Art.) Instagram. In: Duden. Unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Instagram [auf-
gerufen am 07.07.2020].
11 (Art.) instagram. In: Macmillan Dictionary. Unter: https://www.macmillandictionary.com/
dictionary/british/instagram [aufgerufen am 06.06.2020].
12 (Art.) instagram. In: Wiktionary. Unter: https://en.wiktionary.org/wiki/Instagram [aufgeru-
fen am 07.07.2020].
13 Zu den ästhetischen Praktiken der analogen Sofortbildfotografie vgl. ausführlich: Improda:
Do (not) press. In: Kaupert/Edel (Hrsg.): Ästhetische Praxis, S. 199–234.
183
Kontexte Instagrammen
Manipulierbarkeit aus, stehen Instagram-Bilder für das genaue Gegenteil: Sie wollen immer schon bearbeitet, verteilt und vervielfältigt werden. Wenn also beim Instagrammen ästhetische Oberflächeneffekte älterer Bild-Technologien imitiert werden, dann treten dabei die Unterschiede von altem und neuem Mediengebrauch umso deutlicher hervor: Was hier aufeinander trifft, ist einerseits eine an die Kontingenz analog-fotochemischer Apparate gemahnende Ästhetik, die die Smartphone-Fotos durch Verfahren der Verfremdung der digitalen Bilderflut entreißen soll, um ihnen eine vermeintlich verlorengegangene Aura der Einzigartigkeit zu verleihen, und andererseits ein Prozess der Einspeisung der aufgenommenen Fotos in den Strom eben jener Bilderflut und ihre Eingliederung in die Logik einer digitalen Medienökonomie.14
Im Verwendungskontext des Instagrammens hat sich das „instant“ im Sinne eines fotografischen Schnellverfahrens vom analogen Auslösen zum digitalen Bearbeiten verschoben. Entscheidend ist nun nicht mehr, dass ein Bild sofort da ist, sondern dass es sofort umgestaltet werden kann. Insofern bilden die voreingestellten Filter der Instagram-App die mediale Grundvoraussetzung für die Spezifik des Instagrammens. Wer instagrammt, geht nicht davon aus, dass ein Bild schön ist, sondern dass es immer noch schöner werden kann. Diese der App eingeschriebene Optimierungstendenz betrifft grundsätzlich die Abbildung aller fotografierbaren Objekte, insbesondere aber die über Filterpraktiken regulierte Selbstpräsentation der Nutzer*innen. Insofern unterscheidet sich auch die Kommunikation, die über das Instagrammen ermöglicht wird, wesentlich von älteren Formen des Austauschs und der Selbstdarstellung mittels fotografischer Bilder: „Kommunikation kam damals zustande, wenn man das Album für den Freundeskreis aus dem Schrank holte. Jetzt aber ist Kommunikation (medial) permanent präsent als doppelt kontingente Konstruktion und Re-Konstruktion einer transfordistischen, auf Vermarktung der eigenen Person gezielten Praxis unter Zuhilfenahme aller ästhetischen Mittel.“15
14 Schrey: Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur, S. 263. 15 Hagen: ‚Being there!‘ Epistemologische Skizzen zur Smartphone-Fotografie. In: Freyermuth/
Gotto (Hrsg.): Bildwerte, S. 126.
184
I
Kontexte Instagrammen
Jedes Instagrammen ist eingespannt in einen Bildrahmen, der die Bilder einem plattformimmanenten Bewertungssystem aussetzt. Sowohl die Anzahl der Likes als auch die über die Kommentarfunktion ermöglichte Anschlusskommunikation geben Aufschluss über die mediale Verwertbarkeit der Bilder. Dabei forciert die Plattform-Umgebung den Vergleich mit anderen User*innen, an deren Erfolgsindices sich die Bildbotschaften wettbewerbsartig ausrichten. Alise Tifentale und Lev Manovich bezeichnen diese Gebrauchsdynamik als ‚kompetitive Fotografie‘ und definieren ihre Ausrichtung folgendermaßen: „The main feature of competitve photography is likability“.16 Unter ‚likability‘ wird die Anschlussfähigkeit für Feedbackmechanismen verstanden, nach denen nutzungsspezifische Zustimmungswerte sicht- und messbar werden. Angelehnt an diesen Ausdruck sind die Wortneuschöpfungen instagrammable und instagrammability. Während das Adjektiv instagrammable bereits in eines der zentralen anglo-amerikanischen Wörterbücher, das MERRIAM-WEBSTER 17 DICTIONARY, aufgenommen wurde, ist das Nomen instagrammability dort bislang noch nicht verzeichnet. Im allgemeinen engl. Sprachgebrauch wird der Begriff vor allem im ökonomischen Kontext verwendet,18 vereinzelt findet sich auch das eingedeutschte Instagrammabilität.19 Als Bezeichnung für den Marktwert eines Produkts oder einer Dienstleistung verweist der Ausdruck instagrammability auf die Eigenschaft eines Bildes, für die Verwendung auf Instagram relevant, d.h. für die der Plattform inhärenten ökonomischen Auswertungsprinzipien anschlussfähig zu sein. Angesprochen ist damit eine der App eingeschriebene Warenlogik, die den
16 Tifentale/Manovich: Competitive Photography and the Presentation of the Self. In: Eckel/
Ruchatz/Wirth (Hrsg.): Exploring the Selfie, S. 173.
17 (Art.) Instagrammable. In: Merriam-Webster. Unter: https://www.merriam-webster.com/
dictionary/instagrammable [aufgerufen am 07.07.2020].
18 Vgl. bspw. einen Artikel in The Independent zur Marketing-Funktion von Instagram für die
Tourismus-Branche: Hosie: Instagrammability: Most important factor for millenials on choosing holiday destination. In: The Independent. Unter: https://www.independent.co.uk/travel/ instagrammability-holiday-factor-millenials-holiday-destination-choosing-travel-socialmedia-photos-a7648706.html [aufgerufen am 07.07.2020]. 19 So etwa in einem Artikel in der FAZ: „Der Kodak-Moment ist tot, es lebe die Instagrammabilität“, Diener: Instagrammable. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Unter: https://www.faz. net/aktuell/feuilleton/instagrammable-ist-der-neue-hype-im-tourismus-15854387.html [aufgerufen am 07.07.2020].
185
Konjunkturen Instagrammen
Wert eines Bildes entlang seiner wirtschaftlichen Erfolgsaussichten festlegt. Nicht zuletzt durch das Geschäft mit sponsored posts „stellt Instagram einen Marktplatz für Waren dar, die mithilfe von Bildern – insbesondere in Form von bildbasierten, autobiografisch anmutenden Narrativen bzw. Fiktionswelten sogenanter ‚Influencer‘ – beworben werden, und daher ebenfalls als ‚Bildwirtschaft‘ gelten können. Dem ikonischen Kommunikationsprimat entsprechend, fungieren Bilder auf Instagram gewissermaßen als Währung.“20 Es erstaunt daher nicht, dass der Begriff des Instagrammens vermehrt im Kontext von Marketing-Ratgebern verwendet wird, deren Empfehlungen sich auf geschäftsoptimierende ‚Best Practice‘-Modelle beziehen.21 Die ‚beste Praxis‘ des Instagrammens sind demzufolge Verfahren, die das Angebot der Plattform im Sinne einer auf Zuwächse ausgerichteten Unternehmenskultur nutzen, es also für eine Art der Aufmerksamkeitssteigerung einsetzen, die durch Likes und Follower-Zahlen quantifizierbar wird. Das fotografische Handeln des Instagrammens ist in diesem Kontext auf einen medialen Handelsplatz bezogen, der das Bereitstellen von Bildern als ökonomische Ressource verwaltet. KONJUNKTUREN Am 18. Januar 2019 erschien auf Instagram ein weiteres Bild von Eugene, dem Weltrekord-Ei. Zu sehen war jetzt, kaum merklich, ein leichter Riss oben links. Im Abstand weniger Tage folgten weitere Bilder, die zunehmende Rissbildungen auf der Eierschale zeigten. Am 3. Februar 2019 erschien auf dem Online-Videoportal Hulu ein Video, in dem Eugene zerbricht. Versehen war der animierte Clip mit folgender Texteinblendung: „Hi, I’m the World_Record_Egg (you may have heard of me). Recently I’ve started to crack, the pressure of social media is getting to me. If you’re struggling too, talk to someone.“ Der Clip endete mit einem Verweis auf die Website ‚talkingegg.info‘, die Links zu verschiedenen gemeinnützigen Organisationen zur Beratung bei psychischen Problemen enthielt. Einen Tag später, am
20 Gunkel: Der Instagram-Effekt, S. 33–34. 21 Vgl. z.B.: Hutchinson: New Study Looks at Latest Instagram Best Practices. In: Social Media
Today. Unter: https://www.socialmediatoday.com/news/new-study-looks-at-latest-instagrambest-practices-including-hashtag-use-a/543067/ [aufgerufen am 07.07.2020].
186
I
Konjunkturen Instagrammen
4. Februar 2019, wurde das Video auch auf Eugenes Instagram-Account veröffentlicht, wo es innerhalb weniger Wochen über 30 Millionen Likes erhielt.22 Eugenes Geschichte zeigt, wie schnell sich die Assoziationen, die mit dem Begriff des Instagrammens verbunden sind, wandeln können. So ist bemerkenswert, dass in letzter Zeit vermehrt Diskursbeiträge erscheinen, die das semantische Feld des Instagrammens um die Bedeutungskomponente einer Suchterkrankung erweitern.23 Instagrammen impliziert in dieser Gebrauchsweise, dass die Nutzung der Plattform zu schneller Abhängigkeit führen kann. Dabei bewegt sich das sprachliche Element „instant“ in die Richtung einer negativen Konnotation, da es nicht auf die Schnelligkeit der Medientechnologie, sondern auf die Kurzfristigkeit der Bedürfnisbefriedigung der Nutzer*innen verweist. Aus der Debatte um die suchtfördernde Nutzungsweise von Instagram ist inzwischen eine im URBAN DICTIONARY verzeichnete Sprachneuschöpfung hervorgegangen: instaddiction,24 eine Neubildung aus „insta“ (kurz für Instagram) und „addiction“ (Sucht). Eine neue Wendung hinsichtlich der auf Instagram zum Einsatz kommenden Filter hat sich in den letzten Jahren in Bezug auf deren an Helligkeit ausgerichteten Schönheitsideale entwickelt. Als die afroamerikanische Sängerin Dawn Richard im März 2013 eine Reihe von Selfies auf Instagram hochlud, kam es zu empörten Reaktionen ihrer Fans, die vermuteten, sie habe ihre Haut mittels chemischer Aufheller gebleicht. Auf die Frage einer InstagramNutzerin, ob sie sich einem Skinbleaching unterzogen habe, antwortete Richard in der Kommentarspalte: „dawnrichard@deanellw: no babe just pressed the
22 Eugene
| world_record_egg. In: Instagram. Unter: https://www.instagram.com/p/ BtdYQwincYv/ [aufgerufen am 10.02.2021]. 23 Vgl. für den deutschsprachigen Raum z.B. Bünte: Süchtig nach Herzchen, oder: Wie Instagram Abhängigkeit schafft. In: Heise Online. Unter: https://www.heise.de/newsticker/meldung/ Suechtig-nach-Herzchen-Neues-Buch-prangert-Instagram-Abhaengigkeit-an-4654209. html?seite=all [aufgerufen am 06.06.2020] und für den englischsprachigen Raum z.B. Macmillan: Why Instagram ist the worst Social Media for Mental Health. In: Time. Unter: https://time. com/4793331/instagram-social-media-mental-health/ [aufgerufen am 07.07.2020]. 24 (Art.). instaddiction. In: Urban Dictionary. Unter: https://www.urbandictionary.com/define. php?term=instaddiction [aufgerufen am 07.07.2020].
187
Konjunkturen Instagrammen
filter button like every other human that has Instagram“.25 Die afroamerikanische Autorin Morgan Jerkins nahm in einem Blogbeitrag mit dem Titel THE QUIET RACISM OF INSTAGRAM Bezug auf diesen Vorfall und betonte, wie unumgänglich das durch die Software-Logik der Instagram-Filter voreingestellte Aufhellen des Hauttons ist: „As a woman of color, I wish I could find a filter that doesn’t light up my skin. [...] Instagram users can choose from over 20 filters, but as subjects, we don’t have a choice in how our images are processed once a filter is in place“.26 Jerkins’ Beobachtung verweist auf eine mediale Vorbedingung des Instagrammens, die für die Standardisierungs- und Normierungsverfahren der Plattform entscheidend ist. Als soziales Netzwerk organisiert Instagram, wie Bilder produziert, rezipiert und distribuiert werden. Dazu gehört, dass beim Speichern und Verteilen eines Bildes ein Set von Protokollen zum Tragen kommt, das auf Voreinstellungen basiert und darauf abzielt, vordefinierten Einstellungen zu entsprechen. Folglich unterliegt die filtertechnische Bearbeitung von Bildern auf Instagram wesentlichen Einschränkungen: Die FilterEinstellungen der Software sind der Kontrolle der Konsument*innen entzogen, sodass die Benutzer*innen dem Programm lediglich folgen, es aber nicht selbst modifizieren können. Die Frage, ob und inwiefern die präfigurierten Filterprozesse und algorithmischen Voreinstellungen des Instagrammens zu einer Perpetuierung von rassistischen Bildpraktiken beitragen, wird aktuell sowohl innerhalb medienwissenschaftlicher Debatten diskutiert27 als auch durch Statements des Unternehmens zunehmend problematisiert.28
25 Victorian: When Instagram Filter Goes Wrong. In: MadameNoire. Unter: https://
madamenoire.com/267910/when-instagram-filter-goes-wrong-dawn-richard-is-that-you/ [aufgerufen am 07.07.2020]. 26 Jerkins: The Quiet Racism of Instagram. In: Racked. Unter: https://www.racked. com/2015/7/7/8906343/instagram-racism [aufgerufen am 07.07.2020]. 27 Vgl. Bergermann: „Instagram Racism“? In: ZfM Gender Blog. Unter: https://www. zfmedienwissenschaft.de/online/blog/«instagram-racism» [aufgerufen am 07.07.2020]; sowie Bergermann: Shirley and Frida. In: Böhlau/Pichler (Hrsg.): Filters and Frames, S. 47–63. 28 Vgl. Smith: Instagram Boss Says It Will Change Algorithm To Stop Mistreatment of Black Users, Alongside Other Updates. In: The Independent. Unter: https://www.independent.co.uk/ life-style/gadgets-and-tech/news/instagram-black-lives-matter-racism-harassment-biasalgorithm-a9567946.html [aufgerufen am 07.07.2020].
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GEGENBEGRIFFE Eine Gegenbewegung zur Schnelligkeit des Instagram-
mens stellt die „Slow Photography“ dar. Dabei handelt es sich um eine mediale Praxis, die als Reaktion auf die rasante Verbreitung der digitalen SmartphoneFotografie entstanden ist und der schnellen Verfügbarkeit und Beliebigkeit von millionenfach geposteten Smartphone-Bildern eine Entschleunigung von fotografischen Verfahren entgegenzusetzen versucht. Die Ausrichtung und Zielsetzung der „Slow Photography“ definiert Tim Wu folgendermaßen:
Steht das Instagrammen für eine plattformspezifische Gebrauchsweise, die das Bildermachen an der Anschlussfähigkeit für Bewertungssysteme wie Follower-Zahlen und Like-Funktionen ausrichtet, versucht die „Slow Photography“, den Erfahrungswert des Fotografierens von dieser Zweckgebundenheit zu befreien. Entscheidend ist dafür eine Perspektivverlagerung vom Produkt zum Prozess. Verschiebt man den Fokus von der Aufnahme zum Verfahren des Aufnehmens, geraten andere mediale Gebrauchsformen in den Blick. Im Vordergrund steht dann nicht mehr das Resultat, sondern der Vorgang seines Zustandekommens, nicht mehr das Fertige, sondern das zu Verfertigende. Insofern ruft die „Slow Photography“ auch Gegenbezeichnungen wie das „Ergebnisoffene“ und „Experimentelle“ auf. Mit einem Zurücktreten hinter die extrem beschleunigten Verfahren der Bildverarbeitung des Instagrammens ist eine Verlangsamung verbunden, die auch Momente der Störung einschließt. Die Unsicherheit der Ausrichtung eines Bildes in den Vordergrund zu rücken, bedeutet, das Sich-Ereignen von Zufälligem und Unerwartetem in den Blick
I
Gegenbegriffe Instagrammen
The real victim of fast photography is not the quality of the photos themselves. [...] We lose something else: the experimental side, the joy of photography as an activity. And trying to fight this loss, to treat photography as an experience, not as a means to an end, is the very definition of slow photography. Defined more carefully, slow photography is the effort to flip the usual relationship between process and results.29
29 Wu: The Slow Photography Movement. In: Slate. Unter: https://slate.com/human-interest/
2011/01/the-slow-photography-movement-asks-what-is-the-point-of-taking-pictures.html [aufgerufen am 07.07.2020].
189
zu nehmen, also jene Unwägbarkeiten zuzulassen, die eine auf Effizienz zielende Plattformstruktur tunlichst auszuschließen versucht.
Perspektiven Instagrammen
PERSPEKTIVEN Von der ursprünglichen Idee der Entwickler, einen reinen Online-Fotodienst bereitzustellen, hat sich Instagram inzwischen weit entfernt. In den letzten Jahren wurden die Funktionen der Plattform zunehmend erweitert, sodass sich auch die Praktiken des Instagrammens flexibilisiert und ausdifferenziert haben:
Wie andere soziale Netzwerke auch ist Instagram ein dynamisches System, das auf Seiten der Anbieter von dem Gebot der ständigen Steigerung der Nutzer/ innenzahlen und damit auch der Behauptung gegenüber konkurrierenden Angeboten angetrieben wird und das deshalb den Gebrauchsweisen und Bedürfnissen der Nutzer/innen entgegenkommen und neue antizipieren muss.30
Zwei Tendenzen zeichnen sich dabei ab: die zunehmende Amalgamierung von Bildern und grafischen Elementen einerseits und die Ablösung von der einstigen Konzentration auf statische Fotografien zugunsten einer zunehmenden Implementierung von beweglichen Bildformen andererseits. Hinsichtlich der ersten Tendenz ist zu bemerken, dass grafische Formen und Symbole wie Emojis, Herzchen oder Sternchen auf Instagram immer weiter in das Bild selbst einrücken. Waren die geposteten Fotos, die darunterliegende Like-Zeile sowie die weiter unten positionierte Kommentarspalte einst klar voneinander getrennt, ist inzwischen eine deutliche Durchdringung von Bild und Schrift, Foto und Grafik zu erkennen. Vorangetrieben wird diese Annäherung von vormals disparaten Elementen durch eine Erweiterung von Features, die dazu dienen, das Bild mit zahlreichen medialen Effekten zu überziehen. Dazu gehört etwa das Einfügen von Smileys und Schriftelementen, weiterhin auch das Einbetten von Stickern und Gif-Grafiken. Die vormalige Beschränkung auf fotospezifische Filter, die eine Bearbeitung des Bildes entlang von Parametern wie Farbtemperatur, Helligkeit oder Schärfe-Einstellungen ermöglichten, wird nun durch Verfahren der Einblendung ergänzt, die das Bild mit Zusatzinformationen anreichern. Dabei ist davon auszugehen, dass
30 Gerling/Holschbach/Löffler: Bilder verteilen, S. 51.
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Perspektiven Instagrammen
diese Entwicklungstendenz die Art, wie wir in und mit Bildern kommunizieren, zunehmend transformieren wird: „Absehbar ist jetzt schon, dass sich grafische und fotografische Ästhetiken weiter vermischen, dies vor allem mit dem Ziel, Bildern noch klarer eine jeweils bestimmte Gefühlsqualität zu verleihen, sie zu gut verständlichen Symbolen zu überhöhen oder sie so stark zu pointieren, dass ihnen sogar annähernd die Prägnanz eines Aussagesatzes zukommt.“31 Entsprechend könnten die Gebrauchsweisen des Instagrammens zukünftig durch eine Reorganisation von Bildformen geprägt sein, die sich von der Mehrdeutigkeit der Fotografie ab- und der Eindeutigkeit einer intentional gestalteten Bildbotschaft zuwenden. Eine weitere Entwicklungstendenz des Instagrammens betrifft die zunehmende Integration von Bewegtbild-Elementen, d.h. die Erweiterung der Plattform durch Angebote, die nicht länger von statischen, sondern von kinetischen Bildformen ausgehen. Dabei erstreckt sich die Mobilisierung des Bildes32 über mehrere Ebenen: Sie betrifft sowohl die Bewegung im Bild (z.B. über den Boomerang-Effekt, der das sich loopartig wiederholende Vorwärtsund Rückwärtslaufen einer Aufnahme ermöglicht) als auch die Bewegung zwischen Bildern (z.B. über die Story-Funktion, in der Fotos oder Videos zu einer kurzen Bilderserie angeordnet werden können). Zu den weiteren Bewegtbildformen des Instagrammens gehören das 2018 eingeführte Videoportal Instagram TV (kurz IGTV), das den Upload dauerhaft gespeicherter Videos ermöglicht, sowie die 2020 veröffentlichte Kurzvideo-Funktion Reels, durch die 15-sekündige Remix-Clips erstellt werden können.33 Bereits die Bezeichnungen Story, TV und Reels zeigen, wie weit sich das Begriffsumfeld des Instagrammens inzwischen ausgedehnt hat: Aufgerufen werden nun nicht mehr ausschließlich Praktiken des Fotografierens, sondern zunehmend auch Produktions- und Rezeptionsweisen, die aus dem Bereich der audiovisuellen
31 Ullrich: Instant-Glück mit Instagram. In: Neue Zürcher Zeitung. Unter: https://www.nzz.
ch/feuilleton/instant-glueck-mit-instagram-1.18096066 [aufgerufen am 07.07.2020].
32 Zu dieser Art der Bild-Mobilität vgl. ausführlich: Gotto: Beweglich werden. In: Ruf (Hrsg.):
Smartphone-Ästhetik, S. 225–242.
33 Sowohl Instagram Stories als auch Instagram Reels sind Übernahmen von Features, die zuvor
von anderen Sozialen Netzwerken entwickelt wurden: Die Story Funktion geht zurück auf Snapchat, die Reel Funktion erinnert stark an das Videoangebot von TikTok.
191
Forschung Instagrammen
Bewegtbildmedien stammen. Auch wenn das Prinzip der Kompaktheit und Kürze in den beweglichen Formen des Instagrammens immer noch erkennbar ist,34 zeichnet sich hier eine Tendenz zur Streckung und Dehnung ab, die perspektivisch mit einer Stärkung der Serialisierung und Narrativierung des Instagrammens verbunden ist. FORSCHUNG Forschungen zu Praktiken des Instagrammens setzen bei einem profunden Wandel an, dem das fotografische Bild im Zeitalter der Digitalisierung einerseits unterliegt und den es andererseits selbst vorantreibt: „The digital turn, and with it, increased use of location-aware technologies, has yielded innovative image applications and posed new questions about the status and value of the image. These applications rely on algorithmically defined relations between the viewing subject and the world viewed, offering robust alternatives to the visual economies of the past.“35 Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass die Gebrauchsweisen des Instagrammens sich nicht länger am einzelnen, unveränderbaren Bild ausrichten, sondern in die Praktiken und Potentiale des mobilen Medienhandelns eingebunden sind.36 Dazu gehören algorithmisch operationalisierte Verfahren des Gestaltens, Verteilens und Kommunizierens, die Bildverhältnisse und -verständnisse nachhaltig verändern. Einige Forschungsansätze gehen dabei von einer neu entstehenden Bildzeichen-Praxis aus, die vor allem durch die Filter-Verfahren des Instagrammens geregelt und gesteuert wird,37 andere leiten aus dem sich wandelnden Bildstatus eine „Krise der Repräsentation“38 ab, und wieder andere betonen die sich ändernden
34 Die maximale Länge für Video Content im Instagram Feed beträgt 60 Sekunden, für Insta-
gram TV 10 Minuten.
35 Uricchio: The Algorithmic Turn. In: Visual Studies, S. 25–35. Zu den Implikationen des
„algorithmic turn“ vgl. weiterhin Røssaak: Algorithmic Culture: Beyond the Photo/Film Divide. In: Røssaak (Hrsg.): Between Stillness and Motion, S. 187–203. 36 Vgl. Manovich: The Mobile Generation and Instagram Photography. In: Tellería (Hrsg.): Between the Public and the Private in Mobile Communication, S. 262–278. 37 Vgl. Poulsen: Filtered Aesthetics. In: Tønnessen/Forsgren (Hrsg.): Multimodality and Aesthetics, S. 258–273. 38 Rubinstein/Sluis: The Digital Image in Photographic Culture: Algorithmic Photography and the Crisis of Representation. In: Lister (Hrsg.): The Photographic Image in Digital Culture, S. 22–40.
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s ozialen Dynamiken, die durch die visuellen Kommunikationsformen des Instagrammens beschleunigt werden.39 Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Praktiken des Instagrammens als einflussreichen Teil der Mediennutzung begreifen, der gegenwärtige Bildkulturen zunehmend prägt. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen daher visuelle Vernetzungs- und Verteilungsprozesse sowie die technologische Modifizierbarkeit des Bildes samt seiner kommunikativen Anschlussoperationen.
Forschung Instagrammen
I
39 Vgl. Serafinelli: Digital Life on Instagram.
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KONSUMIEREN HEIKO CHRISTIANS
ANEKDOTE Das engl. Verb für ‚einen Schrank aufräumen‘ lautet seit einiger
K
Anekdote Konsumieren
Zeit ‚to kondo‘. Es geht zurück auf eine Japanerin namens Marie Kondo, die Bücher und eine eigene Fernsehserie (bei Netflix) darüber produziert, wie man achtsam, dankbar und Verzicht leistend seine Wohnung, das heißt: sein Leben, aufräumt. Marie Kondo hat der Methode einen eigenen – ihren – Namen gegeben: die KonMari-Methode. Am Ende hat man deutlich weniger ‚Zeug‘ in seiner Wohnung als vorher, alles Verbliebene ist an seinem neuen Platz, die größere Übersicht über die Dinge geht auf Seele und Lebensführung über. Das Ganze ist offenbar so schlagend, dass es, in Buchform, bisher in 27 Sprachen übersetzt wurde. Vor die Bildschirme bannt es – ebenfalls weltweit – nur noch in Millionen anschreibbare Zuschauer*innen-Mengen.1 Wenn man die Methode einmal begriffen und erfolgreich praktiziert hat, kann man die freiund aufgeräumten Regale, Sideboards und Schubladen, die Konsolen, Fensterbänke und Beistelltische mit neu gekauftem ‚Zeug‘ – aus Marie Kondos eigenem exklusivem Webshop – wieder vollstellen.2 Dieser Erfolg ist kein Zufall. Marie Kondo hat sehr grundlegende Aspekte und Gesetze des Konsumierens begriffen und effektiv instrumentalisiert: Konsumieren braucht wenige, nicht ganz geklärte Motive, viel Platz und geregelten Nachschub über entsprechende Kanäle. Aber sie hat noch etwas begriffen, was erst unter den Bedingungen eines leistungsfähigen World Wide Web optimal realisierbar ist: Konsumieren muss – im Gegensatz zum besinnlichen Aufräumen – immer schnell(er) gehen. (Auf dem Feld des Genusses illustriert das sehr gut die Entwicklung von der aufwendig gestopften Pfeife zur hektischen Zigarette oder generell zur crap economy.)3 Marie Kondo bringt den Gegensatz
1 Vgl. Kondo: Magic Cleaning. 2 Den Hinweis auf Marie Kondos Webshop-basiertes Askese-Programm verdanke ich An-
dreas Leutzsch und seinem Besuch in meinem BA-Seminar ‚Konsum‘ im Wintersemester 2019/20 an der Universität Potsdam. Ihm sei hier ausdrücklich gedankt. 3 Vgl. das Kapitel ‚Evolution des Rauchens‘. In: Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft, S. 122–128 und Woloson: Crap.
197
Anekdote Konsumieren
von ‚schnell‘ und ‚langsam‘ im Akt des – KonMari genannten – Konsumierens elegant und ohne die typische Substitution von Gutem durch (natürlich noch) Besseres unter einen Hut: indem sie uns stattdessen lehrt, zugleich ‚Zeug‘ wegzuwerfen und neue ‚Achtsamkeit‘(-sdinge) zu erwerben, die angeblich kein ‚Zeug‘ sind oder werden. So scheint KonMari das Konsumieren zum Stillstand zu bringen, die Befreiung von der Gier zu versprechen, obwohl es doch seinerseits auf Wegwerfen und Neuanschaffung beruht. (Auch wenn hier und da die Aufbewahrung alter Kartons empfohlen wird.) Nur der vom selben Bildschirm, auf dem auch die Verzichtslektionen laufen, jederzeit mögliche Klick im parallel geführten Webshop lässt diese einigermaßen abstruse Kombination von Verzicht und Vermehrung als etwas anderes erscheinen, als es ist. Tatsächlich ist es eine mustergültige spätindustrielle Variante desjenigen zyklischen Geschehens, das seit dem ausgehenden 18. Jh. erstmalig ‚Konsum‘ heißt. Kondos seltsamer Verzichtskonsum ist, als zeitgemäße Form der Askese, nicht nur nach Marx‘ Diktum (von der zweifelhaften Wiederkehr politisch-religiöser Ideen und Ereignisse) eine äußerst aufschlussreiche Farce. Etwas Kaufbares – so inszeniert, dass es kurzzeitig die Überzeugung entstehen lässt, vom Kaufbegehren erlösen zu können – kann und wird gekauft werden. Das ist das KonMari-Prinzip, das bei 293,6 Milliarden allein in Deutschland 2019 durchschnittlich pro Tag versendeten Emails nun auch für die virtuelle Schreibtischplatte (Desktop) empfohlen wird und schon eine neue Generation von ‚Ordnungscoaches‘ hervorgebracht hat, die man selbstverständlich auch per Email buchen kann.4 Diese Anwendbarkeit eines Prinzips, das offensichtlich für die materielle Welt entwickelt worden ist, auf die virtuelle Dimension ist weniger zufällig als es zunächst scheint: Die Übertragung wird vielmehr dem Umstand gerecht, „that the relationship between materiality and immateriality is no more straightforward in secular than in religious domains“.5 Leistungen, Mengen, Geschwindigkeiten oder Prinzipien aus der einen Welt werden in der jeweils anderen imitiert, modifiziert oder gesteigert. Dieser Umstand führt auch dazu, dass man nicht einfach
4 Vgl. Stein: Wenn der Überblick verloren geht, kommt der Stress. In: Die Welt, S. 34. 5 Miller: Stuff, S. 74 f.
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zwischen Konsumieren und Medien-Konsumieren unterscheiden kann, sondern vor allem ihr Zusammenspiel, ihre Dialektik sehen muss. Vom KonMari-Prinzip aus werden so auch Askese6 und Verschwendung7, als die von der Ethnologie und der Religionssoziologie analysierten traditionellen Negationen eines geregelten und gemäßigten Verbrauchs, begreifbar als nur noch zwei Tasten einer neuen, breiteren Klaviatur, die wir seit den 1950er Jahren ganz unverblümt ‚Konsumgesellschaft‘8 nennen. Über diese ‚Konsumgesellschaft‘ schrieb Arnold Gehlen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung schon, dass „ihr System nicht nur auf der Voraussetzung des Rechtes auf Wohlleben steht“, sondern dass „es dazu tendiert, die Gegenposition, nämlich das Recht auf den Verzicht auf Wohlleben, unmöglich zu machen, und zwar indem es die Konsumbedürfnisse selbst produziert und automatisiert“.9
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zurück, deren gewaltiger Bedeutungshorizont schon die ganze Komplexität des Vorgangs und Vorgehens bis zur Gegenwart umfasst: ‚consumere‘ und ‚consummare‘. Die wörtlichen Übersetzungen – zusammennehmen und zusammenrechnen – geben das noch nicht her, aber die vollständigen Einträge eines verlässlichen lat.-dt. Wörterbuchs ändern die Lage: „con-sumo, sumpsi, sumptus etwas verwenden auf; (Zeit) hinbringen; verschwenden, vergeuden + aufzehren; abnutzen, erschöpfen, vernichten [beseitigen, aufheben].“10 Die überlieferten Bedeutungen von ‚consumere‘ lauten also gestrafft: (a.) etwas ‚verwenden auf‘; mit den negativen Varianten ‚verstreichen lassen‘ und ‚vergeuden‘. (b.) etwas ‚verbrauchen‘ und ‚verzehren‘; mit den negativen Konnotationen ‚verprassen‘, ‚erschöpfen‘ und ‚vernichten‘. Im gesamten Mittelalter ist das Wortfeld im dt.
Etymologie Konsumieren
ETYMOLOGIE Das dt. Verbum konsumieren geht auf zwei lat. Wortstämme
6 Dazu grundlegend Sorgo: Von der christlichen Askese zur Warenkultur. In: Dies. (Hrsg.): Askese und Konsum, S. 76–121. 7 Vgl. Bergfleth: Theorie der Verschwendung. Dagegen setzt Lotter: Verschwendung – Wirtschaft braucht Überfluss: Die guten Seiten des Verschwendens auf Verschwendung als Kern der ‚vernünftigen Ökonomie‘. 8 Dazu Wildt: Am Beginn der ‚Konsumgesellschaft‘ und König: Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. 9 Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. In: Ders.: Arnold Gehlen – Gesamtausgabe, S. 1–137, hier: S. 89. 10 (Art.) consumo. In: Der Taschen-Heinichen, S. 103.
199
Etymologie Konsumieren
Sprachraum ungebräuchlich.11 Erst in der Frühen Neuzeit, im 16. Jh., wurde im Dt. an den Begriff ‚consumere‘ angeknüpft.12 Anders verhält es sich im Falle von „consummo [summa] zusammenrechnen, vollenden, absolut seine Dienstzeit; zur Vollkommenheit bringen [erledigen, ein Ende bereiten]“.13 Denn dem Wortfeld von ‚consummo‘ entstammt – laut der Bibelübersetzung des Hieronymus, der späteren ‚Vulgata‘ (8./9. Jh.) – auch das letzte, prominente Wort von Jesus Christus: „Consummatum est“ – „Es ist vollbracht“ (bezogen auf die Passion).14 Im Franz. tauchen beide Begriffe, im 12. Jh. aus dem Kirchenlatein in die (romanische) ‚Volkssprache‘ abwandernd, wesentlich früher auf. Obwohl ihre jeweils zentralen Bedeutungen ‚verzehren‘ und ‚vollenden‘ kaum Überschneidungen aufzuweisen scheinen, kommt es zu einem gemischten Gebrauch, der schließlich sogar Gegenstand in einer sprachkritischen Abhandlung von 1647 werden sollte.15 Mit dem Vorbildcharakter des französischen Absolutismus (und seiner Sprache) im Europa des 17. und 18. Jhs. etablierten sich die Begriffe (z. B. über die zunächst auf Französisch gelehrte Kameralistik, Kameralwissenschaft16) auch zusehends in den deutschsprachigen Territorien. ‚Verwenden‘ bis ‚vernichten‘, ‚zusammenzählen‘ bis ‚vervollkommnen‘ und ‚ein Ende bereiten‘ – das ist eine extreme Bedeutungspalette. Sie übersteigt bei weitem das in den Geschichts- und Sozialwissenschaften dominante, unterdessen klassische Verständnis des Konsumierens als eines „Verbrauchs, der über den Subsistenzbedarf hinausgeht, Güter und Dienstleistungen“ betrifft, „die nicht aus der Eigenwirtschaft stammen, sondern dem Markt entnommen
11 12 13 14
Vgl. Kleinschmidt: Konsumgesellschaft, S. 9. Vgl. (Art.) konsumieren. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 710. (Art.) consummo. In: Der Taschen-Heinichen, S. 103. Vulgata: „Cum ergo accepisset Iesus acetum dixit consummatum est et inclinato capite tradidit spiritum.“; Zürcher Bibel, 2007 ( Johannes, 19:30): „Als Jesus nun den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und er neigte das Haupt und verschied.“. 15 Die beste (auch beste etymologische) Untersuchung des gesamten Feldes, der dieser Abschnitt vieles verdankt, bei Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge, S. 43–50. 16 Der Kameralismus – von ‚Kammerkollegium‘ als Bezeichnung für den Kreis höherer Staatsdiener um 1700 – stellt „eine Verbindung von volkswirtschaftlichen und finanzwissenschaftlichen Theoremen mit verwaltungstechnischen Grundsätzen dar“; Gömmel: Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800, S. 42.
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Etymologie Konsumieren
werden, eine Form der Verwendung“ also, „die formal frei ist und individuelle Präferenzen und die eigene Persönlichkeit bzw. die Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck bringt“.17 Schon die Wandlung der Begriffe auf diesem Feld, betont Frank Trentmann, zwischen dem 17. und dem 19. Jh. gleicht vielmehr einer „rätselhaften Metamorphose“.18 Bis zur Mitte des 19. Jhs. wird aus der Aus- und Verzehrung der Vorräte und Körper ein immer positiver bewerteter Wirtschaftsfaktor und aus den ‚Konsumenten‘ werden bis 1900 umworbene Hauptakteure. Franz. und engl. Adaptionen von consumptio für Ver- oder Aufzehrung lagen relativ schnell, mit dem Spätmittelalter, vor (als ‚consumation‘ bzw. ‚consumption‘). Ihr Bedeutungsspektrum erstreckte sich wiederum von der Schwindsucht über das Verbrennen und Zerstören bis zum Einkochen (consommé).19 Für den deutschsprachigen Raum bestand die Produktivität dieses lat. Wortstamms vor allem darin, dass sie der territorialherrschaftlichen Besteuerung von Waren (nach dem Vorbild des französischen Merkantilismus) im Dt. ab 1700 einen Namen gab (‚Staaten‘ gab es bekanntlich noch nicht): Als General- oder Consumptions-Accise, „vermöge deren von jeder consumirlichen Sache ein gewisses Geld entrichtet wird. Derer Justiz [Gerechtigkeit, H.C.] läßt sich daraus ganz leicht defendiren [rechtfertigen, H.C.], weil man bemercket, daß dieselbe eine gar gute Proportion habe. Arme Leute, die nicht viel consumiren, geben wenig, reiche Leute geben viel.“20 Gleichwohl wurde der ökonomische Kontext des Wortfeldes immer wieder auch zurückgewiesen und in anekdotischer Zuspitzung ließ es seine ganze Reichweite aufblitzen. Ein auch von Ernst Jünger gern zitiertes Wort, das Chateaubriand auf den Lippen des Feldherrn Napoleon gelesen haben will, brachte den spezifischen Verbrauch des Krieges an ‚Menschenmaterial‘ auf einen bemerkenswerten Begriff: In den untätigen Augenblicken der Schlacht, wenn alle Reserven auf dem Marsch waren, weil die Front der französischen Armee unter den feindlichen Attacken
17 Prinz: (Art.) Konsum. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Sp. 1129–1135, hier: Sp. 1129 f. 18 Trentmann: Herrschaft der Dinge, S. 13. 19 Vgl. Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge, S. 46 f. 20 (Art.) General- oder Consumptions-Accise. In: Zedlers Grosses vollständiges Universal-
Lexicon aller Wissenschaften und Künste, S. 434.
201
dahinsank, immer dann also, wenn die Reihen seiner Soldaten besonders rasch und dramatisch abschmolzen, soll Napoleon gemurmelt haben: ‚consommation forte‘ (‚starker Verzehr‘).21
Etymologie Konsumieren
Das Bild des so großen Verzehrs an Menschenleben für die Grande Nation (als vollendetes Einstehen für ihre Idee) bleibt ambivalent: Einerseits denkt man ans langsame Einkochen, andererseits an einen unbarmherzigen Gott. „Der Herr/Dein Gott ist ein verzehrendes Feuer“ [5 Moses 4,24], heißt es im Alten Testament. Die Liebe des eifersüchtigen Gottes verzehrt die Gläubigen. Das ist eine Wendung, die Jean Calvin als ‚feu consumant‘ in den harten konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jhs. aufgegriffen hat.22 Fast 300 Jahre später formulierte Marx die Einsicht, dass auch der nichtselbstständige Produzent im Produktionsprozess konsumiert werde. Dabei schwingt noch viel Gewalt von Calvins eifersüchtigem Gott mit: Es tut nichts zur Sache, dass der Arbeiter seine individuelle Konsumtion sich selbst und nicht dem Kapitalisten zulieb vollzieht. So bleibt der Konsum des Lastviehs nicht minder ein notwendiges Moment des Produktionsprozesses, weil das Vieh selbst genießt, was es frisst. Die beständige Erhaltung und Reproduktion der
Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals.23
Im ganzen 19. Jh. wird sich dann in den offiziell verantwortlichen Disziplinen aber ein völlig anderes, ein positives, ein paradoxerweise produktives Verständnis von Konsum (für die einzelnen Volkswirtschaften) entwickeln. Ausformulieren wird das theoretisch erst unter anderem Carl Mengers, am ‚Gebrauchswert‘ der Güter orientierte mathematische ‚Grenznutzen‘-Theorie, die eine Art abfallende Linie der Konsumintensität zeichnet, insofern dieselben Güter für die Konsumenten beim wiederholten Kauf – berechenbar – an Nutzen verlieren.24 Das Vertrauen in eine vernünftig-selbstregulative – überirdische – Kraft und Gerechtigkeit des Konsumierens auf einem ‚Markt‘ ist im 19. Jh. schließlich
21 Schneider: Der Magen des Saturn. In: Frankfurter Rundschau (Beilage ‚Zeit und Bild‘), S. 19. 22 Vgl. Schrage: Verfügbarkeit, S. 44. 23 Marx: Das Kapital. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, S. 597. 24 Hinweis bei Trentmann: Herrschaft, S. 206; Vgl. Menger: Grundsätze der Volkswirth-
schaftslehre.
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so groß, dass die revolutionären Eingriffe in die Wirtschaftsordnung, die nach Marx’ Theorie aufgrund einer alles-vertilgenden Gewalt der Konsumtion unabdingbar sind, gerade überflüssig erscheinen. Ein 1910 erschienenes HANDWÖRTERBUCH DER STAATSWISSENSCHAFTEN hält das in dem Artikel DIE ALLGEMEINEN VERHÄLTNISSE DER KONSUMTION in einer exemplarischen Momentaufnahme vor dem Ersten Weltkrieg fest:
Erst die Produktions- und Konsumtionsexzesse (an Nachschub jeglicher Art) des Ersten Weltkriegs werden dieses Verständnis wirklich erschüttern. Die brachiale Umsetzung marxistischer Analysen, mit der Oktoberrevolution, mitten in diesem Krieg ist folgerichtig. Die Bürgerkriegs-Revolution der Bolschewiki lieferte, neben dem Weltkrieg selber, den besten Beweis für Marx‘ Thesen von der exzessiven Konsumtion des ‚Menschenmaterials‘ in der industriellen Mobilmachung. Ernst Jünger beschreibt 1932 in seinem Traktat vom ‚Arbeiter‘ das „Verhältnis von Produzenten und Konsumenten“ schließlich als „maßlose Konkurrenz“. Der Konsum und das Konsumieren verlieren bei Jünger ihre produktive Potenz endgültig, sind eigentlich nicht mehr Faktoren einer „planmäßigen Ökonomie“, fallen zurück auf das vormoderne Bedeutungsspektrum des Verzehrens und Verbrennens:
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Etymologie Konsumieren
Die objektive Konsumtion in ihrer konkreten Gestaltung liefert in jeder Gesellschaftsform die eigentliche leitende und bestimmende Norm für die Ausdehnung und die qualitative Verteilung der Produktion, da diese ja nicht Selbstzweck, sondern nur das Mittel zur Befriedigung der Konsumtionsbedürfnisse ist. Am deutlichsten wird dies ersichtlich, wenn man sich die bestehende Gesellschaftsordnung durch eine gemeinwirtschaftliche ersetzt denkt, in der die Verteilung der Güter zur Konsumtion planmäßig auf Grund einer einheitlichen Organisation stattfindet.25
Wir leben in Zuständen, in denen sich weder die Arbeit noch der Besitz noch das Vermögen rentieren und in denen sich der Gewinn in demselben Maße verringert, in dem der Umsatz steigt. […] Eine maßlose Konkurrenz belastet Produzenten und Konsumenten ohne Unterschied – als Beispiel sei die Reklame
25 (Art.) Die allgemeinen Verhältnisse der Konsumtion. In: Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften, S. 117–151, hier: S. 117.
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Etymologie Konsumieren
genannt, die sich zu einer Art von Feuerwerk entwickelt hat, das Unsummen verpufft, zu deren Aufbringung jeder seinen Tribut zu zahlen hat.26
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das faschistische Narrativ der ‚Volksgemeinschaft‘, dem sich die Konsumtion von Mensch und Material im ewigen ‚Daseinskampf‘ (gegen innere und äußere Feinde) unterzuordnen hatte, dann seinerseits vorerst ‚verbrannt‘. An seine Stelle trat die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft als ‚Gesellschaft des Wiederaufbaus‘ und des ‚bescheidenen Wohlstands für alle‘.27 Diese neue Erzählung – im Vollbild dann ‚Konsumgesellschaft‘ genannt –, die das Konsumieren erneut ganz zentral platzierte, ist eine Übernahme aus (kritischen) populären anglo-amerikanischen Selbstbeschreibungen von Vance Packard (THE HIDDEN PERSUADERS, 1957) oder David Riesman (THE LONELY CROWD, 1950), einer in Nordamerika schon in den 1930er Jahren entstandenen und analysierten Gesellschaftsform.28 Bestseller in Deutschland wurden einige dieser Werke erst 1958 in den entsprechenden Übersetzungen. Gelesen aber wurden vergleichbare soziologische Schriften aus den USA29 von Arnold Gehlen, dem wichtigsten frühen deutschsprachigen Kritiker und Theoretiker der Konsumgesellschaft, schon ab 1947, noch im Militärentlassungslager, „in einer amerikanischen Bibliothek in Karlsruhe“.30 Gehlens 1949 gestartete Analysen bieten ein ganzes Arsenal neuer und älterer Begriffe auf wie ‚Konsumsteigerung‘, ‚Konsumdiktatur‘, ‚Konsumnormen‘, ‚Konsumbedürfnisse‘, ‚Konsumterror‘, ‚Konsumquietismus‘ usw. Das sind Begriffe, die sich nun endgültig in das Selbstverständnis und Langzeitgedächtnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft als ‚Konsumgesellschaft‘ einschreiben. Ihnen werden, bis in die Gegenwart, nur wenige, neue zeitgemäße Vokabeln
26 Jünger: Der Arbeiter. In: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 188. 27 Dazu kurz und bündig Schildt/Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte, S. 184–189. Ausführ-
lich: König: Geschichte der Konsumgesellschaft, S. 108–456.
28 Eine Zusammenfassung dieser frühen nordamerikanischen Forschung liefern Douglas/
Isherwood: The World of Goods, S. 43–55. Für die neuere Forschung s. Southerton (Hrsg.): Encyclopedia of Consumer Culture. 29 Vgl. Packard: Die geheimen Verführer und Riesman: Die einsame Masse. Vgl. auch Rutschky: Wie wir Amerikaner wurden. 30 Rehberg: Nachwort. In: Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften, S. 639–665, hier: S. 640 f.
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hinzugefügt: Von ‚Konsumguerilla‘31 ist die Rede, womit die politischen Leitbilder gewechselt hätten, oder vom ‚Prosumer‘, der sich als ‚produzierender Konsument‘ (auf entsprechenden Internet-Plattformen) der Ebene des Paradoxalen wieder nähert. KONTEXTE Die vorindustrielle, vormoderne Wirtschaft war – nach Otto
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Brunner – am ‚ganzen Haus‘, am oikos orientiert.32 Diese Form des Wirtschaftens produzierte keine Überschüsse für städtische Märkte, sondern Bedarfe für einen über eine moderne ‚Kernfamilie‘ weit hinausgehenden Hof und Haushalt im Rhythmus des Erntejahres. Ethik und hausväterliches Wirtschaften gingen dabei ‚Hand in Hand‘: „To be paternal means to permit no waste.“33 Was nach streng hierarchisch-ungestörter Idylle, Einklang mit der Natur und dem Fehlen unkalkulierbarer Bewegungen und Dynamik klingt, war aber de facto hochgradig störanfällig: Missernten, Heeresfolge und erzwungener Kriegsdienst, Kriege und Scharmützel um territoriale Ansprüche in der Umgebung sowie interne Streitigkeiten um Erbfolge und Besitz ließen die Ruhe jederzeit trügerisch erscheinen. Ein Blick in die ODYSSEE, auf die Verhältnisse im Haus des abwesenden und dann zurückkehrenden Odysseus, auf das Wüten der Freier, zeigt vieles von dem, was bis zum Westfälischen Frieden von 1648 in Europa Gültigkeit haben sollte.34 Nach Marshall McLuhan gab es schon mit den römischen Legionen buchstäblich erste ‚Konsumentenheere‘, die das Wirtschaftsgefüge ganzer Regionen umkrempelten: In der Welt Roms war das Heer die Arbeitskraft eines mechanisierten, Reichtum bringenden Prozesses. Mit Soldaten, als einheitlichen und auswechselbaren Teilen, erzeugte und lieferte die römische Militärmaschinerie die Waren auf sehr ähnliche Weise wie die Industrie in der Frühzeit der industriellen Revolution. Handel folgte den Legionen. Noch mehr: Die Legionen waren selber die
31 Vgl. Richard/Ruhl (Hrsg.): Konsumguerilla. 32 Vgl. Brunner: Das ‚ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘. In: Ders. (Hrsg.): Neue
Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 103–127. 33 Rosenstock-Huessy: Out of Revolution, S. 427. 34 Vgl. Odyssee, XVII.–XXIV. Gesang.
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Kontexte Konsumieren
Industriemaschine; und viele neue Städte glichen neuen Fabriken mit einheitlich geschultem Militärpersonal.35
Für McLuhan ist es nicht die Konsumgesellschaft des vollgültigen Indus triezeitalters, sondern die Präformierung des Konsumentenheeres in der Armee großer Imperien, die dem Konsum – in einer Zangenbewegung von Individualgenuss und Konsumentenheer – den Weg bahnt. Der konsumtive Zugriff folgt dem militärisch-politischen auf den Fuß, könnte man sagen. Seit Werner Sombarts Klassiker zum Thema LUXUS UND KAPITALISMUS von 1912 geht man davon aus, dass erste, frühneuzeitliche Konsumgesellschaften (auch wenn sie nicht so hießen) in den oberitalienischen Stadtrepubliken der Renaissance entstanden und sich etwa 100 Jahre später in Amsterdam, Venedig oder Augsburg fortsetzten.36 Doch eine Einschränkung ist hier entscheidend: Es gab zwar Luxus, der aber stand immer noch „im Dienst der Nachwelt […]. Die Dinge zirkulierten nicht als Ausdruck einer individuellen Auswahl, sondern in einer sozialen Umlaufbahn, die von Gegenseitigkeit und Vertrauen bestimmt wurde. Zudem wurde der freie Fluss der Güter durch moralische Grenzen [und entsprechende Gesetzgebungen, H.C.] eingeschränkt.“37 Bleibt die Frage nach dem Startpunkt eines industriell gedachten und ins Werk gesetzten Verbrauchs der weiteren Umgebung durch den Menschen. Einen Hinweis liefert der amerikanische Kulturtheoretiker Lewis Mumford. Zwischen 1967 und 1970 veröffentlichte er sein umfangreiches Spätwerk DER MYTHOS DER MASCHINE, dem schon 1934 die Studie TECHNICS AND CIVILISATION mit ähnlichen Thesen vorausgegangen war.38 Mumford fragte sich, zu welchem Zeitpunkt – aus technologischer Sicht – der Umgang des Menschen mit sich und seiner Umwelt erstmals einen signifikant konsumistischen Wendepunkt (zur Hemmungslosigkeit) erreicht hatte. Seine Antwort fiel einigermaßen verblüffend aus:
35 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 111. 36 Vgl. Sombart: Luxus und Kapitalismus, S. 30 ff. 37 Trentmann: Herrschaft der Dinge, S. 52 u. 54. Anders argumentiert Jardine: Wordly Goods.
Dazwischen, für Übergänge oder Stufen: Stearns: Consumerism in World History. Eine Fallstudie im Sinne Sombarts zum Buch bei Erlin: Books, Literature, and the Culture of Consumption in Germany, 1770–1815. 38 Vgl. Mumford: Technics and Civilisation.
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Das Unternehmen des Bergbaus hat das Modell für spätere Formen der Mechanisierung dargestellt, – in seiner brutalen Missachtung menschlicher Faktoren, in seiner Indifferenz gegenüber der Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt, in seiner Konzentration auf physikalisch-chemische Prozesse zur Erlangung des gewünschten Materials oder Brennstoffs und vor allem in seiner topographischen und psychischen Isolierung von der organischen Welt des Bauern und des Handwerkers und von der geistigen Welt der Kirche, der Universität und der Stadt.39
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Kontexte Konsumieren
Das Buch, das diesen Abbau oder Konsum der Rohstoffe und (Edel-) Metalle erstmals mittels präziser Illustrationen lehrte, das Ursprungsbuch der Industrialisierung, mit dem theoretisch alle, die über die Fähigkeit zu lesen und über ein geeignetes Grundkapital verfügten, sich an die Arbeit machen konnten, war Georg Agricolas VOM BERG- UND HÜTTENWESEN (DE RE METALLICA) von 1556. Es war gleichzeitig eines der ersten Bücher, das die Möglichkeiten des Buchdrucks und der Holzschnitt-Technik mechanisch vereinte.40 Als ein initiatorisches technologisches Hand- und Fachbuch der Frühen Neuzeit zeigt es beispielhaft, wie das tradierte Wissen verschworener Gemeinschaften (Zünfte) aufgesprengt und über Frühformen eines anonymen Medienmarkts letztlich global konsumierbar und anwendbar gemacht wurde.41 Die allgemeine (akademische) Theorie zu dieser zuerst nur lokalen und spezialisierten brutalen Praxis proto-industriellen Wirtschaftens kam viel später und aus einer unerwarteten Richtung, wie Wolfgang Schivelbusch gezeigt hat. Eine nicht-anthropozentrische Theorie der frühindustriellen Landwirtschaft ebnete den Weg zu einer nochmaligen entscheidenden Ausweitung einer solchen Praxis auf alle möglichen Gebiete. Erst „der völlig unromantische Rationalismus der Physiokratie“, die „Definition des physiokratischen Ackers als eine Fabrik oder eine Maschine zur Produktion von Weizen“, zwang bspw. Adam Smith seinen rein „handwerklichen Produktionsbegriff“42 zu verabschieden und über die ‚Arbeitsteilung‘ zu einem ähnlich maschinellen Bild der Ökonomie zu kommen wie die französischen Physiokraten.
39 Mumford: Mythos der Maschine, S. 502. 40 Vgl. Eisenstein: Die Druckerpresse. 41 Vgl. Agricola: Vom Berg- und Hüttenwesen. 42 Alle Zitate in diesem Absatz aus Schivelbusch: Das verzehrende Leben der Dinge, S. 20 f.
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Doch dasjenige Bild oder Modell, das die Geld- und Güterwirtschaft zu immer intensiverer Zirkulation ihrer Elemente antrieb, in die der Mensch nur als eine Art Durchgangsort eingepasst werden musste, entstammte weder dem Bergbau noch der Landwirtschaft, sondern wurde seit 1600 woanders – zunächst unkoordiniert und in verschiedensten Varianten und Größenordnungen – durchgespielt. Nicht zufällig ist der Unterschied zwischen dem Konsumieren von ‚Medien‘, d. h. von im engeren Sinne ‚technisch-medial‘ bedingten Inhalten und Strukturen, und der ‚Dinge‘ (etwa Rohstoffen, Werkzeugen oder Lebensmitteln) ein Problem für die Kommunikations- und Medienwissenschaft. Es ist nicht auf Anhieb erkennbar, welche Verhältnisse sich an welchen ausrichte(te)n. Instinktiv ordnet man den Nachrichtenverkehr dem Warenhandel nach, der aus der jüngeren Menschheitsgeschichte auch schwer wegzudenken ist. Instinktiv trennt man ‚Kulturkonsum‘ und Konsum, lässt den Begriff ‚Kulturkonsum‘ selbst (als Konzeptbegriff ) aber dann unerläutert.43 Doch die Reihenfolge und die Interdependenzen werden klarer, wenn man bei der ersten wöchentlich erscheinenden, deutschsprachigen Zeitung von 1609 ansetzt: der Straßburger RELATION: ALLER FÜRNEMEN UND GEDENCKWÜRDIGEN 44 HISTORIEN. Neben dem aus dem Buchdruck übernommenen, standardisierten Schriftbild muss man vor allem die Periodizität als entscheidendes Merkmal der Zeitung identifizieren, denn „die handschriftlichen wie die gedruckten Zeitungen verdanken eben dieser Periodizität des Postverkehrs das Erscheinen in diesem Rhythmus, der ja bekanntlich überhaupt die Grundlage jeglichen kontinuierlichen Nachrichtenaustausches darstellt“.45 Vom kontinuierlichen Nachrichtenaustausch – mit Nachrichten wurde ja auch gehandelt – bis zum Ideal eines periodisch-rhythmischen, schnellen Warenumlaufs und -absatzes
43 Vgl. North: Genuss und Glück des Lebens. Eine rühmliche Ausnahme (für das 19. Jh.) liefert
Figes: Die Europäer.
44 Die erste Tageszeitung erschien dann 1650 in Leipzig, vgl. Hörisch: Der Sinn und die Sinne,
S. 175 f.
45 Böning: ‚Gewiß ist es/ daß alle gedruckte Zeitungen erst geschrieben seyn müssen‘. In: Willi-
ams/Layher (Hrsg.): Consuming News: Newspapers and Print Culture in Early modern Europe (1500–1800). Sonderheft der Zeitschrift ‚Daphnis‘. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750), S. 203–242, hier: S. 208.
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war es dann nicht mehr weit.46 Es war eigentlich der Schritt (der Nachrichten) „von der zufälligen und ereignisabhängigen Einzelinformation zum kontinuierlichen und stetigen Nachrichtenfluss“.47 Es fehlt nur noch das für den modernen Konsum unabdingbare schnelle Verbrauchen zur Steigerung des ‚Wohllebens‘ (A. Gehlen), das verlässlich Platz schafft für vorproduzierten identischen Nachschub – und das diffuse Begehren nach Neuem, dessen Diffusheit mit der Universalität (und relativen Zusammenhanglosigkeit) des Angebots korrespondiert. Kaspar Stieler, hat diesen Zusammenhang in seinem Buch ZEITUNGS LUST UND NUTZ von 1695 hergestellt:
Es ist Hans Freyers bis heute unübertroffene Kategorien-Lehre des Indus triezeitalters, die den Ort des Medienkonsums und sein Verhältnis zum Güterkonsum erstmalig präzise beschreibbar gemacht hat. Im Zentrum von Freyers Sekundarität des Industriezeitalters steht nicht einfach eine von der primären Unterhaltsfürsorge Sombarts technisch und epochal vollständig emanzipierte sekundäre Zirkulation, sondern eine neue Form. Diese Form heißt die Serie:
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Kontexte Konsumieren
Zu förderst muß dasjenige / was in die Zeitungen kommt / Neue seyn. Denn darum heissen die Zeitungen Novellen / von der Neuligkeit […] Neue Sachen sind und bleiben angenehm: was aber bey voriger Welt vorgegangen / gehöret ins alte Eisen / und ersättiget das Lüsterne Gemüt keines weges. […] Es ist wol nichts Neues mehr unter der Sonne / gleichwol machen die Personen / die Zeit und Umstände / stets etwas Neues / welches hernach ein sonderbares Uberdenken giebet / also / daß auch / aus einer kleinen unachtsamen Begebenheit / in der Folge ein großes herauskommet / welches man nicht gedacht hätte.48
Die Kategorie Serie liegt gleichsam waagerecht zu den bisherigen beiden [Produktion und Konsum, H.C.], sie reicht in beide hinein. Die Serienproduktion von Massengütern ist der reine Fall der industriellen Produktion; ein Lebensstandard, der sich zum wesentlichen Teil aus solchen zusammensetzt, ist der reine Fall des Konsums. Der Seriencharakter ist aber nicht nur eine gemeinsame
46 ‚Speeding the Posts‘ überschreibt Andrew Pettegree diese entscheidende Phase der Frühen
Neuzeit, vgl. Pettegree: The Invention of News, S. 167–207.
47 Würgler: Medien in der Frühen Neuzeit, S. 35. 48 Zit. n. Meierhofer: Alles neu unter der Sonne, S. 276.
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Eigenschaft der beiden, sondern das verbindende Glied zwischen ihnen. Er stimmt sie aufeinander ein.49
Denn die Serie ist kein einfaches, regelmäßiges Ergehen identischer Fabrikate: Zwar betrachtet Freyer „von der Serie her gesehen“ das Prinzip eines stauungsfreien „glatten Umschlags“50 als ein entscheidendes Prinzip des sekundären Konsums, aber der glatte Umschlag wird gerade nicht durch Identität, sondern durch Differenz in der Identität wahrscheinlich – womit sie Stielers Beschreibung der Nachrichten sehr nahekommen: „Die Warenserien des Produktionsapparats würden im Konsum nicht optimal ankommen, sie wären weder dem Bedarf der vielköpfigen Normalverbraucherschaft angepasst noch hätten sie Aussicht, in ausreichendem Maße neue Bedürfnisse zu wecken, wenn sie nicht mit dem Prinzip der Standardisierung das der Differenzierung zu verbinden wüssten.“51 Hans Freyer macht als Vorläufer einer solchen differentiellen Zirkulation von Gebrauchsgütern und Luxuswaren in abgestuften seriellen Produktionen den Merkantilismus Colbert‘scher Prägung in Frankreich aus.52 Jean-Baptiste Colbert (1619–1683), Staatssekretär und Finanzminister Ludwigs XIV.,53 etablierte staatskapitalistische Manufakturen für Tuche, Uniformen, Waffen, Luxusbekleidung und weitere Gebrauchsgüter. Er hatte dabei einen einfachen theoretischen Grundsatz vor Augen: Es musste zunächst die Zirkulation der Güter gedacht, eingerichtet und garantiert werden können, um eine bestimmte Intensität des Konsums und damit einen bestimmten zirkulativen Rückfluss des Geldes an den Staat (u. a. auch durch die Consumptions-Accise, vulgo: Besteuerung) zu erreichen; ein Konsum also, der nicht mehr allein auf die Lebenserhaltung zielt, sondern – abgelöst davon – zu einem sekundären Konsum wird. Es geht hier im Kern schon um die Schaffung der Möglichkeit, die Verbraucher regelmäßig (genauer: unablässig) in die Zirkulation ein- und aussteigen zu lassen, um eine Art KonsumPaternoster. Damit fällt der Blick bei der Analyse des Konsums – und das mag
49 Freyer: Schwelle der Zeiten, S. 248. 50 Ebd., S. 252. 51 Ebd., S. 253. 52 Vgl. Mager: Frankreich vom Ancient Regime zur Moderne. 53 Dazu Sieburg: Das Geld des Königs.
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banal klingen – auf die Form des Angebots und eben nicht auf seine (schiere) Masse, seine (schlechte) Qualität oder seinen (spezifischen) Verwendungskontext. Die zur Zirkulation tendierenden Ströme nahmen füreinander sofort Vorbild- und Mustercharakter an. Die zeitungsförmige serielle Produktion und Konsumtion von Nachrichten, ihr sich dynamisch verstetigender periodischer Umlauf seit dem ersten Erscheinen eines Nachrichtenperiodikums 1609, hatte als ein prototypischer Markt für Neuheiten absoluten Pioniercharakter für angrenzende Bereiche. Auf ganz ähnliche Weise hatte Michel Foucault den diesbezüglichen Einschnitt, die neue Akzentuierung des ‚Umlaufens‘, beschrieben: „Der Kreis des ‚Kostbaren‘ löst sich in der Epoche des Merkantilismus auf. […] Jeder Reichtum ist münzbar und tritt so in Umlauf.“54 Die formalen Prinzipien eines kontrollierten und damit optimalen Konsums waren demnach relativ früh entwickelt. Die zeitliche Taktung des Angebots oder die Umlaufgeschwindigkeit der Güter war so einzustellen – diese Erfahrung macht unterdessen täglich jeder moderne Konsument, jede moderne Konsumentin –, dass der eigentliche kontrollierte Verbrauchszeitraum für das erworbene Gut, die Spanne bis zur nächsten Konsumhandlung, bis zum nächsten Kauf, überschreitet: Wenn etwas ersetzt wird, bevor es verbraucht wurde, läuft der Konsum. Damit aber garantieren die besteuerbaren Kaufaktivitäten (und nicht die intransparenten Gebrauchsaktivitäten) der Konsument*innen einen zumindest temporär planbaren Absatz und erzeugen eine Art kommunikative Kontinuität ‚im Zeichen des Merkur‘ (W. Behringer55). Dieses Ideal der Versorgung (über-)zeichnet 1839 Karl Leberecht Immermann mit seiner Karikatur der (ins Industriezeitalter versetzten) Münchhausen-Figur, die in einen „Journalzirkel einzutreten“ beschließt, der alle Wißbegierigen auf dem Flächenraume der umliegenden vier Quadratmeilen mit Geistesnahrung versorgte. […] Der Unternehmer hatte, um Nebenbuhler in der erwähnten weiten Ausdehnung unrettbar daniederzuschlagen, nicht weniger als sämtliche Zeitschriften des deutschen Vaterlandes in seinen Mappen versammelt […] im ganzen vierundachtzig Hefte, so daß jeder Teilnehmer
54 Hervorhebungen im Original. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 221. 55 Behringer: Im Zeichen des Merkur.
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am Zirkel die Woche hindurch in jeder der zwölf Tagesstunden ein Journal zu lesen bekam.56
Kontexte Konsumieren
Die hochkulturelle Variante des geregelten Stoffumlaufs, der gelehrte ‚Ideenumlauf‘, ist weniger bekannt.57 Doch das ist auch nicht die entscheidende Ebene. Der berühmteste Zirkel, der 1950 mit 62 Titeln gestartete Bertelsmann Lesering,58 durchlief lange Zeit parallel und unbeobachtet eine Art Testphase in General Francos Spanien und etablierte sich dort dann fest. Bertelsmann musste in der Bundesrepublik den Betrieb kleiner Anwerbebusse für die Dörfer nach entsprechenden Gerichtsurteilen im Sinne des Buchhandels wieder einstellen und erprobte das Vertriebsmodell mit Bussen und – vor allem – Motorrollern erfolgreich in Spanien: In Spanien wurde nicht gelesen – bis der Lesering kam. Noch in der FrancoZeit wurde 1962 in Barcelona der Círculo de Lectores gegründet. BertelsmannChef Reinhard Mohn schlug auf der Frankfurter Buchmesse dem Verleger José Esteve Quintana vor, den Bertelsmann-Lesering auf Spanien auszuweiten. Nicht eigene Buchläden und Verkauf per Katalog wie in Deutschland, sondern Vertreter, die von Haus zu Haus gingen, wollte Esteve Quintana und begründete ein Erfolgsmodell.59
Dort hielt er länger durch – bis 2019 – als in Deutschland, wo er 2015 eingestellt wurde.60 Die Verdienste liegen auch hier, in Deutschland, auf der Hand: „Die Hälfte der Deutschen besaß noch Mitte der fünfziger Jahre kein einziges Buch. […] Im Jahr 1957 druckte der einstige Provinzverlag aus Gütersloh rund 20 Millionen Bücher.“ Der Lesezirkel machte seine eigentliche oder steilste
56 Immermann: Münchhausen, S. 93 f. 57 Vgl. Gosch: Fragmente über den Ideenumlauf. 58 Vgl. Schlipper: Das Ende des Buchclubs aus Gütersloh. In: Frankfurter Allgemeine Sonn-
tagszeitung, S. 24. Ausführlich zu Idee und Konzept: Lokatis: ein Konzept geht um die Welt. In: Bertelsmann AG (Hrsg.): 175 Jahre Bertelsmann, S. 130–171. 59 Ck: Ende einer Institution. In: Costa del Sol Nachrichten. Unter: https://www.pressreader. com/spain/costa-del-sol-nachrichten/20191114/page/27/textview [aufgerufen am 21.08.2020]. Etwas ungeschönter dazu: Trepp: Bertelsmann, S. 139–146. 60 Vgl. Schlipper: Das Ende des Buchclubs in Gütersloh, S. 24.
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Karriere also im Takt mit der entstehenden westdeutschen Konsumgesellschaft durch die Versorgung mit Lesestoff.61 Man ahnt jetzt, dass das erste medienwissenschaftliche Buch eines Medienwissenschaftlers (und ehemaligen Anglisten), der sich auch als solcher verstanden hat, nicht zufällig von der Werbung für Konsumgüter handelt: THE 62 MECHANICAL BRIDE . Die Genese der sogenannten ‚Seifenoper‘ zu Beginn der 1930er Jahre hatte Marshall McLuhan die Augen für die Nicht-(mehr)Unterscheidbarkeit (des Konsums) der Medien und der ‚eigentlichen Dinge‘ in seinem Jahrhundert geöffnet:
McLuhan formuliert hier für die langsam in das allgemeine Bewusstsein dringende ‚Medienwelt‘ des 20. Jhs. (auch das 19. war und hatte natürlich eine64), was der französische Ökonom Jean-Baptiste Say 1803 in seinem TRAITÉ D’ÉCONOMIE als Erster für die Anfänge der modernen Konsumgesellschaft denkbar klar ausgesprochen hatte: Im Kontext von Konsumprozessen jenseits des regelmäßigen Kreislaufs der unmittelbaren Unterhaltsfürsorge ( W. Sombart),65 die Mensch und Tier gleichermaßen obliegt, ist die Stofflichkeit der Dinge – nun – zweitrangig.66 Entscheidend seien fortan, lehrte Say, vielmehr „ihre von Menschen begehrten Eigenschaften“.67
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Kontexte Konsumieren
Im gegenwärtigen elektrischen Zeitalter der Information und der programmierten Produktion nehmen sogar Waren immer mehr den Charakter von Informationen an, obwohl sich dieser Trend hauptsächlich in den zunehmenden Werbekosten zeigt. Bezeichnenderweise tragen gerade jene Waren, wie Zigaretten und Seifen, die im allgemeinen Verkehr am häufigsten gebraucht werden, einen Großteil der Unterhaltungskosten der Medien im allgemeinen.63
61 Eindrücklich dargestellt (und auf eine Formel gebracht) bei Gööck: Bücher für Millionen. 62 McLuhan: The Mechanical Bride. 63 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 45 f. 64 Vgl. nur die Klassiker: Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert; Kra-
cauer: Pariser Leben oder Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise.
65 Sombart: Der moderne Kapitalismus, S. 3 f. 66 Zu McLuhans diesbezüglichem Verhältnis zu den Wirtschaftswissenschaften Hesse: Infor-
mation und Wissen in der ökonomischen Theorie. In: Adelmann et al. (Hrsg.): Ökonomien des Medialen, S. 103–125, hier: S. 121 f. 67 Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge, S. 69.
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Konjunkturen Konsumieren
Diese Eigenschaften aber, die mehr an das Kaufbegehren als an das Daseinsbedürfnis appellieren, sind das Ergebnis immer komplexerer Marketingstrategien und -apparate, die wir zumindest aus einem bestimmten Blickwinkel als ‚die Medien‘ betrachten.68 An dieser Stelle formuliert Wolfgang Ullrich völlig zu Recht die unangenehme Frage, welche Ressourcen an Energie und Rohstoffen dieser zwischen maximal smarten digitalen Endgeräten und riesigen Serverparks errichtete Apparat seinerseits verschlinge. Wie stofflich und dinglich diese Sekundärwelt aus Bildern und Botschaften tatsächlich ist, gerät endgültig erst in den Blick, seitdem immer mehr Streamingportale die Nutzer*innen mit seriell produzierten Serien (im Sinne Freyers) von aufwendig Erzähltem versorgen müssen, seitdem globale Software-Updates derzeit einen Datenstrom von 7,1 Terabit pro Sekunde generieren können.69 Seitdem offenbart das uns scheinbar leichtfüßig überspannende, verwickelnde und untergrabene Netz, wie viel grüner Strom, wie viel (unbewältigter) Computerschrott und wie viel (mit bloßen Händen zusammengekratzter) schwarzer Kobalt woanders, in einem postmodernen Sodom,70 vonnöten sind, um den Strom bewegter tönender Bilder stabil zu halten. KONJUNKTUREN Die Kritik des Konsums hat, seitdem ausdrücklich ‚konsu-
miert‘ wird, Konjunktur. Der konsumkritische Diskurs und seine Topoi sind nahezu mit denen der Kulturkritik identisch. Konsumkritik ermöglicht z. B. die laufende Korrektur eines (angeblich zu) optimistischen Menschenbildes, aber auch der ‚verwöhnten Individuen‘ oder der ‚verschwenderischen‘ bzw. ‚Wegwerf-Gesellschaft‘. Die Abhängigkeit des Menschen von den Notwendigkeiten des basalen Konsums und seine Anfälligkeit für die subtile, steuerbare Ausdifferenzierung der Bedarfe zu ‚Bedürfnissen‘ generieren periodisch ein kritisches Bild des Menschen, das nicht primär auf Konzepte der Selbstbestimmung, Freiheit oder Vernunft abhebt. Die Konsumkritik thematisiert
68 Ullrich stellt völlig zu Recht an dieser Stelle die unangenehme Frage, warum wir die zur
selben Zeit entstehende Kunstemphase gebildeter Eliten so viel positiver bewerten als die Konsumemphase des Durchschnittsverbrauchers (und warum beides doch auch gut zusammengehen könnte), vgl. Ullrich: Alles nur Konsum, S. 11 u. 61. 69 Vgl. Fuest: Apple bricht Rekord mit Software-Update. In: Die Welt, S. 11. 70 Dazu die Dokumentation ‚Welcome to Sodom – Dein Smartphone ist schon hier‘ von 2018.
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notorisch den (unheilvollen) Einfluss der Sachen auf die Menschen. Wenn sie gut ist, thematisiert sie deshalb die (Un-)Unterscheidbarkeit von Mensch und Umgebung, von Materiellem und Immateriellem, von Konsum und Mensch, die Prozesse der Selbstkonstituierung unter Einschluss der das Selbst umgebenden Sachen und Infrastrukturen, die Notwendigkeit ständiger Abgrenzungs- und Definitionsarbeit für ein Nichtaufgehen des Menschen in etwas anderem: der Masse, den Dingen, den Zwängen, den Bedürfnissen, den Instinkten usw.71 Eine systematische Kritik der Schwierigkeiten, die Macht der konsumierbaren ‚Dinge‘ und des Konsums über die Konsument*innen zu bestimmen, setzt fast zeitgleich mit den ökonomischen Theorien ein, die diese Macht erstmals systematisch zu formulieren versuchen. Adam Müller befürchtet 1816, dass
Adorno und Horkheimer haben seit 1948 mit dem Begriff ‚Kulturindustrie‘ eine konsumkritische These von einiger Prominenz in Umlauf gebracht, die Adorno ursprünglich aus der kritischen Analyse der Jazz-Musik gewonnen hatte.73 Das prominente Kulturkritik-Duo formuliert die nicht ganz so überraschende Hypothese, dass die modernen Massenmedien entweder leicht verdauliche, harmlose oder aber schwer erträgliche, propagandistische Inhalte liefern, die entweder zu unreflektierter Affirmation des Laufenden oder zum
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Konjunkturen Konsumieren
der auf die große Thatsache des täglich wiederkehrenden Hungers sich stützende Glaube des Menschen allem anderen Glauben und jede höhere Neigung dergestalt verzehrt hat, dass es wirklich, zumahl, wenn man die darauf errichteten ökonomischen Theorien betrachtet, das Ansehen hat, als wäre das Verlangen der Sachen nach den Menschen viel größer, als das der Menschen nach den Sachen, und als verspeisten eigentlich die Sachen den Menschen, und nicht dieser jene.72
71 In diese (psychologische) Richtung gehen z. B. Schäfer: Wir sind, was wir haben oder El-
schenbroich: Die Dinge. Die philosophische Ästhetik bringt Konrad Paul Liessmann ins Spiel: Liessmann: Das Universum der Dinge. In: Ders.: Das Universum der Dinge, S. 11–23. Die recht versteckten Anregungen dazu kommen auch aus der ‚Volkskunde‘: Vgl. z. B. Jeggle: Vom Umgang mit Sachen. In: Köstlin/Bausinger (Hrsg.): Umgang mit Sachen, S. 11–26. Diesen Ursprung resümiert Ege: Zwischen Aneignungseuphorie und Austeritätsethnographie. In: Hohnstätter/Krankenhausen (Hrsg.): Konsumkultur, S. 77–102. 72 Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 150 f. 73 Dazu ausführlich und sehr erhellend Hoffmann/Weber: Kulturindustrie – vermasste Kultur – Jazz. In: Bähr et al. (Hrsg.): Überfluss und Überschreitung, S. 59–72.
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Konjunkturen Konsumieren
totalitären Umbau des Bestehenden verleiteten.74 Zu diesem Komplex gehört auch der Vorwurf, dass die Medien ganz unmittelbar – als Werbeträger – zum Konsum der Güter anreizen, indem sie vornehmlich Anzeigen und geschönte Ansichten derselben transportieren, kurz: dass die Beiträge nur die Werbung unterbrechen.75 Der Konsumimpuls wird dadurch massenmedial und permanent an den Mann oder die Frau gebracht. So ist die Kritik des Konsums auch eine Art permanente Selbstkritik der Konsument*innen, die ihr Konsumieren begleitet und orchestriert. Dieser Zug hat sich mit der technisch fortwährend ausgeweiteten Medialisierung des Konsums zu einer Art moderner Ablass praxis verstärkt. Gesellschaften und Subjekte kritisieren sich laufend ‚in den Medien‘ für das, was sie und ihre Gesellschaft überhaupt erst als ‚moderne‘ Gesellschaften und Subjekte konstituiert. Konsumkritik ist deshalb keine sachliche, den Gegenstand auf Distanz bringende Analyse, sondern eine den laufenden Konsum unabdingbar begleitende Litanei. Lediglich anti-strophisch fungiert dann das entsprechende ‚Loblied des Konsums‘. Etwas anders gelagert ist die konsumkritische Betrachtung der ‚Wunschstruktur‘, des ‚Begehrens‘ als anthropologisch unumgängliche Praxis – der (möglicherweise mimetische) Kreislauf von Konsum und Begehren. In der begrifflichen Geburtsstunde der modernen Konsumgesellschaften hatte Elias Canetti, nach 30 Jahren Arbeit an seinem monumentalen ethnologischen Traktat zur Genese und den Mustern menschlichen Verhaltens (in Gemeinschaften) namens MASSE UND MACHT, ausgerechnet das Wachstum bzw. die Vermehrung als Zentrum oder Gesetz seines Gegenstandes ausgemacht: „Die Masse will immer wachsen.“76 Wer denkt da nicht an ‚Wachstumsmotoren‘, ‚Wachstumsbremsen‘ und ‚beschleunigtes Wachstum‘ in den Industriegesellschaften. Eine spezielle ANTHROPOLOGY OF CONSUMPTION war die logische Konsequenz dieser Anregungen.77 Doch der Motor der für Canettis Theorie so zentralen und von ihm so genannten Vermehrungsmeute findet sich schon im Einzelnen und könnte auch der basale Impuls für die gleichzeitig mit seinem
74 Vgl. dazu Göttlich: (Art.) Kulturindustrie. In: Schanze (Hrsg.): Metzler Lexikon Medien-
theorie/Medienwissenschaft, S. 172 f.
75 Vgl. Williams: Television. 76 Canetti: Masse und Macht, S. 30. 77 Vgl. Douglas/Isherwood: The World of Goods.
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GEGENBEGRIFFE Der logische Gegenbegriff zum Konsum ist das NichtKonsumieren. Aber diesen Begriff kann es nur abstrakt oder theoretisch geben, denn „das Leben“, schreibt Hans Blumenberg, „kann nicht bleiben, wie und wo es ist. Es verzehrt die Bedingungen seiner Möglichkeit, erschöpft sein Subs trat, weidet die Gründe ab und füllt die Räume, die es bergen, mit dem Abfall und Schutt seiner Erfolge“.81 Drastischer hat denselben Sachverhalt gegen Ende seines langen Lebens Claude Lévi-Strauss formuliert: „Ich glaube“, gab er in einem Interview zu bedenken, „diese Welt steuert selbst da auf Überbevölkerung zu, wo diese noch nicht herrscht, da die Bevölkerungsdichte noch gesteigert wird durch die Beschleunigung der materiellen und intellektuellen
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Gegenbegriffe Konsumieren
Traktat entstehende Konsumgesellschaft sein: „Man will selber mehr werden, und so soll auch alles mehr werden, wovon man lebt. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen, es hängt so dicht zusammen, dass oft nicht klar wird, was mehr werden soll.“78 Wird man erst mehr oder etwas durch die konsumierten Sachen und damit gleichzeitig von ihnen vertilgt? Ein Jahr nach Canettis Hauptwerk wird der Grundstein zu einem theoretischen Gebäude gelegt, das diese Frage immer wieder neu stellt. Nach René Girard „hängt im Fall des kopierten Begehrens alles, auch dessen Intensität, von dem zum Vorbild genommenen Begehren ab“.79 Der leichte oder auch starke, immer aber kommunikationstechnisch oder medial erzeugte Druck auf der Seite des Angebots, der ‚atmosphärische Wunschdruck‘, wie Gehlen das nannte, kann nun mit der dreifältigen, mimetischen Begehrensstruktur des Menschen zusammengedacht werden. Diese besagt, dass das eigene Wünschen zunächst den Wunsch eines anderen als Impuls des eigenen Wünschens voraussetzt.80 Damit wird die relativ schnelle Ausweitung und Intensivierung der zirkulativen Ströme begehrter Güter verständlicher, die Werner Sombart schon 1913 auf jene längst sprichwörtliche Formel von ‚(Liebe,) Luxus und Kapitalismus‘ gebracht hatte.
78 Canetti: Masse und Macht, S. 225. 79 Girard: Figuren des Begehrens, S. 14. 80 Für die Ökonomie wird die Theorie Girards noch einmal zugespitzt bei Dumouchel/Dupuy:
Die Hölle der Dinge.
81 Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 64.
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Gegenbegriffe Konsumieren
Kommunikationsmittel. Und ich glaube, dass uns diese Welt mehr und mehr zu Konsumenten, zu bulimischen Konsumenten der uns umgebenden Reichtümer macht.“82 Interessant oder auffällig ist auch hier die enge Korrelation von (hoch-)technischen Kommunikationsmitteln und Formen des unumgänglich gesteigerten Konsums und der Produktion von ‚Unmengen‘ von Abfall.83 Techniken des Konsums sind offenbar an Technik gekoppelt, an eine spezielle Technik, die vor allem Bilder des Konsumierens, der Konsumierenden und des Konsumierbaren in Umlauf bringt. Die Bilder sind der eigentliche ‚Grund‘ des Konsumierens. Ernst Jünger hat diese Nähe und Abhängigkeit auf eine merkwürdige Formel gebracht: „Wir deuteten bereits an, daß ein Verarmungsprozeß unbestreitbar ist. Er beruht auf der Grundtatsache, daß das Leben sich verzehrt, wie es innerhalb der Puppe geschieht, in der die Imago die Raupe konsumiert.“84 Jünger deutet den Konsum so, dass das ideale Bild die materielle Substanz aufzehrt. Das ist kein Zufall. Einige Jahre zuvor hatte derselbe Autor einen idealen Staat imaginiert, „dessen Bürger die Genüsse des Gaumens verachten, und in dem man doch eine Reihe von besoldeten Feinschmeckern unterhielte […] oder ein einzelner, der sich von spartanischen Suppen nährt und den der Luxus der großen Schaufenster entzückt“.85 Er formuliert hier eine antikapitalistisch-militaristische Sicht auf den Konsum, die ihn bändigt, indem sie ihn delegiert und die Subjekte dadurch für ‚höhere (politische) Aufgaben‘ freisetzt. Das hatte – neben dem alten topischen Sparta-Bezug86 – Tradition. Ganz parallel zur immer genaueren Ausarbeitung liberaler nationalökonomischer Theorien des Konsumierens im ausgehenden 19. Jh., in denen der Staat sozusagen hauptamtlich gerade einen Rahmen dafür schuf, dass das Individuum möglichst ungestört [zum Nutzen des Staates]
82 Lévi-Strauss zit. n. Englert: Verblüffende Kritik an der Moderne. Denselben Begriff (‚Buli-
mie‘) benutzt Bodei: Das Leben der Dinge, S. 106.
83 Mit dem Abfall bzw. dem Wegwerfen ist eine kulturtheoriefähige Seite des Konsumierens
benannt, die hier leider unbearbeitet bleiben muss. Vgl. Michael Thompsons Klassiker ‚Rubbish Theory‘; Grassmuck/Unverzagt: Das Müll-System; Windmüller: Müll und Lewe et al. (Hrsg.): Müll. 84 Jünger: Der Arbeiter. In: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 125. 85 Jünger: Das Abenteuerliche Herz, S. 66. 86 Vgl. Decultot: Sparta vs. Athen. In: Hildebrandt et al. (Hrsg.): Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung, S. 41–56.
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konsumieren konnte, formulierte Nietzsche das so schwer vorstellbare Gegenprogramm, an dem Jünger offensichtlich Maß genommen hatte: „Es sind Zustände der Gesellschaft denkbar, wo nicht verkauft und gekauft wird und wo die Nothwendigkeit dieser Technik allmählich ganz verloren geht: vielleicht, dass dann einzelne, welche dem Gesetze des allgemeinen Zustandes weniger unterworfen sind, sich dann das Kaufen und Verkaufen wie einen Luxus der Empfindung erlauben.“87 Mit etwas Zynismus kann man diese Umkehrung in den (vergangenen) etablierten sozialistischen Gesellschaften realisiert sehen, wo eben die höheren Funktionäre in Sonderzonen und -geschäften (Intershops) ‚wie im Westen‘ (stellvertretend) konsumierten. Aber beide Auslassungen zeigen nur, wie schwer etwas jenseits der verbreiteten Technik des komfortablen Konsumierens zu denken ist, was dann eine eigenständige politische und individuelle Programmatik ermöglicht. Die Eingangsanekdote hat gezeigt, dass Askese- und Verzichtsprogramme religiöser oder lifestyliger Natur in Zeiten eines voll entwickelten globalen Konsumindustrialismus nur dieselben Konsum- und Produktzyklen anders in Gang setzen. Am Ende bleibt das langsame Wachsen – als ein nicht künstlich durch Düngung, Beschnitt, Gentechnik, Züchtung oder Behausung entscheidend beschleunigtes Wachsen – als der legitime Gegenbegriff zum Konsumieren übrig. Das Wachsen, das ein schwer kalkulierbares, aber geduldiges Warten impliziert, boykottiert die berechenbare temporale und quantitative Steigerungsdynamik der konsumistischen Produktion und Zirkulation von Zeichen und Dingen seit der Frühen Neuzeit. Der friedliche hortus conclusus wird wohl für immer der bildschöne Raum dieser Alternative bleiben. PERSPEKTIVEN Die erste weiterführende Perspektive auf das Konsumieren, die hier vorgeschlagen werden soll, betrifft seine Geschichte. Diese Geschichte soll in Geschichten oder Stories greifbarer werden als in einer Globalgeschichte. Peter Sloterdijk hat unter der Überschrift DEN LUXUS DEMOKRATISIEREN (und im expliziten Rückgriff auf Gabriel Tardes GESETZE DER NACHAHMUNG von
87 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders. (Hrsg.): Kritische Studienausgabe, S. 343–
651, hier: S. 403.
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1890) ein Kapitel aus der Frühgeschichte des Kapitalismus – das Platzen der riesigen Spekulationsblase aus Tulpenzwiebeln – neu erzählt:
Perspektiven Konsumieren
Die bekannte holländische Tulpenmanie von 1636 bis 1637 bezeugt die Macht der Laune, sich durch mimetische Ansteckung zum Massendelirium zu steigern. Die Liebe zu jener so königlichen wie populären Blume verband sich mit einer geldsüchtigen Raserei – die Börsenspekulation erreichte in dieser Manie ihren ersten Höhepunkt und zerplatzte nach zwei fiebrigen Jahren. Schon damals war den Akteuren im modernen Bereicherungsspiel klar, daß die Mimesis des Luxus oben beginnt. Deswegen hatte Colbert unter merkantilistischen Prämissen recht, ‚die Seidenmanufakturen und andere aristokratische Industrien‘ zu fördern.88
Hier ist wenig von den gärtnerischen und züchterischen Vorarbeiten auf der Seite der Produzent*innen die Rede. Diese sind zwar für die Ermöglichung ständiger Auswahloperationen und scheinbar individueller Sortimentszusammenstellungen unter Tulpen unabdingbar, werden aber aus der Perspektive des Konsums nicht mehr eigens Thema.89 Mit dem Beispiel wird vielmehr deutlich, dass erst diese anthropologisch-psychologischen, handwerklich-züchterischen und gesellschaftlich-organisatorischen Faktoren in ihrem Zusammenspiel das Vollbild des modernen Konsums liefern, der dann eine enorme Dynamik entfalten kann. Es sind vor allem solche aufgefundenen Einzelgeschichten, Fälle, Exempla, Stories, die häufig in das populäre Gedächtnis einsickern90 und erst – zurückübersetzt – deutlich machen, wie sich moderne Gesellschaften um die forcierten Praktiken des Konsums konstituieren. Dass dieses Vorgehen unterdessen zu den avancierten und vielversprechenden Perspektiven auf die Konsumgeschichte gehört, zeigen z. B. die biografischen Porträts des Kulturanthropologen Daniel Miller.91 Es sind Micro-Konsumenten-Biografien. Eine Unterabteilung bilden dann schon (autobiografische) Geschichten, die die Geschichte der ‚konsumierten Dinge‘ – oft in einem nun aufzulösenden
88 Sloterdijk: Sphären, S. 800 f. 89 Ausführlich dazu Posthumus: De Speculatie in Tulpen in de Jaren 1636 en 1637. In: Econo-
misch-Historisch Jaarboek, S. 3–99 u. Goldgar: Tulipmania.
90 Vgl. Rombach: Adrian der Tulpendieb. 91 Vgl. Miller: Der Trost der Dinge.
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Haushalt der Eltern – minutiös verfolgen und erzählen.92 Den schnell konsumierten Dingen des Haushalts kann im Rahmen einer familiären Hausgeschichte – erzählend – so viel Langsamkeit und Zusammenhang zurückgegeben werden, dass sie mehr als eine Verbrauchsgeschichte haben: „Houses are the elephants of stuff“,93 schreibt Daniel Miller. Das ‚ganze Haus‘ kehrt zumindest auf dieser Ebene (der Erzählstrategie oder Poetik) wieder. Die zweite weiterführende Perspektive auf das Konsumieren richtet sich speziell auf den Medienkonsum. Michel de Certeau bemerkt in seiner KUNST DES HANDELNS von 1980, dass „Lesen nur ein Teilaspekt des Konsums ist, aber ein fundamentaler“.94 Konsum scheint gerade im Falle des Lesens und Betrachtens, im Falle des Umgangs mit Literatur, Nachrichten, Film, Fotografien oder Gemälden, zunächst eine unproblematische Kategorie. Dieser Konsum wird in Aufmerksamkeits- und Benutzungsspannen, in Auflagenstärken, Klickraten oder Besucher*innenzahlen relativ pauschal gemessen und genauso pauschal beschrieben, empfohlen oder kritisiert: nach Genres und Stilhöhen, nach Rezeptions- bzw. Produktionsbedingungen, nach Klassenlage und Bildungsgrad. Neuere (vielversprechende) Ansätze rekonstruieren kleinteiligere Schreib- bzw. Leseszenen, um dem Konsum auf die Spur zu kommen.95 Auch der gegenwärtige, dominante Konsum medialer Produkte und Angebote über digitale Plattformen wird recht grob nach Altersgruppen, Geschlechtern und Stundenaufkommen klassifiziert – häufig auf einer sehr dünnen, wenig repräsentativen Datengrundlage und mit geringen Möglichkeiten von außen, den Konsum vom Ein- bzw. Ausgeschaltetsein der Geräte zu unterscheiden. Im Inneren der sogenannten Tech-Giganten wird sicherlich exakter hingeschaut bzw. gemessen, gezählt und ausgewertet werden.96 Aber bei genauerer Betrachtung fallen schnell Ungereimtheiten und Brüche auf: Was heißt konsumieren – also verzehren, verbrauchen oder vertilgen – eigentlich auf mediale Verhältnisse bezogen? Was sind die Voraussetzungen,
92 Vgl. etwa Walker: The Life of Stuff oder Mayer: Die Dinge unseres Lebens. 93 Miller: Stuff, S. 81. 94 Certeau: Kunst des Handelns, S. 297. 95 Vgl. Horn et al. (Hrsg.): Leseszenen und Schneider: Der Finger im Buch. 96 Eine erste genauere Verortung auf breiterer Datenbasis nehmen vor Andree/Thomsen: Atlas
der digitalen Welt.
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Mechanismen und Folgen eines Konsums der Bilder, der Töne, der Buchstaben, der Zeichen? Wie ist der (interne) Prozess selbst zu beschreiben? In den Leser*innen, nicht in den Lesegeräten. Mit welchen Bildern und Formeln der Beschreibung dieses Vorgangs werden welche Ziele verfolgt? Welche Ziele können in diesem Prozess ohne klare Begrifflichkeit (noch von Institutionen) gesetzt werden? Woher beziehen Theorien des Medienkonsums überhaupt ihre Modelle? Bis heute steht keine etablierte wissenschaftliche Theorie zur Verfügung, die auf diese Fragen Antworten formuliert. Dagegen gibt es einen immer noch wenig beachteten, verzweigten, anonymen Metaphernapparat, der neben dem Verschlingen der Schriftrollen und Bücher97 auch das Wiederkäuen der Texte, neben ihrem Auskotzen auch das Bild ihrer Verdauung anführt, und differenzierter als jede Einzeltheorie auf den Medienkonsum rekurriert. Es gibt den Hunger nach Bildern und Wissen oder die Gefräßigkeit der Augen,98 es gibt das Verbeißen in Argumente und ihr immer erneutes Durchkauen. Alle diese Techniken und Tempi empfahl Francis Bacon 1625 in OF STUDIES: „Some books are to be tasted, others to be swallowed, and some few to be chewed and digested: that is, some books are to be read only in parts; others to be read, but not curiously; and some few to be read wholly, and with diligence and attention.“99 Sehr früh war die Nahrungsaufnahme auch Vorbild und Denkrahmen für die ‚Aufnahme geistiger Nahrung‘, für das Sich-Erbauen, das Er- und Bekennen.100 Im Zentrum vieler Auseinandersetzungen um die richtige Konfession innerhalb der christlichen Lehre (und die größte Nähe zu ihrer Wahrheit) steht nicht zufällig die Deutung des Abendmahls, der Eucharistie: „Wer Verbindung und Gemeinschaft haben will mit Jesus, so heißt es, muss sein Fleisch essen und
97 Vgl. für einen guten Überblick Körte: Bücheresser und Papiersäufer. In: Körte/Ortlieb
(Hrsg.): Verbergen – Überschreiben – Zerreißen, S. 271–292.
98 Vgl. Mattenklott: Das gefräßige Auge. In: Kamper/Wulf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Kör-
pers, S. 224–240.
99 Zit. n. dem insgesamt grundlegenden Text zum Thema von Goetsch: Von Bücherwürmern
und Leseratten. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, S. 381–406, hier: S. 391. 100 Dazu z. B. Eybl: Vom Verzehr des Textes. In: Solbach (Hrsg.): Aedificatio, S. 95–112 und Drews: Bücherverschlingung als kulturelle Praxis? In: Archiv für Kulturgeschichte, S. 123–161.
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101 Bachl: Eucharistie, S. 113. Zu der äußerst anregenden Studie von Bachl zusätzlich Hörisch:
Brot und Wein. Im Mittelpunkt der ganzen Auseinandersetzung steht folgende Formulierung des Neuen Testaments: „Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1 Kor 11,26). 102 Deleuze: Logik des Sinns, S. 43. 103 „Wie ist es möglich, daß man Zerrissenes in den Mund tut, es lange darin weiterzerreißt und daß dann aus demselben Munde Worte kommen? Wäre es nicht alles besser, man hätte eine andere Öffnung für die Nahrung und der Mund wäre für die Worte allein da? Oder ist in dieser intimen Verquickung aller Laute, die wir bilden, mit Lippen, Zähnen, Zunge, Kehle, eben den Gebilden des Mundes, die dem Nahrungsgeschäft dienen, – ist in dieser Verquickung ausgedrückt, daß Sprache und Fraß für immer zusammengehören müssen, daß wir nie etwas Edleres und Besseres werden können, als wir sind, daß wir im Grunde, in allen Verkleidungen, eigentlich dasselbe Schreckliche und Blutige sagen, und daß sich der Ekel in uns nur meldet, wenn mit dem Essen etwas nicht stimmt?“; Canetti: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942–1972, S. 117. 104 Vgl. dazu Müller: Die Zähne fressen das Orale. In: Böhme/Slominski (Hrsg.): Das Orale, S. 303–306. 105 Vgl. Bexte: Nietzsches antike Kühe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. N4.
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sein Blut trinken, die wahre Speise, den wahren Trank zum ewigen Leben.“101 Gemeint war natürlich die unerschütterliche und unauflösbare Hingabe an seine Lehre, die Verinnerlichung seiner Worte, aber – wie Gilles Deleuze es ausdrückte – „verlangt wird, was am schwierigsten ist: über Nahrung sprechen oder Wörter essen.“102 Canetti sprach unablässig, in fast all seinen Texten, über den Magen, das Kauen und das Verdauen.103 Marshall McLuhan machte 1962 in seiner GUTENBERG-GALAXIS aus einem Zahn-Mythos eine Mediengeschichte: Kadmos, der Gründer Thebens, tötet den Wächter-Drachen und streut seine Zähne in den Acker, aus dem die mythischen Erdkrieger, die spartoi, erwachsen. Für McLuhan sind es aber die noch mächtigeren Buchstaben des von den Griechen adaptierten phönizischen Alphabets, die der Sohn des phönizischen Königs Agenor hier heranzieht.104 Auch der tierische Wiederkäuer (lat. ‚ruminare‘) kam zu seinem Recht. Das Wiederlesen und Auswendiglernen, das Friedrich Nietzsche seinen Studierenden in Basel mit dem Bild der wiederkäuenden Kuh schmackhaft und plausibel machen wollte, geht schon bis auf Quintilians Rhetorik zurück, wie Peter Bexte gezeigt hat.105 Die scholastisch-juristische Schuldisputation kannte dagegen die mit „hervorstehenden Zähnen“ (lat. ‚brocchus‘) bewehrten Pro- und Contra-Argumente, ‚argumenta brocardica‘, um damit aus der
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Masse überlieferter römischer Rechtstexte aufschlussreiche Widersprüche hervorzutreiben.106 In der Frühen Neuzeit schließlich beginnt ein spezielles diätetisches Programm für Gelehrte,107 für eine gesunde ‚geistige Arbeit‘, als Seitenstück der seit Hippokrates und Celsus gängigen umfassenden diätetischen Gesundheits- und Säftelehren.108 Aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jhs., mit der breiteren Professionalisierung des Romane- und Essayschreibens, wird der Metaphernapparat des Zubereitens, Würzens, Essens, Kauens und Verdauens wieder mit größtem Zutrauen und philosophisch-poetologischer Raffinesse für das Schreiben und Lesen bemüht: „Alles Genießen, Zueignen, und assimilieren ist Essen, oder Essen ist vielmehr nichts als eine Zueignung. Alles geistige Genießen kann daher durch Essen ausgedrückt werden“,109 schreibt Novalis. Henry Fielding wird seinen Roman TOM JONES schon 1749 mit einer Vorrede versehen [EINLEITUNG IN DAS WERK ODER SPEISEKARTE DES FESTMAHLS], die ihn vollständig als zubereitete Speise beschreibt, um in seine richtige Lektüre, seinen richtigen Verzehr, einzuführen.110 Eine vielseitig lesbare philosophische Kulinarik ist seit der Aufklärung eine wichtige Kommentarinstanz des Medienkonsums.111 „Was Cartes von seinem Cogito sagt“, schreibt Hamann an Herder, „davon überführt mich die Thätigkeit meines Magens“.112 Eugen Rosenstock-Huessy kreiert in seiner SOZIOLOGIE für die Analyse kommunikativer Prozesse eine ‚Hörwegwissenschaft‘, die ausdrücklich durch den Magen geht:
106 Vgl. Legendre: Die bevölkerte leere Bühne. In: Campe/Niehaus (Hrsg.): Gesetz, S. 43–56. 107 Vgl. Kümmel: Der homo litteratus und die Kunst, gesund zu leben. In: Schmitz/Keil (Hrsg.):
Humanismus und Medizin, S. 67–85.
108 Ihre neuere Geschichte bei Kleinspehn: Warum sind wir so unersättlich? 109 Novalis: Ergänzungen zu den Teplitzer Fragmenten. In: Schriften, S. 620. [Zit. n. Stünkel:
Das ‚liebe Essen und Trinken‘ – Kulinarik als theologische Praxis bei Johann Georg Hamann. In: Ders. (Hrsg.): Leibliche Kommunikation, S. 257–274, hier: S. 267]. 110 Vgl. Fielding: Tom Jones, S. 5–8. 111 Vgl. Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft; Denker: Vom Geist des Bauches und Wulf: Magen. In: Benthien/Christoph (Hrsg.): Körperteile, S. 193–207. 112 Hamann: Briefwechsel, S. 140. [Zit. n. Stünkel: Das ‚liebe Essen und Trinken‘ – Kulinarik als theologische Praxis bei Johann Georg Hamann. In: Ders. (Hrsg.): Leibliche Kommunikation, S. 257–274, hier: S. 261].
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Wo hätte die Sprache einen mittleren Ort, in dem sich Sprecher und Hörer erst einmal mögen und so intim verbinden, daß von diesem Magen aus Anrede und Erwiderung erklärt werden? Wo ist in der Sprachlehre der Ort für die Erörterung der groben Kost, der nicht nahrhaften, aber trotzdem unerläßlichen Schlacke? […] Kann man einen Stoffwechsel im Körper studieren, wenn man sich nur auf sein erstes Stadium beschränkt? […] Weder der After, noch der Mund, sondern der Magen steht im Mittelpunkt des Systems. Aber davon will die Philologie nichts wissen.113
Neuere Versionen medientheoretischer Theoriebildung kommen auf den Verdauungstrakt zurück:
Keine theoretische Anstrengung kommt ohne die Aktivierung des kritischen Potentials aus, das in diesem immer weiter ausgemalten, organischen Bild vom Medienkonsum schlummert – ein schiefes Bild, aber ein gerades haben wir nicht. Um ‚unsere Zerstreuung‘ theoretisch zu fassen, greift der kybernetisch informierte Medientheoretiker Vilém Flusser zu drastischen Farben: „In der Massengesellschaft funktionieren nur die Schluck- und Ausscheidungsapparate, nur Input und Output, funktioniert statt der genitalen die oral-anale Libido. Unsere Lüsternheit ist um Mund und After gelagert.“115 Umstritten ist offensichtlich nicht etwa der (Metaphern-)Apparat, sondern die Bedeutung seiner verschiedenen Stationen. Mund oder Magen? Das ‚Essen‘ als Metapher ist so allgegenwärtig, dass es immer wieder ausgelegt werden kann. Es kann aus zwei Gründen in all diesen Auslegungen des Medialen nicht
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Das Urbild des Mediums scheint mir die im wahrsten Sinne des Wortes passagére Füllung des Kanals in uns zu sein, der am Mund beginnt und am After endet. Darinnen die Nahrung in ihren verschiedenen Aggregatzuständen. Auf dem Wege wird entschieden an den Wänden des Kanals, ob und welche Teile resorbiert werden können, welche nicht. Der Rest wird ausgeschieden.114
113 Rosenstock-Huessy: Soziologie in zwei Bänden. Erster Band: Die Übermacht der Räume,
S. 141 f.
114 Pazzini: Definition: Medium. In: Ders.: Porath/Gottlob (Hrsg.): Kontaktabzug, S. 125 f.,
hier: S. 125.
115 Flusser: Unsere Zerstreuung. In: Ders.: Schriften, Bd. 2: Nachgeschichte, S. 86–91, hier:
S. 88.
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ignoriert werden: Erstens ist das Essen ein basaler Vorgang der Lebenserhaltung, der sofort von neuen zivilisatorischen Stufen oder Phasen (werkzeug-) technisch umformatiert und sozial wirksam wird. Norbert Elias hat das an den Tischsitten und dem Gebrauch von Messer und Gabel aufgezeigt.116 Zweitens liefert das Essen nicht nur Ausdrücke für jede Art anderweitiger Aneignungen, sondern interpretiert sie auch, indem sie eben – verschieden – gewählt werden. Die umgangssprachliche metaphorische französische Wendung für das Geldvergeuden (‚manger son capital‘), die wörtlich ‚Geld essen‘ bedeutet, zeigt für Pierre Legendre „nicht etwa an, dass das Geld eine Substanz sein kann, die sich einverleiben lässt, sondern, dass sie mit der archaischsten Seite des menschlichen Subjektiven zusammenhängt, die weiterhin wirksam ist, mal in Form der Umgangssprache, mal als rituelle Praktik“.117 Für Legendre ist diese Seite – im Anschluss an Freud und Lacan – „der radikale Charakter jenes Bezuges, den die Oralität [zur Mutter, H.C.] herstellt“.118 Spätestens hier wird deutlich, wieviel brauchbarer der sich weiter ausdifferenzierende anonyme Metaphernapparat des Essens, Verdauens und Ausscheidens ist, als eine (psychoanalytisch inspirierte) Theorie, die auf eine bestimmte Pointe hinaus will, die eine ‚anfängliche Komplexität der Montage‘ (P. Legendre) z. B. auf ‚die Spiegelerfahrung‘ reduziert. Auch die Konkurrenzmedien zum Buch oder die falschen Bücher bzw. die falsch gelesenen Bücher werden natürlich von dieser Metaphorik nicht geschont. Die ‚Lesesuchtdebatte‘, die das angeblich selbstvergessene Verschlingen der Bücher kritisierte, ist legendär.119 Die Überversorgung mit Lesestoff, bis zur Gleichgültigkeit aller Inhalte, durch den Lesezirkel wurde – wie gesehen – schon 1839 von Immermann parodiert. Zur Konkurrenz des Buchs gehörte auch seit den ausgehenden 1930er Jahren das Comic-Heft. Sein Konsum brachte mitten in der etablierten Konsumgesellschaft einen Klassiker der 116 Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den welt-
lichen Oberschichten des Abendlandes, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft: Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. 117 Legendre: Über die Gesellschaft als Text, S. 85. 118 Ebd. 119 Vgl. nur Schlaffer: Lesesucht. In: Neue Rundschau, S. 100–106. Viele Hinweise auf die zeitgenössischen Debattenbeiträge finden sich bei Kreuzer: Gefährliche Lesesucht? In: Gruenter (Hrsg.): Leser und Lesen im 18. Jahrhundert, S. 62–75.
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Medien-Konsumkritik hervor: Frederic Werthams SEDUCTION OF THE INNOCENT von 1954. Die Metaphorik der Kritik (der Comics) kreiste wie schon 1800 um Überwürzung, Sucht, Verschlingung, Vergiftung, Verstopfung, Überfüllung, Vereinsamung, Verdauung etc. In einer wichtigen Studie hat Isabell Otto auf dieses Buch hingewiesen120 und ebenfalls, wie Deleuze, gezeigt, dass die Nahrungs- und Verdauungsmetaphorik vor allem Sichtbarkeit im Feld des unsichtbaren massenmedialen Konsums verspricht: „Essen, gegessen werden, das ist das Modell der Operation der Körper, der Typus ihrer Mischung in der Tiefe […]. Sprechen dagegen, das ist Bewegung der Oberfläche, der idealen Attribute oder unkörperlichen Ereignisse“.121 Wichtig ist hier, dass dieser Diskurs längst nicht zu Ende ist, dass der metaphorische Apparat gleichzeitig ausgebaut wird und weiterhin ebenso sehr einer platten Kritik der Medien als auch einer differenzierten Analyse des Umgangs mit ihnen zur Verfügung steht. Sowohl die negativen semantischen Komponenten des Konsum-Komplexes wie Schwund (von Schwinden, Schwindsucht), Sucht (von Ziehen, Wassersucht) oder Auszehrung sind weiter aktiv, als auch die positiven der Vollendung oder des Zuendebringens und des Versorgtseins.122 In diesem Zusammenhang muss aufmerksam beobachtet werden, ob das Lesen, Benutzen, Vernetzen und Betrachten elektronischer Bildschirme eine neue Metaphorik des Konsumierens der Texte, Bilder und Töne ausprägt, um es zu propagieren, zu kritisieren, zu verbergen und zu analysieren. Denn diese Metaphern dienen nicht nur der Veranschaulichung und Konzeptualisierung, sondern auch der Steuerung der Prozesse. Die Palette der Metaphern von der (Wasser-)Sucht bis zur Strömung (streaming) deutet eher
120 Vgl. Otto: Diätetik der Mediennutzung. In: Hoffstadt et al. (Hrsg.): Aspekte der Medizin-
philosophie, Bd. 7: Gastrosophical Turn, S. 233–246.
121 Deleuze: Logik des Sinns, S. 43. 122 Zur Geschichte der Versorgung mit konsumierbarem Stoff vgl. Messerli: Leser, Leserschich-
ten und -gruppen, Lesestoffe in der Neuzeit (1450–1850): Konsum, Rezeptionsgeschichte, Materialität. In: Rautenberg (Hrsg.): Buchwissenschaft in Deutschland, Bd. 1: Theorie und Forschung, S. 443–502 und Enzensberger: Bildung als Konsumgut. In: Ders.: Einzelheiten I & II, S. 132–164.
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Forschung Konsumieren
auf Kontinuität als auf radikalen Wechsel. Von den Screen Studies ist hier noch einiges zu erwarten.123 FORSCHUNG Eine medienkulturgeschichtliche Erforschung des Konsumierens, die nicht nur den laufenden Konsum statistisch erfasst oder (immer neue) Epochenmodelle kreiert, hat gar nicht so viele Möglichkeiten. Die Marktforschung aktualisiert und visualisiert das Wissen über den Konsum der Konsument*innen einvernehmlich mit den jeweiligen Industrien unterdessen im Sekundentakt und ringt so auf ihre Weise mit dem unablässig ergehenden Strom neuer Produkte und ihrem Verbrauch. Die spekulative und empirische Psychologie der Konsument*innen ist immer in Gefahr, ein Teil dieser Marktforschung geworden zu sein, und so bleibt neben der Warenästhetik genannten, zeitgemäßen Unterabteilung der Ästhetik124 kaum Platz für eine kulturhistorisch-technische Betrachtung des Gegenstands. Im Einklang mit einer älteren und neueren ‚historischen Soziologie des Konsums‘ nach Freyer und Schrage125 führt hier die technik- und medienhistorisch informierte Beschreibung des Konsumierens als Form – und die Geschichte und Herkunft ihrer Beschreibungsversuche bzw. Begriffe – weiter.126
123 Grundlegend Huhtamo: Elements of Screenology: Toward an Archaeology of the Screen. In:
Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften, S. 31–64. Weitergeführt z. B. bei Stöcker: ‚Aufgewacht aus tiefem Lesen‘. In: Herrmann/Moser (Hrsg.): Lesen, S. 33–47 und Wirth: To Interface (A Computer). In: Göppelsröder/Beck (Hrsg.): Sichtbarkeiten 2: Präsentifizieren, S. 153–168. 124 Vgl. die Beiträge in: Drügh et al. (Hrsg.): Warenästhetik. 125 Vgl. Freyer: Schwelle der Zeiten und Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge. 126 Einen guten Überblick bietet Schramm: Konsumgeschichte: Aktuelle Trends und Perspektiven. In: Hohnstätter/Krankenhausen (Hrsg.): Konsumkultur, S. 59–75.
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LEITEN JAN DISTELMEYER
matischen Verwechslung. Eine Freundin bat sie um Hilfe, weil ihre E-Mails verschwunden waren. Zum Beweis ihres Verlusts klickte sie auf das MailboxIcon ihres Computers und präsentierte einen leeren Posteingang. Da, keine Mails! Dabei hatte sie gestern erst etliche aus ihrem Büro weitergeleitet: „The mechanic who did the installation yesterday said everything was working – ‚just click and go, ma’am‘. But where is my mail?“1 Offensichtlich nicht in der Mailbox, nicht im Posteingang. Als die Freundin auf die Frage, ob denn der Computer mit dem Internet verbunden sei, auf die angeschlossenen Kabel deutete, die durch den Raum zum Schreibtisch und Computer führten, richtete van den Boomen die Aufmerksamkeit auf ein anderes Zeichen im Desktop-Interface des Computers. Darüber ließ sich das Problem beheben, indem die – qua Kabel bereits angelegte – Verbindung zum Internet aktiviert wurde:
Leiten Anekdote
ANEKDOTE 1997 wurde Marianne van den Boomen Zeugin einer sympto-
L
There was a network icon on her desktop, represented by the image of a telephone connecting two computers. Fortunately, her network connection turned out to be correctly configured with the right network protocols, the right IP address for her provider, the right login name, and the right password. Only a doubleclick was necessary to establish her connection. After she clicked the ‚get mail‘ button in her mail program, a stream of mail flowed into her inbox.2
Das Problem, das sich hier auftat und dann schnell gelöst wurde, hat auf mehrfache Weise mit Fragen des Leitens zu tun. Auf einer technisch-physikalischen Ebene geht es um Prozesse des Datentransfers, des Weiterleitens von Impulsen und Signalen, die sich dann dank entsprechender HardwareAnlagen und Software-Prozesse als ‚meine Mails‘ zeigen. Auf einer anderen Ebene geht es um Vermittlung von leitenden Vorstellungen, um das Anleiten
1 van den Boomen: Transcoding the Digital, S. 13. 2 Ebd., S. 13 f.
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Leiten Anekdote
von Handlungen und Verfahren nach bestimmten Vorgaben. Für Marianne van den Boomen resultierte die Lage der Freundin aus einem gut etablierten Missverhältnis dieser zwei Ebenen: „For her, the mailbox icon was not referring to a process, […] for her it functioned as a key to a specific place.“3 Das Mailbox-Zeichen – jenes operative Bild, auf das zu klicken ist, um das Mail-Programm zu aktivieren – verspricht den Zugang zu ‚meinen Mails‘. Hier wirkt die Überzeugung, mit der sich das Graphical-User-Interface Mitte der 1980er Jahre durchsetzte: Komplexe Abläufe in und zwischen Computern werden für Menschen reduziert, indem diese einfach auf verständliche Zeichen reagieren. In diesem Sinne leiten Bilder und damit verknüpfte Vorstellungen die Aktionen von Menschen im Umgang mit Computern. Mit großem Nachdruck und Einfluss ist dies im Interface-Leitfaden MACINTOSH HUMAN INTERFACE GUIDELINES durchdekliniert worden: Weil es „in the computer realm“ einfacher sei, Symbole zu erkennen als einzelne Verfahrensschritte zu verstehen und zu lernen, gäben – auch hier ist der Briefkasten das Beispiel – Leitbilder „direct access“ und sorgen für „aesthetic integrity“.4 Diese Anleitung strebt eine besondere Komplexitätsreduktion an. Beim ‚where is my mail‘-Beispiel gehört dazu, die technisch-physikalischen Bedingungen und Prozesse des Datentransfers, des Weiterleitens von Impulsen und Signalen natürlich nicht zu vermitteln. Um solche Prozesse des Leitens geht es nicht. Stattdessen verbirgt das Mailbox-Icon, so van den Boomen, gezielt diese Prozesse, „the complex nested processes that it refers to“.5 Genau darum ist das aufgelöste Mail-Missverständnis – „She took the mailbox icon for the mail itself.“6 – keine Anekdote menschlichen Fehlverhaltens. Hier werden nicht einfach technische Abläufe hinter dem Klick individuell ignoriert. Diese eher systemische Verwechslung beschreibt vielmehr eine vorschriftsmäßige und gut etablierte Beziehung zwischen unterschiedlichen Verfahren des Leitens im Umgang mit Computern.
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Ebd., S. 35. Apple Computer Inc.: Macintosh Human Interface Guidelines, S. 225–226. van den Boomen: Transcoding the Digital, S. 36. Ebd., S. 35.
„leittan“ und „leitan“ zurückgeführt und „in seiner ursprünglichen bedeutung“ bzw. im „eigentlichen sinne“ als „gehen machen“ erklärt worden.7 Leiten bedeutet diesem Verständnis nach „gehen machen, in Bewegung setzen, führen, Geleit, begleiten für be-ge-leiten“.8 Andere(s) in Bewegung zu setzen, wird als ein Akt des Bestimmens verstanden: „Als Activum oder vielmehr Factitivum, gehen machen, d.i. die Richtung der Bewegung eines Gehenden, und in weiterer Bedeutung die Richtung einer Bewegung, und zwar die ganze Bewegung hindurch, bestimmen.“9 Darauf gründet die heute geltende Erklärung von leiten als „Veranlassungswort zu dem unter leiden ursprünglich ‚gehen, fahren‘ behandelten Verb“, das „demnach eigentlich ‚gehen oder fahren machen‘“ bedeutet.10 Die Objekte des Leitens sind vielfältig. Bereits in der etymologischen Bestimmung des 19. Jhs. dominieren vor allem zwei Felder des Leitens, die als physikalisches Leiten und als soziales oder ideologisches Leiten unterschieden werden können. Leiten umfasst dementsprechend im GRIMMSCHEN WÖRTERBUCH „in bezug auf flüssigkeiten, kräfte u. ähnl., denen die phantasie eine selbständige bewegung zuschreibt, solchen einen bestimmten weg mit bestimmtem ziel anweisen“, wie auch als soziale Technik zu „führen“ und zu „bestimmen“.11 Im einen wie im anderen Sinne geht es also um eine Form von Machtausübung: um ‚gehen machen‘, verstanden als Lenken und Führen durch angewiesene und kontrollierte Bewegung. Im physikalischen Sinne steht das Verb leiten damit der neuzeitlichen Bedeutung des Kanalisierens nah, worunter allgemein „ordnende, regulierende und kontrollierende Tätigkeiten“12 gefasst werden. Seit Benjamin Franklins frühen Elektrizitätsforschungen um 1750 wird in diesem Sinne das engl. Verb
Leiten Etymologie
ETYMOLOGIE In den Sprachforschungen des 19. Jhs. ist das Verb leiten auf
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7 (Art.) Leiten. In: Grimm. Deutsches Wörterbuch, Sp. 728–733. 8 (Art.) Leiten. In: Blicke in die Etymologie der deutschen Sprache, S. 32. 9 (Art.) Leiten. In: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart,
Sp. 2023.
10 (Art.) Leiten. In: Duden. Herkunftswörterbuch, S. 481. 11 (Art.) Leiten. In: Grimm. Deutsches Wörterbuch, Sp. 728–733. 12 Schmidt: (Art.) Kanalisieren. In: Christians/Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches
Wörterbuch des Mediengebrauchs, S. 328.
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Leiten Kontexte
„to conduct“ mit leiten übersetzt.13 Aus der Urkundensprache des 13. Jhs. ist das Verb „in der Bedeutung ‚(einen Wasserlauf ) leiten, lenken‘“14 überliefert. Im technisch-physikalischen Sinne ist Leiten ein kanalisierendes Lenken, das auch im Fluss Kontrolle verspricht. Das soziale oder ideologische Leiten hingegen betrifft das Lenken anderer Kräfte und Bewegungen. Auch Lebewesen werden geleitet. Im Bild des Hirten fällt das Leiten von Tieren und Menschen zusammen; das damit charakterisierte religiöse Leiten steht stellvertretend für weitere organisatorische, politische, ideologische und pädagogische Zusammenhänge, aus denen heraus sich Begriffe wie „Leitbilder“ oder „Leitkultur“ erklären. Hier wird das kanalisierende Lenken zum sozialen Leiten – zum Führen. Für Michel Foucault ist der Begriff des Führens dazu prädestiniert, „das Spezifische an den Machtverhältnissen zu erfassen“.15 Gerade im religiösen Zusammenhang wird die Begriffsgeschichte und -bedeutung mit diesen Machtfragen verbunden. Während leiten „so viel bedeutet wie ‚gehen machen‘“, leite sich „das Wort ‚führen‘ von einer althochdeutschen Wurzel ab, die ‚fahren machen‘ bedeutet“, weshalb beide Wörter demnach auf eine Bewegung hinweisen, „die der Leiter oder Führer bewirken soll“.16 Die Wirkung ist entscheidend: „Leiten bedeutet also […]‚ Menschen in Bewegung setzen‘.“17 Die Prozesse, auf die es dieser Logik nach letztlich ankommen soll, sind also gar nicht die des Leitens. Es sind vielmehr jene, die durch das Leiten erst ermöglicht und verursacht werden sollen. ‚Gehen machen‘ zielt auf die Zukunft. KONTEXTE Bei der sozialen Bedeutungsebene des Leitens – im besagten
Sinne von ‚führerschaft‘ als ‚das bestimmen einer richtung und eines zieles für einen weg‘ – wird der damit verbundene Machtanspruch besonders offensichtlich. Es geht um das kontrollierende Bestimmen einer Bewegung. Dass diese machtbezogene Bedeutung des Veranlassungsworts leiten und der Anspruch
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Vgl. Wilcke: Des Herrn Benjamin Franklins Briefe von der Elektricität. Ring: Substantivderivation in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts, S. 106. Foucault: Das Subjekt und die Macht, S. 255. Aigner: Die Kunst des Leitens, S. 8. Ebd., S. 9.
Leiten Kontexte
auf Führung allerdings auch für den benannten physikalischen Wortsinn ‚in bezug auf flüssigkeiten, kräfte u. ähnl.‘ zutrifft, zeigt die Begriffsgeschichte im Kontext der Physik des 19. Jhs. Herrmann Schefflers DIE NATURGESETZE UND IHR ZUSAMMENHANG MIT DEN ABSTRAKTEN WISSENSCHAFTEN beschreibt das Leiten von Elektrizität als eine besondere Kontrolle von Kraft. Um das Leiten vom Strahlen zu unterscheiden, erklärt Scheffler die „Leitungsfähigkeit eines Körpers“ als „die Fähigkeit zur Bildung stehender Wellen und demzufolge als die Fähigkeit zur Festhaltung seiner lebendigen Kraft unter Ausbreitung derselben“.18 In diesem Bild der stehenden Wellen zeigt sich ein Paradox, mit dem die Bedeutung des Leitens auf einen Punkt kommt, der ähnlich auch für das soziale Leiten gilt: Die Kraft wird gleichzeitig weitergegeben und gesichert. Die Macht des Leitens besteht darin, die Ausbreitung einer Kraft zu veranlassen, deren Erhalt dabei zugleich kontrolliert werden kann. ‚Gehen machen‘ ist beides zugleich: in Bewegung setzen und festhalten. Unterschiedliche Modi der Kontrolle und der Erfolgssicherung werden dabei wirksam. In Bezug auf Menschen und Gesellschaften ist hier z.B. an politische, ideologische oder religiöse Führung zu denken, an ethische Leitvorstellungen einzuhaltender Prinzipien, an Leitbilder, an die Debatte um eine Leitkultur, an die Beichte oder die Selbstprüfung und -führung durch die Internalisierung leitender Wertvorstellungen, Regeln und Gesetze. Andere Techniken hingegen kommen zum Einsatz, um den Erfolg des physikalischen Leitens sicherzustellen. Hier kann mit dem gleichen Material geleitet und gemessen werden, was für die Beziehung des Leitens zum Medialen von besonderer Bedeutung ist. Kabel, die „verkreuzt, vernetzt und vielfach verzweigt“ überall da liegen, „wohin Elektrizität, ob als Energie oder als Signal geleitet werden soll“19 sind dafür das beste Beispiel. „Denn Kabel dienen in einer wissenschaftshistorisch entscheidenden Dopplung nicht allein der Übertragung, sondern immer auch zur Messung des Vorgangs der Übertragung.“20 Nachdem der dänische
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18 Scheffler: Die Naturgesetze und ihr Zusammenhang mit den abstrakten Wissenschaften,
S. 386.
19 Gethmann/Sprenger: Die Enden des Kabels, S. 7. 20 Ebd., S. 29 f.
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Leiten Kontexte
Physiker Hans Christian Oersted 1819 entdeckt hatte, dass eine Kompassnadel auf den Strom in einem Kabel reagiert,21 konnte fortan eine „Magnetnadel als Anzeigegerät für den Strom“22 eingesetzt werden. Indem so Elektrizität mit Magnetismus zusammenkam, machte das Galvanometer „innere Zustände von Kabeln sichtbar und damit ‚als ein System von Informationen bestellbar‘“.23 Auch wenn also hinsichtlich des sozialen Leitens Medien insofern prinzipiell eine Rolle spielen, als es für die Überlieferung und Verbreitung von Leitbildern und -vorstellungen immer schon um deren Vermittlung geht, wächst die Bedeutung des Leitens für den Mediengebrauch ab dem 19. Jh. immens. Der Grund dafür ist die sich seitdem massiv ausbreitende Verbindung von Medialität und Elektrizität. In all jenen medialen Konfigurationen, die – von Telegrafie über Film und Rundfunk bis zum Fernsehen und den diversen Computeranwendungen und -vernetzungen – als elektronische Medien gelten, ist ihre Funktions- und Wirkungsweise daran gekoppelt, dass und wie elektrische Ströme und Signale geleitet werden. Dass hierbei Materialität, Ressourcen und Prozesse (der Produktion und des Gebrauchs) in gleicher Weise zu berücksichtigen sind, hat zuletzt die Entwicklung der Infrastructure Studies gezeigt.24 Diese Verbindung von Vermitteln und Leiten ist in einer frühen Phase der deutschen Medienwissenschaft als „Mediensprung“25 bezeichnet worden: „Elektrische Signale und elektrisches Licht“, hat Wolfgang Coy 1994 betont, „bestimmen die Medien nach dem Buchdruck“ – Beispiele wie „Telegrafie, Telefon und ‚leitungsloser‘ Richtfunk, Film, Rundfunk und Fernsehen, Schallplatte, CD und Video“ nutzen „den elektrischen Funken und das elektrische Licht“.26 Von der berühmten und etwa zur gleichen Zeit von Friedrich Kittler aufgestellten Trias der Funktionen von Medientechnologien – „Übertragung, Speicherung, Verarbeitung von Information“27 – betont insbesondere (aber nicht nur) die erste Funktion, das Übertragen, den Stellenwert des Leitens; 21 Vgl. Sprenger: (Art.) takten in diesem Band, S. ###. 22 Bexte: Kabel im Denkraum. In: Engelbert/Herlt: Updates, S. 30. 23 Ebd., S. 31. 24 Vgl. dazu: Parks/Starosielski: Signal Traffic: Critical Studies of Media Infrastructures. 25 Coy: Aus der Vorgeschichte des Mediums Computer. In: Bolz/Kittler/Tholen (Hrsg.): Com-
puter als Medium, S. 30.
26 Ebd. 27 Kittler: Draculas Vermächtnis, S. 8.
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KONJUNKTUREN Vannevar Bushs berühmter Aufsatz AS WE MAY THINK
gilt als Inspiration mit „Leitbildfunktion“30 für diverse Mensch-ComputerVerhältnisse (vom Personal Computer über die Desktop-Metapher bis zum Hypertext des World Wide Web). Er erschien erstmals – frühere Überlegungen dazu datieren von 1939 – im Juli 1945 in der Zeitschrift The Atlantic Monthly und entwarf die Idee des ‚Memex‘, des ‚Memory Extender‘, der bis heute zum Kanon der Konzepte und Wunschkonstellationen zur Entwicklung von Computern gehört. Diese erste „Beschreibung einer informationsverarbeitenden Maschine“ im Sinne einer kommenden „Mensch-ComputerInteraktion“31 endet mit einer besonderen Vision. Sie betrifft das Leiten von Informationen und Elektrizität. Der Kybernetik nahe sinniert Bush darüber, wie informationsverarbeitende und -organisierende Maschinen nicht nur nach dem Muster des Menschen entwickelt, sondern auch die Verbindungen der Menschen zu ihnen nach technischem Vorbild verbessert werden können. Weil die menschliche
Leiten Konjunkturen
zumal wenn technische Medien zu elektronischen Medien werden und „die Unterschiede zwischen Schreiben und Programmieren mittlerweile gegen Null gehen“28. Gerade die besondere Stellung des Computers, die auch in Assoziationen mit Begriffen wie „Leitmedium“ oder „Dominanzmedium“ zum Ausdruck kommt,29 hängt mit der Zuspitzung der Bedeutung des Leitens von Elektrizität zusammen. Denn Computer können nur deshalb den Ruf einer universellen Maschine genießen, weil sowohl ihre Zweckvielfalt als auch ihre Vernetzung auf dem Leiten elektrischer Impulse basiert. Wie gerade diese technisch-physikalischen Verfahren für den menschlichen Gebrauch mit anderen, ideologischen Prozessen des Leitens verbunden werden, zeigt die ‚where is my mail‘-Erfahrung aus der Anekdote.
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28 Ebd., S. 9. 29 Müller/Ligensa: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Leitmedien, S. 11–15. 30 Hellige: Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion. In: Ders.
(Hrsg.): Mensch-Computer-Interface, S. 28 und Schröter: Das Netz und die Virtuelle Realität, S. 23. 31 Bruns/Reichert: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Neue Medien, S. 100.
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Leiten Konjunkturen
Wahrnehmung als eine „genaue Analogie zu den elektrischen Vibrationen, die im Kabel eines Fernsehers vorkommen“,32 funktioniere, hofft Bush auf den direkten Transfer von Informationen als „elektrische Vibration“ zwischen Mensch und Maschine: „Könnten diese Strömungen nicht abgefangen werden, entweder in ihrem ursprünglichen Zustand, mit dem Informationen ans Gehirn übermittelt werden, oder in einer fabelhaft veränderten Form, mit der sie dann in die Hand weitergeleitet werden?“33 Diese Vorstellungen zum Leiten elektrischer Impulse als Informationen bekräftigen die kanonisierte ‚Leitbildfunktion‘ von AS WE MAY THINK und schlagen eine Brücke vom Ende der 1930er bis weit ins 21. Jh. Um 2020 nehmen die Pläne solcher Mensch-Maschine-Verbindungen konkrete Formen an: in Gestalt von Brain-Computer-Interfaces die u.a. von Facebook und Elon Musks Firma Neuralink vorangetrieben werden.34 Während Mark Zuckerbergs Vorstellungen eines „brain click“ und von „typing with your mind“35 durch Elektroden auf der Kopfhaut funktionieren sollen, wählt Neuralink den invasiven Ansatz.36 Das Einsetzen von Elektroden in die Großhirnrinde dient sowohl dem Ablesen der Hirnaktivität als auch dem, wie Musk erklärt, „writing to the brain or stimulating neurons“.37 Nur sieben Monate nach der Erstveröffentlichung von Vannevar Bushs AS WE MAY THINK wurde der ‚Electronic Numerical Integrator and Computer‘ (ENIAC) der US-amerikanischen Öffentlichkeit vorgestellt. Seit der Entwicklung dieser „ersten rein elektronischen Rechenmaschine zur Berechnung von
32 Bush: Wie wir denken werden (1945). In: Bruns/Reichert (Hrsg.): Neue Medien, S. 124. 33 Ebd. 34 Vgl. dazu: Mudgal et al.: Brain Computer Interface advancement in Neurosciences; POST:
Brain-Computer Interfaces.
35 Cohen: Zuckerberg Wants Facebook to Build a Mind-Reading Machine. In: Wired. Unter:
https://www.wired.com/story/zuckerberg-wants-facebook-to-build-mind-reading-machine/ [aufgerufen am 14.09.2021]. 36 Vgl. dazu: Musk/Neuralink: An Integrated Brain-Machine Interface Platform With Thousands of Channels. 37 Elon Musk’s Neuralink Demonstrates Its Brain To Machine Interface (29.08.2020). In: YouTube. Unter: https://www.youtube.com/watch?v=Mp6_ZHHGIF8&t=2s [aufgerufen am 14.09.2021].
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Leiten Konjunkturen
Geschütz-Richttabellen“,38 die als erster elektronischer Digitalcomputer gilt, hat sich die Gestalt und Leistungsfähigkeit von Computern so sehr gewandelt, dass es heute durchaus fragwürdig ist, „Computer als Gattungsnamen“39 zu verwenden. Immerhin ist der Weg vom raumgreifenden Mainframe-Großrechner wie dem ENIAC über Heimcomputer und Laptops bis zu Tablets, Smartphones und ‚smarten‘ Armbanduhren und Brillen ja nur der Teil, der sich dezidiert an Menschen richtet. Gleichzeitig nimmt die Einbettung von Computertechnologie in Gegenstände, Maschinen und Körper zu. Die BrainMachine-Interfaces, mit denen sich Bushs Vision erfüllen mag, sind Teil dieser Bewegung. Was jedoch bei aller Diversifizierung, Einbettung und angestrebter Autonomisierung der Computertechnologie eine charakteristische Konstante bleibt, ist die Basis ihrer Flexibilität. Ob nun Geschütz-Berechnung oder ‚SocialMedia‘-Kommunikation, ob Textverarbeitung oder Games, ob KI-Modelle oder E-Mail-Transfer: Alle Zwecke, die sich durch die Rechenleistung gegenwärtiger Digitalcomputer realisieren lassen, können von Computern darum erfüllt werden, weil ihr einziger festgelegter Zweck eben genau der ist zu „rechnen“. Dank der Abläufe von algorithmischen Befehlsketten, die der Wenn/DannEntscheidungslogik folgen, können diese in gewisser Weise unbestimmten Maschinen bestimmt werden. Immer wieder neu. Das macht die „programmierbare[] Zweckbestimmung“40 dieser Maschinen aus – ihre buchstäblich entschiedene Programmierbarkeit. Dies läuft dank/mit Elektrizität: Die Prozessoren aller elektronischen Digitalcomputer bestehen „aus einer großen Menge von Schaltern“, deren Besonderheit darin liegt, „dass sie Strom nicht nur schalten, sondern durch Strom auch geschaltet werden“.41 Das Schalten zum Zwecke des (immer wieder neu) organisierten Leitens elektrischer Impulse lässt Programme wirksam werden. Sie stellen „die Schalter des Prozessors auf das zu lösende Problem“ ein und machen auf diese je momentane Weise „aus
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38 Hagen: Die Camouflage der Kybernetik. In: Pias/Vogel (Hrsg.): Cybernetics/Kybernetik,
S. 191.
39 Alpsancar: Das Ding namens Computer, S. 15. 40 Coy: Aus der Vorgeschichte des Mediums Computer. In: Bolz/Kittler/Tholen (Hrsg.): Com-
puter als Medium, S. 19.
41 Winkler: Prozessieren, S. 257 [Herv.i.O.].
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Leiten Konjunkturen
der ‚universalen‘ eine spezielle Maschine“.42 Darum hat Hartmut Winkler diese leitenden Prozesse als die „innere Telegrafie“ bezeichnet, die im „Inneren des Computers regiert“.43 Die Programmierbarkeit jener Computer, die heute so diverse, eigendynamische Formen annehmen und so weit verbreitet wie auch tief einbettet sind, ist also in diesem Sinne die Automatisierbarkeit des Schaltens und Leitens elektrischer Impulse. Was Computer tun, entscheidet sich dadurch, wie Strom geleitet wird. Das gilt nicht nur für das interne Wirken der Computer seit den 1940er Jahren – für die innere Telegrafie, für die „codes […] as sequences of signals“,44 für die Programme eines Computers, „verkörpert in seinen Stromzuständen“.45 Ebenso trifft dies zu für die Vernetzung von Computern, für das Internet und seinen Datentransfer. Der Unterschied zwischen „Information blockieren, Information verzögern und Information durchleiten“, so die Informatikerin Agata Królikowski, „ist lediglich eine technische Regeldefinition in Software, die jederzeit geändert werden kann“.46 Solche Formen des (Durch-)Leitens sind physikalische Verfahren, die durch diverse Interfaces laufen. Und doch sind auch die für Menschen unzugänglichen Prozesse insofern immer schon mit der anderen Bedeutungsebene des Leitens, mit der Frage nach Werten und leitenden Vorstellungen verbunden, als diese physikalischen Verfahren auf Programmierung beruhen. Wer programmiert, leitet nach bestimmten Vorstellungen Computer zu neuen Verfahren und Zwecken an. Er, sie oder es (sofern Computer in die Lage versetzt werden, sich selbst oder andere Computer zu programmieren) legt Abläufe fest, schreibt Werte zu und bestimmt die Verfahren, nach denen Hardware operiert. Bis 1947 mussten am ENIAC dazu Programmiererinnen wie Kathleen McNulty, Betty Jean Jennings und Ruth Lichterman die Leitverfahren noch händisch mit dem Umstecken von Kabeln festlegen. Heute kann dazu in (vor-programmierten) User-Interfaces agiert werden. „Man könnte sagen,
42 Ebd., S. 259 [Herv.i.O.]. 43 Ebd., S. 294 [Herv.i.O.]. 44 Kittler: Code. In: Fuller (Hrsg.): Software Studies, S. 40. 45 Krämer: Schriftbildlichkeit. In: Dies./Bredekamp (Hrsg.): Bild, Schrift, Zahl, S. 172. 46 Zit. n. Sprenger: Politik der Mikroentscheidungen, S. 71.
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Leiten Gegenbegriffe
dass Programmieren zum Programmieren und Software zur Software wurde,“ hat Wendy Chun diese Veränderung beschrieben, „als nicht mehr ein ‚Mädchen‘ herumkommandiert wurde, sondern eine Maschine Befehle erhielt.“47 Wenn Menschen Programmierung durchführen und damit ihre Entscheidungen (z.B. Definitionen und Deklarationen) als Befehlsstrukturen an Computer weitergeben, als stehende Wellen der Bestimmung, liegt der Zusammenhang des physikalischen Leitens und des ideologischen Leitens auf der Hand. Es wird nach bestimmten Wertvorstellungen festgelegt, was wann geschehen soll. Eine Folge dessen ist, dass dieser Zusammenhang auch und insbesondere in jenen Formen menschlichen Gebrauchs wirkt, die alltäglich unter dem Schlagwort Mensch-Computer-Interaktion laufen. Gerade hier zeigen sich die offensichtlichsten Effekte der Kopplung von physikalischem und ideologischem Leiten. Weil alle Abläufe von Computern auf Programmierung beruhen, müssen alle Möglichkeiten, Eingaben in diese laufenden Systeme zu machen, von der Programmierung vorgesehen sein und bei Bedarf – z.B. den MACINTOSH HUMAN INTERFACE GUIDELINES folgend – angeleitet werden. Wie Menschen und weitere Teile der Welt gegenüber dieser Sorte programmatischer Maschinen sein und wirksam werden können, setzt darum eine doppelte Modellbildung voraus: Diese Maschinen sind nach menschlichen Machtansprüchen modelliert und in ihnen wird ein ebenso wirksames Modell von Mensch und Welt als erfassbares und nur so Einfluss nehmendes Gegenüber verankert.48
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GEGENBEGRIFFE Für Fragen der Medialität und des Mediengebrauchs – ins-
besondere hinsichtlich der diversen Ausprägungen von Computertechnologie – entfaltet das Verb leiten seine heuristische Kraft, wenn beide Bedeutungsebenen beachtet werden: der Zusammenhang des physikalischen Leitens einerseits und des sozialen oder ideologischen Leitens andererseits, das so immer schon mit Fragen der Materialität konfrontiert wird. Beide Bedeutungsebenen
47 Chun: Über Software. In: Peters/Seier (Hrsg.): Gender und Medien Reader, S. 287. 48 Vgl. Nake: Schnittstelle Mensch-Maschine. In: Distelmeyer/Ehrmanntraut/Müller (Hrsg.):
Algorithmen & Zeichen, S. 282–286.
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Leiten Gegenbegriffe
zielen auf erwünschte Wirkungen, auf Effekte, die das Leiten verursacht. In diesem Sinne verspricht das Verb leiten den Erfolg des ‚Gehen machen‘ und adressieren Gegenbegriffe das Misslingen dieser Operation. Darum bilden Verben wie blockieren, stören, unterbrechen, zurückweisen und diffundieren die deutlichsten Gegenbegriffe. Dort, wo die Leitung unterbrochen ist, wo das Leiten blockiert und gestört wird, endet die beschriebene Praxis, ‚flüssigkeiten, kräfte u. ähnl […] einen bestimmten weg mit bestimmtem ziel an[zu]weisen‘. Mit einer solchen Gegenüberstellung begann die Geschichte des Begriffs Interface Ende des 19. Jhs., als die Physiker James und William Thomson (der spätere Lord Kelvin) den Ausdruck Interface einführten, um damit Oberflächenzustände, Leitfähigkeiten und Fließvermögen zur Erklärung des Leitens von Energie zu beschreiben. Für William Thomson war das Interface trennend und verbindend zugleich. Es wirkt prozessual –„turning molecules back or allowing them to pass through from either side“.49 Auch im Hinblick auf das soziale oder ideologische Leiten bedeutet die Zurückweisung konkrete Gegenwehr: wenn Menschen den Anspruch der Leitung, ‚Menschen in Bewegung [zu] setzen‘, zurückweisen. Herrmann Schefflers bereits genannter Gegenbegriff zum Verb leiten, das Strahlen, bezieht sich hingegen nicht auf eine Unterbrechung im Fluss oder auf Zurückweisung, sondern auf fehlende Kontrolle des Fließens. Hier wird das Diffundieren, das Zerstreuen zum Gegensatz: als „Zerstreuung nach allen Seiten“.50 Ein „absoluter Strahler“ hat für Scheffler „keine Leitungsfähigkeit“, denn „jede Menge lebendiger Kraft, welche man diesem Körper auf irgend einem Wege zuführte, würde denselben, ohne festgehalten zu werden, in fliegenden Wellen durcheilen“.51 Gerade in Bezug auf vernetzte Computer und das Internet helfen Gegenbegriffe zum Leiten, seine Funktion zu verstehen. Die von Królikowski betonte Differenz zwischen ‚Information blockieren, Information verzögern und Information durchleiten‘ bildet die Grundlage für permanent getroffene, unmenschlich schnelle Entscheidungen jener automatisierten Abläufe, die alle Formen 49 Thomson: Kinetic Theory of the Dissipation of Energy. In: Nature, S. 442. 50 Scheffler: Die Naturgesetze und ihr Zusammenhang mit den abstrakten Wissenschaften,
S. 387.
51 Ebd., S. 386.
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PERSPEKTIVEN Die Einführung des Touchscreens, der sich seit 2007 als ein
Standard für den Computer-Gebrauch durchgesetzt hat, erlaubt eine neue Beziehung zu den Prozessen des Leitens – und lädt damit zugleich dazu ein, über die Prinzipien des Leitens in Bezug auf Computer nachzudenken. Meine Berührung des Touchscreens involviert mich neu in die Felder des Leitens. An den mit operativen Bildern belegten Stellen dieser Bildschirme kommt es durch Berührung zu veränderten elektrischen Kapazitäten, zu neuen Verhältnissen zwischen Ladung und Spannung. Ein berührender Akt des Leitens: Indem ich die Leitfähigkeit meines Körpers einsetze, können die betreffenden Befehle an die innere Telegrafie des Computers geleitet werden, um jene Programmabläufe zu starten, die den Icons – den operativen Leitbildern auf dem Touchscreen – zugeschrieben sind. Diese Interface-Inszenierung, „that gives users the illusion of actually physically manipulating data with their hands“,53 ist das Produkt einer Programmierung und Hardware-Konstellation, die menschliche Körper offensiver denn je für jenes Leiten elektrischer Impulse einspannt, das Computer laufen lässt. Grafische Interface-Inszenierungen leiten diese Kontaktnahme an. Dazu gehört zuallererst, als Zugang zu den Funktionen des Geräts, eine gerasterte Übersicht der zu Gebote stehenden Programme – eine App-Ordnung. Sie offeriert Programme im Startbildschirm, im Homescreen, und ermöglicht somit eine „haptic experience of productivity“,54 zu der zunehmend Apps gehören, deren Funktionieren eine laufende Verbindung zum Internet voraussetzt, weil
Leiten Perspektiven
und Verfahren der Internet-Kommunikation bedingen. Diese Entscheidungen, z.B. „über den besten Pfad zum Ziel, eine Entscheidung über die Verarbeitungsgeschwindigkeit, eine Entscheidung über die Priorität zwischen den ankommenden Paketen“, nennt Florian Sprenger Mikroentscheidungen – sie „unterbrechen den Strom der Daten, um ihre Verteilung zu kontrollieren“.52 Zwischen den Gegenbegriffen unterbrechen und leiten liegen in dieser Logik die Mikroentscheidungen.
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52 Sprenger: Politik der Mikroentscheidungen, S. 20. 53 Lev Grossman, zit. n. Snickars: A walled garden turned into a rain forest. In: Ders./Vonderau
(Hrsg.): Moving data, S. 155–156.
54 Verhoeff: Mobile Screens, S. 84.
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Leiten Forschung
diese Programme – wie z.B. die YouTube- oder Twitter-App – Zugänge zu Websites, Plattformen und Online-Diensten bieten. Darum leitet meine Berührung eines App-Icons, eines operativen LeitBildes auf dem Touchscreen, mehr als nur die Rechenprozesse und den Energieverbrauch meines Geräts an. Der Akt des Startens der (internetbasierten) Apps wird zum Eintritt in einen Flow, der – und dies ist für die PlattformÖkonomie entscheidend – zwischen interner Prozessortätigkeit und externem Netzwerk-Traffic nicht mehr unterscheidet. Signale und Daten fließen. Der menschliche Körper klinkt sich dazu in die Leitungsprozesse der Computer und ihrer Vernetzung ein. So kommt es zu einem bemerkenswerten Widerspruch. Gerade der Touchscreen mit dem provozierten Eindruck von Unmittelbarkeit – „letting you control everything with just your fingers“55 – ist die Einladung, über die Prozesse des Vermittelns nachzudenken. Das beworbene User-Interface „with touch controls“56 führt vor Augen, was Interfaces hier konkret und auch grundsätzlich in, zwischen und zur Verbindung mit Computern tun: sie leiten. FORSCHUNG Ansätze, das Wirken von Computern mit Fragen nach Prozes-
sen des Leitens zu erschließen, haben in der Medienwissenschaft in den 2010er Jahren einen eigenen Forschungsbereich entwickelt, der mit dem Oberbegriff „Interfaces“ markiert werden kann. Diese Forschungen sind divers und mit unterschiedlichen Teilfragen befasst, weil der Interface-Begriff selbst einen vielschichtigen Komplex bezeichnet. Mit Florian Cramers und Matthew Fullers Ansatz aus den Software Studies können folgende Interface-Ebenen unterschieden werden: In unterschiedlicher und miteinander wirkender Form stellen Interfaces Verbindungen her zwischen (a) Hardware und Mensch, (b) Hardware und Hardware, (c) Hardware und Software, (d) Software und Software sowie (e) Software und Mensch. Auf diese letzte Verbindung, zu der z.B. die Graphical-User-Interfaces der
55 Ripley/Davis: Trickster Fiddles with Informatics. In: Journal of Systemics, Cybernetics, and
Informatics, S. 91.
56 Ebd.
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Leiten Forschung
Desktop-Inszenierung gehören, hat die Medienwissenschaft – darauf weisen Cramer und Fuller hin – den vielschichtigen Interface-Begriff lange Zeit reduziert.57 Diese Reduktion ist von den jüngeren medienwissenschaftlichen Forschungen zum Interface ebenso korrigiert worden wie die Einteilung, die unter (a) gefassten Hardware-Interfaces würden lediglich Menschen mit Computern verbinden.58 Angesichts der seit den 2000er Jahren rasant zunehmenden Verbreitung sensorbasierter Computerformen, die durch zahlreiche Hardware-Interfaces wie Mikrofone, Kameras und Bewegungssensoren die Welt (v)ermitteln, muss diese Kategorie erweitert werden. Was bei Cramer und Fuller noch unter „hardware that connects users to hardware“59 rangiert, ist inzwischen auf all das ausgedehnt, was keinen bewussten Gebrauch dieser Technik mehr machen muss. Interfaces zwischen ‚Hardware und User‘ sind längst Interfaces zwischen Hardware und (v)ermittelbarer Welt. Was die in den 2010er Jahren intensivierte Forschung zu Interfaces mehr und mehr berücksichtigt, ist das Ineinandergreifen unterschiedlicher Interface-Ebenen, die im Blick behalten werden müssen, auch wenn nur ein spezifischer Interface-Aspekt im Zentrum der Betrachtung steht oder das Verschwinden etablierter Interface-Formen zum Thema wird. In diesem Sinne richtet sich die Forschung auf unterschiedliche Aspekte aus: So wird z.B. die Prozessualität von Interfaces betont,60 die Indexikalität61 und die „Ästhetik der Verfügung“62 von Interface-Inszenierungen untersucht. Das Smartphone wird als Interface verstanden, bei dem „das Endgerät nur den sichtbaren Teil eines ausgedehnten Netzwerks markiert“.63 In Reaktion auf den Hype um „Künstliche Intelligenz“ werden die „auf körperliche Interaktion zielenden Interfaces
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57 Vgl. Cramer/Fuller: Interface. 58 Vgl. dazu Hookway: Interface; Galloway: The Interface Effect; Andersen/Pold: The Meta-
interface; Ernst/Schröter (Hrsg.): Medien, Interfaces und Implizites Wissen; Hadler/Soiné/ Irrgang (Hrsg.): Interface Critique Journal; Distelmeyer: Machtzeichen; Andreas/Kasprowicz/ Rieger: Unterwachen und Schlafen. 59 Cramer/Fuller: Interface, S. 149. 60 Galloway: The Interface Effect, S. 33. 61 van den Boomen: Transcoding the Digital, S. 27–47. 62 Distelmeyer: Machtzeichen, S. 65–126. 63 Kaerlein: Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien, S. 80.
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Leiten Forschung
des Machine Learning“64 hervorgehoben. Der Begriff vom „metainterface“65 wird entwickelt, um bei der vermeintlichen Auflösung bestimmter InterfaceErscheinungsformen an die dazu nötigen und verborgenen Interface-Ebenen zu erinnern. Die Erforschung von Infrastrukturen als so materielle wie prozessuale Formationen adressiert z.B. die „landing points“ der unterseeischen Internet-Kabel als „an interface between technological networks and the local cultural practices they seem to bypass“.66 Die Gestaltung von User-Interfaces werden auf ihre „embedded value systems“67 hin befragt, was z.B. zur „Tradition des dienstbaren weiblichen Geistes“68 oder zu „whiteness as the design default“69 führt. Im Rahmen der empirischen App Studies wird die Bedeutung und Wirkungsweise von Apps als ‚Daten-Zwischenhändler‘ mittels „comparative interface analysis“70 erforscht, um zu ermitteln, welche Daten durch das Graphical-User-Interface (für mich als ‚User‘) und welche Daten durch das Application-Programming-Interface (für Dritte) zugänglich werden. Die Vielschichtigkeit des Interface-Komplexes eignet sich dazu, die Vielschichtigkeit der Wirkung und Bedeutung von Computertechnologie zu erschließen. Der Begriff des Leitens kann dabei insofern eine Schlüsselrolle spielen, als seine Doppelbedeutung jene Materialität und Prozessualität anspricht, die für diese Technologie (in all ihren sich ausbreitenden Formen) charakteristisch ist.71 Nach den Prozessen des Leitens zu fragen, würde im Falle der Visionen Vannevar Bushs und der Entwicklung von Brain-Computer-Interfaces bedeuten, sowohl die dazu nötigen Interface-Ebenen zu untersuchen als auch zu erörtern, welche Vorstellungen von Menschen, Hirnen, Computern und Fortschritt diese Überlegungen und Verfahren anleiten. Beides gehört zusammen, weil Programmierbarkeit bedeutet, dass Vorstellungen jederzeit zur Regel werden können. 64 Engemann: Rekursionen über Körper. In: Ders./Sudmann: Machine Learning, S. 263. 65 Andersen/Pold: The Metainterface. 66 Starosielski: The Undersea Network, S. 169. 67 Noble: Algorithms of Oppression, S. 147. 68 Angerer/Bösel: Capture All, S. 54. 69 Rankin/Henderson: Resisting Racism in Tech Design, S. 22. 70 Weltevrede/Jansen: Infrastructures of Intimate Data. 71 Vgl. Distelmeyer: Kritik der Digitalität, S. 53–95.
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MONTIEREN MELANIE MIKA | VANESSA OSSA | KIRON PATKA
Montieren Anekdote
ANEKDOTE Leuchtendes Grün lässt sich mit elektronischen Mitteln leicht
M
aus Videomaterial herausfiltern und durch anderes Bildmaterial ersetzen. Als im US-amerikanischen Wahlkampf 2008 der damalige republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain eine Ansprache hielt, erhielt er nicht nur Kritik in der Presse für seinen als langweilig und uninspiriert wahrgenommenen Auftritt. Er erntete auch Spott dafür, dass er eben vor einer grünen Wand saß. Die Satiresendung THE COLBERT REPORT bearbeitete das Videomaterial und ersetzte die grüne Wand im Hintergrund McCains durch einen digitalen green screen. Host der Sendung Stephen Colbert forderte seine Zuschauer*innen dann auf, mit diesem Material neue Clips der Rede zu erstellen und unter dem Slogan „make McCain exciting“ auf YouTube hochzuladen. Fans montierten daraufhin den Körper McCains in verschiedenste Zusammenhänge: In einem Video erscheint er als Hologramm in STAR WARS EPISODE IV, um anstelle von Prinzessin Leia seine Rede zu halten.1 In einer PULP FICTION-Montage wird McCain mit einer Pistole bedroht.2 Ein anderes Video montierte McCain in ein Staffelfinale von STAR TREK THE NEXT GENERATION und zeigt die entsetzte Crew auf der Kommandobrücke des Raumschiffs, die McCains Ansprache auf einem Bildschirm verfolgt, über den sie sonst mit Besatzungen anderer Raumschiffe Kontakt aufnimmt. Das Video endet mit Commander Rikers Befehl zu feuern.3 McCains Rede wird dabei meistens nicht als Ganzes in vorhandenes Material montiert, sondern mit Gegenschüssen aus den jeweiligen Filmen unterbrochen, sodass die fiktiven Charaktere auf die Wahlkampfrede zu reagieren scheinen. Andere Videos montierten das Material in Musikvideos
1 Vgl. Make McCain Exciting Green Screen Challenge: Jedi Edition. In: YouTube. Unter:
https://www.youtube.com/watch?v=VyBBuok6WI4 [aufgerufen am 29.09.2021].
2 Vgl. Pulp mccain: green screen as seen on the colbert report!!! In: YouTube. Unter: https://
www.youtube.com/watch?v=0vxCgxRzjFQ [aufgerufen am 29.09.2021].
3 Vgl. Project Make McCain Exciting: Borg McCain. In: YouTube. Unter: https://www.
youtube.com/watch?v=_wDT9ZSL1ro [aufgerufen am 29.09.2021].
254
Montieren Etymologie
und -performances – bspw. Madonnas ‚Vogue‘4 oder Elvis ‚Blue Suede Shoes‘.5 Hier wurde nicht nur McCains Gesicht auf die Gesichter der Künstler montiert, sondern auch der Rhythmus seiner Rede an die Songs angepasst. Diese Beispiele zeigen verschiedene Dimensionen und Fragen des Montierens auf: Beim Montieren werden verschiedene Bestandteile genommen und zu einem neuen Ganzen zusammengefügt. In diesem auf Bewegtbild bezogenen Fallbeispiel geschieht das sowohl auf der Ebene des Bildes – mithilfe der Greenscreen-Technik – als auch auf Ebene der zeitlichen Anordnung – durch die Technik des Videoschnitts. Betrachten wir die Praktik des Montierens ganz allgemein als das Zusammenfügen verschiedener Elemente aus unterschiedlichen Kontexten, so finden sich zahlreiche Anwendungen im Mediengebrauch, die teilweise eher handwerklicher, teilweise eher künstlerischer und ästhetischer Art sein können. In den verschiedenen Theorien und Traditionen des Montierens wird immer wieder die Frage nach den Übergängen gestellt: Ist es (kunst-)handwerklich erstrebenswert, dass alle Nähte, Brüche oder Klebestellen im Endprodukt unsichtbar werden? Oder entsteht die ästhetische oder kommunikative Wirkung nicht erst dadurch, dass die disparaten Ursprünge der Elemente noch erkennbar bleiben? Ist es das Wesen der Montage, als solche erkennbar zu bleiben, oder soll sie den Akt des Montierens zum Verschwinden bringen?
M
ETYMOLOGIE Das Wort montieren leitet sich vom altfranz. und spätlat. ‚mon-
tare‘ ab und wurde im 14. Jh. ins Dt. aufgenommen – auch in den Schreibweisen ‚muntieren‘ und ‚mundieren‘.6 Während das franz.-lat. ‚montare‘ in seiner Grundbedeutung ‚den Berg besteigen‘ heißt, wird das dt. montieren in der Bedeutung ‚ausrüsten‘ verwendet, und zwar zunächst nur in der Militärsprache und Reiterei.7 Als Substantiv bezeichnet die Montierung (später:
4 Vgl. McCain vs. Madonna: Gray Ambition. In: YouTube. Unter: https://www.youtube.com/
watch?v=8G9jA-FGGd8 [aufgerufen am 29.09.2021].
5 Vgl. McCain Greenscreen Challenge – Blue Suede Shoe Edition. In: YouTube. Unter: https://
www.youtube.com/watch?v=9rOF-j1L0vE [aufgerufen am 29.09.2021].
6 Vgl. (Art.) montieren. In: Kluge, S. 633. 7 Vgl. (Art.) Mundierung, Montierung. In: Zedler, Sp. 800 sowie (Art.) montieren. In: Kluge,
S. 633.
255
Montieren Kontexte
Montur) „was zur Ausrüstung eines Soldaten gehöret Pferd, Sattel und Zeug, Kleider, Wehr-Gehenck, Ober- und Unter-Gewehr, u.d.a.“.8 Ab dem 18. Jh. bezeichnet die Montur nur noch die Dienstkleidung (des Soldaten). Im 19. und 20. Jh. löst sich die Bedeutung vom Militärkontext und erstreckt sich auch auf das Handwerk und die Industrie. Montieren heißt nun „eine Maschine aus den Teilen zusammensetzen“9 und es gibt einen entsprechenden Beruf, den Monteur, der „technische Geräte, Anlagen aufstellt, anschließt, repariert.“10 Diese Bedeutung haben montieren und ‚Montur‘ bis heute. Montieren tritt in vielen Formen auf – vom Aufmontieren, Abmontieren, Festmontieren, Anmontieren bis zum Demontieren. Daneben wird das Montieren im 20. Jh. zu einem Begriff der Medientechnik – und als ‚Montage‘ einer der zentralen Begriffe der Filmtheorie. Montieren bedeutet, einzelne Elemente räumlich und zeitlich zueinander anzuordnen und zu einer Einheit zusammenzufügen, zum Beispiel zu einem Film, einem Hörspiel oder einer Fotomontage. In der Medienpraxis ist montieren – im Gegensatz zum Substantiv Montage – nie ein starker Begriff geworden; stattdessen sind in unterschiedlichen Bereichen Synonyme wie ‚editieren‘ oder speziellere Begriffe wie einen Radiobeitrag ‚bauen‘ üblich geworden. KONTEXTE Bild: Die Fotomontage als Kunstform wird von der Kunstge-
schichte ausführlich untersucht und im Zusammenhang mit anderen Gattungen und Strömungen betrachtet – allen voran dem Kubismus und dem Dadaismus. Montieren als mediale Praxis beim Umgang mit Bildern zu beschreiben, erweist sich indes als ein umfangreiches Unterfangen. Eine zentrale Problematik besteht darin, dass das Verb montieren offenbar erst im konkreten Zusammenhang mit der Fotomontage als Medien- und Kunstpraxis auftaucht und damit eng an das ästhetische Konzept der Montage gebunden bleibt. Praktiken, bei denen mehrere Bilder mit- und ineinander verarbeitet oder mit anderen Elementen wie der Schrift zusammengebracht werden, sind
8 (Art.) Mundierung, Montierung. In: Zedler, S. 800. 9 (Art.) montieren. In: Meyer, S. 108. 10 (Art.) montieren. In: Pfeiffer, Sp. 888.
256
Montieren Kontexte
so vielfältig und historisch kaum einzugrenzen, dass sie sich nicht in einem kurzen Handbuchartikel fassen lassen. Angesichts dessen nimmt es nicht wunder, dass mit Erfindung und Entwicklung der Fotografie im Laufe des 19. Jhs. auch die Fotomontage nicht lange auf sich warten ließ. Bereits ab 1840 sind erste Fälle bekannt, bei denen Fotos in Klebeverfahren mit anderen Materialien zusammenmontiert wurden.11 Sehr schnell haben Fotograf*innen auch damit experimentiert, wie sie den Treueschwur der Fotografie durchbrechen und in illusionistischer, parodistischer Manier zusammengesetzte Bilder erstellen können. Freilich wurden auf Papier ausbelichtete Fotografien zerschnitten und neu zusammengeklebt. Interessant ist jedoch die Art und Weise, wie Fotograf*innen in den fotografischen Prozess eingriffen. Dabei haben sich verschiedene Vorgehensweisen herauskristallisiert, vor allem das Zerschneiden und Kleben von Fotonegativen noch vor der Ausbelichtung auf ein Positiv sowie die Doppelbelichtung von Negativen. Ratgeberliteratur wie beispielsweise Hermann Schnauss’ PHOTOGRAPHISCHER ZEITVERTREIB aus dem Jahr 1890 geben konkrete Hinweise zur Herstellung von „Curiositäten“ und „Scherzbildern“ durch solche Montageverfahren.12 So beschreibt Schnauss unter anderem, wie man durch den Einsatz von Blenden ein und dasselbe Motiv mehrmals nebeneinander auf einem Bild darstellen kann. Ist das Ziel bei Schnauss die private Belustigung, werden pointiert montierte Bilder schnell auch zum Medium für Satire und politische Karikatur par excellence,13 aber auch für Werbung und Design. Jede Zeitschrift, jedes Plakat, jede Produktverpackung stellt mittlerweile eine Montage aus Bildern, Texten und Symbolen dar, die mit entsprechender Grafik-Software auf sogenannten Montagebögen montiert wird. Auf KITechnologie beruhende und leicht zu bedienende Face-Swap-Apps, die zwei Gesichter in digitalen Bildern gegeneinander vertauschen, haben Praktiken des Montierens schließlich zu einem Modetrend digitaler Kultur gemacht. Film: Das Montieren ist der Kern des Filmemachens. So verstehen das zumindest viele Praktiker*innen im Filmschnitt. Der Film entsteht nämlich
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11 Vgl. Hägele: Experimentierfeld der Moderne, S. 21. 12 Vgl. Schnauss: Photographischer Zeitvertreib. 13 Vgl. Hägele: Experimentierfeld der Moderne, S. 7 ff.
257
Montieren Kontexte
erst im Schneideraum, parallel zu den restlichen Dreharbeiten und in der Regel in Abwesenheit der Regisseur*innen.14 Allerdings kommt auch hier der Begriff des Montierens selten vor. Man montiert weniger als man editiert oder schneidet; im Englischen gibt es die entsprechenden Begriffe ‚to cut‘ und ‚to edit‘, um eine Sequenz, eine Montage herzustellen. Die Kultur- und Filmtheorie betont die unterschiedlichen Konnotationen dieser Begriffe. Cutten und schneiden stellen den trennenden Teil der Arbeit dar: das Entfernen von unnötigem Material, das Abschneiden der Klappen zum Beispiel. Editieren bzw. to edit (und seltener montieren) betont hingegen den Arbeitsschritt des Zusammenfügens: Filmstreifen werden zusammengeklebt, damit Einstellungen verbunden, und durch Synthese oder Konflikt entsteht beim Montieren Bedeutung.15 In der Praxis aber ist diese Begriffsverwendung weniger eindeutig. Hans Beller stellt fest, dass die Begriffe Montage/montieren eher zur Filmtheorie gehören, während die Praxis von Filmschnitt/schneiden spricht.16 Gleichzeitig betonen eine Reihe von Praktiker*innen auch wieder die oben genannte Unterscheidung, wenn man nach ihrer Berufsbezeichnung fragt. Im Deutschen ist die Bezeichnung Cutter*in im Filmschnitt am geläufigsten. Daneben gibt es, in der Regel als Studienabschluss, die Bezeichnung des*r Schnittmeisters*in. Im Englischen spricht man in der Regel vom editor, und einige Praktiker*innen geben an, dass sie diese Bezeichnung für die treffendere halten.17 Helmut Wietz sieht in der deutschen Berufsbezeichnung ebenfalls eine Reduktion der umfassenden Tätigkeit des Montierens auf die handwerkliche Dimension: „Es ist ein Unterschied, ob man einen Film ediert oder ihn schneidet.“18 Zu Beginn des Kinos um die Jahrhundertwende wurde häufig mit der Kamera ‚montiert‘, bspw. in den Stopptrick-Filmen von Georges Méliès. Im
14 Vgl. Höf: Werkstatt-Notizen aus dem Schneideraum. In: Beller/Arnsten (Hrsg.): Handbuch
der Filmmontage, S. 115 und Ondaatje: Die Kunst des Filmschnitts, S. 31.
15 Vgl. (Art.) Montage. In: Reclams Sachlexikon des Films, S. 447. 16 Vgl. Beller: Filmediting / Filmmontage / Filmschnitt. In: Beller/Arnsten (Hrsg.): Handbuch
der Filmmontage, S. 78.
17 Vgl. Höf: Werkstatt-Notizen aus dem Schneideraum. In: Beller/Arnsten (Hrsg.): Handbuch
der Filmmontage, S. 114 und Reinbold: Praktische Grundlagen des Filmschnitts. In: Beller/ Arnsten (Hrsg.): Handbuch der Filmmontage, S. 84. 18 Wietz: Nachwort. In: Reisz/Millar: Geschichte und Technik der Filmmontage, S. 254.
258
Montieren Kontexte
Amateurkino, das in den 1920er Jahren entstand, hielt sich diese Praxis sehr viel länger. Tatsächlicher Filmschnitt war im Amateurfilm selten, aber man montierte verschiedene Einstellungen hintereinander, indem man die Kamera ein- und ausschaltete. Gerade Reisefilme bestehen aus verschiedenen Einstellungen, wobei es oft eine Frage der Betrachtung ist, ob es sich dabei um einzelne Fragmente handelt, die aus jeweils einer Einstellung bestehen, oder ob die verschiedenen Einstellungen zusammengehören und eine narrative Einheit bilden und man so von montierten (aber nicht geschnittenen) Filmen reden könnte.19 Das Montieren fand über Jahrzehnte am Schneidetisch statt. Zu den Indus triestandards gehörten die horizontalen Schneidetische bspw. von Steenbeck. Die Moviolas, in denen die Filmrollen senkrecht angebracht waren wie bei einem Projektor, waren unter anderem in Hollywood verbreitet. Im Wesentlichen konnte man mit den verschiedenen Modellen die gleichen Tätigkeiten ausführen. Mit welcher Art des Schneidetisches Regisseur*innen und Cutter*innen lieber arbeiteten, war jedoch auch eine Frage des emotionalen und künstlerischen Zugangs zum Filmmaterial. Wietz, der hier 1988 als Regisseur spricht, setzt sich dabei für die amerikanischen Moviolas ein und gegen die horizontalen Schneidetische, die durch ihre Konstruktion das Fragmentierende der Tätigkeit betonen würden: „An einem horizontalen Schneidetisch läuft der Film wie beim Lesen von links nach rechts, der Schnitt jedoch erfolgt von oben nach unten. Jede Einstellung wird erst einmal exekutiert.“20 Seit der Stummfilmzeit war die Praxis des Filmschnitts eine weiblich konnotierte Tätigkeit, wie Walter Murch berichtet, der seit den 1970er Jahren als Cutter und Sounddesigner arbeitet. „Es wurde als Frauenhandwerk angesehen, wie das Nähen. Man nähte die Teile eines Films zusammen.“21 Das Arbeiten mit dem Ton hingegen war eine männliche Domäne im Film. Auch Ursula Höf berichtet aus ihrer Praxis in den frühen 1990er Jahren, dass mehr Frauen als Männer schneiden.22 Aktuelle Untersuchungen zur Ausbildung an Film-
M
19 Vgl. Schneider: Die Stars sind wir, S. 181–184. 20 Wietz: Nachwort. In: Reisz/Millar: Geschichte und Technik der Filmmontage, S. 254. 21 Ondaatje: Die Kunst des Filmschnitts, S. 26. 22 Vgl. Höf: Werkstatt-Notizen aus dem Schneideraum. In: Beller/Arnsten (Hrsg.): Handbuch
der Filmmontage, S. 122.
259
Montieren Kontexte
hochschulen in Deutschland aus den 2000er und 2010er Jahren bestätigen diesen Eindruck noch immer.23 Neben dem Film kamen ab den späten 1940er Jahren die ersten Videoformate auf – das Material, das hier geschnitten, geklebt und montiert wurde war Magnetband, vor allem in Rundfunkanstalten, ab den 1960er Jahren aber auch im Bereich der Videokunst.24 Erst nach der Jahrtausendwende wurde das Magnetband nach und nach durch Server und Videofiles ersetzt – und die Schneidetische von video editing software abgelöst. Hier sind in den letzten 20 Jahren neue Berufsbilder wie die Ausbildung zum*r Mediengestalter*in hinzugekommen, die den veränderten Arbeitsbedingungen in deutschen Rundfunkanstalten Rechnung tragen und einen großen Arbeitsbereich in Studiotechnik und Außenübertragung abdecken. Das Montieren von Hörfunk- und Fernsehbeiträgen ist eine Tätigkeit davon. Sound: Wie Filme entstehen auch Radioarbeiten in der Regel durch ein konstruktives Verfahren aus vielen kleinen Einzelelementen: aus O-Tönen, Sprecher*innentexten, Musiktiteln oder -schnipseln, Aufnahmen von Geräuschen oder ganzen Klangkulissen. Antje Vowinckel zeigt, dass bereits die erste Generation der Radioakteur*innen von „Hörmontagen“ oder „Tonmontagen“ schreibt.25 Auch nach Bettina Wodianka war die Idee der Montage von Anfang an Teil des in den 1920er Jahren neu entstehenden Mediendispositivs Radio.26 Die ersten Rundfunktheoretiker, die zugleich Rundfunkpraktiker waren, hatten die vom Film bekannten Möglichkeiten des Szenenwechsels im Blick, waren aber durch die Technologie im Wesentlichen noch an LiveÜbertragungen gebunden. Begriffsschöpfungen wie „Akustischer Film“27 oder „Hörfilm“28 rekurrieren dabei auf den Film, auch wenn die Praktik des Montierens im frühen Radio noch aus Umschaltvorgängen von einem Mikrofon zum nächsten bestand. Vowinckel selbst sieht in dem Begriff Montage dagegen das
23 Vgl. Prommer/Loist: Wer dreht deutsche Kinofilme? Gender Report: 2009–2013. 24 Vgl. Engel/Kuper/Bell: Zeitschichten: Magnetbandtechnik als Kulturträger. 25 Vgl. Vowinckel: Collagen im Hörspiel, S. 47 ff. 26 Vgl. Wodianka: Radio als Hör-Spiel-Raum, S. 150 ff. 27 Alfred Braun, zit. n. Vowinckel: Collagen im Hörspiel, S. 47. 28 Arnheim: Rundfunk als Hörkunst, S. 82 ff.
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Montieren Kontexte
„technische Verfahren des Aneinanderfügens“29 und verleiht ihm damit eine materielle Grundlage. Werner Klippert definiert die Montage mit Bezug auf die Hörspielproduktion als „die Auswahl und Bearbeitung und schließlich das Zusammenstellen der vorhandenen Aufnahmen“30 und beschreibt sie somit als einen Arbeitsschritt in der Produktion von Hörspielen, der sich im zeitlichen Ablauf zwischen den Phasen Aufnahme und Mischung ansetzen lässt. Dabei operiert die Montage im Hörspiel nicht nur in der Zeitachse; auditive Elemente werden auch übereinander geschichtet und eröffnen damit einen akustischen Raum mit Vordergrund (in aller Regel Dialoge) und Hintergrund (typischerweise Hintergrundmusik oder Klangkulissen).31 Als materiell verstandener Begriff geht montieren auch in der Radioproduktion auf die beiden Vorgänge schneiden und kleben zurück, die historisch an das Tonband gebunden sind. Das Verfahren kommt daher erst in der Nachkriegszeit umfänglich zum Einsatz. Doch bereits im Weimarer Rundfunk, in der Zeit vor dem Tonband, existierten technische Verfahren des De- und Rekontextualisierens auditiver Ereignisse. So war es eine Aufgabe der Weimarer „Tontechnikerinnen“, wie Hans Springer berichtet, bei längeren Werken, die nicht auf eine Schallplatte passten, die einzelnen Platten während der Sendung zu synchronisieren und einen glatten Übergang zu schaffen – den Schnitt also unhörbar zu machen.32 Unter dem Eindruck des Films – „den fortwährenden Szeneriewechsel, die Gleichzeitigkeit zweier Geschehnisse, das Tempo des wirklich [sic!] Lebens“33 – und entgegen einem ansonsten stark materiell verstandenen Begriff des Montierens wendet Rudolf Arnheim ihn auch auf den live gespielten und geschalteten Wechsel radiophoner Räume an. Durch das Umschalten zwischen unterschiedlichen (und unterschiedlich klingenden) Studios oder aber zwischen Reportern an unterschiedlichen Orten ließ sich schon Ende der 1920er
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29 Vowinckel: Collagen im Hörspiel, S. 22. 30 Klippert: Elemente des Hörspiels, S. 31. 31 Vgl. Arnheim: Rundfunk als Hörkunst, S. 78 f. sowie Schmedes: Medientext Hörspiel,
S. 86 ff.
32 Vgl. Springer: Zeitgemäße Aus- und Fortbildung. In: ARD-Jahrbuch, S. 33–40, hier S. 33. 33 Kurt Weill, zit. n. Wodianka: Radio als Hör-Spiel-Raum, S. 115.
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Jahre ein ‚live montiertes‘ Radioerlebnis erzeugen, ohne dass irgendjemand dabei Schere oder Klebematerial in die Hand genommen hätte.34 Das taten auch Radiohörer*innen selbst: Unter dem Stichwort DXing war das Suchen und Wechseln zwischen weit entfernten Sendestationen gar ein Sport, der nur entfernt mit dem heutigen Zappen zu vergleichen ist; Radiosender der Weimarer Republik haben daraus eigene Sendungen gestaltet.35 Diese Form der ‚Live-Montage‘ existiert bis heute im Radio; die wöchentliche Bundesliga-Konferenz des WDR ist das wohl bekannteste Beispiel. Letztlich kann Radio selbst als eine solche serielle Montage beschrieben werden, besteht die Tätigkeit im Sendestudio zumindest teilweise darin, unterschiedliche Sendungsbausteine performativ hintereinander zu montieren: „Der Rundfunk montiert räumlich, zeitlich oder gedanklich voneinander Entferntestes mit verblüffender Eindringlichkeit direkt nebeneinander.“36 Ebenfalls noch vor Einführung des Tonbands in die Radioproduktion kommt ab 1930 vereinzelt das Tri-Ergon-Verfahren zum Einsatz; besonders einflussreich geworden sind dabei Walter Ruttmanns WEEKEND und F.W. Bischoffs HALLO! HIER WELLE ERDBALL! Das Verfahren geht direkt auf den Film zurück und setzt das gleiche Material ein, das damals beim Tonfilm verwendet wird: Ton wird optisch auf Filmmaterial aufgezeichnet. Dadurch können Tonaufnahmen erstmals so montiert werden wie Film: durch Schneiden und Kleben auf dem Montagetisch. Unter dem programmatischen Titel HÖRFILM TUT NOT! plädiert Arnheim noch in den 1930er Jahren leidenschaftlich für die Lichtton-Aufzeichnung auf Filmmaterial, damit Hörspiele vollständig vorproduziert werden können.37 Die Einführung des Tonbands in die Radio- und Musikproduktion unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erweiterte die Möglichkeiten zu montieren erheblich. Das Schneiden und Kleben von Tonband wurde so einfach, dass es zu einer Standardprozedur der Tonbearbeitung wurde. Die Entwicklung von Bandmaschinen und Tonbandmaterial orientierte sich an den Bedürfnissen des Montierens. So verfügten modernere Maschinen über eingebaute 34 Vgl. Vowinckel: Collagen im Hörspiel, S. 57 f. 35 Vgl. Patka: Radio-Topologie, S. 173 f. 36 Arnheim: Rundfunk als Hörkunst, S. 77 f. 37 Vgl. Arnheim: Rundfunk als Hörkunst, S. 82 ff.
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Techniker(in), Assistent(in), wenn’s sein muss auch Regisseur(in) und – seltener – Autor(in) umtänzeln einander nach einer vorher abgesprochenen Choreographie, um auf die Zehntelsekunde genau die nächste und die übernächste Bandmaschine abzufahren, anzuhalten, vorzuspulen. Zum ersten Mal hören wir den Zusammenklang aller Elemente – Sprache, Geräusch, Musik – die der Ton-Ing an seiner ‚Orgel‘ mischt.40
Mit der Digitalisierung von Radioproduktion und der Einführung digitaler Schnittsysteme verliert sich die Teamarbeit wieder; das Montieren geschieht zunehmend in Einzelarbeit am Bildschirm. Gleichzeitig ermöglichen es diese Schnittsysteme auch, in vielen alltäglicheren Bereichen der Radioproduktion – der Nachrichtenproduktion bspw. – elaboriertere Montageverfahren zum Einsatz zu bringen. Martin Spinelli weist darauf hin, dass mit den Möglichkeiten digitaler Tonproduktion eine weitgehend durch Montage geprägte Ästhetik zum Vorschein kommt, die sich von einer ‚linearen‘ analogen Ästhetik unterscheidet.41 Montieren ist vorwiegend eine Tätigkeit professionellen Mediengebrauchs. Auditive Medienprodukte entstehen oftmals im Modus des Montierens unter Zuhilfenahme von Medientechnologie – allen voran die Bandmaschine. In der privaten Sphäre findet Montieren mit Sound gleichwohl ebenfalls statt. Auch für Heimanwender*innen entstehen mit Aufkommen des Tonbands neue Praktiken. Für die Popkultur einflussreich waren und sind Mixtapes, die zunehmend auch unter dem Blickwinkel prozesshaften Medienhandelns
Montieren Kontexte
Schneidevorrichtungen und Montageschienen und die Bandhersteller lieferten vorgeschnittene Klebestreifen.38 Wie bei der Cutterin im Film (s.o.) war der Umgang mit Tonband in deutschen Radiosendern eine typische Frauenarbeit, die gar mit Stricken in Verbindung gebracht wurde.39 Mit zunehmender Professionalisierung entwickelte sich bei der Produktion von Hörspielen, Features und anderen aufwendigen Radiostücken eine Form der Teamarbeit, die der Feature-Autor Helmut Kopetzky als „Ballett“ beschreibt:
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38 Vgl. Engel et al.: Zeitschichten, S. 3346 ff. 39 Vgl. Patka: Technische Wolle. In: Jahrbuch Musik und Gender, S. 114 ff. 40 Kopetzky: Objektive Lügen – Subjektive Wahrheiten, S. 97. 41 Vgl. Spinelli: Rhetorical Figures. In: Convergence, S. 204 ff.
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Montieren Konjunkturen
beleuchtet werden („Doing records“42). Zunächst das Heimtonband, dann aber insbesondere die Kompaktkassette sorgen dafür, dass montieren – hier oft mixen, kompilieren oder schlicht zusammenstellen genannt – zu einer Praxis avanciert, die geradezu paradigmatisch für eine ‚Generation Mixtape‘ steht. Folgt man Pia Fruths Typologie, so zielt mixtaping nicht nur darauf ab, die eigene Musiksammlung zu erweitern, sondern insbesondere Tapes für bestimmte Stimmungen oder als „chiffrierte Liebesbriefe“ zu erstellen.43 Das Verfahren setzt sich in heutigen digitalen Umgebungen durch das Erstellen von Playlists nahtlos fort – nur dass das Montieren zunehmend von Algorithmen übernommen wird. KONJUNKTUREN Als ästhetisches Konzept entwickelte sich das Montieren – wie auch die künstlerische und journalistische Praxis – in der Zeit um den Ersten Weltkrieg. Die Darstellung von Gleichzeitigkeit sowie die wachsende Pluralität medialer Formen und das damit verbundene Potenzial zur Intermedialität stellen zwei wichtige Ressourcen der Montage dar.44 Vielfach werden die Wahrnehmung einer sich fragmentierenden Lebenswelt zu Beginn des 20. Jhs., die wachsende Arbeitsteilung gesellschaftlicher Prozesse, sowie die Dominanz technischer Verfahren in Zusammenhang mit der wachsenden Popularität des Montierens in Verbindung gesetzt.45 Bis auf eine kurze Zeit der Ächtung im deutschen Nationalsozialismus wird das Montieren bald eine gängige ästhetische Praxis, die sich in den verschiedenen medialen Bereichen des 20. Jhs. immer weiter ausbreitet. Als wesentliches Stilmittel der Avantgarde bricht das Montieren mit der traditionellen Geschlossenheit künstlerischer Werke und der Autorität der Kunstschöpfenden und stellt dagegen Techniken und Materialien in den
42 Niebling: Musik sammeln und speichern. In: Auditive Medienkulturen. Unter http://www.
auditive-medienkulturen.de/2019/05/16/musik-speichern-und-sammeln-zur-materialitatund-medialitat-von-tontragern/ [aufgerufen am 29.09.2021]. 43 Vgl. Fruth: Record.Play.Stop, S. 273 ff. 44 Vgl. Möbius: Montage und Collage, S. 14. 45 Vgl. bspw. Bürger: Theorie der Avantgarde; Jürgens-Kirchoff: Technik und Tendenz der Montage in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts oder Möbius: Montage und Collage.
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Vordergrund.46 Deutlich wird dies bspw. in den automatischen Texten der Surrealisten oder in Duchamps Readymades. Die Montage lässt damit die Kunstschaffenden als Subjekte zurücktreten. Dabei war es keineswegs selbstverständlich, dass die aus dem technisch-materiellen Bereich stammende Praktik des Montierens ihren Weg in die Ästhetik gefunden hat. Hanno Möbius beschreibt in seiner umfassenden Studie MONTAGE UND COLLAGE anekdotenhaft, wie die Dada-Künstler Heartfield und Grosz im ‚Blaumann‘ im Fotolabor standen, um herauszustellen, dass sie sich eher der körperlichen Arbeit des Monteurs als der elitären Sphäre der Kunst verbunden fühlten.47 Von ihnen wurde das Montieren also dezidiert als Widerstand gegen althergebrachte Traditionen und Arbeitsweisen in der Kunst eingesetzt. Neue Produktionsverfahren, wie in der Fotomontage oder dem Film, ließen die technisch-materiellen Aspekte der Kunstproduktion weiter ins öffentliche Bewusstsein vordringen. Die Apparatur trat in den Kunstdiskurs ein – wahrscheinlich nirgends so präsent wie in Walter Benjamins Überlegungen zum KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT. Benjamin stellt der Einheit des auratischen Kunstwerks den fragmentarisch erzählenden Film gegenüber.48 Er vergleicht die Arbeit des Kameramanns mit der eines Chirurgen, welcher die Realität in Fragmente zerteilt, bevor sie im Film in neue Zusammenhänge montiert wird. Doch auch jenseits von technischen Verfahrenspraktiken findet Benjamin Anklänge an das Prinzip der Montage: So beschreibt er auch in seinen Texten zur Allegorie, wie Elemente aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und in neue Zusammenhänge eingefügt werden. Die strukturelle Parallele zwischen Benjamins Theorie der Allegorie und dem Verfahren des Montierens wurde später bspw. sowohl von Erika FischerLichte als auch in Peter Bürgers THEORIE DER AVANTGARDE herausgestellt.49 In seinem Aufsatz DER AUTOR ALS PRODUZENT vergleicht Benjamin dann den Dadaismus als Stilrichtung der Montage mit Praktiken des epischen
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46 Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie und Jürgens-Kirchoff: Technik und Tendenz der Montage
in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts.
47 Vgl. Möbius: Montage und Collage, S. 17. 48 Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 49 Vgl. Bürger: Theorie der Avantgarde und Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers.
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Erzählens. Denn auch im epischen Theater Brechts wird nach Benjamin montiert.50 Brecht verwendet die Montage als Technik aus Film, Rundfunk, Presse und Fotografie, um durch Verfremdung das Theaterpublikum zu aktivieren. Stilmittel wie Gesangseinlagen oder bewusste Brüche in der Figurenzeichnung sollen den Handlungsfluss unterbrechen. Benjamin verweist insbesondere auf das „Gestische“ – das die Performance der anwesenden Darsteller*innen als solche ausstellt – als Mittel der Montage.51 Im Sinne dieses „Zeigen, dass man zeigt“ sieht Georges Didi-Huberman in seiner Analyse von Brecht „Verfremden“ ebenfalls immer gleich als „montieren“, die Verfremdung bezeichnet er als eine „Montage der Komplexität“.52 Doch auch jenseits des epischen Theaters lässt sich die Montage als Technik bei Brecht ausmachen – bspw. in den Text-Bild-Kombinationen der Kriegsfibel oder im Stil seines Arbeitsjournals.53 Vielfach wurde in diesem Zusammenhang herausgestellt, dass Brecht mit Schere und Papier gearbeitet haben soll und dabei seine Texte buchstäblich montierte.54 Neben seinen Kommentaren zu Brecht finden wir in Benjamins Kritik von Alfred Döblins Roman BERLIN ALEXANDERPLATZ weitere Verweise auf die Montage. Benjamin beschreibt den Roman als einen ersten Versuch für eine produktive Verwendung der Montage in der Epik: „Die Montage sprengt den ‚Roman‘, sprengt ihn im Aufbau wie auch stilistisch, und eröffnet neue, sehr epische Möglichkeiten.“55 Und auch der philosophische Stil von Benjamin selbst, wie er sich in der Einbahnstraße oder im Passagenwerk zeigt, wurde von Ernst Bloch als „montiert“ beschrieben.56 Weitere zentrale Überlegungen zur Montage finden sich in Blochs ERBSCHAFT DIESER ZEIT und in den Schriften zur Avantgarde aus den 1970er Jahren von Peter Bürger und Theodor Wiesengrund Adorno. Auch für Bloch ist
50 Vgl. Benjamin: Der Autor als Produzent. In: Versuche über Brecht, S. 95–116. 51 Vgl. ebd., S. 112. Für eine ausführliche Analyse siehe auch Müller: Montage in Brecht. In:
Theatre Journal, S. 473–486. 52 Didi-Huberman/Sedlaczek: Wenn die Bilder Position beziehen, S. 79 und S. 77. 53 Vgl. Didi-Huberman/Sedlaczek: Wenn die Bilder Position beziehen. 54 Vgl. ebd., S. 43. 55 Benjamin: Krisis des Romans. In: Tiedemann-Bartels (Hrsg.): Kritiken und Rezensionen, S. 230–236, hier S. 232. 56 Vgl. Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 368 ff.
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die Unterbrechung bei Brecht ein Beispiel für seine „mittelbare“ Montage.57 Er beschreibt eine grundsätzliche Modularität als Grundvoraussetzung der Montage-Technik. Die geschlossenen Oberflächen vergangener Werke stellen sich als Illusion heraus, in der Montage wird keine Stabilität vorgetäuscht, sondern es werden vorhandene Brüche enthüllt. In der Literatur findet Bloch Montagen bei Autoren wie Joyce, Proust, Kafka und Döblin. Beispiele für die Montage als „unmittelbar“ sieht Bloch unter anderem im Jazz und in der Revue.58 Dabei ist bezeichnend für die Revue, dass verschiedene Elemente in beliebiger Reihenfolge aneinandergereiht werden können. Hier zieht Bloch einen direkten Vergleich von der Revue über die Philosophie Benjamins zur Fotomontage: „Ist also ‚Revue‘, ihrer methodischen Möglichkeit nach, Reise durch die hohlgehende Zeit, so reicht Benjamins Versuch Photos dieser Reise oder besser gleich: Photomontage.“59 Auch für Peter Bürger ist der Reihencharakter der Revue und die Beliebigkeit der Abfolge zentral für avantgardistische Montagetechniken.60 Für ihn ist überraschenderweise nicht die Verbindung zum Film ausschlaggebend, da hier die Montage nur notwendige Technik – also Handwerk – sei und nicht als Gestaltungsprinzip zu Tage trete.61 Stattdessen sieht er den Kern der Montage in der kubistischen Collage, denn hier dringen „Realitätsfragmente“ in die Kunst ein.62 Es wird nicht bloß auf Wirklichkeit verwiesen, Wirklichkeit findet ihren Weg in die Sphäre der Kunst. Dieses Vermischen von alltäglicher Lebenswelt und Kunstschöpfung findet dann ihre Zuspitzung in Duchamps Readymades. Für Bürger setzt die Montage eine Fragmentierung der Lebensrealität voraus. Dennoch führt sie letztlich zu einer Einheit im Kunstwerk, allerdings einer, die den Widerspruch der Teile bereits in sich aufgenommen hat. Er
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57 Vgl. ebd. S. 226. 58 Vgl. ebd. S. 221. 59 Ebd. S. 369. 60 Vgl. Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 106 f. 61 Vgl. ebd., S. 99. 62 Ebd. S. 99; S. 104.
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zweifelt daher am politischen Potential der Montage als Instrument der Kritik gegen traditionelle Kunst- und Wertvorstellungen.63 Bürgers Ausführungen zur Montage beziehen sich mehrfach auf Adorno, welcher der Montage in seiner 1970 posthum veröffentlichten ÄSTHETISCHEN THEORIE eine „Schockwirkung“ durch Verweigerung von Sinn zugesprochen hatte, allerdings auch bemerkte, dass diese Wirkung nicht von Dauer sein könnte.64 Grundsätzlich befürwortet Adorno die Problematisierung des Sinnverlusts in der Kunst und nennt die Montage als zentrales Element der dafür notwendigen „Zerüttelung“.65 Die Montage wird als eine „Einheit des Mannigfaltigen“ bzw. als „innerästhetische Kapitulation der Kunst vor dem ihr Heterogenen“ beschrieben.66 Entscheidend ist ein dialektisches Spannungsverhältnis, das sich zwischen den heterogenen Teilen und dem einheitlich Ganzen des Kunstwerks entwickelt: Die Kunstschaffenden der Avantgarde möchten die Einheit begraben, erschaffen jedoch in ihren künstlerischen Ausdrucksmitteln neue Formen der Einheit. Adorno widerspricht aber der Vorstellung, dass eine fragmentierte Lebensrealität parallel zu Veränderungen der Kunst zu verstehen sei. Denn die zuvor wahrgenommene Einheit im Kunstwerk kann nach ihm nur als Schein gewertet werden. Montage ist dagegen als Antithese zu einer von Stimmung aufgeladenen Kunst – insbesondere im Impressionismus – zu verstehen. Auch in der Filmtheorie wird die Montage weniger von realistischen als von formalistischen Positionen aus diskutiert. Entlang der Montage(-techniken) führen frühe Filmtheoretiker und -praktiker*innen eine kontroverse Diskussion um das Wesen dieser neuen Kunstform, in der – um das Fazit vorwegzunehmen – am Ende niemand die Relevanz der Montage für den Film abstreiten wird. Was die Filmmontage aber sei und wie man sie einsetzen soll, darüber wird und wurde viel gestritten. Dabei fasst die Filmtheorie den Begriff des Montierens weiter als die Praxis. Die filmtheoretische Diskussion um die Montage beginnt in den 1920er Jahren, als schon viele Techniken des Montierens erprobt waren – klassisch 63 Vgl. ebd., S. 105 f. 64 Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 133. 65 Ebd., S. 231. 66 Ebd., S. 221 und S. 232.
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sind beispielsweise die Parallelmontagen von D. W. Griffith. Angeführt wird die Diskussion dieser Zeit von Sergej Eisensteins leidenschaftlichen Manifesten der formalistischen Tradition. Eisenstein selbst lotet die Möglichkeiten und Sinnhaftigkeiten des Montierens nicht nur theoretisch, sondern auch als Theater- und Filmregisseur aus. Für ihn ist Filmkunst gleichzusetzen mit Montagekunst. Und er verteidigte diese Position zum Beispiel 1924 gegen Béla Balázs in seinem Aufsatz BELA VERGISST DIE SCHERE.67 Das Prinzip der Montage entdeckt er auch in der japanischen Schrift, Kunst und dem japanischen Theater68 sowie in der russischen Lyrik und Literatur.69 Eisenstein gilt auch als Urheber des Prinzips der Attraktionsmontage, deren Namen er schon 1923 prägte, bevor er seinen ersten Film fertiggestellt hatte.70 In seinen Schriften der späten 1930er Jahre revidierte Eisenstein seinen Ton, er habe aus „pädagogischen Gründen“71 das Programm der Montage so herausgestellt und verteidigt. Das ändert aber nichts an seinem Grundverständnis: Während die meisten Theoretiker*innen im Montieren eine Verbindung von Einstellungen zu einem großen Ganzen sehen, besteht Eisenstein darauf, dass das Montieren nicht verbindet, sondern aufeinanderprallen lässt, Konflikte schafft – ästhetische, symbolische, narrative.72 Als expressives Gestaltungsmittel drückt die Montage in beiden Positionen etwas aus, was nicht sichtbar ist. Mit dem Vokabular der russischen Formalisten bewirkt sie – ähnlich wie bei Brecht – ‚Verfremdungseffekte‘ und wird damit zum Stilmittel des Kinos par exellence. Eine andere Seite des Montierens lässt sich unter dem Überbegriff des ‚continuity editing‘ fassen: die Tradition der Filmmontage, die das klassische Hollywoodkino der 1930er bis 60er Jahre prägt. Im Gegensatz zur Expressivität des russischen Formalismus wird der Schnitt hier ‚unsichtbar‘. Die Montage ordnet sich der Narration unter und hilft den Zuschauer*innen bei der Orientierung, sodass Schnitte im Idealfall gar nicht bemerkt werden.
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67 Eisenstein: Bela vergisst die Schere. 68 Vgl. Eisenstein: Jenseits der Einstellung. In: Bulgakowa: Das dynamische Quadrat. 69 Vgl. Eisenstein: Montage 1938. In: Gotto: Der Eisenstein-Reader, S. 44–50. 70 Vgl. Eisenstein: Montage der Attraktionen. In: Albersmeier: Texte zur Theorie des Films. 71 Eisenstein: Über die Reinheit der Filmsprache. In: Gotto: Der Eisenstein-Reader, S. 31. 72 In JENSEITS DER EINSTELLUNG widerspricht Eisenstein in diesem Punkt insbesondere
Lew Kuleschow. Vgl. Eisenstein: Jenseits der Einstellung. In: Bulgakowa: Das dynamische Quadrat. S. 79–80.
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Montieren Konjunkturen
Die Zuschauer*innen sollten ganz in der Illusion des Films gefangen werden – Vertreter*innen der psychoanalytischen Filmtheorie der suture sprachen in den 1970er Jahren davon, dass die Zuschauer*innen in den Film ‚eingenäht‘ würden.73 Um dies zu erreichen, entstanden eine Reihe von Schnittregeln, wie das 180-Grad-Prinzip oder das Schneiden auf Blickrichtungen, mit dem schon Griffith in den 1910er Jahren experimentiert hatte. Einer der Verdienste der neoformalistischen Schule um Kristin Thompson und David Bordwell ist es, diese Konzepte und Begriffe der Praxis für die Filmtheorie und Filmanalyse fruchtbar zu machen. Sowohl dieses illusionistische Prinzip als auch die expressiven SchockMontagen des russischen Formalismus wurden in den 1950er Jahren zum Gegenstand der realistischen Filmkritik von André Bazin in den CAHIERS DU CINÉMA . Beide Arten des Montierens zielten auf die Manipulation der Zuschauerreaktionen, so sein Hauptkritikpunkt. Aber selbst Bazin, der für eine Anti-Montage-Haltung steht, verwirft das Montieren als Filmpraxis nicht grundsätzlich. Vielmehr beschreibt er die Attraktionsmontagen Eisensteins in DIE ENTWICKLUNG DER KINOMATOGRAPHISCHEN SPRACHE rückblickend als eine Entwicklungsphase des Films, aus der die Filmkunst mit der Einführung des Tonfilms hinausgewachsen sei. Als künstlerisch höher schätzte er die nun mögliche Gestaltung der mise-en-scène mit Schärfentiefe, wie sie beispielsweise Orson Welles in CITIZEN CANE vorgeführt hatte. Die Gestaltung mit Tiefenschärfe verstand Bazin, wie schon Béla Balázs 1930, dabei durchaus auch als Montage, als ‚innere Montage‘, wenn er schreibt: „Der moderne Regisseur verzichtet bei einer mit Tiefenschärfe fotografierten Einstellungsfolge nicht auf die Montage […], er integriert die Montage in seine Gestaltung. […] Deshalb ist die Tiefenschärfe nicht nur eine Mode des Kameramannes […], sondern eine wesentliche Errungenschaft der Regie: ein dialektischer Fortschritt in der Geschichte der kinomatographischen Sprache.“74 Das Montieren wurde in der Filmtheorie vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jhs. verhandelt. Ihre Kritik wie ihre Verteidigung war „ein Programm, ein
73 Vgl. Oudart: Cinema and Suture. In: Screen und Heath: Notes on Suture. In: Screen. 74 Bazin: Die Entwicklung der kinematographischen Sprache. In: Albersmeier (Hrsg.): Texte
zur Theorie des Films, S. 269.
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GEGENBEGRIFFE Durch die vielen Kontexte, in denen montieren als medi-
ale Praxis existiert, ergeben sich etliche Gegenbegriffe, von denen montieren abzugrenzen und in Beziehung zu setzen wäre. Dass Begriffe wie schneiden und editieren im Fachjargon der Filmproduktion feine Unterscheidungen bezeichnen, wurde schon erläutert; die Fotografie verwendet neben montieren auch collagieren und assemblieren; in der Soundpraxis spricht man von mischen, unterlegen oder überlappen. Einfügen und zusammenbauen kommen im Medienproduktionsalltag ebenso zum Einsatz wie arrangieren und kompilieren. All diese Begriffe bezeichnen oder explizieren Praktiken, bei denen Bestandteile aus unterschiedlichen Kontexten zu einem neuen Ganzen zusammengefügt werden. Samplen und zitieren rücken die Praxis in einen juristischen Kontext, ohne das grundlegende ästhetisch-handwerkliche Vorgehen zu berühren. Mit Blick auf die Technikgeschichte des Films ist auch das Synchronisieren als Form des Montierens zu sehen – Bild und Ton werden lippensynchron zu einem Tonfilm zusammengefügt.76 Die Konnotationen jeder Begriffsverwendung hängen stark von den Kunstformen und Medien sowie den jeweiligen Produktions- und Gebrauchskulturen ab. Aus einer ästhetischen Perspektive, die besonders im Film stark geworden ist, scheint eine dem Montieren gegenteilige Strategie darin zu bestehen, eben nicht zu montieren. Eine filmische Szene, die nicht aus mehreren Einstellungen montiert wird, heißt ‚Plansequenz‘ und schreibt sich mit der ihr eigenen
Montieren Gegenbegriffe
Streben nach Anerkennung des Films als autonome Kunst, ein artistisches Credo.“75 Seitdem die Frage nach der Kunstfähigkeit des Films per se nicht mehr gestellt wird, hat auch die Diskussion um das Wesen der Filmmontage in der Theorie an Relevanz verloren. Seit den 1990er Jahren spielt das Montieren in der Filmwissenschaft allerdings wieder eine Rolle als Industrieforschung und didaktische Vermittlung der Filmpraxis (s. Kontexte).
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75 Peters: Theorie und Praxis der Filmmontage von Griffith bis heute. In: Beller/Arnsten
(Hrsg.): Handbuch der Filmmontage, S. 47.
76 Bis in die 70er Jahre stellte Lippensynchronität eine Herausforderung für den Tonfilm dar.
Synchronisieren war bis dahin eine handwerkliche Tätigkeit und wurde dann mit Automatisierungsbestrebungen zu einer Domäne von Ingenieur*innen. Vgl. Engel/Kuper/Bell: Zeitschichten, S. 398 f.
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Ästhetik in eine spezifische Filmtradition ein. Allerdings werden solche Szenen in der Regel unsichtbar montiert – echte ‚One-Shot‘-Filme wie Sebastian Schippers VICTORIA bilden die absolute Ausnahme.
Montieren Perspektiven
PERSPEKTIVEN In Zeiten der Digitalisierung haben sich die Praktiken des
Montierens zweifelsohne vervielfältigt. Modularität und Variabilität als Prinzipen digitaler Artefakte, die Verbreitung von technischen Hilfsmitteln wie PCs mit Software zur Bild-, Ton- oder Videobearbeitung sowie die Allgegenwärtigkeit von eigens produzierten oder zumindest modifizierten medialen Artefakten haben das Montieren in eine alltägliche Praktik verwandelt77 – eine Praktik, die zudem zunehmend von Algorithmen übernommen wird. Das ist in automatisiert zusammengestellten Spotify-Playlists genauso der Fall wie in modernen Video-Apps. Die App Quik beispielsweise greift auf die gespeicherten Handyvideos und -fotos zu und erstellt daraus selbstständig den geschnittenen Film.78 Zudem ist das Verfahren der Montage oftmals im Endprodukt gar nicht mehr sichtbar. Montierte Film- oder Tonsequenzen, Remixe, Collagen, Fotomontagen oder grafische Bild-Text-Kombinationen gehören zum täglichen Medienkonsum, ohne als besondere ästhetische Störungen ins Auge zu fallen. Mediale Erzeugnisse werden dabei immer mehr in unsere Lebenswelt eingebunden – bis hin zu Augmented-Reality-Anwendungen wie AR-Brillen oder spielerischen Apps, bei denen die Text- und Bildebene der Gamewelt scheinbar unmittelbar und in Echtzeit in die wahrgenommene Realität ‚montiert‘ werden.79 Aber, wie es bereits in den Theorien zur Avantgarde anklingt, diese Anwendungsgebiete der Montage rufen weder ‚Chock‘ noch Irritation hervor. Es
77 Vgl. Manovich: What Comes After Remix Culture? In: Manovich.net. Unter: http://mano-
vich.net/index.php/projects/what-comes-after-remix [aufgerufen am 29.09.2021].
78 Im GooglePlay-Store bewirbt der Anbieter GoPro die App so: „Mit nur einem Fingertipp
werden deine Aufnahmen in ein Video umgewandelt, das du auch teilen kannst“, vgl. https:// play.google.com/store/apps/details?id=com.gopro.smarty [aufgerufen am 23.04.2021]. Der Vorgang des Montierens, bei dem aus Footage (hier „Aufnahmen“) der Film (hier „Video“) entsteht, erhält dabei konsequenterweise einen datentechnischen Deutungsrahmen und wird mit „umwandeln“ bezeichnet. 79 Vgl. Schröter: Echtzeit und Echtraum. In: AugenBlick, S. 104–120.
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sind oftmals bloße technische Vorgänge, denen keine ästhetische Intention des Montierens zugrunde liegt.
besondere diese nicht ästhetisch oder künstlerisch motivierten Formen des Montierens in den Blick zu nehmen. Montieren als künstlerische Praxis wurde in Film, Hörspiel und Fotografie ausgiebig erforscht. Genauso wurde die Ästhetik des Montierens im 20. Jh. u.a. in den Abhandlungen von Adorno, Eisenstein oder Benjamin kulturtheoretisch gedacht. Ein Desiderat bleibt vor allem das Montieren als popkulturelle, nicht-künstlerische Praxis und die Untersuchung ihrer Produktions- und Rezeptionskontexte. Solche populären digitalen Praktiken des Montierens finden wir bspw. in Memes. Memes sind Bilder, Videos oder Bild-Text-Kombinationen, die in hoher Frequenz im Internet vervielfältigt und dabei ständig modifiziert werden (im Gegensatz zum Viral, das einfach nur vervielfältigt wird).80 Ein populäres montiertes Meme ist bspw. der ‚Tourist Guy‘.81 Das Meme zeigt einen Mann auf einer Aussichtsplattform auf dem Dach eines Gebäudes, während sich im Hintergrund ein Flugzeug auf ihn zu bewegt. Das Bild ist eine Fotomontage, die vorgibt, am 11. September 2001 in New York entstanden zu sein. Mehrere Internet-Nutzer*innen entlarvten die Fälschung und kritisierten sie, indem sie absurde Fotomontagen erstellten, die den ‚Tourist Guy‘ als Zeitzeugen historischer oder fiktionaler Katastrophen-Szenarien zeigen – bspw. des Untergangs der Titanic, des Kennedy-Attentats oder der Invasion von Außerirdischen in Roland Emmerichs INDEPENDENCE DAY. Andere, häufig verwendete Formen von Memes, sind Text-Bild-Kombinationen, die mit immer neuen Text-Varianten versehen werden. Auch hier besteht der Reiz in einer Strukturveränderung durch Neukombination von Elementen, die zu einer – dem Prinzip der Revue ähnlichen – Serie von Textelementen führt.82 Medientheoretisch sind Social-Media-Phänomene wie Memes allerdings bisher selten explizit aus der Perspektive des Montierens betrachtet worden.
Montieren Forschung
FORSCHUNG Aus einer kulturtheoretischen Perspektive gilt es daher ins-
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80 Vgl. Shifman: Memes in Digital Culture, S. 63–66. 81 Vgl. Brad/s0apscum: 9/11 Tourist Guy. In: Know Your Meme. Unter: https://knowyourmeme.
com/memes/911-tourist-guy [aufgerufen am 29.09.2021].
82 Vgl. Pauliks: Die Serialität von Internet-Memes, S. 68–86.
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Montieren Forschung
Neben den medialen Artefakten selbst müsste eine solche Forschung aber auch die spezifischen Produktions- und Rezeptionskontexte untersuchen. Hier wären vor allem die Praktiken des Montierens in zahlreichen Fangemeinschaften zu erforschen. So spielen Fanart, Fan-Vids oder Fanfiktion mit Neukombinationen von Elementen aus einem Ursprungstext bzw. mit Kombinationen von Elementen aus verschiedenen Medien oder Erzählwelten. Dies können bspw. Geschichten, Zeichnungen, Fotomontagen oder Videozusammenschnitte sein, die Figuren einer fiktionalen Geschichte in einem Verhältnis zueinander zeigen, das so ursprünglich nicht vorgesehen war. Oftmals erfolgen Zusammenschnitte von Filmen oder Serien, die nicht nur die Originalgeschichten verdichten oder verändern, sondern das Filmmaterial bspw. auch durch unterlegte Musik in neue Zusammenhänge stellen.83 Besonders deutlich wird die Brechung in der Montage, wenn Figuren aus unterschiedlichen fiktionalen Texten zusammengebracht werden. Wenn beispielsweise Filmmaterial aus Realverfilmungen, Animationsfilmen oder Computerspielen verwendet wird, um Begegnungen zwischen Figuren wie Doctor Who und Sherlock Holmes zu inszenieren, die aus dezidiert verschiedenen Erzählwelten stammen und deren Filmrechte teilweise bei unterschiedlichen Unternehmen liegen.84 Mit Blick auf das ‚Publikum‘ dieser Montageformen bleibt außerdem immer wieder zu fragen, welche Funktionen die Montage in diesen Formen hat. Der Reiz der Montage scheint in diesem letzten Bespiel weniger ein ästhetischer zu sein, die Disparatheit der Elemente ergibt sich auf der Inhaltsebene durch das Vorwissen der Rezipient*innen um die Produktionskontexte. Ohne ein Bewusstsein über die eigentliche Getrenntheit der Figuren tritt die ästhetische Wirkung der Montage nicht zutage. Daher scheint es uns vielversprechend, diese Montagen auch als Kommentar auf die Produktionsbedingungen einer kommerziellen Kulturproduktion zu denken.
83 Vgl. Gray: Show Sold Separately, S. 143–174. 84 Vgl. Booth: Mashup as temporal amalgam. In: Transformative Works and Cultures.
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Seibel, Wolfgang: Die Formenwelt der Fertig-
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M
277
NUMMERIEREN ANTON TANTNER
Nummerieren Anekdote
ANEKDOTE Wien 1776: Die Angehörigen der drei Jahre zuvor eingerichte-
N
ten Militär-Polizeiwache sind schlecht bezahlt, neigen zu Übergriffen und geben wiederholt zu Beschwerden Anlass. Ein im März erlassenes Patent verspricht Abhilfe: Nicht länger sollen die „Polizeisoldaten“ im Schutze der Anonymität die Städterinnen und Städter drangsalieren, ab sofort sollen sie auf ihren permanent zu tragenden Patrontaschen durch eine abnehmbare Nummer aus Messing unterscheidbar sein. Die offizielle Begründung dafür lässt an Klarheit nicht zu wünschen übrig: Die Maßnahme ist nötig, „damit das Beschwerdeführen vielleicht dadurch, weil der Mann von der Wache dem Beleidigten unbekannt wäre, nicht erschwert, oder unmöglich gemacht werde“ und „daß dergestalt genug sein wird, anzuzeigen, man sei von dem sovielten Numero beleidiget worden.“1 – Polizisten sind keineswegs die einzigen Subjekte, die im 18. Jh. nummeriert werden: Ebenfalls in Wien tragen die Boten der Stadtpost schon ab 1773 Nummern auf ihren Blechkästen,2 1779 werden die Laternenanzünder „mit einer Nummer auf dem Hute bezeichnet“.3 Derlei Fälle zeigen, dass sichtbar angebrachte Nummern für Zwecke der sogenannten Unterwachung, das heißt der Überwachung obrigkeitlicher Organe, eingesetzt werden können. Üblicher ist der umgekehrte Fall, wobei eine Geschichte der Gefangenennummer etwa noch zu schreiben bleibt: Im damals habsburgischen Gent beispielsweise müssen die Insassen des 1771 errichteten Maison de Force die Nummer ihrer Zelle auf den Zuchthausuniformen tragen,4 und der ab 1815 im Château d’If inhaftierte Edmond Dantès des Alexandre Dumas wird dem neuen Gefängnisdirektor nur unter seiner (Zellen-)Nummer 34 bekannt sein.5
1 Kropatschek (Hrsg.): Sammlung aller k.k. Verordnungen und Gesetze, Bd. 8, Nr. 2229,
S. 633 f.
2 Vgl. Wurth: Der Brief in Vergangenheit und Gegenwart. In: Österreichisches Jahrbuch für
Postgeschichte und Philatelie, 8 (1985), S. 41, 60.
3 Brünner Zeitung, Nr. 92, 18.11.1779, S. 735. 4 Vgl. Dreßen: Die pädagogische Maschine, S. 61 5 Vgl. Dumas: Der Graf von Monte Christo, S. 115.
278
ETYMOLOGIE Zur selben Zeit, als das Substantiv „Nummer“ Mitte des 16. Jhs. aus der italienischen Kaufmannsprache von „numero m. ‚Zahl, Zahlenzeichen‘ (aus lat. numerus ‚Zahl, Anzahl‘)“ entlehnt wurde, wurde im Dt. „nummerieren“ in der Bedeutung von „‚mit Nummern, mit fortlaufenden Zahlen versehen, beziffern‘ (Mitte 16. Jh.), aus lat. numerāre ‚zählen, rechnen‘“ gebräuchlich.8 Die weitere Bedeutung von „zählen, wo es doch nur in engerer Bedeutung in der Rechenkunst üblich ist, wo numeriren eine geschriebene Zahl gehörig aussprechen, oder eine ausgesprochene Zahl durch die gehörigen Zeichen ausdrucken bedeutet“,9 war Ende des 18. Jhs. noch bekannt, wurde aber zunehmend von „Mit der gehörigen Nummer bezeichnen. Die Häuser, Waaren, Mannschaften u. s. f. nummeriren“10 überlagert.
Nummerieren Etymologie
1851 wird Victor Hugo im Zuge der Proteste gegen den Staatsstreich des Louis Bonaparte zu einem gegnerischen General, der nicht bereit war, seinen Namen preiszugeben, sagen: „Gleichviel, Ihren Namen als General brauche ich nicht zu wissen, aber ich werde Ihre Nummer als Sträfling wissen.“6 Gesichert ist jedenfalls, dass Angehörige mobiler Berufsgruppen ab dem 18. Jh. mit dem Mittel der Nummerierung kontrollierbar gemacht werden sollen, wobei sich zuweilen auch Widerstand gegen diese Praxis regt: Als 1769 in Genf angeordnet wird, dass die fremden Holzfäller auf ihren Jacken Blechschilder mit einer Nummer zu tragen haben, unter der sie auch mit Namen und Alter registriert werden, sehen die derart Identifizierten dies als erniedrigend an und suchen darum an, die Nummer in ihren Taschen verbergen zu können; sie erreichen zumindest das Zugeständnis, die Nummer an ihrem Sägebock und an der Säge an Stelle ihrer Jacken anbringen zu können.7
N
6 Hugo: Geschichte eines Verbrechens, S. 192. 7 Vgl. Cicchini: A new ‚inquisition‘? In: Urban History, 39 (2012), S. 617. 8 (Art.) Nummer. In: Pfeifer (DWDS online). Unter: https://www.dwds.de/ [aufgerufen am
25.10.2019].
9 (Art.) Nummeriren. In: Adelung online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/Adelung/ [aufge-
rufen am 25.10.2019]; stark in dieser Bedeutung bei Zedler: (Art.) Numeriren. Unter: https:// www.zedler-lexikon.de [aufgerufen am 25.10.2019]. 10 (Art.) Nummeriren. In: Adelung online. Unter: http://woerterbuchnetz.de/Adelung/ [aufgerufen am 25.10.2019].
279
Nummerieren Kontexte
KONTEXTE Nummerieren kann als Kulturtechnik definiert werden, die einem
Objekt oder einem Subjekt – ganz gleich ob einem Haus, einem Stadtbezirk, einem Sitzplatz, einer Buchseite, einem Sträfling oder einer Polizistin – eine Zahl zuweist, um Objekt oder Subjekt eindeutig identifizierbar zu machen. So wie Kulturtechniken nach Bernhard Siegert das Prozessieren von Unterscheidungen als grundlegende, elementare Funktion zukommt,11 werden durch nummerieren Differenzen produziert, werden die einzelnen Subjekte und Objekte klar kenntlich gemacht und wird es ermöglicht, diese leicht und schnell voneinander zu unterscheiden. Die für die Nummerierung verwendete Zahl hat dabei dieselbe Funktion wie ein Name, im Unterschied zum ‚kardinalen‘ und ‚ordinalen‘ Zahlengebrauch handelt es sich hier um eine ‚nominale‘ Zahlenzuweisung, bei der Zahlen Objekte innerhalb einer Menge identifizieren und als Eigennamen Verwendung finden, wie dies bei Hausnummern, Nummern von Bus- und Straßenbahnlinien oder Telefonnummern der Fall ist.12 Mit Nummern wird demnach nicht gerechnet, sondern es wird mit ihnen primär benannt, identifiziert und damit unterschieden; sekundär können sie aufgrund der Eigenschaft von Zahlen dazu genutzt werden, die nummerierten Objekte anzuordnen und in eine Reihenfolge zu bringen – die verschiedenen Gebrauchsweisen von Zahlen können sich demnach bei der Nummerierung vermischen. Wenn auch Zahlen bei der Nummerierung die Funktion von Namen zukommt, so gibt es doch Unterschiede zwischen Zahlen und Namen: Diese bestehen u. a. darin, dass erstere im Gegensatz zum Namen eindeutiger sind – es gibt nur ein beschränktes Repertoire an nicht miteinander verwechselbaren Namen, aber ein potenziell unendliches Reservoir an Zahlen – und dass sie seltener mit Geschichten beispielsweise über eine genealogische Herkunft verbunden werden. Wird eine Zahl zur Identifizierung eingesetzt, wird sie zur Nummer.
11 Siegert: Kulturtechnik. In: Maye/Scholz (Hrsg.): Einführung in die Kulturwissenschaft,
S. 100; einführend zum Begriff der „Kulturtechnik“ auch Maye: Kulturtechnik. In: Bartz et al. (Hrsg.): Handbuch der Mediologie, S. 142–148. 12 Vgl. Wiese: Sprachvermögen und Zahlbegriff. In: Schneider/Wedell (Hrsg.): Grenzfälle, S. 127 f., 132.
280
Kulturtechniken – wie Schreiben, Lesen, Malen, Rechnen, Musizieren – sind stets älter als die Begriffe, die aus ihnen generiert werden. Geschrieben wurde lange vor jedem Begriff der Schrift oder des Alphabets; Bilder und Statuen inspirierten erst nach Jahrtausenden einen Begriff des Bildes; bis heute kann gesungen und musiziert werden ohne Tonbegriffe oder Notensysteme. Auch das Zählen ist älter als die Zahl. Zwar haben die meisten bekannten Kulturen gezählt oder bestimmte Rechenoperationen durchgeführt; aber sie haben daraus nicht zwangsläufig einen Begriff der Zahl abgeleitet.13
Somit ist anzunehmen, dass auch lange vor dem Begriff der Nummer nummeriert wurde und dass diese Kulturtechnik bis zu den Anfängen der Schrift zurückreicht, womit ihre Erforschung auch der Zusammenarbeit mit Historiker*innen der Antike und der Altorientalistik bedarf. KONJUNKTUREN Konjunkturen können bislang weniger für die Verwendung
des Begriffs des „Nummerierens“ bestimmt werden als für das damit bezeichnete Phänomen, Objekte zum Zwecke ihrer Identifizierung mit Zahlen zu versehen. So kann festgehalten werden, dass Nummerierung in Form von Zeilenzählungen bei Keilschrifttafeln der ninivitischen Bibliothek oder Blattnummerierung selbst bei Papyrusrollen der griechischen Antike bereits im Altertum eingesetzt wurde, im Frühmittelalter aber weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Jahrhundertelang wurden Handschriften weder blattweise foliiert noch seitenweise paginiert, nummeriert wurden allenfalls die Lagen der Codices, des Weiteren lässt sich eine (mehr ordinale?) Zählung von Kapiteln feststellen. Gemäß den Erkenntnissen der Buchforschung waren das 12. und 13. Jh. ein Zeitalter der Neuerfindung der Kulturtechnik der Nummerierung: Blatt-, Seiten- und Kolumnenzählung verbreiteten sich zunächst in Büchern für den Gottesdienst, dann auch in privaten Beständen, wobei bis Anfang des
Nummerieren Konjunkturen
Das Problem, vor das eine Geschichtsschreibung der Kulturtechniken gestellt ist, hat Thomas Macho folgendermaßen formuliert:
N
13 Macho: Zeit und Zahl. In: Krämer/Bredekamp (Hrsg.): Bild – Schrift – Zahl, S. 179.
281
Nummerieren Konjunkturen
16. Jhs. häufiger foliiert statt paginiert wurde.14 Für die Annahme einer solchen Sattelzeit der Nummerierung im 13. Jh. spricht auch die Beobachtung von Valentin Groebner, dass es sich bei der für die Aktenführung eingesetzte „Registernummer“ um eine „alte bürokratische Erfindung aus dem 13. Jahrhundert“ handelt,15 wobei die Frage offenbleibt, ob es sich hier tatsächlich um eine Neuerfindung dieser Kulturtechnik handelte oder nicht etwa um eine Verschiebung von Praktiken des Zahleneinsatzes aus dem religiösen und mnemotechnischen Bereich hin in die säkulare Sphäre der Verwaltung. Zu Beginn der Frühen Neuzeit setzte sich die Paginierung von Buchseiten durch; das 17. und insbesondere das 18. Jh. können schließlich als Hochzeiten der Kulturtechnik der Nummerierung betrachtet werden: Die so sehr von Fragen der Ordnung und der Klassifikation besessenen Jahrhunderte des ‚Absolutismus‘ und der Aufklärung vergeben exzessiv Nummern zum Zwecke der Beherrschung der Natur und der ‚Regierbarmachung‘ der Gesellschaft, neben den eingangs erwähnten Vertretern einzelner Berufsgruppen werden Häuser, Fiaker, Laternen, Spitalsbetten und Töne nummeriert.16 Im 19. und 20. Jh. setzte sich diese Praxis fort, vielleicht kann das Zeitalter des Fordismus als eine weitere Schlüsselzeit dieser Kulturtechnik betrachtet werden: Die Arbeiter*innen in den durch Fließbandarbeit gekennzeichneten Fabriken wurden in jeder Minute ihres Alltags damit konfrontiert, ganz gleich ob es sich um die Werksiedlung und Fabriken des Tomáš Baťa im Zlín der Ersten Tschechoslowakischen Republik oder um FIAT in Turin in den 1960er Jahren handelte.17 Zum künstlerischen Gegenstand wurde die Kulturtechnik der Nummerierung spätestens nach dem Ersten Weltkrieg, als ihr exzessiver Einsatz überzeichnet und zum Teil karikierend dargestellt wurde: In Jewgenij Samjatins um 1920 verfassten, sehr romantisch anmutenden, antisowjetischen Roman WIR
14 Vgl. Lehmann: Blätter, Seiten, Spalten, Zeilen. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen, 53
(1936), S. 333–361, 411–442.
15 Groebner: Der Schein der Person, S. 178. 16 Vgl. Tantner: Nummerierung – eine neuzeitliche Kulturtechnik? In: Lucci/Skowronek
(Hrsg.): Potential Regieren, S. 159–170.
17 Vgl. Szczygiel: Gottland, S. 22, 29; als belletristische Darstellung: Balestrini: Wir wollen
Alles, S. 69.
282
Nummerieren Gegenbegriffe
werden die Subjekte als „Nummern“ bezeichnet und mit Buchstaben-Zahlen-Kombinationen benannt, der Hauptprotagonist etwa heißt D-503, seine zugewiesene Frau O-90, seine Geliebte I-330. Vorangestellte Konsonanten sind dabei für Männer reserviert, die Herrscherpersönlichkeit wiederum, der „Wohltäter“, wird als „Nummer aller Nummern“, als „Nomera iz Nomerov“ bezeichnet.18 Im 1931 angelaufenen, von René Clair gedrehten Spielfilm À NOUS LA LIBERTÉ / ES LEBE DIE FREIHEIT wiederum tauchen permanent bewusst eingesetzte Nummern auf, die Gefangene, Radrennfahrer, Stechuhren, Fabrik abschnitte und dergleichen tragen.19 Was die wissenschaftliche Erforschung der Nummerierung anbelangt, so kann vorläufig festgestellt werden, dass bis weit ins 20. Jh. hinein nur einzelne, getrennte Teilbereiche – die Geschichte der Buchpaginierung etwa oder die Geschichte der Hausnummerierung – zu wissenschaftlichen Objekten wurden; als umfassendes Phänomen konnten sie wahrscheinlich erst mit dem Beginn des digitalen Zeitalters zum Forschungsgegenstand werden.20 So lässt sich eine die genannten Beschränkungen tendenziell überschreitende Perspektive bei den von Bruno Latour und seiner Forscher*innengruppe vorgelegten Studien zur Akteur-Netzwerktheorie (ANT) feststellen. Verwendet man das Latour’sche Vokabular, so findet die Technik der Nummerierung Einsatz bei der Verfertigung von „Inskriptionen“, mittels denen Entitäten – zum Beispiel ein Ast im brasilianischen Urwald – eine registermäßige Referenz bekommen; derlei Inskriptionen können als „unveränderlich mobile Elemente“ („immutable mobiles“) in entfernte „Berechnungszentren“ („centers of calculations“) transferiert und versammelt werden, um von der Distanz aus Objekte und Subjekte verwalten und steuern zu können, eine Praxis, die gleichermaßen für neuzeitliche Wissenschaft und Verwaltung kennzeichnend ist.21
N
GEGENBEGRIFFE Während nummerieren vermutlich als Sonderform des Adressierens und Identifizierens zu betrachten ist, wäre als sein Gegenteil das
18 Samjatin: Wir, S. 67, 135. 19 Clair: À Nous la Liberte! DVD, 2003. 20 Vgl. Tantner: Nummerierung. In: Merkur, Nr. 785, (2014), S. 939–945. 21 Latour: Hoffnung, S. 42–45, 375 f.; Ders.: Drawing. In: Belliger/Krieger (Hrsg.): ANThology,
259–307.
283
Nummerieren Perspektiven
Löschen und Entfernen der Nummer zu betrachten, immer verbunden mit der Möglichkeit, dass dadurch nicht nur die am Subjekt oder Objekt angebrachte Zahl verschwindet, sondern das Subjekt oder Objekt selbst verloren geht, weil es nicht mehr in Verzeichnissen bzw. Datenbanken aufscheint oder mangels Identifizierungsmerkmal nicht mehr aufgefunden werden kann. Als weiterer Gegenbegriff zum Nummerieren bzw. insbesondere zum sichtbaren Tragen einer Nummer wird oft der Begriff des Menschlichen genannt: Menschen mittels Nummer zu identifizieren wird als entmenschlichend betrachtet, als Beraubung ihrer Würde und tendenziell ihrer Freiheit, potenziell ihres Lebens. Äußerungen dieser Art finden sich bereits vor der im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau betriebenen Praxis, die beim KZ-Eintritt vergebene Nummer auf den Arm der Insass*innen zu tätowieren,22 etwa im 1936 verfassten LIED DES EINFACHEN MENSCHEN des österreichischen Schriftstellers Jura Soyfer, in dem die Frage „Aber sind wir heute Menschen?“ mit einem klaren „Nein!“ beantwortet und als Beleg dafür unter anderem angeführt wird: „Wir sind die Nummer im Katasterblatt“.23 PERSPEKTIVEN Gegenwärtig scheint eine doppelläufige Bewegung stattzufinden: Werden noch die kleinsten Gegenstände mit einer maschinenlesbaren, numerischen Adresse versehen, so ziehen sich in manchen Bereichen – etwa der telefonischen Adressierung – die Nummern aus dem subjektiv erfahrbaren menschlichen Alltag in die technischen Geräte zurück und lassen den Namen den Vortritt. Werden Nummern für Menschen vergeben und gar direkt auf ihrer Haut angebracht – wie es in den letzten Jahren in manchen Ländern im Zuge der Registrierung von Flüchtlingen geschah –, so stößt diese Praxis in der Regel auf Skepsis oder Ablehnung bei einer breiten Öffentlichkeit; Akzeptanz finden höchstens temporär vergebene Wartenummern, deren Funktion allerdings mehr in der Reihung der wartenden Subjekte als in deren Identifizierung besteht, der ordinale Zahlengebrauch also von größerer Bedeutung ist als der nominale.
22 Vgl. Stephan/Vuk: Verhältnis von Namen und KZ-Nummern. 23 Soyfer: Lied des einfachen Menschen. In: Jura Soyfer. Ein Lesebuch, S. 76; für weitere Belege
sowie auch gegenläufige, affirmative Verwendungsweisen der Nummerierung von Subjekten s.: Tantner: Nummern für Subjekte. In: Zahlmann (Hrsg.): Medienkulturen, S. 171–183.
284
der Kulturtechnik der Nummerierung hat das Potenzial, bereits vorhandene Erkenntnisse aus sehr diversen Fachrichtungen (darunter: Buch-, Musik-, Theater- und Religionswissenschaften, die Philologien sowie die Sprachwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte, Archivkunde und Altertumsforschung) zusammenzuführen und Expert*innen dieser Fächer miteinander in Dialog zu bringen. Auch eine Einbeziehung von Vertreter*innen der Formal- und Naturwissenschaften könnte ertragreich sein: zum einen, da in deren wissenschaftlicher Praxis die Verwendung der Kulturtechnik der Nummerierung alltäglich ist, zum anderen, weil mathematisches Wissen wichtige Beiträge zu den Forschungsfragen zu liefern verspricht, noch dazu, wo nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein solches Forschungsvorhaben an die Grenzen der Möglichkeiten kultur- und geschichtswissenschaftlicher Zugänge stößt. An dieses Forschungsfeld sind eine Reihe von bislang kaum beantworteten Fragen zu stellen:24 Stand etwa die nummerierte Liste an den Anfängen der nominalen Zahlenzuweisungen, in dem Sinne, dass bevor Nummern auf Objekten oder Subjekten angebracht wurden, letztere nummeriert in Listen – mit Tontäfelchen, Papyri oder Papier als Speichermedium – verzeichnet wurden? Im Falle der Häuser scheint dies der Fall zu sein: Schon bevor Hausnummern auf Gebäuden angebracht wurden, finden sich Häuserverzeichnisse, in denen die Gebäude nummeriert eingetragen waren. Damit in Zusammenhang steht die Frage, ob sich die nominale Zahlenzuweisung erst langsam aus der ordinalen Zahlenzuweisung herausdifferenzierte, ob die Technik der Nummerierung in ihren Anfängen zunächst in den ordinalen Gebrauch der Zahlen integriert war? Wie wurden aus den in einer Liste als „erstens“, „zweitens“, „drittens“ gereihten Gegenständen Objekte, denen die Ordnungszahl als identifizierende „Nummer 1“, „Nummer 2“ und „Nummer 3“ zugewiesen wurde? Wann schließlich entstand ein Begriff der nominalen Zahlenzuweisung? Wer sind die Akteur*innen des Nummerierens und gibt es Bereiche – wie etwa Wissenschaft, Buchkultur, Verwaltung oder Handel –, in denen sich diese
Nummerieren Forschung
FORSCHUNG Die umfassende Erforschung der Geschichte und Gegenwart
N
24 Ausführlicher: Tantner: Nummerierung – eine neuzeitliche Kulturtechnik? In: Lucci/Skow-
ronek (Hrsg.): Potential Regieren, S. 165–170.
285
Nummerieren Forschung
Kulturtechnik als Erstes durchsetzt, bevor sie in anderen Verbreitung findet? Oder wird sie in verschiedenen Bereichen ohne Bezug zueinander jeweils neu verwendet, geradezu immer wieder neu erfunden? Ein weiteres Untersuchungsfeld sind jene Debatten, die die Einführung der Technik der Nummerierung begleiteten: Mit welchen Argumenten wurde die Nützlichkeit der Nummerierung propagiert, weswegen wurde sie abgelehnt und etwa als entmenschlichend verdammt? Behalten gegenüber den zahlreichen Nummerierungsskeptikern Deleuze/Guattari Recht, wenn sie behaupten: „Schrecken hin, Schrecken her, die numerische Organisation von Menschen ist sicherlich nicht grausamer als die in Abstammungslinien oder Staaten“?25
25 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 539.
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NUTZEN JUDITH PIETRECK
Ozeanen. Tolle Gezeiten. Wellen für jung und alt. Strände die das gute und schöne verkörpern als auch die raue Natur. Einfach großartig. Bleib wie du bist!“1 Auf diese ‚aufmunternde Rezension‘ lässt sich stoßen, wenn man bei Google nach dem Atlantischen Ozean sucht, und sie ist nur eine von 18.716 Bewertungen.2 Bei Kommentaren wie „Tolle Aussicht. Nur das viele Plastik hat etwas gestört. Der Betreiber sollte vielleicht ein Auge darauf haben!“, „Versucht zu sehr dem Pazifik nachzueifern!“ oder „Hat die Titanic auf dem Gewissen“ wird schnell klar, dass hier so etwas wie ein humoristischer Wettbewerb um die lustigste Ozean-Rezension entbrannt ist.3 Aber Internet-Nutzer:innen meinen es teilweise auch erstaunlich ernst, wenn sie Orte online bewerten – so hat bspw. die (eher unauffällige) Berliner S-Bahn-Station Landsberger Allee allein etwa 150 Rezensionen,4 die sich stellenweise fast seriös lesen: „Ein praktischer Verkehrsknotenpunkt mit vielen Möglichkeiten des ÖPNV, um fast jeden Punkt in Berlin zu erreichen. Entgegen einigen Meinungen sind alle Möglichkeiten ausgeschildert. Man sollte nur mal auf die Schilder sehen.“ Andere sind da einsilbiger (und weniger belehrend): „Stinkt immer“ oder „Kein Ort zum verweilen“. Man könnte den Gesamteindruck zusammenfassen wie Nutzer:in ‚Pusik Mya‘ es schlicht tut: „Einfach geht“.5 Worin der Nutzen dieser Rezensionen liegt, sei hier mal dahingestellt – es ist ja doch eher selten praktikabel, anhand von Google-Rezensionen zu entscheiden, an welcher S-Bahn-Station man aussteigt. Es soll an dieser Stelle auch nicht die – durchaus interessante – Frage erörtert werden, was Menschen
Nutzen Anekdote
ANEKDOTE „Ausgezeichneter Ozean. Wenn nicht der Ozean unter den
N
1 2 3 4 5
Rezensionen zum Suchbegriff ‚Atlantik‘ unter www.google.de [aufgerufen am 20.02.2020]. Stand: Februar 2020. Rezensionen zum Suchbegriff ‚Atlantik‘ unter www.google.de [aufgerufen am 20.02.2020]. Stand: März 2021. Rezensionen zum Suchbegriff ‚Landsberger Allee S-Bahn‘ unter www.google.de [aufgerufen am 28.02.2020].
289
Nutzen Etymologie
antreibt, Online-Rezensionen zu allem von S-Bahn-Stationen, über Apfelschäler bis hin zu Ozeanen zu verfassen. Interessant für diesen Artikel sind die Implikationen, die es hat, wenn wir u.a. durch die Allgegenwart des Smartphones dazu verdammt sind, ständig Nutzer:innen zu sein, egal ob am Strand oder in der S-Bahn, und was es bedeutet, wenn User:innen bspw. zu Kritiker:innen werden. Für den Soziologen Gerhard Schulze – der in den 1990ern vor allem für seine Beobachtungen zur ERLEBNISGESELLSCHAFT6 bekannt wurde – haben wir es hier mit einer Figur zu tun, die er im Aufsatz STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT 2.0 folgendermaßen beschreibt: Im User vereinigen sich alle klassischen Rollenträger […]: der Kreative, der Rezipient, der Kritiker und der Gegenkritiker. Dazu gesellt sich der Kunstsammler, dessen neue Handlungsform das Herunterladen oder Speichern von Links ist. Um die Schauspielertruppe vollständig zu machen, tummeln sich im Kopf des Users schließlich auch noch die Nachfolger von Kunstkenner und Kunstbanause.7
Schulze, der diesen Entwicklungen ausgesprochen positiv gegenübersteht, empfindet das als demokratisierenden Prozess – für ihn geht in der „neuen Sozialfigur des Users […] die Trennung von Künstler und Publikum in eine Personalunion über“.8 Wir alle können also gleichzeitig Nutzer:in, Künstler:in oder eben Kritiker:in sein – egal ob am Ozean, im Bahnhof oder in der Oper. ETYMOLOGIE Nutzen ist ein absolut grundsätzliches Verb in der dt. Sprache und findet dementsprechend universell Anwendung. Die Wurzel lässt sich ins Althochdt. zurückverfolgen: „Ahd. (8. Jh.), mhd. nuz […] germ. *nuti-“.9 Im DEUTSCHEN WÖRTERBUCH der Brüder Grimm wird nutzen oder nützen als sinnverwandt mit genießen, brauchen, gebrauchen, anwenden, sich bedienen und benutzen/benützen beschrieben.10
6 Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. 7 Schulze: Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0. In: Kulturpolitische Mitteilungen, Nr. 134,
III/2011, S. 41.
8 Ebd., S. 40. 9 (Art.) Nutzen. In: Pfeifer. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1185. 10 Vgl. (Art.) nutzen, nützen. In: Grimm, Bd. 7, Sp. 1029.
290
Nutzen Etymologie
Besonders augenfällig, gerade in Bezug auf den Mediengebrauch, ist der Umstand, dass nutzen und genießen nicht nur sinnverwandt sind oder zumindest waren, sondern tatsächlich einen Stamm teilen: „nutzen, nutz ist mit dem adj. nütze abgeleitet von nieszen […], wie schutz von schieszen, und bedeutet etwas, das man nieszt, das man wovon zum genusz hat“.11 Die Verknüpfung von nutzen und genießen wird in etymologischen Wörterbüchern mit viel Aufmerksamkeit bedacht und ausführlich hergeleitet.12 Für die Verortung von Mediennutzer:innen als Teil größerer Gesamtgefüge ist eine weitere Bedeutungsebene des ‚genießen‘ interessant: „[D]er begriff von genieszen ist ursprünglich, viel weiter als heute, eine nutznieszung aller art, besonders in gemeinschaft“.13 Generell ist die Nutznießung ein wichtiger Bedeutungsaspekt, da sie einerseits nutzen und genießen in einem Wort verknüpft und andererseits die juristische Frage nach den Nutzungsrechten stellt, die auch den Mediengebrauch betrifft. Nutznießung (oder Nießbrauch) ist die dt. Entsprechung für den lat. Rechtsterminus ūsus frūctus,14 den Fruchtgenuss – dementsprechend bezeichnet Usufructarius den Nutznießer.15 Dieser kommt in den „Genuß des Nutzens, d. i. des Ertrages einer Sache, mit Ausschließung des Eigenthums, der Gebrauch einer fremden Sache zu seinem Nutzen“.16
N
[D]as Benutzungsrecht (ususfructus) bringt mit sich, alle Früchte und Vortheile, deren die Sache fähig ist, sich zuzueignen […]. Bey dem Nießbrauche sind demnach schlechterdings zwey Personen nöthig. Die eine Person heißt der Eigen thümer der zum Nießbrauch überlassenen Sache, oder der Proprietarius; und
11 (Art.) nutzen, nutz. In: Grimm, Bd. 7, Sp. 1026. 12 Vgl. beispielhaft: (Art.) genieszen. In: Grimm, Bd. 4, Sp. 3454–3467; (Art.) genießen. In:
Adelung. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 565– 567; (Art.) genießen. In: Pfeifer. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 537. 13 (Art.) genieszen. In: Grimm, Bd. 4, Sp. 3455. 14 Vgl. (Art.) genießen. In: Pfeifer. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 537. 15 Vgl. (Art.) Nutzen. In: Heinsius. Vollständiges Wörterbuch der Deutschen Sprache mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung für die Geschäfts- und Lesewelt, Bd. 3, S. 299. 16 (Art.) Nutznießung. In: Krünitz. Oekonomische Encyklopädie. Online unter: http://www. kruenitz1.uni-trier.de/ [aufgerufen am 20.05.2021].
291
die andere wird der Usufructarius oder der Nutznießer, Nießbraucher genannt.
Nutzen Etymologie
Dieser erhebt alle ordentlichen Früchte von der fremden Sache.17
In den Paragrafen 1030–1089 des BGB ist noch heute der Umstand des Nießbrauchs geregelt.18 Im Vergleich zum Nießbraucher, der praktisch nur noch als juristischer Terminus Anwendung findet, hat der Begriff des Nutznießers eine negative Wendung erfahren: Während in den Wörterbüchern vor dem 20. Jh. Nutznießer und Nießbraucher wertfrei gleichgesetzt werden, taucht im letzten Jahrhundert eine Zuschreibung auf, die den Nutznießer eher in Richtung ‚Schmarotzer‘ und ins Parasitäre schiebt.19 In MEYERS GROSSEM UNIVERSALLEXIKON von 1986 wird der Nutznießer etwa beschrieben als „jmd., der den Nutzen von etw. hat, einen Vorteil aus etw. zieht, was ein anderer erarbeitet hat“.20 Hier haben sich die Begriffe ‚Nutznießer‘ und ‚Nutzer‘ voneinander entfernt, obwohl man dafür plädieren könnte, dass Nutzer:innen auch heute noch Personen sind, die die Früchte einer Sache ohne eigenen Besitz genießen – zu denken wäre an Archiv-Nutzer:innen oder selbst an die Nutzer:innen des Internets. Das engl. Äquivalent ‚use‘, das uns im dt. Sprachgebrauch vor allem in Form des ‚Users‘ begegnet, hat einige Bedeutungsschichten, die dem dt. nutzen abgehen. Besonders die Umschreibung von (Drogen-)Abhängigen als ‚user‘ drängt sich auf, wenn man über (exzessiven) Mediengebrauch nachdenkt.21 Es lässt sich heute häufig eine gewisse Abhängigkeit zwischen ‚Usern‘ und
17 (Art.) Nutznießung. In: Krünitz. Oekonomische Encyklopädie. Online unter: http://www.
kruenitz1.uni-trier.de/ [aufgerufen am 20.05.2021].
18 §§ 1030–1089. In: Bürgerliches Gesetzbuch, Stand: 20.07.2017. „Eine Sache kann in der
Weise belastet werden, dass derjenige, zu dessen Gunsten die Belastung erfolgt, berechtigt ist, die Nutzungen der Sache zu ziehen (Nießbrauch)“ [§ 1030, (1)]. 19 So auch in TRÜBNERS DEUTSCHEM WÖRTERBUCH von 1943; dort werden ausschließlich Quellen aus den 1920er und 30er Jahren zitiert (u.a. MEIN KAMPF) und der Nutznießer erhält dabei auch gleich noch eine anti-völkische Komponente [(Art.) Nutznießer. In: Trübners Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, S. 829]. 20 (Art.) Nutznießer. In: Meyers großes Universallexikon, Bd. 17, S. 1904. 21 Vgl. (Art.) user. In: Oxford English Dictionary. Online unter: oed.com [aufgerufen am 20.05.2021].
292
KONTEXTE Es gibt vermutlich kaum einen Kontext, in dem das Verb nutzen nicht benutzt wird. Aus der Etymologie ergeben sich Schwerpunkte im juristischen Bereich und im breiten Feld zwischen Genuss und praktischer oder ökonomisch gewinnbringender Anwendung einer Sache. An dieser Stelle soll der Fokus natürlich vor allem auf nutzen in Bezug auf Medien liegen und auf den Menschen, die zu Mediennutzer:innen werden. Wenn man in einem HISTORISCHEN WÖRTERBUCH DES MEDIENGEBRAUCHS über Mediennutzung schreibt, liegt es nahe, nach dem Unterschied zwischen (be)nutzen und gebrauchen oder nach der Differenz von Mediennutzung und Mediengebrauch zu fragen. Wie bereits angedeutet, ist nutzen vor allem auf einen (ökonomischen) Zweck, auf ein Ziel ausgerichtet. Gebrauchen beschreibt einen freieren Umgang, der allerdings erst mehrfach wiederholt werden und sich vielleicht auch gesellschaftlich etablieren muss, um ein buchstäblicher Gebrauch zu sein, der sich vom Brauch, also vom Rituellen ableitet.23 Aber es kann verschiedene Arten des Gebrauchs geben, die nicht mit einem konkreten Ziel verbunden sind, sondern auch aus Spiel oder Kreativität erwachsen können und dabei dem etablierten Gebrauch zuwiderlaufen.24
Nutzen Kontexte
ihren Geräten bzw. genutzten Diensten konstatieren – durchaus in wechselseitigem Verhältnis. Das engl. Verb ‚use‘ umfasst auch das Abnutzen und Verzehren, was im Dt. eben nur mit entsprechender Vorsilbe auszudrücken ist. Zu denken ist hier noch einmal an Nutznießer:innen, die eben die Substanz des Genutzten schützen müssen, da sie nur leihweise nutzen, was ihnen nicht gehört.22 Ebenso ist der Missbrauch (‚abuse‘) ein Aspekt, der das vielschichtigere ‚use‘ vom eher positiv konnotierten nutzen unterscheidet.
N
22 Vgl. § 509. In: Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch. Online unter: https://www.ris.
bka.gv.at/GeltendeFassung/Bundesnormen/10001622/ABGB%2c%20Fassung%20vom%20 06.08.2018.pdf [aufgerufen am 20.05.2021] – „Die Fruchtnießung ist das Recht, eine fremde Sache, mit Schonung der Substanz, ohne alle Einschränkung zu genießen.“ 23 Vgl. Christians: Begriffsgeschichte als Gebrauchsgeschichte – in diesem Band, S. 12-35. 24 Vgl. s. Gebrauchsanweisung in diesem Buch.
293
Nutzen Kontexte
Zu denken wäre bspw. an Spielkarten, die dazu ‚missbraucht‘ werden, Kartenhäuser zu bauen oder DJs, die an Plattentellern scratchen.25 In der Wissenschaft stehen die Begriffe vor allem stellvertretend für zwei verschiedene Wissenschaftszweige: Während Mediennutzung eng mit der Kommunikationswissenschaft verbunden ist, steht Mediengebrauch eher im Kontext einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medienwissenschaft. Im Alltagsgebrauch werden beide Begriffe allerdings quasi synonym verwendet, wie der erste Satz des Wikipedia-Eintrags zur ‚Mediennutzung‘ zeigt: „Mit Mediennutzung bezeichnet man den Gebrauch von Medienangeboten insbesondere der Massenmedien.“26 Neben der empirischen Kommunikationswissenschaft hat auch das Kulturmanagement den ‚(Kultur-)Nutzer‘27 fest im Blick und konstituiert rund um ihn eine eigene Forschung. Diese ist vorrangig darauf ausgelegt, zu erfahren, wie mehr Besucher:innen oder neue Zielgruppen für ein Kulturangebot gewonnen werden können. Die entsprechende Forschung etabliert sich zunehmend im Kulturmanagement, wenn gefordert wird, dass „Ergebnisse der Kulturnutzerforschung a) für die kulturelle Praxis und b) in politischer Dimension“ Konsequenzen haben sollen.28 Selbst die Forschung über Kulturnichtnutzer wird vorangetrieben,29 da besonders sie Potential für Kulturinstitutionen versprechen, wobei der „Fokus auf die lebensweltliche Anschlussfähigkeit“30 wichtig sei, also auf den Nutzen, der sich z.B. aus einem Museumsbesuch ziehen lässt. Der Kulturwissenschaftler und Ethnologe Dieter Kramer diagnostiziert in seinem Buch KULTURPOLITIK NEU ERFINDEN eine diesbezügliche Schieflage und formuliert direkt einen Lösungsvorschlag: „Die Krise der Kulturpolitik ist
25 Vgl. (Art.) auflegen in diesem Band, S. 36-57; Keller/Dillschnitter (Hrsg.): Zweckentfrem-
dung. ‚Unsachgemäßer‘ Gebrauch als kulturelle Praxis.
26 (Art.) Mediennutzung. In: Wikipedia. Unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Mediennutzung
[aufgerufen am 20.05.2021], Hervorhebungen JP.
27 Wenn hier vom ‚Nutzer‘ die Rede ist, dann meint dies die Figur und das, was den ‚Nutzer‘
allgemein ausmacht. Sind konkret Nutzer:innen gemeint, dann werden sie auch als solche bezeichnet. 28 Bünsch: Zukunft Publikum. In: Bekmeier-Feuerhahn et al. (Hrsg.): Zukunft Publikum, S. 349. 29 Vgl. ebd., S. 352. 30 Ebd., S. 353.
294
Nutzen Kontexte
Anlass, über neue Ressourcen für sie nachzudenken. Da kommen die Nutzer in den Blick, denn sie sind, wie die Enquete-Kommission Kultur in Deutschland hervorgehoben hat, die größten Förderer des kulturellen Lebens.“31 Die Stoßrichtung ist klar: Der ‚Nutzer‘ soll selbst für seine favorisierten Einrichtungen Sorge tragen und wird dafür nicht mehr als ‚Besucher‘ bezeichnet, sondern bekommt mit seinem neuen Titel ‚Nutzer‘ eine aktive Rolle zugeschrieben, in der er in kulturpolitischen Fragen eingreifen und vor allem mitfinanzieren soll. An dieser Stelle wird der Grat zwischen nutzen und benutzt werden schmal. Ähnlich schwierig verhält es sich zwischen Institutionen wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder Archiven und ihren jeweiligen Nutzer:innen.32 Der Deutsche Archivtag fand zwar 2014 unter dem Titel NEUE WEGE INS ARCHIV 33 – NUTZER, NUTZUNG UND NUTZEN statt, doch auch vier Jahre später ist die Nutzerforschung auf dem Gebiet nur schwach ausgeprägt: „Es wird über die Nutzer gesprochen, nicht aber mit ihnen.“34 Was auch darin begründet sein mag, dass Archive wissen, dass ihre Existenz nicht so sehr am Nutzer und an der Nutzerin hängt, wie Unternehmen abhängig sind von ihren Kundinnen und Kunden. Dem entgegen macht sich der Historiker Bastian Gillner für eine veränderte Sicht auf Archiv-Nutzer:innen stark: „Nutzer erscheinen als Akteure, deren Interessen und Wünsche der archivischen Arbeit Sinn und Ziel geben; sie sind keine passiven Konsumenten am Ende aller archivischen Arbeitsprozesse mehr.“35 Die Konstellation des aktiven ‚Nutzers‘ als Gegenpol zum ‚passiven Konsumenten‘ zieht sich quer durch verschiedene Forschungsbereiche hindurch und wird hier unter Gegenbegriffe noch einmal aufgegriffen. Jasmin Meerhoff geht als studierte Medienkulturwissenschaftlerin in ihrem Buch READ ME! EINE KULTUR- UND MEDIENGESCHICHTE DER
N
31 Kramer: Kulturpolitik neu erfinden, o.S. (Klappentext). 32 Vgl. zur Forschung zum Verhältnis von öff.-rechtl. Rundfunk und seinen Nutzer:innen: Loo-
sen: Publikumsinklusion bei der Tagesschau; Wolf: „Wir sind das Publikum!“.
33 84. Deutscher Archivtag, Programmheft. Online unter: https://www.vda.archiv.net/
fileadmin/user_upload/Programmhefte_Cover/2014_Programmheft_84DAT_Magdeburg.pdf [aufgerufen am 20.05.2021]. 34 Gillner: Archive, Nutzer und Technologie im Miteinander. In: Archivar, 2018, S. 16. 35 Ebd., S. 18.
295
den Benutzerhandbüchern und damit den Nutzer:innen auf den Grund.36 Dabei ist die Grundannahme – Michel Serres’ Schema des Parasiten folgend –, dass Bedienungsanleitungen Medien sind, die zwischen Benutzer:in und Gerät vermitteln, die beiden also kein „ausschließlich zweifaches Schema“37 darstellen können. Dieses Verhältnis wird schnell grundsätzlich:
Nutzen Kontexte
BEDIENUNGSANLEITUNG
Wenn das alltägliche Handeln durch den Umgang mit technischen Geräten geprägt wird, wenn allmorgendlich die Hand zur POWER-Taste greift, vom Kochen und Backen zur Arbeitsplatz- und Freizeitgestaltung, wenn das menschliche Leben durch nicht-menschliche Wesen realisiert wird, die gezogen, gedrückt oder geschüttelt (iPhone) werden wollen – dann heißt Menschsein zunehmend Benutzersein.38
Doch auch bei weniger expliziten Themen wird man auf der Suche nach ‚Nutzern‘ in der Medienwissenschaft schnell fündig. So in DIE ENDEN DES KABELS – hier widmen sich Daniel Gethmann und Florian Sprenger der Geschichte der technischen Übertragung und der Verortung des ‚Nutzers‘: Der Anlass unserer Überlegungen leitet sich von nichts weniger als der gegenwärtigen Lage medialer Weltdurchdringung her, in der jeder Ort, an dem sich ein mobil vernetzter Mensch befindet, mittels Global Positioning Systems (GPS) oder Radio Frequency Identification (RFID) zum Ausgangspunkt seiner weltweiten Ausdehnung wird, während ubiquitos computing, smart oder bio technologies und mobile Medien die Grenzen zwischen dem Nutzer und seiner Umgebung aufzuheben trachten und nicht nur Bilder oder Töne erzeugen, sondern sie in der näheren Zukunft auch direkt in den Kreislauf der Wahrnehmung einzuspeisen versprechen.39
Auch hier ist der ‚Nutzer‘ zunächst einmal Mensch und als dieser verstrickt in seine medial-technische Umgebung. Die Figur des ‚Nutzers‘ kann gar nicht gedacht werden ohne sein Gefüge, ohne das, was er nutzt. 36 Meerhoff: Read me! 37 Ebd., S. 10. 38 Ebd., S. 13 f. 39 Gethmann/Sprenger: Die Enden des Kabels, S. 8.
296
Nutzen Konjunkturen
Der Mensch als ‚Prothesenbedürftiger‘ ist schon von Marshall McLuhan in seinem Klassiker UNDERSTANDING MEDIA. THE EXTENSIONS OF MAN 1964 beschrieben worden. Hier taucht sehr prominent in einer der Kernthesen der ‚user‘ auf: „Naturally, therefore, a hot medium like radio has very different effects on the user from a cool medium like the telephone.“40 An anderer und doch ähnlicher Stelle findet die Figur auch in der deutschen Übersetzung Erwähnung: „Es wird vielleicht verbreiteten Ansichten widersprechen, […] wenn man darauf hinweist, daß die Comics und das Fernsehen als kühle Medien Benutzer als Gestalter und Mitwirkende einbeziehen und stark erfassen.“41 Der Benutzer ist also auch hier Akteur, aber ebenso nicht ganz Herr seiner selbst, wenn er sich von Medien (seien sie nach McLuhans Lesart nun heiß oder kalt) erfassen lässt. Die Kontexte des ‚Nutzers‘ und damit des Nutzens sind breit gefächert und überall dort zu finden, wo eine aktive Verbindung zwischen Mensch und Benutztem eingegangen wird – der ‚Nutzer‘ wird erst dann zu einem, wenn er etwas hat, das er nutzen kann und gleichzeitig nicht besitzt. KONJUNKTUREN In der Etymologie klangen bereits einige Konjunkturen
des ‚Nutzers‘ und seiner Vorgänger an. Die Bedeutungsgeschichte des Verbes nutzen nachzuvollziehen, ist an dieser Stelle weniger zielführend, als sich explizit der Mediennutzung zu widmen und damit den Nutzenden. Das Wort ‚Nutzer‘ ist überraschend jung und tritt erst in den 1950ern Jahren auf, bevor sein Gebrauch ab den 60ern bis heute einen eklatanten Anstieg verzeichnet.42 Das zeitliche Zusammentreffen mit der Entwicklung moderner Computer (die kommerzielle Rechnerproduktion setzte Anfang der 1950er Jahre ein) ist dabei kein Zufall.
N
40 McLuhan: Understanding Media, S. 39. 41 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 175. 42 Vgl. ‚Nutzer‘ in Google-Ngram-Viewer.
Unter: https://books.google.com/ngrams/ graph?content=Nutzer&year_start=1800&year_end=2008&corpus=20&smoothing=3&share= &direct_url=t1%3B%2CNutzer%3B%2Cc0 [aufgerufen am 20.05.2021].
297
Nutzen Konjunkturen
Eine zweite Konjunktur des ‚Nutzer‘-Begriffs lässt sich Mitte der 2000er Jahre ausmachen,43 was zeitlich mit der Etablierung des Smartphones (das erste iPhone wurde 2007 vorgestellt) und dem Ausbau von DSL (seit Ende 2006 in Deutschland mit Raten von bis zu 100 Mbit/s) zusammenfällt. Erst die gesamtgesellschaftliche Verbreitung von Smartphones und schnellem Internet bringt Nutzer:innen massenhaft auf den Plan und ermöglicht es, neben vielem anderen, eben auch jederzeit und überall Rezensionen von Ozeanen oder S-Bahnhöfen zu veröffentlichen. Im Wissenschaftskontext hat der ‚Nutzer‘ spätestens seit dem Uses-andGratification-Approach (oder zu Deutsch Nutzen- und Belohnungsansatz) und den 1960er/70er Jahren in der Mediennutzungsforschung Konjunktur. Hier wurde aus dem ‚passiven Rezipienten‘ ein ‚aktiver Nutzer‘: Es galt nicht mehr „danach zu fragen, was die Medien mit den Zuschauern machen, sondern vielmehr zu fragen, was die Zuschauer mit den Medien machen.“44 Eine sehr viel frühere Konjunktur lässt sich ausmachen, wenn man dem Verb nutzen und seiner etymologischen Verwandtschaft mit ‚genießen‘ folgt. Dann fällt im Kontext des Mediengebrauchs die Nutz-und-Lust-Thematik ins Auge. Zurückverfolgen lässt sich diese bis auf Horaz und seine ARS POETICA, in der er die berühmt gewordene Formel „prodesse et delectare“ (nützen und erfreuen) prägt.45 Es waren dann vorrangig die Autoren der Aufklärung, die ihre Leser:innen ‚erfreuen‘ und ihnen ‚nützen‘ wollten – zu denken ist dabei an Fabeln, aber auch konkret an die ersten Bildungsromane, bspw. Christoph Martin Wielands GESCHICHTE DES AGATHON, ganz dem Motto des Romans entsprechend: „Was die Tugend und Weisheit vermögen / hat uns ein nützliches Beispiel gezeigt“.46
43 Vgl. ‚Nutzer‘ in DWDS Verlaufskurven. Unter: https://www.dwds.de/r/plot?q=Nutzer [auf-
gerufen am 20.05.2021]. Das Tool basiert auf dem DWDS-Zeitungskorpus, das „aus einer Vielzahl bedeutender überregional verbreiteter Tages- und Wochenzeitungen“ besteht (s. DWDSZeitungskorpus [ab 1945]. Unter: https://www.dwds.de/d/korpora/zeitungen). 44 Schneider: Passiv und gebildet, aktiv und diszipliniert. In: Dies./Hahn/Bartz (Hrsg.): Medienkultur der 60er Jahre, S. 81. 45 Horaz: Ars Poetica, 333, S. 24. 46 Im lat. Original: „quid Virtus, et quid Sapientia possit / Utile proposuit nobis exemplar.“ In: Wieland: Geschichte des Agathon, S. 1.
298
Nutzen Gegenbegriffe
‚Nützliche Beispiele‘ ließen sich allerdings auch in einem anderen und vielleicht weniger ‚erhabenen‘ Genre finden: den frühen Zeitungen. Kaspar Stieler widmete schon Ende des 17. Jhs. ein ganzes Werk der ZEITUNGS LUST UND NUTZ. Besonders in Bezug auf die politische Unterrichtung kann Kaspar Stieler „der Zeitungen Notwendigkeit Lust und Nutz nicht verschweigen“,47 dazu biete das Zeitunglesen auch noch Unterhaltung und vertreibe die Langeweile. Stieler sieht die Aufgabe von Zeitungen grundsätzlich darin: „Gleich wie von den Poeten gerümet […] daß sie zu einem gleichen Ende in die Welt kommen nemlich: Das sie nutzen und ergetzen sollen.“48 Auch wenn der Leser im Mittelpunkt steht, weist Stieler ebenso auf den Nutzen für Verfasser, Verkäufer und Drucker von Zeitungen hin – sie müssten genug Gewinn haben, dass sie sich ernähren können. Die Nahrung spielt allerdings für beide Seiten eine Rolle: „Der Zweck der Zeitungen ist die ersättigung der Lesenden Neugirigkeit und Benachrichtigung der Welt-Händel“.49 Die Essensmetaphorik, die den Mediengebrauch oder eben -konsum häufig umschreibt, hat auch in Bezug auf die Figur des ‚Nutzers‘ eine große Bedeutung, wenn man vor der Frage steht, ob ‚Nutzer‘ nun Dinge verzehren oder lediglich gebrauchen. Für den ‚user‘ lässt sich diese Frage nicht so leicht beantworten, da ‚use‘ auch das Abnutzen und Konsumieren einschließt. Der ‚Nutzer‘ allerdings ist als Nießbraucher recht eindeutig jemand, der ohne eigenen Besitz gar nicht anders kann, als die benutzten Dinge ganz zu lassen. Auch wenn seine Verwandtschaft zum Genuss nahelegt, dass der ‚Nutzer‘ sich durchaus mal einverleibt, was er nutzt, so haben sich diese beiden Schichten doch im Laufe der Zeit ziemlich voneinander entfernt und sind heute höchstens unterschwellig präsent.
N
GEGENBEGRIFFE Gegenbegriffe zu nutzen sind dementsprechend konsumie-
ren, verbrauchen oder zerstören – also alles, was das Benutzte aufzehrt. Wir würden nicht sagen, dass wir einen Apfel nutzen, wenn wir ihn essen, vielmehr nutzen wir das Internet, einen Lieferdienst oder unser Smartphone – Dinge,
47 Stieler: Zeitungs Lust und Nutz, S. 5. 48 Ebd., S. 42. 49 Ebd., S. 26, Hervorhebung JP.
299
Nutzen Gegenbegriffe
die von unserer Nutzung eben nicht verbraucht werden. Dass diese Linie nicht ganz trennscharf verläuft, lässt sich mit einem Blick auf jene Essensmetaphorik50 erkennen, die häufig der Umschreibung von Mediennutzung dient. Hier wird unter der Rubrik ‚Medienkonsum‘ dann konstatiert, dass ein Buch schlecht ‚verdaulich‘ sei oder die Serie ‚verschlungen‘ wurde. Die Zuschreibung des ‚Nutzers‘ konstituiert dann genau den Gegenpol zum ‚Konsumenten‘: Während Ersterer souverän und kontrolliert gebraucht, ist Letzterer ein unkontrollierter Verbraucher, der alles aufzehrt, was ihm in die Hände fällt. Die Gegenbegrifflichkeit von nutzen und gebrauchen (oder Mediennutzung und Mediengebrauch) wurde bereits in den Kontexten ausgeführt und betrifft vor allem die Verwendung in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen der Kommunikationswissenschaft und der kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft. Ein anderer Gegenbegriff findet sich in der passivischen Wendung – im Benutzt-Werden. Zu denken wäre da an den bereits angeführten ‚Kulturnutzer‘, der seine favorisierten Kulturinstitutionen am besten auch selbst finanzieren soll. Im aktuellen Mediengebrauch von z.B. Smartphone-Apps oder Sozialen Medien gehen nutzen und benutzt werden ebenso oft Hand in Hand: Wenn Bewegungsprofile zu kommerziellen Zwecken an die Hersteller geschickt werden oder wir unsere ‚kostenlosen‘ Social-Media-Accounts mit unseren Daten bezahlen.51 Im Bereich des Designs spielen nutzen und Nutzbarkeit (oder ‚Usability‘) an der Schnittstelle zwischen Design und Mensch eine entscheidende Rolle. Eine echte Koryphäe auf dem Feld der ‚Usability‘ und Benutzerfreundlichkeit
50 Vgl. (Art.) konsumieren in diesem Band, S. 197–234. 51 Der Bundesverband Verbraucherzentrale hat 2018 genau gegen diesen Claim von Facebook ge-
klagt und sich darauf berufen, dass es unlautere Werbung sei, für etwas als ‚kostenlos‘ zu werben, das mit Daten bezahlt würde (vgl. Bundesverband Verbraucherzentrale: Facebook verstößt gegen deutsches Datenschutzrecht, 12.02.2018. Unter: https://www.vzbv.de/pressemitteilung/ facebook-verstoesst-gegen-deutsches-datenschutzrecht [aufgerufen am 01.04.2021]). Das Gericht wies die Klage ab, stimmte mit dem Kläger aber dahingehend überein, „dass zwischen Facebook und seinen Nutzern ein Leistungsaustausch stattfindet, der ‚immaterielle Rechte‘ Letzterer beeinträchtigt.“ (Lobe: Fünf Euro für den Mark, 18.04.2018. In: Zeit online. Unter: https:// www.zeit.de/kultur/2018-04/facebook-mark-zuckerberg-geschaeftsmodell-datenmissbrauch [aufgerufen am 01.04.2021]).
300
Words matter. Psychologists depersonalize the people they study by calling them ‚subjects‘. We depersonalize the people we study by calling them ‚users‘. Both terms are derogatory. They take us away from our primary mission: to help people. Power to the people, I say, to repurpose an old phrase. People. Human Beings. That’s what our discipline is really about. If we are designing for people, why not call them that: people, a person, or perhaps humans.53
Darauf bezieht sich auch die Website iamnotauser.com unter dem emphatischen Slogan „Because we are people and we should design for people!“54 Nach dieser Lesart müssen Menschen, die etwas nutzen, nicht gleich zu Nutzer:innen werden, sondern sie sollen Menschen bleiben können. PERSPEKTIVEN Nutzen ist allgegenwärtig: Als ständige Nutzer:innen unserer
Nutzen Perspektiven
ist der emeritierte Kognitionswissenschaftler Donald Norman. Er ist Autor des Klassikers THE DESIGN OF EVERYDAY THINGS (1988), wo es vor allem darum geht, wie Objekt und ‚Nutzer‘ (hier noch explizit ‚user‘ genannt) eine intuitive Verbindung eingehen können.52 Später hat sich Donald Norman selbst gegen den Begriff ‚user‘ ausgesprochen – in einem Interview äußerte er sich über die Bedeutung der Wörter, mit denen wir Dinge und vor allem Menschen bezeichnen:
N
Smartphones, unserer Kaffeemaschinen, des Internets usw. ‚heißt Menschsein zunehmend Benutzersein‘, wie Jasmin Meerhoff es formuliert hat. Was passiert aber, wenn wir keine Nutzer:innen mehr sind? Im YEARBOOK OF THE ARTIFICIAL – CULTURAL DIMENSION OF THE USER macht sich der Herausgeber Massimo Negrotti 2008 grundlegende Gedanken darüber, was den ‚user‘ ausmacht und was ihn von anderen Individuen unterscheidet. So beschreibt er am Beispiel einer automatischen Tür im Gegensatz zu einer ‚klassischen‘ Tür: „We are no longer users, and we become, so to speak, enjoyers.“55
52 Vgl. Norman: The Design of Everyday Things. 53 Norman: Words Matter. Online unter: http://interactions.acm.org/archive/view/september-
october-2006/words-matter.-talk-about-people1 [aufgerufen am 01.04.2021].
54 I am not a user online. Unter: http://www.iamnotauser.com/ [aufgerufen am 20.05.2021]. 55 Negrotti: Humans and naturoids: from use to partnership. In: Ders. (Hrsg.): Yearbook of the
Artificial, Vol. 3, Cultural Dimension of the User, S. 10, Hervorhebungen im Original.
301
Nutzen Perspektiven
Da die automatische Tür uns keine Tätigkeit mehr abverlangt, können wir ihre Benutzung einfach genießen. Was es weiterführend heißen könnte, ‚Genießer‘ statt ‚Nutzer‘ zu sein, deutet Negrotti lediglich an, wenn er zu Verknüpfungen überleitet, bei denen die Grenzen zwischen menschlichen und technischen Akteuren verschwimmen. Ein Blick in die Zukunft und teilweise auch schon in die Gegenwart lässt sich mit der daran anschließenden und recht grundsätzlichen Frage: „Can we ‚use‘ a robot?“56 werfen. Virulent wird das Thema immer wieder bspw. bei selbstfahrenden Autos. Wer trägt hier die Verantwortung? Das Auto, das schließlich selbst fährt, aber (noch) keine juristische Person sein kann; der Fahrer, der eben keiner mehr ist; das Unternehmen, das das Auto programmiert und gebaut hat?57 Hier macht die Bezeichnung des Individuums einen Unterschied: Solange ich Nutzer:in eines technischen Apparates bin, habe ich die Kontrolle, die Entscheidungsgewalt und somit die Verantwortung. Wie Massimo Negrotti aber für die automatische Tür dargelegt hat, werden wir eher zu ‚Genießern‘ von vollautomatisierten Gerätschaften. Bei Türen mögen die Implikationen und Folgen dieser Betitelung noch absehbar sein, doch wenn selbstfahrende Autos oder Pflegeroboter es nur noch mit ‚Genießern‘ zu tun haben, rühren wir an gesellschaftlichen Grundsatzdebatten. In einigen Feldern wenden sich kritische Stimmen gegen die ubiquitäre Verwendung von ‚Nutzer‘ und ‚User‘, wie im ‚Human-Centered Design‘58 oder eben rund um die Frage, wie wir Menschen bezeichnen, die mit Robotern interagieren. Gleichzeitig nehmen sich einige Bereiche des ‚Nutzers‘ oder ‚Users‘ an, um ihre Akteur:innen neu zu benennen: so bspw. Kulturinstitutionen, die ihre Besucher:innen gern als ‚Nutzer‘ betiteln, um deren Aktivitätsgrad zu unterstreichen, was aber auch heißt, dass sich Kulturnutzer:innen selbst aktiv 56 Ebd., S. 11. 57 Vgl. als ein aktueller Beitrag unter unzähligen: Küstner: Selbstfahrende Autos: Umstritte-
ner Gesetzesentwurf gebilligt, 10.02.2021. In: BR24. Unter: https://www.br.de/nachrichten/ deutschland-welt/selbstfahrende-autos-umstrittener-gesetzesentwurf-gebilligt,SOcZMQp [aufgerufen am 08.04.2021]. 58 Vgl. DC Design: What Is Human-Centered Design?, 14.08.2017. In: medium.com. Unter: https://medium.com/dc-design/what-is-human-centered-design-6711c09e2779 [aufgerufen am 08.04.2021].
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Nutzen Perspektiven
in die Institutionen (also z.B. Theater oder Museen) einbringen sollen. Hier schließt die positiv konnotierte Sozialfigur des Users im Kulturkontext an, wie sie von Gerhard Schulze definiert wurde (s. Anekdote).59 Auch in der Sozialen Arbeit findet die Zuschreibung ‚Nutzer‘ Anwendung, um begrifflich dem ‚passiven Klienten‘ oder ‚Empfänger von sozialen Dienstleistungen‘ etwas entgegensetzen zu können: „Die Produktivität des Nutzerbegriffs liegt damit vor allem in dem Potenzial, Soziale Arbeit konsequent als aktiven Aneignungsprozess von Subjekten zu verstehen“.60 Eine weitere perspektivische Verschiebung ereignet sich im Kunstmarkt hinsichtlich der Frage, wie es sich mit digitalen Originalen und deren Eigentum verhält. Im März 2021 wurde die Digitalcollage EVERYDAYS: THE FIRST 5,000 DAYS des Künstlers Beeple beim Auktionshaus Christie’s für rund 69 Mio. US-Dollar versteigert.61 Möglich gemacht wurde diese Auktion eines digitalen Unikats durch das ‚non-fungible token‘ (NFT), also einem digitalen Echtheitszertifikat, das die Datei verschlüsselt und mit einer Signatur versieht, was sie „zum fälschungssicheren Datensatz auf der Blockchain“ macht.62 Es kann also nicht mehr nur Nutzer:innen digitaler Kunst geben, sondern auch Eigentümer:innen. Der Twitter-Erfinder Jack Dorsey hat ebenfalls im März 2021 seinen ersten Tweet: „just setting up my twttr“ als NFT für wohltätige Zwecke
N
59 Schulze: Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0. In: Kulturpolitische Mitteilungen, Nr. 134,
III/2011.
60 Graßhoff: AdressatInnen, KlientInnen, NutzerInnen und AkteurInnen der Sozialen Arbeit.
In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online, S. 7.
61 EVERYDAYS: THE FIRST 5,000 DAYS ist auch das erste Digitalkunstwerk, das das Auk-
tionshaus je versteigert hat. Schallenberg-Kappius: Crypto Art: Wie fälschungssichere digitale Originalwerke den Kunstmarkt revolutionieren, 23.03.2021. In: Business Insider. Unter: https://www.businessinsider.de/leben/millionen-markt-crypto-art-wie-der-hype-um-nfts-unddigitale-originale-den-kunstmarkt-revolutioniert-a/ [aufgerufen am 20.05.2021]. 62 Ebd.
303
versteigert.63 Der Tweet soll trotzdem weiterhin öffentlich lesbar und den Twitter-Nutzer:innen zugänglich sein. Es ist davon auszugehen, dass sich die Eigentumsverhältnisse und Nutzungsrechte im digitalen Raum weiter verschieben werden. Ob es dabei bleiben wird, dass wir als Nutzer:innen auch ohne Besitz freien Zugang zu bestimmten Online-Inhalten haben werden, ist offen.
Nutzen Forschung
FORSCHUNG Das größte Forschungsfeld, das sich in Bezug auf Medien
mit dem Nutzen und den Nutzenden beschäftigt, ist – nomen est omen – die Mediennutzungsforschung im Rahmen der Kommunikationswissenschaft. Hier werden klassischerweise Fragen nach Quote oder Nutzungsdauer empirisch bearbeitet.64 Aber auch Erklärungen oder Prognosen strebt die Mediennutzungsforschung an, wenn bspw. folgenden Fragen nachgegangen wird: „Warum schalten manche Menschen beim Fernsehen beinahe im Sekundentakt um? […] Wird die Printmediennutzung durch die Verbreitung von Onlinemedien abnehmen?“65 Die konkreten Nutzer:innen sind seit dem Uses-and-GratificationApproach in den Blick geraten, wenn danach gefragt wird, wer was wann warum nutzt. Die ‚Gratification‘ in diesem Ansatz verweist darauf, dass Nutzer:innen eben nicht einfach passiv aufnehmen, was ihnen vorgesetzt wird, sondern selbst ‚Befriedigung‘ aus ihrer Mediennutzung ziehen, die durchaus verschieden ausfallen kann. Ökonomischer Nutzen aus Daten über Nutzer:innen wird sich in der Marktforschung unter anderem aus dem Ansatz der Sinusmilieus versprochen. Das SINUS-Institut erforscht seit über 40 Jahren „den Wertewandel
63 Vgl. Harper: Jack Dorsey’s first ever tweet sells for $2.9m, 23.03.2021. In: BBC online. Unter:
https://www.bbc.com/news/business-56492358 [aufgerufen am 20.05.2021]; Anita Posch im Gespräch mit Dennis Kogel: Der Hype um Kunst in der Blockchain, 13.03.2021. In: Deutschlandfunk Kultur online. Unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/non-fungible-tokensder-hype-um-kunst-in-der-blockchain.1264.de.html?dram:article_id=494013 [aufgerufen am 20.05.2021]. 64 Vgl. Schweiger: Theorien der Mediennutzung, S. 12 ff. 65 Ebd, S. 12.
304
They call us users. What does that even mean? Could there be a less meaningful word on earth? […] I say we are not users. I say we are bound in new psychological, social, political as well as economic interests. That we have not yet invented the words to describe the ways that we are bound. We have not yet invented the forms of collective action to express the interests that bind us. And that that is a big part of the work that must follow.70
Nutzen Forschung
und die Lebenswelten in der Gesellschaft.“66 Dazu gehören auch dezidiert die „Digital User Groups“ – hier wird „strategisches Zielgruppenwissen fürs Web“ versprochen.67 Ebenfalls aus einem wirtschaftswissenschaftlichen Blickwinkel, doch mit einer ganz anderen Stoßrichtung beschäftigt sich die Ökonomin und Sozialpsychologin Shoshana Zuboff mit der Rolle des ‚Users‘. Sie prägte den Begriff des Überwachungskapitalismus und geht in ihrem 2019 veröffentlichten Buch THE AGE OF SURVEILLANCE CAPITALISM den Verstrickungen der Nutzer:innen im Digitalen nach.68 Anfang des 19. Jhs., zu Zeiten der Industrialisierung, gab es in der sozialen Hierarchie Großbritanniens lediglich zwei Gruppen: die Aristokratie und die ‚lower classes‘, zu der alle außerhalb des Adels zählten – egal ob Bauer, Banker oder Händler. Shoshana Zuboff zieht hier eine Parallele zur heutigen Zeit, in der wir für die großen Tech-Konzerne wie Google oder Facebook alle zur Gruppe der ‚User‘ gehören.69
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Ähnlich wie Donald Norman fordert Shoshana Zuboff zu einem Umdenken in Bezug auf den User-Begriff auf und zu einer politischen Positionierung gegen
66 Sinus Institut: Seit 40 Jahren wissen Sinus-Kunden früher Bescheid, was Menschen bewegt.
In: Sinus. Unter: https://www.sinus-institut.de/ueber-uns/40-jahre-sinus-institut/ [aufgerufen am 20.05.2021]. 67 Sinus Institut: Digital User Groups. In: Sinus. Unter: https://www.sinus-institut.de/ fileadmin/user_data/sinus-institut/Bilder/downloadcenter/2014-01-20-Digital_User_GroupsStrategisches_Zielgruppenwissen_Slide_01.pdf [aufgerufen am 20.05.2021]. 68 Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism. 69 Vgl. Naomi Klein and Shoshana Zuboff on the Rise of Surveillance Capitalism. In: The Intercept. Online unter: https://theintercept.com/2019/03/01/surveillance-capitalism-bookshoshana-zuboff-naomi-klein/ [aufgerufen am 22.04.2021]. 70 Ebd.
305
Nutzen Forschung
Konzerne wie Google, Amazon und Facebook, die uns zu ihren Nutzer:innen machen und deren Geschäftsmodell zu großen Teilen auf unseren Daten fußt. Dass wir für diese Daten nicht bezahlt werden, moniert neben Sho shana Zuboff 71 auch der Computerpionier Jaron Lanier u.a. in seinem Aufsatz SHOULD WE TREAT DATA AS LABOR?72 Es sollte eine Aufgabe der Medienwissenschaft sein, die Entwicklungen in Bezug auf Eigentumsverhältnisse und damit auch die Rolle von Nutzer:innen im Digitalen kritisch zu beobachten und zu begleiten. Schon heute lässt sich aus den zahllosen Benutzungsordnungen etwas über das Verständnis, das Unternehmen von ihren Nutzer:innen haben, ablesen und auch erkennen, in welchen Abhängigkeits- und Machtverhältnissen sie verstrickt sind. So sind die allgegenwärtigen Nutzungsbestimmungen auf Webseiten einseitig erstellte „Knebelverträge“,73 denen vor der Nutzung zugestimmt werden muss. Dieser Zwangscharakter und die häufig absichtlich komplizierte und lange Formulierung der Nutzungsbedingungen sorgt bei der Mehrheit der Nutzer:innen dafür, dass sie blind zustimmt und sich die Bestimmungen nicht einmal anschaut, geschweige denn ausführlich liest.74 Abhängigkeitsverhältnisse lassen sich aber nicht nur für digitale Zusammenhänge konstatieren: In gewissem Maße geben Menschen immer etwas ihrer Qualitäten auf, wenn sie Beziehungen mit Maschinen oder – wie Freud und McLuhan es formuliert haben – mit Prothesen eingehen und diese nutzen. Sie gewinnen neue oder stärkere Fähigkeiten dafür, dass sie sich in den Dienst des Geräts stellen, zumindest soweit, dass sie sich den vorgegebenen Formatierungen beugen müssen. Oder um noch einmal Jasmin Meerhoff und ihre Geschichte der Bedienungsanleitung zu bemühen: „Es geht also um ein wechselseitiges Verhältnis, bei dem nie eindeutig gesagt werden kann, wer eigentlich wem dient.“75
71 „Users are not paid for their labor“. Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism, S. 69. 72 Lanier et al.: Should We Treat Data as Labor? In: American Economic Association Papers &
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73 Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, S. 68. 74 Vgl. Steinfeld: I Agree to the Terms and Conditions. In: Computers in Human Behavior 55
(2016), S. 992–1000; Plaut/Bartlett: Blind Consent? In: Law and Human Behavior, S. 1–23.
75 Meerhoff: Read me!, S. 25.
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309
PROZESSIEREN MARIE HEINRICHS | BERND BÖSEL
Prozessieren Anekdote
ANEKDOTE Wie in so vielen anderen Science-Fiction-Universen gehört
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auch im Star Trek-Kosmos der Umgang mit Robotern und Androiden zum narrativen und dramaturgischen Kernbestand. So muss etwa der mittlerweile an der Schwelle zum Greisenalter stehende ehemalige Captain der Enterprise Jean-Luc Picard in der nach ihm benannten Serie STAR TREK: PICARD (2020) einer jungen Androidin sein Verhältnis zum „verstorbenen“ Androiden Data erläutern. Wer auch nur eine Episode von STAR TREK: THE NEXT GENERATION (1987–1994) gesehen hat, wird sich an das Antlitz und die Mimik von Data erinnern, den mit Captain Picard ein freundschaftliches Verhältnis verband, das im Opfertod des Androiden an sein Ende kam.1 Tatsächlich bekennt sich Picard nun im Rückblick dazu, Data auf seine Weise geliebt zu haben. Die Nachfrage, ob Data umgekehrt auch Picard geliebt habe, veranlasst diesen zu einer interessanten Antwort: „Datas Fähigkeiten, Gefühle zu verarbeiten und auszudrücken waren begrenzt.“2 Noch aufschlussreicher ist Picards Aussage im englischen Original: „Data's capacity for expressing and processing emotion was limited.“ Auf diese behutsam gewählten Worte reagiert die junge Androidin, die zudem als „Tochter“ von Data gilt, mit zweimaligem Augenzwinkern und anschließendem Absenken ihres Blickes. Diese Information muss ihrerseits erst einmal verarbeitet – prozessiert – werden. Aber Picard setzt noch einen drauf, indem er zerknirscht hinzufügt: „In dem Punkt waren wir uns ähnlich.“ („I suppose we had that in common.“) Interessant sind diese Aussagen deshalb, weil sie eine Paradoxie verschleiern. Wir erfahren nämlich erstens, dass Emotionen verarbeitet werden müssen, was von der heutigen Neurowissenschaft bestätigt wird. Zweitens nehmen wir zur Kenntnis, dass sowohl Menschen wie auch Roboter bei dieser Emotionsprozessierung zumindest graduell scheitern können. Dieses Zugeständnis mag dazu dienen, Data retrospektiv menschlicher erscheinen zu lassen, als es seine kybernetische
1 Siehe Star Trek: Nemesis. 2 Star Trek: Picard, Staffel 1, Folge 8 [00:20:07–00:21:05].
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ETYMOLOGIE Das Verb prozessieren stammt vom lat. Lehnwort „Prozess“
(von processus „Fortgang, Fortschreiten“ bzw. procedere „vorwärtsgehen, vorrücken, vortreten“) ab, das spätestens seit dem 14. Jh. gebräuchlich ist.5 Im Lauf der Geschichte hat das Wort eine erstaunliche Bedeutungsausweitung hingelegt, die sich nunmehr über die Felder der Rechtsprechung, der Alchemie, Chemie und Physik bis hin zur Philosophie und neuerdings der Computerwissenschaft erstreckt. Die Verb-Bildung prozessieren wird darüber hinaus für die Bewegungsform der religiösen, speziell der christlichen (katholischen) Prozession verwendet (z. B. zu Fronleichnam), die auf denselben lat. Wortstamm zurückgeht. Prozessieren wird hier als ritualisiertes Zurücklegen einer Strecke verstanden, bei dem „die Teilnehmenden ihr Tun als eine Darstellung des pilgernden Gottesvolkes [erleben], in dessen Mitte oder an dessen Spitze Christus selber mitzieht“. Der liturgische Charakter der Prozession zeigt sich
Prozessieren Etymologie
Perfektion zulassen würde. Andererseits beruht gerade diese Perfektion (Data war zu Rechen- und Erinnerungsleistungen fähig, die mehr als einmal den Tag retteten) auf Prozessorleistungen. Wenn Data derart leistungsfähige Prozessoren in seinem „positronischen Gehirn“3 besitzt und Emotionen prozessiert werden müssen, warum sollte Data dann ausgerechnet an ihnen scheitern? Man merkt hieran, dass die Figur Data zu einer Zeit konzipiert wurde, als weder die Neuro- noch die Computerwissenschaft bereit war, Emotionen als etwas aufzufassen, das prozessiert werden kann und muss.4 Dem Umstand, dass sich das seit den 1990er Jahren rasant schnell geändert hat, wird angesichts der neuen Androidengeneration in STAR TREK: PICARD Rechnung getragen. Die schamhafte Abwendung des Blickes der jungen Androidin beweist, dass sie Picards cues richtig gedeutet hat: Vom Unvermögen, Emotionen zu prozessieren, lässt sich mittlerweile nur noch im Bekenntnismodus sprechen, und auch dann nur mit gedämpfter Stimme.
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3 Der Ausdruck geht auf Science-Fiction-Autor Isaac Asimov zurück, der lange Zeit mit Star Trek-Begründer Gene Roddenberry befreundet war. 4 Die Phrase „to process emotions“ wurde erst in den 80er und 90er Jahren in nennenswerter Weise gebraucht. 5 (Art.) Prozeß. In: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 652.
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Prozessieren Kontexte
demnach darin, dass sie „zur Gottesbegegnung einlädt oder führt“.6 Die Rede ist hierbei von der Schaffung eines eigenen Raums und der Verdichtung der Zeit in einer emphatisch erlebten Gegenwart. Tautologisch ausgedrückt: Im Prozessieren prozessieren die Prozessierenden ihre jeweiligen Lebens- und Glaubensprozesse. Aus theologischer Sicht betont die Bewegungsform des Prozessierens die Transformation von Raum und Zeit, die auch für den Kontext des medienwissenschaftlichen Begriffsgebrauchs erwähnenswert ist. In der kirchlichen Begriffsbestimmung des Prozessierens sind folgerichtig der in der Bewegung aufgehende Verarbeitungsprozess, genauer die als Individuum nachvollzogene Exodus-Geschichte, und der regelgeleitete Ablauf zentral. Einige dieser Elemente werden uns in Form der programmierten Datenverarbeitung im Zusammenhang mit Computerprozessen bzw. Prozessoren wieder begegnen. In seiner Bedeutung als angeleiteter Ablauf begann der Prozessbegriff, sich im dt. Sprachraum in ganz anderen Kontexten zu entwickeln und durchzusetzen. KONTEXTE Während im Recht für die ordnungsgemäße Abfolge eines Ver-
fahrens, für den Rechtsgang mit Corpus Iuris Civilis7 bereits eine Bezeichnung gefunden war, mangelte es für die Regelung von Ausnahmefällen an einem Begriff. Die kommentierte Ordnung dieser außerordentlichen Verfahren erhielt (vermutlich Mitte des 14. Jhs.) den Titel processus extra ordinem (später „summarischer Prozess“). Von den Rechtswissenschaften übertrug sich der auf die Verfahrensweise bezogene Prozessbegriff auf die Alchemie als Handlungsanweisung an den „Chymiker“, dessen Ziel neben Unterhaltungszwecken darin bestand, Gold und den Stein der Weisen herzustellen. Jede im Zuge dieses Experimentierens verrichtete „chymische Arbeit, die nach Regeln geschieht“,8 wurde als Prozess bezeichnet, der folglich mit einem Rezept gleichzusetzen war: „P. ist Rezeptur, Beschreibung, sowie Durchführung von chemischen Techniken und Operationen.“9 Damit strebten sowohl die Anleitungen der Jurisprudenz
6 (Art.) Prozession. In: Theologische Realenzyklopädie, S. 596. 7 Die Wiederentdeckung des Zwölftafelgesetzes einer Zehnmänner-Kommission des Römi-
schen Reiches, nach dessen Untergang.
8 Theophrastus Paracelsus bezog die Erkenntnisse chemischer Prozesse auf die Medizin. Hier
zit. n. (Art.) Prozeß. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 1551.
9 (Art.) Prozeß. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 1548.
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als auch die der Alchemie eine Transformation und ein Resultat gleichermaßen an, und zwar sollte im Recht die Auseinandersetzung überwunden und eine Entscheidung gefällt, in der Alchemie etwas produziert werden. Das Urteil, das Produkt oder allgemeiner ein bestimmtes Ziel sind seit jeher an das aus einer menschlichen Tätigkeit hervorgehende Prozessverständnis geknüpft. Um sich von alchemistischer „Prozeß-Krämerei“ abzugrenzen, begann Johann Joachim Becher im CHYMISCHEN GLÜCKS-HAFEN (1682) eine Methode für chemische Operationen zu begründen, indem er Prozesse sammelte und ordnete. Georg Ernst Stahl, der als Begründer der wissenschaftlichen Chemie gilt, griff die Prozessbeschreibungen Bechers auf und lenkte den Blick auf die Ursachen der Prozesse (aus heutiger Sicht der chemischen Reaktionen) und deren Erforschung. In der Vorrede seiner CHYMIA RATIONALIS ET EXPERIMENTALIS (1720) heißt es: „Wenn dir diese Fundamenta erst werden vollkommen bekannt sein, wirst [du] fähig seyn schon apriori aus denen vorgeschriebenen Mischungen, relationen und tractationen derer ingredientien zu schliessen, und ein [...] raisonnables Judicium zu fällen, in wie weit solcher Prozeß richtig oder falsch [ist].“10 Mit der Begründung dieses neuen wissenschaftlichen Geistes rückte die Natur, deren Gesetze und Prinzipien es aufzudecken galt, selbst ins Zentrum. Prozesse, ursprünglich Vorgehensweisen eines technischen Umgangs mit der Natur, wurden gleichzeitig zu Vorgängen in der Natur, demzufolge sich die Chemie von der Alchemie entfernte und den Entwicklungen der Naturphilosophie zuwendete. So löste sich der Begriff zwar von seiner Bedeutung als Anleitung oder Verfahren und damit von seiner Ähnlichkeit zur rechtlichen Verwendung, behielt aber die Idee abstrakter Prinzipien und Regeln bei, die eine Wiederholbarkeit und Urteilsfindung oder Beurteilbarkeit gewährleisten. Im späten 18. Jh. erlangte der Prozessbegriff seine bislang maßgebliche Bedeutung. Mit einem wiedererwachten Interesse am Begriff verallgemeinerte sich dessen Verwendung in allen Bereichen. In seiner juristischen Verwendung bezeichnete dieser nunmehr grundsätzlich die gerichtliche Vorgehensweise, für Regel- und Ausnahmefälle gleichermaßen.11 Er gilt demnach als ein
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10 Vorrede des Übersetzers. In: Stahl: Chymia rationalis et experimentalis, S. 5. 11 Vgl. (Art.) Prozeß. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 1534–1548.
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Prozessieren Kontexte
Verfahren, das einen Rechtsstreit nach geregelten Abläufen zu einem Ende bringen soll, indem ein Urteil gefällt wird und innerhalb eines institutionellen Rahmens faktische Geltung erlangt. Etwa zur gleichen Zeit zog der Jenaer Universitätsprofessor Friedrich Wilhelm Joseph Schelling im Bereich der Naturphilosophie aus der Annahme, ein Prozess bedürfe nicht zwingend eines menschlichen Akteurs, die Schlussfolgerung, dass Prozess und Organisation sich wechselseitig bedingen. Da die Natur sich stetig selbst erhält, müssten die Bedingungen zu Prozessen allgegenwärtig vorhanden sein im Sinne der Selbstorganisation. „[D]ie Natur hat ihre Realität aus sich selbst – sie ist [...] ein aus sich selbst organisirtes und sich selbst organisirendes Ganzes“,12 eine produktive Ganzheit. Schelling integrierte also erstmals den Vorgangs- und den Verfahrensbegriff von chemischen Prozessen.13 Der Schelling-Schüler Johann Wilhelm Ritter sollte dessen Naturphilosophie in den Folgejahren mit den empirischen und experimentellen Forschungsergebnissen Alexander von Humboldts sowie mit den Erkenntnissen Luigi Galvanis und Alessandro Voltas kurzschließen.14 Galvani hatte seinerzeit mit Froschschenkeln experimentiert und entdeckt, dass diese zu zucken anfingen, wenn Nerv und Muskel des Tierkörpers mit Hilfe eines Metalls verbunden wurden (galvanische Aktion). Als Galvanismus gilt dementsprechend die experimentelle Untersuchung von elektrischen Erscheinungen in organischem Gewebe.15 Ritter entwickelte daran anschließend eine eigene dynamische Theorie, der zufolge der Galvanismus als ordnendes und bildendes Prinzip sowohl anorganischer als auch organischer Naturtätigkeit die „Eine wahre Theorie aller Naturerscheinungen“16 darstellt. Der Prozess wird damit einerseits zu einer Grundkategorie der Naturwissenschaften, was sicherlich zu seiner Omnipräsenz mitverhalf, andererseits legt der Universalisierungsgedanke, die Erde als Gesamtprozess darzustellen, an den alle Teilprozesse anknüpfen und aus dem sie hervorgehen, es nahe, den
12 Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, S. 17, FN 1. 13 Vgl. Röttgers: Der Ursprung der Prozeßidee aus dem Geiste der Chemie. In: Archiv für
Begriffsgeschichte, Bd. 27, S. 110.
14 Vgl. ebd., S. 108. 15 Vgl. Durner: Einleitung. In: Schelling: Zeitschrift für spekulative Physik, Bd. 1, S. XVIII. 16 Ritter: Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensprozeß in dem Thierreiche be-
gleite, S. IX.
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Gedanken einer Naturgeschichte weiterzuspinnen. Welche Prozesse schließen ab, wo hat alles seinen Anfang gehabt? Die Entdeckung der Natur ist mithin die Erzählung ihrer Prinzipien und ihrer Geschichte. Bereits Novalis hat diesen Gedanken an die Idee einer Geschichtsphilosophie gekoppelt.17 Der Prozessbegriff bot zur Zeit des Deutschen Idealismus also viele Anknüpfungspunkte, die vor allem aus der Annahme einer sich in Einheit reproduzierenden – prozessierenden – Natur hervorgingen, entlang der sich die Universalisierung des Prozessbegriffes entfaltete, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu einem Höhepunkt manövrierte. Geprägt durch das Jenaer Umfeld, gewann Hegel, der den Prozess-Begriff in seinen Jenaer Vorlesungen von Anfang an verwendete, Anschluss an die Vorstellung des Lebens der Natur als eines permanenten Prozesses.18 Das metaphysische Prinzip der Selbsterhaltung ist für Hegel zunehmend das entscheidende Kennzeichen für Prozesse, diese entfalten aber erst als „Gang des Geistes“ ihre „wahre“ Bestimmung und nicht im Sein. Demnach sind die realen Prozesse, wie die chemischen, von denen der Idee zu unterscheiden, die sich aber im „absoluten Prozess“ annähern und am Endpunkt fusionieren.19 Im Anschluss an die Idee eines absoluten Prozesses entwickelt Hegel eine (privilegierte) dialektische Darstellungsmethode des Geistes, mittels derer immer komplexeres Selbstbewusstsein erlangt wird, das sich der „wahren“ Erkenntnis annähert. Mit Hegel wird die Idee eines Prozesses, der eine Veränderung ist, die aus Gegensätzen hervorgeht – wie bereits der von Kant beeinflusste Schelling annahm – erneut (auch rückwirkend auf Recht und Chemie) fixiert. Sich im Prozess des Geistes bildende Widersprüche treiben diesen gesetzesmäßig in einer linearen Geschichtsschreibung vorwärts, die als „Weltprozess“20 rational erklärbar ist. Aus der Idee eines „Gangs des Geistes“ leitet er die „Stufen der Weltgeschichte“ als Grundprinzipien des Prozesses ab.21 In der dritten Stufe des
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17 Vgl. (Art.) Prozeß. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 1549 f. 18 „Der metaphysische Prozess des Lebens ist zuerst das sich selbst erhaltende Leben [...].“
(Hegel: Jenaer Systementwürfe II, S. 193).
19 Vgl. Hegel: Jenaer Systementwürfe I, S. 96–98. 20 Der „Weltprozeß“ wird auch als „Gattungsproceß“ bestimmt. Vgl. Hegel: Jenaer Systement-
würfe II, S. 150–155, bes. S. 154.
21 Vgl. Röttgers: Der Ursprung der Prozeßidee aus dem Geiste der Chemie. In: Archiv für
Begriffsgeschichte, Bd. 27, S. 155.
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Weltprozesses bugsiert sich der Weltgeist, der durch das Individuum, wie etwa durch geschichtliche Persönlichkeiten handelt, zu seinem Endziel, der absoluten Wahrheit. Der theoretische Prozess geht nach Hegel in den praktischen über, in welchem sich das Bewusstsein zur Totalität macht. Die dialektische Bewegung des Selbstbewusstseins wird also zur dialektischen Bewegung der Wirklichkeit. Zusammengefasst ist der Prozess gleichzeitig Totalität und ihr strukturierender Charakter, dessen ordnungsbildende dialektische Methode an eine in der Abstraktion liegende Allgemeingültigkeit gebunden ist. Der geschichtsmetaphysische Prozessgedanke erfährt mit Hegel also erneut eine enge Bindung an das – hier im Geist verankerte – Verfahrensverständnis.22 „Verfahren“ zielen auf geregelte, in Verfahrensschritte zerlegbare und wiederholbare Abläufe. Anders ausgedrückt, werden Abstraktionen an ein Regelwerk gebunden, deren universelle Gültigkeit vielleicht genau in ihrer Wiederholbarkeit ruhen mag, solange bis diese nicht mehr gewährleistet ist. Der Begriff „Verfahren“ findet in der Methodik als planmäßiges Vorgehen zur Lösung eines Problems, in der Mathematik und Informatik im Algorithmus, in der Produktion, also einem Fertigungsverfahren, oder im Recht Anwendung. Die Interpretation von Fehlern ist dort gleichzusetzen mit einer Störung des abstrakten Verfahrensprinzips. In diesem Kontext scheint es nicht verwunderlich, dass sich der „Prozess“ mit der Entwicklung technischer Apparate einerseits zunehmend an eine maschinelle Denkweise anpasst, andererseits für die Beschreibung maschineller Vorgänge Verwendung findet: Der Prozess wird Maschine. Computerprozessoren folgen einer ganz ähnlichen Logik, indem sie Zufällen mit Wahrscheinlichkeitsprognosen vorbeugen. Das Denken selbst wird Apparatur mit Input und Output unter Einbezug mehrerer Szenarien: Von nun an prozessieren Technologien. Dass diesen programmierten Prozessen eine gewisse Naturwüchsigkeit anhaftet – und das sei hier nur am Rande ausgeführt – hat bereits Karl Marx im Kontext kapitalistischer Wertschöpfungsprozesse herausgestellt. In der französischen Ausgabe des KAPITALS (1872) erläutert Marx in einer Fußnote
22 Vgl. für den gesamten Abschnitt Röttgers: Der Ursprung der Prozeßidee aus dem Geiste der
Chemie. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 27, S. 137–157; (Art.) Prozeß. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 1551.
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sein Prozessverständnis als eine in ihren realen Bedingungen betrachtete Entwicklung.23 Obgleich der Produktionsprozess des Kapitals einer gewissen naturwissenschaftlichen Beschreibung folgt – wie es im europäischen Prozessverständnis geläufig war –, verweist Marx im Hinblick auf reelle und historische Gegebenheiten mit besonderem Nachdruck auf den Schein der Naturwüchsigkeit gewisser Produktionsprozesse.24 „Die kapitalistische Produktion ist nicht nur Produktion von Ware, sie ist wesentlich Produktion von Mehrwert. Der Arbeiter produziert nicht für sich, sondern für das Kapital.“25 Er scheint dem Prozessieren sogar definitorische Kraft zuzuschreiben, wenn er im Zusammenhang der allgemeinen Formel des Mehrwerts G – W – G‘ erläutert: „Der [Tausch-]Wert wird also prozessierender Wert, prozessierendes Geld und als solches Kapital.“26 Das Prozessieren wird als jene Kraft der Verwandlung lesbar, die zur Geldvermehrung und damit Kapitalanhäufung führt und ließe sich demzufolge als gleichzeitige Formveränderung und Produktion subsumieren.27 Als eine solche Kraft, die trotz des naturwüchsigen Scheins an Verfahren gekoppelt ist, wirken heute ebenfalls computertechnologische Prozesse im
23 „En allemand: Arbeits-Prozess (procès de travail). Le mot procès, qui exprime un dévelop-
pement considéré dans l’ensemble de ses conditions réelles, appartient depuis longtemps à la langue scientifique de toute L’Europe. En France, on l’a d’abord introduit d’une manière timide sous sa forme latine – processus. Puis, il s’est glissé, dépouillé de ce déguisement pédantesque, dans les livres de chimie, physiologie, etc., et dans quelques œuvres de métaphysique. Il finira par obtenir ses lettres de grand naturalisation. Remarquons en passant que les Allemands, comme les Français, dans le langage ordinaire, emploient le mot ‚procès‘ dans son sens juridique.“ (Marx: Le Capital, S. 181). 24 Für eine kurze Zusammenfassung siehe (Art.) Prozeß. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 1553; zur Einführung der Marx’schen Werttheorie siehe Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. 25 Marx: Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 532. 26 Ebd., S. 170. Eine besonders suggestive Verwendung der Partizipialform blitzt schon in der Wendung vom „prozessierenden Widerspruch“ des Kapitals in den GRUNDRISSEN DER KRITIK DER POLITISCHEN ÖKONOMIE (1974, S. 593) auf, sie konnte aber aufgrund der erst posthum erfolgten Veröffentlichung keine unmittelbare Wirkung entfalten, auch wenn sie sich seither in der marxistischen Literatur einer andauernden Beliebtheit erfreut (vgl. Ortlieb: Der prozessierende Widerspruch. In: Kritiknetz). 27 Vgl. hier auch Winkler: Prozessieren, S. 18, der sich im Rückgriff auf das engl. to process an einer ersten Begriffsdeutung von data processing versucht.
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Sinne der Datenverarbeitung. In diesem Bereich erfährt das Prozessieren auch erst, vor allem in der englischen Form processing oder to process – während der Prozessbegriff bereits überall in Europa geläufig war – eine Hochkonjunktur.
Prozessieren Konjunkturen
KONJUNKTUREN Anhand von Googles Ngram-Analysen28 ergibt sich diesbe-
züglich ein relativ konsistentes Bild: Sowohl das dt. Verb prozessieren (inklusive der früheren Schreibweisen „processieren“ und „processiren“) als auch das engl. to process werden ab der zweiten Hälfte des 18. Jhs. allmählich zu einem festen Bestandteil des jeweiligen Wortschatzes.29 Trotz der vielfachen Verwendung der dt. als auch der engl. Form kommt es zu einer wirklichen Hochkonjunktur erst später. Dabei liegt ein signifikanter Unterschied hinsichtlich des Zeitpunkts vor: In Googles Ngram-Graph für prozessieren ist um 1880 ein enormer Anstieg festzustellen, im Graph für to process dagegen erst um 1940. Seit diesem Zeitpunkt verlaufen jedoch beide Kurven bis heute relativ konstant nach oben. Im engl. Sprachraum korreliert diese Hochkonjunktur zunächst mit ganz unterschiedlichen Objekten der Verarbeitung: Schon ab 1930 verbreitet sich beispielsweise die Phrase film processing rasant (sie erreicht ihren Gipfel in den 1970er Jahren und verliert seither wieder an Boden). Bedeutsamer wird allerdings ein Begriff aus der Lebensmittelindustrie, nämlich das food processing, das ab 1940 exponentiell gebraucht wird (zweifellos ein linguistischer Nebeneffekt der Umstellung auf Kriegswirtschaft). Etwas später schlägt dann die Erfindung der Informationstechnologien auch auf sprachlicher Ebene durch: So nimmt die Häufigkeit von data processing, information processing und language processing in den 1950er Jahren zu, text processing und word processing gewinnen in den 1960er bzw. 1970er Jahren exponentiell an sprachlicher Durchschlagskraft.30 Die engl. Wortverwendungen deuten an, dass es sich jeweils um informationstechnologische 28 Der Google Books Ngram Viewer aggregiert Daten aus Druckwerken seit 1500 in mehreren
Sprachen und kann gezielt nach Worten und Phrasen abgesucht werden: https://books.google. com/ngrams/ 29 Im Englischen ist zuvor eine auffällige Konjunktur schon in der Frühen Neuzeit zu vermerken, die bis 1650 allmählich wieder abebbt. 30 Für die Geschichte des „Textverarbeitens“ („word processing“) siehe den Eintrag von Heilmann: (Art.) Textverarbeiten. In: Christians/Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 1, S. 585–595.
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GEGENBEGRIFFE Wenn prozessieren ein für sich besehen fortlaufendes Bear-
beiten und Weiterverarbeiten meint, kommen als Gegenbegriffe nur solche in Frage, die diesen unendlichen Prozess unterbrechen. In einem Interview, in dem es speziell um das Schreiben im Zeitalter der „Textverarbeitungsmaschinen“ geht, kommt Jacques Derrida auf genau diese Thematik zu sprechen. Es muss, so Derrida, ein Innehalten geben, eine Arretierung des Prozesses, sonst gibt es kein Produkt: „Das Buch ist sowohl die Einrichtung als auch der Moment des Ablaufs einer Frist, die uns dazu verpflichten, den Prozeß des Computers zu unterbrechen, ihm ein Ende zu setzen. […] Man muß drucken.“34 Dieses Unterbrechen ist hier bereits mit einem Speichermedium zusammen gedacht, wobei Derrida ausdrücklich nicht nur an das Buch denkt, sondern auch digitale Speichermedien in die Überlegung einbezieht. Innehalten, Arretieren,
Prozessieren Gegenbegriffe
Prozessierensformen handelt, die von da an ins Deutsche einwandern. Mit Niklas Luhmanns Systemtheorie liegt etwa im Feld der Soziologie eine einschlägige und letztlich zentrale Verwendung von Prozessieren vor. Nicht weniger als der Begriff „Sinn“ wird als ein „Prozessieren nach Maßgabe von Differenzen“ definiert oder auch als ein „Sich-selbst-Prozessieren“ – das Tautologische daran entgeht Luhmann natürlich nicht, sondern gibt ihm Anlass, über den Begriff der Information zu sprechen.31 Die Terminologie verrät im Übrigen die Herkunft der Systemtheorie aus der Kybernetik und Informationstheorie sowie aus der Biologie und der Kommunikationswissenschaft, wenn es etwa heißt: „Kommunikation ist Prozessieren von Selektion.“32 Geradezu kanonischen Status hat innerhalb der Medienwissenschaften die von Friedrich Kittler eingeführte Trias der Medienfunktionen erlangt: Übertragen, Speichern, Prozessieren. Abgeleitet werden die für die Medien ausgemachten Wirkungsweisen aus computertechnologischen Aktivitäten. Dem Prozessieren fällt dabei die Eigenschaft zu, Daten und Wörter weiterzuverarbeiten, nach Kittler also in gewisser Weise zu „manipulieren“.33
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31 Luhmann: Soziale Systeme, S. 102. 32 Ebd., S. 194. 33 Vgl. Kittler: Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine. In: Ders.: Draculas Ver-
mächtnis, S. 61.
34 Derrida: Die Textverarbeitungsmaschine. In: Maschinen Papier, S. 151, [Herv.i.O.].
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Unterbrechen, Speichern – diese Tätigkeiten lassen sich als Gegenbegriffe nicht nur für die Textverarbeitung, das „word processing“ geltend machen, sondern für das Prozessieren insgesamt.
Prozessieren Perspektiven
PERSPEKTIVEN Mit rechtswissenschaftlicher Expertise, aber medienwis-
senschaftlichem Erkenntnisinteresse hat Cornelia Vismann ein neues Forschungsfeld erschlossen. In ihrer medienarchäologischen Untersuchung zu AKTEN. MEDIENTECHNIK UND RECHT (2000) taucht der Terminus Prozessieren immer dann auf, wenn Vismann darauf abhebt, dass bürokratische Medien dazu dienen, Wissen zu verarbeiten und Ordnung zu stiften. So heißt es etwa: „Tabellen sind […] eine erste Form von Datenverarbeitung. Staatstafeln bringen das Wissen des Staats über die Ressourcen eines Landes hervor, sie prozessieren Erkenntnis.“35 Ähnliches wird für Register geltend gemacht: „Sie prozessieren einen Verwaltungsapparat, an dessen Ende eine Aktenmaschine namens Staat stehen wird.“36 Und gleich zu Beginn wird die vielleicht folgenreichste Wirkung dieser Medientechnik postuliert: „Akten prozessieren diese Trennung des Rechts in Autorität und Administration“,37 womit gemeint ist, dass erst durch Akten-Aufzeichnungen die Ausdifferenzierung des Rechts in die genannten Sphären der Jurisprudenz und der Verwaltung möglich wurde. Als Schlusspointe ihrer Darlegung zeigt Vismann auf, wie sehr „Akten und ihre Techniken“ die Architektur des Computers organisieren: „Eine Central Processing Unit, deren Registerpolitik sämtliche Vorgänge im Computer steuert, setzt die Kernform der Akte aus den Tagen des Stauferkaisers Friedrich II. wieder in ihre Universalfunktion schriftlicher Verwaltungsmacht ein.“38 Für Medienwissenschaftler*innen und besonders im Kontext der Frage nach dem Mediengebrauch ist das Prozessieren also nicht von ungefähr in erster Linie mit dem Computer verbunden: als dem Gerät, das sich besonders aufs Rechnen, Registrieren und Datenverarbeiten versteht. Wie Hartmut Winkler in seiner Monografie PROZESSIEREN. DIE DRITTE, VERNACHLÄSSIGTE MEDIENFUNKTION (2015) jedoch herausarbeitet, ist gerade diese, von Kittler als dritte ausgewiesene 35 Vismann: Akten, S. 209. 36 Ebd., S. 134. 37 Ebd., S. 8. 38 Ebd., S. 336.
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Prozessieren Perspektiven
Medienfunktion in der Forschung vernachlässigt worden. Mit Winklers 2015 veröffentlichter Arbeit liegt eine überragende Auseinandersetzung vor, die den Gegenstand in immer wieder neuen Anläufen gedanklich durchdringt und dabei nicht nur bleibende Resultate zeitigt, sondern auch Paradoxien und Anschlussprobleme freilegt, die über die Medienwissenschaft im engeren Sinne hinausweisen. Die Rede vom Prozessieren als der dritten Medienfunktion ist lexikalisch freilich prekär, denn Kittler selbst hat die Ausdrücke „Verarbeiten“ oder „Berechnen“ deutlich häufiger verwendet.39 Während Kittler sich zudem auf die vermeintliche Selbstverständlichkeit verlässt, die sich aus der alltäglichen Vertrautheit mit dem Computer und seinen Prozessoren ergibt, stellt Winkler die entscheidende Frage, ob die dritte Medienfunktion nur für Computer gilt oder für Medien schlechthin, wie Kittler es haben will. Wenn das Prozessieren nämlich primär als informationstechnologisches Verarbeiten verstanden wird, besteht das Risiko eines technizistischen Reduktionismus, dessen Unzulänglichkeit Winkler anhand der heterogenen Verwendungsweisen allein schon des medienspezifischen Gebrauchs von Prozessieren nachweist. So deuten auch die eingangs erläuterten Kontexte des Wortes „Prozess“ auf eine solche Unzulänglichkeit hin. Freilich kommt auch Winkler nicht umhin, das Prozessieren zunächst vom Computer her zu bestimmen, und zwar als „Operation der Informationserzeugung und -verarbeitung“.40 Beide Tätigkeiten, die Erzeugung wie auch die Verarbeitung, werden zuweilen auf die bloße Berechnung als ein Synonym des Prozessierens enggeführt. Etwas weiter öffnet sich der Umfang allerdings wieder, wenn nicht nur Zahlen (letztlich die 0 und die 1 als Basisprinzip des Computers) in Betracht gezogen werden, sondern Symbole aller Art sowie aus diesen generierte Sinneinheiten wie Wörter, weshalb Kittler das Prozessieren an einer Stelle als Manipulation von Wörtern oder Zahlen definiert.41 Berechnen, verarbeiten, manipulieren – das ist also gleichsam die von Winkler in einer ersten Ernte eingeholte Begriffstrias, mit der das Prozessieren nun seinerseits anhand der wichtigsten Synonyma umrissen werden kann.
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39 Winkler: Prozessieren, S. 18. 40 Ebd., S. 17. 41 Vgl. Kittler: Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine. In: Ders.: Draculas Ver-
mächtnis, S. 61.
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Prozessieren Perspektiven
Doch die Angelegenheit wird im nächsten Schritt bereits komplizierter: Winkler zitiert nämlich einen Eintrag aus der ENCYCLOPAEDIA BRITANNICA zum „Information Processing“, und darin werden zur Erläuterung die folgenden Vorgänge genannt: „Acquisition, recording, organization, retrieval, display, and dissemination of information.“42 Das ist insofern aufschlussreich, als mit diesen Tätigkeitsformen die Unterscheidung des Prozessierens von den anderen beiden Kittler‘schen Medienfunktionen brüchig oder zumindest durchlässig wird. Wenn auch das recording, also das Aufzeichnen und damit Speichern von Information, unter processing subsumiert wird, und ebenso die „dissemination of information“, also die Verbreitung und damit Übertragung, dann verschwimmen die Grenzziehungen zwischen den Medienfunktionen sehr rasch – und eben das ist die Pointe von Winklers Auseinandersetzung mit Kittler. Die Vernachlässigung der dritten Medienfunktion scheint einer Verleugnung ihres Immer-Schon-Mitwirkens, selbst in den scheinbar von ihr unbetroffenen Tätigkeiten, zu gleichen. Das Prozessieren wird schon immer da gewesen sein und gewissermaßen den Auftakt gebildet haben – ein Umstand, von dem die Engführung auf komputationale Prozesse gerade ablenkt. Aus dieser Unabhängigkeit des Prozessierens von einem bestimmten Material- oder Medienbereich leitet sich auch die Arbeitsdefinition her, an der Winkler durchgehend festhält: „eingreifende Veränderung“. Gemeint ist damit „eine Arbeit am Produkt, ein materieller Eingriff, der das Produkt in seinem materiellen Sosein, seiner Substanz und seiner Bedeutung verändert“.43 Winkler nennt das Beispiel des Filmcutters, der ganz und gar nicht auf der symbolischen Ebene operiert, wenn er Filmstreifen schneidet, neu arrangiert und zusammenklebt. Ohne jeden Zweifel wird hier im medientechnischen Sinn prozessiert – aber eben ohne dass konstituierte Zeichen im Spiel sind, wie es beim Computer der Fall wäre. Die Definition des Prozessierens als „eingreifende Veränderung“ gilt demnach sowohl für Medien allgemein und bedeutet dann zunächst nicht
42 Zit. n. Winkler: Prozessieren, S. 21. 43 Ebd., S. 29.
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Prozessieren Perspektiven
mehr als „Eingriffe aller Art“ als auch für Medien, die über konstituierte Zeichen verfügen und meint dann spezifisch deren „mechanisches Umordnen“.44 Lediglich in einem Punkt scheint Winklers Definition ergänzungsbedürftig: nämlich bezüglich der Frage, ob dieser Eingriff nach Regeln vorgeht oder nicht, ob es sich um ein angeleitetes Verfahren handelt oder nicht. Die spontane, jeder Regel entbehrende Intervention ist zwar ebenfalls eine eingreifende Veränderung, doch fehlt ihr ein charakteristisches Element, um sinnvoll als Prozessieren adressiert werden zu können, welches nun also besser als „eingreifende Veränderung nach Regeln“ oder „verfahrensgeleitete eingreifende Veränderung“ zu definieren wäre. Unter den vielen Implikationen, die Winkler im Zuge seiner Untersuchung diskutiert und die er auch bewusst nicht in eine systematische Ordnung zu bringen versucht, auch wenn er sich im Laufe der Argumentation gerne mit schematischen Darstellungen behilft und seinen Gegenstand offenkundig selbst „prozessiert“, seien hier nur einige besonders wichtige hervorgehoben: (1.) Das Prozessieren zielt auch bei ihm, wie dies schon oben (siehe Kontexte) deutlich wurde, auf Resultate und Produkte – sei es die erstmalige Herstellung oder die Weiterverarbeitung von Resultaten und Produkten. (2.) Um dies zu ermöglichen, muss ein Ausgangsprodukt in seine Bestandteile aufgelöst werden, weil nur so die gezielte Weiterverarbeitung gelingen kann;45 diese Auflösung bezeichnet Winkler als eine Verflüssigung, die damit zum entscheidenden Merkmal des Prozessierens selbst wird – bis zu jenem vorläufigen Endpunkt, an dem die Bearbeitung gestoppt wird und ein vorerst stabiles Produkt oder Ergebnis vorliegt. (3.) Wenn auf die Verflüssigung eine solche Verfestigung folgt, ist ein Speichern des Ergebnisses möglich: „Prozessieren und Speichern – Verflüssigung und Stillstellung – sind offenkundig komplementär aufeinander bezogen. Wenn Prozessieren Veränderung ist, will Speichern Veränderung gerade verhindern.“46 Für die Übertragung gilt praktisch dasselbe, denn idealiter erfolgt eine Übertragung ohne jene Phänomene des Rauschens, die das Produkt ungewollt dann doch verändern. (4.) Diesen Überlegungen folgend entwirft
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44 Vgl. die schematische Darstellung in ebd., S. 113. 45 Vgl. ebd., S. 30. 46 Ebd., S. 131, [Herv.i.O.].
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Prozessieren Perspektiven
Winkler schließlich ein „Sequenzmodell“, demzufolge Medien zwischen Verflüssigung und Verfestigung oszillieren: „Phasen einer fest konstituierten Produktidentität (Speichern, Übertragen) und Phasen, in denen diese Produktidentität aufgelöst ist (Prozessieren), lösen einander ab.“47 (5.) Daraus ergibt sich nun weiter, dass es „völlig falsch wäre, Medienprozesse und das Prozessieren an die Stelle der bis dahin favorisierten Dinge zu setzen“.48 Vielmehr sind Dinge Ausgangspunkte von Medienprozessen, auch und gerade wenn sie im Zuge des Sequenzmodells verflüssigt werden, um eine Bearbeitung zu erlauben, die wiederum die Grundlage für das Speichern und letztlich auch für die Übertragung darstellt; diese aber brauchen umgekehrt wieder ein stabilisiertes Produkt oder Ergebnis, um ihre Funktionalität erfüllen zu können. In einer wahren tour de force denkt Winkler die Relationen der drei Medienfunktionen so intrikat durch, dass schließlich auch dieses Sequenzmodell nicht hinreicht und er stattdessen „ein Verhältnis wechselseitiger Inklusion“ zwischen ihnen postuliert.49 Denn das Speichern kommt ohne Prozessieren insofern nicht aus, als es eine Stillstellung voraussetzt, und Stillstellen heißt hier: in eine solide, beharrliche Form bringen. Erst wenn die Stillstellung in einem materiellen Medium erfolgt ist, wird das Speichern im eigentlichen Sinne gewährleistet: als die Aufbewahrung von etwas über die verstreichende Zeit hinweg. Das Einritzen von Schriftzeichen auf Stein ist demnach bereits ein Prozessieren, auch wenn es der Speicherung von Information dient.50 Für die Relation des Prozessierens zum Übertragen gilt Ähnliches. Einesteils, so Winkler, setzt jedes Übertragen ein vorab abgeschlossenes Speichern voraus und ist damit indirekt auf das Prozessieren angewiesen. Es gibt aber noch ein
47 Ebd., S. 153. 48 Ebd., S. 175. 49 Ebd., S. 169. 50 Genau genommen unterscheidet Winkler zwischen einem Stillstellen als „Speichern_1“, bei
dem das Prozessieren angehalten wird, sodass ein stabiles Produkt entsteht, und einer „Einschreibung in Dinge“ als „Speichern_3“, welches man laut seiner Definition ebenfalls als ein Prozessieren verstehen muss. Lediglich das zumeist gemeinte Bewahren eines Stillgestellten und Eingeschriebenen in einem Speicher ist dann von dieser Dimension des Prozessierens befreit (ebd., S. 167 f.). Logischer als in der von Winkler gegebenen Nummerierung wäre es, das Stillstellen als Speichern_1, das Einschreiben als Speichern_2 und das Aufbewahren als Speichern_3 anzuordnen.
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Prozessieren Perspektiven
direkteres Inklusionsverhältnis, denn Vorgänge des Übertragens sind – woran Winkler in guter medienwissenschaftlicher Tradition erinnert – „von Eingriffen keineswegs frei, insofern Übertragung immer technische Umformungen einschließt, und insofern der Einfluss des Mediums berücksichtigt werden muss“.51 Auch die Übertragung als solche beinhaltet also Akte des Prozessierens. Die Zentralstellung des Computers für das Verständnis des Prozessierens und seinem Verhältnis zu den anderen beiden Medienfunktionen wird von Winkler in einem letzten Schritt anhand einer mikrologischen Analyse der Tätigkeit von Computerprozessoren gewürdigt. Ohne auf die feinteilige Argumentation im Detail eingehen zu können, sei zumindest das überraschende Ergebnis festgehalten: Der Prozessor löst nämlich alles Prozessieren „in syntaktische Operationen“ auf, in ein „Rearrangieren von Zeichen, und letztlich auf Akte des Lesens und Schreibens“, womit das Prozessieren gewissermaßen verschwindet: „Es löst sich in die beiden anderen Medienfunktionen, Übertragen und Speichern, vollständig auf; mit der Folge, dass die Unterscheidung der drei Medienfunktionen implodiert.“52 Diese mikrologische Sicht ändert natürlich nichts daran, dass auf einer qualitativen Ebene dennoch eingreifend verändert und damit prozessiert wird – doch wird nun der verblüffende Schluss verständlich, den Winkler zieht: dass nämlich der Computer „eine Art Extrem im Feld des Prozessierens darstellt […]. Alle anderen Medien bringen ein wesentlich breiteres Spektrum wesentlich komplizierterer Typen von Prozessieren ins Spiel“.53 Mediengeschichtlich macht aber eben dies den Computer so bedeutsam, dass er „dieses Paradox freistellt“, das darin besteht, dass das ureigenste Feld des Prozessierens keine Antwort auf die Frage liefern kann, „worum es sich beim Prozessieren eigentlich handelt“.54 Einmal mehr wird an dieser Stelle deutlich, dass Winkler mehrere Arten des Prozessierens unterscheidet. Ihre abschließende Rekapitulation an dieser Stelle soll, um den Begriff der Agency erweitert, unter Beweis stellen, wie weit der Bedeutungsumfang reicht, sobald man die Engführung auf komputationale Prozesse hinter sich lässt. Aus Winklers Überlegungen lässt sich
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51 Ebd., S. 217. 52 Ebd., S. 228 f. 53 Ebd., S. 226. 54 Ebd., S. 229.
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Prozessieren Perspektiven
die folgende Aufzählung destillieren, die bei der engsten Begriffsdefinition beginnt und sich zu immer allgemeineren und weiteren Arten des Prozessierens fortarbeitet: (1.) Als mechanisches Umordnen konstituierter Zeichen durch Computer(prozessoren) wird die engste, wenngleich heute am häufigsten gemeinte Art des Prozessierens definiert. (2.) Ebenfalls als ein Arrangieren konstituierter Zeichen lässt sich das Prozessieren durch Autor*innen auffassen, das freilich auf einer anderen Ebene operiert als das komputationale Schalten, nämlich auf der Ebene des Sinns. (3.) Unter die Definition des Prozessierens fallen weiters mediale Eingriffe aller Art, also nicht nur solche, die sich auf konstituierte Zeichen beziehen. Die Arbeit von Filmcutter*innen gibt hier ein anschauliches Beispiel ab. Winkler erwähnt aber ebenso die Eingriffe von Beleuchter*innen, was verdeutlicht, dass die eingreifende Veränderung nicht materiell verstanden werden muss.55 (4.) Zudem lassen sich auch die von Winkler beiläufig gemachten Bemerkungen zum Einfluss des jeweils eingesetzten Mediums beim Speichern sowie beim Übertragen als weitere Form des Prozessierens geltend machen. Hierzu gehören „die Technik, die Ebene des Institutionellen, Codes, Regularitäten usf.“,56 die auf die Art und Weise, wie etwas gespeichert und übertragen wird, unweigerlich Einfluss nehmen und es folglich beeinflussen und verändern. (5.) Ganz auf der Seite des Physikalischen liegt schlussendlich eine Dimension vor, die Winkler anhand des Begriffs der Entropie plausibel machen will. Dies gilt für alles Gespeicherte, das auf ungewollte Weise durch die Gesetze der Physik verändert wird, weshalb Winkler auch von einem „selbsttätigen Prozessieren“ spricht.57 Im Fall des Übertragens macht sich die Entropie durch das viel besprochene „Rauschen“ bemerkbar, das „die Integrität des Signals antastet“.58 Bei diesen fünf idealtypisch unterschiedenen Arten des Prozessierens wird eines rasch deutlich: Nur bei zweien von ihnen liegt die Agentialität zweifelsfrei 55 Von diesen drei Formen des Prozessierens, die Winkler allesamt einer „engen, präzisen“ Wortbedeutung zuschreibt, setzt er einen weiter gefassten Begriff ab, so wie etwa das (natürlich gerade nicht eingreifend-verändernde) Prozessieren von Briefen durch die Post. Genau genommen handelt es sich hier allerdings um eine (ohnehin höchst seltene) Redeweise, die man auf der Grundlage des von Winkler Erarbeiteten besser als irreführend von sich weist. 56 Ebd., 169. 57 Ebd., 169. 58 Ebd., 184.
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Prozessieren Forschung
bei menschlichen Subjekten. Bei (1) handelt es sich um die Agency von Prozessoren, bei (4) um mediale, diskursive sowie dispositionale Agentialitäten und bei (5) um die Agentialität physikalischer Prozesse. Auf die Frage nach dem Subjekt des Prozessierens lässt sich damit keine einfache Antwort mehr geben. Winkler verweist selber mehrfach auf die Übereinstimmung seiner Befunde mit den Ansätzen der Akteur-Netzwerk-Theorie, insofern beide von distribuierter Agentialität ausgehen: „Prozessoren tun, was üblicherweise nur Subjekte tun: Sie handeln. Programmiert handeln sie zunächst nach Vor-Schrift, im Auftrag der Subjekte als ihre Agenten; gleichzeitig aber treten sie – als Agenten – an deren Stelle. Und sie gewinnen Agency, klarer und direkter als Latour dies für eine Anzahl anderer technischer Dinge zeigte.“59 Zwar ist es immer noch so, dass Menschen Dinge prozessieren, aber manche Dinge prozessieren nun ebenfalls – und die Welt, als Prozess gefasst, tut das schon immer. Denn auch wenn das in dieser Verbalform selten so gesagt oder gedacht wird, ist es unabweislich, dass die Welt eingreifend verändert oder besser gesagt: dass sie aus Myriaden von eingreifenden Veränderungen besteht. Damit kommen wir, ironischerweise durch das Erkenntnisinteresse an der Tätigkeitsform des Computers als das vielleicht immer noch jüngste Medium befeuert, wieder bei der Prozessphilosophie des Deutschen Idealismus an, insbesondere in der Spielart Schellings, der dem Weltprozess nicht nur einen philosophischen Primat zuschrieb, sondern auch eine Achtung vor seiner letztendlichen Undurchdringlichkeit beibehielt.
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FORSCHUNG Diese aufgrund der Quellenlage stark an Winkler orientierte
Auseinandersetzung sollte nicht den Eindruck erwecken, dass nun alles zum Prozessieren gesagt ist, im Gegenteil: Je tiefer man sich auf seine Analyse einlässt, desto denkwürdiger wird der Begriff. Gerade für die Medienwissenschaft im engeren Sinne besteht weiterer Klärungsbedarf, wie Winkler auch selbst immer wieder einräumt. Das betrifft einerseits die am Computer aufgewiesene Paradoxalität, dass Prozessoren gerade nicht prozessieren, auch wenn es Sinn macht, weiterhin vom Bearbeiten und damit Verändern von Daten, Texten und Bildern durch Computerprogramme zu sprechen. Es betrifft andererseits,
59 Ebd., 255 f.
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Prozessieren Forschung
und zwar in wohl noch viel größerem Umfang, das Prozessieren der übrigen Medien. Eine Möglichkeit, die von Winkler angedeutet wird, um hier zu einem vertieften Verständnis zu kommen, betrifft die Frage der Irreversibilität, die im Fall der Einschreibung in die materielle Struktur eines Mediums natürlich eine andere ist als im Fall einer Prozessorenschaltung.60 Was die Kulturwissenschaft betrifft, so sollte anhand von Winklers Arbeitsdefinition der ‚eingreifenden Veränderung‘ klargeworden sein, dass sie sich nicht von selbst auf den Mediengebrauch im engeren Sinne einschränken lässt. Vielmehr werden nun alle materialen bzw. materiellen Eingriffe (also alle Eingriffe, die an der Qualität ihres Gegenstands etwas verändern, sei dieser nun materiell beschaffen oder nicht) als Arten eines Prozessierens verstehbar. Der engl. Sprachgebrauch hat dies in der Verbform schon lange verdeutlicht, spätestens seitdem von food processing die Rede war. Aber nicht nur industriell weiterverarbeitete Nahrungsmittel erfüllen den Prozessierungstatbestand: Auch schon die Aktivität von prähistorischen Sammler- und Pflanzer-Kulturen wird neuerdings als ein Prozessieren von Samen und Pflanzenteilen beschrieben und die entsprechenden Geräte – wie Sicheln, Mörser oder Schüsseln – werden als processing tools bezeichnet.61 Wie sich diese so unterschiedlichen Gegenstände und Felder des Prozessierens nun zueinander verhalten und ob hierbei unterschiedliche Logiken des Prozessierens geltend zu machen sind, wäre durch eine medienkulturwissenschaftliche Untersuchung, etwa der Ausgestaltung moderner Formen der Landwirtschaft (von biodynamisch bis konventionell), inklusive ihrer Datenverarbeitungs-, Überwachungs- und Automatisierungstechniken, zu klären.62 In diesem Zuge sollte auch das Verhältnis zwischen dem Prozessieren und dem Kultivieren einer eingehenden Analyse unterzogen werden. Denn beide Tätigkeitsformen können als transformierende Bearbeitungen aufgefasst werden, sodass die Frage auftaucht, ob es sich trotz unterschiedlicher fachwissenschaftlicher Terminologien um identische Tätigkeiten handelt. Im Vorgriff auf weitere Forschungen hierzu soll die Frage an dieser Stelle aufgrund der
60 Vgl. ebd., S. 315. 61 Vgl. Murphy: People, Plants, and Genes, S. 30. 62 Siehe Friedrich: Im virtuellen Raum. In: Ladewig/Seppi (Hrsg.): Milieu Fragmente.
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Prozessieren Forschung
verschiedenen Zeitlichkeiten der beiden Transformationsweisen klar verneint werden: Denn während das Prozessieren etwas nur dann verändert, solange es betrieben wird, lebt das vom Ackerbau herrührende Kultivieren auch und gerade von jenen Phasen, in denen die Bearbeitung des Bodens (das Pflügen, Säen, Bewässern, Düngen usw.) ausgesetzt wird. Die kultivierende Transformation ist intermittierend: Phasen der Bearbeitung durch den Menschen (oder neuerdings durch automatisierte Technik) wechseln sich mit Phasen des Wartens ab, in denen das Wachsen aus eigener Kraft geschehen muss. Kultiviert wird also auch, wenn gerade keine menschliche Aktivität vorliegt. Prozessiert wird hingegen nur, solange prozessiert wird. So grundlegend diese Tätigkeit (nicht nur) im Umgang mit Medien auch ist, so sehr wird sie auf ihre Einbettung in sinnstiftende Praktiken und Lebensentwürfe angewiesen bleiben.63 Unter den zahllosen medienwissenschaftlichen Forschungsfeldern, die sich durch die Digitalisierung bzw. Computerisierung immer neuer Bereiche des Alltagslebens ergeben, sei abschließend die eingangs wiedergegebene Anekdote zur Thematik der Affektprozessierung angesprochen. Seit der visionären Ausrufung eines neuen Forschungsbereichs durch das gleichnamige Buch AFFECTIVE COMPUTING (1997) der MIT-Elektroingenieurin Rosalind Picard ist die vormals als irrational und unberechenbar geltende menschliche Affektivität immer mehr als eine komputational bewältigbare Sphäre umdefiniert worden.64 Als „affektive Medien“ lassen sich nun im Anschluss an Winkler jene Medien beschreiben, die in der Lage sind, menschliche Affekte zu prozessieren – etwa indem ausgelesene Signale wie die Gesichtsmimik, der Körpergang, die Stimmführung oder andere physiologische Messgrößen als Indikatoren für einen bestimmten Affektzustand verrechnet werden. Diese affect detection soll automatische Vorschläge und Interventionen vonseiten des Computers zur Regulierung des Affekthaushalts von User*innen ermöglichen. Affekt- und Emotionsregulation werden damit auf ein System ausgelagert, das Affekte informationstechnologisch prozessiert und damit in die menschliche Affektivität verändernd eingreift. Ein so massiver Eingriff in einen Bereich menschlichen
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63 Dazu ausführlicher Bösel: Was heißt kultivieren? In: Zeitschrift für Kulturphilosophie. 64 Siehe dazu Angerer/Bösel: Capture All; Yonck: The Heart of the Machine; Bösel: Affective
Media Regulation.
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Prozessieren Forschung
Lebens durch Algorithmen, deren Funktionalität für User*innen opak bleibt, verlangt nach einer wachsamen medienwissenschaftlichen Analyse und Kritik, wie sie beispielsweise durch die Auseinandersetzung mit den Interfaces affektregulierender Applikationen geleistet werden könnte: Denn Interfaces eröffnen, wie Jan Distelmeyer gezeigt hat, einen Spielraum des Verfügens, der zwar immer schon programmiert ist, aber zugleich auch die Möglichkeit beinhaltet, sich dieser Verfügung zu entziehen oder sie einer grundlegenden Befragung über ihre Grundlagen und Vorannahmen zu unterziehen.65 Darüber hinaus wird an diesem Beispiel klar, dass die Medienwissenschaft dies alleine nicht wird leisten können und sich mit den übrigen Kulturwissenschaften, der Soziologie und in diesem Fall insbesondere auch mit der Psychologie transdisziplinär noch stärker wird verbinden müssen.
65 Siehe Distelmeyer: Kritik der Digitalität.
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RANKEN MARTIN ANDREE
tagram der (anonyme) Post eines frontal fotografierten braunen Hühnereis vor neutralem, weißem Hintergrund, mit der Bildunterschrift: „Let’s set a world record together and get the most liked post on Instagram. Beating the current world record held by Kylie Jenner (18 million)! We got this“ (im Sinne von: wir packen das!). Tatsächlich gelang es innerhalb von nur zehn Tagen, den bislang weltweit beliebtesten Post von Kylie Jenners neugeborener Tochter zu überbieten – mit einer erstaunlichen Fortsetzung. Obwohl das Ziel bereits erreicht war, erschienen ab dem 18. Januar weitere Updates, bei denen das Ei größer werdende Risse aufwies, die sich schließlich in die ‚Naht‘ eines American Football verwandelten, welche dann ihrerseits ausgerechnet am 3. Februar – dem Tag des amerikanischen Super Bowl – ‚platzte‘, um eine medienkritische Kampagne zu enthüllen: „The pressure of social media is getting to me“, mit Verweisen auf Beratungsstellen wie die der Institution Mental Health America.1 Ausgerechnet der Post, welcher es gerade auf Platz eins der weltweiten Beliebtheits-Rangliste geschafft hat, wird hier also ‚gebrochen‘, und zwar vorgeblich durch den entsetzlichen Druck, der durch die Visibilisierung von Zustimmung heutzutage auf die User von sozialen Medien ausgeübt wird? Die Geschichte liefert den ebenso bizarren wie selbstreflexiven Endpunkt einer Dynamik, die spätestens am 2. März 2014 begonnen hatte, als Ellen DeGeneres während der Oscar-Verleihungen Brad Pitt und andere Prominente aus dem Publikum zusammenrief, um ein Selfie zu erstellen mit dem Ziel, das Foto mit den meisten Retweets aller Zeiten auf Twitter zu erzielen (was erstens gelang und zweitens umgehend von Twitter ‚offiziell bestätigt‘ wurde).2 Im Kontext der sozialen Medien wird der Kampf um Ranglistenplätze also zum medial selbstreflexiven Geschehen, wie etwa auch bei dem ‚Wettbewerb‘
Ranken Anekdote
ANEKDOTE Am 4. Januar 2019 erschien auf der Social Media Plattform Ins-
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1 Vgl. Haase: Rätsel um Rekord-Ei auf Instagram gelüftet. In: Welt online, 06.02.2019. Unter:
https://www.welt.de/kmpkt/article188282527/Instagram-Raetsel-um-Rekord-Ei-ist-gelueftet. html [aufgerufen am 25.08.2021]; Kinane: Eggs in Plain Sight. In: Entertainment Weekly, S. 45. 2 Vgl. Dorfer: Rekord-Selfie mit Ellen DeGeneres. In: Süddeutsche Zeitung, 03.03.2014.
333
Ranken Etymologie
Pewdiepie vs. T-Series. Zwischen September 2018 und April 2019 versuchte der schwedische YouTuber Pewdiepie (vergeblich), seinen Kanal, auf dem er vor allem Gaming-Content veröffentlichte und der bis dahin der Absender mit den weltweit meisten Abonnenten auf YouTube gewesen war, gegen die aufstrebenden indischen T-Series zu verteidigen.3 Angesichts der Tatsache, dass der Urheber von ‚talking egg‘ – welches seitdem auf dem ersten Platz der Weltrangliste aller jemals veröffentlichten Instagram-Posts steht – der damals 29-jährige Chris Godfrey, ein MarketingProfi ist und seitdem dank seiner Aktion selbst Celebrity-Status besitzt, ist sicherlich fragwürdig, inwieweit die sorgsame Inszenierung dieses angeblichen ‚Aufschreis‘ gegen die Gefahren von Social Media und ihre transparenten Aufmerksamkeitsbarometer wirklich für bare Münze genommen werden sollte – zweifellos illustriert es jedoch die ungeheure Macht von Rankings im Zeitalter der digitalen und vor allem sozialen Medien. ETYMOLOGIE Ranking bzw. Rangliste bezeichnet ein Konzept zur Operati-
onalisierung von gesellschaftlichen Beobachtungen zweiter Ordnung mit der spezifischen Erkenntnisleistung, durch Reduktion und Engführung auf eine einzige Beurteilung oder aber eingeschränkte Kriterien eine kohärente hierarchische ‚Reihe‘ bzw. ‚Liste‘ im Sinne einer Bewertung vorzunehmen, sodass auf Basis dieser Logik für jedes einzelne Element (z. B. Menschen, Parteien, mediale Artefakte etc.) eine konkrete Stufe innerhalb der jeweils geltenden systemischen Ordnung spezifiziert werden kann. Der Vergleichsparameter eines solchen Rankings ist insofern vergleichbar mit einer Währung, dass er eine Art ‚allgemeines Äquivalent‘ liefert (Marx).4 Es ist beeindruckend, dass die spezifische gesellschaftliche Ordnungsleistung schon in den altgerm. begrifflichen Wurzeln erkennbar ist – rinc bzw. *hringa, der bereits nicht nur den Kreis bezeichnete, sondern schon damals Strukturen und Positionen gesellschaftlicher Ordnung, etwa die „kreisförmig
3 Vgl. Breithut: PewDiePie ist nur noch die Nummer zwei. In: Spiegel online. Unter: https://
www.spiegel.de/netzwelt/web/t-series-vs-pewdiepie-bollywood-singt-sich-an-die-youtubespitze-a-1260161.html [aufgerufen am 25.08.2021]. 4 Vgl. Marx: Das Kapital, S. 101.
334
versammelte Menschenmenge, die ringförmige Gerichtsversammlung“5 sowie den „kreisförmig aufgestellten Heeresverband“.6 Das Wort wurde bereits im 12. Jh. ins Altfranz. übertragen, wo es etwa „den Kreis der zum Gericht Zusammengeladenen […], dann die Zuschauerreihen bei Kampfspielen“7 benannte. Schon vor 1325 wurde es auch ins Altengl. übertragen als rank, wo es spätestens seit der ersten Hälfte des 15. Jhs. sowohl besonders herausragende Personen als auch Anfang des 16. Jhs. die relative Stellung einer Person in der Gesellschaft bezeichnete.8
dessen, was in unterschiedlichen Kontexten über die Jahrhunderte als ‚Rang‘ verstanden bzw. später als quantifiziertes ‚Ranking‘ destilliert wurde, liegt erstens darin begründet, dass diese Begriffsgeschichte in sich selbst eine Kippbewegung von einem vormodernen, transzendental verankerten Verständnis hin zu einer markt- und nachfrageorientierten Begründung vollzieht (vgl. auch ‚Gegenbegriffe‘), und dass zweitens benachbarte Begriffe herangezogen werden müssen, um diese einzigartige Bewegung differenziert nachzuzeichnen. Ein Einstieg in die Problematik lässt sich durch eine genauere Betrachtung der Übertragung des Begriffs in die deutsche Sprache gewinnen. Das deutsche Wort ‚Rang‘ wurde im 17. Jh. während des Dreißigjährigen Krieges aus französisch rang adaptiert, welches die Reihe bzw. die Ordnung bezeichnet, hier offenbar aus soldatischem Kontext der gereihten Schlachtordnung.9 Auch im Deutschen bezeichnet es dann Ende des 17. Jhs. zunehmend das Konzept der spezifischen Stellung des Individuums innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Dabei reflektiert die Geschichte des Wortes im 18. Jh. den gesellschaftlichen Prozess der Ausdifferenzierung von Spezialsystemen, was sich besonders gut durch den Eintrag in ZEDLERS UNIVERSALLEXIKON illustrieren lässt.10 Der
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Ranken Kontexte
KONTEXTE Die besondere Schwierigkeit der diachronen Rekonstruktion
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(Art.) Rang. In: DUDEN Etymologie, S. 570. (Art.) Rang. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 367. (Art.) rang. In: Etymologisches Wörterbuch der Französischen Sprache, S. 748. Vgl. (Art.) rank. In: The Barnhart Dictionary of Etymology, S. 885. Vgl. (Art.) rang. In: Grimm: Deutsches Wörterbuch, S. 92. (Art.) Rang, Praecedentz. In: Zedler: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon, S. 802–805.
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Ranken Kontexte
Artikel wird bezeichnenderweise mit den Stichworten „Rang, Praecedentz“ überschrieben, wobei Praecedentz noch zurückweist auf den homogenen vormodernen ordo, welcher die Gesellschaft über eine gottgegebene Ordnung stratifizierte – weswegen „Praecedentz- oder Rangstreitigkeiten“ im „Heil. Roem. Reich“ durch den Monarchen geregelt worden seien, bei denen die letzte Entscheidung stets vom „Kayser, als oberstem Richter“, getroffen wurde.11 Der Eintrag bei ZEDLER illustriert bestens, dass die vormoderne, homogene gesellschaftliche Ordnung bereits tendenziell eher der Vergangenheit angehört, weil infolge der Ausdifferenzierung von Spezialsystemen unterschiedliche Pers pektiven des Ranges bei der Bewertung von Personen in Anwendung gebracht werden können, also neben dem höfischen Stand oder der „Dignität“ eben auch das politische Amt, der akademische Grad, der wirtschaftliche Wohlstand, aber auch persönliche Eigenschaften wie das Alter oder die sozialen Verdienste – was die Eindeutigkeit der Ausbildung von Rang erschwert. Rangbildung wird zugleich recht nüchtern als operative Illusion gesellschaftlicher Selbstbeschreibung durchschaut, „indem es ja auf der blossen Einbildung beruhet, daß einer mehr ist, der in dieser Stelle sitzet, als der eine andere einnimmet“.12 Zugleich reflektiert der Eintrag die Bedeutung der Öffentlichkeit, welche als legitimierende Größe die höfisch-ständische Legitimation der Vormoderne zunehmend verdrängt. Rang ist eine Eigenschaft, die man nicht mehr substanziell und ‚von Geburt aus‘ erhält, sondern die sich im Medium einer „Opinion der Leute“ ausbilden muss.13 Als abstrahierter Anzeiger gesellschaftlichen ‚Werts‘ wird dieser persönliche Rang also schon hier (und im Gegensatz zu früheren Formen höfisch-feudaler Ordnungen!) zu einer äußerst instabilen Größe, die ständiger Neujustierung und -formatierung bedarf, einerseits aufgrund der interdiskursiven Kräftefelder (eine Person mag z.B. einen hohen politischen Rang bei nur geringem Wohlstand besitzen), andererseits wegen der stets nur temporär sich ausprägenden öffentlichen Meinung, die sich jederzeit ändern kann. Weil ‚Rang‘ nun nicht mehr durch unterliegende metaphysische Ordnungen legitimiert wird, sondern immer nur zeitpunktspezifisch
11 Ebd., S. 804. 12 Ebd., S. 802. 13 Ebd.
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Ranken Kontexte
über hochkomplexe gesellschaftliche Zuschreibungen und Operationalisierungen jeweils neu im ‚Medium‘ der öffentlichen Meinungen fabriziert wird, ist er schon hier stets durch Manipulation gefährdet, wenn also „Rang nicht durch Verdienste, sondern durch andere krumme Wege erlanget worden, als wenn man ihn erkauffet, erbettelt oder zur Belohnung fuer erduldete Schande bekommet“.14 Mit diesem Amalgam ist exakt das Kräftefeld beschrieben, auf dem sich während der nächsten zwei Jahrhunderte ein einzelner Aspekt, und zwar derjenige einer markt- und nachfrageorientierten bottom-up Steuerung als zentrale Orientierungsgröße für demokratisch-liberal organisierte Ordnungen, durchsetzen wird. Zentral ist hierbei die (im Gegensatz zum höfisch-feudalen ordo) neuartige Vorstellung einer Legitimation auf der Grundlage öffentlicher Zustimmung, welche sich in unterschiedlichen Kontexten über langwierige Umschichtungen allmählich durchsetzt. Am Ende dieses Prozesses werden später Ranglisten als zentrale Referenzgrößen diskursiver Wertbildung entstehen. Sie entsprechen dabei funktional weitgehend den systemtheoretisch einschlägig beschriebenen ‚symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien‘ wie etwa der Preisfunktion in der Wirtschaft, und sie erbringen auch ganz ähnliche Generalisierungs- und Universalisierungsleistungen, indem sie alle Elemente des spezifischen Systems oder Subsystems über einen einzigen zugrunde gelegten ‚Indikator‘ miteinander vergleichbar machen.15 Es lässt sich mit Luhmann ergänzen: „Es ist denn auch kein Zufall, dass im 18. Jahrhundert diese beiden Zwillingsideen [Markt/Öffentlichkeit] auftauchen.“16 Und so wie sich die Wertbildung innerhalb der Wirtschaft allmählich nicht mehr von transzendentalen Vorstellungen etwa des ‚gerechten Preises‘ (iustum pretium) vollzieht,17 sondern zunehmend von der ‚unsichtbaren Hand‘ des Marktes bzw. der aggregierten Nachfrage über Konkurrenz und
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14 Ebd., S. 803. 15 Vgl. zu Mechanismen von ‚Wertbildung‘ in verschiedenen diskursiven Kontexten auch jen-
seits der Wirtschaft in Anbindung an systemtheoretische Konzeptionen symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien (Luhmann) sowie im Rückgriff auf das Modell der ‚Erfolgsmedien‘ (Parsons) ausführlich: Andree: Medien machen Marken. Auch Mau betont, Indikatoren und Rankings seien „funktionale Äquivalente für Preissignale“ (Mau: Das metrische Wir, S. 193). 16 Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 107. 17 Vgl. Sombart: Der moderne Kapitalismus, S. 40 ff.
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Ranken Kontexte
Wettbewerb ‚bottom up‘ gesteuert und legitimiert wird,18 so vollzieht sich auch die politische Legitimation durch öffentliche Zustimmung, die etwa in Wahlen gemessen und beziffert wird.19 Innerhalb der kulturellen Sphäre, welche die besondere Qualität ihrer Güter zunächst ebenfalls transzendental hergeleitet hatte (Inspiration, Genie etc.),20 emergieren neuartige, auf die Befriedigung massenhafter Nachfrage fokussierte ‚populäre‘ Kulturgüter, deren Erfolg später in Form von quantitativen Rankings der erzielten Abverkäufe bzw. Konsumhandlungen gemessen wird. Die erste Bestsellerliste wie auch das erste Ranking von populären Liedern entsteht um 1900 in den USA21 und beide diffundieren in den nächsten Jahrzehnten in weitere Länder, als periodische Bestsellerlisten, Rankings, Charts und Hitparaden. Die Messung der öffentlichen Nachfrage und Zustimmung erfolgt schon hier quantitativ (etwa durch die Messung von Absätzen) und wird zunehmend durch die sich stetig verfeinernden Verfahren statistisch-mathematischer Auswertungen vollzogen – was zu sich eigendynamisch verstärkenden Bewegungen führt, wenn etwa das zunehmende öffentliche Interesse an präzisen Informationen zum Stand der öffentlichen Meinung zur Emergenz immer neue Agenturen für Meinungsumfragen, Marktforschungsinstitute, Gesellschaften für die Erforschung von Konsumverhalten und so fort während der ersten Hälfte des 20. Jhs. hervorbringt.22 Diese Entwicklungen münden in dem ebenso vielfältigen wie komplexen und dynamischen Arsenal an Rankings, Musikcharts, Hitparaden, verschiedenen Bestsellerlisten, politischen Zustimmungsbarometern und Meinungsumfragen, die während des letzten Drittels des 20. Jhs. die Wertbildung in
18 Vgl. Andree: Medien machen Marken, S. 159 ff., ferner Binswanger: Sinnlose Wettbewerbe,
S. 27–43.
19 Vgl. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 69 ff. 20 Vgl. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 463 ff. 21 Vgl. ausführlich Fischer: Bestseller in Geschichte und Gegenwart. In: Leonhard/Ludwig
(Hrsg.): Medienwissenschaft, S. 770 ff.
22 Die Geschichte dieser Feedback-Technologien hat James Beniger mit einem kybernetischen
Theoriedesign einschlägig beschrieben; vgl. Beniger: The Control Revolution, S. 291–438. Chris toph Kucklick betont zu Recht, dass über längere Adaptionsprozesse „die Bürger erst einmal lernen [mussten], dass sie überhaupt Meinungen zu allem Möglichen haben sollten“; Kucklick: Die granulare Gesellschaft, S. 24.
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den unterschiedlichen Systemen strukturieren, indem sie als ständig verfügbare Indikatoren öffentliche Zustimmung und Nachfrage visibilisieren und auf diese Weise die innere Ordnung der verschiedenen Systeme als Leit- und Orientierungsgrößen überhaupt erst konstituieren. Es ist letztlich diese Logik gesellschaftlicher Wertbildung, welche den heute üblichen Gebrauch des Begriffs ‚Ranking‘ bestimmt. Die eingangs beschriebene Leistung der digitalen Transformation stellt allerdings eine drastische Steigerung und Extrapolation der schon zuvor vorhandenen Prozesse symbolisch generalisierter Wertbildung dar, weil vor allem in sozialen Medien wie Facebook, Instagram, Snapchat etc. Zustimmungsraten und Nachfrage vollständig transparent und in Echtzeit übermittelt werden können (siehe ‚Konjunkturen‘ sowie ‚Perspektiven‘).
nisation auf der Grundlage von öffentlicher Zustimmung, die immer präziser in empirischen Verfahren gemessen und dann als Rankings in den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung zurückgespiegelt wird, manifestiert sich in drei Konjunkturphasen. Diese können insofern zusätzliche Tiefenschärfe für die bisherigen Erläuterungen liefern, als sie jeweils spezifische, inhaltlich durchaus unterschiedliche Stoßrichtungen besitzen. Die erste Konjunktur fällt in die Zeit ‚um 1900‘ und lässt sich als Phase einer weitreichenden gesellschaftlichen Emanzipation populärer Güter bzw. massenhafter Nachfrage beschreiben – sei es der „Schund“-Literatur, der Yellowpress, der „proletarischen“ Parteien, dem Radio, dem Jazz oder der neu entstehenden Konsumgüter in der Wirtschaft.23 Bezeichnenderweise fallen auch die großen Theorien propagandistischer Beeinflussung der ‚Massen‘ in diese Zeit (z.B. Le Bon, Lippmann, Bernays, etc.). Die zweite Konjunktur findet in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. statt. Das Populäre ist (aus Sicht der Eliten) jetzt nicht mehr nur leider minderwertig, aber immerhin ‚tolerierbar‘ auf Grundlage einer großen öffentlichen Nachfrage,
Ranken Konjunkturen
KONJUNKTUREN Die dargestellte Emergenz gesellschaftlicher Selbstorga-
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23 Vgl. zur allmählichen Durchsetzung populärer Rezeptionsformen u. a. Maase: Grenzenlo-
ses Vergnügen; vgl. zu populären Lesestoffen und vor allem auch der ‚Schundliteratur‘-Debatte: Schenda: Volk ohne Buch.
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Ranken Konjunkturen
welche die kulturellen Blockbuster legitimieren, sondern es beginnt jetzt, gerade aufgrund seiner Popularität besonders begehrenswert zu sein – was sich beispielsweise in der massiven Star- und Prominentenkultur, der ausgeprägten und massenmedial konfigurierten Serialität von Rankings, Charts, Indices, Wettbewerben und dergleichen äußert. Wie stark der Nimbus des Populären wirkt, lässt sich beispielsweise auch daran absehen, dass erst jetzt (und in erheblicher Verzögerung zum literarischen Bestseller!) die spezifische Form des ‚populären Sachbuchs‘ entsteht,24 deren Autoren heutzutage als ‚Fernseh-Experten‘ und ‚Pseudo-Professoren‘ eine ganz eigene und spezifische Zunft ausprägen, welche von derjenigen der ‚seriösen Wissenschaftler‘ fast vollständig separiert ist – und zwar weil sie ihren ‚Wert‘ auf der Grundlage einer gänzlich anderen (massenmedialen) Nachfragelogik generieren als derjenige des ‚echten‘ Wissenschaftsbetriebs und seinen Mechanismen akademischer Reputationsbildung. Die dritte und letzte Konjunktur erleben wir gerade, und zwar aufgrund der Tatsache, dass infolge der Digitalisierung neuartige Aggregationen von Daten zu Rankings, Indices und Barometern möglich sind, welche die technischen Möglichkeiten, die noch Anfang der 90er Jahre denkbar waren, um ein Vielfaches multiplizieren, potenzieren und zudem extrem feinkörnige Feedbackschleifen in Echtzeit ermöglichen.25 Hierbei lassen sich zentrale Schübe ermitteln: zunächst die Durchsetzung der Suchmaschine Google zur Navigation in den immer größeren und unüberschaubaren Content-Angeboten des Internet – der 1997 patentierte PageRank-Algorithmus erstellte zu beliebigen Suchbegriffen eine Webseiten-Rangliste auf der Grundlage einer Auswertung der Link-Strukturen (ein Faktor, der in der heutigen Version von Google bezeichnenderweise keine wichtige Rolle mehr spielt).26 Dieser erste Universalisierungs-Schub (der ‚Wert‘ jedes einzelnen existierenden Webinhalts lässt sich über einen einzigen Indikator transparent als Position in einer Rangliste darstellen) erfuhr eine Ausweitung durch die Emergenz der sozialen Medien seit der Mitte der 2000er Jahre, weil diese die Transparenz der
24 Vgl. Diederichs: Annäherungen an das Sachbuch. 25 Vgl. zu diesem Phänomen auch Kucklick: Die granulare Gesellschaft, S. 116 f. 26 Vgl. Langville/Meyer: Google’s PageRank and Beyond.
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Ranken Konjunkturen
Nachfrage auf die individuelle Ebene erweiterten, und zwar insofern, als der ausgelöste allgemeine Aufmerksamkeitswettbewerb seitdem die Reputationswerte jedes einzelnen Individuums über die Anzahl der auf die verschiedenen Posts erzielten ‚Likes‘ bzw. ‚Shares‘ immer wieder neu ausweist (die kollektive Reputation jedes menschlichen Individuums wird ständig durch die erzielte Nachfrage als Likes, Friends, Follower, Subscriber, Shares, Streaks etc. transparent gemacht). Der personalisierte Newsfeed auf Facebook wurde anfänglich dann auch durch einen Algorithmus mit dem Namen ‚EdgeRank‘ berechnet.27 Aber auch die Simplizität dieser ursprünglichen Algorithmen mutet aus heutiger Sicht eher steinzeitlich an, wenn man bedenkt, dass dieselben Rankingprozeduren heutzutage auf der Grundlage von Hunderten oder gar Tausenden verschiedenen Faktoren durchgeführt werden.28 Die beschriebenen Entwicklungen führten zu eigendynamischen Prozessen explodierender Datenaggregationen, welche durch die Durchsetzung des Smartphones (das iPhone ist 2007 lanciert worden) und die dadurch ermöglichte Dimension des ‚Lifelogging‘29 noch weiter gesteigert wurden. Der gigantische Zuwachs an verfügbaren Daten hat nicht nur die Zahl der sogenannten „KPIs“ (Key Performance Indicators als statistische Grundlage von Rankings) explodieren lassen, sondern auch eine Situation geschaffen, in der eine Auswertung der Daten durch menschliche Analyse und Interpretation nicht mehr zu bewältigen ist und deshalb von automatisierten Prozessen maschinell erledigt wird, wobei künstliche Intelligenz mittlerweile eine zentrale Rolle spielt. Das sei am Beispiel von Google und dem ‚Ranking‘ der Ergebnisse von Suchanfragen illustriert. Schon die von Google durchgeführte Analyse der Netzinhalte erfolgt vollautomatisiert durch Web Crawler. Die aggregierten Daten werden durch Algorithmen und künstliche Intelligenz ausgewertet, wobei mehr als 200 einzelne Faktoren das ermittelte Ranking bestimmen – die Gewichtung dieser Faktoren wird von Google streng geheim gehalten, was wiederum eine ganze Industrie von Datenanalysten beschäftigt, die versuchen, die innere Struktur der sich stets wandelnden Gewichtungen
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27 Vgl. über die „Gefällt-mir-Reputation“ u. a. Mau: Das metrische Wir, S. 158 ff. 28 Vgl. u. a. Keßler/Rabsch/Mandić: Erfolgreiche Websites, S. 184. 29 Vgl. Selke: Lifelogging.
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Ranken Gegenbegriffe
von Google zu rekonstruieren, um auf diese Weise SEO (Search Engine Optimization) von Webinhalten überhaupt erst zu ermöglichen – was zu einem erstaunlichen technologischen ‚Wettrüsten‘ geführt hat (im Klartext: sobald Googles Verfahren so weit offengelegt wurden, dass SEO-Experten die Algorithmen durch Manipulation der Webinhalte ‚täuschen‘ konnten, wurden durch Google die Auswertungsmechanismen wiederum verfeinert, bis hin zur ‚Bestrafung‘ von manipulationsaffinen Faktoren – und so fort).30 Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die erhebliche Erschwerung der Nachvollziehbarkeit der Entstehung solcher datenbasierten Rankings aufgrund eines auch für Experten kaum noch beherrschbaren, ebenso rasanten wie schwindelerregenden technologischen Fortschritts gerade eine zusätzliche Beschleunigung erfährt. Während die komplexe, jedoch immerhin noch logisch nachvollziehbare algorithmische K. I. ihre statistischen Synthesen und Interpretationen zwar aus gestaffelten, aber dennoch eindeutigen Wenn/dannSchemata aggregierte, ist seit einigen Jahren die sogenannte subsymbolische K. I. auf dem Vormarsch, die auf Grundlage künstlicher neuronaler Netze Klassifizierungen und Bewertungen prozessiert, welche retrospektiv nicht mehr durch logische Analysen in ihre ursprünglichen Bestandteile dekomponiert und rekonstruiert werden können – was zur Folge haben wird, dass Systeme in Zukunft ihre Eigenrationalität zunehmend auf der Grundlage von Wertbildungen (Rankings, Quoten, Indices etc.) ausbilden, deren Entstehung maschinell erfolgt, überdies mitunter Hunderte verschiedener Modelle miteinander kombiniert,31 und deren Ergebnisse von menschlicher Intelligenz nicht mehr nachvollzogen und überprüft werden können: Man weiß nur noch, dass sie funktionieren, aber nicht mehr, warum. GEGENBEGRIFFE Wenn man ein assoziatives Netz um den Begriff ‚Ranking‘
als Gravitationszentrum konstruieren würde, verstanden als Orientierungsgröße auf Basis quantitativ ermittelter Zustimmungswerte, so stieße man auf benachbarte Konzepte wie öffentliche Meinung und Zustimmung, freie
30 Vgl. u. a. Keßler/Rabsch/Mandić: Erfolgreiche Websites, z. B. S. 183–245, S. 258 ff. u. ö. 31 Vgl. die aufschlussreiche Fallstudie zur Entstehung des Netflix-Empfehlungsalgorithmus in:
Hindman: The Internet Trap, S. 48 ff.
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Ranken Gegenbegriffe
Wahlen bzw. Abstimmungen, Charts und Bestseller, Nachfrage und Konsum, allgemeine Moden und Trends, aber auch Votes, Likes, Shares, Follower und so fort, allesamt verstanden als Bestandteile eines bottom-up Paradigmas, welches Systemordnungen auf der Grundlage zumeist populärer Nachfragewerte formatiert. Es sei betont, dass es sich hierbei um ‚operative Illusionen‘ von Systemen handelt (es ist beispielsweise davon auszugehen, dass die digitale Medientechnologie im Gegensatz zu der eigenen operativen Illusion einer demokratischen Utopie bzw. einer Emanzipation des ‚Long Tail‘32 sogar konzentrationssteigernd und demzufolge antidemokratisch wirkt).33 Entscheidend ist hier jedoch die systemische Binnenrationalität, in der solche ‚Rankings‘ im Sinne eines ‚allgemeinen Äquivalents‘ wie eine Währung fungieren und in der sie stets mit einem universalen Geltungsanspruch antreten, was es wiederum schwierig macht, einen Gegenbegriff zu formulieren (was wäre etwa der Gegenbegriff zur Preisform in der Wirtschaft?). Zugleich zementieren Rankings, meist von ausgewählten Expertenkreisen oder angesehenen Institutionen vorgeschlagen, die Benennungs- und Deutungsmacht für die Systeme bzw. Subsysteme, die sie erschließen34 – weswegen die erfolgreiche Etablierung eines solchen Standards stets auch als Usurpation bzw. Verstärkung einer herausgehobenen Machtstellung in dem jeweiligen diskursiven Kontext gilt. Aus dieser Perspektive lassen sich nun allerdings
R 32 Vgl. z. B. den einflussreichen Bestseller Anderson: The Long Tail. 33 Durch eine erste Nullmessung der digitalen Mediennutzung in Deutschland konnte für das
Jahr 2019 der Grad der Konzentration auf der Grundlage von Realnutzung ermittelt werden. Eine solche Konzentration wird durch den Gini-Koeffizienten berechnet. Dieser lässt sich wie die Verteilung etwa von Vermögen in einer Population beschreiben. Der Wert 0 beziffert dabei die minimale Konzentration (alle Menschen besitzen gleich viel), der Wert 1 die maximale Konzentration (eine Person besitzt alles, alle anderen nichts). Die Verteilung des digitalen Traffic in Deutschland ist auf extreme Weise auf ganz wenige Plattformen verteilt – der gemessene Gini-Koeffizient beträgt 0,988 und ist demgemäß bereits in unmittelbarer Nähe zur maximal denkbaren Konzentration; vgl. ausführlich Andree/Thomsen: Atlas der digitalen Welt, S. 24 ff. Vgl. ferner Hindman: The Myth of Digital Democracy; ders.: The Internet Trap. 34 Vgl. vor allem das Kapitel „Benennungsmacht“ in: Mau: Das metrische Wir, S. 185–212.
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Ranken Gegenbegriffe
durchaus Gegenbegriffe und -konzepte ermitteln.35 Zunächst einmal gilt, dass der diskursive Kampf um die Durchsetzung eines Rankings typischerweise dazu führt, dass Gruppen, Positionen oder Institutionen, deren Stellungen durch den Geltungsanspruch des neuen Rankings bedroht werden, protestieren – hierbei werden zumeist die Methode, ferner unerwünschte soziale Folgen (wie im Falle des eingangs erwähnten ‚talking egg‘ der massive Kollektivdruck ständigen Postens) oder auch falsche Inzentivierungen problematisiert, was z.B. auch zum Phänomen sogenannter ‚reaktiver Messungen‘ führt (weil die Messung das Gemessene verändert – der Zusammenhang wird auch als ‚Campbell’s Law‘ bezeichnet).36 Eine wieder andere Möglichkeit besteht darin, dass man das Verfahren der Quantifizierung an sich kritisiert. Man wird dann typischerweise einwenden, PISA messe falsch, der Citation Index in der Wissenschaft führe nur zu Oli garchien von sich gegenseitig zitierenden Forschern oder dass die quantifizierte Beliebtheit eines Musikstücks nichts über dessen ‚wahre Qualität‘ aussagt. Daraus wird auch ersichtlich, dass Gegenpositionen zu Rankings eine starke Tendenz besitzen, von einem quantitativen auf einen qualitativen Fokus der Beobachtung zu wechseln, weil sie nur so postulieren können, dass die quantitative Komplexitätsreduktion der Indices und Barometer gerade das ‚Eigentliche‘ verfehle. Daraus ergeben sich erneut natürliche Affinitäten – zu einem herausgehobenen Stand besonders auratisierter (Gegen-)Experten bzw. ‚Eingeweihten‘, welche diese (meist: qualitativen) Zusammenhänge durch ihren privilegierten Beobachtungsstandpunkt top-down ‚enthüllen‘ können, und natürlich eben auch zur Hermeneutik und deren über Jahrhunderte evoluiertes Arsenal kulturkritischer Topoi (z.B. dass man ‚echte Bildung nicht mathematisch messen kann‘ und so weiter). Solche Positionen sind mittlerweile jedoch stark marginalisiert, was sich etwa auch an der zunehmenden Dominanz der empirischen Ansätze und statistischen Methoden innerhalb der Wissenschaften ablesen lässt – dagegen erfreuen
35 Das Panoptikum an Argumenten gegen die ‚Illusion‘ von Markt, Wettbewerb und Trans-
parenz, den falschen Inzentivierungen, der Vortäuschung und Inszenierung von Messbarkeit, den widersinnigen Konsequenzen etc. findet sich breit dargelegt etwa in: Binswanger: Sinnlose Wettbewerbe. 36 Vgl. Campbell: Factors Relevant to the Validity of Experiments in Social Settings. In: Psychological Bulletin, S. 297–312; Binswanger: Sinnlose Wettbewerbe, S. 80 f.
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PERSPEKTIVEN Wie ersichtlich wurde, bilden Rankings sowie analoge Phänomene (Quoten, Barometer, Indices, Hitlisten etc.) die wichtigste Steuerungsgröße der Selbstorganisation für alle Systeme oder Subsysteme, die marktmäßig organisiert sind, jedoch über keine spezifische ‚Währung‘ der Wertbildung (wie etwa Preise in der Wirtschaft) verfügen. Sie ermöglichen solchen Systemen, ihre autopoietischen medialen Prozesse anhand solcher Indices engzuführen – was beispielsweise in der Politik, in der Kultur sowie in den Massenmedien der Fall ist. Sie liefern ein ‚allgemeines Äquivalent‘, welches die zentrale Referenz für kybernetische Feedbackmechanismen darstellt – die Beobachtung des Marktes (als interne Umwelt der verschiedenen Systeme) orientiert sich fortlaufend an diesen etablierten und anerkannten Indikatoren. Weil die einzelnen Teilnehmer in diesen Märkten (etwa Politiker, Musikbands, Fernsehsender, später auch Webseiten, Social Media Profile, etc.) versuchen, ihren eigenen Erfolg zu maximieren (welcher immer wieder neu und zeitpunktspezifisch37 in Ranglistenplätzen auskristallisiert wird), etablieren sich vor allem seit der ersten Hälfte des 20. Jhs. ausgefeilte reflexive Prozesse des Feedbacks, in denen Teilnehmer Konkurrenten, Verbraucher bzw. Rezipienten oder Wähler, Partner etc. beobachten und daraufhin ihr Eigenverhalten in kybernetischen Regelkreisen optimieren können – was gemeinhin als Marketing verstanden wird.38 Es ist verblüffend, dass die Verlaufsform des Begriffs (Marketing) ihrerseits insofern über ein ‚operationales Bewusstsein‘ zu verfügen scheint, als dieser ‚Markt‘ erstens nur als konstruierte Totalität einzelner Operationen vorliegt, welche zweitens ihrerseits stets auf Bewährung in diesem Markt hin optimiert sind, und durch den drittens der Markt als zentrale Referenzgröße aller Teilnehmer überhaupt erst operational und rekursiv entsteht – das Marketing
Ranken Perspektiven
sich die Topoi einer hermeneutischen Kulturkritik nach wie vor einer großen Beliebtheit in Feuilletons, Talkshows oder populären Sachbüchern.
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37 Was zugleich auch eine „Verstetigung der Konkurrenz“ bewirkt; Binswanger: Sinnlose Wett-
bewerbe, S. 64.
38 Vgl. ausführlich das Kapitel „Markt, Feedback und Marktkonzentration“ in: Andree: Medien
machen Marken, S. 125–156.
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Ranken Perspektiven
‚macht‘ den Markt erst, dessen Elemente dann immer wieder neu in Ranglisten konfiguriert und taxonomiert werden. Es ist eklatant, dass der Begriff Ranking (wie Marketing) ebenfalls ein Gerundium ist, also auf dieselbe Weise offen markiert, dass die konkreten Ranglisten immer stets ‚nur gemachte‘ und ‚fabrizierte‘ sind (das OXFORD DIC39 TIONARY definiert: „the action of placing in rank“ ). Es handelt sich immer nur um vorläufige Prozesse, die gerade im Begriff sind, zu passieren, also gewissermaßen aufflackern und wieder vergehen, um stets operational durch neue Folgewerte ersetzt zu werden.40 Als zentrale Referenzgröße der Autopoiesis von Systemen und Subsystemen besitzen sie in dieser offenen Operationalisierung also durchaus eine paradoxe Struktur – um es zugespitzt zu sagen, richten sich alle Teilnehmer nach ihnen, obwohl allen Teilnehmern zugleich bewusst zu sein scheint, dass diese vermeintlichen Währungen über weite Strecken nicht nur reine Konstruktionen sind, sondern sehr anfällig dafür, manipuliert oder sogar korrumpiert zu werden (das betonte ZEDLER schon Mitte des 18. Jhs.!), man handelt diskursiv also wissentlich ständig mit ‚Falschgeld‘. Ein aktuelles Beispiel (September 2019) liefert der Wissenschaftsskandal um manipulative Peer Review Prozesse, bei denen offenbar eine Minderheit von Gutachtern und Reviewern die Autoren der eingereichten Studien aufgefordert haben soll, ihre eigenen Forschungsarbeiten zu zitieren, um auf diese Weise den eigenen Citation Index zu verbessern, was auch als ‚Zwangszitat‘ bezeichnet wird; ferner sollen dieselben Wissenschaftler zu demselben Zweck ihre Erkenntnisse mehrfach veröffentlicht haben. Der Verlag Elsevier überprüft momentan Hunderte von Forschern auf solche Manipulationen.41
39 (Art.) ranking. In: The Oxford English Dictionary, S. 179. 40 Weil ‚ranking‘ also nur eine Ableitung des Grundbegriffes ist, wird der Begriff in sehr vielen
Lexika gar nicht geführt. Weder im BROCKHAUS, noch in MEYERS LEXIKON oder der ENCYCLOPAEDIA BRITANNICA ist bis heute ein Eintrag zu ‚ranking‘ erschienen. Auch in CHAMBERS ENCYCLOPAEDIA von 1963, in der ENCYCLOPEDIA AMERICANA von 1982 oder in COLLIER‘S ENCYCLOPEDIA von 1994 sind keine Einträge zu Ranking enthalten. 41 Vgl. Singh Chawla: Elsevier investigates hundreds of peer reviewers for manipulating citations. In: Nature, S. 174.
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Ranken Perspektiven
Solche ‚Enthüllungen‘ gehören zur Geschichte der Rankings, sie ändern jedoch nichts an der erstaunlichen Resistenz von Rankings – wahrscheinlich auch, weil die Zusammenhänge ja eigentlich jedem Teilnehmer immer schon klar waren und solche ‚Enthüllungen‘ stets nur offenlegen, was ohnehin jeder wusste. Die Mechanik ist eigentlich immer dieselbe: Seitdem es Rankings gibt, sind immer wieder Fälle bekannt geworden, in denen die Produzenten des Contents aktiv die Erfolgsmedien ihrer Märkte manipulieren. Das bekannteste Phänomen wurde mit dem Begriff ‚payola‘ bezeichnet. Es handelt sich dabei um die durchaus übliche Bestechung von Radiosendern durch Plattenfirmen nach der Lancierung von populären Liedern, um einem Titel auf diese Weise durch eine künstlich gesteigerte Präsenz, also einem verstärkten Airplay, den Eintritt in die Charts und eine gute Platzierung zu verschaffen.42 Auch die vermeintlich neutralen und scheinbar ‚freien‘ bzw. ‚demokratischen‘ Votings und Shares im Internet erweisen sich bei näherer Analyse häufig als manipuliert. Schon eine frühe Studie zu Social Media Plattformen konnte darlegen, dass Inhalte, die vermeintlich durch eine Vielzahl neutraler ‚Likes‘ erfolgreich die verschiedenen Filter und Gates passiert hatten, durch aktive Manipulation im Netz gefördert wurden: Es existieren oligarchische InternetNetzwerke, die über Hunderte von Mitgliedern verfügen, deren Anhänger ihren Content jeweils gegenseitig ‚liken‘ und ‚sharen‘. Was 2010 noch überraschend schien, dürfte heutzutage keinen User mehr wundern – dass etwa die erstaunliche Masse von Abonnenten und Subskribenten prominenter Influencer und YouTuber nicht nur ‚organisch‘ gewachsen, sondern auch durch ausgeklügelte ‚Partnerschaften‘, durch Optimierungstricks, Manipulationen bis hin zu gekauften Followern entstanden ist.43 Die allgemeine Durchsetzung von Rankings erzeugt also extreme Netzwerk- bzw. Lock-in-Effekte, die ihr erstaunliches Beharrungsvermögen erklären können: Jeder weiß, dass sie ‚eigentlich‘ höchst fragwürdig sind, aber alle Marktteilnehmer beziehen sich unablässig darauf.
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42 S. auch (Art.) auflegen in diesem Band, S. ###. 43 Vgl. Elsner/Heil/Sinha: How Social Networks Influence the Popularity of User-generated
Content. In: MSI Marketing Science Institute. Unter: https://www.msi.org/reports/how-socialnetworks-influence-the-popularity-of-user-generated-content/ [aufgerufen am 25.08.2021].
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Ranken Forschung
FORSCHUNG Die erhebliche Bedeutung von Rankings für die Selbstorgani-
sation unserer medialen Ökosysteme und die Strukturierung unseres Wissens liegt auf der Hand, weswegen die unterliegenden Mechanismen intensivste und systematischste Forschungsanstrengungen verdienen. Zugleich erzeugt die schwindelerregende Beschleunigung technologischen Fortschritts insofern eine erhebliche Bedrohung für die aktuelle medienwissenschaftliche Forschung, als ihr einer ihrer wichtigsten Untersuchungsgegenstände zu entgleiten droht. Das liegt an einer ganzen Reihe von Faktoren. Zunächst einmal führt die zunehmende Monopolisierung des Online-Universums in den GAFA-Gravitationszentren (Google, Apple, Facebook, Amazon) dazu, dass allein in Bezug auf Datenzugang und -qualität die universitäre Wissenschaft weit abgehängt ist von den tatsächlich vorhandenen Informationen, welche die großen Onlineplattformen nicht der öffentlichen Forschung zugänglich machen. Zweitens liefert nicht allein der rasante technologische Fortschritt bei der Entwicklung der für Rankings zuständigen Algorithmen und Modelle eine Verständnisbarriere. Die digitalen Großkonzerne beschäftigen hier die weltweit führenden Talente, finanzieren die Weiterentwicklung ihrer Technologien mit Milliardenbeträgen und lassen sich hierbei nicht in die Karten schauen.44 Eine Menge Knowhow ist sicherlich noch bei den vielen Datendienstleistern, Aggregatoren, Validatoren, Selektoren, Navigatoren etc. vorhanden, welche die entsprechenden digitalen Industrien beliefern oder ihrerseits Content aus MetaAnalysen liefern – aber auch deren Daten sind der wissenschaftlichen Forschung erstens nicht bzw. nur in Ausnahmefällen zugänglich, ferner sind die Methoden der Datenerhebung fast ausnahmslos nicht publiziert, sodass sich auch zugängliche Daten nur mangelhaft wissenschaftlich nachvollziehen und validieren lassen.45 Die medienwissenschaftliche Forschung ist daher zunehmend abgeschnitten von einem ihrer wichtigsten Untersuchungsgebiete. 44 Vgl. zu diesen „Arkanpraktiken“ auch Mau: Das metrische Wir, S. 206. Diese Entwicklung
ist auch insofern kritisch, als die Rolle des Staates als traditionell zentrale Autorität bei der Entwicklung und Durchführung vieler Rankings ebenfalls dramatisch limitiert wird – die Kontrolle der quantitativen Verfahren zur Herstellung von Rankings liegt immer mehr in den Händen einiger weniger Digitalkonzerne. Während jedoch wissenschaftlicher Zugriff auf öffentliche bzw. politisch legitimierte Daten im Normalfall recht unproblematisch war, werden aktuell wissenschaftliche Anfragen an die Digitalkonzerne aus eigener Erfahrung heraus nicht beantwortet. 45 Vgl. zu diesem Problem ausführlich Andree/Thomsen: Atlas der digitalen Welt, S. 250 ff.
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gelueftet.html [aufgerufen am 11.06.2021].
REPARIEREN GABRIELE SCHABACHER
Apollo 13, einer der beiden Sauerstofftanks im Servicemodul des Raumschiffs explodiert, ahnen die drei an Bord befindlichen Astronauten noch nicht, wie sehr ihre Rückkehr von Improvisation und Reparaturfähigkeit abhängen wird. Nicht nur erweisen sich die Beschädigungen als so umfangreich, dass die Mission sofort abgebrochen werden muss, die Mannschaft muss zudem in die eigentlich für die geplante Mondlandung vorgesehene Mondlandefähre Aquarius umsteigen, da die vorhandenen Energievorräte des Raumschiffs lediglich noch für den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre ausreichen. Da eine direkte Umkehr aufgrund dieser Situation ausgeschlossen ist, entscheidet man sich für ein Slingshot-Manöver, bei dem das Raumschiff durch eine Mondumrundung auf eine freie Rückkehrbahn zur Erde gelangt. Eines von mehreren kritischen Problemen bei diesem Vorhaben ist die verfügbare Atemluft in der Mondfähre. Denn deren CO2-Absorberfilter, die auf der Basis von Lithiumhydroxid funktionieren, sind nur für zwei Personen und maximal 45 Stunden ausgelegt. Für die geplante Mondumrundung müssen sich jedoch alle drei Astronauten für fast vier Tage in der Mondfähre aufhalten. Zwar steht prinzipiell im Kommandomodul ausreichend Lithiumhydroxid zur Verfügung, aber die dort genutzten Kanister sind nicht mit dem Luftreinigungssystem der Mondfähre kompatibel, sie haben nicht dieselbe Größe und Form. Die einzige Möglichkeit, das Lithiumhydroxid des Kommandomodul zu nutzen, ist also die Entwicklung eines Adapters.1 Grundsätzlich stellt eine derartige Verbindung zweier Systeme keine unlösbare Schwierigkeit dar, das Problem in diesem Fall ist jedoch, dass für den Bau des Adapters ausschließlich Materialien und Gegenstände verwendet werden können, die sich auch an Bord des Raumschiffs befinden und die NASA-Ingenieure für diese Aufgabe nicht
Reparieren Anekdote
ANEKDOTE Als am 14. April 1970, knapp 56 Stunden nach dem Start von
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1 Vgl. hierzu Pothier: Astronauts Beat Air Crisis By Do-It-Yourself Gadget. In: Detroit Free
Press, S. 36; NASA: Mission Operations Report, Anhang, S. G-3f u. G-7; NASA: Report of Apollo 13 Review Board, S. 4–51; Lovell: „Houston, We’ve Had a Problem“. In: Cortright (Hrsg.): Apollo Expeditions to the Moon, S. 247–263.
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Reparieren Etymologie
mehrere Monate, sondern nur wenige Stunden zur Verfügung haben. Während deshalb die Astronauten das Raumschiff nach verwendbaren Utensilien durchsuchen, beginnt ein Team im Mission Control Center in Houston unter Hochdruck damit, aus Schläuchen, Plastiktüten, Klebeband, Kartondeckeln von Handbüchern, aber auch einer Socke, einen funktionstüchtigen Adapter zu konstruieren. Die Bauanleitung dieser „jury-rig solution“, die die NASAIngenieure aufgrund ihres Aussehens als „Mailbox“ bezeichnen, wird der Crew eine Stunde lang über Funk mitgeteilt, die den CO2-Filter daraufhin in der Mondlandefähre nachbaut. Im Nachhinein unterstreicht die NASA vor allem die Teamarbeit zwischen Kontrollzentrum und Astronauten als „fine cooperation between ground and space“;2 mit Blick auf das Reparieren zeigt sich hier aber auch die Notwendigkeit, mit Vorhandenem auszukommen, wenn unter Zeitdruck eine Lösung gefunden werden muss, was ein hohes Maß an Kreativität und Improvisation freisetzt. ETYMOLOGIE Wortgeschichtlich ist das Verbum reparieren im Dt. erst ab
Anfang des 20. Jhs. gebräuchlich.3 Es entsteht im 16. Jh. als Entlehnung aus dem lat. reparāre (‚wiederherstellen, ausbessern‘) und wird zunächst juristisch auf die Kompensation eines entstandenen Schadens bezogen. Entsprechend finden sich in Zedlers GROSSEM VOLLSTÄNDIGEN UNIVERSALLEXIKON ALLER WISSENSCHAFFTEN UND KÜNSTE von 1742 die Einträge „Reparation“, verstanden als „Gnugthuung wegen der angethanen Beschimpffung“, sowie „Reparatur der Kirchen“, die als Pflicht des Pfarrherrn ausgewiesen wird;4 ähnlich nennt auch Krünitz’ OECONOMISCHE ENZYKLOPÄDIE 1813 unter dem Stichwort „Reparatur“ die Verpflichtung zur Instandhaltung von Gebäuden und Schiffen.5 Das DEUTSCHE WÖRTERBUCH von Jacob und Wilhelm Grimm dagegen erwähnt das Wort reparieren noch nicht, wohl aber das Verbum wiederherstellen im Sinne der Instandsetzung von Dingen und Menschen,6 und auch
2 Ebd., S. 257. 3 Vgl. (Art.) reparieren. In: Pfeifer. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 4 (Art.) Reparation sowie (Art.) Reparatur der Kirchen. In: Zedler: Grosses vollständiges Uni-
versallexikon aller Wissenschafften und Künste, Sp. 634.
5 Vgl. (Art.) Reparatur. In: Krünitz. Oeconomische Enzyklopädie, S. 654–660. 6 Vgl. (Art.) Wiederherstellen. In: Grimm. Deutsches Wörterbuch, Sp. 1039–1042.
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auf den schlichten Hinweis: „Reparieren (lat.), wiederherstellen, ausbessern“.7 Ein weiterer Aspekt, der von historischen Lexika und Wörterbüchern nicht explizit behandelt wird, ist für die medientheoretische Dimension der Gebrauchsform des Reparierens von entscheidender Bedeutung. Das Präfix re verweist auf eine spezifische Zeitlichkeit des Reparierens, denn re–parāre meint, etwas wieder oder erneut funktionstüchtig, d.h. bereit zu machen (lat. parāre „bereiten, gehörig einrichten“).8 Das Reparieren kommt also auf etwas zurück, was bereits da war. Damit ist dem Reparieren eine Form der Wiederholung wesentlich, die Zeit benötigt und deshalb immer die Möglichkeit der Veränderung und Abweichung impliziert:9 Das re des Reparierens wird somit selbst zu einem Agenten der Transformation von Dingen. Vor Beginn des 20. Jhs. werden für Tätigkeiten des Wiederherstellens üblicherweise die Verben ausbessern, ganz bzw. gut machen und flicken genutzt. Dass es sich dabei keineswegs um marginale Praktiken handelt, verdeutlichen die zahlreichen Komposita im Wortfeld von flicken,10 aber auch seine breite Anwendbarkeit auf materiale wie abstrakte Sachverhalte. Geflickt werden nämlich nicht nur gegenständliche Objekte („netze, körbe, wagen, kessel, pfannen, scherben, häuser, dächer, brücken“11), sondern auch Körper, Institutionen und soziale Verhältnisse (Freundschaft) ebenso wie sprachliche Ausdrucksformen
Reparieren Etymologie
MEYERS GROSSES KONVERSATIONSLEXIKON beschränkt das Lemma 1907 noch
7 (Art.) Reparieren. In: Meyers Großes Konversationslexikon, Sp. 809; dies gilt ebenso für
(Art.) Reparatur. In: Brockhaus’ Kleines Konversationslexikon, S. 517.
8 (Art.) reparieren. In: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 758; zum
Präfix re- in der Bedeutung „wieder, zurück“ vgl. (Art.) re-. In: ebd., S. 748. 9 Bezogen auf die Relation von Zeit, Veränderung und Identität wäre an dekonstruktive Konzepte zu denken, etwa das der différance (etwas ist nicht mit sich selbst identisch) oder der Iterabilität (etwas kommt in verschobener Weise auf sich selbst zurück) (vgl. Derrida: Die différance. In: Ders.: Randgänge der Philosophie, S. 29–52; ders.: Signatur Ereignis Kontext. In: ebd., S. 291–314), aber auch an Gilles Deleuze Überlegungen zu Differenz und Wiederholung (Deleuze: Differenz und Wiederholung). 10 So nennt Adelungs GRAMMATISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DER HOCHDEUTSCHEN MUNDART etwa „Flickerey“, „Flickerlohn“, „Flickwand“, „Flickwêrk“, „Flickwort“ (Bd. 2, Sp. 204 f.), das DEUTSCHE WÖRTERBUCH verzeichnet darüber hinaus „Flickarbeit“, „Flickfleck“, „Flickleiter“, „Flickscheit“, „Flickschneider“, „Flickschuster“, „Flickzeug“ (Grimm. Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 1774–1777). 11 (Art.) Flicken. In: Grimm. Deutsches Wörterbuch, Sp. 1774.
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(„gedicht, lied, reim, sprache, wort und rede“).12 In Johann Georg Krünitz’ OEKONOMISCHER ENZYKLOPÄDIE wird das Ausbessern auf die Kunst des Ausbüßens bezogen, worunter speziell das Schließen von Löchern in Fischernetzen verstanden wird, dessen besondere Meisterschaft darin bestehe, „daß man nicht siehet, wo das Loch gewesen ist.“13 Auch das allgemeinere Wort büßen wird grundlegend im Sinne von ausbessern verstanden. Adelungs GRAMMATISCHKRITISCHES WÖRTERBUCH skizziert drei Bedeutungen des Verbs: In der ersten (und „eigentlichsten“) Bedeutung werde büßen als Aktivum im Sinne von „[a]usbessern, verbessern“ gebraucht („[d]ie Lücken an der Mauer büßen“, das heißt, einen Schaden wiedergutmachen), in der zweiten als Factitivum im Sinne von strafen (einen Mann „um hundert Seckel Silbers büßen“) und in der dritten als Neutrum im Sinne von „Strafe leiden“ („[e]r muß jetzt dafür büßen“).14 Wie beim Flicken lässt sich auch für das Verb büßen eine sowohl materialrechtliche wie auch eine geistig-moralische Dimension der Wiedergutmachung ausmachen. Damit aber haben Praktiken des Wiederherstellens einen sehr umfangreichen Anwendungs- und Geltungsbereich. KONTEXTE Im Rahmen der vorindustriellen Subsistenzwirtschaft hatten Verfahren des Ausbesserns und Instandhaltens eine hohe sozioökonomische Relevanz, da Arbeitskräfte preiswert waren, Materialien und Rohstoffe dagegen kostspielig.15 Das Reparieren war deshalb kein Armutsphänomen, sondern weit verbreitet. Es betraf alle Bevölkerungsschichten, fand sich im privaten wie öffentlichen Bereich und bezog sich ebenso auf das Wiederherstellen von Gebrauchsgegenständen (Hausrat, Kleidung) wie von Transportmitteln und Gebäuden. Zwar waren Handwerksberufe wie etwa Schlosser, Schneider, Töpfer oder Schuhmacher stets gleichermaßen für die Fertigung neuer wie das Reparieren gebrauchter Gegenstände zuständig. Dennoch galten Reparaturtätigkeiten als „‚mindere‘ Beschäftigung“, die weniger qualifizierte Gesellen, nicht-zünftische Akteure (etwa Störer) oder soziale Randgruppen
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61.
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Ebd., Sp. 1775. (Art.) Ausbüßen. In: Krünitz. Oekonomische Encyklopädie, S. 189. (Art.) Büßen. In: Adelung. Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Sp. 1278 u. 1279. Vgl. zum Folgenden Reith/Stöger: (Art.) Reparatur. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Sp. 58–
16 Ebd., Sp. 59; vgl. Glass: Reparierendes Handwerk. In: Flick-Werk, S. 37–39. 17 Vgl. Lenger: Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, S. 176–178. 18 Vgl. Reith/Stöger: Einleitung. Reparieren. In: Technikgeschichte 79, S. 180 f. 19 Sombart: Der moderne Kapitalismus. Bd. 3.2, S. 963. 20 Technische Kundendienste sind bislang wenig erforscht (vgl. Orland: Haushalt, Konsum und
Reparieren Kontexte
übernahmen.16 Im Zuge der Industrialisierung verloren Handwerksbetriebe im 19. Jh. zunehmend an Bedeutung, wodurch es in einigen Berufsfeldern zu einer Trennung von Neuproduktion und Reparatur kam:17 Der Schuhmacher wurde zum ‚Flickschuster‘.18 Da das „Gebiet der Reparaturarbeit“ aber, wie Werner Sombart in seiner Studie DER MODERNE KAPITALISMUS formuliert, „dem Kapitalismus [...] keine rechte Freude“ mache,19 konnte sich das Handwerk in diesem Bereich gegenüber der Industrie behaupten. Die Massenproduktion von Gebrauchsartikeln wie Nähmaschinen, Fahrrädern oder Automobilen sowie von Haushaltsgeräten wie Kühlschränken, Herden und Waschmaschinen brachte im 20. Jh. mit Reparatur-, Wartungs- und Kundendiensten sowie Pannenhilfen auch neue Formen des Reparierens hervor.20 Grundsätzlich unterschied sich die bezogen auf diese Massenkonsumgüter zu leistende Reparaturarbeit allerdings vom handwerklichen Ausbessern, denn sie setzte auf den Austausch von Ersatzteilen und basierte damit auf Prinzipien modularisierter und normierter Fertigung.21 Ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. bedeutete reparieren deshalb zunehmend nicht mehr die flickende Be- und Umarbeitung eines Dings, sondern vielmehr das Austauschen von vorgefertigten Komponenten.22 Weitere Veränderungen betrafen im 20. Jh. die Akteure des Reparierens. Neben professionelle Experten traten zunehmend auch eigenhändig reparierende Laien. Dabei waren nicht nur Kriegs- und Krisenzeiten durch einen erhöhten Reparaturbedarf gekennzeichnet,23 vielmehr lässt sich insbesondere
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Alltagsleben in der Technikgeschichte. In: Technikgeschichte 65, S. 286); eine Ausnahme stellt die Studie zum Kundenservice bei Xerox Fotokopierern dar, vgl. Orr: Talking About Machines. Zu Pannenhilfe und KFZ-Handwerk vgl. Krebs: „Notschrei eines Automobilisten“. In: Technikgeschichte 79, S. 185–206; Borg: Auto Mechanics. 21 Zu den Anfängen von Standardisierung und der Austauschbarkeit von Teilen im 19. Jh. vgl. Giedion: Mechanization Takes Command, S. 47 ff.; Houndshell: From the American System to Mass Production, 1800–1932, S. 17–50. 22 Vgl. Reith/Stöger: (Art.) Reparatur. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Sp. 61. 23 Zu Reparaturpraktiken während des Zweiten Weltkriegs vgl. etwa Sudrow: Reparieren im Wandel der Konsumregime. In: Technikgeschichte 79, S. 227–254.
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für das Automobil beobachten, dass bürgerliche ‚Selbstfahrer‘ auch selbst reparieren können wollten.24 Zum Element von Alltagskultur wurde ein solches Selbst-Reparieren allerdings erst durch die Do-it-Yourself-Bewegung und das Heimwerken in den 1960er Jahren.25 Zum anderen erfolgte mit dem Entstehen der Konsumgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und der damit einhergehenden Verbreitung von Einwegartikeln eine grundsätzliche Veränderung im Umgang mit den Dingen und damit auch der Einstellung zum Reparieren.26 Zwar blieb das Reparieren bei kostenintensiven Infrastrukturen, Gebäuden und Maschinen weiterhin relevant, es verlor allerdings seine Bedeutung für das Alltagsleben, insbesondere den eigenen Hausrat. Die zunehmende Zahl von Konsumgegenständen („Dinginflation“)27 machte dabei Praktiken des Aussortierens,28 der Müllentsorgung,29 aber auch ökonomisch kalkulierte Lebensdauern (geplante Obsoleszenz)30 zum Problem. Aus kulturvergleichender Perspektive sind insbesondere der lokal und situativ angepasste Charakter von Reparaturpraktiken im Sinne einer „creole technology“31 wie auch Kaskaden einer Zweit- und Drittverwertung von Dingen von Bedeutung.32 Anders als in vorindustrieller Zeit führen diese Nutzungskaskaden unter
24 Vgl. Krebs: „Notschrei eines Automobilisten“. In: Technikgeschichte 79, S. 192–194. 25 Vgl. Langreiter/Löffler (Hrsg.): Selber machen; Rosner/Turner: Theaters of Alternative In-
dustry. In: Plattner et al. (Hrsg.): Design Thinking Research, S. 59–69; zur maskulinen Prägung des Heimwerkens vgl. Voges: „Selbst ist der Mann“. 26 Vgl. König: Geschichte der Konsumgesellschaft; Sachs/Scherhorn: (Art.) Überfluss, Überflussgesellschaft. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 27–30. 27 Heßler: Wegwerfen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16, S. 255 sowie 258–260. 28 Vgl. Gregson et al.: Moving Things Along. In: Transactions of the Institute of British Geographers 32, S. 187–200. 29 Vgl. Weber: Entschaffen. In: Technikgeschichte 81, S. 1–32; Kuchenbuch: Abfall. In: Soeffner (Hrsg.): Kultur und Alltag, S. 155–170; Heßler: Wegwerfen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16, S. 253–266. Mit Blick auf die zugrunde liegenden Devaluierungsprozesse Thomspon: Rubbish Theory; Strasser: Waste and Want. 30 Vgl. McDonough/Braungart: Cradle to Cradle. Zu geplanter Obsoleszenz vgl. Weber: Made to Break? In: Krebs/Schabacher/Weber (Hrsg.): Kulturen des Reparierens, S. 49–83; Slade: Made to Break; Krajewski: Fehler-Planungen. In: Technikgeschichte 81, S. 91–114. 31 Edgerton: Shock of the Old, S. 43. 32 Für die historische Perspektive vgl. Fennetaux/Junqua/Vasset (Hrsg.): The Afterlife of Used Things; Stöger: (Art.) Trödel. In: Enzyklopädie der Neuzeit, S. 791–793; Fontaine (Hrsg.): Alternative Exchanges.
KONJUNKTUREN Heuristisch lassen sich in der Geschichte des Reparierens mehrere Umbrüche markieren, die dessen Wertschätzung und Stellenwert verändern. Im Übergang von der vorindustriellen Knappheitsökonomie zu industriell-mechanisierter Produktion im 19. Jh. findet durch die gewerbliche Entkoppelung von Neuproduktion und Reparatur eine erste Abwertung des Reparierens statt, die vor allem die ausführenden Personen und Berufsgruppen (Handwerk) betrifft. Mit dem Wandel von der Industriegesellschaft zur Konsumgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg folgt eine zweite Abwertung des Reparierens, die sich auf die Ebene der Dinge bezieht, insofern Wegwerfartikel gar nicht mehr auf eine Reparatur hin entworfen werden. In der Folge der Umweltbewegung seit den 1970er Jahren, der Nachhaltigkeitsdebatte sowie der Diskussion um den Klimawandel in der vergangenen Dekade lässt sich
Reparieren Konjunkturen
Globalisierungsbedingungen nicht mehr von oberen zu unteren Schichten, sondern von reicheren in ärmere Regionen.33 Die kulturvergleichende Perspektive macht so den eurozentrischen Charakter zahlreicher Vorstellungen des Verhältnisses von Infrastruktur, Störung und Reparatur offenkundig. In der westlichen Welt ist das reibungslose Funktionieren von Infrastrukturen derart selbstverständlich, dass die vielfältigen Tätigkeiten ihrer Aufrechterhaltung oft unbemerkt bleiben;34 im Global South dagegen sind Reparaturen an der Tagesordnung, was nahelegt, dass auch die Technologien der westlichen Welt grundsätzlich fragil sind und nur durch entsprechende Maßnahmen des Reparierens und Wartens in einem stabilen Zustand gehalten werden.35
R 33 Vgl. etwa Studien zur Weiternutzung von Fahrrädern und Mobiltelefonen bzw. Gebraucht-
schuhen in West- bzw. Ostafrika Hahn: Das ‚zweite Leben‘ von Mobiltelefonen und Fahrrädern. In: Krebs/Schabacher/Weber (Hrsg.): Kulturen des Reparierens, S. 105–119; Malefakis: „Tansanier mögen keine unversehrten Sachen“. In: Krebs/Schabacher/Weber (Hrsg.): Kulturen des Reparierens, S. 303–326. 34 Vgl. Graham/Thrift: Out of Order. In: Theory, Culture & Society 24, S. 1–25. 35 Steven J. Jackson fordert deshalb ein Umdenken, ein „broken world thinking“, das den fortwährenden Zusammenbruch von Technologien zum Ausgangspunkt von deren Reflexion mache, vgl. Jackson: Rethinking Repair. In: Gillespie/Boczkowski/Foot (Hrsg.): Media Technologies, S. 221. Zum Verfall von Technologien, bei denen diese Aufrechterhaltung ausfällt, vgl. Schabacher: Abandoned Infrastructures. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 9, S. 127– 145.
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Reparieren Konjunkturen
derzeit eine Aufwertung des Reparierens beobachten, die sich vor allem mit einer neuen Wertschätzung der Dinge verbindet. Die Bewertung des Reparierens lässt sich anhand von vier Aspekten genauer fassen. Der erste betrifft Fragen der Transformation. Schon bezogen auf die Etymologie wurde ausgeführt, dass das re des Reparierens einen Akt der Wieder-Herstellung impliziert, der auf einen zurückliegenden Zustand bezogen ist, als Prozess aber Zeit benötigt und insofern immer die Möglichkeit der Veränderung beinhaltet.36 Wie das antike Bild des beständig im Umbau begriffenen Schiffs der Argonauten verdeutlicht,37 steht die Identität des reparierten Dings in Frage. Denn die Arbeit der Reparatur verändert den Gegenstand. Ein repariertes Mobiltelefon ist nicht mehr dasselbe Gerät wie vor der Reparatur: „The phone has become in effect a different object: new but not radically new, separated from and connected to its past by the forms of breakdowns, maintenance, and repair through which is has passed.“38 Eine Wiederherstellung ist also immer auch ein Akt des Produzierens, weshalb das Reparieren als kreativer Prozess zu verstehen ist, der mit der „fluidity“ und „adaptability“ von Technologie einhergeht und Elemente der Bastelei und Improvisation beinhaltet.39 Die Kreativität des Bastlers besteht nach Claude Lévi-Strauss vor allem in seiner Fähigkeit, „jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen“,40 d.h., der Bastelnde muss auf eine „bereits konstituierte Gesamtheit von Werkzeugen und Materialien zurückgreifen“, um die Antwort auf ein bestimmtes Problem zu ermitteln.41 Das Reparieren ist eine situativ eingebettete Tätigkeit, eine „skilled performance“,42 die von den impliziten Fähigkeiten und dem Repara-
36 Eine vergleichbare Logik transformativer Abweichung beschreibt Bruno Latours Konzept
des Re-Design, vgl. Latour: A Cautious Prometheus? In: Glynne/Hackney/Minton (Hrsg.): Networks of Design, S. 2–10. 37 Vgl. Barthes: Über mich selbst, S. 50 f. 38 Jackson: Speed, Time, Infrastructure. In: Wajcman/Dodd (Hrsg.): The Sociology of Speed, S. 179. 39 Laet/Mol: The Zimbabwe Bush Pump. In: Social Studies of Science 30, S. 225 u. 226. Zu Kreativität und Improvisation des Reparierens vgl. etwa Henke: The Mechanics of Workplace Order. In: Berkeley Journal of Sociology 44, S. 55–81. 40 Lévi-Strauss: Das Wilde Denken, S. 30. 41 Ebd., S. 31. 42 Henke: The Mechanics of Workplace Order. In: Berkeley Journal of Sociology 44, S. 61.
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turwissen43 der Akteure ebenso abhängt wie vom räumlich-infrastrukturellen Setting der gegebenen Situation. Die Bastelei kann dabei zum Workaround werden. Denn ein Workaround stellt nicht die ‚eigentliche‘ Reparatur dar, sondern vielmehr eine Behelfslösung, die in der Regel deshalb notwendig wird, weil Zeit und Materialien für eine ‚richtige‘ Lösung fehlen.44 Da Workarounds trotz ihres provisorischen Charakters häufig lange bestehen, repräsentieren sie eine Aneignungsform von Technik, der – etwa auch bei Formen der Zweckentfremdung – ein subversiver Gestus zukommt.45 Ein zweiter Aspekt betrifft die vermeintliche Unsichtbarkeit des Reparierens. Reparieren gehört zu einer Gruppe von Tätigkeiten, die im Rahmen der Infrastrukturforschung als unsichtbare Arbeit bezeichnet werden. Gemeint sind Formen der Arbeit, die für das Funktionieren von Infrastrukturen unabdingbar sind, gleichwohl aber selten explizit werden. Dies betrifft nicht allein „shadow work“ im Sinne von unbezahlter Arbeit in der Industriegesellschaft (etwa Hausarbeit),46 sondern vielmehr die grundsätzliche Frage, welche Arbeit ‚zählt‘ und für wen diese sichtbar bzw. unsichtbar ist.47 Als wiederkehrende Routinen und Servicedienste, oft von Personengruppen mit geringerem gesellschaftlichen Ansehen durchgeführt, werden Reparaturarbeiten häufig kaum wahrgenommen. Hinzu kommt zudem eine strukturelle Form der Invisibilisierung. Diese hat mit dem intendierten Ziel der Reparatur zu tun, möglichst keine Spur des Reparaturvorgangs mehr zu zeigen. Ein Restaurator muss „die
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43 Vgl. Harper: Working Knowledge. 44 Vgl. Schabacher: Im Zwischenraum der Lösungen. In: Brohm et al. (Hrsg.): Workarounds,
S. XIII–XXVIII; Gießmann/Schabacher: Umwege und Umnutzung. In: Diagonal, S. 13–26; Brohm et al. (Hrsg.): Workarounds. 45 Vgl. etwa Sohn-Rethel: Das Ideal des Kaputten. In: Ders.: Das Ideal des Kaputten, S. 31–35; zur Geschichte des Konzepts der Zweckentfremdung vgl. Halder: Von der Subversion zur Strategie. In: Keller/ Dillschnitter (Hrsg.): Zweckentfremdung, S. 201–216. 46 Illich: Shadow Work. 47 Vgl. Star/Strauss: Layers of Silence, Arenas of Voice. In: Computer Supported Cooperative Work 8, S. 9–30.
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eigene Arbeit zum Verschwinden“ bringen,48 ebenso wie Reparaturmechaniker ihre Arbeiten abgeschlossen haben müssen, damit die Wiederherstellung eines ‚ungestörten‘ Zustandes erreicht ist, in dem Technologien alltäglich und reibungslos funktionieren, was immer auch heißt, dass Reparateure abwesend sind.49 Der dritte Punkt gilt der spezifischen Zeitlichkeit des Reparierens. Das Reparieren hat insofern eine „retrospektiv[e]“ Ausrichtung,50 als es auf die Wiederherstellung eines früheren Zustands gerichtet ist und auf eine Störung oder Irritation reagiert. Darin unterscheidet es sich vom Warten (engl. maintenance),51 das als prospektiver Akt der Sorge52 nicht beim defekten Ding oder dem Nicht-Funktionieren ansetzt, sondern auf dessen Zukunft hin orientiert ist und eine solche Störung gerade vermeiden will. Dies impliziert regelmäßige Tätigkeiten der Pflege, bei Maschinen etwa das Reinigen und Ölen von Komponenten bzw. Austauschen von Verschleißteilen, bei Pflanzen das Wässern oder Beschneiden, bei Menschen z.B. Praktiken der Hygiene oder richtige Ernährung. Historisch betrachtet verbinden damit Praktiken der Wartung vormoderne Kulturtechniken des Wartens im Sinne von cultura (abgeleitet von lat. colere „pflegen, bebauen“)53 mit modernen Wartungsverfahren, wobei die zyklische Wiederkehr dieser Praktiken beiden gemeinsam ist.54 Diese wiederkehrende Beschäftigung geht einher mit einer spezifischen
48 Sennett: Zusammenarbeit, S. 286. Ein solches Restaurationsverständnis wirft im Rahmen
konservatorischer Arbeit neue Fragen auf, da ein Tilgen der Beschädigungsspuren etwa eines Gemäldes auch als Eingriff in dessen Gebrauchs- und Rezeptionsgeschichte zu verstehen ist. Insofern ist bei einer Restauration jeweils zu klären, was als ‚Originalzustand‘ des Objekts wiederhergestellt werden soll (vgl. ebd.). 49 Vgl. Henke: The Mechanics of Workplace Order. In: Berkeley Journal of Sociology 44, S. 73. 50 Lévi-Strauss: Das Wilde Denken, S. 31. 51 Zu maintenance vgl. Russell/Vinsel: After Innovation, Turn to Maintenance. In: Technology and Culture 59, S. 1–25; Denis/Pontille: Material Ordering and the Care of Things. In: Science, Technology & Human Values 40, S. 338–367; Gregson/Metcalfe/Crewe: Practices of Object Maintenance and Repair. In: Journal of Consumer Culture 9, S. 248–272. 52 Zur Frage der Sorge vgl. Puig de la Bellacasa: Matters of Care; Mol/Moser/Pols (Hrsg.): Care in Practice. Vgl. hier auch Bruno Latours Konzept der matters of concern, Latour: From Realpolitik to Dingpolitik. In: Making Things Public, S. 4–31. 53 (Art.) Kultur. In: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 545. 54 Zur Zeitlichkeit des Wartens vgl. auch Schabacher: Waiting. In: Dünne et al. (Hrsg.): Cultural Techniques, S. 71–84; Schabacher: Time and Technology. In: Volmar/Stine (Hrsg.): Hardwired Temporalities.
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55 Vgl. Hennion: Offene Objekte, Offene Subjekte. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturfor-
schung, S. 93–109; Latour: Aramis, or the Love of Technology. 56 Vgl. Harper: Working Knowledge; Krebs: „Dial Gauge versus Senses 1-0“. In: Technology and Culture 55, S. 354–389. Ähnliches gilt auch für die Wartung gealterter Maschinen und Systeme, vgl. Cohn: Convivial Decay. In: CSCW ’16, S. 1513. 57 Vgl. zum Konzept der Eigenzeitlichkeit auch Gamper/Hühn (Hrsg.): Zeit der Darstellung. 58 Jackson: Speed, Time, Infrastructure. In: Wajcman/Dodd (Hrsg.): The Sociology of Speed, S. 179. 59 Vgl. Rosa: Beschleunigung. 60 Vgl. hierzu bereits Marx’ Überlegungen zur Identität von Produktion und Konsumtion, Marx: Einleitung [Zur Kritik der politischen Ökonomie]. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 13, S. 615–641. 61 Vgl. Reith: Recycling. In: Hahn/Reith (Hrsg.): Umwelt-Geschichte, S. 99–120. 62 Zum modernen Recycling vgl. MacBride: Recycling Reconsidered; Gandy: Recycling and the Politics of Urban Waste.
Reparieren Konjunkturen
Aufmerksamkeit für den Gegenstand der Wartung, was einer der Gründe für die affektive Beziehung zu ihm ist.55 Das Warten ist somit ein Tun, das seine Zeitlichkeit von diesem spezifischen Achten auf ein Ding erfährt, dem es folgt, um es zu erhalten. Daher rührt das Gespür von Reparateur*innen und Wartungstechniker*innen für ‚ihre‘ Gegenstände, das sie auch als Diag noseinstrument einsetzen.56 Das Warten verbindet sich so mit einer spezifischen Eigenzeitlichkeit der Dinge,57 die von Wartenden unter anderem verlangt, auszuharren und den Dingen ihre Zeit zu geben. Es handelt sich um ein „staying with in time and place“, also ein Sich-Einstellen auf die anderen Temporalitäten von Zusammenbruch und Verfall.58 Sowohl die retrospektive Zeitlichkeit des Reparierens wie auch die prospektive Zeitlichkeit des Wartens lassen sich als Gründe für die Abwertung dieser Praktiken verstehen, da beide quer zur Logik industrieller und kapitalistischer Beschleunigung und damit schneller Veraltung stehen,59 die beständig neue Konsumbedürfnisse erzeugt.60 Der vierte Aspekt schließlich betrifft den spezifischen Dingbezug des Reparierens. In diesem Zusammenhang ist auf den Unterschied zwischen Reparieren und Recycling zu verweisen. Zwar hat das Recycling seine historischen Wurzeln auch in der Knappheitsökonomie und ihrer restlosen Verwertung von Dingen,61 bedeutsam wird die Differenz von Reparieren und Recycling aber vor allem unter kapitalismus- und konsumkritischen Vorzeichen. Denn während das Wiederverwerten ein mehr oder minder kurzlebiges Produkt in seine Bestandteile zerlegt, um diese erneut der Wertschöpfung zuzuführen,62
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richtet sich das Weiterverwenden auf das Ding in seiner Ganzheit. Während bei einer solchen Weiternutzung also der Gebrauchswert eines Produkts und damit sein Charakter als Zeug im Vordergrund stehen, sind es beim Wiederverwerten der Tauschwert des Produkts und seine Objekthaftigkeit. Die beschriebenen Auf- und Abwertungen des Reparierens haben so verstanden auch mit der Relevanz von Dingen in unserer Kultur zu tun: In modernen Kreisläufen der Wiederverwertung verlieren Dinge ihre Relevanz, während sie diese in den Nutzungskaskaden sekundärer und tertiärer Märkte behalten.
Reparieren Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Das Feld möglicher Gegenbegriffe zum Reparieren orga-
nisiert sich entlang des Gegensatzes alt/neu. Das Neue hat in der Kultur der westlichen Moderne einen hohen Stellenwert,63 während das Alte zwar mit Blick auf Tradition und Geschichte geschätzt wird (Dokument, Denkmal, Oldtimer), das Gebrauchte im Sinne des schon einmal Benutzten dagegen allerdings deutlich an Wert einbüßt. Dies stellt einen großen Unterschied etwa zur japanischen Kultur dar, wo die Patina des Gebrauchs den Wert eines Dings erhöht.64 Aufgrund dieser Bewertung des Verhältnisses von alt und neu wird das Reparieren erstens im Alltagsverständnis häufig als gegenüber dem Erfinden nachrangige, sekundäre Praxis verstanden, was Innovation und Reparatur zu komplementären Begriffen macht. Wie beim Wieder-Herstellen bereits deutlich wurde, impliziert aber jede Reparatur immer auch Innovation (Veränderung, Umarbeitung, Erneuerung), während umgekehrt Innovationen oft Reparaturen beinhalten.65 Zweitens ist das Reparieren dem Wegwerfen entgegenzustellen. Steht das Reparieren für eine erhaltende und damit antikapitalistische Praxis, repräsentiert das Wegwerfen die ökonomisch kalkulierte, schnelle Veraltung und Vernichtung von Dingen. Während das Wegwerfen dem Ding seinen Wert entzieht und es zu Müll macht,66 verleiht der Akt des 63 Vgl. hierzu Groys: Über das Neue. Zur ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘ vgl. Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der „Querelle des Anciens et des Modernes“. In: Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences (Nachdr.), S. 8–64. 64 Vgl. Tanizaki: Lob des Schattens. 65 Zu denken wäre hier etwa an die sogenannten Verbesserungsinnovationen und Anpassungsinnovationen, vgl. Höft: Lebenszykluskonzepte, S. 5–10. 66 Vgl. Thomspon: Rubbish Theory.
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PERSPEKTIVEN Gegenwärtig ist ein zunehmendes Interesse an Fragen des Reparierens zu beobachten. Neben einer beständig wachsenden Menge an Ratgeberliteratur, Foren, Bastel- und Heimwerkerausstattung, die Lösungen für jede Art von Problem versprechen, manifestiert sich ein Repair Movement im engeren Sinne vor allem in Gestalt von Repair Cafés sowie Onlineplattformen wie iFixit. Repair Cafés entstehen seit den 2010er Jahren in zahlreichen westlichen Großstädten. Es handelt sich um Veranstaltungen, bei denen ehrenamtliche ‚Expert*innen‘ (Handwerker*innen wie Amateur*innen) das gemeinschaftliche Reparieren von Haushaltsgegenständen (etwa Kaffeemaschinen oder Toastern) sowie Hifi-Geräten oder Druckern anleiten.67 Demgegenüber ist das 2003 in Kalifornien gegründete Webportal iFixit (ifixit.com) darauf ausgerichtet, die User*innen selbst zum Austausch der defekten Teile ihrer Konsumerelektronikprodukte (Smartphones, Laptops, Spielekonsolen) zu befähigen. Zur Anschauung werden in firmeneigenen Videos Geräte minutiös zerlegt (teardowns) und Austauschreparaturen Schritt für Schritt vorgeführt, nicht ohne allerdings die benötigten Ersatzteile und Tool-Kits im eigenen Onlineshop zu vermarkten. Das von Repair-Initiativen propagierte Reparaturdenken nimmt Elemente der Nachhaltigkeitsdebatte, des gemeingutorientierten Commonismus sowie des Konvivialismus auf68 und geht mit Ideen der Selbst-Ermächtigung des reparierenden Subjekts einher, die historisch auf die Do-it-Yourself-Bewegung Bezug nehmen und gegenwärtig in der stärker ökonomisch informierten Maker Culture zu beobachten sind.69 Dabei beinhaltet das Selbstverständnis der Repair-Bewegung widersprüchliche Vorstellungen. Das in „(self-)repair
Reparieren Perspektiven
Reparierens ihm Wert. Dinge sind also nicht ontologisch wertvoll oder nicht, sondern ihr Wert wird durch unsere Umgangsweisen mit ihnen bestimmt.
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67 Zu Repair Cafés vgl. Grewe: Teilen, Reparieren, Mülltauchen, S. 145–192; Kannengießer:
Repair Cafés. In: Krebs/Schabacher/Weber (Hrsg.): Kulturen des Reparierens, S. 283–301.
68 Vgl. hierzu Baier et al. (Hrsg.): Die Welt reparieren; Helfrich/Bollier: Frei, Fair & Lebendig;
Adloff/Heins (Hrsg.): Konvivialismus; Heckl: Die Kultur der Reparatur. Zu den Hoffnungen der Reparaturkultur vgl. auch Blau et al.: Die Reparaturgesellschaft. 69 Vgl. Anderson: Makers.
363
Reparieren Forschung
manifestos“ geforderte Recht auf Reparatur, die generelle repairability der Dinge,70 paart sich mit affirmativen Zugeständnissen an die heutige Technokultur (etwa FabLabs71) sowie der Idee ökonomischer Kosteneffizienz („Repair saves you money“). Vor dem Hintergrund von Klimawandel, Anthropozän-Debatte und Nachhaltigkeitsdenken zeigt sich derzeit also eine prinzipielle Aufwertung bzw. Wiederentdeckung des Reparierens, das konsumkritisch einen Ressourcen schonenden Umgang mit den Dingen darstellt. Einer breiteren Wiederaufnahme des Reparierens steht allerdings die modische Inflationierung von Modellen, Updates und Fashion im Rahmen einer „Gesellschaft der Singularitäten“72 entgegen. Welche Diskrepanz zwischen massenproduzierten Kleidungsstücken und den Kosten für ihre Reparatur besteht, zeigen Künstlerinnen und Aktivistinnen wie Miriam Dym, die etwa in einer Ausstellung eine H&M-Jeans ihres Sohnes flickte und den Eingriff durch leuchtend grünes Garn markierte.73 FORSCHUNG In der Forschung führte das Reparieren lange ein „Schattendasein“.74 Abgesehen von Einzelstudien (Harper, Orr)75 wird es erst seit rund zehn Jahren explizit zum Thema gemacht. Technikhistorisch steht das Reparieren für eine innovationskritische Forschungsperspektive, die insbesondere die reparierten Artefakte sowie die involvierten Akteure in den Blick nimmt.76 Aus dem Horizont von Science and Technology Studies, Urban Studies sowie humangeografischen Perspektiven gilt die Aufmerksamkeit
70 Vgl. die „Right to repair“-Rubrik der Website von iFixit.com: Repairable Products Make
Good Sense – ifixit. Unter: https://www.ifixit.com/Right-to-Repair/Repairable-Products [aufgerufen am 26.07.2020]. 71 FabLabs stellen unter anderem für Reparaturen benötige Ersatzteile mit 3D-Druckern selbst her; vgl. hierzu Walter-Herrmann/Büching (Hrsg.): FabLab. 72 Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten. 73 Vgl. Rosner/Turner: Theaters of Alternative Industry. In: Plattner et al. (Hrsg.): Design Thinking Research, S. 64; zum sogenannten visible mending vgl. Derwanz: Zwischen Kunst, Low-Budget und Nachhaltigkeit. In: Krebs/Schabacher/Weber (Hrsg.): Kulturen des Reparierens, S. 197–224. 74 Reith/Stöger: Einleitung. Reparieren. In: Technikgeschichte 79, S. 176. 75 Vgl. Harper: Working Knowledge; Orr: Talking About Machines; zu erwähnen ist hier ebenfalls eine frühe kulturanthropologische Perspektive mit dem Ausstellungskatalog FLICK-WERK. 76 Zur Technikgeschichte des Reparierens vgl. Reith/Stöger: Einleitung. Reparieren. In: Technikgeschichte 79, S. 173–184; Jervis/Kyle (Hrsg.): Make-do and Mend. Vgl. ferner Krebs/Schabacher/Weber (Hrsg.): Kulturen des Reparierens.
364
Reparieren Forschung
den Praktiken, Wissensbeständen sowie situativen Einbettungen des Reparierens, wobei dies ethnografisch an konkreten Fallstudien untersucht wird.77 Wo das Reparieren kulturvergleichend behandelt wird, steht unter anderem die Korrektur eurozentrischer Annahmen über das Verhältnis von Normalität, Störung und Reparatur zugunsten eines „broken world thinking“78 zur Diskussion. Inzwischen hat sich das Feld der Repair Studies etabliert; ebenso wurde das Thema der Sorge im Rahmen der sogenannten Care Studies verstärkt zum Thema gemacht.79 Medienkulturwissenschaftlich wiederum wurde das Reparieren bislang wenig thematisiert; erst auf der Basis der verstärkten Erforschung von Kulturtechniken,80 insbesondere als auf die materielle Kultur bezogener Praktiken,81 lässt sich auch das Reparieren als grundlegende Kulturtechnik fassen. Die Stabilität von Infrastrukturen etwa verdankt sich einer stetigen Arbeit der Instandhaltung und Stabilisierung durch Prozesse der Reparatur und Wartung. Damit erweist sich das Reparieren aus medienkulturwissenschaftlicher Perspektive als eine permanente Arbeit der Transformation und Stabilisierung. Das Reparieren ist also eine basale Umgangsform mit der technisch-materialen Seite von Kultur und Gesellschaft.
77 Vgl. Henke: The Mechanics of Workplace Order. In: Berkeley Journal of Sociology 44, S. 55–
81; Strebel/Bovet/Sormani (Hrsg.): Repair Work Ethnographies; Martínez/Laviolette (Hrsg.): Repair, Brokenness, Breakthrough; Dant: The Work of Repair. In: Sociological Review Online 15. Unter: http://www.socresonline.org.uk/15/3/7.html [aufgerufen am 27.07.2020]. 78 Jackson: Rethinking Repair. In: Gillespie/Boczkowski/Foot (Hrsg.): Media Technologies, S. 221. 79 Dabei werden auch ethische und politische Implikationen sowie der Genderbias von Sorge arbeit verhandelt; vgl. etwa Abel/Nelson (Hrsg.): Circles of Care; Tronto: Moral Boundaries; Butler: Precarious Life. 80 Vgl. Siegert: Cultural Techniques; Krämer/Bredekamp: Kultur, Technik, Kulturtechnik. In: Dies. (Hrsg.): Bild – Schrift – Zahl, S. 11–22; Dünne et al. (Hrsg.): Cultural Techniques. 81 Vgl. etwa Körpertechniken (Schüttpelz: Körpertechniken. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, S. 101–120), kulturtechnische Operationen von Architektur (Schäffner: Elemente architektonischer Medien. In: ebd., S. 137–149; Siegert: Türen. In: ebd., S. 151–170), sowie von Verkehr und Infrastruktur (Neubert/Schabacher: Verkehrsgeschichte an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien. In: Dies. (Hrsg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft, S. 7–45).
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RHYTHMISIEREN JÖRN ETZOLD
Rhythmisieren Anekdote
ANEKDOTE Der Taiwanesische Pavillon der Venedig Biennale 2017 zeigte
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unter dem Titel Doing Time Arbeiten des Performance-Künstlers Tehching Hsieh. Zwei Arbeiten standen im Zentrum der Retrospektive: Die One Year Performance 1981–1982 (Outdoor Piece), während derer Hsieh sich verbot, geschlossene Räume aller Art, inklusive Autos, Züge oder Zelte zu betreten, sodass er ein Jahr in New York auf der Straße lebte – und die direkt vorausgehende One Year Performance 1980–1981 (Time Clock Piece). Während dieser Arbeit nahm Hsieh ein Jahr lang, Tag und Nacht, mithilfe einer mit einer Stechuhr verbundenen 16mm-Film-Kamera stündlich ein Selbstporträt auf. Er unterbrach daher seinen Schlaf für die Aufnahmen und konnte nie länger als eine knappe Stunde das Haus verlassen. Die Performance strukturierte ein ganzes Jahr lang sein Leben, rhythmisierte es auf rigide und erbarmungslose Weise. Ein zur Kontrolle von Arbeitszeit erfundenes Gerät war dabei mit einem analogen Speichermedium verbunden: Die Bilder ergaben dann einen sechsminütigen Film, in dem man unter anderem sehen konnte, wie Hsiehs Haare wuchsen.1 Hsieh rhythmisierte seinen Alltag einfach und mit großer Strenge. Er formulierte eine abstrakte Regel, der er sich vollkommen unterwarf und die alle anderen Tätigkeiten bestimmte. Doch handelte es sich hier überhaupt um eine Rhythmisierung? Oder ist es gerade die strenge Wiederholung der immer gleichen Geste, die Homogenisierung von Tag- und Nachtstunden, die jeden Rhythmus als lebendige Variation überdeckt und abtötet? Zumindest in der Vorstellung der meisten europäischen Zeitgenoss*innen dürfte eine gelungene Rhythmisierung des Alltags mit mehr Leichtigkeit, mit dem Wechsel von Anund Entspannung, Schlaf- und Wachphasen zu tun haben. Eine Rhythmisierung soll einer gewissen Ordnung unterliegen, aber dennoch in irgendeiner Form frei und beweglich bleiben. Auch in der Musik bedeutet „Rhythmus“
1 57. Biennale Venedig 2017: Taiwan Pavillon. Unter: https://universes.art/de/biennale-vene-
dig/2017/taiwan [aufgerufen am 13.10.2020].
372
etwas anderes als Takt oder Metrum: Der Takt bestimmt die Zählung, sei es ein 3/4- oder 5/8-Takt. Das Metrum (aus griech. metron: Maß) bestimmt die Betonung der Taktteile in einem Takt. Der Rhythmus aber wäre die Art und Weise, wie das Metrum jeweils umspielt und variiert – aber eben nicht aufgegeben – wird. Ist der strenge Takt von Hsiehs Timeclock Piece eine Rhythmisierung oder nur die Unterwerfung des Lebens unter einen maschinellen Takt?
mance das Leben des Künstlers, sodass es nahezu mit der Regel eins wird. Solange die Regel gilt, gibt sie dem Leben Form. Das Wort rhythmisieren definiert der DUDEN mit „in einen bestimmten Rhythmus bringen“2 – wobei die Frage ist, was den Rhythmus „bestimmt“ oder macht, dass er bestimmbar ist. Eine gewisse Bestimmbarkeit ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass wir ein Gefüge als rhythmisiert wahrnehmen: Wir müssen Wiederholungen und Mikrostrukturen erkennen. Dass Rhythmus aber ein Formbegriff ist, hat Émile Benveniste in einem grundlegenden Artikel erklärt, und eine wichtige Erkenntnis seiner etymologischen Erforschung des Wortes ist, dass im Rhythmus schon immer das Rhythmisieren enthalten ist. Dabei wendet sich Benveniste zunächst gegen die gängige Ableitung von rhythmós aus rheīn, „fließen“, die zudem im Zusammenhang mit der „Bewegung der Wellen“ stehen soll, da jene im Geist des Menschen „die Vorstellung von Rhythmus entstehen“ ließe.3 Benveniste stellt hingegen sehr richtig fest, „daß aber das Meer nicht
2 Dudenredaktion: (Art.) Rhythmisieren. In: Duden Wörterbuch. Unter: https://www.duden.
Rhythmisieren Etymologie
ETYMOLOGIE In jedem Fall formt die strenge Vorschrift in dieser Perfor-
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de/suchen/dudenonline/rhythmisieren [aufgerufen am 07.03.2020].
3 Benveniste: Der Begriff des „Rhythmus“ und sein sprachlicher Ausdruck. In: Ders.: Prob
leme der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 363–374, hier: S. 364. Eben jene Ableitung findet sich auch bei Kluge: „entlehnt aus l. rhythmus, dieses aus gr. rythmós, eigentlich ‚das Fließen‘ zu gr. reīn, ‚fließen, strömen‘. Wohl so bezeichnet nach der Bewegung von Meereswellen.“ Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 764. Auch Wolfgang Pfeifer schreibt: „von lat. rhythmus, griech. rhythmós [...] ‚gleichmäßige, taktmäßige Bewegung, Takt, Zeitmaß, Gleichmaß‘, eigentlich ‚Strömen, Strom‘ (als Sinnbild einer steten und gleichförmigen Bewegung, wohl der Meereswellen), Bildung zu griech. rheīn ([...] ‚fließen, strömen‘.“ So bestimmt Pfeifer Rhythmus auch als „zeitliches Ebenmaß, gleichmäßige Gliederung eines Ton- oder Bewegungsablaufs, gleichmäßige Wiederkehr von Vorgängen“. Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch. Unter: https://www.dwds.de/wb/Rhythmus [aufgerufen am 16.11.2020].
373
Rhythmisieren Kontexte
‚fließt‘.“4 Nicht aus dem – mit „Fließen“ auch falsch benannten – regelmäßigen Kommen und Gehen der Wellen, nicht aus der Beschreibung eines natürlichen Vorgangs also sei der Begriff rhythmós abgeleitet, vielmehr heiße das Wort „immer ‚Form‘, wobei damit die distinktive Form gemeint ist, die Anordnung der Teile in einem Ganzen.“5 Es wird verwendet, um „die individuelle und distinktive ‚Form‘ des menschlichen Charakters zu definieren“; im Sinne von „Veranlagungen“.6 Bei Theokrit finde es sich in der Bedeutung von „Haltung“7 und bei Sophokles findet Benveniste das Verb rhythmiso in der Bedeutung von „vorstellen, lokalisieren“.8 Arrhythmós hingegen sei bei Euripides eine „unproportionierte Leidenschaft“, die jede Haltung, Vorstellung und Form überschreite. Das Wort rhythmós bedeute also „‚distinktive Form, proportionierte Figur; Veranlagung‘ in den vielfältigsten Anwendungen.“9 Eine morphologische Besonderheit unterscheidet rhythmós zudem von den anderen Formbegriffen des Griech. – schēma, morphē, eidos: seine Endung auf -(th)mós. Jene gebe „nicht die Vollendung des Begriffs an, sondern die besondere Modalität der Vollendung, wie sie sich der Anschauung darbietet.“10 Rhythmós bezeichnet also einen je besonderen Modus, eine Art und Weise. Was rhythmisiert wird, wird der Etymologie zufolge also in eine prekäre und instabile Form gebracht. Oder anders: Im Rhythmus bekommt das Vorübergehende und Flüssige eine Form. Rhythmus ist keine gegebene oder feste Form, sondern eine, die durch ihren immer wieder erneuerten Akt des Rhythmisierens jeweilig geschaffen wird. Der Rhythmus ist dem Geformten nicht notwendig natürlich inhärent wie den Wellen ihr Kommen und Gehen. KONTEXTE In der Gegenwart wird das Wort rhythmisieren, wenn es nicht eine
künstlerische Tätigkeit bezeichnen soll, vor allem im pädagogischen Kontext verwendet: Eine Google-Recherche nach dem Wort führt vor allem zu Leitfäden
4 Benveniste: Der Begriff des „Rhythmus“, S. 364. 5 Ebd., S. 367. 6 Ebd., S. 368. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 369. 10 Ebd., S. 370.
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Rhythmisieren Kontexte
zur Rhythmisierung des Schulunterrichts oder zu Profildarstellungen von „rhythmisierten Ganztagsschulen“. Die gelungene Rhythmisierung soll dabei offenbar auch die Ausbildung maßvoller Persönlichkeiten ermöglichen, die Schüler*innen selbst zu ihrem Vorteil rhythmisieren. Der Rhythmus scheint einen direkten Zugang zum Seelenleben des Menschen, zu seinen Routinen und Angewohnheiten zu ermöglichen; durch Rhythmisierung können Gewohnheiten geprägt werden. Dass dem Erlernen von Rhythmus eine pädagogische Komponente innewohnt, hat zuerst Platon behauptet, der, so Benveniste, den rhythmós auch zum ersten Mal mit dem Zählen verbindet und somit die Definition des Wortes prägt, die bis heute gültig ist – ohne dass die Bedeutung als Form bei ihm vollkommen verschwände. (Rhythmus als Zählen wird später in der lat. Übersetzung als numerus sehr sichtbar.) Für Platon beruht „das wichtigste in der Erziehung auf der Musik, weil Zeitmaß (rhythmós) und Wohlklang (harmonía) vorzüglich in das Innerste der Seele eindringen, und sich auf das kräftigste einprägen, indem sie Wohlanständigkeit mit sich führen, und also auch wohlanständig machen, wenn einer richtig erzogen wird“.11 So fordert Platon auch gemessene Rede und das Verbot der Nachahmung von Naturgeräuschen; untersagt sind „Donner und Geräusch von Sturm und Hagel und von Achsen und Rädern, und Töne von Trompeten und Flöten und Pfeifen und allerlei Instrumenten“.12 Dieser Ebenmäßigkeit des Rhythmus und der Seele steht auch bei ihm die arrythmía gegenüber, als „Ungemessenheit“.13 Die Seele aber muss rhythmisiert werden, damit der Mensch seinen Platz in der ebenfalls stimmig rhythmisierten pólis findet und gut einnimmt: Rhythmisierung ist für Platon politische und soziale Erziehung. Ihre Medien sind die Metren der Sprache. Platons Konzept der pólis als eines stimmig rhythmisierten Gemeinwesens wendet sich auch gegen die Szene der Tragödie. Indem die Tragödiendichter von den Möglichkeiten des damals noch recht neuen Mediums der Lautschrift vollen Gebrauch machten, ließen sie in den Reden der Protagonisten vielfältige, komplexe und idiosynkratische Sprechrhythmen
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11 Platon: Politeia, S. 223 (401d). 12 Ebd., S. 211 (397a). 13 Ebd., S. 223 (401a).
375
Rhythmisieren Kontexte
aufeinandertreffen. Eine solche Polyrhythmie aber ist in Platons Verständnis potentiell gefährlich. Friedrich Hölderlin wird um 1800 Tragödie vor allem als rhythmisch strukturiert verstehen und die „Cäsur“ als „gegenrhythmische Unterbrechung“14 hervorheben: Von dieser rhythmischen Struktur wird der Mensch als „Empfindungssystem“15 adressiert. Rhythmisierung ist also immer auch ein Mittel der Generierung und Verbindung von Gemeinschaften. So untersucht Giorgio Agamben die Klosterregeln in ihrer inhärenten Ähnlichkeit zur Liturgie als eine Form, die mit dem Leben nahezu eins wird. Gebete, Bibellesungen, Feldarbeit rhythmisieren den Alltag der Mönche und schaffen so für Agamben eine Sphäre des „armen Gebrauchs“, in der die Mönche – vor allem in der franziskanischen Tradition – sich die Welt und das Leben also nicht aneignen, nicht zu eigen machen.16 Während aber für Agamben gerade die Regel, die mit dem Leben eins wird, diesen armen Gebrauch ermöglicht, projiziert Roland Barthes in das Leben griechischer Mönche vielmehr die lockere Unverbundenheit von Einzelnen, die ihr gemeinsames Leben je verschieden rhythmisieren, als „Idiorrhythmie“: Sie leben nur insoweit zusammen, als es notwendig ist, können sich aber immer wieder auch in eine Eigenzeit und einen Eigenrhythmus zurückziehen.17 Der Gleichtakt einer mönchischen Rhythmisierung des gemeinsamen Lebens aber setzt sich dann vor allem in der industriellen Produktion fort, die ohne die Entdeckung einer homogenen Messbarkeit der (Arbeits-)Zeit durch Uhren nicht möglich wäre. Die Produktion durch „Maschinerie und große Industrie“18 erfordert neben vielem anderen auch eine Unterordnung der jeweiligen Arbeit unter den Rhythmus der Maschine. Karl Bücher, der 1899 die Rhythmisierung kollektiver Arbeitsprozesse durch Trommelschläge und Arbeitsgesänge bei „Kulturmenschen“ und „Naturmenschen“ nachzuzeichnen versucht, erklärt, dass die „rhythmisch-automatische Gestaltung der Arbeit […] den Geist frei macht und der Phantasie Spielraum gewährt.“19 Doch aus der
14 15 16 17 18 19
376
Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus, S. 310. Ebd., S. 309. Vgl. Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Homo Sacer IV, 1. Vgl. Barthes: Wie zusammen leben. Überschrift des 13. Kapitels aus Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 391–530. Bücher: Arbeit und Rhythmus, S. 366.
Fabrikhalle, in der der Mensch „fast ein Theil des Mechanismus“ werde, sei „auch der Arbeitsgesang verschwunden.“20 In postindustriellen Arbeitsmilieus wiederum sollen Raum und Zeit oft polyrhythmisch geformt werden, um so die Arbeitnehmer*innen zu affektiven und zu kreativen Höchstleistungen anzuspornen – so stehen im Google Campus in Mountain View, Kalifornien, Tischfußballplatten, Küchen und Rutschen zur Verfügung. Doch liegen den digitalen Geräten, über die die sogenannte immaterielle Arbeit organisiert wird, nicht nur im globalen Süden extrahierte Rohstoffe zugrunde; sie arbeiten auch ausschließlich auf der Basis genau getakteter, winzig kleiner Rechenschritte.
Rhythmisierung entstehen, wie schon Büchers Klage am Ende seines Buches nahelegt, vor allem in Zeiten, in denen Lebens- und Arbeitsrhythmen radikalen Veränderungen unterliegen. Vielfach wird in solchen Situationen nach einer Rhythmisierung verlangt, die sich vermeintlich natürlichen Rhythmen mehr annähern soll, dem Kommen und Gehen der Wellen bei Benveniste gleich – in der Moderne bis in die Gegenwart vielfach angesprochen als die natürlichen Rhythmen von Tag und Nacht, der Jahreszeiten oder der saisonalen Erzeugnisse. Insbesondere im frühen 20. Jh. begegnen in der Lebensreformbewegung und verwandten Bestrebungen Versuche, den ‚künstlichen‘ Rhythmen des Industriezeitalters andere, natürlichere Rhythmen entgegenzustellen und Rhythmisierung als Persönlichkeitsbildung zu lehren und zu lernen. So lassen sich im Konzept der 1912 eröffneten Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze in Hellerau bei Dresden – Teil einer Modellsiedlung des Möbelfabrikanten Karl Schmidt und seines Generalsekretärs Wolf Dohrn, Mitbegründer des Deutschen Werkbunds – deutliche Parallelen zur Platon’schen pólis entdecken. Auf der nach Entwürfen von Adolphe Appia gebauten Bühne im von allen Seiten gleichmäßig erhellten „Lichtraum“ wurden „rhythmische Räume“ erzeugt. Die „rhythmische Gymnastik“ von Schulleiter Émile Jaques-Dalcroze aber diente der Ausbildung von Körpern und Seelen. In der Schulordnung heißt es:
Rhythmisieren Konjunkturen
KONJUNKTUREN Konjunkturen eines offensiv gebrauchten Begriffs von
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20 Ebd., S. 381.
377
Rhythmisieren Gegenbegriffe
Die ‚Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze‘ ist dem Studium des Rhythmus gewidmet. Sie macht den Rhythmus in allen seinen Erscheinungsformen, in seinen körperlichen und seelischen Wirkungen zum Gegenstand der Erforschung und der Unterweisung. […] Sie ist bestrebt, die künstlerischen, ethischen und hygienischen Wirkungen der rhythmischen Gymnastik in ihrer Unterweisung zur Geltung zu bringen. Diesen Gesichtspunkten trägt die Schulordnung in ihren Bestimmungen Rechnung.21
In Hellerau war die rhythmische Gymnastik Teil einer Suche nach anderen Lebens- und Arbeitsformen, welche vom Einbruch des Ersten Weltkriegs unterbrochen wurde. Die Suche nach natürlicheren Rhythmen hatte jedoch auch eine andere Seite: Appia – der über die Frage, welcher Bühnenraum Richard Wagners Musikdrama adäquat sein kann, zum Theater kam – war mit Wagners späterem Schwiegersohn, dem Rassehygieniker Huston Steward Chamberlain, bekannt. Chamberlain wiederum stand in engem Kontakt mit dem Biologen Jakob von Uexküll, dessen Lehre der Umwelten der Tiere, welche durch nicht-menschliche Sinnesorgane konstituiert werden, Auswirkungen über Martin Heidegger bis hin zu Gilles Deleuze und Félix Guattaris Denken des Ritornells als eines rhythmisch erzeugten Territoriums haben sollte. Uexküll träumt in der Staatsbiologie von einem durchrhythmisierten Staat, für dessen Einheit „Ordnungsorgane“ sorgen sollen: Jene „zwingen […] die Erzeugungsorgane, sich dem Rhythmus des Staatsganzen anzupassen. Dieser Rhythmus ist an jedem Ort ein anderer und zugleich eine Einheit über das ganze Land. Er zerfällt daher in zahlreiche lokale Rhythmen, die sich einem Gesamtrhythmus einfügen.“22 Rhythmus wird zum Mittel der Homogenisierung und der Kontrolle. GEGENBEGRIFFE Der Gegenbegriff zum rhythmós ist im Griechischen arryth-
mós oder arrythmía, was wie in den zitierten Beispielen Unmaß, Maßlosigkeit oder auch – bei Platon – eine unübersichtliche Vielzahl von Maßen bedeuten kann. In den 1910er und 20er Jahren wird der Begriff auch im Umfeld der
21 Auszug aus der Schulordnung der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze in Hellerau. In: Der
Rhythmus, S. 82–88, hier S. 88.
22 Uexküll: Staatsbiologie, S. 22.
378
Rhythmisieren Gegenbegriffe
Lebensreformbewegung verwendet oder ins Deutsche übersetzt. „Wir sind entrhythmisiert. Das ist kein Zweifel“,23 verkündet somit auch Wolf Dohrn bei der Eröffnung der Lehranstalt in Hellerau. Die Suche nach einer neuen – oder auch nach einer ‚wieder‘ natürlichen – Rhythmisierung wird dann zu einem Heilungskonzept. Der Rhythmisierung als lebendiger Variation eines Metrums wird zudem in der Geschichte des modernen Denkens immer wieder das bloße Zählen gegenübergestellt, der einförmige Takt. Eine solche Gegenüberstellung findet sich, wenn Hegel „das Prinzip der Größe, des begrifflosen Unterscheidens, und das Prinzip der Gleichheit, der abstrakten unlebendigen Einheit“24 dem „immanenten Rhythmus der Begriffe“25 entgegenstellt, in den die Philosophie nicht einzufallen habe – so dass die Dialektik selbst zum Nachspüren einer rhythmisierten Weltgeschichte wird. Sie findet sich in Marx’ Definition der abstrakten Arbeit als „Quanta Arbeit, bestimmte Masse festgeronnener Arbeitszeit“,26 dem die Vision eines flexibel rhythmisierten Alltags entgegensteht, in dem man die Freiheit habe, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe“27. Und durchaus ähnlich gelagert sind Heideggers – antisemitisch eingefärbte – Injektiven gegen das Zählen und Messen, denen er den rhythmós in einer Übersetzung des Archilochos als gleichsam ursprüngliches „Ver-Hältnis“ gegenüberstellt, das „(die) Menschen hält.“28 Rhythmisierung steht somit der Maß- und Regellosigkeit entgegen, aber gerade auch der zu strengen Taktung.29 Rhythmisierung soll diese Taktung nicht aufgeben – dann wäre kein Rhythmus mehr zu bestimmen –, aber umspielen oder variieren. Rhythmisierung in diesem Sinne wird in verschiedenen
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23 Dohrn: Die Aufgabe der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze. In: Der Rhythmus, S. 2–19, hier
S. 5.
24 Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 46. 25 Ebd., S. 56. 26 Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 204. 27 Marx/Engels: Die deutsche Ideologie, S. 33. Eigentümlich ist, dass die frei rhythmisierte Zeit
fast ausnahmslos zur Tötung oder Beherrschung von Tieren verwendet wird.
28 Heidegger: Rimbaud Vivant, S. 227. 29 Vgl. Meschonnic: Politique du rythme, politique du sujet.
379
Rhythmisieren Perspektiven
Variationen als Befreiung oder Erleichterung von Kapitalzeit, allgemeiner Äquivalenz, abstrakter Gleichheit, homogenem Messen wahrgenommen. Allerdings lässt sich mit Jacques Derrida fragen, ob es nicht gerade das „kalkulierbare Maß“ sei, dass „auch den Zugang zum Unberechenbaren und Inkommensurablen“30 gestatte, indem es Kräfteverhältnisse neutralisiere. Zudem ist in postfordistischen Arbeits- und Lebensverhältnissen die Rolle der Rhythmisierung eine andere geworden. Jenseits der Restbestände industrieller Arbeit, der Institutionen, die offenbar noch für sie disziplinieren sollen (Schulen), und der Kranken- und Pflegeeinrichtungen besteht die heutige Alltagsanforderung in den affluent societies ( John Kenneth Galbraith) oft weniger darin, dem strengen Maß eines einheitlichen Taktes zu folgen, als vielmehr darin, polyrhythmische Arbeitsläufe zu organisieren, Disruptionen (als Zäsuren) produktiv werden zu lassen, ständig neue Rhythmen zu erproben. Das Verstörungspotential des Time Clock Piece von Hsieh liegt eben darin, dass er im Vergleich zu diesen Anforderungen gerade die strenge Taktung bejaht und aus ihr, so seine eigene Aussage, ein Genießen – „pleasure“31 – zieht. PERSPEKTIVEN Rhythmisierung findet sich in den Arten und Weisen des Mediengebrauchs in vielfacher Form wieder: Zum einen verändern sich mit den technischen Medien die Möglichkeiten einer Rhythmisierung von Musikstücken, Konzerten oder Theateraufführungen. So ist die Rhythmisierung eines Stücks durch einen Drumcomputer eine andere als jene durch die Muskelkraft eines Schlagzeugers, und die elektronische Musik hat sich auf vielfache Weise mit der Präzision der nun möglichen Rhythmen auseinandergesetzt, sei es, indem sie Entfremdungserfahrungen heraufbeschwört, sei es, indem sie die ekstatische Wiederholung affirmiert. Die Möglichkeiten digitaler Rhythmisierung lassen Kriterien der Virtuosität unwirksam werden. Im Sampling werden rhythmische Patterns aus anderen Stücken übernommen und neu kombiniert; so wird auch insbesondere in Bezug auf Rhythmen die Frage nach dem geistigen Eigentum und ihrem Verhältnis zum Gebrauch gestellt.
30 Derrida: Schurken, S. 80. 31 Suk: Tehching Hsieh – One Life Performance. In: Zeitschrift Umělec 2003/2. Unter: http://
divus.cc/london/de/article/tehching-hsieh-one-life-performance [aufgerufen am 29.02.2020].
380
FORSCHUNG Rhythmisierung ist also keineswegs nur ein auf Musik oder
Rhythmisieren Forschung
Über das Feld der Künste hinaus wird die Rhythmisierung von Verhaltensweisen durch neue Medien aber seit mehreren Jahren zu einem hoch politisierten und von einem gewaltigen Kapitaleinsatz begleiteten Schlachtfeld. PushNachrichten, Alarmfarben, die auf ungelesene Nachrichten hinweisen, und Algorithmen, die die folgenden Videos bei YouTube oder TikTok vorschlagen, steuern und rhythmisieren Verhalten. Der mit diesen Anwendungen einhergehenden ‚Entrhyhtmisierung‘ des Alltags – um Wolf Dohrn zu paraphrasieren – wird wiederum mit anderen Apps entgegengewirkt, die feste Schlafenszeiten festlegen und „deine Zeit im Bett erfassen“32 sollen oder die Beleuchtung des Displays bei Sonnenauf- und -untergang ändern und somit kosmische Rhythmen im Digitalen suggerieren. Mag auch die Rhythmisierung des Alltags nicht mehr gleichförmig sein, sie steht dennoch unter intensiver Beobachtung und liefert Daten, die u.a. für Versicherungen relevant sein können. Dabei liegen jedoch auch den scheinbar natürlichen Schlafrhythmen der Anwendung „Schlafenszeit“ kulturell geprägte Vorannahmen zugrunde – so die Idee einer Nacht, in der ‚durchgeschlafen‘ wird, die aus der Zeit der Industrialisierung stammt und vormodernen Schlafrhythmen widerspricht. Diesen Steuerungsversuchen stehen Hoffnungen auf – oft ebenfalls zeitlich begrenztes – digital detox oder die Sehnsucht nach saisonaler Ernährung entgegen. Verhaltenslenkung setzt in jedem Fall, auch in therapeutischer Hinsicht, weniger bei der einmaligen Entscheidung als bei der Ausbildung von rhythmisierten Gewohnheiten an, um beispielsweise den Körper zu ertüchtigen, gegen Süchte zu kämpfen oder größere Aufgaben zu bewältigen, indem sie in kleine Portionen unterteilt werden, die jeweils zur gleichen Uhrzeit bearbeitet werden.
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darstellende Künste bezogenes Phänomen. Die politischen, ökonomischen, sozialen und sogar medizinischen Dimensionen von Rhythmisierung sind ausgreifend und keineswegs harmlos. In Hellerau ging der Versuch einer neuen Rhythmisierung des Lebens von den pädagogisch-choreografischen Exerzitien der rhythmischen Gymnastik aus: Sicherlich ist auch der zeitgenössische Tanz eine Kunstform, die
32 „Schlafenszeit“ in der Uhrzeit-App auf iPhone und iPad.
381
Rhythmisieren Forschung
Rhythmisierungen erforscht, experimentiert, kritisiert oder affirmiert. Ob Tanz dabei zum Training für neue polyrhythmische und disruptive Arbeits- und Lebensumwelten werden soll oder ob es um die kritische Untersuchung von neuen Formen der Steuerung geht, lässt sich nur von Fall zu Fall beantworten. Forschungsperspektiven auf die Rhythmisierung sollten in jedem Fall eine historische Perspektivierung bewahren und die Etymologie des Wortes, wie Benveniste sie herausgearbeitet hat, im Blick behalten: Rhythmus ist nicht die Beschreibung eines natürlichen Geschehens, sondern Formung des Unbeständigen. Rhythmen sind somit immer ‚künstlich‘. Die Suche nach einer natürlichen Rhythmisierung ist weniger eine Rückkehr zu einem vermeintlichen Ursprung, sondern immer eine Reaktion auf mediale, politische und ökonomische Umbrüche.
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SAMMELN JOHANNES ENDRES
Sammeln Anekdote
ANEKDOTE Am 23. September 1938 wurde auf dem Gelände der New Yorker
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Weltausstellung, die ein Jahr später eröffnete, die erste je sogenannte Zeitkapsel vergraben. Sie ist bis heute eines der ambitioniertesten Unternehmen ihrer Art geblieben. Geht es nach seinen Erfindern, soll der rund 2,5 Meter hohe und ca. 22 Zentimeter breite Metallbehälter erst im Jahr 6939 wieder zutage befördert werden.1 Ihrem Empfänger aus der fernen Zukunft wird die Westinghouse Time Capsule dann einen handfesten Eindruck von den „Errungenschaften“ (achievements) der westlichen Zivilisation am Vorabend des Zweiten Weltkriegs vermitteln. So will es jedenfalls das BOOK OF RECORD, der sowohl in der Zeitkapsel deponierte wie auch außerhalb von ihr tradierte Begleittext. Wie die Zeitkapsel so wurde auch das BOOK OF RECORD von der US-amerikanischen Westinghouse Electric Company zusammen mit einer Gruppe von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Werbefachleuten entwickelt.2 Der Inhalt der Kapsel, im Rahmen eines öffentlichen Ideenwettbewerbs unter der Leitung des Vizepräsidenten der Firma ausgewählt, bietet ein buntes Bild: von kleinen Gebrauchsgegenständen wie einem Dosenöffner, einer Sicherheitsnadel und einer Zahnbürste über Textil- und Materialmuster, einem Allerlei aus Samen, Geldscheinen und anderem bis hin zu Texten und Bildern auf Mikrofilm und zeitgenössischen Wochenschauberichten. Im Rahmen der Zeitkapsel verbinden sich solchermaßen beiläufige Alltagsgegenstände aber zu einer potentiell aussagekräftigen Momentaufnahme der Anfänge des modernen Konsumzeitalters. Dass die Botschaft der Zeitkapsel nach 5000 Jahren nicht mehr ohne weiteres verständlich sein würde, haben ihre Erfinder vorausgesehen. Sie haben ihr deshalb einen ‚Stein von Rosette‘ mitgegeben, einen linguistischen Apparat, der die Rekonstruktion ihres Informationsgehalts über die Rekons truktion der für ihre Verfassung maßgeblichen englischen Sprache erlauben
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Vgl. Pendray: The Story of the Westinghouse Time Capsule; Yablon: Remembrance, S. 235–286. 2 The Book of Record.
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soll. Neben der materiellen Gegenständlichkeit der Zeitkapsel ist also auch die Verständlichkeit ihres Inhalts vergänglich und muss daher ebenfalls gegen Verlust und Vergessen abgedichtet werden. Sammeln ist damit immer schon eine „Struktur der Objektzuwendung“ und eine „erkenntnistheoretische Praxis“ zugleich,3 die jedoch nur bis zu einem bestimmten Grad der Kontrolle des Sammlers selbst untersteht. Vielmehr operieren Sammlungen in einer Zukunft, die offen und unsicher ist. Diese „Zukunftsoffenheit“4 zu beherrschen ist die Herausforderung, der sich alles Sammeln stellt, ob es um Nahrungsvorräte, Kapitalsammlungen, Kunstkollektionen, Sammlungen von Memorabilia und Liebhaberobjekten, Informations- und Wissensspeicher oder eben um Zeitkapseln geht. Sammlungen können also mehr oder weniger zukunftsstabil sein, Erfolg haben und funktionieren. Sie sind damit ihrerseits ‚Zeitkapseln‘ in einem weiteren Sinn, deren target date zwar nicht immer vorbestimmt ist (wie im Fall der auf 5000 Jahre berechneten Westinghouse Time Capsule), die aber immer – über ihre Inhalte und Struktur – Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit auf ebenso intrikate wie prinzipiell fallibele und bedeutungsoffene Weise verknüpfen.5 Das gilt in evidentem Maße auch für die in der Westinghouse Time Capsule archivierten Briefe von Robert Millikan, Albert Einstein und Thomas Mann, die im Sinne des für die Kapsel insgesamt bestimmenden Stein-von-Rosette-Prinzips in unterschiedlichen Sprachen verfasst sind (Millikans und Manns Briefe auf Englisch, Einsteins Brief auf Deutsch): Ob, wann und mit welchem Kommunikationsergebnis sie ihre Empfänger, die „Brothers of the future“, erreichen, ist einstweilen ungewiss.6 ETYMOLOGIE Das DEUTSCHE WÖRTERBUCH der Gebrüder Grimm verzeich-
net im Wesentlichen zwei Gebrauchsweisen von sammeln: ein reflexives ‚sich
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Cahn: Das Schwanken zwischen Abfall und Wert. In: Merkur, S. 676 und 679. Hahn: Soziologie des Sammlers. In: Ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, S. 442. 5 Diese grundsätzliche riskante Dimension des Sammelns wird in der positivistischen Sammlungsforschung oft unterschätzt, ebenso in der verbreiteten Rede von Sammlungen als „Semiophoren“ (Zeichenträgern) mit weitgehend stabilem Referenten (Pomian: Ursprung des Museums). 6 The Book of Record, S. 47.
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Sammeln Etymologie
sammeln‘, das in unserem Zusammenhang vernachlässigt werden kann,7 sowie ein Sammeln mit Objekt (jemanden oder etwas sammeln) bzw. ohne Objekt (die allgemeine Tätigkeit des Sammelns betreffend).8 Dabei ist zwar die Form sammeln erst relativ spät belegt (seit dem 15. Jh.), nicht aber der Wortstamm (samenen) selbst. Gleiches gilt für das Wort ‚Sammlung‘, das erst seit dem 17. Jh. nachgewiesen ist und gleichermaßen die „Tätigkeit (colligere), zuvor Verstreutes an einem gemeinsamen Ort zusammenzutragen, und das Resultat dieses Tuns (collecta)“ bezeichnet.9 Als „gewöhnlich“ gilt dem DEUTSCHEN WÖRTERBUCH zufolge die Bedeutung als „eine nach bestimmten gesichtspunkten wissenschaftlicher, künstlerischer zwecke oder der liebhaberei zusammengebrachte und geordnete menge von gegenständen“; daneben aber auch die Verwendung „in beziehung auf geistesproducte, die zur vergleichung oder aus sonstigen gründen vereinigt sind“.10 Ersteres ist aufschlussreich, da es eine Verengung des Sprachgebrauchs – des Sammelns im weitesten Sinn – auf ein Sammeln im engeren Sinn – aus wissenschaftlichen, künstlerischen und Motiven des Zeitvertreibs – sanktioniert; letzteres, da es der in der Literatur verbreiteten Ansicht widerspricht, dass „Dinge“ gesammelt werden, und „nur sie“.11 Tatsächlich kommt Sammeln als „Gesamtphänomen“12 und Medientechnik aber erst in den Blick, wenn man weder seine Motive und Anlässe noch seine Objekte und historischen Erscheinungsweisen von vorneherein beschneidet. So scheint es vielmehr richtig, dass „alles“ gesammelt werden kann: „materielle Objekte […], reale Ereignisse eines bestimmten Typus, aber auch […] Gegenstände und Ereignisse symbolischer Welten“ und anderes mehr.13 Damit fallen sowohl das Sammeln im engeren Sinn (von seltenen Naturobjekten, Kunstwerken, Briefmarken, Büchern, Wissen) als auch ökonomisches Sammeln (von Vorräten), religiöses Sammeln (von seelischem Kapital im Namen der Heilsvorsorge), karitatives Sammeln (für den ‚guten‘ Zweck), das Sammeln
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Vgl. dazu Sommer: Sammeln, S. 18 ff. Vgl. (Art.) Sammeln. In: Grimm, Sp. 1741–1744. Sommer: Sammeln, S. 110 f. (Art.) Sammlung. In: Grimm, Sp. 1753. Sommer: Sammeln, S. 110. Ebd., S. 109 f. Brüning: Wissenschaft und Sammlung. In: Krämer et al. (Hrsg.): Bild, Schrift, Zahl, S. 90.
KONTEXTE Was die unterschiedlichen Arten des Sammelns verbindet, ist ein Bündel von Merkmalseigenschaften. Sammeln ist eine sekundäre Kulturtechnik, insofern es etwas immer schon geben muss, bevor es gesammelt werden kann (wie bspw. auch beim Lesen). Gleichwohl ist Sammeln eine produktive Tätigkeit für die gilt, „dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“.17 Das unterscheidet Sammeln als Technik auch vom bloßen (sich) Ansammeln, dem kein solcher „Mehrwert“ zugeschrieben werden kann.18 Sammeln fungiert damit aber auch als ein Prozess der Umwertung, in dem einem Objekt ein neuer Wert im Kontext der Sammlung beigelegt wird, der seinen vormaligen Wert – z.B. als Gebrauchsgegenstand – überschreibt. In diesem Sinn ist die
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von technisch reproduzierbaren Massengütern (wie im Fall der Westinghouse Time Capsule) und das Sammeln virtueller Objekte (im digitalen Zeitalter) unter denselben Begriff. Sammeln erscheint folglich als hinreichend weit gefasstes Tätigkeitsfeld, um höchst unterschiedliche, geschichtlich kontingente Praxisformen aufzunehmen. Das zeigt auch die Wortgeschichte von speichern, dessen technisches Profil sich mit sammeln berührt, das lexikalisch aber erst seit 1775 belegt ist und bis dahin vom allgemeineren Wort sammeln mit abgedeckt wird.14 Auch die wortgeschichtliche Verwandtschaft von sammeln und lesen (legere und collegere)15 besagt wohl nur, dass beide Begriffe von rudimentären Überlebenstechniken auf spezifischere Kulturtechniken übertragen wurden. Damit ist sammeln ein „Urtrieb“,16 und zwar in dem weiten Sinn, in dem es keine kulturgeschichtliche Gebrauchsgeschichte des Sammelns ohne eine entsprechende evolutionsgeschichtliche Anlage dazu geben kann.
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(Art.) Speichern. In: Grimm, Sp. 2072; vgl. Neubert: Speichern. In: Christians/Bickenbach/ Wegmann (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 1, S. 535–555. 15 Vgl. Cahn: Das Schwanken zwischen Abfall und Wert, S. 683; Wegmann: Im Reich der Philologie. In: König et al. (Hrsg.): Konkurrenten in der Fakultät, S. 264. 16 Assmann: Sammeln, Sammlungen, Sammler. In: Junge et al. (Hrsg.): Erleben, Erleiden, Erfahren, S. 345. 17 Brüning: Wissenschaft und Sammlung, S. 97; vgl. Belk et al.: Collecting in a Consumer Culture. In: Ders. (Hrsg.): Highways and Buyways: Naturalistic Research from the Consumer Behaviour Odyssey, S. 180. 18 Assmann: Sammeln, S. 349; Wegmann: Bücherlabyrinthe, S. 191, 194; Zeller: From Object to Information. In: Arcadia, S. 403.
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Bibel, die sich im Inneren der Westinghouse Time Capsule befindet, nicht mehr nur ein religiöser Text, sondern auch das historische Dokument eines solchen. Manche Forscher haben deshalb davon gesprochen, dass die Gegenstände der Sammlung nicht Dinge, sondern „Darstellungen“ bzw. Repräsentationen sind.19 Als solche sind sie „repräsentational“ in Bezug auf andere Objekte oder Ideen, zu denen sie sich als Teil eines Ganzen, Element einer Serie oder Muster einer Gattung verhalten und aus einem solchen Verhältnis ihre für die Sammlung charakteristische Wertzuweisung empfangen.20 So ist die Sicherheitsnadel in der Westinghouse Time Capsule ihrem ursprünglichen Gebrauch entfremdet und ein Vertreter dieser Gebrauchsbestimmung zugleich. Auch Bücher in einer Bibliothekssammlung sind dem herkömmlichen Wirtschaftskreislauf der Buchproduktion und -distribution entzogen und fungieren, mit Walter Benjamin zu reden, als „Exemplare“ aller Bücher gleichen Titels und Inhalts.21 Die Rede vom „Funktionszusammenhang“, aus dem der Sammler den Gegenstand „heraushebt“,22 greift jedoch zu kurz, da sie verdeckt, dass auch Sammlungen und ihre Gegenstände einer Funktionsbestimmung folgen. ‚Interesseloses‘ Sammeln gibt es, einer verbreiteten Vorstellung zum Trotz,23 nicht. Dabei scheint es sich, im Gegenteil, um die Übertragung eines (vermeintlichen) Kennzeichens von Kunst- und Liebhabersammlungen auf das Sammeln im Allgemeinen zu handeln. Eine solche Charakterisierung wird aber weder der historischen, praktischen und systematischen Vielfalt des Phänomens gerecht noch den konkreten Gegenständen einer Kunst- oder Liebhabersammlung. Auch für letztere sind Zwecksetzungen maßgebend, z.B. solche der individuellen und kollektiven Identitätsbildung, der Erbauung und Erziehung, des Austauschs und der Kommunikation, der Erinnerung und des Vergessens sowie des Vergnügens und der Kurzweil. Alles Sammeln hat also immer auch eine im weitesten Sinn ökonomische Bedeutung, schon weil beim Sammeln stets auch Fragen des Besitzes, der Verfügbarkeit und der Regulation verhandelt werden. Dies zeigt auch das Beispiel der Westinghouse Time Capsule, die gleichzeitig praktizierte Philanthropie, öffentliche Attraktion
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Vgl. Hahn: Soziologie des Sammlers, S. 449. Vgl. Durost: Children’s Collecting, S. 10. Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 389. Benjamin: Das Passagen-Werk, Bd. V/II, S. 1027. Vgl. z.B. ebd.; Hahn: Soziologie des Sammlers, S. 448.
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und Werbeplattform eines großen Industriekonzerns ist. Statt von Gebrauchswert und dessen Verlust ließe sich daher zutreffender und allgemeiner von einer UmKontextualisierung in funktionaler und räumlicher Hinsicht sprechen, die mit neuen Funktionalisierungen und Grenzziehungen Hand in Hand geht. Das in der psychologischen Sammlungsforschung übliche Verständnis von Sammlungen als Wunschwelten und Utopien übersieht dagegen,24 dass Sammlungen (auch solche von Ich-Prothesen und Ersatzfiktionen) hinsichtlich ihrer gegenständlichen Außenseite sehr konkret in die Welt des Realitätsprinzips eingelassen sind – so konkret immerhin, dass Sammler digitaler Objekte im Internet wissentlich oder unwissentlich ein Benutzerprofil hinterlegen, das real genug ist, um darauf lukrative Geschäftsmodelle (des Handels mit Persönlichkeitsdaten) zu gründen. Dass alles gesammelt werden kann, heißt natürlich nicht, dass alles und jedes eine Sammlung ist (oder wird). Vielmehr ist sammeln, gerade als Medientechnik, nicht nur selektiv und aktiv – insofern es auf der „Intervention“ eines Sammlers basiert –25, sondern auch intentional, wobei die Geschichte einer solchen Intention häufig erst im Nachhinein erkennbar wird.26 Im Rahmen eines solchen Verfahrens werden Objekte aber nicht nur zusammengetragen, sondern auch durch ein für den jeweiligen Sammlungstyp bezeichnendes Ordnungsprinzip (bzw. eine „Unordnung mit nichtbeliebiger interner Struktur“) verknüpft.27 Ein solches „Konnektivitäts-Schema“28 etabliert neben einem paradigmatischen Selektionsprinzip ein syntagmatisches Kombinationsprinzip: Während ersteres die Auswahl der Objekte aus der Menge aller ähnlichen Objekten reguliert, organisiert letzteres ihre Zusammengehörigkeit innerhalb der Sammlung selbst. Diese doppelte Relationierung ist in der Forschung vielfach und im Vergleich zu unterschiedlichen kulturellen und technischen Ordnungsmodellen beschrieben worden. Dass dabei insbesondere Textmetaphern eine Rolle spielen, ist kein Zufall: So wie die Zeichen und Worte einer Sprache auf eine außersprachliche
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24 Vgl. Baudrillard: Das System der Dinge, S. 110–136; Muensterberger: Collecting. 25 Wegmann: Bücherlabyrinthe, S. 191. 26 Vgl. Bal: Telling Objects: A Narrative Perspective on Collecting. In: Elsner et al. (Hrsg.):
The Cultures of Collecting, S. 101 ff.; Sommer: Sammeln, S. 77 f.
27 Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen. In: Baier et al. (Hrsg.): Öffentliche Meinung
und sozialer Wandel, S. 225.
28 Wegmann: Bücherlabyrinthe, S. 193.
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Wirklichkeit referieren, aber nur durch den gleichzeitigen Bezug zu anderen Zeichen und Worten bedeutungsfähig werden, so wird die Bedeutung einer Sammlung nicht schon an den singulären Elementen der Sammlung greifbar, sondern erst an deren vielfältigen Beziehungen untereinander. So verweisen die Bücher einer Bibliothek sowohl auf die Welt als auch auf andere Bücher, die Bilder eines Museums auf ihre Wirklichkeitsmodelle wie auf andere Bilder von der Welt und selbst gesammeltes Kapital auf seinen Gegenwert wie auf die interne Wertstruktur des Geldsystems. Das Inhaltsverzeichnis der Westinghouse Time Capsule macht ein solches Koordinatensystem auf einer sehr einfachen Stufe sinnfällig, indem es die Gegenstände der Zeitkapsel zugleich aufzählt und in (insgesamt fünf ) Sachgruppen einteilt.29 Sammeln setzt daher immer eine (mindestens) doppelte Operation voraus: das Vergleichen der Sammlungsobjekte mit anderen Objekten, die nicht Teil der Sammlung sind, sowie mit anderen Objekten der Sammlung. Dazu sind wiederum Entscheidungsprozesse des Ähnlich- und des Unähnlich-Findens erforderlich, die auf der technischen Seite des Sammelns ablaufen und von den Benutzern gewissermaßen decodiert werden müssen. Da Sammlungen in diesem Sinn immer überstrukturiert sind, unterscheiden sie sich deutlich von ihrer Umwelt, ohne eine herausgehobene, gleichsam exterritoriale Stellung behaupten zu können. Mit Michel Foucault sind Sammlungen demnach klassische Heterotopien, „gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“.30 Wenn dagegen – wie im Internet und seinen Suchroutinen – alles zur Sammlung wird (sobald es in berechenbare Daten übertragen worden ist), dann gerät der Begriff des Sammelns in dem Maße an seine Grenzen, in dem das Sammeln selbst grenzenlos wird.31 Die Überstrukturiertheit, „Topophilie“32 oder Grenzhygiene von Sammlungen (ob analog oder virtuell) ist aber kein Selbstzweck, der sich wiederum als Ausdruck einer typisch europäischen Rationalitätskultur kritisieren ließe. Vielmehr sind Sammlungen generell instabil – oder unwahrscheinlich –33 und
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Vgl. Pendray: The Story of the Westinghouse Time Capsule, S. 25–41. Foucault: Andere Räume. In: Barck et al. (Hrsg.): Aisthesis, S. 39. Vgl. Zeller: From Object to Information, S. 400. Bachelard: Poetik des Raumes, S. 25. Vgl. Wegmann: Im Labyrinth. In: Bibliothek Forschung und Praxis, S. 2.
Sammeln Kontexte
wären ohne eine solche doppelte Verschnürung noch instabiler. Sammeln ist daher nicht nur ein kontinuierlicher, longitudinaler Prozess und als solcher mit dem „nebensinn verbunden, dasz das zusammenbringen allmählich geschieht“;34 Sammlungen sind auch der Pflege und Kuratierung bedürftig. Das ist auch im Zeitalter digitaler Datenbanken nicht anders (‚updaten‘), gilt aber schon für das Sammeln von Subsistenzmitteln und für den logistischen Apparat von Zeitkapseln, die sich dagegen rüsten müssen, zu verfallen oder vergessen bzw. unlesbar zu werden: Im Fall der Westinghouse Time Capsule geschieht dies vermittels einer zeitextensiven Traditionskette aus Menschen (die das BOOK OF RECORD in eine jeweils kurrente Sprache übersetzen) und Institutionen (wie Bibliotheken oder dem Internet, die die Existenz der Kapsel dem kollektiven Gedächtnis einschreiben) sowie durch die materielle Haltbarmachung der Sammlung selbst, für die sich die Westinghouse Electric Company zahlreiche technische Innovationen zunutze gemacht hat. Dabei können die Ordnungsstrukturen und das Fälligkeitsdatum von Sammlungen unterschiedlich dicht bzw. lang sein:35 von syntaktisch relativ diskreten (oder losen) Listen, wie etwa in digitalen Datenbanken, die mehr oder weniger beliebig (re)konfigurierbar sind, über die Aufstellungssystematik von Bibliotheken und die Ausstellungsarchitektur von Museen, die bereits weniger flexibel sind, bis hin zu enzyklopädischen Sammlungen aller Exemplare eines Typs oder aller für ein Thema einschlägigen Informationen, die nur unter ganz bestimmten Bedingungen ergänzbar sind, und schließlich Zeitkapseln, die so hermetisch (oder syntaktisch dicht) sind, dass sie keine Änderungen tolerieren. Während die Westinghouse Time Capsule daher aufgrund ihrer hohen syntaktischen Dichte auf eine Dauer von 5000 Jahren hoffen darf, liegt der Lebenszyklus von GoogleSuchlisten bei wenigen Sekunden oder darunter. Dass Sammlungen grundsätzlich unabschließbar oder fragmentarisch sind, wird man aber kaum sagen können;36 eher schon, dass Sammeln einen Anspruch auf Abgeschlossenheit und Vollständigkeit erhebt, der zur sonstigen Welterfahrung quer steht.
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34 (Art.) Sammeln. In: Grimm, Sp. 1742. 35 Zur Unterscheidung syntaktisch dicht/diskret vgl. Goodman: Languages of Art, S. 127–
176.
36 Vgl. dagegen z.B. Baudrillard: Das System der Dinge; Cahn: Das Schwanken zwischen
Abfall und Wert.
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Sammeln Konjunkturen
KONJUNKTUREN Der geringen Spezifizität des Sammelns als Begriff und
Technik korrespondieren andererseits „objektspezifische Techniken des Aufspürens, Zubereitens und Aufbewahrens“,37 die sich von Sammlungsobjekt zu Sammlungsobjekt unterscheiden (und die selbst in einem lose gekoppelten Listenformat unmöglich alle gesammelt werden können). In der jüngeren Institutionengeschichte des Sammelns ragen dabei fraglos die seit der Frühen Neuzeit sich weiter ausdifferenzierenden Sammlungsformen der Wunderkammer, der Kunstsammlung, des Museums, der Bibliothek, des Archivs und – seit 1996 – des Internets hervor. Dabei ist die Geschichte des Sammelns aber nicht einfach eine der zunehmenden Globalisierung: von der (zunächst) exklusiv „europäischen Tradition“38 der Wunderkammer und des Museums zum prinzipiell weltweiten Phänomen des Internets. Vielmehr ist sammeln – als anthropologische Disposition wie als mediale Technik – in eine Geschichte der Evolution von lokalen Kulturtechniken und Kommunikationspraktiken eingebettet, die es bisweilen mit antreibt, von der es aber immer abhängig bleibt. Zumindest als kulturell-mediale Praktik ist Sammeln keine Superform, von der sich Geschichte – als eine der Wissens- und Machtakkumulation (Michel Foucaults ARCHÄOLOGIE DES WISSENS) – mehr oder weniger zwingend ableiten ließe. Wohl aber belegen die Konjunkturen des Sammelns auf seinen unterschiedlichen Gebieten, dass ‚reichere‘ Gesellschaften und Individuen mehr sammeln. Denn Sammeln muss man sich leisten können, ob man Getreide für das kommende Jahr sammelt oder Informationen oder Geld: Immer ist ein Verzicht vonnöten, muss ein akutes Bedürfnis aufgeschoben werden. Außerdem verfügen reichere Gesellschaften und Individuen über mehr Dinge, Zeichen und Medien, die gesammelt werden können. Auch muss man lange genug leben, um longitudinale Sammlungen anlegen zu können, an die sich die Nachwelt erinnert. Die Tatsache, dass heute immer mehr Menschen das Internet benutzen können, macht auch das Sammeln, seine Objekte und Techniken, für immer mehr Menschen zugänglich. Ein solcher Prozess setzte aber schon mit den bürgerlichen, öffentlichen Museen ein (die allerdings auf Kosten anderer sammeln, wie die sogenannte Raubkunst-Debatte deutlich
37 Brüning: Wissenschaft und Sammlung, S. 90. 38 Pearce: On Collecting.
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Sammeln Konjunkturen
macht), den Stadtbibliotheken (die sich an ein urbanes Bildungsbürgertum richten) und den Volksbanken (die Kredite selektiv vergeben). Sammeln ist daher wohl nie elitärer oder egalitärer, exklusiver oder inklusiver, hegemonialer oder anti-hegemonialer als die jeweilige Gesellschaft, in der gesammelt wird. Sammeln ist aber auch keine notwendige Folge von Luxus. Denn gesammelt wird nicht, was im Überfluss vorhanden ist, oder alt, oder neu, oder schön, oder original, sondern was knapp ist. Die Konjunkturen des Sammelns sind daher zugleich Konjunkturen der Knappheit. Dabei ist knapp nicht dasselbe wie selten. Knappheit bezeichnet vielmehr einen „mittlere[n] Zustand zwischen Haben und Nichthaben“,39 der aus der „Spannung“ zwischen der Stärke eines Begehrens und der Menge eines Gutes resultiert.40 Für das Sammeln von Vorräten, Kunstwerken oder seltenen Büchern leuchtet dies unmittelbar ein, gilt aber auch für Produktions- und Reproduktionsmittel wie nicht-natürliche Ressourcen, Kapital oder Gene, und selbst für Codes und Algorithmen, die Information generieren – während die textuellen Datenbanken, die von solchen Codes und Algorithmen hervorgebracht werden, durch den Preisverfall von digitalen Speicherkapazitäten ‚gemeinfrei‘ werden können. Der Gegenstandsbereich von Sammlungen wäre entsprechend von „rare objects“41 auf alles auszuweiten, was knapp ist oder erscheint, weiterhin auf nicht-dingliche Objekte sowie auf technisch reproduzierbare Gegenstände und Informationen – wie die Sicherheitsnadel in der Westinghouse Time Capsule, die im Sammlungskontext der Zeitkapsel mit einer Knappheitsillusion versehen wird, oder digitale Musik, digitale Bücher und digitale Autos, die über eine Preismarke artifiziell verknappt werden.42 Sammeln ist damit aber nicht nur „konservativ“,43
S 39 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 49. 40 Hahn: Soziologische Aspekte der Knappheit. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und So-
zialpsychologie, S. 120; vgl. Luhmann: Knappheit, Geld und die bürgerliche Gesellschaft. In: Jahrbuch für Sozialwissenschaft. 41 Belk: Ownership and Collecting. In: R.O. Frost et al. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Hording and Acquiring, S. 35. 42 Vgl. Watkins: Digital Collections and Digital Collecting Practices. In: Proceedings of the 33rd Annual ACM Conference on Human Factors in Computing Systems. 43 Sommer: Sammeln, S. 115.
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sondern auch eine Nachhaltigkeitsstrategie, die dafür sorgt, dass Knappheit nicht knapp und die Komplexität der Welt nicht zu groß wird.44
Sammeln Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Insofern steht das Zeitalter der technischen Reprodu-
zierbarkeit aber auch nicht im „Gegensatz“ zum Sammeln.45 Weder haben digitale Kopien von Kunstwerken den Museen ein Ende bereitet – sondern nur zu deren Ausweitung auf das Internet sowie zu einem tendenziellen „Verschwinden“ dinglicher Ausstellungsobjekte geführt46 – noch landet in einer Wegwerfgesellschaft einfach alles auf jenem Müllberg, der die „Umkehrung des Archivs“ ist.47 Als Kultur- und Medientechnik ist Sammeln vielmehr flexibel genug, um sich den unterschiedlichen ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und technologischen Systemen seiner Geschichte anzupassen. Auch das Zerstreuen ist nicht nur ein Gegenbegriff des Sammelns (im Sinn von Walter Benjamins „Kampf gegen die Zerstreuung“),48 sondern auch seine Bedingung – denn wären die Dinge „schon ganz nahe beieinander, könnte man sie nicht mehr sammeln“.49 Gleiches gilt für das Vergessen, das nicht einfach das Gegenteil des vom Sammeln geleisteten Erinnerns ist: Wie die Westinghouse Time Capsule zeigt, wirken die Selektionskriterien des Sammelns zugleich im Sinn eines gezielten Vergessens, weshalb es Sammeln nicht nur mit dem akkumulierenden Akt des Speicherns, Kompilierens oder Kopierens zu tun hat, sondern auch mit komplexeren Fragen der – privaten wie institutionellen – Kanonisierung von Objekten, Erinnerungen und Informationen.50
44 Zur „Knappheitsknappheit“ in produktions- und reproduktionsbasierten Wirtschaftssyste-
men vgl. Hahn: Soziologische Aspekte der Knappheit, S. 130 f.
45 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 504. 46 Conn: Do Museums Still Need Objects?; vgl. aber auch schon in den 1940er Jahren Lipp-
mann: The Museum of the Future. In: The Atlantic. Assmann: Sammeln, S. 349. Benjamin: Das Passagen-Werk, Bd. V/1, S. 279. Sommer: Sammeln, S. 110. Vgl. Neubert: Speichern; McGillen: Kompilieren; Kohns/Roussel: Kopieren. In: Christians/ Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 1; Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, S. 130–145 (zur Unterscheidung von Speicher- und Funktionsgedächtnis).
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PERSPEKTIVEN Während die internen Ordnungsstrukturen von Sammlun-
gen immer schon für wichtig erachtet wurden (spätestens seit Walter Nelson Durosts wegweisender Studie über CHILDREN’S COLLECTING aus den 1930er Jahren), ist dem kulturellen Wissen darum, wie man Sammlungen herstellt und benutzt, bisher noch vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit widerfahren. Vielmehr wird häufig angenommen, dass solche Kenntnisse irgendwie spontan vorhanden sind: „Was Sammeln ist, weiß jeder. Und jeder kann es“.56 Aber weiß wirklich jeder intuitiv, wie man einen Zettelkasten anlegt oder
Sammeln Perspektiven
In der Forschung ist auch vorgeschlagen worden, das Sammeln vom Horten (hoarding) bzw. vom Fetischismus abzugrenzen, da ersterem das für das Sammeln typische aktivische und selektive Moment fehlt und letzterem die Reflektiertheit;51 gelegentlich werden Sammeln und Fetischismus aber auch bruchlos miteinander verrechnet.52 Letztlich dürfte der Unterschied zwischen Sammeln einerseits und hortendem oder fetischistischem Sammeln andererseits auf ihrer unterschiedlichen sozialen Akzeptanz beruhen.53 Die häufig anzutreffende Unterscheidung zwischen eigentlichem Sammeln (von Kunst, Wissen und Liebhaberobjekten) und uneigentlichem Sammeln (von Gedanken und Ideen, ökonomischen Gütern und wertlosen Objekten) dürfte dagegen wenig hilfreich sein.54 Auch Mieke Bals Vorschlag eines „anti-collecting“ – in Form eines Sammelns von Objekten, die in keinerlei Beziehung zueinander stehen –55 vermag kaum zu überzeugen, es sei denn, man will die Heterogenität und scheinbare Zufälligkeit der Informations- und Datensammlungen des Internets in einer solchen begrifflichen Beleuchtung sehen. Dafür spricht zwar die Extension des Sammlungsbegriffs in digitalen Medien, dagegen jedoch die Logik des Sammelns selbst, das seine Objekte stets durch interne Relationierung in ein horizontales Bezugssystem einfügt.
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51 Vgl. Belk et al.: Collecting in a Consumer Culture; Sommer: Die Hortung: Eine Philoso-
phie des Sammelns; Böhme: Fetisch und Idol. In: Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur. 52 Vgl. Baudrillard: Das System der Dinge; Muensterberger: Collecting; Bal: Telling Objects. 53 Vgl. Belk: Ownership and Collecting, S. 37 f. 54 Vgl. dagegen Sommer: Sammeln, S. 114. 55 Bal: Telling Objects, S. 111. 56 Sommer: Sammeln, S. 7.
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Sammeln Perspektiven
eine Bibliothek organisiert? Auch nährt das Internet gerne die Vorstellung, dass es ein Imperium von Autodidakten und Sammeln selbst-evident ist. Wie jedoch das Beispiel mikrokosmischer (anspruchsvoller) Zeitkapseln wie der Westinghouse Time Capsule zeigt, bedürfen Sammlungen sehr wohl sogenannter Paratexte,57 wie des BOOK OF RECORD, die im Stile von ‚Gebrauchsanweisungen‘ über das aktive wie rezeptive Funktionieren von Sammlungen informieren.58 Bei Sammlungen und Sammlungspraktiken mit kürzerer Überlieferungskette kann das natürlich auch durch weniger aufwändige Lernprozesse (v.a. der Nachahmung) geschehen. Das ändert aber nichts daran, dass es immer schon etablierte Verfahrensweisen gibt, die sich keineswegs von selbst verstehen. Das gilt auch für das Internet und für digitale Datenbanken, wie das Internet Archive (www.archive.org), das im Jahr 2010 mit über 150 Milliarden Seiten und einer monatlichen Wachstumsrate von 20 Terabyte die größte Datensammlung der Welt war.59 Tatsächlich scheint der dramatisch verkürzte Lebenszyklus von Sammlungstechniken, Informationen und Interfaces in digitalen Medien für eine Paratext-Kultur jedoch kaum noch Zeit und Raum zu bieten. Die gängige Rede von Such-Routinen unterstreicht und verdeckt einen solchen Umstand zugleich. Nach wie vor aber gilt auch, dass alles Sammeln „zuarbeiten“ ist, dessen Benutzung sich „nur nachträglich – und als Ergebnis einer weiteren Operation – einstellen“ kann.60 Das macht Sammeln im jungen Medium natürlich noch kein schlechteres Sammeln, sondern seine Benutzer nur schlechtere Benutzer, umso mehr als digitales Sammeln nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ vom analogen Sammeln verschieden ist. Doch ist digitales Sammeln überhaupt noch Sammeln, verstanden als „the selective, active, and longitudinal acquisition, possession, and disposition of an inter-related set of differentiated objects (material things, ideas, beings, or experiences) that contribute to and derive extraordinary meaning from the
57 Vgl. Endres: Zeitkapsel und Paratext. In: Frese et al. (Hrsg.): Verborgen, unsichtbar, unles-
bar – zur Problematik restringierter Schriftpräsenz.
58 Vgl. Wegmann: Bücherlabyrinthe, S. 193. 59 Vgl. Kallinikos et al.: A Theory of Digital Objects. In: First Monday (https://doi.
org/10.5210/fm.v15i6.3033).
60 Wegmann: Im Reich der Philologie, S. 264 f.
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Sammeln Perspektiven
entity (the collection) that this set is perceived to constitute“?61 In der Forschung wird diese Frage in der Regel negativ beschieden.62 So drohen im Zeichen scheinbar universaler Verfügbarkeit, unsicher gewordener Eigentumsrechte und der Auflösung veritabler in virtuelle Objekte Wesen und Sinn, Nutzen und Nachteil des Sammelns ebenfalls unsicher zu werden. Als „Operation, die im direkten Kontakt mit den gegenständlich-realen Phänomenen ein Verbindungsmuster erstellt“,63 wird man digitale Sammeltechnologien jedenfalls kaum noch erfassen können. Das liegt nicht nur an den konkreten technischen Erscheinungsformen, in denen sich Gesammeltes in digitalen Medien präsentiert, sondern auch daran, dass es die für die Geschichte des Sammelns einschlägige Praxis umkehrt, Unsichtbares – Erinnerungen, Bedeutungen, affektive Besetzungen, Werte – durch Sichtbares – die Objekte der Sammlung – zu vertreten. Ein solches Sichtbarkeitspostulat ist auch der eigentliche Grund, warum Theorien des Sammelns häufig die dingliche Qualität alles Gesammelten überbetonen. In digitalen Sammlungen macht dagegen das Unsichtbare – Code und Algorithmus – den Inhalt der Sammlung – Daten und Informationen – sichtbar. So werden nicht mehr Texte gesammelt, wie im sogenannten Gutenberg-Zeitalter, sondern Hypertexte und Metadaten, die im Hintergrund von der Maschine gelesen werden, aus denen sich das, was ihre Benutzer sehen und verwenden, permanent regeneriert.64 Damit ist neben dem traditionellen Speicher-basierten Sammeln, das das Bild, den Text, die Sache sammelt, ein Retrieval-basiertes Sammeln entstanden, das in einer Art von Arche-Noah-Prinzip nur noch die Mittel sammelt, die nötig sind, um erstere, Bild und Text, fortlaufend zu reproduzieren. Das spart nicht nur Platz und Zeit und macht das Sammeln u.a. billiger, sondern definiert auch das für alles Sammeln charakteristische Knappheitsproblem neu: Knapp sind nun nicht mehr die Objekte der Sammlung selbst, die sich, im Gegenteil, zu einer
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61 Belk et al.: Collecting in a Consumer Culture, S. 180. 62 Vgl. z.B. Manovich: The Database. In: Ders.: The Language of New Media; Kallinikos et al.:
A Theory of Digital Objects; Zeller: From Object to Information.
63 Wegmann: Bücherlabyrinthe, S. 192. [Herv.i.O.] 64 Vgl. Lauer: Die zwei Schriften des Hypertexts. In: Jannidis et al. (Hrsg.): Regeln der Be-
deutung; Kallinikos et al.: A Theory of Digital Objects; Hui: What is a Digital Object? In: Metaphilosophy.
397
gigantischen Informationsflut vervielfacht haben,65 sondern die Erinnerungen, Bedeutungen, Affekte und Werte, die sich mit dem Inhalt von Sammlungen zu verbinden pflegen – und die (digitalen) Sammlungen nicht schon inhärent sind. In der Zukunft des Sammelns wird es daher auch um die Wiedergewinnung oder Produktion als sinnvoll erachteter Benutzungsstrategien gehen, ohne die das Sammeln seine entscheidende Dimension verliert: den Menschen.
Sammeln Forschung
FORSCHUNG Wohl auch im Zuge der Wiederentdeckung Walter Benja-
mins und seiner inzwischen berühmten REDE ÜBER DAS SAMMELN (1931) hat die Forschung zu nahezu sämtlichen Aspekten des Sammelns – historischen, gegenwärtigen, zukünftigen – quasi unüberschaubare Ausmaße angenommen. Multipliziert wird diese Zahl noch einmal durch speziellere Beiträge zum Sammeln aus der Sicht seiner prominentesten Vertreter: Wunderkammern, Museen, Archiven, Bibliotheken, Liebhabersammlungen, Zeitkapseln, Müllbergen, Datenbanken, dem Internet usw. Hier wären v.a. zu nennen: Horst Bredekamps inzwischen klassische Studie zur Kunstkammer und Vorgeschichte des modernen Museums,66 der von Anke te Heesen und E.C. Spary herausgegebene Sammelband zu epistemologischen Funktionen des Sammelns,67 Nikolaus Wegmanns Monografie zum ‚Suchen und Finden‘ im Bibliothekszeitalter,68 Umberto Ecos enzyklopädisches Kaleidoskop kultur- und kunstgeschichtlicher Aspekte des Gebrauchs von ‚Listen‘,69 Susan Pearces Revision des Sammelns als spezifisch europäischer Kulturpraxis,70 Russell Belks einschlägige Forschungen zum Sammeln unter den Bedingungen der Konsumgesellschaft,71 Werner Muensterbergers Psychographie des Typus ‚Sammler‘,72 Philipp Bloms illustrative Passionsgeschichte der Lieb-
65 66 67 68 69 70 71 72
398
Vgl. Gleick: The Information: A History, a Theory, a Flood, S. 373–397. Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Heesen et al. (Hrsg.): Sammeln als Wissen. Wegmann: Bücherlabyrinthe. Eco: Die unendliche Liste. Pearce: On Collecting. Vgl. u.a. Belk: Collecting in a Consumer Society. Muensterberger: Collecting.
Sammeln Forschung
habersammlung73 und schließlich Lev Manovichs und Marcus Burkhardts Beiträge zum Sammeln als digitaler Technik.74 Dabei haben sich in der angelsächsischen Forschung v.a. die Beiträge von Russell Belk als kritischer Standard etabliert, den die deutschsprachige Literatur häufig genug nicht beachtet. Belk verfolgt einen „naturalistischen“ Zugang zum Thema, indem er Sammeln als eine „specialised form of consumer behaviour“ versteht und auf tatsächliche Verhaltensmuster desselben im kapitalistischen Warenzeitalter zielt.75 Von Belk stammt auch die vielleicht umfassendste und zugleich bündigste Definition des Sammelns, die weiter oben bereits eingeführt worden ist. Eine phänomenologisch orientierte Durchsicht der kulturpraktischen Dimensionen des Sammelns liefert dagegen Manfred Sommers „philosophischer Versuch“ zum Thema, der (mit Edmund Husserl) nah an ‚den Sachen selbst‘ ist, aber eine zu Belks Ansatz gegenläufige Begrenzung des Begriffs vornimmt: „Es gibt nur ein Sammeln“, das „im ästhetischen Sammeln seinen reinsten Ausdruck“ findet.76 Spätestens seitdem es eine kritische Rezeptionsgeschichte des Sammelns und seiner Agenten gibt, gibt es aber auch eine Kritik des Sammelns: sei es aus marxistisch-konsumkritischer,77 dekonstruktivistischer,78 institutionengeschichtlicher,79 postkolonialistischer80 oder allgemein kulturkritischer Perspektive.81 Aktuell spielen v.a. Fragen einer Krise des Sammelns eine Rolle, bei denen es besonders um dessen Zukunftsmöglichkeiten im Informations-, Computer- und Digitalzeitalter geht.82 Solche Fragen, einschließlich solcher zum Zusammenhang von Sammeln und künstlicher Intelligenz, werden die Forschung wohl noch geraume Zeit beschäftigen.
S 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82
Blom: To Have and to Hold. Manovich: The Database; Burkhardt: Digitale Datenbanken. Belk et al.: Collecting in a Consumer Culture, S. 180. Sommer: Sammeln, S. 47 [Herv.i.O.]. Baudrillard: Das System der Dinge. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 165–210. Barkan: Collecting Cultures. MacLeod: Postcolonialism and Museum Knowledge. Clifford: On Collecting Art and Culture. Groys: Logik der Sammlung; Watkins et al.: Digital Collections; Zeller: From Object to Information.
399
Sammeln Forschung
Daneben existiert eine stetig wachsende Zahl literaturwissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit dem Sammeln in, von und als Fiktion befassen.83 Als literarischer Text mit paradigmatischer Funktion kann Goethes DER SAMMLER UND DIE SEINIGEN (1799) gelten. Zwar ist dessen Fokus recht spezifisch – es geht um eine fiktive Kunstkammer und ihre Geschichte. Letztere wird jedoch in einer Sammlung von (fiktiven) Briefen erzählt, so dass sich Gegenstand und Form der Kommunikation (Sammlung) wechselseitig kommentieren. Eine solche selbstreflexive Bezüglichkeit wird zwar auch in der Forschung bisweilen bemüht, etwa wenn die Relevanz des Themas nicht nur für die Gegenstands-, sondern auch für die Darstellungsebene betont wird (Stichwort ‚Sammel-Band‘). In Goethes Text bestätigen sich diese Ebenen aber nicht einfach, etwa in dem Sinne, dass der Sammlungscharakter des Wissens das Wissen vom Sammeln vorkonstruiert. Vielmehr moderiert die perspektivische Vielstimmigkeit der brieflichen Rede sowohl die verschiedenen Ansichten davon, was Sammeln ist, als auch den Anspruch des Sammelns selbst: „denn das Eigne hat eine bestimmte Sammlung, daß sie das Zerstreute an sich zieht, und selbst die Affection eines Besitzers gegen irgend ein einzelnes Kleinod, durch die Gewalt der Masse, gleichsam aufhebt und vernichtet“.84 Goethe scheint mithin gewusst zu haben, dass Sammeln nicht nur versammelt, was ansonsten zerstreut ist, sondern auch den, der sammelt und Sammlungen nutzt, seinerseits zerstreuen kann. Insofern wirkt sammeln in entgegengesetzte Richtungen und zerstreut so auch eilige Schlüsse darüber, was sammeln ist und bedeutet. Der Reiz des Sammelns, so scheint es, geht vielmehr ebenso sehr von seiner Kleinlichkeit, Voreingenommenheit, Besessenheit und Unzulänglichkeit aus, für die es verächtlich gemacht und kritisiert worden ist, wie von der Zuneigung, Neugier, Raffiniertheit und Geselligkeit, in deren Geist es ausgeübt wurde und immer noch wird.
83 Vgl. exemplarisch den umfangreichen Sammelband von Schmidt (Hrsg.): Sprachen des
Sammelns.
84 Goethe: Der Sammler und die Seinigen, S. 140–41. Freilich ist die Rekursionslogik des
Goethe‘schen Texts noch weitaus komplexer: So erscheint DER SAMMLER UND DIE SEINIGEN nicht nur im von Goethe selbst herausgegebenen Kunstjournal PROPYLÄEN, die Briefe beziehen sich auch auf letzteres usw. (vgl. Der Sammler und die Seinigen, S. 162).
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SCHWÄRMEN SEBASTIAN VEHLKEN
Schwärmen Anekdote
ANEKDOTE Pünktlich zur ersten Frühjahrsblüte 2018 und inmitten besorg-
S
ter Meldungen über ein sich quer durch Europa ziehendes Insektensterben machte die US-amerikanische Supermarktkette Wal-Mart Schlagzeilen. Diese drehten sich um ein frisch eingereichtes Patent mit dem Titel SYSTEMS AND METHODS FOR POLLINATING CROPS VIA UNMANNED VEHICLES, das den „Gläsernen Bienen“ des Ingenieurs Zapparoni in Ernst Jüngers Erzählung zur Ehre gereichte:1 Die Handelskette sicherte sich Rechte für die Entwicklung künstlicher Bienen in Form von Mikro-Drohnen – ein potenzieller Ersatz für die durch Intensivlandwirtschaft bedrängte natürliche Bestäubungsfauna. Schwärme von Kleinstfluggeräten sollen in naher Zukunft – mit entsprechenden Sensoren ausgestattet – Blüten ansteuern, Pollen selbstständig erkennen, und mittels akustischer Signale mit anderen ‚Robobees‘ kommunizieren. Dabei könnten sie dann nicht nur die Bestäubungsfunktion von Bienen übernehmen, sondern zugleich das Wachstum der Pflanzen überwachen oder sich gegebenenfalls um Schädlingsbefall kümmern. Wal-Marts Initiative ist nur eines unter vielen Projekten in einem neuen Forschungsfeld namens Collective Robotics. In dessen Mittelpunkt steht die Nutzung von Schwarmintelligenz, die größere Robustheit, Flexibilität und Verlässlichkeit verspricht als komplizierte Einzelroboter: Fallen einige Drohnen aus, bleiben Roboterkollektive dank eines ‚Bottom-up‘-Organisationsprinzips dennoch funktionsfähig. Wie Vogel-, Fisch- oder Insektenschwärme sollen auch sie sich ohne Vorwissen über ihre Umgebung und allein auf Basis des Informationsaustausches zwischen nächsten Nachbarn selbstständig auf wechselnde Umwelteinflüsse einstellen. Zwei Robotiker brachten es einmal folgendermaßen auf den Punkt: „[U]sing swarms is the same as ‚getting a bunch of small cheap dumb things to do the same job as an expensive smart thing‘.“2
1
Vgl. Wal-Mart Stores: Systems and Methods for Pollinating Crops via Unmanned Vehicles; vgl. Jünger: Gläserne Bienen. 2 Corner/Lamont: Parallel Simulation of UAV Swarm Scenarios, S. 355.
404
und schwärmen leiten sich dem WÖRTERBUCH DER GEBRÜDER GRIMM zufolge her von „eine[r] zunächst nur auf westgermanischem boden begegnende[n] bildung zu einer wurzel auf lautmalendem grunde, der auch schwirren [...] und das [...] späternordische svarra rauschen, wimmeln, schwärmen angehört.“3 Adelung beschreibt einen Schwarm als einen „unordentliche[n] Haufe ein verworrenes Geräusch machender lebendiger Dinge“ und „verworrene[s] Geräusch einer ungeordneten Menge.“4 Um einen Schwarm begrifflich zu bezeichnen, wird der Umweg über das Ohr genommen. Eine visuelle Bestimmbarkeit fällt hinter die akustische zurück. Etymologisch verortet wird diese Bestimmung mithin in einem Geräusch, das seine Nähe zum Rauschen nicht leugnen kann: „schwarm, schwärmende menge. a) beim ersten vorkommen des wortes bezogen auf die summende bienenschaar [...] b) in weiterer anwendung aber auch von einer schwärmenden menge in mannigfacher art, deutlich von der engern bedeutung des bienenschwarms ab ausgebildet.“5 Eine Begriffsgeschichte des Schwarms und des Schwärmens weist damit genealogisch vor allem auf eine spezifische Phase im Jahresverlauf: „Schwärmen wird von den jungen Bienen gesagt, welche aus den starck besetzten alten Stöcken im Mai oder Junis, so der Bienen ordentliche Schwarmzeit, mit ihrem eigenen Könige oder Weisel ausziehen, und eine andere Herberge finden.“6 Konstitutiv ist ein kollektives Sich-in-Bewegung-setzen samt seiner Geräusche. Im technischen Vokabular der Bienenzucht, das sich seit dem Frühmittelalter ausbildet, nimmt dieses Schwärmen als spezifische Praktik eine Sonderstellung ein: Anders als die jahreszeitlichen Einteilungen eines Nacheinanders von Haupt-, Vor-, Nach-, oder Notschwärmen, die Bienen im Sinne der Imkerei als beherrschbare Objekte mit regelhaftem Verhalten und einer vorhersagbaren Ökonomie konstituieren,7 bringt das Schwärmen kollektive Bewegungsdynamiken auf Distanz zur Geschlossenheit des Bienenstocks und der sozialen Figur
Schwärmen Etymologie
ETYMOLOGIE Doch am Anfang steht das Rauschen. Die Wörter Schwarm
S
3 4 5 6
(Art) Schwarm, Schwärmen. In: Grimm, Sp. 2283. (Art) Schwarm. In: Adelung, Sp. 1715 f. (Art) Schwarm, Schwärmen. In: Grimm, Sp. 2284. (Art) Schwarm, Schwärmer. In: Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 35, S. 912, Sp. 1795 f. 7 Vgl. Reichert: Huschen, Schwärmen, Verführen. In: Kunsttexte, o.S.
405
Schwärmen Kontexte
des Bienenvolks. Damit deutet sich bereits eine relationale Bestimmung von Schwärmen als temporären und temporalen Bewegungskollektiven an, die stets in den vier Dimensionen von Raum und Zeit zu denken ist. Schwärme und ihr Schwärmen rekurrieren in diesem Sinne auf eine fluide gewordene, durchlässige Grenze zwischen den Bestimmungen von Vielheit und Einheit. Mit den Worten des US-amerikanischen Medienwissenschaftlers Eugene Thacker zeigen sie zwar erkennbare globale Muster, doch dies bedeute keinen Primat des Kollektivs vor dem Individuum oder umgekehrt.8 Ein Schwarm existiert weder auf lokaler noch auf globaler Ebene, sondern auf einer dritten Ebene, auf der Vielheit und Relationen zusammenfallen. In der akustischen Benennung von Schwärmen reflektiert sich die Unmöglichkeit einer präzisen visuellen Repräsentation – Schwärme können nur unscharf zwischen Geräusch und Rauschen bestimmt werden. Genau deshalb jedoch ist Schwärmen medienwissenschaftlich so interessant: Es verkörpert jenes bruit parasite, mit dem in Anlehnung an Michel Serres jede Medientheorie ihren Anfang nimmt.9 Es wirkt gleichzeitig als Agent der Materialisierung von Störung und Rauschen und als Prozess ihrer produktiven Aufwertung. Seine in der Imkerei verankerte Etymologie verknüpft dabei eine Faszinationsgeschichte der Observation und Hegung kollektiver Formationen mit der Geschichte eines epistemischen Horrors vor dem, was nicht Gestalt werden kann. KONTEXTE Von der für seine Etymologie maßgeblichen Bienenzucht her
wirkt das Schwärmen somit erstens als Grenzphänomen einer Politischen Zoologie. Gekennzeichnet durch Organisationsstrukturen wie z.B. Ortsgebundenheit, den Bau und Unterhalt spezifischer Architekturen oder hierarchische Funktionsteilungen, waren Bienen und andere ‚soziale‘ Insekten bereits seit der Antike zu Imaginationsfiguren auch politischer Ordnungen im menschlichen Bereich geworden.10 Sie stabilisierten eine klassische anthropologische differentia specifica, die dem Menschen eine besondere Rolle im Tierreich sicherte. Als Bewegungsfigur jedoch ruft das Schwärmen – schon bei biblischen 8 9
Vgl. Thacker: Networks, Swarms, Multitudes. In: CTheory, o.S. Vgl. Serres: Der Parasit, S. 79; vgl. Siegert: Die Geburt der Literatur aus dem Rauschen der Kanäle. In: Franz u.a. (Hrsg.): Electric Laokoon: S. 5–41: 7. 10 Vgl. z.B. Johach: Wilde Soziologie; vgl. Werber: Ameisengesellschaften.
406
11 12 13 14 15
Schwärmen Kontexte
Heuschrecken- und Käferplagen angefangen – Situationen der Bedrohung, der Störung und Zerstörung von Ordnung und Ordnungswissen hervor, die diese anthropologische Konstante verwischen. Sowohl das Schwärmen als auch Schwärme negieren Identitäten und erzeugen Unschärfen und Intransparenzen in Bezug auf räumliche Bezugs- und operationale Regelungssysteme; sie verunmöglichen eine projektive Identifizierung des Menschen im Tier und erzeugen historisch höchstens „Mischungen von Ratlosigkeit“,11 da sie sich einer sinnlichen Synthese, einer Vermittlung und Übermittlung widersetzen. Diese Destabilisierung fassten Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer Typologie von Mensch-Tier-Verhältnissen unter den ‚dämonischen Tieren‘. Charakteristisch sei deren Auftreten als Vielheit – in Rotten, Meuten oder Schwärmen –, durch das sie sich der Abzählbarkeit und Subsumption widersetzten. Die Autoren stellen sie in Kontrast zu den ödipalen Haustieren, die als Vehikel narzisstischer Selbstbetrachtung dienten, und zu den Gattungs-, Klassifikations- und Staatstieren, bei denen die Repräsentationsfunktion im Vordergrund stehe.12 Dämonische Tiere hingegen taugten kaum zu einer Verwandlung ins Anthropomorphe, da sie das Gesetz der Gattung selbst unterliefen. Ihr Schwärmen wird als dispersives Handlungsgefüge verstanden. Es erzeugt eine Unbestimmtheit und Unklarheit von räumlichen Positionen und rationalen Bezugssystemen und lässt an die Stelle einer reflexiven Identifizierung des Menschen ‚gegenüber‘ dem Tier eine wechselseitige affektive Durchdringung treten.13 Dass Schwärme angetan sind Metamorphosen auszulösen, die weg vom Menschen führen, findet seinen Widerhall zweitens auch in den bereits in der Neuzeit aufkommenden und zur Zeit der Aufklärung geradezu als „Kampfbegriffe“14 verwendeten Bezeichnungen der ‚Schwärmer‘ (die z.B. im ZEDLER folgerichtig nur als Plural vermerkt sind) und der ‚Schwärmerey‘. Im Rückgriff auf Martin Luthers Auseinandersetzung mit dem „Schwarmgeist“ revolutionärer Theologen wie Andreas von Karlstadt und Thomas Müntzer15
S
Reichert: Huschen, Schwärmen, Verführen, o.S. Vgl. Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 328 ff. Vgl. Reichert: Huschen, Schwärmen, Verführen, o.S. Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer. In: Aufklärung, S. 3. Vgl. Gritsch: Luther und die Schwärmer. In: Luther, S. 105–121.
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Schwärmen Kontexte
definiert ZEDLERS LEXIKON ‚Schwärmer‘ als „diejenigen Fanatici […] die aus Mangel der Beurtheilungskraft allerley der Christlichen Religion und bisweilen der Vernunfft selbst, widersprechende Meinungen hegen und dadurch öffentliche Unruhen anrichten“.16 ‚Schwärmer‘ sind nicht bloß in ihren Ansichten irregeleitet, sondern wenden „ihre Irrthümer zu Stöhrung der Ruhe und allerley Verwirrungen“ an – bis ins Zeitalter der Aufklärung trägt sich eine Konnotation mit den Ausschreitungen und der Gewalt der Bauernaufstände in den 1520er Jahren weiter. Und dabei wurde gerade als Wesensmerkmal der Schwärmerey konstatiert, „daß man kein Systema von den Lehren dieser Leute geben könne“, da es „wider die Natur der Schwärmerey seyn würde, einen Zusammenhang ihrer widersinnigen Lehren zu bestimmen.“17 Nicht zuletzt Immanuel Kant positioniert die Begriffe ‚Schwärmer‘, ‚Schwärmerei‘ und ‚schwärmen‘ dezidiert als Gegenbegriffe eines vernunftgeleiteten Denkens: Sie sollen ex negativo die Aufklärung gegenüber geistesgeschichtlichen Hypotheken der Vergangenheit absichern18 und zeitgenössischen Strömungen z.B. von Mystizismus, Spiritismus und Apokalyptik entgegenwirken. Denn als „regellose Leidenschaften“19 oder willkürliche Überspanntheit der Geisteskraft bedrohten sie die Repräsentation innerhalb der menschlichen „Schranken der Erfahrung.“20 Schwärmen wird damit pathologisiert zu einem Zustand mentaler Unzurechnungsfähigkeit: „[W]enn Empfindungen für Urtheile geltend angenommen werden, so ist das baare Schwärmerei, welche mit der Sinnenverrückung in naher Verwandschaft steht.“21 Ein Zustand, der folgerichtig bald auch in die Register der humanmedizinischen Mentaldiagnostik einzieht: Wer ‚einen Schwarm hat‘, der ist „non sanae mentis“ und findet sich „im Fachwortschatz von delirium, phrenesis, mentis alienatio, demulentia und aniliter decipit wieder.“22 Daran ändert auch die romantische Rehabilitation des Schwärmens als enthusiastischer Verinnerlichung wenig, die noch in Robert
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(Art) Schwärmer. In: Zedler, Sp. 1795. Ebd., Sp. 1796. Vgl. Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer, S. 3. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 195 Kant: Prolegomena, S. 116 Hinske: ‚Schwärmer’ im Kontext von Kants Anthropologiekolleg, S. 79. Reichert: Huschen, Schwärmen, Verführen, o.S.
Schwärmen Kontexte
Musils Theaterstück als Signum des „vulkanischen Menschen“23 weiterwirkt: Mit der Romantik wandelte sich das während der Aufklärung beklagte wirklichkeitsferne Denken in den Köpfen der Schwärmer in jene schwärmerische Verehrung von Personen, die einem den Kopf verdrehten. Drittens verschiebt sich unter den Eindrücken der modernen Massengesellschaft im ausgehenden 19. Jh. das Augenmerk von den Verwirrnissen des rationalen Subjekts zur Bewegtheit des Massenmenschen der Metropolen. Weiterhin treten Schwärme nicht als biologische Phänomene eigener Güte auf, sondern werden stets in Begleitung eines Blicks auf den Menschen und seine sozialen Beziehungen thematisiert. Diese knüpfen sich nun aber weniger an universale politische oder mentale Ordnungen als an neue Erfahrungssituationen in den sich industrialisierenden Gesellschaften: Georg Christoph Lichtenberg schreibt von den Bewegungsstürmen auf den Straßen der Großstädte,24 Johann Heinrich Campe erwähnt die „zahllose Menge neuer Bilder, Vorstellungen und Empfindungen, die wie die junge Bienenbrut dem Beobachter bei jedem Schritte, den er tut, hier jetzt schwärmend zufliegen“,25 und Émile Zola bewundert das Tohuwabohu in den Börsenräumen des ausgehenden 19. Jhs. als ameisengleiches Gewimmel.26 Die Faszination für die ‚latente Masse’ findet ihr pathologisches Zerrbild jedoch zeitgleich in den Schriften der Massenpsychologie, in denen das Verhalten von ‚aktuellen Massen‘ diskutiert wird.27 Autoren wie Francis Galton, Gabriel de Tarde, Scipio Sighele oder Gustave Le Bon beschreiben letztere als sich spontan zusammenschließende, nervöse, reizbare und konstitutiv unberechenbare Kollektivformen. In der Masse entledigten sich die beteiligten Individuen aller rationalen Instanzen. Hier löste sich, so Joseph Vogl, das Soziale vom Einzelwesen ab und präsentierte sich in „seiner pursten Gestalt […]: als das Irrationale schlechthin.“28 Die ‚explosiven’ Dynamiken revoluti-
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23 Kümmel: Vulkanischer Stoff. In: Die Zeit. Unter: https://www.zeit.de/2000/10/
Vulkanischer_Stoff [aufgerufen am 05.08.2020]; vgl. Musil: Die Schwärmer. Vgl. Asendorf: Ströme und Strahlen, S. 120. Campe: Briefe aus Paris während der Französischen Revolution geschrieben, S. 137. Vgl. Zola: Das Geld. Vgl. Canetti: Masse und Macht. Vogl: Über soziale Fassungslosigkeit. In: Gamper/Schnyder (Hrsg.): Kollektive Gespenster, S. 171–189, 181.
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Schwärmen Kontexte
onärer Massen gelten als Effekte einer kollektiven „Depravation zum Tier“,29 für die um 1900 Erklärungsansätze aus der Naturforschung gesucht werden – Galton rekurriert auf eigene Beobachtungen zum Herdenverhalten afrikanischer Büffel, Tarde und Sighele zitieren Alfred Espinas’ Überlegungen zur Erregungsweitergabe bei Wespen und Le Bon bezieht sich auf die Reflexologie von Wladimir Bechterew und erste bakteriologische Übertragungstheorien.30 Doch die zu Rate gezogenen Tierstudien basierten ihrerseits allzu oft auf anthropomorphen Übertragungen, mit denen sich Naturforscher seinerzeit bei der Beschreibung biologischer Phänomene behalfen.31 So ergibt sich ein tautologisches Erkenntnishindernis in Bezug auf ein Wissen von Schwärmen: Denn wo die Massenpsychologie auf ein ‚ethologisches Wissen‘ zurückgreift, das selbst von frühen anthropomorphistischen und ‚humanpsychologischen‘ Begriffen wie ‚Muth‘, ‚Erregung‘, ‚Intelligenz‘, ‚Massenseele‘ etc. durchsetzt ist, wird lediglich eine Übertragungsschleife geschlossen, die je schon das Tierische im Menschlichen und das Menschliche im Tierischen gesehen hatte.32 Viertens werden ab dem Beginn des 20. Jhs. als Teil eines sich herausbildenden Fachgebiets namens Verhaltensbiologie erste Studien von Schwärmen unternommen, die sich von diesem anthropologischen Ballast befreien.33 Fasziniert von den Fähigkeiten ‚dummer‘ Tiere zur Bildung ‚intelligenter‘ Kollektivstrukturen beginnen Entomologen wie William M. Wheeler in den USA ‚im Feld‘ die Lebensweisen sozialer Insekten zu erforschen.34 Und in Großbritannien wendet sich ein spezieller Typus von Abenteurern und Freizeitforschern von der traditionellen „armchair ornithology“ ab und verschreibt sich ebenfalls der Suche nach empirischen Befunden. Jedoch mit recht rudimentärem
29 Vgl. Gamper: Massen als Schwärme. In: Horn/Gisi (Hrsg.): Kollektive ohne Zentrum,
S. 69–84.
30 Vgl. z.B. Galton: Inquiries Into Human Faculty and Its Development; vgl. Sighele: La foule
criminelle; vgl. Tarde: L’Opinion et la foule; vgl. LeBon: Psychologie der Massen.
31 Vgl. z.B. Espinas: Die thierischen Gesellschaften; vgl. Bechterew: Suggestion und ihre so-
ziale Bedeutung; vgl. Forel: Les fourmis de la Suisse; vgl. Rouget: Sur les Coléopteres parasites des Vespides. 32 Vgl. hierzu ausführlicher Vehlken: Zootechnologien, S. 51–93. 33 Vgl. Nyhart: Natural history and the ‚new‘ biology. In: Jardine u.a. (Hrsg.): Cultures of Natural History, S. 426–443. 34 Vgl. Wheeler: The Ant-Colony as an Organism. In: Journal of Morphology, S. 307–235.
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Schwärmen Kontexte
Inventar: Ihr Forschungsinstrumentarium besteht vornehmlich aus Fernglas, Papier und Stift, sehr viel Geduld und Sitzfleisch und selbstgebauten und gut getarnten Beobachtungsunterschlüpfen.35 Während Wheeler als institutionalisierter Forscher den funktionalen Begriff des ‚Superorganismus‘ für jene über die individuellen Vermögen der Schwarmindividuen hinausgehenden Leistungen prägte, der auch in zeitgenössischen philosophischen Überlegungen zum Begriff der Emergenz seinen Niederschlag fand, suchte die Hobby-Ornithologie allzu oft Zuflucht in der Metaphysik: Weil die Geschwindigkeit der Interaktionen von Vogelschwärmen mit ihrem Instrumentarium nicht nachzuverfolgen war, suchten sie deren Grund in einem über-sinnlichen ‚Schwarmgeist‘ oder in ‚Gedankenwellen‘, für deren Aufzeichnung (noch) keine geeignete Technologie bereitstehe.36 Eine Tendenz, die durchaus im zeitgenössischen Zusammenhang mit populären Theorien der Gedankenübertragung bei Tier und Mensch, mit den aufkommenden Medien drahtloser Signalisierung wie Radio oder Radar und mit verschiedenen, heiß diskutierten physikalischen Wellentheorien zu denken ist.37 Bald jedoch drängten physiologische Laborstudien vor allem an besser experimentalisierbaren Fischschwärmen die Restbestände metaphysischer Schwarmtheorien in den Hintergrund. Anstatt durch mysteriöse Über-Sinne ließen sich Schwarmbewegungen infolge von Aquariumbeobachtungen schlicht auch als Ergebnis multipler psycho- und physiomechanischer Reaktionen mit einem simplen Regelset von Anziehungs- und Abstoßungsimpulsen beschreiben.38 Systematisch wurde dabei getestet, welche sensomotorischen Eigenschaften – etwa in Bezug auf den Seh- und Drucksinn – zur Schwarmbildung ausreichend sein könnten.39 Und nach dem Zweiten Weltkrieg rüstete die Fischschwarmforschung medientechnisch auf: Mittels Filmkameras und mit Messrastern versehenen Aquarien wurden Schwärme mit bis zu einigen
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Vgl. Selous: Bird Watching. Vgl. z.B. Selous: Thought Transference (Or What?). In: Ders.: Birds. Vgl. Vines: Psychic Birds (Or What?). In: New Scientist, S. 48–49. Vgl. Parr: A Contribution to the Theoretical Analysis of the Schooling Behavior of Fishes. In: Occasional Papers of the Bingham Oceanographic Collection, S. 1–32. 39 Vgl. Spooner: Some Observations on Schooling in Fish. In: Journal of the Marine Biological Association of the United Kingdom, S. 421–48.
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Schwärmen Kontexte
Hundert Individuen auch durch Techniken wie Wiederholung und Zeitlupe beobachtbar,40 und durch Spotlights erzeugte Schattenwürfe ermöglichten bald die Erhebung dreidimensionaler Positionsdaten.41 Doch die Datenverarbeitung blieb höchst aufwendig, da die Veränderungen der individuellen Fisch-Positionen frame-by-frame an Standbild-Projektionen oder anhand von Photo-Prints nachgemessen werden mussten. Obwohl später auch teil automatisierte Aufschreibesysteme eingesetzt wurden, die mittels Computerprogrammen samt GUI die Positionsdaten einlasen, optische Unschärfen herausfilterten und die Bewegungspfade einzelner Individuen per Koordinatenplotter auszugeben imstande waren,42 verzweifelten die Forscher sukzessive an der schieren Menge der Daten.43 Für Schwärme gilt somit dasselbe, was der Kunsthistoriker Hubert Damisch für Wolken proklamiert: Sie markieren die Grenze des zentralperspektivischen Codes und seiner Repräsentationsfähigkeit.44 Ihre Bewegungen übersteigen nicht nur das Vermögen der menschlichen Wahrnehmung, sondern auch die Analysekapazität optischer Aufzeichnungsmedien. Ein Geschehen, das sensuell oder medial übertragen werden soll, wird hier vom eigenen Übertragungsgeschehen eingeholt.45 Das Schwärmen von Schwärmen verwirrt den Blick auf das Wissensobjekt ‚Schwarm‘, es insinuiert in einem Chaos von Raum-, Zeitund Bewegungsdaten eine „Unfähigkeit zu empirisch erfahrbaren Objekten“ – ganz so, wie es Alfred Hitchcock in seinem Klassiker THE BIRDS (USA 1963) inszeniert.46 Ein ästhetisches Grenzphänomen fällt hierbei mit einem analytischen zusammen.
40 Vgl. Radakov: Schooling in the Ecology of Fish, S. 54. 41 Vgl. Shaw: The Schooling of Fishes, S. 130; vgl. Cullen u.a.: Methods for Measuring the
Three-Dimensional Structure of Fish Schools. In: Animal Behavior, S. 534–543.
42 Vgl. Partridge u.a.: The Three-Dimensional Structure of Fish Schools. In: Behavioral Eco-
logy and Sociobiology, S. 277–288.
43 Vgl. Partridge/Cullen: Computer Technology: A Low-Cost Interactive Coordinate Plotter.
In: Behavior Research Methods & Implementation, S. 473–479; vgl. Parrish u.a.: Introduction – From Individuals to Aggregations. In: Animal Groups in Three Dimensions, S. 1–14. 44 Vgl. Damisch: Die Geschichte und die Geometrie. In: Archiv für Mediengeschichte, S. 11– 25. 45 Vgl. Vogl: Gefieder, Gewölk. In Filk u.a. (Hrsg): Synaesthetics, S. 140–49. 46 Ebd., S. 145.
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KONJUNKTUREN Zwar unternehmen ab Ende der 1970er v.a. in Japan ver-
einzelte Schwarmforscher Versuche, durch Kombinationen möglicher individueller physiomechanischer Parameter daraus resultierende Kollektivformationen und -bewegungen in Computermodellen zu erzeugen.50 Die exorbitante Anzahl und Nicht-Linearität von Interaktionsmöglichkeiten schon bei geringer Variablen- und Individuenanzahl sowie das Fehlen grafischer Interfaces steht deren breiter Anwendung jedoch im Wege. Während die biologische
Schwärmen Konjunkturen
Fünftens wurde angesichts dieser Fallstricke auf der Basis lückenhafter empirischer Daten versucht, mathematische Modelle zu konstruieren, die sich mit der geometrischen Form von Schwärmen oder mit den Algorithmen des lokalen Verhaltens von Schwarm-Individuen beschäftigen.47 Die biologische Schwarmforschung verband sich dabei mit kybernetischen Vorstellungen von ‚Kommunikation‘ oder ‚Informationsübertragung‘. Bereits auf den MacyKonferenzen interessierten sich Wissenschaftler z.B. für die Synchronisationsprozesse in Schwärmen und stellten Überlegungen über mögliche und nötige Informationsübertragungsgeschwindigkeiten an.48 Ausgestattet mit einem neuen Fachvokabular, begannen die Forscher nach und nach, Schwärme formal als Systeme zu beschreiben, die Bewegungsinformationen verarbeiten, welche zwischen den Schwarm-Individuen und in Bezug auf externe Einflussfaktoren wie Wind oder Fressfeinde entstehen. Die Biologen Carl Schilt und Kenneth Norris etwa definieren Schwärme als „interacting array of sensors and effectors“, das mittels „social signals“ Bewegungsimpulse austauschen, beschleunigen oder nivellieren könne. Wenn hierbei von Schwärmen als ‚social media‘ die Rede ist, meint dies folglich eine quantifizierbare Menge von Informationsverhältnissen.49 Doch was fehlt, sind Medientechnologien, die derartige Abstraktionen und Formalisierungen in testfähige Umgebungen hätten überführen können.
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47 Vg. Vehlken: Zootechnologien, S. 253–300. 48 Vgl. Birch: Communications Between Animals. In: Pias (Hrsg.): Cybernetics: The Macy
Conferences (Bd. 1), S. 446–528.
49 Vgl. Schilt/Norris: Perspectives on Sensory Integration Systems. In: Parrish/Hamner
(Hrsg.): Animal Groups in Three Dimensions, S. 225–244.
50 Vgl. Aoki: A Simulation Study on the Schooling Mechanism in Fish. In: Bulletin of the Ja-
panese Society of Scientific Fisheries, S. 1081–1088; vgl. Inagaki u.a.: Studies on the Schooling Behavior of Fish. In: Bulletin of the Japanese Society of Scientific Fisheries, S. 265–270.
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Schwärmen Konjunkturen
Schwarmforschung zu Beginn der 1980er Jahre in einem „technological morass“51 steckt, genießen Schwärme im Rahmen des Aufschwungs der Complexity Science zunehmende Aufmerksamkeit als abstraktes Strukturmodell für Systeme im Modus des „out of control“.52 Vor allem das Santa Fe Institute (SFI) dient von 1984 an als interdisziplinäres Sammelbecken für Forschungen an turbulenten und chaotischen Phänomenen, die mittels individuenbasierter Simulationsansätze und evolutionärer Algorithmen anstatt mit etablierten Verfahren der Top-Down-Modellierung umgesetzt werden. Letztere verlangten schlicht zu viel Vorabwissen über die zu beschreibenden Zusammenhänge.53 Forscher wie John Holland, Stuart Kauffman oder Christopher Langton entwickeln hier Programme, mit denen sich die Emergenz bestimmter dynamischer Muster und Ordnungen in non-linearen Vielteilchensystemen mittels Computerexperimenten annähern lässt.54 Grundlegend geht es um die Frage, wie aus der Interaktion von Elementen mit ganz einfachen Eigenschaften – dies können z.B. auch unbelebte Staubteilchen oder Wassermoleküle sein – durch Prozesse der Selbstorganisation komplexe Globalphänomene entstehen können. Doch ironischerweise bedarf es einer Intervention aus Hollywood, um sogenannten agentenbasierten Schwarmsimulationen (ABM) zum Durchbruch zu verhelfen: Ursprünglich für einige Fledermausschwarm-Sequenzen im Film BATMAN RETURNS (Tim Burton, USA 1992) programmiert der Softwareentwickler Craig Reynolds ein CGI-Verfahren, das für jedes einer Anzahl von ‚bird-oid objects‘ eine eigene geometrische Orientierung und einen individuellen, lokal wirksamen Algorithmus aus drei „traffic rules“ implementiert – Collision Avoidance, also die Einhaltung eines Mindestabstands zu umgebenden Schwarmmitgliedern, Velocity Matching, d.h. die Anpassung von Geschwindigkeit und Richtung an nächste Nachbarn, und Flock Centering, also eine Ausrichtung auf das jeweils lokal als Mitte der umgebenden
51 Parrish u.a.: Introduction – From Individuals to Aggregations. In: Animal Groups in Three
Dimensions, S. 10.
52 Vgl. Kelly: Out of Control. 53 Vgl. Helmreich: Silicon Second Nature. 54 Vgl. z.B. Holland: Emergence. From Chaos to Order; Kauffman: The Origins of Order:
Self-Organization and Selection in Evolution; Langton: Artificial Life: An Overview. Langton: Life at the Edge of Chaos. In Artificial Life II, S. 41–91.
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The ‚bio‘ is transformatively mediated by the ‚tech‘ so that the ‚bio‘ reemerges more fully biological. [...] The biological and the digital domains are no longer rendered ontologically distinct, but instead are seen to inhere in each other; the biological ‚informs‘ the digital, just as the digital ‚corporealizes‘ the biological.56
Reynolds’ dynamische computergrafischen Visualisierungen, die natürlich einer entsprechenden Großcomputing-Infrastruktur bedürfen, bereiten einer neuen epistemischen Strategie den Weg: Sie präsentieren eine prozedurale Erkenntnisweise, in der sich Schwarm-Individuen selbsttätig lokalisieren, organisieren und synchronisieren. Der vermessende Blick zentralperspektivischer Beobachtungsmedien wird abgelöst durch ein topologisches System, das sich seinen Raum selbst schafft. Dieser Schwarm-Raum liefert durch seine
Schwärmen Konjunkturen
Schwarmindividuen wahrgenommene Zentrum des Schwarms.55 In Testläufen, die Reynolds – und das ist neu – am Computermonitor verfolgen kann, stellt sich heraus, dass sich eine realitätsnahe Schwarmbewegung nur einstellt, wenn sich die ‚Boids‘ an nur wenigen Nachbarn orientieren. Ein begrenztes, örtlich beschränktes Wissen ist fundamental für das globale Funktionieren des Kollektivs. Damit umfliegen die synthetischen Schwärme ohne die Hinzunahme weiterer Modellierungsparameter selbsttätig Hindernisse oder ändern ganz plötzlich und abrupt ihre Flugrichtung. Wegen ihrer Einfachheit und Flexibilität werden derartige Anwendungen bald zu einem festen Bestandteil im Special-Effects-Bereich und als Grafiktools in Animationssoftwares eingebaut. In den Film kehren Schwärme damit nicht mehr bloß als – nun computergenerierte – visuelle Bildstörungen zurück, sondern dienen gleichzeitig als organisatorisches Prinzip der Bildgebung in diesen Softwares. Mit deren Reimport auch in wissenschaftliche Simulationen ist ein Kulminationspunkt in der Mediengeschichte des Schwärmens erreicht: Schwärme werden sich selbst zum Modell und zur Möglichkeitsbedingung. In Computersimulationen kann nun mit Distributed-Behavior-Parametern ‚experimentiert‘ werden, die danach auch als mögliche basale biologische Verhaltensregeln erscheinen. Oder kurz:
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55 Vgl. Reynolds: Flocks, Herds, and Schools: A Distributed Behavioral Model. In: Computer
Graphics, S. 25–34.
56 Thacker: Biomedia, S. 6–7.
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Schwärmen Konjunkturen
Adaptation an externe Einflüsse darüber hinaus auch Informationen über die Beschaffenheit des ihn umgebenden Umwelt-Raumes. Ab dieser medienhistorischen Schwelle, an der durch die epistemische Verschränkung von Biologie und Computerwissenschaft ein weitreichendes und neues Wissen um die Steuerungs- und Selbstorganisationsprinzipien von Schwärmen zugänglich wird, können diese als Wissensfiguren in verschiedenen Einsatzkontexten und technischen Anwendungen operabel werden.57 Schwarmlogiken bringen eine neue Ökonomie in technische Verfahren ein, die auf der Flexibilität der Modellumgebung, einer distribuierten Kontrolle und Steuerung, der selbstständigen Produktion nicht vorhersehbarer Lösungen und einer hohen Fehlertoleranz und systemischen Ausfallsicherheit basiert. Schwärme integrieren sich als Bestandteil evolutionärer Software-Entwürfe, mit denen mathematische Optimierungen durchgeführt werden – etwa als Particle Swarm Optimization.58 Diese werden für Prozesse eingesetzt, in die eine Vielzahl miteinander wechselwirkender und sich gegenseitig beschränkender Variablen involviert sind. Deren Applikationsfeld reicht von industriellen Fertigungsprozessen über die Logistikplanung bis hin zur Optimierung von Netzwerkprotokollen.59 Signifikant forciert wird diese Entwicklung von einem computertechnischen Paradigma zu einem übergreifenden Strukturprinzip von Gruppenverhalten auch von interdisziplinären Studien zu selbstorganisierenden Systemen in der Natur. So befassen sich die Forscher Eric Bonabeau, Guy Theraulaz und Marco Dorigo Ende der 1990er Jahre v.a. mit den Fähigkeiten sozialer Insekten und suchen nach technischen Umsetzungen z.B. der kollaborativen Produktion komplexer Architekturen wie Termitenhügeln.60 Kurzum: Überall dort, wo sich zeitkritische Koordinations- und Übertragungsprobleme zwischen vielen
57 Vgl. Couzin/Krause: Self-Organization and Collective Behavior in Vertebrates. In: Ad-
vances in the Study of Behavior, S. 1–75; vgl. Vehlken: Fish & Chips. In: Gisi/Horn (Hrsg.): Schwärme S. 125–146; vgl. Vehlken: Zootechnologies. In: Theory, Culture and Society, S. 110– 131. 58 Vgl. Kennedy/Eberhart: Particle Swarm Optimization. In: Proceedings of the IEEE International Conference on Neural Networks, S. 1942–1948; vgl. Kennedy/Eberhart: Swarm Intelligence. 59 Vgl. Engelbrecht: Fundamentals of Computational Swarm Intelligence. 60 Vgl. Bonabeau u.a.: Swarm Intelligence: From Natural to Artificial Systems.
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Schwärmen Konjunkturen
Einheiten ergeben – dies können sich bewegende Autos in Verkehrssimulationen, Menschen in Sozial-, Panik-, Consumer- oder Epidemiesimulationen, Tiere in Schwarmsimulationen, Aerosole in Klimamodellen oder gar Baustellenschüttgüter sein –, wird die Bewegungsintelligenz von Schwärmen in synthetischen Computermodellen ausgespielt. Schwärmen erzeugt Information durch Formation. Die erfolgreiche technische Anwendung von Schwarmintelligenz – der Ausdruck selbst wird 1989 zuerst im Kontext der Robotik geprägt61 – forciert um die Jahrtausendwende herum schließlich einen Zeitgeist und eine Weltsicht, in denen kulturelle Prozesse und Phänomene stets als durch multiple, dynamische Interaktionen autonomer, sich selbst optimierender ‚Agenten‘ geprägt erscheinen. Teils euphorisch werden z.B. in Howard Rheingolds SMART MOBS die Potenziale eines ‚social swarming‘ und die basisdemokratische ‚Natur‘ schwarmhaft agierender menschlicher Techno-Kollektive – aka ‚Adhocracy‘ – beschworen, die ohne zentrale Mobilisierungsinfrastruktur auskommen.62 Mittels massenhafter paralleler peer-to-peer-Kommunikation zwischen mobilen Endgeräten lassen situationsbezogene, angeblich emanzipativere Formen der Gruppenbildung traditionelle, eher hierarchisch strukturierte Organisationsformen plötzlich alt und veraltet aussehen – Schwärme liefern die passende Metapher für aller Art tactical media.63 Flankiert wird diese Euphorie von neo-deleuzianischen Philosophien, in denen dessen Begriffe etwa der ‚Mannigfaltigkeit‘ oder des ‚Werdens‘ wie bei Manuel DeLanda mit physikalischen Konzepten der Selbstorganisation oder wie bei Michael Hardt und Antonio Negri mit Potenzialen für veränderte politische Machtkonstellationen verbunden werden.64 Sie trifft sich mit neuen Dogmen der Arbeit in flexiblen Team- und Raumkonstellationen. Sie wirkt in militärische Doktrinen des Network Centric Warfare hinein, in denen
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61 Vgl. Beni/Wang: Swarm Intelligence in Cellular Robotic Systems, S. 703–712. 62 Vgl. z.B. Rheingold: Smart Mobs: The Next Social Revolution; Surowiecki: The Wisdom
of Crowds; Lause/Wippermann: Leben im Schwarm; Fisher: Schwarmintelligenz; Miller: Die Intelligenz des Schwarms. 63 Vgl. Raley: Tactical Media. 64 Vgl. z.B. DeLanda: Philosophy and Simulation; Hardt/Negri: Multitude: War and Democracy in the Age of Empire.
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Spezialeinheiten als kleine, hochgradig untereinander und mit technischen Geräten und Sensoren vernetzte ‚Pods‘ anstelle hergebrachter Massenarmeen operieren und z.B. punktuell Feuerkraft konzentrieren sollen, um danach auszuschwärmen und selbst als Ziel unsichtbar zu werden (als Umkehrfigur begegnet einem dieses Vorgehen dann als neue Form terroristischer Organisation).65 Sie schlägt sich als ein Überschwang für kollaborative Formen des Protests nieder, in denen z.B. Smartphones der Koordination von Demonstrationen dienen. Nicht zuletzt berührt diese Euphorie distribuierte Formen netzwerkvermittelter Kollaboration, etwa in Crowdfunding- und Crowdsourcing-Projekten, in denen Individuen sich fallweise engagieren und involvieren, sich jedoch jederzeit auch wieder ‚entnetzen‘ können.66
Schwärmen Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Vielleicht weniger als Gegen- denn als Komplementärbe-
griff bezieht sich das Schwärmen auf eine gleichzeitig aufkommende Konjunktur umfassenderer Begriffe des Vernetzens.67 Sein biomorphes Konzept macht es zu einem Spezialfall des Netzwerk-Denkens und dessen in Sozialstatistik und Graphentheorie gründender Genealogie. Es ist dabei vornehmlich die zeiträumliche Organisationsform des Schwärmens, die distinktiv hervortritt: Schwärmen gründet auf einer nachbarschaftlichen Netzwerktopologie, in der – graphentheoretisch gesprochen – Knoten und Kanten in den schwärmenden Individuen zusammenfallen. Und es soll ad hoc funktionieren – im Gegensatz zu vielen Praktiken des Vernetzens, die sich gerade durch ihre Entwicklung über längere Zeiträume auszeichnen. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass etwa die semantische Kommunikation im angesprochenen ‚social swarming‘ stets innerhalb teils rigider, hierarchisch streng geregelter Netzwerkprotokolle abläuft, die einen zuverlässigen Datenaustausch erst ermöglichen. Und gerade im Kontext des ‚social swarming‘ weicht der anfängliche Überschwang wie bei so vielen Phänomenen im Kontext digitaler Medien schnell einer weitgehenden Ernüchterung: Während das Schwärmen im Tierreich oder in agentenbasierten Computersimulationen durchaus eine spezifische 65 Vgl. Arquilla/Ronfeldt: Swarming and the Future of Conflict; Dies.: Networks and Net-
wars: The Future of Terror, Crime, and Militancy.
66 Vgl. z.B. Stäheli: Entnetzt euch! In: Mittelweg, S. 3–28: 4. 67 Vgl. z.B. Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge.
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It is important to remember how dumb the bottom is. […] We are too much in a hurry to wait around for a pure hive mind. Our best technological systems are marked by the fact that we have introduced intelligent design into them. This is the top-down control we insert to speed and direct a system […].70
Denn jenseits einer solchen Schwelle kippt ‚social swarming‘ letzthin allzu schnell in jene Internet-Shitstorms, deren massive positive Rückkopplungseffekte zugleich extrem negative Effekte zeitigen und die den Mob wieder jeglicher Smartness entkleiden.71
Schwärmen Gegenbegriffe
‚Bewegungsintelligenz‘ hervorbringt, gilt dies viel weniger für die Produktion von ‚intelligentem Bedeutungsgehalt‘ in menschlichen Sozial- und Kommunikationsprozessen. Aus Konnektivität emergiert nicht zwingend auch ein kollektives Ziel oder Produkt; aus bestimmten ‚patterns‘ in menschlichen Schwärmen kann nicht auf ein gemeinsames ‚purpose‘ rückgeschlossen werden.68 Initiativen wie die Occupy-Bewegung oder jüngst Fridays for Future machen die Schwierigkeiten einer distribuierten Entwicklung schlagkräftiger Strategien im Anschluss an das taktische Organisationspotenzial des Schwärmens deutlich. Dem populärwissenschaftlichen Lobpreis des weitgehend metaphorisch auf Kollektivphänomene aus dem Humanbereich übertragenen Begriffs der Schwarmintelligenz folgen somit nicht minder überspannte Elegien auf eine stets schon darin lauernde „Schwarmdummheit“, die Herdeneffekte auf Finanzmärkten ebenso beklagt wie die Nivellierung des Außergewöhnlichen in teamverliebten Management-Konzepten.69 Selbst Kevin Kelly, einer der frühesten Bottom-Up-Technologie-Advokaten, betont 2010, dass technosoziale ‚Out-of-Control-Systeme‘ stets auch eines Top-Down-Elements bedürften, das kollaborativ produzierte Inhalte filtert, ordnet und editiert – man denke nur an Projekte wie Wikipedia:
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68 Vgl. Thacker: Networks, Swarms, Multitudes, o.S. 69 Vgl. Seeßlen/Metz: Blödmaschinen: Die Fabrikation der Stupidität; vgl. Dueck: Schwarm-
dummheit: So blöd sind wir nur gemeinsam.
70 Vgl. Kelly: The Bottom is not Enough. In: Leach/Snooks (Hrsg.): Swarm Intelligence,
S. 93–100, 95.
71 Vgl. z.B. Gaderer: Shitstorm. Das eigentliche Übel der vernetzten Gesellschaft. In: Zeit-
schrift für Medien- und Kulturforschung, S. 27-42.
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Schwärmen Perspektiven
PERSPEKTIVEN Der polnische Schriftsteller Stanisław Lem widmete sich
wiederholt der Kritik und dem Umdenken von Logiken des technischen Fortschritts. In seinem satirischen Essay WAFFENSYSTEME DES 21. JAHRHUNDERTS, ODER DIE VERKEHRTE EVOLUTION etwa beschreibt er eine technologische „Involution“ hin zu Schwärmen von „Synsekten“:72 Synthetische Insekten treten darin an die Stelle der komplexen, aber fehleranfälligen und leicht auszuschaltenden Waffentechnologie des 20. Jhs. Hätten sich „Generationen von Informatikern und Professoren der Computerwissenschaft“ nicht so hartnäckig darin verbissen, die Funktionen des menschlichen Gehirns auf digitale Technologien zu übertragen, hätten sie kaum übersehen, dass die Simulation künstlicher Instinkte viel leichter und realisierbarer ist als die einer KI, so Lem. Für das 21. Jh. skizziert sein Essay dementgegen eine Phase der „beschleunigten Mikrominiaturisierung unter dem Zeichen der künstlichen Nicht-Intelligenz.“ In Roboterkollektiven wie den eingangs erwähnten ‚Robobees‘ realisiert sich Lems fiktionale Nicht-Intelligenz nun tatsächlich. Sie sind nur ein Beispiel einer Vielzahl weiterer Projekte, die sich gegenwärtig mit dem Thema Collective Robotics auseinandersetzen. Ein paar Beispiele: Forscher der Universität Harvard experimentieren mit Kilobots, bis zu 1000 vernetzt miteinander interagierenden Mini-Laufrobotern.73 Die Universität Lausanne entwickelt ein sogenanntes Unmanned Aerial System (UAS) aus miteinander kommunizierenden Drohnen für den Katastrophenschutz: Sie sollen als ein autarkes Flying Ad-Hoc-Network dienen, falls übliche Kommunikationsinfrastrukturen ausfallen.74 An der Technischen Universität Dänemarks arbeiten Forscher an modularen Unterwasser-Roboterkollektiven, die z.B. bei Havarien eingesetzt werden könnten.75 Und verschiedene militärische Projekte, etwa die ursprünglich am MIT entwickelten Perdix-Dronen der US-Air Force, testen die Vorzüge
72 Vgl. Lem: Waffensysteme des 21. Jahrhunderts. 73 Vgl. Rubinstein u.a.: Kilobots. A low cost scalabale robot system for collective behaviors,
https://ieeexplore.ieee.org/abstract/document/6224638.
74 Vgl. Kruzelecki: Flying Ad-Hoc Networks. Unter: http://smavnet.epfl.ch [aufgerufen am
05.08.2020].
75 Vgl. Galeazzi: Collaborative underwater robots for Offshore Industry. Unter: https://www.
dtu.dk/english/news/2017/06/collaborative-underwater-robots-for-offshore-industry rufen am 05.08.2020].
420
[aufge-
Schwärmen Perspektiven
von UAS im Vergleich zu klassischen Waffensystemen.76 Man kann allgemein von einer Physikalisierung von Schwärmen oder einem „Swarm Engineering“77 sprechen, das sie aus Softwareprogrammen und Simulationsmodellen direkt in die Lebenswelt zurückführt. Fachgebiete wie Generative Architecture und Urban Planning experimentieren nun mit Schwarmrobotern für automatisierte Konstruktionsprozesse – „their ability to connect digital design data directly to the fabrication process enables the construction of non-standard structures.“78 Und auch in der biologischen Schwarmforschung eröffnen Roboterfische eine Renaissance des Laborexperiments: Sie ermöglichen nun z.B. den Real-LifeTest bestimmter Annahmen über Schwarmverhalten, die Simulationsmodellen zugrunde liegen, im Umfeld biologischer Schwärme: Mit entsprechenden Verhaltensparametern und Bewegungsdaten programmierte Roboterfische bilden mittlerweile mit biologischen Fischen gemeinsame Schwärme.79 Ein möglicher militärischer Einsatz von Drohnenschwärmen hingegen weist auf die Schattenseite dieser Verschränkung von Biologie, Computertechnik und Robotik. Denn inwieweit verändern sich Machtverhältnisse, wenn relativ günstige und aus handelsüblichen Bauteilen herzustellende Schwarmrobotik als höchst effektive Waffensysteme auch durch Aggressoren mit wenig entwickelten technischen Ressourcen zum Einsatz kommen könnten?80 Man stelle sich einen Angriff eines Schwarms von Mini-Booten auf ein hochentwickeltes Kriegsschiff vor, der faktisch kaum zu verteidigen ist.81 Liegt in Zukunft der strategische Vorteil also bei jenen Staaten, die führend in der Produktion von massenhafter handelsüblicher Elektronik sind und nicht mehr bei jenen mit den avanciertesten High-Tech-Schmieden?82 Könnte es zu einer Beschleunigung militärischer Prozesse durch automatisierte Systeme kommen, deren
S 76 Vgl. Lamothe: Watch Perdix. In: Washington Post. 77 Brambilla u.a.: Swarm Robotics. A Review from the Swarm Engineering Perspective; vgl.
Kazadi: Swarm Engineering.
78 Willmann u.a.: Aerial Robotic Construction, S. 441 79 Vgl. z.B. Krause u.a.: Interactive robots in experimental biology. In: Trends in Ecological
Evolution, S. 369–375.
80 Vgl. Hammes: Technologies Converge and Power Diffuses: The Evolution of Small, Smart,
and Cheap Weapons. In: Cato Institute: Policy Analysis.
81 Vgl. Scharre: Robotics on the Battlefield Part II: The Coming Swarm. 82 Vgl. Hammes, a.a.O.
421
Kontrolle und Kontrollierbarkeit damit mehr und mehr aus der Reichweite von Menschen verschwände?83 Solche Fragen geleiten uns schließlich zurück zur Klarsicht von Lems Essay: Denn ohne kritische Diskussion und umfassende Regulierung wären ähnliche zukünftige Entwicklungen möglich, wie er sie in den 1980ern ausmalt: „Nicht wegen totalitärer Ränke war der Friede ein Krieg, wie sich einst Orwell das vorgestellt hatte, sondern wegen der technologischen Errungenschaften, welche die Grenze zwischen den natürlichen und den künstlichen Phänomenen auf jedem Gebiet, in jedem Teil der menschlichen Welt verwischten.“84
Schwärmen Forschung
FORSCHUNG Die wechselhafte und mit Brüchen durchsetzte Geschichte
des Schwärmens hat sich im Kontext seiner Operationalisierung qua Verschränkung biologischen, computertechnischen und robotischen Wissens in den vergangenen Jahrzehnten zu einer grundlegenden Kulturtechnik für das Verständnis und die Steuerung dynamischer Prozesse entwickelt. Ihre Applikabilität schlägt sich in einer kaum mehr überblickbaren Zahl an technikwissenschaftlichen Publikationen verschiedenster Fachrichtungen und Kontexte nieder, die das Schlagwort swarm oder swarm intelligence im Titel tragen.85 Für die geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung ist das Schwärmen jedoch vor allem in dreierlei Hinsicht interessant: erstens medientheoretisch, weil es sich im Kontext einer in den letzten Jahren ausführlich diskutierten ‚Medientheorie der Störung‘ mit einem konkreten Wissensobjekt beschäftigt, in dem sich zugleich ein unhintergehbares Störmoment materialisiert. Schwärme stören als Übertragungsereignisse jeweils die Ereignisse der Übertragung – etwa die Kanäle, das Dazwischen der Medientechnologien, die auf sie angelegt werden und sie wissenschaftlich zu objektifizieren suchen.
83 Vgl. Goh: Unmanned Aerial Vehicles and the Future of Airpower. In: Pointer, S. 45–57;
vgl. Military Robots Are Getting Smaller and More Capable. In: The Economist. Unter: h ttps:// www.economist.com/science-and-technology/2017/12/14/military-robots-are-getting-smallerand-more-capable [aufgerufen am 05.08.2020]. 84 Lem: Waffensysteme des 21. Jahrhunderts, S. 82. 85 Siehe z.B die Trefferliste zum Stichwort ‚swarm intelligence‘. Unter: https://ieeexplore.ieee.org/ search/searchresult.jsp?queryText=swarm&highlight=true&returnFacets=ALL&returnType= SEARCH&searchWithin=swarm%20intelligence [aufgerufen am 05.08.2020].
422
Schwärmen Forschung
Damit einher geht zweitens ein epistemologisches Interesse. Dieses schlägt sich in einer transdisziplinären Strategie nieder, die erst durch einen Entzug von Natürlichkeit und einen dadurch provozierten Rekurs auf steuerungstechnische, informationstheoretische, kybernetische und systemische Konzepte und Technologien jene epistemischen Hindernisse umgehen kann, die intransparente Wissensobjekte wie Schwärme produzieren. Erst indem Schwärme als dynamische Kollektive durch technische Verfahren der Computersimulation synthetisiert werden, können einerseits biologische Schwarmforschungen und ihre hergebrachten Analyse-Environments selbst auf einer neuen Ebene mit ihrem Wissensobjekt verfahren und andererseits robotische Kollektive kons truiert werden. Und drittens ist damit eine historiografische Verwicklung angesprochen, in dessen Rahmen biologisch inspirierte Computersimulationsmodelle ‚auf Schwarmbasis‘ rekursiv für die Erforschung biologischer Schwärme eingesetzt werden. In einer Verschränkung von Biologie und Computertechnik schreiben Schwärme damit selbst am Wissen über Schwärme mit. Da diese Schreibverfahren essenziell mit grafischen Visualisierungstechniken gekoppelt sind, die – und auch dies ist eine epistemologisch interessante Konstellation – erst einen szenarischen Abgleich und die Herstellung einer brauchbaren Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Simulationsmodell und dynamischem, vierdimensionalem Wissensobjekt möglich machen, gibt eine Medien- und Wissensgeschichte der Schwarmforschung zudem Hinweise und Impulse für die Beschreibung einer aktuellen Epoche der Simulation, die sich mit intransparenten Problemstellungen befasst. Schwärme und die Algorithmik ihres relationalen Seins sind dort ‚intelligent‘, wo es um die (selbsttätige) Steuerung und Planung von Bewegungen in Raum und Zeit geht. Diese Anwendbarkeit in agentenbasierten Computermodellen und distribuierten technischen Kollektiven zeichnet ihre Wirksamkeit als neuheitliche Kulturtechnik aus. Schwärmen als Kulturtechnik ist dadurch charakterisiert, dass sie im Spannungsfeld zwischen Biologie, Computer Science und Robotik produziert wird. Aus ursprünglichen Störphänomenen treten Schwärme als operational einsetzbare Medientechnologien hervor. Der Mensch als Adressat dieser Kulturtechnik wird erst indirekt in diese Gleichung eingefügt. Es gibt in diesem Sinne keine Kulturtechnik des Schwärmens vor
S
423
Schwärmen Forschung
dessen medientechnischer Konstruktion. Was auf der Grundlage von Schwärmen als Kulturtechnik diskutiert werden kann, ist damit die gouvernementale Verfasstheit der Gegenwart selbst, in der aus dem unkontrollierbaren Datengestöber dynamischer Kollektive operationalisierte und optimierte Vielheiten geworden sind, denen wir uns nicht entziehen können.86
86 Der Autor dankt Julian Obertopp (MECS Lüneburg) für die Unterstützung beim Copy
Editing des Textes.
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SCREENSHOTTEN WINFRIED GERLING
Screenshotten Anekdote
ANEKDOTE 1991 saßen in der Berliner Grunewaldstraße 2–5 zwei Studen-
S
ten1 vor dem Monitor eines IBM Rechners mit einem CAD Programm und warteten gespannt auf die Ergebnisse des oft nächtelang dauernden Renderings der 3D Simulation eines virtuellen Objektes oder eines am Rechner erzeugten Raumes. Je komplexer die gestalteten Objekte oder Räume und die Lichtsituation waren, desto länger zog sich das Errechnen eines Bildes. In Ermangelung adäquater Ausgabegeräte, die das entstandene farbige Bild ausdrucken konnten, wurde nachts eine analoge Kamera vor dem Bildschirm auf einem Stativ postiert und ein Diapositiv des Bildes aufgenommen, das sich auf dem Bildschirm zeigte. Der jeweils vorläufige Abschluss eines zeitraubenden Prozesses, der immer auch etwas Provisorisches behalten sollte. Obwohl der sogenannte Screenshot schon in diverse Computersysteme implementiert war (auf PCs mit der PrintScreen-Taste) und auch eine Ausgabe als Bildformat möglich gewesen wäre, wurde hier eine alte analoge Praxis angewandt, da sie verfügbarere Anschlüsse der günstigen, insbesondere farbigen, analogen fotografischen Reproduktion ermöglichte. Nahezu gleichzeitig saßen diese beiden Studenten an einem Apple Computer und montierten die Einladungskarte für eine Ausstellung mit Hilfe der Photoshop Version 2.0, die es noch nicht ermöglichte mit Ebenen zu arbeiten, und so wurden Zwischenstände der Arbeit immer wieder mittels digitalem Screenshot als Datei auf der Festplatte abgelegt, um sie möglicherweise wieder als Arbeitsgrundlage zu nutzen. Das Ergebnis der farbigen Montage allerdings wurde dann wieder mit der analogen Kamera vom Bildschirm abfotografiert, um eine günstige fotografische Vervielfältigung als Einladungskarte zu ermöglichen. Und hier sind wir schon inmitten der komplexen Geschichte der Aufnahme von (Bild-)Schirmen, deren Implementierung als Screenshot in
1
Der Autor dieses Textes und sein Kommilitone Christof Ulbrich waren damals Tutoren der ersten „Computerwerkstatt“ in der Bildenden Kunst der Hochschule der Künste HdK (heute Universität der Künste, UdK).
430
die Betriebssysteme der Personal Computer in den frühen 1980er Jahren eine alte analoge Praxis technologisch in diese Systeme integriert und damit nachhaltig für die Zukunft verändert hat. Allerdings weist bis heute in den meisten Betriebssystemen das Geräusch eines mechanischen Kameraverschlusses bei der Aufnahme des Screenshots auf den vermeintlich fotografischen Ursprung des Vorgangs hin.
Eindeutschung und Desubstantivierung des weithin im Kontext des Computers geprägten engl. Begriffs Screenshot – eine Kopie dessen zu machen, was sich zum Zeitpunkt der Aufnahme auf dem Bildschirm befindet.2 Der Begriff steht in seiner Genese aus dem Computerjargon in einer Linie mit downloaden, uploaden, liken3 etc. Die Etymologie des Screenshots ist komplex: Sie bezieht sich einerseits auf den Screen (frz. écran) und damit auf eine lange Begriffsgeschichte des Schirms (mhd. Scherm oder ahd. scerm) auch als Leinwand. Andererseits bezieht sie sich auf Shot, und hier in erster Linie auf den Snapshot, der im Kontext der Fotografie das im Engl. gebrauchte Wort für Schnappschuss ist, das wiederum in der engl. Sprache kein Verb kennt und im Dt. verwandt als knipsen4 bezeichnet wird. Die Bedeutung des Wortes Shot5 ist relativ klar und in der dt. Sprache mit dem Schuss gleichzusetzen. Es bezeichnet den Akt des Schießens und das, was beim Schuss entladen oder herausgeschossen wird. Escran ist die altfranz. Form (Nordfrankreich 8–14. Jh.)6 des franz. Wortes écran und bezeichnet im weitesten Sinn eine materielle Abschirmung vor
Screenshotten Etymologie
ETYMOLOGIE Screenshotten – einen Screenshot machen – ist die seltsame
S 2
Es wäre naheliegend hier zu sagen: „ein Bildschirmfoto machen“ aber das hat eine andere Traditionslinie auf die im Verlauf des Eintrags eingegangen wird. 3 S. bspw.: Fehr/Mandel: (Art.) Liken. In: Christians/Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 1. 4 S. Gerling: (Art.) Knipsen. In: Christians/Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 2. 5 (Art.) Shot. In: Online Etymology Dictionary. Unter: https://www.etymonline.com/word/ shot [aufgerufen am 24.10.2019]. 6 Vgl. (Art.) Screen. In: The University of Chicago – Theories of Media – Keywords Glossary. Unter: https://csmt.uchicago.edu/glossary2004/screen.htm [aufgerufen am 24.10.2019].
431
Screenshotten Etymologie
Wärme oder Licht. Das GRIMMSCHE WÖRTERBUCH schreibt dem Wort Schirm auch in erster Linie schützende Ursprünge und Bedeutungen zu.7 Das Substantiv scren existiert schon im Mittelengl. und ab Ende des 15. Jhs. wird to screen auch als Verb benutzt, um den „Vorgang des Filterns und Ausschlusses unerwünschter Effekte“8 anzuzeigen. Der Screen oder Schirm, auf den sich hier bezogen wird, ist also geeignet, zwei räumliche Bereiche voneinander zu trennen und sie durch seine mögliche Transparenz trotzdem zu verbinden. Ab dem 18. Jh. werden die sogenannten Wandschirme immer mehr Bildträger und so zu den Vorläufern des Screen, der dann auch Projektionsleinwand für die Bilder der Laterna Magica und des frühen Kinos wird. In dessen Kontext der Begriff Screening für die Uraufführung eines Films genutzt wird.9 Im Zweiten Weltkrieg erfährt der Begriff eine Erweiterung in Bezug auf den Einsatz von Radar-Screens als Screening.10 Es kann hier nicht auf die lange Geschichte der oftmals zum Screen synonym verwendeten Begriffe wie Bildschirm als etwas Schützendes, Display als etwas Entfaltendes und den Monitor als etwas Überwachendes eingegangen werden.11 Wesentlich ist die etymologische Verwandtschaft von Screen und Schirm als einem Gegenstand der einerseits abschirmt und gleichzeitig etwas
7
schirm, m. murus, clypeus, defensio, protectio, protector. | I. Formales. | 1) ein hoch- und niederd. wort: ahd. scerm, scirm, mhd. scherm, schirm, schild, schutzdach, obdach, vertheidigung; altsächs. scirm, zu folgern aus scirmere beschützer, bescirman beschützen (Heyne kl. altnd. denkmäler 175); mnd. scherm, daneben aber auch scharm, bescharminge neben bescherminge: he halp öme syn lant in bescharminge beholden. quelle bei Frisch 2, 185a. mhd. eine feminine nebenform schirme Lexer mhd. wb. 2. (Art.) Schirm. In: Grimm online. Unter: http:// woerterbuchnetz.de/DWB/ [aufgerufen am 24.09.2019]. 8 Frohne: Screen. In: Schafaff (Hrsg.): Kunst-Begriffe der Gegenwart von Allegorie bis Zip, S. 257. 9 Vgl. ebd., S. 257 ff. 10 Als Screening wird auch ein systematisches Verfahren zur massenhaften Vorsorgeuntersuchung bei einem definierten Querschnitt der Bevölkerung bezeichnet. 11 Zur komplexen Geschichte des Computer-Display und seiner Verwandten s. Thielmann: Der einleuchtende Grund digitaler Bilder. In: Frohne/Haberer/Urban (Hrsg.): Display / Dispositiv, S. 525–575.
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zeigt und so zwei Prozesse und zwei Räume trennt.12 Exemplarisch ist das schon in den Phantasmagorien des 18. und 19. Jhs. zu beobachten: Der Screen wird mittels Hintergrundprojektion so bespielt, dass vorsätzlich der Projektionsapparat (Laterna Magica) verdeckt wird und sich gleichzeitig ein Bild zeigt, dessen Ursprung nicht sichtbar wird und so die apparative Erzeugung – die Technologie – des Bildes vom Bild trennt.
ein bewegliches und sich schnell veränderndes Bildschirm-Bild unmittelbar festhalten zu können. Damit steht es der Fotografie als Praxis des Aufzeichnens sehr nah und möglicherweise ist die Fotografie aus einem ähnlichen Bedürfnis entstanden. Das Festhalten eines Bildes, das vor der Aufnahme schon ein Bild ist: Die Mattscheibe der Camera Obscura könnte Anlass für einen wesentlichen Teil fotografischer Entwicklungen im 19. Jh. gewesen sein. Michel Frizot spricht in diesem Kontext von der „Kopie von Ansichten in der Camera Obscura“.13 Und schon François Arago sagte auf der Sitzung der Akademie der Wissenschaften in Paris am 07.01.1839 über die Erfindung der Daguerreotypie das Folgende: Alle Welt […] kennt den Camera Obscura oder Dunkelkammer genannten Apparat, dessen Erfindung J.-B. Porta zukommt; alle Welt hat bemerkt, mit welcher Schärfe, mit welcher Wahrheit der Formen, der Farbe und des Tons die äußeren Gegenstände sich auf der Mattscheibe reproduzieren werden, die im Brennpunkt der Linse angebracht ist, die den wesentlichen Teil des Instrumentes ausmacht; alle Welt wurde, nachdem sie diese Bilder bewundert hat, von dem Bedauern ergriffen, dass sie sich nicht festhalten lassen. Dieses Bedauern wird fortan gegenstandslos sein: M. Daguerre hat besondere Platten entdeckt,
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KONTEXTE Die Entwicklung des Screenshotten beruht auf dem Bedürfnis,
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12 Zu erwähnen sind hier vielleicht zwei Besonderheiten der Frühzeit des Computers, und
zwar erstens der ENIAC Computer, dessen Display (10 x 10 Pixel) die direkte Anzeige eines Rechenvorgangs als nicht lesbare Repräsentation durchlaufender Symbolisierungen von Zahlenwerten zur Ansicht brachte und damit auch das Prinzip von einzeln ansteuerbaren diskreten Lichtpunkten in die Display-Entwicklung einführte, und der Manchester Mark 1 in dem modifizierte Kathodenstrahlröhren (CRTs – Cathode Ray Tubes), also eigentlich Displays auch als Arbeitsspeicher dienten, vgl. ebd., S. 548. 13 Frizot: Neue Geschichte der Fotografie, S. 21.
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auf denen das optische Bild einen vollkommenen Abdruck hinterlässt; Platten auf denen alles, was das Bild umschloss, sich bis in die minuziösesten Details, mit einer unglaublichen Genauigkeit und Feinheit reproduziert findet.14
Die verbale Gleichsetzung im französischen Protokoll von Mattscheibe der Camera Obscura und Platte, die das Bild aufzeichnet an dem Ort, an dem sich sonst die Mattscheibe befindet, als „écran“ erscheint wesentlich für das Argument, dass die Bilder schon da waren und bewundert wurden, bevor man sie aufgezeichnet hat, bzw. bevor man sie aufzeichnen konnte und die Platte der Daguerreotypie an ihre Stelle tritt. Henry Fox Talbot verwies auf die besondere Geschwindigkeit, mit der die Fotografie in der Lage war, ein Bild aufzuzeichnen: „but, however numerous the objects – however complicated the arrangement – the Camera depicts them all at once.“15 Und damit hat er auch auf das Instantane – das Schusshafte – des Fotografierens hingewiesen. Der Screenshot als digitaler Prozess ist allerdings die Kopie eines Bildes, einer Repräsentation digitaler Daten, keine fotografische Aufnahme mittels einer Kamera, die einen dreidimensionalen Raum auf zwei Dimensionen reduziert. Digitale Screenshots sind pixelgenaue positive Kopien (Rastergrafiken) der Konstellation von Programmfenstern, die sich im Moment des Screenshots auf dem jeweiligen Bildschirm befunden haben, oder ein aktiv ausgewählter Teil davon. Ihre Ränder sind willkürlich bestimmt, der Cursor heute meist
14 Übersetzung aus: Siegel: Neues Licht, S. 52 [Hervorh. W.G.].
Originaltext: „Tout le monde, […], connait l’appareil d’optique appelé chambre obscure ou chambre noire, e dont l’invention appartient à J.-B. Porta; tout le monde a remarqué avec quelle netteté, avec quelle vérité de forme, de couleur et de ton, les objets extérieurs vont se reproduire sur l’écran place au foyer de la large lentille qui constitue la partie essentielle des cet instrument; tout le monde, après avoir admire ces images, s’est abandonné au regret qu’elles ne pussent pas être conservées. Ce regret sera désormais sans objet: M. Daguerre a découvert des écrans particuliers sur lesquels l’image optique laisse une empreinte parfaite ; des écrans où tout ce que l’image renfermait se trouve reproduit jusque dans les plus minutieux détails, avec une exactitude, avec une finesse incroyable.“ [Hervorh. W.G.]. François Arago: Protokoll der Sitzung vom 07.01.1839. In: Comptes rendus habdomadaires des séances de l’Academie des Sciences 8 (1839) S. 4. 15 Talbot: The Pencil of Nature, PLATE III. ARTICLES OF CHINA [Hervorh. W.G.].
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ausgeblendet.16 Sie sind in der Regel rechteckig (orthogonal) und besitzen keine zentralperspektivischen Eigenschaften. Der Screenshot ist die Aufnahme eines temporären Zustands des grafischen Interfaces. Das schließt ein, dass gleichzeitig verschiedene Konzepte und Visualitäten in einem Screenshot erscheinen: Texte, Bilder, Software-Interfaces, 3D-Simulationen etc. Mit seiner klaren Zweidimensionalität steht er dem Fotogramm als kameralose Fotografie näher als der Fotografie. Bemerkenswert ist, dass einige der frühesten Versuche zur Herstellung von Lichtbildern als Kopien konzipiert wurden: Niépces erste Heliografien sind Kontaktkopien von Druckgrafiken und Texten. Auch Talbot experimentiert noch mit der Direktkopie17 von gedruckten Texten und der Fotografie von Lithografien.18 Die Kopie als fotografisches Verfahren zur Verbesserung oder Vereinfachung der Drucktechnik stand – wie das Festhalten von Bildern aus der Camera Obscura – am Beginn der Fotografiegeschichte. Nicht Originalität, sondern Kopierbarkeit von schon gedruckten Bildern war das Ziel. Diese zweidimensionale Praxis ist damit sehr nah an den pixelidentischen Kopien des Screenshots. Er ist, wie das Fotogramm, eine Abbildung im Maßstab 1:1 und ist ohne Perspektive. Er ist ohne dreidimensionale Illusion, auch wenn Teile des Bildes diese enthalten können. Das Framing ist oft „an arbitrary cut within a field of potentially infinite elements rather than a rational frame surrounding a discrete object.“19 Der Screenshot und das Fotogramm zeigen anders als die optische Fotografie nicht den Ausschnitt potenziell unendlicher Elemente, sondern ein Bild von Elementen, die in besonderer Weise auf den Ausschnitt hin zugerichtet sind. Dieses Bild ist nicht wie das Bild einer Kamera der zweidimensionale Ausschnitt aus einem unendlichen dreidimensionalen Raum. Es wird nicht von einer ‚virtuellen Kamera‘ erzeugt und entspringt damit auch keinem optischen Paradigma. Es ist das Bild eines zweidimensionalen Raums, dessen Organisation sich explizit auf den sichtbaren Ausschnitt bezieht. Theoretisch
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16 Das war nicht immer so. Heute kann im Betriebssystem eingestellt werden, ob der Cursor
im Screenshot angezeigt wird oder nicht.
17 Vgl. ebd., PLATE IX. FAC-SIMILE OF AN OLD PRINTED PAGE. 18 Vgl. ebd., PLATE XI. COPY OF A LITHOGRAPHIC PRINT. 19 Batchen: Emanations, S. 9.
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und rechnerisch ist der Raum hinter dem Monitor heute unendlich und es kann jederzeit etwas aus dem Screen ins Off geschoben werden. In den frühen Grafischen User-Interfaces (GUIs) war das noch nicht so.20 Aufgrund von Speicherlimitierungen war es unmöglich, die Fenster über den Rand des Monitors zu bewegen. Die so entstandenen Bildschirmfotos und Screenshots sind dann anders als heute konkret in die Rahmung des Monitors gepasst. Sie zeigen keinen vermeintlichen Ausschnitt, sondern in Konsequenz alles, was auf dem Monitor befindlich war, und verweisen nicht über seinen Rand – wie ein Blick ins Aquarium, der kein Blick ins Meer ist. Das ist bildlich auch ein Zeugnis der Geschlossenheit früherer Personal Computer, die im Laufe der Entwicklung durch ihre Vernetzung verschwunden ist. Damit dokumentiert der Screenshot auch die Veränderung der Systeme, auf denen er ausgeführt werden kann – vom nicht vernetzten Desktoprechner über Rechner mit Internetanschluss zu den mobilen Systemen der heutigen Zeit – Laptops, Tablets oder Smartphones –, in die diese Funktion jeweils integriert wurde. KONJUNKTUREN Screenshotten ist eine fotografische Praxis, die mit der Eta-
blierung des Personal- oder Home-Computers in den frühen 1980er Jahren als Funktion in diese Rechner implementiert worden ist. Als die „Computer heimisch wurden“21 war es anscheinend von Bedeutung, dass festgehalten werden konnte, was auf den Bildschirmen sichtbar wurde. Insbesondere wenn sich die Multitasking-Ordnungen in verschiedenen Programmfenstern auf dem Schirm zeigten und es vor der Einführung des Screenshots nur möglich war, Bildformate aus jeweils einem Programm zu exportieren, und niemals alles, was sich auf dem Bildschirm zeigte. Screenshots haben eine fotografische Vorgeschichte, die mit der Standardisierung des Aufnehmens von Bildschirmen (Bildschirmfotografie) bzw. radiologischen Leuchtschirmen (Schirmbildfotografie) einhergeht.22 Das Fotografieren von Computerbildschirmen beginnt systematisch Anfang der 1960er Jahre, um die Arbeit an den ersten CAD Computern für ein 20 Beispielsweise im Xerox Star (1981) oder Apple Macintosh (1984). 21 Vgl. Ehrmanntraut: Wie Computer heimisch wurden. 22 Zur Geschichte der Schirmbild- und Bildschirmfotografie siehe den Abschnitt GEGEN-
BEGRIFFE in diesem Artikel.
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größeres Publikum sichtbar zu machen. Zu dieser Zeit nutzen vorrangig Computerwissenschaftler*innen und -entwickler*innen den kostspieligen Einsatz in wenigen wissenschaftlichen oder militärischen Laboren und es musste eine Methode gefunden werden, um diese Art von Wissensproduktion sichtbar und kommunizierbar zu machen. Matthew Allen beschreibt diesen Vorgang – obwohl damals noch analog mit einer Kamera vor dem Schirm als Bildschirmfotografie erzeugt – als Konventionalisierung des Screenshots.23 Es ist von großer Bedeutung, dass erkennbar wird, woher die Bilder kommen: „The sense of it being ‚from the screen‘ was the most important content of the image.“24 So wurde die neue Technologie als neue Ideologie gleich mitkommuniziert. Der momentane Zustand eines visuellen Outputs soll als singuläre, spontane und möglichst nicht weiter zu prozessierende foto-grafische Aufzeichnung festgehalten und damit das Bild einer temporären Wirklichkeit dauerhaft – als Dokument – abgelegt (gesichert) werden, um sie archivieren und kommunizieren zu können. Bildschirmfotografien sind seltsame Hybride, die mittels einer Optik das Bild einer klar zweidimensionalen Ordnung erzeugen, ihr Zugriff ist allerdings materiell auf die Oberfläche des Apparates beschränkt, und so bringen sie ohne darauf hinzuweisen die Beschaffenheit/Materialität des Bildschirms mit zur Ansicht: Wölbungen, Trübungen, Kratzer und Fingerabdrücke eingeschlossen. Beachtenswert ist, dass diese frühen Bilder meist auf Polaroidmaterial aufgezeichnet wurden. Das begründet sich darin, dass ein derartiges Bild eher als unmittelbar abzulegende Kopie bzw. Sicherungskopie des auf dem Bildschirm Gezeigten verstanden wurde und nicht in erster Linie als fotografisches Zeugnis. Bis heute liegt das Zeugnis einer der prägendsten Entwicklungen des 20. Jhs. als Reihe kleiner aus der Hand fotografierter Polaroids vor: Die Entwicklung des Apple Lisa Interfaces25 und der ersten grafischen Programme wie Quick Draw wurde ca. 1979–1982 von dem beteiligten Informatiker Bill Atkinson auf diese Weise dokumentiert.26
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23 Allen: Representing Computer-Aided Design: Screenshots and the Interactive Computer
circa 1960. Perspectives on Science 24, no. 6 (2016), S. 656.
24 Ebd., S. 658. 25 Diese Entwicklung wurde für den Apple Macintosh übernommen. 26 Vgl. Hertzfeld: Revolution in the Valley, S. 89–97.
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Screenshotten Konjunkturen
Wenn zu Beginn der Geschichte interaktiver Computer das Bild des Bildschirms immer im Kontext seiner Verwendung gezeigt wird, um zu bezeugen, dass es diese Geräte gibt und sie wichtige und neue Prozesse ermöglichen, ist mit der Einführung des PCs Anfang der 1980er Jahre dieser Prozess abgeschlossen. Ein Beleg dafür ist auch der erste Eintrag des Begriffs „Screenshot“ im OXFORD DICTIONARY 1983 und die Implementierung im Betriebssystem des Apple Macintosh 1984.27 Die Funktion des digitalen Screenshots wird im Laufe der Entwicklung des Personal Computers Mitte der 1980er Jahre dann in die verschiedensten Betriebssysteme implementiert. Was dabei konkret im Computer abläuft, ist plattformabhängig unterschiedlich. Vereinfacht kann davon ausgegangen werden, dass der Screenshot aus dem Video RAM in den Arbeitsspeicher oder gleich als Datei(-format) mit entsprechenden Metadaten28 auf einen Datenspeicher geschrieben wird. Er ist kein eigens gerendertes Bild, sondern die Kopie des aktuell im Rechner erzeugten Bildes, was eine bestimmte Form – auch juridischer – Evidenz hervorbringt. Es sind Bilder von Schichtungen von Fenstern29 (Programmen), von den Realitäten des Rechners, aber auch Bilder, die Einblicke in das Private der Nutzer*innen ermöglichen. Sie zeigen ein Bild des Interfaces im Gebrauch mit informativem Gehalt auf unterschiedlichsten Ebenen. An Image of a great „density of circumstantial detail.“30 Die Bilder einer Oberfläche (Surface) und nicht die einer operativen Bildlichkeit (Interface).31 Es sind Entsprechungen dessen, was sich auf dem Bildschirm ‚befunden‘ hat, ähnlich dem, was sich auf dem Papier befunden hat bei der Herstellung eines Fotogramms. Schatten eines funktionalen Zusammenhangs, der im Moment der Aufnahme gelöscht wird. Der Index des operativen Bildes weist auf etwas anderes als der
27 Bis heute ist es der gleiche Tastaturbefehl, der den Screenshot auslöst: Cmd-shift-3. 28 Erhellend sind diese Metadaten, wenn sie in forensischen oder juridischen Zusammenhän-
gen Bedeutung erlangen. Metadaten eines Screenshots verweisen auf interne Zustände eines Rechners, während die Metadaten einer Kamera auf Einstellungen der Kamera, verwendete Hardware und unter Umständen auf den Ort der Erzeugung des Bildes hinweisen. 29 Vgl. Pratschke: Jockeying Windows. In: Gerling/NGBK (Hrsg.): Multitasking, S. 16–24. 30 Shapin: Pump and Circumstance: Robert Boyle’s Literary Technology. In: Social Studies of Science 14, S. 481. 31 Zur Unterscheidung Surface und Interface vgl. Hookway: Interface, S. 4.
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32 Dubois: Der fotografische Akt, S. 92. 33 Nur in ihren Anfängen wird sie mit der Natur verwechselt und sonst immer als Repräsenta-
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Screenshot derselben Bildschirmkonstellation. Während die Symbole, Icons, Menus etc. immer auf im Rechner zur Verfügung stehende Operationen verweisen, verweist der Screenshot auf den Gebrauch des Rechners, die Kultur mit ihm, auf Intimes etc. In der Entscheidung, einen Screenshot zu erzeugen, liegt die Differenz dieser beiden Bilder, die sich so verwechselbar ähnlich sehen. In unserer Bildkultur ist es sonst unmöglich, das Bild eines Gegenstandes oder Sachverhalts zu erzeugen, das ihm gleicht. Mit Philippe Dubois: „Beim fotografischen Index ist das Zeichen nie das Ding. Selbst beim Fotogramm, wo das reale Objekt räumlich in die größte Nähe zu seiner Abbildung gerät, da es buchstäblich auf das lichtempfindliche Papier gelegt wird, ist diese extreme Nähe nie eine Identifikation.“32 Der Screenshot wird zuerst als Realität begriffen, so ist es gewesen auf dem Bildschirm meines Computers (und zwar pixelgenau). Eine seltsame Verwechslung mit der Wirklichkeit, die im Foto so niemals auftreten könnte.33 Möglicherweise ist der Screenshot das einzige Bild eines Gegenstandes, das zumindest kurzzeitig mit ihm zu verwechseln ist. Um die Operativität des Interface-Bildes beraubt, ist der Screenshot, wie ein Fotogramm, aber ein Schatten bzw. die Rückseite34 des Abgebildeten. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn versucht wird, im Screenshot zu operieren wie im Interface. Ist der Bildschirm gefüllt mit dem Screenshot des vergangenen Zustands eines Bildschirms, ist ein Unterschied erst zu bemerken, wenn versucht wird, den Screenshot zu bedienen.35
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tion verstanden. Vgl. Siegel: Fotografische Detailbetrachtung: analog/digital. In: Finke/Halawa (Hrsg.): Materialität und Bildlichkeit, S. 149. 34 „Das Fotogramm lehrt uns also in gewisser Weise, mit den Augen des Fotopapiers zu sehen, und es gibt uns dabei alle Objekte von hinten bzw. von unten zu sehen. Vielleicht ist das Fotogramm einer der wenigen gelungenen Versuche, von der Dingseite her einen Blick in die Welt zu werfen. Mit Dingaugen zu sehen.“ Raulff: Ein Etwas oder ein Nichts. In: Neusüss/Heyne (Hrsg.): Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts, S. 409. 35 Besonders irritierend ist das auf dem Smartphone, wo häufiger versehentlich ein Screenshot
erzeugt wird, der dann das Display füllt und seltsamerweise nicht bedient werden kann.
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Vielleicht ist der Screenshot damit das beste Beispiel für das, was Charles Sanders Peirce in seiner Zeichentheorie „Similes“ nannte und im Kontext der Indexikalität von Fotografien immer wieder angeführt wird. Sie entsprechen Punkt für Punkt dem Original:
Screenshotten Konjunkturen
Photographien, besonders Momentaufnahmen, sind sehr lehrreich, denn wir wissen, dass sie in gewisser Hinsicht den von ihnen dargestellten Gegenständen genau gleichen. Aber diese Ähnlichkeit ist davon abhängig, dass Photographien unter Bedingungen entstehen, die sie physisch dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen.36
Der Screenshot hat damit eine andere Referenz als digitale Fotografien, die reflektiertes Licht mittels eines Sensors in Messwerte überführen, die potenziell als Ladungen gespeichert werden können. Im Screenshot findet eine Übergabe von Ladungen statt, die identisch sind mit dem, was sich im Grafik-Prozessor befunden hat. Das ist das Eigentümliche dieser Bilder. Es handelt sich um eine pixelidentische Kopie der bildlichen Realität, die sich auf dem Computer gezeigt hat. Der ‚entscheidende Augenblick‘ ist also der, in dem das Bild vom Monitor abgelöst wird. Aus der sehr flüchtigen Konstellation im Grafikprozessor wird eine ‚Schicht abgelöst‘ und in halbwegs dauerhafte Speicherung überführt. Aus einem Prozess fließender Ladungen wird eine dauerhafte Ladung im Speicher als latentes Bild. Diese Ablösung als magischer Transfer zwischen Realität und Repräsentation findet im Screenshot nicht wie in der Fotografie durch beobachtenden Abstand und Einschreibung von Licht statt, sondern ist zu beschreiben als „one which proceeds in terms of proximal engagement with reality rather than a distanced observation, which operates through intervention rather than reflection“.37 Der Screenshot ist in diesem Sinn Intervention, die einen – elektrischen – Kontakt zwischen der Anzeige und der Speicherung schaltet und so noch ein anderes indexikalisches Verhältnis herstellt. Er ist eng bezogen
36 Peirce: Semiotische Schriften, S. 193. 37 Teffer: Touching images: photography, medical imaging and the incarnation of light. In:
Photographies, 5(2) (2012), S. 124.
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auf die Realität seiner Erzeuger*innen, die heute maßgeblich geprägt ist von Wahrnehmungen am Bildschirm. Die Welt am Bildschirm ist keine virtuelle Realität mehr, sondern eine komplexe digitale Wirklichkeit.38 Damit sind die Anlässe des Screenshotten so vielfältig, dass sie hier nur unvollständig wiedergegeben werden können. Screenshots dienen der spontanen Aufzeichnung und Kommunikation von: Rezepten, Anleitungen und Tutorials, topografischen Notizen39 (Karten und Wegen), Programmschnellexporten (Verständigungshilfsmittel), Absprachen, Fehleranzeigen (Debugging), Einstellungen in Buchungssystemen, Belegen der Übermittlungen von Verbrauchsdaten (Gas, Wasser, Strom), Entscheidungsverlagerungen, Signaturen/Referenzen/Bibliotheken, visuellen Zitaten und wissenschaftlichen Dokumentationen, interessanten Bildausschnitten, Filmzitaten (YouTube/Vimeo), Versehen, Dokumentation von Fernbeziehungen (Videochats), visuellen Gags, Rückversicherungen und rechtlichen Absicherungen, Wunschzetteln, Spielständen, Erfolgen, Glitches, Systemmeldungen ... Screenshots inszenieren, kuratieren, ordnen und dokumentieren digital vermittelte Inhalte. Sie dienen oft als Grundlage zur Weiterverarbeitung (Memes) oder auch Beeinflussung (Fakes). Die Funktionen des Screenshots sind im Wesentlichen: visuelle Notizen, Erinnerungs- bzw. Kommunikationshilfen, Inspirationen und Ideensammlungen, Archivierungen und Beweismittel. Dem Screenshotten kommt in digital erzeugten Realitäten eine besondere Rolle zu. Wie in der Eingangsanekdote beschrieben, sind Screenshots – in diesem Beispiel Bildschirmfotos – besonders geeignet, Zustände von beweglichen 3D Simulationen festzuhalten. Das kann sowohl im Kontext von Architektursimulationen40 eine Rolle spielen, aber besonders auch in den sich dauernd verändernden Umgebungen des Computerspiels: Die Möglichkeit, einen bestimmten Spielzustand zu screenshotten, gab es schon mit der Einführung dieser Funktion im Betriebssystem. Diese Screenshots beinhalten immer das Interface des jeweiligen Spiels und referenzieren oder dokumentieren eine
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38 Vgl. Rautzenberg: Wirklichkeit. In: Finke/Halawa (Hrsg.): Materialität und Bildlichkeit,
S. 121.
39 Oftmals werden diese Screenshots gemacht, um online verfügbare Inhalte offline verfügbar
zu haben für den Fall, dass es keine Funknetzverbindung gibt oder sie zu teuer ist.
40 Siehe hierzu: Allen: The Screenshot Aesthetic. In: MOS: Selected Works.
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Screenshotten Konjunkturen 442
Kultur des Spielens und zielen nicht zuerst auf einen eigenen fotografischen Ausdruck. Die Geschichte fotografisch zu nennender Aufzeichnung in Computerspielen beginnt mit der Möglichkeit, gespielte Spiele mittels einer virtuellen Kamera als simulierte Fotografie aufzunehmen.41 Da viele Spiele aus einer First-Person-Perspective gespielt werden und damit auch das zu spielende Bild als Bild einer virtuellen Kamera dieser Perspektive erscheint, unterliegt schon die Generierung der Spielszene einem fotografischen Paradigma. Sie folgt zentralperspektivischen Gesetzmäßigkeiten. Schießen (shoot) und Fotografieren haben so eine nicht zu unterscheidende Perspektive. Fotorealismus42 ist das erklärte Ziel virtueller Realitäten, die mit der Geschichte des Flugsimulators43 beginnen. Ein Realismus, der darauf abzielt, Bilder zu erzeugen, die nicht von Fotos zu unterscheiden sind. Das schließt ein, dass bestimmte analoge fotografische Effekte simuliert werden wie Blendenflecke, Verzeichnungen, Bewegungsunschärfen etc.44 Die Verwechslung dieser In-Game-Fotos mit der Wirklichkeit ist eine andere, als den Screenshot mit dem Interface zu verwechseln. Die Verwechslung liegt auf der Ebene von Simulation, einer doppelten Simulation: Da Fotografie Weltsicht simuliert, simuliert die In-Game-Fotografie schon eine Simulation.45
41 Zuerst von Spielern als Modifikation des Spiels Doom entwickelt, um Spielverläufe aus
der Spieler*innenperspektive nachvollziehen und zu Trainingszwecken auch distribuieren zu können. Vgl. Lowood: High-performance play: The making of machinima. Journal of Media Practice 7, Nr. 1 ( Juli 2006), S. 25–42. Aus diesen Möglichkeiten entwickelt sich die Machinima Kultur, die choreografierte Szenen mit der Game-Engine als filmähnliche Projekte aufzeichnet, um sie mit anderen zu teilen. Diese Funktionalität wird als eine Erweiterung des Spielekonzepts von der Industrie übernommen, so dass in der Aufzeichnung des Spiels auch die Auswahl von Kamerapositionen und verschiedenen Optiken ermöglicht wird. 42 Vgl. Manovich: Die Paradoxien der digitalen Fotografie. In: Amelunxen/Iglhaut/Rötzer (Hrsg.): Fotografie nach der Fotografie, S. 64. 43 Vgl. Schröter: Virtuelle Kamera. In: Fotogeschichte, Jg. 23, Nr. 88 (2003), S. 4–5. 44 Vgl. Karner: Assessing the Realism of Local and Global Illumination Models, S. 10, Flückiger: Zur Konjunktur der analogen Störung im digitalen Bild. In: Schröter/Böhnke (Hrsg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum?, S. 407–429, Rautzenberg: Exzessive Bildlichkeit. In: Reichle/Siegel/Spelten (Hrsg.): Maßlose Bilder, S. 266–267. 45 Vgl. Meier: Die Simulation von Fotografie. In: Finke/Halawa (Hrsg.): Materialität und Bildlichkeit – Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Smiosis, S. 126–143.
46 Sebastian Möring und Marco de Mutiis (2017) beschreiben die unterschiedlichen Kate-
gorien der Fotografie im Computerspiel wie folgt: „(a) simulated photography central to the gameplay condition, (b) an additional photo mode, (c) artistic screenshotting, and (d) creative photographic interventions made possible by photo modifications.“ Möring/Mutiis: Camera Ludica: Reflections on Photography in Video Games. In: Fuchs/Thoss (Hrsg.): Intermedia Games – Games Inter Media: Video Games and Intermediality, S. 74. 47 Es werden alle Typen fotografischer Motivkonvention erprobt: Landschaft, Porträt, Architektur, erotische/pornografische, konzeptuelle und dokumentarische Fotografie etc. Immer wieder interessieren sich die Fotografen/innen für entlegene, heruntergekommene und zerstörte Orte im Spiel und Ruinenästhetik (vgl. Fuchs: Ruinensehnsucht–Longing for Decay in Computer Games. In: DiGRA/FDG ’16 – Proceedings of the First International Joint Conference of DiGRA and FDG, Vol. 13, Nr. 1 (2016), S. 1–12. 48 Siehe zu diesem Aspekt ausführlich: Gerling: Photography in the Digital. In: Photographies, Nr. 11(2–3) (2018), S. 156 ff. 49 Eine nicht in den Regeln des Spiels angelegte Tätigkeit, die eine kreative und reflexive Aneignung des Spieles ist. Salen/Zimmerman: Rules of Play: Game Design Fundamentals, S. 305. 50 Zu diesem Aspekt, vgl.: Frosh: The Poetics of Digital Media, S. 62–92.
Screenshotten Konjunkturen
Die Praktiken von Screenshot und Fotografie im Computerspiel sind also in ihrer Anwendung und Funktion zu unterscheiden. Der Screenshot dient eher der spontanen Aufzeichnung bzw. Dokumentation eines temporären Zustands des Spiels mit unterschiedlichsten Zielen, dem Festhalten der Einstellung im Programm, eines Glitches (Störung), eines Scores etc., er weist damit auch auf Unzulänglichkeiten des Systems hin. Das Fotografieren mit simulierter Kameratechnik im Computerspiel46 ist der Motivation nach eher einer fotografischen Tätigkeit47 zuzuordnen, dem Festhalten eines besonderen Motivs, einer Situation oder Szene in ihrer fotografischen Perfektion.48 Mit dieser Motivation ist das Fotografieren mit sogenannten Photo-Modes kein „transformatives Spielen“49 mehr und verabschiedet sich vom Screen shot. Die heutige Konjunktur der Computerspielfotografie ist vom Screenshot ausgegangen, sie zeigt aber ein Bild, das vom Rechner – der Game-Engine – generiert wurde, und nicht mehr das Bild des Bildschirms. Alle Hinweise auf ihn sollen unsichtbar werden. Im Kontext von Social Media erlebt der Screenshot eine Konjunktur, die auf seine bezeugende und dokumentierende Funktion aufmerksam macht.50 Posts in Social Media sind darauf angelegt zu verschwinden, gelöscht und verändert zu werden oder sie sind von vornherein nicht in erster Linie auf Speicherung oder Öffentlichkeit hin angelegt, wie das z.B. bei Snapchat oder
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Screenshotten Konjunkturen
WhatsApp der Fall ist. Diese Medien sind aber inzwischen ein zentraler Teil unserer sozialen und politischen Kommunikation und damit unserer Wirklichkeit geworden. Insofern werden Screenshots hier immer wieder eine wesentliche Rolle spielen, um zu dokumentieren, was gesagt, gezeigt oder getan wurde und evtl. schon kurz darauf wieder dem Zugriff entzogen ist. Manche dieser Posts werden dann via Screenshot als Zitat zu einem medialen Ereignis, das diese Screenshots wie Fotografien in Printmedien, Fernsehen und Internet kursieren und nicht mehr als Post in der jeweiligen Plattform adressieren lässt.51 Das zieht immer eine Frage der Glaubwürdigkeit nach sich, da das jeweilige Zitat schwer zu überprüfen ist und möglicherweise nur über andere Formen der Bezeugung verifiziert werden kann. Als Weiterentwicklung des Screenshots hat sich der Screencast etabliert. Er macht es möglich, das bewegte Bildschirmbild des Rechners aufzuzeichnen, was besonders für Anleitungsvideos mit entsprechendem Audiokommentar genutzt wird, aber auch zur Umgehung von rechtlichen oder technischen Restriktionen, die beim Herunterladen von Videos auftauchen.52 Inzwischen existieren einige Dokumentarfilme (desktop documentaries53) und Spielfilme (desktop movies) – meist des Horrorgenres –, die sich die Irritation zunutze machen, die es hervorruft, wenn man auf die Oberfläche eines Computers schaut, der von fremder Hand bewegt wird. Der Effekt ist besonders ‚schockierend‘, wenn diese Filme auf der Oberfläche des eigenen Laptops angesehen werden und diese ‚feindliche‘ Übernahme als Bedrohung besonders deutlich wird. Sven von Reden hat diese Perspektive der Zuschauer*innen wie folgt beschrieben:
51 In jüngerer Vergangenheit z.B. durch den Screenshot aus der WhatsApp-Gruppe eines
Polizeischülers aus Sachsen, der die rechtsradikale Tendenz seiner Mitschüler bezeugen sollte. Siehe beispielsweise: Stern: Rassismus-Vorwürfe: Ex-Auszubildender packt über die Polizei in Sachsen aus. In: Stern online. Unter: https://www.stern.de/neon/wilde-welt/gesellschaft/ rassismusvorwuerfe--ex-azubi-erhebt-schwere-anschuldigungen-gegen-die-saechsische- polizei-8414500.html [aufgerufen am 19.06.2020]. 52 Der Apple DVD Player verhindert bis heute das Screenshotten eines Bildes aus einem Film. 53 So hat einer der interessantesten Protagonisten des Genres Kevin B. Lee seine Dokumentation TR@N$FORM3R$: THE PREMAKE bezeichnet.
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Oftmals durchbrechen diese Filme die Illusion eines reinen Mitschnitts des Bildschirmbildes, indem sie im Interface z.B. zoomen oder andere Bewegungen vornehmen, die regulär auf dem Desktop nicht möglich sind. Während das Bild relativ konsequent versucht, die simulierte Oberfläche nicht zu verlassen, wird auf der Ebene des Tons nicht ausschließlich auf das gesetzt, was der Rechner intern erzeugt. Oft wird das Tippen der Nutzer*innen hörbar oder auch andere Töne, die nicht die Innensicht des Rechners sonifizieren: „Ein Jenseits des Desktops klingt da an, auf den sich ansonsten alles konzentrieren soll.“55 GEGENBEGRIFFE Ein Bildschirmfoto machen – Schirmbilder aufnehmen –
den Bildschirm fotografieren. Als wichtige Vorgeschichte des Screenshots und gleichzeitig der Beginn einer Praxis, die als Gegenbegriff gesehen werden kann, ist die Entwicklung der sogenannten Schirmbildfotografie zu nennen. Der brasilianische Arzt Manuel Dias de Abreu56 erarbeitete im Kontext von Tuberkulosereihenuntersuchungen ein standardisiertes Verfahren (1936), das den großen teuren Röntgenfilm obsolet werden ließ, indem er den Leuchtschirm eines Röntgengerätes mittels einer Vorrichtung mit integrierter Kleinbildkamera direkt abfotografierte und so nur noch ein Hundertstel der
Screenshotten Gegenbegriffe
Interessant ist, dass die Desktop-Filme komplett aus der Subjektive erzählt werden – eine Erzählperspektive, die bislang im Kino als nur schwer durchzuhalten galt. Hier wird sie mit Hilfe des Computers als gewissermaßen verlängertem und vervielfältigtem Auge möglich. Der Zuschauer identifiziert sich dabei vielleicht weniger mit dem Protagonisten als allgemeiner mit der vertrauten Rolle des Computerbenutzers.54
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54 Reden: Der Verlust der physischen Realität. In: Vetter: Verband der deutschen Filmkritik
e.V. Online unter: https://www.vdfk.de/der-verlust-der-physischen-realitaet-682 [aufgerufen am 19.06.2020]. 55 Distelmeyer: Durch und über Computer: Desktop-Filme. In: Doll (Hrsg.): Cutting Edge!, S. 193. 56 Manuel Dias de Abreu (04.01.1894–30.01.1962) Diese Technik wurde damals Abreugraphie genannt, vgl. „Chest photofluorography“. In: Wikipedia. Unter: https://en.wikipedia.org/ wiki/Chest_photofluorography [aufgerufen am 19.06.2020].
445
Screenshotten Gegenbegriffe
Kosten eines Bildes erzeugte.57 Das stellte einen großen Fortschritt für das Gesundheitssystem dar, da das sogenannte mass-screening von Tuberkulose leichter umsetzbar wurde. Diese Technik wurde bis Anfang 1936 von Siemens in Brasilien weiterentwickelt und ab Ende 1936 im Gesundheitsamt Centro de Saúde no3 in Rio De Janeiro von de Abreu eingesetzt. Bald folgten weitere Apparate in anderen brasilianischen Städten. Das Verfahren wurde von Siemens unter den Nationalsozialisten als Schirmbildfotografie bekannt, in Deutschland etabliert und später weltweit verbreitet. Die Schirmbildfotografie wurde für verschiedene wissenschaftliche Darstellungsverfahren weiterentwickelt, z.B. für die Aufzeichnung von Darstellungen des Kathodenstrahlbildschirms (CRT) eines Oszilloskops oder von prinzipiell entsprechend funktionierenden Computermonitoren. Hierfür wurden jeweils eigene Kameratypen und Vorrichtungen entwickelt, die seit den 1950er Jahren vorrangig das Polaroidverfahren nutzen, um unmittelbare Aufzeichnungen der Messwerte zu erhalten und archivieren zu können. Diese Apparaturen werden gebraucht, weil die aufzunehmenden Bilder nicht aus der datenerzeugenden Technologie heraus zu reproduzieren, respektive zu speichern sind. Dies gilt auch für das erste elektronisch erzeugte Bild des Fernsehens, das aus dem Jahr 1930 überliefert ist und das erste von einer Braunschen Röhre im Labor von Manfred von Ardenne projizierte Bild zeigt. Der Ursprung wird wie beim Screenshot meist nicht befragt. Das Bild der gezeigten Schere wird zitiert, als wäre es das Bild der Übertragung. Es ist aber nur eine analoge Fotografie vom Bild dieser Übertragung. Was diese Praktiken vom Screenshotten unterscheidet ist, dass sie die Vorderseite der Anzeige mit deren komplexer Materialität aufnehmen, ob sie in den Vordergrund tritt oder nicht. Schirmbild- bzw. Bildschirmfotografie wurde etabliert, um die fotografische Aufnahme eines leuchtenden Schirmes zu bezeichnen, also das ‚externe‘ Abfotografieren eines Schirms mittels einer Kamera und nicht das ‚interne‘ Aufnehmen (Screenshot), das eigentlich ein
57 Die erste Schirmbildaufnahme wurde schon 1896 von J.M. Bleyer veröffentlicht. Das Ver-
fahren war aber nicht tauglich für Massenuntersuchungen. Vgl. Romberg: Die Röntgenreihenuntersuchung (RRU) als Mittel der Tuberkuloseprävention in Deutschland nach 1945, S. 30 ff.
446
Speichern ist. Schirmbilder zeigen die Vorderseite des Apparates, während Screenshots einen internen Prozess als Kopie festhalten.
eine neuerliche Wendung genommen: Smartphones sind vernetzte leistungsfähige Kleincomputer, die auch telefonieren können. In sie sind vielfältige sensorische Technologien integriert, deren aufmerksamste Nutzung der lichtempfindliche Fotosensor erfährt. Insofern vereinen Smartphones Technologien, die für die hier vorgestellte Perspektive so grundlegend sind. Ihre Nutzung führt zu neuen hybriden Formen des Screenshots und Bildschirmbildes. Mit einer einfachen Kombination von Tasten kann, wie auf einem herkömmlichen Computer, ein Screenshot erzeugt werden. In der Kommunikation zwischen zwei Smartphonebesitzer*innen ist aber immer wieder eine neue, alte Praxis zu beobachten: das Abfotografieren des Displays der anderen Nutzer*in. Es geht oft schneller, ein Foto zu machen, als eine Nachricht oder einen Screenshot zu versenden. Um eine Adresse aus einem Chatverlauf zu sichern, wird dann einfach ein digitales Foto gemacht, dass wie der Screenshot die schriftliche Notiz inzwischen oftmals ersetzt. Allerdings vermischen sich auf interessante Weisen Intimität bzw. Privatheit und Öffentlichkeit, die an diesen Oberflächen immer kollidieren. In dem Moment, wo sie von anderer Seite beobachtet oder auch gesichert wird, ist eine eben noch private Nachricht Teil einer öffentlichen Kommunikation. Auf diesem Weg wird oftmals etwas mitkommuniziert, was nicht beabsichtigt war: die Telefonnummer der Großmutter, der eigene Aufenthaltsort oder dergleichen mehr.58
Screenshotten Perspektiven
PERSPEKTIVEN Der Screenshot hat durch die Verbreitung von Smartphones
S
58 Einige Aufmerksamkeit erlangte so der Screenshot des amerikanischen Kandidaten für
den Kongress, Mike Webb. Er postete 2016 im Wahlkampf auf seinem Facebook-Account einen Screenshot seines Browsers mit einer geöffneten Yahoo-Seite. In diesem Screenshot war in weiteren geöffneten Tabs (Registrierkarten) versehentlich eindeutig pornografischer Inhalt zu sehen (vgl. Moyer: 2016). Die ‚density of circumstantial detail‘ war wohl zu groß und zog einen kleinen Skandal nach sich. Porn Tabs im Browser, https://www.washingtonpost.com/news/ local/wp/2016/05/17/va-congressional-candidate-shares-screenshot-with-porn-tabs/ [aufgerufen am 19.06.2020].
447
Screenshotten Forschung
FORSCHUNG Trotz inzwischen vielfältiger kultur- und mediengeschichtlicher
Studien zum Display respektive (Computer-)Screen,59 die in der Regel auf die Materialität des Screens (oft synonym zu Bildschirm) und seine Bezüge zur Kunst(-geschichte) und hier immer wieder auf Albertis Konzept des Fensters und Lacans Schema von Auge und Blick rekurrieren, gibt es bisher kaum Studien zu einem Umgang mit (fotografisch) festgehaltenen Bildern dieser Screens. Screenshots sind Bilder, mit denen wir als Wissenschaftler*innen täglich umgehen, deren Ursprung aber selten befragt oder gar kommuniziert wird. Zeitungen bilden Screenshots inzwischen ebenso ab, wie sie in wissenschaftlichen Publikationen verwendet werden. Hinweise wie Filmstill und Screenshot weisen implizit auf deren Ursprung. Es sind Bilder, durch die wir, und nicht auf die wir blicken.60 Ihre Prozessualität ist auch im fixierten Standbild noch so dominant, dass wir ihre Genese und Materialität ausblenden. Einen wesentlichen Beitrag zur Art der Bildlichkeit der Anzeige des PCs als grafische Benutzeroberfläche (GUI) hat Margarete Pratschke in ihren Arbeiten geleistet und einerseits auf die Beziehung der Entwicklung dieser Oberflächen zu Design und Architektur der Moderne und andererseits auf die Bezugnahme der frühen Entwickler zur Gestaltpsychologie hingewiesen. Tristan Thielmann und Jens Schröter haben in vielfältigen Beiträgen die Mediengeschichte des Displays auf seine technologische Funktionsweise und Praxeologie hin detailliert beschrieben und analysiert. Thielmann arbeitete so auch heraus, dass die angenommene, eindeutige Trennung von Daten (Prozess) und deren Anzeige (als digitales Bild) ein Missverständnis ist. Niederkomplex gesagt, ist das in diesem Eintrag verwendete allgemeine Konzept des Bildschirmbildes der – auch fotografisch – festgehaltene Zustand einer Konstellation auf einem Bildschirm. Diese Tatsache ist im Kontext der Fotografieforschung mit Bezug auf den Screenshot als fotografische Praxis
59 Um nur einige zu nennen: Mitchell: Screening nature (and the nature of the screen), New
Review of Film and Television Studies, 13:3 (2015), S. 231–246. Schröter/Thielman: Display I: Analog. In: Navigationen, Jg. 6, H. 2 (2006) Schröter/Thielman: Display II: Digital. In: Navigationen, Jg. 7, H. 2 (2007). Manovich: An Archeology of a Computer Screen. In: Kunstforum International, S. 124–135. Huhtamo: Screen Tests: Why Do We Need an Archaeology of the Screen? In: Cinema Journal, Vol. 51, No. 2 (Winter 2012), S. 144–148. 60 Vgl. Frosh: The Poetics of Digital Media, S. 62.
448
Capturing and witnessing […], the screenshot shows us that social media and mobile communication technologies have become so intimately intertwined with our existence that they are far more than new infrastructures for circulating messages or managing social relationships.64
Der Autor dieses Textes hat versucht, den Screenshot mit der frühen Entwicklung der Fotografie zusammen zu denken und eine Linie über die Schirmbild- und Bildschirmfotografie zum Screenshot zu entwickeln.65 So soll gezeigt werden, dass das Bildschirmbild als aufgenommenes Bild von einer Mattscheibe einerseits als ein wesentlicher Antrieb der Entwicklung
Screenshotten Forschung
bisher außerordentlich wenig bis überhaupt nicht beachtet worden. Es wird eben nicht mit Licht geschrieben, sondern Ladungen werden kopiert. Wie deutlich wurde, ist der fotografische Kontext aber zentral für das Verständnis dessen, was Screenshotten als Praxis in unseren digitalen Kulturen bedeutet. Einen ersten Beitrag zur Aufarbeitung des Screenshots als eigenständige Praxis hat Matthew Allen mit seinem Artikel REPRESENTING COMPUTER-AIDED 61 DESIGN: SCREENSHOTS AND THE INTERACTIVE COMPUTER CIRCA 1960 geleistet. Er stellt darin heraus, dass es bei den ersten Bildschirmbildern der Computergeschichte in besonderer Weise darum ging, den Computer zu kommunizieren und dass diese Bilder von Bildschirmen erzeugt wurden und nicht aus einem Druckprozess kamen.62 Es ging darum, im Bild zu transportieren, dass es sich um eine neue Technologie handelte, die nur wenigen zugänglich war. Obwohl in der beobachteten Frühzeit des Computers diese Bilder noch mit Kameras vor dem Bildschirm aufgenommen wurden, beobachtet Allen63 dort die Konventionalisierung des Screenshots, bevor er als solcher benannt wird. Paul Frosh hat den existenziellen Aspekt der Zeugenschaft des Screen shots im Kontext digital vermittelter Informationen und Kommunikation herausgearbeitet:
S
61 Allen: Representing Computer-Aided Design: Screenshots and the Interactive Computer
circa 1960. In: Perspectives on Science 24, no. 6 (2016), S. 637–668. Vgl. ebd., S. 656. Vgl. ebd., S. 641 ff. Frosh: The Poetics of Digital Media, S. 91 f. Vgl. Gerling: Photography in the Digital. In: Photographies, 2018 11(2–3), S. 149–167.
62 63 64 65
449
Screenshotten Forschung
der Fotografie gesehen werden konnte. Andererseits vereint der Screenshot die kameralose Fotografie als direkte Kopie mit dem Akt, eine Aufnahme zu machen, also zu fotografieren und nicht zu kopieren. Aus Forschungsperspektive sollten die dokumentarischen Funktionen des Screenshots und die Wiederkehr des Bildschirmfotos im Kontext mobiler Geräte mehr Aufmerksamkeit bekommen. So ist inzwischen auf Instagram und in anderen sozialen Netzwerken zu beobachten, wie das Fotografieren von Displays66 (Monitoren, Bildschirmen, Projektionen etc.) in Ausstellungen als mys en abyme eine neue Konjunktur erlangt, die bisher ebenso wenig beachtet wurde wie der Umgang mit Screenshots in kultur- und medienwissenschaftlichen Publikationen und Praktiken, wie das Festhalten von Zitaten aus Google Books.
66 Zu beobachten ist hier ein besonderes Interesse an alten analogen Film- und Videoforma-
ten, deren Verbreitung bisher im Internet nicht stattgefunden hat.
450
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S
453
SEHEN ULRICH RICHTMEYER
Sehen Anekdote
ANEKDOTE Am 24. April 2020 feierte das nach dem amerikanischen Astronom
S
Edwin Powell Hubble benannte Hubble-Weltraumteleskop sein 30-jähriges Jubiläum. 30 Jahre war es in 589 km Höhe auf einer Erdumlaufbahn gekreist, um von dort, ungestört durch sphärische Einflüsse, in die unendlichen Weiten des Universums zu blicken – und das heißt immer auch zurück in seine Entstehungsgeschichte, aus der das Licht der Sterne herüberscheint. Kurz nachdem es in die Erdumlaufbahn gebracht worden war, stellte sich jedoch heraus, dass der zentrale Hohlspiegel im Randbereich durch einen Polierfehler um zwei Tausendstelmillimeter von der angestrebten Idealform abwich und dadurch unscharfe Bilder lieferte.1 Dass „wir auf Kleinstes sehen müssen, wenn wir Größtes untersuchen“, hatte bereits der mittelalterliche Theologe und erste Medienphilosoph des Optischen Nikolaus von Kues, genannt Cusanus als ‚Lehre‘ vertreten.2 Er sollte recht behalten, denn was für den mittelalterlichen Lesestein des Beryll galt, dessen Pluralbildung zum deutschen Wort der Brille führte, traf auch auf das modernste „Weltraumauge“3 des ausgehenden 20. Jhs. zu. Das Ergebnis: „Hubble war stark sehgestört“ und „brauchte eine Brille zur Beseitigung der Sehstörung“.4 Im Dezember 1993 montierten sieben Astronaut*innen ein Spiegel- und Linsensystem am Hubble-Teleskop, das den künstlichen Sehfehler seines Hohlspiegels ausgleichen sollte. Hubble hatte, obwohl selbst ein optisches Gerät, eine telefonzellengroße Brille bekommen. Seitdem lieferte es der Astronomie, der Physik und allen staunenden Laien spektakuläre Bilder aus dem Universum und konnte unter anderem die These stützen, dass alle Galaxien von uns fortstreben, je weiter entfernt, umso schneller. Diese Beobachtung gilt als wichtiges Argument für die Theorie des Urknalls und damit für unser modernes
1 2 3 4
454
Vgl. Bührke/Harmsen: Das schärfste Auge im All. In: Magazin der Berliner Zeitung, S. 6–7. Cusa: De beryllo / Über den Beryll, S. 27. Borgeest: Weltraumteleskop Hubble. In: Geo, Nr. 12, S. 14–32, hier S. 32. Ebd., S. 27.
Ich stelle also die Frage: Könnten wir heute noch den Mond mit den Augen der Griechen sehen? In meiner Jugend, während meiner ersten Reise nach Griechenland, hatte ich Gelegenheit dazu. Damals segelte ich nachts von Insel zu Insel; auf der Brücke liegend betrachtete ich den Himmel über mir, wo dieses lichtvolle nächtliche Gesicht schien und sein klares Spiegelbild, einmal ruhig, einmal tanzend, auf den dunklen Rücken des Meeres warf. Als ich viele Jahre später auf meinem Fernsehschirm die Aufnahmen vom ersten Astronauten auf dem Mond mitverfolgen konnte, der sich in seinem Raumanzug mit schwerfälligen Schritten durch die trostlose Ödnis eines Satellitengestirns bewegte, da hatte ich [...] das schmerzliche Gefühl eines Bruches, der niemals wieder rückgängig zu machen sein würde: Mein Enkel, der wie alle anderen auch diese Bilder betrachtet hatte, würde den Mond niemals mehr so sehen können, wie ich ihn gesehen hatte, im Spiegel der Augen der Griechen.6
Zwischen uns und den antiken Griechen hat demnach ein unumkehrbarer Bruch in den Sehgewohnheiten stattgefunden, der durch das globale Fernsehereignis der Mondlandung am 20./21. Juli 1969 markiert wird. Es hat deutlich gemacht, wie weit wir uns mit technischen Bildern von der unmittelbar sichtbaren Welt distanzieren können. In langen Vermittlungs- und
Sehen Anekdote
Weltbild. Evident wird sie erst durch das Sehen, das sich hier auf Bilder richtet, die mit technischen Instrumenten gewonnen wurden. Man könnte nun glauben, dass die Bedürfnisse des menschlichen Sehvermögens, wie das nach gestochen scharfen und nachträglich kolorierten Bildern, den Maßstab für die Justierung solcher „blicklosen Sehmaschinen“5 liefern. Diese Annahme würde das Sehen aber als ein statisches Vermögen auffassen und dabei ignorieren, dass es selbst wandelbarer als die optischen Medien ist. Gerade im Vergleich mit ihnen oder mit Bildern zeigt das Sehen seine historische Relativität, was in dieser Anekdote des Kulturhistorikers Jean-Pierre Vernant deutlich wird:
S
5 6
Virilio: Das Privileg des Auges. In: Dubost (Hrsg.): Bildstörung, S. 55–71, hier S. 57. Vernant: Der Mensch des antiken Griechenland. In: Ders. (Hrsg.): Der Mensch der griechischen Antike, S. 7–30, hier S. 9.
455
Sehen Etymologie
Übersetzungsketten ist der Sehsinn nun mit technischen Bildern konfrontiert und der Verstand, oftmals ohne es zu wissen, mit Bilddeutungen. Und doch lässt auch Vernant den Gedanken einer Kontinuität des Sehens zu, wenn er über seine eigene Jugend schreibt und feststellt, er habe den Mond noch ‚im Spiegel der Augen der Griechen‘ gesehen. Indem er das gleiche natürliche Medium benutzte, das ihnen zur Verfügung stand, glaubte sich der junge Vernant einen authentischen Eindruck ihrer visuellen Wahrnehmungswelt verschaffen zu können. Der natürliche Spiegel einer Wasserfläche wird damit in gleicher Weise zum Zeugen und Maßstab für die historischen Wandlungen des Sehens wie die Fernsehbilder der Mondlandung. Jeder Versuch, das Sehen zu verstehen, ist offenbar medienreflexiv, selbst dort, wo wir ohne technische Medien auskommen müssen. Auch diese Befragung des Sehens hält seit der griechischen Antike an, weil es gleichermaßen die Erkenntnis der Welt begründen oder verhindern kann. Beide Aspekte des Sehens treten bekanntlich in Platons Höhlengleichnis im Dialog POLITEIA auf, wo flackernde Schatten an der Höhlenwand eine visuelle Täuschung ergeben und der gewendete Blick eine ebenso visuell bedingte Erkenntnis ermöglicht.7 Obwohl sich die epistemologischen Konsequenzen des Sehens in den griechischen Begriff der theoria eingeschrieben haben, kann sich eine Theorie des Sehens, also eine Schau des Schauens, selbst nicht auf dessen Wahrheitsgehalt berufen, sondern muss die Instabilitäten des Sehens reflektieren, die oft erst in jenen Praktiken auffällig werden, bei denen es sich zusätzlicher Medien bedient, an ihnen misst oder durch sie erklärbar wird. ETYMOLOGIE Das Verb sehen wird im DEUTSCHEN WÖRTERBUCH von Jacob
und Wilhelm Grimm kommentarlos als ein „starkes Verb“8 ausgewiesen. Was das bedeutet, lässt sich zunächst quantitativ ermessen. Denn da es sich beim Sehen um das Tuwort eines der fünf menschlichen Sinne handelt, benennt es eine Aktivität, die nicht erlernt werden muss, meist sogar absichtslos erfolgt und bis auf die kurzen Momente des Lidschlusses in der gesamten Wachphase 7
Z.B. Platon: Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis. In: Konersmann (Hrsg.): Kritik des Sehens, S. 51–65. 8 (Art.) sehen. In: Deutsches Wörterbuch. Online unter: www.woerterbuchnetz.de/DWB/ sehen [aufgerufen am 22.03.2021].
456
Sehen Etymologie
des Lebens stattfindet.9 Menschen sehen prinzipiell mehr (im Sinne von häufiger), als dass sie essen oder schlafen. Das dürfte auch für den Vergleich des Sehens mit kognitiven Aktivitäten gelten: Wir sehen mehr, als dass wir denken, sprechen oder verstehen. Die im Wörterbuch vermerkte Stärke könnte also über den andauernden Gebrauch des Sehens begründet werden, der noch im Vergleich der fünf Sinne auffällt, insofern die drei Nahsinne Schmecken, Riechen, Tasten unsere Aufmerksamkeit seltener binden als die beiden Fernsinne Sehen und Hören. Grimms ungewöhnlich langer Wörterbucheintrag interpretiert das Sehen fast ausschließlich anthropozentrisch. Anderen Lebewesen wird es zugetraut, wenn sie Augen, als die physiologische Bedingung des Sehens, erkennen lassen. Das ist gewöhnlich bei Tieren der Fall, von denen einige sogar die Grenzwerte des Sehens symbolisieren, wie Katzen, die nachts und bei großer Dunkelheit sehen, Maulwürfe, die als blind gelten, und Adler, deren Augen eine besondere Schärfe zugetraut wird. Diese Fähigkeiten sind frei erfunden, denn da wir nicht nachvollziehen können, wie es wäre, mit den Augen dieser anschaulichen Tiere zu sehen, bleiben auch ihre Welten für uns „unsichtbar“, wie es im Titel von Uexkülls STREIFZÜGEN heißt.10 Spätestens mit der Mikroskopie der Frühen Neuzeit wurde auch der Sehsinn der Insekten und damit die biologische Diversität der Augen für das Sehen relevant. Nach gegenwärtiger Forschung gibt es sogar Lebewesen, denen trotz des Fehlens von Augen die Fähigkeit des Sehens zugestanden wird. Dieses Sehen ohne Augen, im biologischen nicht im esoterischen Sinne, nennt sich extraokulare Photorezeption. Prominentes Beispiel ist ein im Pazifik lebender Stachelhäuter (Seestern) mit dem lat. Namen Ophiocoma wendtii, der recht zuverlässige Hell-Dunkel Unterscheidungen macht und hierzu ein Netz lichtempfindlicher Körperzellen nutzt.11 Bereits Uexküll sprach von „augenlosen Tiere[n], die, wie die Zecke, eine lichtempfindliche Haut besitzen“.12 Noch viel selbstverständlicher, und
S
9
„Wie oft bedecken wir am Tag unsere Augen mit den Lidern, ohne überhaupt wahrzunehmen, daß wir im Dunkeln sind.“ Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, S. 164. 10 Uexküll: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. 11 Vgl. Osterkamp: Was sieht ein Schlangenstern ohne Augen? In: Spektrum 2018. 12 Uexküll: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, S. 19.
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Sehen Etymologie
das heißt mit einem geringeren Problembewusstsein für die faktische Inkommensurabilität, wird das Sehen ohne Augen jedoch Maschinen und optischen Systemen zugestanden (‚die Kamera sieht‘), wobei die beanspruchte Metaphorik oftmals gar nicht mehr als eine solche und das fehlende Auge nicht mehr als Verlust einer Grundvoraussetzung des Sehens begriffen wird. Auffällig ist dabei, dass solche „photo-kinematographischen und video-infographischen Sehmaschinen“13 eine optische Rezeptivität mit einer ikonischen Produktivität verbinden, so dass ihnen wohl nur deshalb das Sehen zugetraut wird, weil sie uns Bilder zeigen. Wenn die „Industrialisierung des Sehens“14 allerdings soweit voranschreitet, dass schließlich „synthetisch[e] Bilder [...] von der Maschine für die Maschine hergestellt werden“,15 gilt es nicht nur den Begriff des Bildes, sondern auch den des Sehens neu zu überdenken. Die Bedeutungsgeschichte des Sehens ist in GRIMMS WÖRTERBUCH aufschlussreicher als die Wortgeschichte und wird nach fünf Themengebieten unterschieden (a–e), von denen das erste bereits drei wichtige Teilaspekte benennt: a) in eigentlicher bedeutung das wahrnehmen mit den augen oder auch die kraft des sehens bezeichnend, in letzterem sinne ohne object, gewöhnlich mit näheren bestimmungen: ich kann nicht mehr sehen, wie ich früher sah; ohne brille nicht sehen können; die katzen sehen bei nacht; gut, schlecht, weit (fern sehen in gleichem sinne Hiob 39, 29) sehen; er sieht so weit als die nase reicht.16
Erstens benennt das Verb sehen also das visuelle Wahrnehmen als die Aktivität eines der fünf menschlichen Sinne. Wird es jedoch zweitens als Fähigkeit oder Vermögen bewertet, dann ist das dabei konkret Gesehene unwichtig und ein Spektrum relativierender Ausdrücke wie gut, schlecht, weit, nah, besser, schlechter schätzt die Leistung des individuellen Sinnesgebrauchs ein. Vor diesem Hintergrund erscheint das Verb sehen deshalb als ‚stark‘, weil es neben der Häufigkeit möglicher Sehereignisse auch deren vielfältige Relativierbarkeit
13 14 15 16
Virilio: Das Privileg des Auges, S. 56. Virilio: Die Sehmaschine, S. 136. Ebd., S. 137. (Art.) sehen. In: Deutsches Wörterbuch. Online unter: www.woerterbuchnetz.de/DWB/ sehen [aufgerufen am 22.03.2021].
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umfasst. Für diese Häufigkeit spricht auch der dritte Teilaspekt, wonach das Sehen im Lebensalltag meist unabsichtlich erfolgt. Mit dem absichtsvollen Sehen kommen Ausdrücke wie schauen oder betrachten ins Spiel, zwischen denen GRIMMS WÖRTERBUCH überzeugend unterscheidet: „2. indem sich die vorstellung des absichtlichen hinzugesellt, nimmt sehen den sinn von besehen, beschauen an (doch auch im gegensatze zu betrachten, z. b.: weil die besten statuen in einem schuppen von brettern, wie die heringe gepackt, standen, und zu sehen, aber nicht zu betrachten waren. LESSING 11, 264)“.17 Der zweite im Wörterbuch erwähnte Bedeutungskomplex entspricht der philosophischen Privilegierung des Sehsinnes und seinen kognitiven Effekten: „b) freiere anwendung in der bedeutung geistigen wahrnehmens, des erkennens, einsehens erklärt sich leicht von der thätigkeit des wichtigsten sinnes aus“.18 Das Sehen als Verstehen beruht auf der Evidenz des Augenscheinlichen, die sich in der griech. Leberschau (Hepatoskopie) oder bei den röm. Auguren als ein Sehen der Zukunft findet. Daneben führte das Sehen als eine Schau der Ideen (Platon) zum griech. Begriff der Theoria. Die Geistesgeschichte enthält weitere solcher visuell-kognitiver Begriffe wie die Vision, die Imagination, die Projektion, die Reflexion, die Perspektive oder den Aspekt. Ein dritter Bedeutungskomplex ist dem Sehen als Ausdruck des Geistes einer Person gewidmet. „c) das auge ist der spiegel der seele, das wichtigste mittel des ausdrucks, so erklären sich wendungen wie: der schalk sieht ihm aus dem auge; der tod siehet ihm aus den augen. STEINBACH 2, 560; der zorn und die verzweiflung sieht beiden aus den augen. LESSING 1, 268“.19 Hier wird gewissermaßen das zweite Thema umgekehrt und das Sehen zur Entäußerung kognitiver Qualitäten, die sich im Sehen des Sehens von außen erblicken lassen. Diesem Bedeutungskomplex gehört auch die Ethik des Sehens an, die oftmals die Begegnung der Blicke oder deren Gewalt thematisiert. Er korreliert aber auch mit den frühesten Versuchen einer Theoretisierung des Sehens in der Antike, wo man sich den Sehsinn als ein Licht oder andere spezifische Sehteilchen emittierendes Organ vorgestellt hatte. So beschreibt
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17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd.
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Platons Dialog TIMAIOS die Entstehung des menschlichen Körpers so, dass unter allen Sinnesorganen zuerst „die lichtbringenden Augen“20 auf der Vorderseite des Kopfes angeordnet wurden. „Sie bewirken nämlich, daß das in uns befindliche, diesem verwandte lautere Feuer durch die Augen glatt und dicht hervorströme“ und dann durch die Pupille „in reiner Form hindurchfiltert“.21 Das Sehen wurde dabei als eine Begegnung von Ähnlichem verstanden, weil das Sonnenlicht des Tages dem inneren Feuer der Augen gleicht.22 KONTEXTE Zwischen der Antike und dem Mittelalter war das Nachdenken
Sehen Kontexte
über das Sehen vor allem auf die Art der Mediation gerichtet, die zwischen Sehenden und Gesehenem stattfindet. Das betraf etwa Fragen nach der Stofflichkeit der Beziehung, die einen Faden-, Teilchen- oder Strahlencharakter haben konnte, sowie nach ihrem Richtungssinn, der das Sehen als eine aktive oder passive, eine einseitig gerichtete oder beidseitig verlaufende Handlung verstand. Systematisiert wurden diese Überlegungen vom arabischen Gelehrten Hunain B. Ishaq al-Ibadi (genannt Johannitius, 808–873), der sich noch an die von Platon entwickelte Ähnlichkeitslehre (Synaugie) hält, sie aber stärker systematisiert und methodisch begründet: Wir sagen, der erblickte Gegenstand kann nur auf eine von folgenden drei Arten gesehen werden: die erste von ihnen ist, daß er etwas von sich zu uns sendet [...]. Die zweite ist, daß nichts von ihm ausgesandt wird, [...] dann geht von uns die sinnliche Kraft zu ihm [...]. Die dritte Art ist, daß es hier ein anderes Etwas bei ihm (dem Gegenstand) und bei uns gibt, vermittelnd zwischen ihm und uns [...], so daß wir erkennen, was er ist. Wir wollen nun sehen, welche von diesen drei (Arten, Theorien) die richtige ist [...].23
20 Z.B. Platon: Sehen und Denken. In: Konersmann (Hrsg.): Kritik des Sehens, S. 48–50, hier
S. 48.
21 Ebd., S. 49. 22 „Umgibt nun des Tages Licht den Strom des Sehens, dann fällt Ähnliches auf Ähnliches,
verbindet sich und tritt zu einem einheitlichen, verwandten Körper in der geraden Richtung der Augen immer dort zusammen, wo das von innen Herausdringende dem sich entgegenstellt, was von den Dingen außen mit ihm zusammentrifft.“ Ebd. 23 Hunain B. Ishaq al-Ibadi ( Johannitius): Erörterung über das Sehen. In: Konersmann (Hrsg.): Kritik des Sehens, S. 66–74, hier S. 66.
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Alle drei Arten des Sehens reichen über den bloßen Vorgang der Mediation hinaus und machen unvermeidlich auch Annahmen über das Sehende und das Gesehene. Die Verbundenheit dieser drei Kontexte wird mit der zunehmenden Nutzung optischer Medien zwischen ausgehendem Mittelalter und Früher Neuzeit offensichtlich. Der erste, physiologische Kontext betrifft den Aufbau und die Funktionsweise der Augen. Der zweite, mediale Kontext umfasst optische und technische Elemente wie unterschiedlich geformte und gekrümmte Linsen, ihre funktionale Kombinatorik, die Form der Spiegel, das Brechungsgesetz oder die Lichtdurchlässigkeit von Flüssigkeiten und transparenten Körpern. Der dritte, physikalische Kontext betrifft die Natur des Lichts, den Status der Farben sowie die Objekte im Mikro- und Makrokosmos. Aus ihm geht seit der Renaissance ein vierter Kontext hervor, der mit dem Medium des Bildes jene artifiziellen Objekte betrifft, die exklusiv an das Sehen adressiert sind und oftmals dessen Analyse instruierten. Ein fünfter Kontext betrifft die begrifflichen Konsequenzen des Sehens, denn „[s]eit ihrem Auftauchen haben die ersten optischen Apparate [...] die Kontexte der Aufnahme und Rezeption von mentalen Bildern beträchtlich verändert.“24 So hat Johannes Kepler in seiner Optik zwei verschiedene Bildbegriffe konzipiert: einen für das optische Phänomen im Brennpunkt der Linse, das er lateinisch imago nennt, und den anderen für die auf einer Projektionsfläche oder der Netzhaut sich abbildende Erscheinung, die er pictura nennt. Bei John Locke weist das Sehen auf die Reflexionsprobleme des Verstandes hin: „Wie das Auge läßt uns der Verstand alle anderen Dinge sehen und wahrnehmen, ohne doch dabei seiner selbst gewahr zu werden, und es erfordert Kunst und Mühe, um einen gewissen Abstand von ihm zu gewinnen und ihn zu seinem eigenen Objekt zu machen.“25 Zeitgleich zu Isaac Newtons Neuerfindung des Hohlspiegels wird die Reflexion zum Leitbegriff in Lockes empirischer Erkenntnistheorie.26 Ernst Kapps Technikphilosophie erhebt den Begriff der Projektion, die als das
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24 Virilio: Die Sehmaschine, S. 19. 25 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, S. 22. 26 Reflexion ist „die Kenntnis [...], die der Geist von seinen eigenen Operationen und von
ihren Eigenarten nimmt“ (ebd., S. 109). Obwohl selbst unsichtbar, werden sie Objekt einer inneren „Beobachtung“ (ebd.).
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„Verlegen eines Inneren in das Äußere“ gilt, zur Urszene jeglicher Technik.27 Und im 20. Jh. erläutert Gottlob Frege die wichtige Differenz zwischen dem Sinn und der Bedeutung sprachlicher Zeichen an einem Fernrohr-Gleichnis.28 Alle Kontexte des Sehens lassen sich kaum isoliert voneinander betrachten oder verstehen und jede Innovation auf einem der Gebiete wirkt sich auch auf die anderen aus. Die hierfür adäquate Erzählordnung könnte eine lineare Fortschrittsgeschichte sein, die mit einem einfachen optischen Medium einsetzt und dann schrittweise an dessen historischen Modifikationen die Konsequenzen für die Sehenden und das Gesehene resümiert. An solch einem Vorgehen hat Jonathan Crary kritisiert, dass „so viele Erklärungsversuche des Sehens an Modelle gekoppelt sind, die auf eine kontinuierliche, durchgehende abendländische Sehtradition setzen.“29 Dabei sei besonders jenes Erklärungsmodell dominant, in dessen „Verlauf die Camera obscura zur Fotokamera wurde“.30 Crary zufolge verabsolutiert eine lineare, kontinuierliche Geschichte des Sehens die Camera obscura und vergisst dabei jenen radikalen Bruch, der mit den Seherfahrungen zu Beginn des 19. Jhs. auftrat. Deshalb möchte er „zeigen, wie dieses Modell im frühen 19. Jahrhundert – in den 1820er und 1830er Jahren – zusammenbrach und durch radikal andere Auffassungen von der Rolle des Betrachters und der Beschaffenheit des Sehens ersetzt wurde.“31 Crarys Darstellung der Modernisierung des Sehens baut jedoch selbst auf einer linearen Erzählung auf, die sie braucht, um eine Zäsur zu markieren. Demgegenüber stellt die Geschichte des Sehens einen durchgehend nonlinearen, diskontinuierlichen und teilweise willkürlich bis zufällig verlaufenden Prozess dar, wofür mindestens drei Motive sprechen: erstens die entwicklungstechnischen Diskontinuitäten. So verlor etwa das Medium des Spiegels seit der Antike an Bedeutung und seine Theorie, die Katoptrik, wurde noch von Kepler explizit aus der Dioptrik verbannt, die sich nur mit den durchscheinenden
27 Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik, S. 40 ff. 28 Vgl. Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: Ders.: Funktion-Begriff-Bedeutung, S. 23–46,
hier S. 27.
29 Crary: Die Modernisierung des Sehens. In: Stiegler (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotogra-
fie, S. 206–224, hier S. 206.
30 Ebd. 31 Ebd., S. 207.
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optischen Körpern beschäftigt. Als Jahrzehnte später die Leistungsfähigkeit der optischen Linsen stagnierte, obwohl mit René Descartes sogar das Problem der Aberrationen erkannt und gelöst wurde,32 revolutionierte der junge Newton mit der Wiedererfindung des antiken Hohlspiegels das astronomische Sehen. Eine ähnlich sprunghafte Entwicklung lässt sich für die Mikros kopie anführen und nimmt auch hier Züge eines Regresses an. Als sich die Kombinatorik in den Linsenmikroskopen ab der Mitte des 17. Jhs. nicht mehr steigern ließ, weil die Gläser hierfür zu unrein waren und zu viel Licht verloren ging, erfand oder entdeckte der holländische Laienforscher Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) den kompakten und miniaturisierten Glastropfen neu, justierte ihn in einer nutzerfreundlichen und präzisen Mechanik und sah dadurch erstmals lebende Blutkörperchen, Spermatozoen und die Bakterien im eigenen Zahnbelag. Diese Neuerfindung des Alten, eigentlich ja des Lesesteins, im Kontext der Diskurse der Mikroskopie blieb dann in ihrer technischen Leistungsfähigkeit über viele Jahrzehnte unübertroffen. Neben solchen entwicklungstechnischen Diskontinuitäten gibt es zweitens auch eine Parallelität der Innovationen, die eine lineare Fortschrittserzählung zerfasert und pluralisiert. Das lässt sich z. B. an den Erfindungen des Fernrohrs ablesen, die an mehreren Orten zugleich stattfanden, weshalb Galilei und Descartes jeweils andere Herkünfte anführen. Auch die zeitlich parallele aber thematisch völlig unterschiedliche Beforschung des Fernrohrs durch Galilei und Kepler, wobei ersterer als Praktiker und letzterer als Theoretiker agierte, verleiht dem neuen Medium ganz unterschiedliche Konsequenzen für das Sehen, die Sehenden und das Gesehene. Ein weiteres Beispiel sind die Erfindungen der Fotografien33 um das Jahr 1839, von denen sich mit der Positiv-NegativFotografie nur eine von vielen Varianten durchsetzte.
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32 Weil das Licht am Rand einer optischen Linse anders als in der Mitte gebrochen wird, ent-
steht ein verzogener Brennpunkt (Koma). Neben dieser sphärischen gibt es auch eine chromatische Aberration, die beide mit einem hyperbolischen Anschliff der Gläser korrigiert wurden. Vgl. Descartes: Dioptrik, S. 140 ff. 33 Dieser Plural umfasst mindestens die Brüder Niépce, L.J.M. Daguerre, William H. Fox Talbot und Hippolyte Bayard, vgl. Frizot (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie.
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Und auf eine dritte Weise destruiert sich die „vorherrschende, abendländische, spekulative oder skopische Tradition des Sehens“34 selbst, wenn einzelne Techniken oder Motive ihrer enorm variantenreichen Geschichte als Leitmedien stilisiert werden. Das gilt für die von Crary kritisierte Camera obscura, die in Friedrich Kittlers Darstellung der „Bewaffnung des Auges“35 um die Laterna magica ergänzt wird. „Das Modell aller optischen Prothesen und Sehhilfen“ ist bei Paul Virilio wiederum „das Teleskop“.36 Letztlich folgen solche Setzungen partikularen Erzählabsichten, die schon das Spektrum des technisierten Sehens stark reduzieren, das auch Sehrohr und Periskop, Prisma und Fresnel-Linse, Thaumatrop, Zoetrop und Tachyskop sowie die Geissler-, Röntgen- und Braunschen Röhren umfasst, um nur einige wenige zu nennen.37 Solche Reduktionen sind nur dann legitim, wenn sie sich, wie in dieser Metapher von Heinrich Heine, auch als solche zeigen: „Alle unsere heutigen Philosophen, vielleicht oft ohne es zu wissen, sehen sie durch die Brillen, die Baruch Spinoza geschliffen hat.“38 Trotz aller Diskontinuitäten kommt eine Beschreibung des Sehens aber nicht um eine Auswahl und Interpretation historischer Ereignisse herum, die zur besseren Übersicht39 chronologisch geordnet sein dürfen. Plausibel ist es auch, beim ersten künstlichen der optischen Medien anzufangen. Deshalb möchte ich hier mit der optischen Linse beginnen, die in der Geschichte des Sehens meist vernachlässigt wird, obwohl ihre enorme Form- und Kombinierbarkeit sehr folgenreich war und noch heute die Wechselobjektive guter Digitalkameras beherrscht.
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Crary: Die Modernisierung des Sehens, S. 206. Kittler: Optische Medien, S. 86. Virilio: Die Sehmaschine, S. 20. Vgl. Nekes/Dewitz (Hrsg.): Ich sehe was, was du nicht siehst! Heine: Die romantische Schule. In: Ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 3, S. 91. Die „Übersicht“ (Synopsis) ist ein weiteres Beispiel für die begriffliche Fusion visueller mit kognitiven Qualitäten, die bei Wolfgang Köhler sogar ein Intelligenzkriterium für Affen ist: „Die Schimpansen [...] erweisen eigens durch ihr Blicken, daß sie wirklich zunächst eine Art Bestandsaufnahme der Situation vornehmen; aus dieser Übersicht springt dann das ‚Lösungsverhalten‘ hervor.“ Ders.: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 136 f.
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irgendwie geformtes Stück Smaragd“40 für die Betrachtung der Gladiatorenspiele verwendet haben. Mineralogisch ist der Smaragd ein Beryll und in seinen Eigenschaften dem Bergkristall nicht unähnlich, insofern sind wir sowohl materiell als auch begrifflich schon auf der richtigen Spur. Heinrich Schliemann hat in Troja antike Linsen aus Bergkristall gefunden, die belegen, dass dieses transparente bis opake Material in der Antike nicht nur bearbeitet und geschliffen werden konnte, sondern dass man es damals auch bereits in die Form einer optischen Linse gebracht hat. Wozu sie diente, ob als Lupe, Brennglas oder Schmuckgegenstand, ist nicht überliefert. Die erste theoretische Darstellung der Vergrößerungsfunktion von Linsen verdanken wir dem arabischen Gelehrten Ibn al Haitham (965–1039), der im Westen unter dem Namen Alhazen bekannt wurde: „Alhazen erwähnt als erster, daß ein gläsernes Kugelsegment eine Vergrößerung hervorruft, wenn man es auf eine Schrift legt. Er beschreibt also als erster die Anwendung einer Linse als ‚Lesestein‘ zu Abbildungszwecken.“41 Sein Buch SCHÄTZE DER OPTIK wurde erst 1240 ins Lateinische übertragen und bleibt bis zu Kepler ein Referenztext der Optik. Roger Bacon (1240–1294) stützte sich darauf, als er die Lupenwirkung gläserner Kugelsegmente beschrieb. Von ihm stammt auch der Vorschlag, „daß diese ein vorzügliches Mittel seien für alte Leute und für solche, die schwache Augen haben; denn sie können damit noch so kleine Buchstaben in genügender Größe sehen.“42 Ein erstes malerisches Zeugnis für ihre Anwendung findet sich auf einem Fresko von Tommaso da Modena im Dominikanerkloster von Treviso (1352), auf dem zwei Mönche eine Klemm- und eine Stielbrille tragen. Als Verstärker des Buchwissens ist das neue Medium ein Statussymbol und wird in der Malerei den Kirchenvätern posthum aufgesetzt. Dagegen stigmatisiert Hieronymus Bosch seine Chimären aus Mönch und Tier mit der Brille. Beim jungen Rembrandt finden sich dann malereigeschichtliche Hinweise auf ihre zunehmende Popularisierung. Unter den drei erhaltenen Bildern, die er den
Sehen Konjunkturen
KONJUNKTUREN Im antiken Rom soll der kurzsichtige Kaiser Nero „ein
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40 Kittler: Optische Medien, S. 86. 41 Riekher: Fernrohre und ihre Meister, S. 14. 42 Ebd.
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fünf Sinnen gewidmet hat, zeigt das Bild zum Sehen (1623/24) einen Brillenverkäufer, der in einem Bauchladen funkelnde Gläser und Klemmbrillen zu Markte trägt. Mit der Popularisierung der Brille wird das Sehen in seiner individuellen Instabilität thematisch, worauf zeitgleich Johannes Keplers differenzierte Beschreibung menschlicher Sehschwächen reagierte (s.u.). Eine erste medienphilosophische Auseinandersetzung mit den neuen Sichtbarkeiten der Linse finden wir in dem Buch DE BERYLLO (1458) des spätmittelalterlichen Theologen Cusanus. Der titelgebende Mineral Beryll ist ein „glänzender, weißer, durchsichtiger Stein“,43 der seit dem späten Mittelalter in geschliffener Form als Lesestein diente. Bei Cusanus wird ihm eine „zugleich konkave und konvexe Form verliehen, und wer durch ihn hindurchsieht, berührt zuvor Unsichtbares.“44 Mit den gegensätzlichen Formen soll der Beryll einen Ausgleich ermöglichen: „Und wenn wir durch den Beryll die Ungleichheit betrachten, wird die unteilbare Gleichheit das Objekt sein“.45 Es sind die begrifflichen Gegensatzpaare in der logisch deduktiven Argumentationsweise der Scholastik, die der Beryll visuell aufheben soll. „Wenn den Augen der Vernunft ein vernunftgemäßer Beryll, der die größte und kleinste Form zugleich hat, richtig angepaßt wird, wird durch seine Vermittlung der unteilbare Ursprung von allem berührt.“46 Dem Sehsinn kommt in dieser Medienphilosophie avant la lettre ein herausragender Status zu. Während der Verstand (ratio) begrifflich agiert, ist die Vernunft (intellectus) visuell orientiert und soll göttliche Wahrheit erfahrbar machen, wie der Mediävist Kurt Flasch erläutert: „Der Verstand habe die Aufgabe, Wahrnehmungen zu ordnen, also zusammenzufassen. Er bewegt sich in Unterscheidungen. [E]r achtet auf eindeutige Begriffe. Er achtet seiner Natur nach auf Widerspruchsvermeidung.“47 Die Vernunft wird als eine bislang fehlende Brille verstanden und ihre Funktion ist korrektiv. Der Verstand „weiß nicht, daß er eine zwar notwendige, aber doch sekundäre Funktion der geistigen Erkenntnis ist. Er geht selbst aus einem Grunde hervor, der nicht seinen Regeln unterliegt, nämlich dem
43 Cusanus: De Beryllo, S. 5. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 9. 46 Ebd., S. 5. 47 Flasch: Nicolaus Cusanus, S. 100.
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Wenn Cusanus von intellektueller Schau (visio) spricht, ist dies präzis zu nehmen: als Einsicht in das jeweils Vorausgesetzte. [...] Sein Ausdruck „Sehen“ (visio) ist also nicht im Sinne einer unmittelbaren Schau oder einer Intuition zu deuten. Mit Hilfe des Berylls sollen wir sehen lernen, was unseren gewöhnlichen Sätzen und unseren wissenschaftlichen Behauptungen zugrunde liegt, was aber im Alltag wie in der bisherigen Wissenschaft verborgen geblieben ist.52
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Intellekt. Der Intellekt weiß von sich, daß er zugleich in Ruhe und in Bewegung ist. In diesem Wissen von sich wird er zur ‚Brille‘.“48 Cusanus erhebt das neue Medium der Brille zum Werkzeug einer visuell agierenden Vernunft, die einzig in der Lage ist, hinter die begrifflichen Distinktionen des Verstandes zu schauen. Sie assistiert der Erfahrung von Wahrheiten, die im bislang Unsichtbaren liegen und als Ursprünge von Gegensätzen scheinbar fundamental sind: „Unser Beryll läßt schärfer sehen, so daß wir Gegensätze im verknüpfenden Ursprung vor der Zweiheit sehen, nämlich bevor sie zwei Entgegengesetzte sind.“49 Diese begrifflichen Gegensätze treten in DE BERYLLO als visuelle Erfahrung mit den zwei Grundfunktionen der optischen Linse auf: dem visuellen Vergrößern und Verkleinern. Bereits 250 Jahre vor der Erfindung von Teleund Mikroskop beginnen Mikro- und Makrokosmos zu ‚koinzidieren‘: „lege den Beryll an und sieh den Erkenntnisursprung durch das zugleich größte und kleinste Erkennbare.“50 Damit reflektiert Cusanus das Eindringen eines Minimums und eines Maximums in die visuelle Wahrnehmungswelt. „Cusanus folgerte aus der Koinzidenz des Maximums mit dem Minimum, daß wir das Maximum finden, indem wir das Minimum bedenken. Auf der Suche nach dem Maximum sollen wir den Blick wenden und das Kleinste erforschen.“51 In der einfachen Sammellinse des Beryll tritt uns unterschiedslos das Größte wie das Kleinste entgegen, wobei die Sichtbarkeit an die Grenze des Unsichtbaren führt, unscharf wird und verschwimmt.
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48 Ebd. 49 Cusanus: De Beryllo, S. 49 f. 50 Ebd. 51 Flasch: Nicolaus Cusanus, S. 100. 52 Ebd., S. 25.
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Diesen Anspruch löst erst Galileo Galilei zu Beginn der Frühen Neuzeit ein, zumal sein Fernrohr nun eine Kombination einer konvexen mit einer konkaven Linse ist. Sein Buch SIDEREUS NUNCIUS / STERNENBOTE, das im März 1610 erschien, muss „als Proklamation neuer Sichtbarkeiten“53 verstanden werden, die sich vom alten Sehen keineswegs lösen konnten. So hat Horst Bredekamp die These vertreten, dass Galilei die Mondoberfläche nur deshalb als kraterüberzogene Landschaft interpretieren konnte, weil er eine zeichnerische Ausbildung besaß.54 Und auch der Rückbezug des zerklüfteten Himmelskörpers auf die Erde bindet neue Sichtbarkeiten an bekannte, wie Hans Blumenberg betont: „Galilei ist ein Mann von einer vertrackt reflektierten Optik. Er richtet das Fernrohr auf den Mond, und was er sieht, ist die Erde als Stern im Weltall.“55 Galilei beansprucht, eine visuelle Terra incognita als Erster betreten zu haben: Die Flecken auf dem Mond „sind von niemandem vor mir beobachtet worden“.56 Auch die ersten vier sichtbar gewordenen Jupitermonde waren „keinem unserer Vorfahren bekannt gewesen“.57 Die Publikation des Buches erfolgt letztlich so übereilt, dass weitere von Galilei entdeckte Himmelsphänomene wie die Venusphasen und die Ringe des Saturn für die Drucklegung zu spät kommen. Im Rausch der Entdeckungen stellt er sich selbst als Erfinder vor: „Dies alles ist vor wenigen Tagen mit Hilfe eines von mir nach einer Erleuchtung durch göttliche Gnade erdachten Augenglases entdeckt und beobachtet worden.“58 Aber erst ein Gerücht über die Erfindung des Fernrohrs inspirierte ihn zu seinem „ähnlichen Gerät“: „Ich bereitete mir zunächst ein Bleirohr und paßte in seine Enden zwei Glaslinsen ein, die auf der einen
53 „Das kleine Werk ist kein Muster der exakten Methode, sondern ein einzigartiger Fall der
Umsetzung von Erregung in Beschreibung, als Proklamation neuer Sichtbarkeiten, von denen Galilei glaubt, daß sie sich niemand entgehen lassen würde.“ Blumenberg: Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, S. 78. 54 „Es war die Schulung in Perspektive, die Galilei bereits vor der Erfindung des Telescops hatte imaginieren lassen, daß die Oberfläche des Mondes uneben war.“ Bredekamp: Galilei der Künstler, S. 104. 55 Blumenberg: Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, S. 22. 56 Galilei: Sidereus Nuncius, S. 87. 57 Ebd., S. 84. 58 Ebd.
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Seite beide plan waren. Auf der anderen Seite war die eine konvex, die andere konkav. Dann legte ich das Auge an die konkave Linse und sah die Gegenstände ziemlich groß und nahe“.59 Den Vergrößerungseffekt überprüft Galilei durch ein visuelles Experiment, bei dem der natürliche Sehsinn mit dem technisch vermittelten kooperiert. Man schneide: zwei Kreise oder zwei Quadrate aus Papier, von denen das eine vierhundertmal größer ist als das andere. [...] Dann befestigt man beide Flächen an derselben Wand und betrachte sie gleichzeitig aus großer Entfernung, und zwar die kleinere mit dem einen Auge durch das Fernrohr, die größere mit dem bloßen anderen Auge. [...] Wenn nun das Gerät die Gegenstände im gewünschten Verhältnis vergrößert, dann werden beide Figuren gleich groß erscheinen.60
Der Versuch kann die Theorie nicht ersetzen, also verspricht Galilei, „bei anderer Gelegenheit eine vollständige Theorie dieses Gerätes heraus[zu]geben“, um zuerst „an den Anfängen großer Betrachtungen teilzunehmen.“61 Die offenen Fragen werden ein Jahr darauf in Johannes Keplers Buch GEMACHTEN ERFINDUNG DER FERNROHRE FÜR DAS SEHEN UND DIE SICHT-
(1611) geklärt und vertieft, weshalb es als das „erste moderne Optiklehrbuch“ gilt. Neben der nachgelieferten Theorie des terrestrischen (Galilei) und astronomischen (Kepler) Fernrohrs, das aus zwei konvexen Linsen besteht, finden sich systematische Überlegungen zur Funktionsweise des Auges, das Kepler wie die Linsen als „Medium“ bezeichnet: „[S]o entstand nach diesem Vorgange für mein Büchlein der Name Dioptrik, weil es hauptsächlich von den in dichten, durchsichtigen Medien gebrochenen Strahlen handelt, sowohl in den natürlichen Medien des menschlichen Auges, als den künstlichen verschiedener Gläser.“63 Explizit geht Kepler davon aus, dass „die Theorie des Instruments an das menschliche Auge anknüpft“,64 was BAREN GEGENSTÄNDE ERGEBEN
62
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DIOPTRIK ODER SCHILDERUNG DER FOLGEN, DIE SICH AUS DER UNLÄNGST
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59 Ebd. 60 Ebd., S. 86. 61 Ebd., S. 87. 62 Riekher: Fernrohre und ihre Meister, S. 30. 63 Kepler: Dioptrik, S. 4. 64 Ebd.
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Ernst Kapp als „unwiderlegbaren Beweis“ einer Organprojektion wertete, da „im optischen Apparat ursprünglich und unbewusst das Auge nachgeformt“ sei.65 Von Kepler wird auch das Netzhautbild beschrieben, das aber nicht die visuelle Wahrnehmung erklärt, sondern nur die Funktionsweise des Auges, insofern es einer mathematisch-geometrischen Erklärung zugänglich ist.66 Zeitgleich zur Entdeckung des Fernrohrs beginnt Kepler, die Bedingungen für die natürliche Fern- und Nahsicht zu systematisieren: „Es gibt Menschen, welche Fernes scharf, Nahes verschwommen sehen. Aristoteles nennt sie [Alterssichtige]. Andere sehen Nahes deutlich, Fernes undeutlich, welche Aristoteles Myopen nennt. Es gibt aber auch solche, die Nahes und Fernes verschwommen, und wiederum solche, die beides deutlich sehen.“67 Zwar kann das menschliche Auge nur im Bild Fernes und Nahes zugleich scharf sehen, aber es ist für gewöhnlich in der Lage, auf beides nacheinander zu fokussieren. Störungen können durch Altersermüdung oder Fehlverhalten in der Jugend entstehen, denn „wer von Jugend auf eine sitzende Lebensweise im Hause führt, sei es des Studiums oder eines feineren Handwerkes wegen, der gewöhnt sich bald an das Nahe und bleibt auch mit zunehmendem Alter dabei, so daß er mehr und mehr untauglich zum Sehen in die Ferne wird.“68 War die Fernsicht Galileis eine wissenschaftliche Großtat, kann sie beim Menschen auch ein Defekt sein, gibt es doch „zum Trunke geneigte, schläfrige, müssige und grüblerische“ Menschen, „welche häufig die Beachtung der vor den Füßen und unter den Händen befindlichen Dinge vernachlässigen. Deren Augen nehmen soviel als möglich die Parallelstellung an, in welcher nur das Ferne deutlich gesehen wird.“69 Neben solchen verhaltensbedingten Modifikationen spiele beim Sehen „jeweils die individuelle Beschaffenheit“70 eine Rolle, wobei Keplers eigene Augenprobleme auf eine Blatternerkrankung in der Kindheit zurückgeführt werden. 65 Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik, S. 84. 66 „Innerhalb Keplers mathematisch-geometrischer Sehtheorie ist das Netzhautbild ein Re-
sultat, innerhalb einer umfassenderen Wahrnehmungslehre ist [es] lediglich ein Zwischenprodukt.“ Kümmerling: Bildmetaphern des Sehens, S. 34. 67 Kepler: Dioptrik, S. 31 f. 68 Ebd., S. 33. 69 Ebd. 70 Ebd.
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LOGICAL DESCRIPTIONS OF MINUTE BODIES MADE BY MAGNIFYING GLASSES
WITH OBSERVATIONS AND INQUIRIES THEREUPON (1665). Hooke mikroskopiert
Samenkörner, Insekten und Mineralien und präsentiert sie in 37 großformatigen Kupferstichen. Das Mikroskop „manifestiert“ Sichtbares, wobei Hooke für dieses instrumentelle Sehen mehrfach den Begriff der Information verwendet: „we are informe‘d by the microscope“.72 Systematisch richtet er das Sehen auf die spezifischen Eigenschaften transparenter Substanzen wie Glas, Luft, Mineralien, Öl und Wasser sowie auf die Frage, was mit dem Licht geschieht, wenn es gebrochen, gespiegelt, gebündelt, abgelenkt oder in verschiedener Weise weitergeleitet wird. Unter allen Objekten der Mikroskopie sind die Augen besonders hervorzuheben, denn wie bei Kepler richtet sich das neue Medium nun auch auf den Sehsinn selbst. Verglichen mit dem optischen Instrument erscheint
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Wie stark das optisch instrumentierte Sehen die komplexe Wissensexpansion der Frühen Neuzeit vorantreibt, lässt sich an René Descartes ENTWURF DER METHODE (1637) erkennen, der konsequent Galilei und Kepler ignoriert. Die drei langen Essays des Buches sind der Naturphilosophie, der Geometrie und der Dioptrik gewidmet. Deren zehn Kapitel beschäftigen sich mit dem Licht, seiner Brechung, den Bildern auf der Netzhaut oder der Funktionsweise des Auges im Sinne einer Camera obscura. Das 6. Kapitel ist dem Sehen gewidmet. Die letzten vier Kapitel beschäftigen sich mit Linsen und optischen Apparaten im Sinne ihrer technischen Optimierung. Zuletzt tritt das Mikroskop unter der Bezeichnung „Flohbrille“ auf, die Descartes für „nützlicher“ als ein Fernrohr hält, „weil man durch sie die verschiedenen Mischungen und Zusammenstellungen kleiner Partikel wird sehen können, aus denen die Tiere und Pflanzen und vielleicht auch die anderen uns umgebenden Körper zusammengesetzt sind.“71 Das medientechnisch expandierende Sehen bringt den Wunsch nach neuen Objekten hervor, die nach den Sensationen des Makro- nun auch den Mikrokosmos betreffen. Publik werden sie in Robert Hookes MICROGRAPHIA OR SOME PHYSIO-
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71 Descartes: Dioptrik, S. 192. 72 Hooke: Micrographia, S. 160, auch 84, 113.
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das menschliche Auge als „naked eye“,73 das sich auch von den vormals unbekannten Augen der Insekten deutlich unterscheidet.74 So offenbart der Blick durchs Mikroskop, dass das Facettenauge der Fliege aus unzähligen kleinen Einzel-Augen zusammengesetzt ist, bei denen unbegreiflich bleibt, wie die Fliege damit sieht. Letztlich fördert der Blick durchs Mikroskop wie der durchs Teleskop die visuelle Begegnung mit bislang unbekannten Welten: „Every considerable improvement of Telescopes or Microscopes producing new Worlds and Terra-Incognita’s to our view“,75 für die wir vormals offenbar blind gewesen waren.
Sehen Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Der Gegenbegriff des Sehens ist das Nichtsehen, das auf
geschlossenen Augen, unsichtbaren oder transparenten Dingen oder völliger Dunkelheit beruhen kann. Im ersten Fall können trotzdem Nachbilder gesehen werden,76 in deren experimenteller Erforschung „drei der meistgerühmten Sehforscher […] durch das häufige In-die-Sonne-Starren blind“77 wurden. Blindheit, ob angeboren oder erworben, ist die deutlichste Form des Nichtsehens, allerdings verfügen auch sehende Menschen über den sogenannten blinden Fleck, der im Jahre 1668 entdeckt wurde.78 „Dort wo der Sehnerv das Auge Richtung Hirnrinde verlässt, befindet sich eine zwei Millimeter große Stelle, an der es keine Rezeptoren gibt.“79 Durch Beidäugigkeit, stetige Augenbewegungen und psychologische Kompensationen fällt diese partielle Blindheit nicht auf, lässt sich aber experimentell leicht nachweisen. Als Descartes darüber nachdachte, wie Blinde „gewissermaßen mit den Händen sehen“80, hat er das Sehen mit einem weiteren Gegenbegriff konfrontiert. Auf dieser Konkurrenz der Sinne basiert auch das Molyneux-Problem, das William Molyneux an John Locke adressiert:
73 Ein Ausdruck, der in der Micrographia 63 Mal benutzt wird. Vgl. Bexte: Optische Apparate
und Repräsentationen, S. 179. Vgl. Hooke: Micrographia, S. 198. Ebd., S. 16. Vgl. Descartes: Die Dioptrik, S. 111. Crary: Die Modernisierung des Sehens, S. 213. Vgl. Bexte: Blinde Seher. Menkhoff: Die Welt der optischen Illusionen, S. 8. Descartes: Die Dioptrik, S. 73.
74 75 76 77 78 79 80
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Damit bliebe der Sehsinn in der Art und Weise seiner Erfahrungsproduktion zwar einmalig, er wäre in seinem Wirklichkeitsbezug aber ersetzbar. Dieses Problem wurde bis ins 18. Jh. intensiv diskutiert, etwa in Denis Diderots LETTRE SUR LES AVEUGLES À L’USAGE DE CEUX QUI VOIENT / BRIEF ÜBER DIE BLINDEN. ZUM GEBRAUCH DER SEHENDEN (1749). Es kehrt aber auch in der Physiologie des 19. Jhs. wieder. So behauptet Crary, die „Forschungen des deutschen Physiologen Johannes Müller, des herausragendsten Sehtheoretikers der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert“ und insbesondere seine „Lehre von den spezifischen Nervenenergien“ seien „für das 19. Jahrhundert genauso wichtig, wie das Molyneuxsche Problem für das achtzehnte“.82 Ihr „erkenntnistheoretischer Skandal“ bestand in der These, „daß eine gleichbleibende Ursache (z.B. Elektrizität) je nach Nervenart vollkommen unterschiedliche Empfindungen hervorruft“.83 Anders als bei Molyneux geht nun aus dem Vergleich der Sinne die These einer referentiellen Blindheit des Sehens hervor, denn Müller „kommt zu dem Schluß, daß die Lichtwahrnehmung des Betrachters keinerlei zwingende Verbindung mit irgendeinem tatsächlichen Licht hat.“84 Damit verliert der Sehsinn auf dem Weg der elektronischen Reizweiterleitung mit seiner Spezifik auch seine Referentialität, man könnte sagen, das physiologisch intakte Sehen ist blind für die Welt. „Tatsächlich definiert die Lehre von den spezifischen Nervenenergien das Sehen als ein Vermögen, von Empfindungen berührt zu werden, die keine zwingende Verbindung zu einem
Sehen Gegenbegriffe
Denken wir uns einen Blindgeborenen, der jetzt erwachsen ist und mit dem Tastsinn zwischen einem Würfel und einer Kugel [...] hat unterscheiden lernen [...]. Nehmen wir weiter an, [...] der Blinde würde sehend, so fragt es sich nun, ob er nur durch den Gesichtssinn [...] angeben könnte, welches die Kugel und welches der Würfel sei. Der scharfsinnige und einsichtsvolle Fragesteller beantwortet die Frage mit nein. „Denn“, so sagt er, „wenn auch jener Mann erfahrungsgemäß weiß, wie Kugel und Würfel auf seinen Tastsinn einwirken, so hat er doch noch nicht die Erfahrung gemacht, daß dasjenige, was auf seinen Tastsinn so oder so einwirkt, auf seinen Gesichtssinn so oder so wirken muß“ [...].81
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81 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, S. 162. 82 Crary: Die Modernisierung des Sehens, S. 218. 83 Ebd., S. 219. 84 Ebd.
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Referenten besitzen und damit jedes kohärente Bedeutungssystem in Frage stellen.“85 Das Sehen wäre demnach aus physiologischen Gründen realitätsblind. Interessant ist dabei die zeitliche Parallele zur Fotografie, denn: „Gerade die Abwesenheit von Referenzialität bildet das Fundament, auf dem neue technische Instrumente für den Betrachter eine neue reale Welt errichten werden.“86 Zeitgleich zur neurologischen Interpretation des Sehens wird mit der Fotografie ein medieninduziertes Wechselspiel zwischen dem Sehen und einer partiellen Blindheit thematisch. Denn von Anbeginn steht der Wirklichkeitscharakter der fotografischen Objekte in Frage, obwohl ihr Detailreichtum schon seit William H. Fox Talbot als unübertroffen gilt. Nicht nur treten in der Fotografie artifizielle Objekte auf, die z.B. schwarz/weiß und proportional miniaturisiert sind, sondern auch solche, die dem menschlichen Sehen zuvor entgangen waren, wie etwa die Bewegungsphasen in der Chronofotografie von Étienne-Jules Marey. Selbst der räumliche Fokussierungszwang der Augen wird aufgehoben, wenn die Tiefenschärfe der Fotos alle Raumebenen zugleich scharf zeigen kann, während das menschliche Auge sie in der Tiefe nacheinander fokussieren muss. Viele fotografische Objekte werden neu und einige erstmals gesehen: „Fotografien bieten mehr als eine Neubestimmung des Stoffs unserer alltäglichen Erfahrungen (Menschen, Dinge, Ereignisse – alles was wir, wenn auch vielleicht anders und häufig, ohne es recht wahrzunehmen, mit dem bloßen Auge sehen); sie machen eine Vielzahl von Dingen sichtbar, die wir ohne sie niemals sehen würden.“87 Walter Benjamin hat diese Erweiterung der sichtbaren Welt um die Effekte des Filmbildes ergänzt und bezeichnet das vormals Ungesehene als das „optisch Unbewußte“.88 Unter der „Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung“.89 Allerdings wird durch beide keineswegs sichtbar, „was man ‚ohnehin‘ undeutlich sieht, sondern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie [...]. So wird handgreiflich, dass es eine andere Natur ist,
85 Ebd., S. 220. 86 Ebd. 87 Sontag: Die Bilderwelt, S. 149. 88 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 41. 89 Ebd., S. 40.
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PERSPEKTIVEN Eine exklusive und bis heute unausgeschöpfte Anwendungs-
dimension des Sehens eröffnet sich mit dem Medium des Bildes, das als Artefakt ausschließlich an den Sehsinn adressiert ist. Meist versucht es, dessen Bedürfnissen durch Wiederholung zu entsprechen. Damit wurden und werden in der Konstruktion von Bildern unvermeidlich die Bedingungen des Sehens thematisch und experimentell befragbar. Bereits die antike Beeinflussung von „Sehkurven“ durch „Architekturkurven“93 ließ erkennen, dass sich das Sehen durch spezifische Artefakte gezielt täuschen lässt und dass die Regeln der
Sehen Perspektiven
die zu der Kamera als die zum Auge spricht.“90 Eigentlich hätte Benjamin aber der Kamera wie dem Auge ein jeweils eigenes ‚optisch Unbewußtes‘ zugestehen müssen, weil sich ja nicht davon ausgehen lässt, dass die ihnen verborgen bleibenden Sichtbarkeiten identisch sind. Denn wenn das ‚Auge‘ nicht alles erfasst, was es sieht, warum sollte diese partielle Blindheit dann nicht auch für Sehmaschinen wie Fotoapparate, Kameras und optische Sensoren gelten? Ein physiologisch intaktes Sehen kann jedenfalls semantisch blind sein, wie sich auch am Beispiel der Prosopagnosie, der sogenannten Gesichtsblindheit, zeigen lässt, die 1947 vom Neurologen Joachim Bodamer benannt wurde. „Subtil ist diese Schwäche vor allem deshalb, weil bei Gesichtsblinden ‚der Sehsinn intakt bleibt‘, das Vermögen ‚vertraute Gesichter wiederzuerkennen‘ jedoch eingebüßt wird.“91 Gesichtsblinde Menschen können Physiognomien sogar genauer beschreiben als Normalsehende, aber nicht die ihnen zugehörigen Individuen wiedererkennen. Damit ergeht es ihnen wie modernen biome trischen Sehmaschinen, deren Mustererkennung ebenfalls präziser ist als ein menschlicher Blick und die doch gleichwohl bedeutungsblind für die jeweilige Physiognomie sind. „Im Mittelpunkt des Dispositivs der zukünftigen ‚Sehmaschine‘ steht also die Blindheit“, die Virilio als einen industrialisierten „Nicht-Blick“ versteht.92
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90 Ebd. 91 Körte/Richtmeyer: Neurologische Gesichtsblindheit und biometrische Gesichtserkennung.
In: Ders. (Hrsg.): Phantomgesichter, S. 215–234, hier S. 218. Inkludiertes Zitat von Jonathan Cole: Über das Gesicht, München (1999), S. 75. 92 Virilio: Die Sehmaschine, S. 164. 93 Panofsky: Die Perspektive als symbolische Form, S. 133.
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Sehen Perspektiven
Täuschung im Dienste einer Theorie des Sehens verstanden werden können: „Bei den antiken Optikern und Kunsttheoretikern […] finden wir immer wieder Beobachtungen ausgesprochen wie die, daß das Gerade krumm und das Krumme gerade erblickt werde, daß die Säulen, just um nicht gebogen zu erscheinen, ihre […] Entasis erhalten müßten“.94 Mit den Erfindungen der Perspektiven in der Renaissance entstanden erfahrungsbasierte Theorien des Sehens, deren Ziel es war, räumlich wirkende Bilder zu konstruieren. Ihre räumliche Täuschung ist theorierelevant, denn: „Das Begreifen der Natur liegt nicht in ihrer Duplikation, sondern in ihrer pers pektivischen Vortäuschung. […] Gelingt mir diese Täuschung nicht, so zeige ich damit, daß ich die Gesetze des Sehens nicht richtig verstanden habe.“95 Die Konstruktion räumlich wirkender Bilder zwingt somit zur Reflexion des Sehens: „Euklid beschreibt das visuelle Feld als einen Kegel, an dessen Spitze das Auge sitzt und dessen Basis durch die Grenze des Gesichtsfeldes bestimmt wird. Brunelleschi durchschneidet den so gedachten Sehkegel mittels einer Projektionsebene. Alberti definiert eine Hauptsehlinie, die vom Auge zum Fluchtpunkt führt“.96 Die Projektionsebene des Bildes im Sehkegel wurde von Leonardo da Vinci und anderen als eine eingeschobene Glasplatte gedacht, auf der sich räumliche Bilder abzeichnen lassen, für die er noch eine Linear-, eine Farben- und eine Verschleierungsperspektive hinzufügte. Das Spiel mit der Augentäuschung war in der Kunstgeschichte handwerklich virtuoser Bestandteil bildlicher Darstellungen, z.B. bei illusionistischen Malereien, dem Trompe-l’œil oder der manieristischen Anamorphose. Aber dass sie als Trugbilder visuell irritieren sollen, um damit die Bedingungen des Sehens beschreibbar zu machen, ist ein relativ junges Phänomen. Die ab 1860 entdeckten optischen Täuschungen beziehen sich oft auf visuelle Irritationen, die zufällig an Alltagsobjekten wahrgenommen wurden und über stilisierte Grafiken allererst zu wirkungsvollen Trugbildern entwickelt werden mussten.97 So beschrieb der Astrophysiker Karl Friedrich Zöllner
94 95 96 97
Ebd., S. 104. Sukale: Sehen als Erkennen, S. 16. Ebd., S. 49. Vgl. Richtmeyer: „Trugbilder“ und „Gesichtsbetrüge“. In: Nowak (Hrsg.): Bild und Negativität, S. 271–294.
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Diese Tafel enthält nämlich in regelmässiger Anordnung schwarze quadratische Felder (deren jedes eine Klangfigur zeigt); die dazwischen frei gebliebenen weissen Räume bilden ein regelmassiges Streifengitter. In jedem Kreuzungspuncte dieses Gitters sieht man nun sofort einen dunklen verwaschenen Fleck; fixirt man einen einzelnen der Kreuzungspuncte scharf, so erscheint er so weiss wie
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„eine auffallende Täuschung […] welche [er] zufällig an einem für Zeugdruck bestimmten Muster beobachtet habe“.98 Parallele, vertikale Linien, die mit kurzen, gleichmäßigen Querstrichen in wechselnder Richtung durchgekreuzt werden, erscheinen nicht mehr parallel, sondern konvergierend. Zöllner nennt das Phänomen „Gesichtsbetrug“ und beginnt es (ab)zeichnend zu beschreiben. Die optimierte Grafik gilt als ‚Trugbild‘, weil ihr visueller Wahrnehmungseindruck nicht mit dem Ergebnis von Messungen übereinstimmt. Nachweisbar verlaufen die vertikalen Linien des Musters parallel, während sie visuell zu konvergieren scheinen. Ein Jahr später veröffentlichte der Physiologe Ewald Hering seine BEITRÄGE ZUR PHYSIOLOGIE, in denen er sich mit Doppelbildern, Nachbildern und dem räumlichen Sehen beschäftigt. Im Kapitel VON DER EINÄUGIGEN STEREOSKOPIE, deren Grundprinzip 1838 vom Physiker Charles Wheatstone beschrieben wurde,99 geht er intensiv auf Zöllners Muster ein, das er eine „höchst überraschende ebene Truggestalt“ nennt.100 Ihre flackernde Unruhe begründet er damit, dass „neben dem Zwang zur Täuschung doch auch eine nie ruhende Aufforderung zum Richtigsehen liegt“,101 aus der sich wiederum eine Unzahl weiterer Truggestalten entwickeln lassen, u.a. das Hering-Muster. Das wissenschaftliche „Augenmerk“102 erlebt solche visuellen Irritationen auch am Bildmaterial fachfremder Disziplinen, etwa als der Physiologe Ludimar Hermann 1870 in einem Buch über John Tyndalls physikalische Experimente zum Schall seltsame Effekte an den dargebotenen Schautafeln sieht:
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98 Zöllner: Ueber eine neue Art von Pseudoskopie und ihre Beziehung zu den von Plateau und
Oppel beschriebenen Bewegungsphänomenen, S. 500. Vgl. Bexte: Optische Apparate und Repräsentationen, S. 180. Hering: Beiträge zur Physiologie, S. 75. Ebd., S. 78. Vgl. Rheinberger: Augenmerk.
99 100 101 102
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seine Nachbarschaft. Die Erscheinung sieht ein Jeder der darauf aufmerksam gemacht wird; für meine Augen scheint sie ganz besonders intensiv zu sein.103
Auch diese Irritation wird grafisch aufgearbeitet und bis auf unsere Tage immer wieder variiert. Aber genaugenommen täuschen die „optischen Täuschungen“ nicht, sondern erzwingen mit geeigneten Referenzbildern den jeweils erwünschten Effekt, der physiologische, neurologische und psychologische Bedingungen des Sehens erfahrbar macht. Mit anderen stilisierten Grafiken wie den Vexierbildern lässt sich das Sehen zudem als semantisch präfiguriertes, sprachabhängiges „Aspektsehen“ thematisieren, wobei nun „das Eigentümliche des Aspekts ist, daß ich etwas in ein Bild hineinsehe“.104 Die Bedingungen des Gestaltsehens werden erst im Aspektwechsel auffällig: „Wenn nicht der Wechsel des Aspekts vorläge, so gäbe es nur eine Auffassung, nicht ein so oder so sehen.“105 Das lässt sich an Wittgensteins prominentem Entenhasen oder anderen ‚Metapictures‘ überprüfen, deren verschiedene Aspekte jeweils nur getrennt voneinander gesehen werden können. Darin zeigt sich eine mehrfache Standortgebundenheit des Sehens von Bildern, die zum Begriff der Perspektive gehört und ihn verändert. Bereits im 18. Jh. erhielt er eine zweite Bedeutung, da Perspektive zusätzlich zur artifiziellen „Raumanschauung“ auch den Blick benennt, den „eine Person in den Raum hinein richtet“.106 Mit der Fotografie wird diese Standortwahl nun auf den aufnehmenden Apparat übertragen. Die zunehmende Schnelligkeit der fotografischen Bildproduktion beruht lange vor der Perfektionierung des Entwicklungs- und Herstellungsprozesses auf dieser dritten Bedeutung von Perspektive, die von der Bildproduktion in die komplexe „Geste des Fotografierens“ übergeht und für das fotografische Sehen theoriebildend ist. So stellte Vilém Flusser fest: „die Fotografie ist eine Geste des Schauens, der theoria.“107 „Der Fotograf durchzieht den Zeit-Raum, der aus verschiedenen Bereichen des Sehens, aus verschiedenen ‚Weltanschauungen‘ also, und aus Hindernissen
103 104 105 106 107
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Hermann: Eine Erscheinung simultanen Contrastes, S. 13 f. Wittgenstein: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, S. 185. Ebd., S. 298. Sukale: Zentralperspektive und Fensterparadigma, S. 164. Flusser: Die Geste des Fotografierens, S. 118.
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besteht, die diese Sehfelder trennen.“108 Die philosophische Skepsis gilt nun der Suche des richtigen Standorts als einer Aufnahmeperspektive. Der Fotograf „sieht die möglichen Bilder und wählt bei diesem futurologischen Sehen unter den verfügbaren Bildern das seine aus.“109 Da der Apparat das Sehen strukturiert, müssen seine Vorgaben ebenfalls berücksichtigt werden: „Der Fotograf schaut – ebenso wie der Philosoph – durch einen ‚kategorialen‘ Apparat und verfolgt damit das Ziel, die Welt als eine Serie distinkter Bilder (bestimmbarer Begriffe) zu erfassen.“110 Die hierbei entstehenden Bilder artikulieren demnach Deutungen der Welt: „Der Grund dafür ist, daß die Geste des Fotografierens eine Geste des Sehens, also dessen ist, was die antiken Denker theoria nannten, und daß daraus ein Bild hervorgeht, das von diesen Denkern idea genannt wurde.“111 Die Geste des Fotografierens ist aber „nicht direkt darauf aus, die Welt zu verändern oder mit den anderen zu kommunizieren, sondern zielt darauf ab, etwas zu betrachten und das Sehen zu fixieren, es ‚formal‘ zu machen.“112 Diese Neubestimmung des fotografischen Sehens als theoria der digitalen Kultur beschreibt ein exklusives und anspruchsvolles Verhalten in der Hervorbringung technischer Bilder, wohingegen die Knipser die Welt „nur noch durch den Apparat und in den Fotokategorien ansehen“.113 Der „Knipser interessiert sich für immer neue Szenen in immer der gleichen Sichtweise. Der Fotograf [...] ist hingegen [...] interessiert, auf immer neue Weise zu sehen“.114 Längst verändern die fotografischen Bilder das Sehen und Handeln in der Gegenwart auch jenseits theoretischer Interessen, die mit ihnen einmal verbunden gewesen sein mögen: „Indem sie uns einen neuen visuellen Code lehren, verändern und erweitern Fotografien unsere Vorstellung von dem, was anschauenswert ist und was zu beobachten wir ein Recht haben. Es gibt eine Grammatik des Sehens und, wichtiger noch, eine Ethik des Sehens.“115
S
108 Ebd., S. 111. 109 Ebd., S. 116. 110 Ebd., S. 111. 111 Ebd., S. 106. 112 Ebd. 113 Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 53. 114 Ebd. 115 Sontag: In Platos Höhle, S. 9
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Sehen Perspektiven
Während Flusser mit der Unterscheidung zwischen Fotograf*innen und Knipser*innen zwei Anwendungsperspektiven des fotografischen Sehens trennt, betont Susan Sontag, dass das Medium der Fotografie grundsätzlich zwei dialektisch miteinander verbundene Sichtweisen vereint, weil es ein „Medium der ästhetischen oder der instrumentalen Sicht der Welt“ sein kann.116 Zur ästhetischen Sicht gehört eine Sehnsucht nach neuen Sehweisen: „Wir bekennen uns zu einem modernen Begriff der Verschönerung – Schönheit wohnt nicht in den Dingen; sie offenbart sich durch eine besondere Sehweise“.117 Dabei ist das neue Sehen ein sehr altes Thema, das neben der westlichen Kunst gleichermaßen die europäische Wissenschaft seit Cusanus, Galilei und Berkeley prägte und im ausgehenden 20. Jh. zu heuristischen „Strategien der Sichtbarmachung“118 führte. Max Imdahl fasst dieses Thema im Begriff des sehenden Sehens zusammen: Fragen wir uns, was über den Sonderfall der Malerei hinaus ein sehendes Sehen bedeutet, das nicht bloß wiedererkennt, so müssen wir einen Unterschied machen zwischen der Möglichkeit, Neues zu sehen, und der Möglichkeit, auf neuartige Weise zu sehen. Im erstgenannten Falle ist das Neue ein Was […]. Im zweiten Falle handelt es sich um ein neuartiges Wie, um eine neue Struktur, Gestalt oder Regel, die es erlaubt, das Bekannte mit anderen Augen zu sehen und in einem neuen Licht zu betrachten.119
Obwohl solche Ansprüche und Erwartungen Sontag zufolge auf die populäre Kamerakultur abfärben, kommt ihr doch ein wesentlich reproduktiver Charakter zu: „Für uns ist die Fotografie ein Instrument, mit dem sich zweierlei produzieren läßt: Klischees (Französisch ‚cliché‘ = ‚Gemeinplatz‘ oder fotografisches ‚Negativ‘) und bis dahin unbekannte An-Sichten.“120 Und obwohl das westliche Interesse an den neuen und besonderen „Sehweisen“ nie
116 Sontag: Die Bilderwelt, S. 168. Variiert als das „Doppelpotential der Fotografie“ in: Dies.:
Das Leiden anderer betrachten, S. 89.
117 Sontag: Die Bilderwelt, S. 165. 118 Heintz/Huber (Hrsg.): Mit dem Auge denken. 119 Waldenfels: Ordnungen des Sichtbaren. In: Boehm (Hrsg.): Was ist ein Bild?, S. 233–252,
hier S. 237.
120 Sontag: Die Bilderwelt, S. 165.
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abgenommen hat, ist die gegenwärtige Bildkultur extrem standardisiert und von „Meta-Klischees“121 durchsetzt, die sich noch in den Filtern der automatisierten Bildbearbeitung auf sozialen Netzwerken wiederfinden.
die die Sehgewohnheiten in einem kulturellen Ausmaß verändert haben. Längst sehen wir auf Fotos nicht mehr vertraute Gesichter aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis, sondern vielmehr deren „Photographiergesicht“,122 welches das fotografische Gesehenwerden im mimischen Verhalten antizipiert. Dass wir alltäglich von Apparaten gesehen werden und bevorzugt deren Bilder sehen, führte schon Benjamin im Begriff der „optischen Tests“123 zusammen. Sie umfassen die Selbstkontrolle vor dem sehenden Apparat der Kamera und die Fremdkontrolle anhand der Betrachtung ihrer Bilder. Daraus resultiert eine visuelle Selbstoptimierung, die Benjamin mit den Aufnahmetests der Angestelltenkultur der 1920er Jahre assoziierte. Mit den Tests geht laut Susan Sontag eine neue Form der visuellen Gewalt einher: „Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie selbst sich niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren“.124 Diese Kritik führt das Thema des Gesehenwerdens mit dem der Macht und Kontrolle zusammen, wie es schon in Foucaults Darstellung des Panoptikons zur Sprache kommt,125 das Virilio für das Fernsehzeitalter neu überdenkt126 und das in aktuellen Positionen der Surveillance Studies wiederkehrt.127
Sehen Forschung
FORSCHUNG Im 20. Jh. wurde das Sehen von fotografischen Bildern geprägt,
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Ebd. S. 167. Kracauer: Die Photographie, S. 34. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 26. Sontag: In Platos Höhle, S. 20. „Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlaß zu sehen und zugleich zu erkennen. […] Das volle Licht und der Blick des Aufsehers erfassen besser als das Dunkel, das auch schützte. Die Sichtbarkeit ist eine Falle.“ Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257. 126 Vgl. Virilio: Die Sehmaschine, S. 147 ff. 127 Z.B. Zurawski: „Schau mir auf die Augen“. In: Richtmeyer (Hrsg.): Phantomgesichter, S. 161–175.
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Sehen Forschung
Der Zwang kann sich aber auch auf das technische Sehen selbst übertragen. So konstatiert Sontag einen „zwanghaften Drang zum Fotografieren“, der sich müht, „Erfahrung in eine bestimmte Sehweise zu verwandeln.“128 Diese Sehweise erzeugt einen neuen Voyerismus, bei dem letztlich unklar ist, was oder ob mit ihm überhaupt noch gesehen wird: „Was sehen diese Leute? Wir wissen es nicht. Und es spielt auch keine Rolle. Es ist ein Ereignis: etwas Sehenswertes – und damit Fotografierenswertes.“129 Oftmals gilt das fotografisch fixierte ‚Sehenswerte‘ dabei als ein Erfahrungsersatz. Geschichte erschließt sich im Sehen der fotografischen Bilder aber allenfalls arbiträr, wie im Eingangssatz von Roland Barthes HELLER KAMMER: „Eines Tages, vor sehr langer Zeit, stieß ich auf eine Photographie des jüngsten Bruders von Napoleon, Jerome (1852). Damals sagte ich mir, mit einem Erstaunen, das ich seitdem nicht mehr vermindern konnte: ‚Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben.‘“130 Selbst hier tritt das gesehene Bild an die Stelle des fotografierten Ereignisses, was Sontag als das Grundproblem eines bildgestützten Erinnerns beschreibt: „Das Problem besteht nicht darin, daß Menschen sich anhand von Fotos erinnern, sondern darin, daß sie sich nur an die Fotos erinnern.“131 Die Annahme, dass die Wirklichkeit „unserer Zuschauerkultur“132 deshalb ein bildgestütztes Spektakel sei, ist jedoch falsch und in globalem Maßstab betrachtet sogar „provinziell. Sie universalisiert die Sehgewohnheiten einer kleinen, gebildeten Gruppe von Menschen, die im reichen Teil der Welt leben, wo man Nachrichten in Unterhaltung verwandelt hat.“133 Dieser „ausgereifte Sehstil [...] nimmt an, daß jeder Mensch Zuschauer ist, und suggeriert [...] daß es wirkliches Leiden auf der Welt gar nicht gibt.“134 So setzt sich das Sehen dem Verdacht eines Voyeurismus und einer visuell-ethischen Abstumpfung
128 Sontag: In Platos Höhle, S. 29 f. 129 Ebd., S. 16. 130 Barthes: Die Helle Kammer, S. 11. 131 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 103. 132 Ebd., S. 122. 133 Ebd., S. 128. 134 Ebd.
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aus. Dabei komme es jedoch gerade den Greuelbildern zu, uns an „die Grundbestimmungen des Sehens“ zu erinnern:
Während Virilio „auf die baldige Verwirklichung jener ‚Sehmaschinen‘ wartet, die in der Lage sind, an unserer Stelle zu sehen und wahrzunehmen“,136 rehabilitieren Sontags ethische Bildrezeption wie schon Flussers philosophische Bildproduktion die antike Bedeutung des Sehens für die gegenwärtige Kamerakultur. Die „einst so bewunderten Eigenschaften des Sehens [...] das Abstandnehmen von der Aggressivität der Welt, das uns die Freiheit gibt, zu beobachten und unsere Aufmerksamkeit gezielt einzusetzen“, kulminieren bei Sontag letztlich in einem visuellen Humanismus, der das Sehen weiterhin als eine Praxis des Denkens versteht, denn „eigentlich ist mit alledem nur die Funktionsweise des menschlichen Geistes selbst beschrieben.“137 In dieser Perspektive betreiben die Forschungen zum Sehen eine Kritik der technisch generierten Bilder oder ihres persönlichen sowie kulturellen Gebrauchs. Ihnen stehen ‚posthumanistische‘ Forschungen gegenüber, die schon seit der Radioteleskopie, der Elektronenrastermikroskopie, den medizinischen Bildgebungen von Röntgen, Ultraschall, MRT und CT, der sensoriellen Photorezeptivität oder der algorithmischen Mustererkennung das Sehen der Maschinen mit dem Anspruch seiner stetigen Erweiterung und technischen Optimierung untersuchen. Ein dritter Forschungsansatz zum Sehen bestünde darin, die Verschiedenheit dieser beiden Perspektiven wieder miteinander zu verbinden.
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Sehen kostet keine Anstrengung; zum Sehen bedarf es der räumlichen Distanz; Sehen läßt sich „abschalten“ (wir haben Augenlider, aber unsere Ohren sind nicht verschließbar). Gerade die Eigenschaften, um derentwillen den griechischen Philosophen der Gesichtssinn als der vorzüglichste, edelste aller menschlichen Sinne galt, werden ihm heute als Mangel angerechnet.135
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135 Ebd., S. 137. 136 Virilio: Die Sehmaschine, S. 146. 137 Beide Zitate: Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 128.
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SELFIEMACHEN SUSANNE HOLSCHBACH
Astronauten Neil Armstrong dem Porträt einer jungen blonden Frau gegenüberstellt, die vor den Türen einer öffentlichen Toilette ein Smartphone auf ihr Gesicht richtet. „Went to the moon took 5 photos/Went to the bathroom took 37 photos“, lauten die jeweiligen Überschriften der Fotos.1 Bei dem Foto von Armstrong in voller Raumfahrermontur mit abgenommenem Helm handelt es sich um ein offizielles Porträt der NASA, das einige Wochen vor der ersten Mondlandung aufgenommen wurde, bei dem anderen um einen anonymen Schnappschuss. Der Schnappschuss dokumentiert eine fotografische Praxis, für die sich im wahrscheinlichen Zeitpunkt seiner Entstehung der Begriff des Selfies einbürgert. Der Fotocartoon bezieht Stellung zu dieser neuen Praxis, indem er das Sich-Selbst-Porträtieren mit dem Mobiltelefon als eine spezifisch weibliche Geste identifiziert und mittels der plakativen Gegenüberstellung mit dem männlich besetzten Handlungsraum technologischer Spitzenleistung im Dienste der Allgemeinheit („der große Sprung in der Menschheit“) als trivial, selbstbezogen und unbedeutend markiert. Das Meme steht beispielhaft für das Gendern eines neuen Mediengebrauchs, der sich in den 2010er Jahren mit der Verbreitung von Fotohandys und SocialMedia-Apps etabliert. Das altbekannte Stereotyp des weiblichen Narzissmus wird auf das Selfiemachen übertragen, das Selfiemachen wiederum zum Emblem zeitgenössischer Sozialität schlechthin hypostasiert.2 In der Rückschau lässt sich in der misogynen Pointe des Memes durchaus auch die vorauseilende Abwehr gegenüber einer Kulturtechnik erkennen, mit der sich tatsächlich in
Selfiemachen Anekdote
ANEKDOTE Um 2012 kursierte im Internet ein Bildwitz, der ein Porträt des
S
1
Das Bild ist auf der Webseite MEME zu sehen. Unter: https://me.me/i/went-to-the-moonwenttothe-bathroom-eatlevek-com-took-5-photos-1b6a41e268694352aa763511f387c5e4 [aufgerufen am 11.04.2021]. 2 Beispielsweise wurde die Titelstory des Time Magazine vom 20. Mai 2013, Me Me Me Generation, illustriert mit einem Foto einer jungen Frau, die ein Handy auf sich richtet, ebenso das Buchcover der populärwissenschaftlichen Studie #GENERATION SELFIE von Eva Oer und Christian Cohrs von 2016.
487
Selfiemachen Etymologie
den folgenden Jahren insbesondere Frauen öffentliche Aufmerksamkeit und ökonomischen Erfolg verschaffen werden. Das erste Foto, das Neil Armstrong nach der Landung auf dem Mond aufnahm, zeigt übrigens einen auf dem Boden vor der „Eagle“ abgelegten weißen Müllbeutel. Es ist eines von rund 200 Fotos, die das Project Apollo Archive für den Tag der Mondlandung, den 20. Juli 1969, auf seiner Webseite aufgelistet hat. Bei den letzten fünf Fotos vor dem Verlassen der Mondoberfläche handelt es sich um wechselseitig aufgenommene Porträts von Armstrong und seinem Kollegen Edwin Aldrin in der Raumkapsel („Armstrong in LM after historic moonwalk“ und „Aldrin in LM after moonwalk“).3 Auch wenn es per definitionem (s.u.) keine sind, sehen diese Porträts in ihrem ‚fehlerhaften‘ Ausschnitt und der leichten Unschärfe der Gesichter frühen Selfies zum Verwechseln ähnlich. ETYMOLOGIE Der aus dem engl. Pronomen „self“ abgeleitete und international verwendete Neologismus „Selfie“ hat sich in den Jahren 2012/13 im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Lexikalische Anerkennung erhielt das buzzword der Sozialen Medien durch die OXFORD DICTIONARIES, die es im November 2013 zum Wort des Jahres kürten. Deren Herausgeber*innen konnten einen ersten Gebrauch des Slangbegriffs im Jahr 2002 nachweisen und in Australien verorten, wo die Verwendung des diminutiven Suffix „ie“ recht verbreitet ist. In ihrem Statement erläuterte die Redaktionsleiterin [editorial director] der OXFORD DICTIONARIES, Judy Pearsall, den semantischen Effekt des Diminutivs wie folgt: Er trage dazu bei, einem wesentlich narzisstischen Unterfangen eine liebenswerte Note zu geben.4 Auch im Dt. setzte sich der Anglizismus schnell durch und wurde bereits 2017 in den DUDEN aufgenommen. Eine eigenständige Verbform hat sich für das Herstellen von Selfies allerdings
3
Zu sehen auf der Seite des Project Apollo Archive: Apollo Image Gallery/Apollo 11. Unter: http://www.apolloarchive.com/apollo_gallery.html [aufgerufen am 11.04.2021]. 4 „‚The use of the diminutive -ie suffix is notable as it helps to turn an essentially narcissistic enterprise into something rather more endearing,‘ editorial director Judy Pearsall said in a statement.“ Selfie: Australian slang term named international word of the year. In: The Guardian, 19.11.2013. Unter: https://www.theguardian.com/world/2013/nov/19/selfie-australian-slangterm-named-international-word-of-the-year [aufgerufen am 11.04.2021].
488
nicht entwickelt. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass die mediale Praxis des Selfies aus (mindestens) zwei Handlungen besteht: dem Aufnehmen eines Selbstporträts mit einem Smartphone oder einer Webcam und dem Hochladen desselben in ein soziales Netzwerk.5 Das Selfie ist in erster Linie auf die Herstellung von Kommunikation ausgerichtet; es will etwas auslösen und es erwartet eine unmittelbare Antwort, d. h., es ist dialogisch angelegt. Das Selfie zielt also weniger auf eine kontemplative Betrachtung als Bild, sondern fordert seinerseits zu einer fotografischen oder schriftlichen Geste auf. In der Verschlagwortung kann man einen weiteren Akt des Selfies ausmachen. Mit diesem Akt endet im Prinzip die Kontrolle des/r Urhebers/in über das Bild: Es wird der Prozessualität der menschlichen und technischen Netzwerke überantwortet.
turen. Ihre technischen Voraussetzungen liegen in der Verfügbarkeit digitaler Aufnahmegeräte mit einer Verbindung zum Internet. Auch wenn die OXFORD DICTIONARIES das Fotografieren mit einer Webcam in ihre Definition einbeziehen, verdankt sich der Aufstieg des Selfies zu einer allgemein verbreiteten Kulturtechnik vor allem der Verbreitung von Smartphones mit integrierter Kamera6 und der damit verbundenen Entwicklung und Etablierung mobiler Messenger- und Social-Media-Dienste wie WhatsApp (2009), Instagram (2010), Snapchat (2011) u.a. Die spezifische Geste des Selfiemachens resultiert aus der Verwendung der Frontkamera, die verschiedene Hersteller von Mobiltelefonen ursprünglich für die Videotelefonie implementiert hatten. Deren Handhabung beschränkt den Bildausschnitt auf den Radius der Armlänge des bzw. der Aufnehmenden, so dass das typische Selfie meist nur das Gesicht und einen Teil des Oberkörpers zeigt und nur eine fragmentarische Sicht auf das Umfeld des bzw. der
Selfiemachen Kontexte
KONTEXTE Die Gebrauchsweisen des Selfies sind ein Phänomen digitaler Kul-
S
5
(Art.) Selfie. In: Oxford English Dictionary: „A photograph that one has taken of oneself, esp. one taken with a smartphone or webcam and shared via social media.“ Diese Definition entspricht der Version von 2013, die selbst nicht mehr abrufbar ist. Unter: https://www.oed. com/view/Entry/390063?redirectedFrom=selfie [aufgerufen am 11.04.2021]. 6 Bereits 1999 wurde das Visual Phone von Kyocera vorgestellt, 2002 brachte Nokia das erste Fotohandy für den deutschen Markt heraus, das erste iPhone gab es 2007.
489
Selfiemachen Konjunkturen
Fotografierenden zulässt. Das einhändige Fotografieren und die zunächst vergleichsweise bescheidene Auflösung der Frontkameras bedingt(e) eine Reihe von „visuellen Fehlleistungen (défauts visible)“7 wie stürzende Linien, ‚gekippte‘ Rahmen und Unschärfen, die zusammengenommen die visuelle Charakteristik vor allem der frühen Selfies ausmachten. Die entscheidende Differenz zu anderen Praktiken des Sich-Selbst-Fotografierens ist die Echtzeitkontrolle von Blickwinkel und Gesichtsausdruck auf dem Display des Handys, das anders als ein Spiegel das entstehende Bild bereits seitenrichtig wiedergibt. Dass die Frontkameras von den Herstellern sukzessive verbessert wurden, ist ein signifikantes Beispiel für die Rückwirkung von Gebrauchsweisen auf technologische Entwicklungen, ebenso wie das Angebot an Filtern und Apps, mit denen man Selfies unmittelbar nach (bzw. während) der Aufnahme bearbeiten kann. Die Praxis des Selfies ist somit gleichermaßen Produkt wie Katalysator der fortschreitenden Vernetzung zwischen Geräten, Plattformen und Individuen. Die Medienwissenschaftlerin José van Dijck spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kultur der Konnektivität“.8 Die Anlässe und Intentionen, Selfies aufzunehmen und zu posten, sind so vielfältig wie die digitalen Praktiken und ihre Kontexte generell. Sie reichen von Statusmeldungen an die Familie oder Freund*innen über Werbebotschaften bis zum sogenannten Hashtag-Aktivismus. KONJUNKTUREN Die Häufung von Selbstporträts unter den Motiven von
geteilten Fotografien wurde bereits seit Mitte der Nullerjahre festgestellt, als diskursives Phänomen tritt das Selfiemachen aber erst in den 2010er Jahren in Erscheinung. Entscheidend für die Sichtbarwerdung und Popularisierung der Selfiepraxis war die Verbindung von Foto und Hashtag: Erst die Verknüpfung von Bild und Wort, von Daten und Metadaten versammelt die verstreuten Bilder zu einem ‚Genre‘, das wiederum als Handlungsanweisung für weitere Bilder fungiert und so als Meme viral gehen kann. Einmal auf den Begriff gebracht, bildeten sich über Nachahmung und Variation rasch zahlreiche Spielarten des 7 8
Gunthert: L’image partagée, S. 159. Van Dijck: Cultures of Connectivity. Connectivity bezieht sich in erster Linie auf die technische Dimension der Vernetzung, der van Dijck die „connectedness“ als soziale Dimension gegenüberstellt.
490
Selfiemachen Konjunkturen
Selfies heraus: die Drelfies etwa, Selbstporträts im betrunkenen Zustand, die Bookshelfies, Selbstporträts vor Bücherregalen, die Helfies, auf denen nur Haare zu sehen sind, die Porträts der eigenen Füße, oder die Belfies, auf denen das Gesäß exponiert wird. Handyfotograf*innen überboten sich mit artistischen Selfieposen (Selfie Olympics),9 Museumsbesucher*innen ahmten mit ihren Körpern Kunstwerke nach und sammelten sie unter #artselfie, das Museum of Selfies wurde gegründet, ein Tumblr-Blog für fotografische Inszenierungen, die historische Gemälde als Selfies erscheinen lassen. Es wurde über „Selfies at Funerals“10 oder „Selfies at Serious Places“11 debattiert. Dass nicht nur Medienstars, sondern auch ‚seriöse‘ Politiker*innen beim Selfiemachen gezeigt wurden, machte dieses dann auch auf breiterer Ebene gesellschaftsfähig.12 Sogenannte Influencer*innen, die das soziale Kapital ihrer hohen Followerzahl in Sozialen Netzwerken durch Produktwerbung und ihr Auftreten als Markenbotschafter*innen kommerziell auswerten, professionalisierten das Selfie zu einem Instrument der Authentifizierung von Werbebotschaften;13 mit der Bedeutung, die Social-Media-Plattformen um 2010 für zivilgesellschaftliche Bewegungen erlangten, avancierte es zugleich zu einem wirkungsmächtigen Mittel der politischen Stellungnahme und Mobilisierung14 – bis hin zur Verselbständigung in „Selfie-Protesten“ als „eine[r] Form von Demonstrationen, die sich von der Straße gänzlich ins Internet verlagert haben“.15
9 Frosh: The Gestural Image. In: International Journal of Communication, Nr. 9, S. 1614. 10 Meese: Selfies at Funerals. In: International Journal of Communication, Nr. 9, S. 1818–
1832. Dabei ging es beispielsweise um Selfies am bzw. im Holocaust Mahnmal in Berlin. vgl. etwa Shapira: Selfies am Holocaust-Mahnmal – angemessenes Verhalten? In: Deutschlandfunk Kultur, 19.01.2017. Unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/yolocaust-von-shahakshapira-selfies-am-holocaust-mahnmal.1895.de.html?dram:article_id=376770 [aufgerufen am 11.04.2021]. 12 Auch wenn dies zunächst in einem weniger positiven Kontext auftauchte, wie im Fall eines Selfies, das die damalige dänische Premierministerin Helle Thorning-Schmidt zusammen mit Barak Obama und David Cameron auf einer Zeremonie zu Ehren des verstorbenen Nelson Mandela aufgenommen hatte (vgl. Gunthert: L’image partagée, S. 148). 13 Vgl. Nymoen/Schmidt: Influencer. 14 Vgl. Schankweiler: Selfie-Proteste. 15 Ebd., S. 40 f. 11
S
491
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Heterogenität der Praktiken, die sich innerhalb weniger Jahre herausgebildet haben, es problematisch macht, vom Selfie und Selfiemachen im Allgemeinen zu sprechen, was sich unter anderem im Vergleich mit dem Begriff des Selbstporträts veranschaulichen lässt.
Selfiemachen Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Eine zentrale Auseinandersetzung innerhalb des populären
wie auch des theoretischen Diskurses um das Selfie betrifft dessen Verhältnis zum kunsthistorischen Genre des Selbstporträts. Handelt es sich beim Selfie um die aktuelle Ausdrucksform einer Tradition des Sich-Selbst-Porträtierens seit Albrecht Dürer bzw. zumindest der fotografischen Selbstinszenierung seit Hippolyte Bayard oder um ein genuines Phänomen der vernetzten Bildpraxis, das nur vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Medienkultur zu begreifen ist? Ausstellungen mit Titeln wie „Ich bin hier. Von Rembrandt zum Selfie“16 stehen für den Versuch, das Selfie in den kunsthistorischen Kanon einzugemeinden und schon in den Selbstporträts Rembrandts eine Vorwegnahme der digitalen Selbstdarstellung auszumachen. Die dezidierte Abgrenzung des Selfiemachens vom Selbstporträtieren verläuft in zwei Richtungen: In der moralischen Debatte um die vermeintliche „Selfiesucht“17 dient der Vergleich mit der Praxis des künstlerischen Selbstporträts der Abwertung des Selfiemachens als einer narzisstischen und oberflächlichen Tätigkeit ohne ästhetischen und (selbst-)reflexiven Eigenwert; in der theoretischen Konzeptualisierung des Selfies geht es dagegen um die Behauptung von dessen struktureller Autonomie18 und seines Status als neues visuelles Genre.19 Die Vergleiche zwischen Selbstporträt und Selfie, so etwa Wolfgang Ullrich, zeugten „nicht nur von einem Ignorieren der Unterschiede zwischen mündlichen und werkhaften Bildern, ihnen liegt vielmehr auch eine Missachtung der gesellschaftspolitischen Dimension der digitalen Bildkultur zugrunde“.20 16 Die Ausstellung war vom 31. Oktober 2015 bis 31. Januar 2016 in der Staatlichen Kunst-
halle Karlsruhe zu sehen.
17 Han: Narzissmus ist der Grund für Selfies und Terror. In. Welt Online, 30.12.2015. Unter:
https://www.welt.de/kultur/article150479233/Narzissmus-ist-der-Grund-fuer-Selfies-undTerror.html [aufgerufen am 11.04.2021]. 18 Vgl. Saltz: Kunst am ausgestreckten Arm. In: Ego Update, S. 30–48. 19 Vgl. Rubinstein: Das Geschenk des Selfies. In: Ego Update, S. 9–28. 20 Ullrich: Selfie, S. 59.
492
Selfiemachen Gegenbegriffe
Werkhaftigkeit ist ein entscheidendes Kriterium in der Disziplin der Kunstgeschichte, in der das Porträtieren traditionellerweise abgehandelt wird. Unter dem Lemma „Portraiture“, definiert als „the art or practice of making portraits“, konstatiert das DICTIONARY OF ART, dass ein erkennbares Bild eines Modells nicht notwendig ein Porträt darstelle, Ähnlichkeit somit nicht der einzige Faktor für die Definition eines Porträts sein könne.21 Voraussetzung sei vielmehr eine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des zu Porträtierenden. Auch das Leipziger LEXIKON DER KUNST versteht unter „Bildnis“ nicht nur die abbildende, sondern auch die „gestaltende und deutende Darstellung eines bestimmten Menschen.“22 Die Kriterien der Auseinandersetzung, der Gestaltung und der Deutung lassen sich auch auf die „Selbstdarstellung eines Künstlers in Bildhauerkunst, Malerei, Zeichnung, Druckgrafik und Fotografie“23 übertragen, wobei die jeweiligen Intentionen des Sich-Selbst-Porträtierens einem historischen Wandel unterliegen und sich seit der Moderne zunehmend von der Selbstrepräsentation und der den Lebenslauf begleitenden Selbstaussage in Richtung einer experimentellen Selbstbefragung verlagert haben. Neben der Verankerung in einem künstlerischen Werk ist der Bezug zum „Selbst“, die reflexive Wendung auf die eigene Person, das bestimmende Merkmal künstlerischer Selbstdarstellung. Auch in seiner Handlungsform, dem oft langwierigen Prozess einer Vermittlung zwischen Auge, Hand und Material, unterscheidet sich das traditionelle Selbstporträtieren von dem momenthaften Akt der apparativen Aufzeichnung eines Selfies. Diesen teilt das Selfie wiederum mit den bereits etablierten Praktiken fotografischer Selbstinszenierung. Die mit Hilfe von Selbstauslösern oder Spiegeln hergestellten Selbstporträts professioneller bzw. künstlerischer Fotograf*innen sind jedoch in der Regel in ihrer Intention ebenso „werkhaft“ wie die traditioneller Künstler*innen: Über die jeweilige Ästhetik, das technische Verfahren, die Inszenierungsform wird der jeweilige Stil bzw. die jeweilige künstlerische Position der sich selbst fotografierenden Person zur Darstellung gebracht. Die Fotografie eröffnete aber erstmals auch Nichtkünstler*innen die Praxis des Sich-Selbst-Porträtierens.
S
21 Vgl. (Art.): Portaiture. In: The Dictionary of Art, S. 273. 22 (Art.): Bildnis. In: Lexikon der Kunst, S. 558 [Hervorh. i. Orig.]. 23 Ebd.
493
Selfiemachen Perspektiven
Auch Amateurinnen und Knipser fotografier(t)en sich selbst, nicht zuletzt, um in spielerischer Weise mit Posen, Maskeraden und Geschlechterrollen zu experimentieren. Diese performative Praxis der Selbstinszenierung findet bzw. fand jedoch vorwiegend im Privaten statt, d. h., es handelt(e) sich um Porträts, die die Fotografierenden in erster Linie für sich selbst mach(t)en.24 Das Selfie richtet sich in seinem Alltagsgebrauch dagegen an andere; seine Botschaft ist weniger eine Selbstaussage als eine Statusmitteilung: Hier bin ich gerade, das mache ich gerade, so fühle ich mich gerade, dafür setze ich mich gerade ein. Als eine etablierte Praxis ist das Selfie inzwischen selbst zum Gegenstand reflexiver und künstlerischer Auseinandersetzung geworden. Ein prominentes Beispiel stellt Amalia Ulmans Instagram-Performance EXCELLENCES & PERFECTION von 2014 dar, die dem Kunstpublikum u.a. durch eine Ausstellung in der Tate Modern London bekannt gemacht wurde.25 Ulman griff auf das Repertoire stereotyper Selfieposen und anderer populärer Instagram-Motive zurück, um über einen Zeitraum von mehreren Monaten die Selbstdarstellung einer Microcelebrity vorzutäuschen und auf diese Weise zu dekonstruieren. Einen ähnlichen Ansatz vertritt der deutsche Künstler Andy Kassier, der in seinen Selbstinszenierungen die Bildwelt männlicher Influencer aufgreift (@andykassier). Auch viele Memes reflektieren auf ironische Weise die Selfiekultur und tragen so zu einer künstlerischen Konzeptualisierung des Selfiemachens bei.26 PERSPEKTIVEN Die Praktiken des Selfies haben sich seit ihrer ersten Kon-
junktur zu einem komplexen Aussagesystem mit einem dynamischen Vokabular und vielfältigen Verknüpfungsregeln entwickelt. Bildmotive und Inszenierungsformen haben sich durch Nachahmung und Variation zu Begriffen verfestigt, die in der privaten Kommunikation wie im öffentlichen Diskurs zum Einsatz gebracht werden können. Es ist möglich, auf etablierte Semantiken
24 Vgl. Regener: Den Körper zum Bild gemacht. In: Ruelfs/Beyerle (Hrsg.): Amateur-Foto-
grafie, S. 98–103.
25 In der Ausstellung „Performing for the Camera“ (Tate Modern, 18. Februar bis 12. Juni
2016) war die Arbeit von Ulman neben denen von Cindy Sherman, Francesca Woodman, Samuel Fosso u.a. zu sehen. 26 Vgl. etwa den Instagram-Feed der Schauspielerin und Komikerin Celeste Barber, die Selfies nachahmt und den Originalen gegenüberstellt (@celestebarber).
494
Selfiemachen Perspektiven
zurückzugreifen und zugleich affektive Färbungen und unterschiedliche Sprechhaltungen wie Ernsthaftigkeit oder Ironie zum Ausdruck zu bringen. Als Form der Äußerung kann das Selfie im Prinzip unendlich viele Aussagen in unterschiedlichen Kontexten hervorbringen. Im Rahmen einer „mündlichen Bildkultur“27 wird sich die Praxis des Selfies auf diese Weise weiter ausdifferenzieren und neue Gebrauchsformen hervorbringen. Der Kunsthistoriker und Publizist Wolfgang Ullrich vertritt die These, dass mit der Selfiekultur eine Form des öffentlichen Lebens zurückkehre, „dessen ‚Verfall und Ende‘ in der Moderne am genauesten von dem Soziologen Richard Sennett beschrieben wurde“.28 Er begründet das damit, dass in einer medial konstituierten Öffentlichkeit Selfies nicht als authentischer Selbstausdruck fungierten, sondern als Persona im theatralischen Sinne, als „perfekte Fassade des Privaten“29 oder auch „mediale Doubles“30, mit denen man im Raum der Sozialen Medien miteinander in Kontakt trete. Das könne zu einer expressiveren Gesichtskultur führen, „für die die natürliche Mimik nur noch Ausgangspunkt – gleichsam Inspiration – für diverse Formen ambitionierten digitalen Gesichtsdesigns ist“.31 Beispiele für diese Formen wären zum einen das häufige Grimassieren beim Selfiemachen, zum anderen die Verwendung von Filtersoftware, die Gesichter mit komikartigen Grafiken ‚überschreibt‘. Ob intendiert oder nicht, sind diese Formen des „Gesichtstunings“ auch probate Mittel gegen eine Identifizierung durch Gesichtserkennungsalgorithmen, die wiederum an der Fülle von Selfies geschult werden konnten. Wie bei anderen Social-Media-Praktiken auch stellt sich in Bezug auf das Selfie die Frage nach der Handlungsmacht (agency). In welchem Verhältnis stehen Prozesse der Normierung und Stereotypisierung zum Potential der
S
27 28 29 30 31
Ullrich: Selfie, S. 54. Ebd., S. 23. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 62.
495
gemeinschaftlichen Verbreitung von Gegenbildern?32 In welchem Ausmaß greift die Gouvernementalität des Plattformkapitalismus auf die individuelle Praxis des Bilderteilens zu bzw. ruft sie diese erst hervor? In welcher Weise steuern Filteroptionen und andere Software die Selfiepraktiken und Algorithmen das, was von diesen Praktiken überhaupt und in welcher Reichweite sichtbar wird?
Selfiemachen Forschung
FORSCHUNG Es sind Fragen wie diese, die den Forschungshorizont zum
Selfie bestimmen. Als eine hybride Praxis, die in der Fotografie ebenso verankert ist wie in der Netzwerktechnologie, die bildhaft und zugleich kommunikativ ist und die sich in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen etabliert hat, avancierte das Selfiemachen mit seiner Konjunktur um 2013 zum Untersuchungsgegenstand für unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen: Fotogeschichte und Medienwissenschaft, Cultural Studies und Kommunikationswissenschaft, Kulturanthropologie und Soziologie, Digital Humanities und Softwarestudies.33 Anfangs musste sich die akademische Forschung zu den Praktiken des Selfies deren Banalisierung und Pathologisierung in der öffentlichen Wahrnehmung dezidiert entgegensetzen, um dann in Fallstudien beispielsweise gender- und generationsspezifische Gebrauchsweisen, nationale Ausprägungen oder spezifische Kontexte der Produktion und Rezeption von Selfies zu untersuchen. Dabei wurde der kommunikative Aspekt der Praxis schon früh herausgestellt: Der Fotohistoriker André Gunthert schlug den Begriff des „conversational image“34 vor. „What Does the Selfie Say“, überschreiben Nancy T. Baym und Theresa M. Senft ihre Einleitung zu
32 Hier wäre zu denken an die bodypositive-Bewegung, die „weibliche Bildpolitik“ des „Netzfe-
minismus“ (vgl. Kohout 2019). Beispiele von Künstlerinnen, die Selfieinszenierungen einsetzen, um Weiblichkeitsnormen der Social Media mit den Mitteln der Social Media zu konterkarieren, finden sich im Katalog zur Ausstellung Virtual Normality. Netzkünstlerinnen 2.0, die vom 12. Januar bis 21. Mai 2018 im Museum der Bildenden Künste Leipzig zu sehen war (Meier/Weidinger 2019). Vgl. auch Holschbach: Frauen sehen Frauen an, S. 43–52. 33 Einen guten Überblick zum Forschungsstand bis 2017 gibt die Einleitung von Julia Eckel, Jens Ruchatz und Sabine Wirth zum Sammelband „Exploring the Selfie. Historical, Theoretical and Analytical Approaches to Digital Self-Photography“ (S. 1–23). 34 Gunthert: The Conversational Image. In: Études Photographiques. Unter: https://journals. openedition.org/etudesphotographiques/3546 [aufgerufen am 11.04.2021].
496
Selfiemachen Forschung
einer Veröffentlichung von Studien im International Journal of Communication; Paul Frosh rekurriert in seinem Beitrag auf den Begriff des Phatischen aus der Sprechakttheorie, betont mit seiner Definition des „Gestural Image“ vor allem aber den körperlichen Akt des Selfies;35 Wolfgang Ullrich spricht schließlich von der bereits genannten „mündlichen Bildkultur“. Was diese Begriffsfindungen jedoch nicht abbilden können, ist die technologische Seite des Selfiemachens. „Es ist zunehmend deutlich geworden, dass Studien über das Selfie als einer sozialen Praxis gleichermaßen die technologischen Bedingungen dieser Form des Mediengebrauchs reflektieren müssen: die Parameter von Apps, von internetfähigen Geräten, den Fluss von Daten [(big) data]“,36 heißt es etwa in der Einleitung des Sammelbands EXPLORING THE SELFIE. Als Beispiel einer solchen Untersuchung ließe sich die Studie von Katja Gunkel anführen, die Filtertechnologien von Hipstamatic und Instagram analysiert und mit dem Befund abschließt, dass „Prozesse der Welt- und Selbstaneignung […] im Kontext des mobilen digitalen Bildes maßgeblich auf der Ebene der Bildbearbeitung statt[finden]“.37 Das Selfie als ein spezifisches „ikonisches Kommunikat“ (so die Begrifflichkeit von Gunkel für mobil geteilte Bilder) kommt in der Studie schichtweg nicht vor. Tatsächlich scheint es nach der Phase des Selfies als Medienereignis und seiner ersten theoretischen Konzeptionalisierung zunehmend obsolet zu sein, das Selfiemachen als solches zum Gegenstand von Forschung zu machen: Die Untersuchung seiner Einbindung in die unterschiedlichen Praktiken, Technologien und Kontexte des Bilddatenverkehrs steht aber nach wie vor erst am Anfang.
S 35 Vgl. Frosh: The Gestural Image. In: International Journal of Communication, Nr. 9,
S. 1607–1628. Unter: http://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/3146/1388 [aufgerufen am 11.04.2021]. 36 Übersetzung S.H. Der Satz steht im Zusammenhang mit einem Verweis auf ein Projekt, das Lev Manovich und sein Team 2013 initiiert hatten: „As the Selfiecity-project […] has demonstrated, the sheer mass of pictures challenges established approaches in the humanities and social sciences and calls for methodological extensions towards Software Studies, big data analysis and new visualization tools“ [Eckel/Ruchatz/Wirth (Hrsg.): Exploring the Selfie, S. 10]. 37 Gunkel: Der Instagram-Effekt, S. 362.
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S
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SHAREN FRANZISKA REICHENBECHER
Sharen Anekdote
ANEKDOTE Auf der Entwicklerkonferenz f8 postulierte Facebook 2011 ein als
S
frictionless sharing bekanntgewordenes Paradigma der Online-Partizipation. Im Rahmen dessen sollten User nicht mehr den Share-Button bemühen müssen, sondern Interaktionen mit Partnerdiensten wie Spotify oder The Guardian weitgehend automatisch in einem Ticker posten lassen, in dem sie möglichst alles ausdrücken sollten, was sie taten oder konsumierten: „their runs, their naps, their moods, and much more“.1 Bereits drei Jahre später stellte Facebook allerdings fest, „that people engage more with stories that are shared explicitly rather than implicitly, and often feel surprised or confused by stories that are shared [...] automatically“.2 Angesichts dessen bremste Facebook seine Bemühungen um frictionless sharing wieder ab. Gerade weil die Euphorie des frictionless sharing zumindest partiell fehlgeleitet war, lassen sich daran grundsätzliche Fragen ablesen: Wenn statt statischer, abgegrenzter und hervorstechender Inhalte vielmehr alltägliche, ständig wechselnde „lightweight activities“ geteilt und in einen „stream of everything a user is experiencing and expressing“ eingespeist werden sollen:3 Was bliebe dann als nicht-teilbarer Rest übrig und wie verhalten sich die Teile zum Ganzen? Wenn Akte des sharing automatisiert werden: Wer oder was ist überhaupt als mitteilungsfähig anzusehen? Wenn frictionless Geshartes andere User nicht tangiert oder gar stört: Mit wem bzw. für wen wird eigentlich geteilt und wonach bemisst sich die Community des sharing dann überhaupt? Diese banalen wie entscheidenden Fragen laufen nicht etwa darauf hinaus, dass sharing als eine rein menschliche Mitteilungsweise des Außergewöhnlichen 1
Terdiman: What Facebook Announced at F8 Today. In: Cnet. Unter: www.cnet.com/news/ what-facebook-announced-at-f8-today [aufgerufen am 05.03.2020]. 2 Yang: Giving People More Control Over When They Share from Apps. In: Facebook for Developers. Unter: https://developers.facebook.com/blog/post/2014/05/27/more-controlwith-sharing/ [aufgerufen am 05.03.2020]. Häufig würden solche Posts ausgeblendet oder als Spam markiert (vgl. ebd.). 3 Terdiman: What Facebook Announced at F8 Today. In: Cnet. Unter: www.cnet.com/news/ what-facebook-announced-at-f8-today [aufgerufen am 05.03.2020].
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ETYMOLOGIE Der Anglizismus sharen ist ebenso wie posten, twittern oder liken im Zuge der Digitalisierung des Sozialen in die dt. Alltagssprache eingewandert. Im engeren Sinne meint sharen hier das Weiterverbreiten von Inhalten auf sozialen Plattformen. Außerhalb der Online-Kommunikation bezeichnet es die kollektive Nutzung von Gütern oder Ressourcen, insbesondere im Kontext der Sharing Economy und den damit assoziierten Praktiken. Gemeinsam haben beide Verwendungskontexte im Kern die Operation des Teilens. Das dt. Verb teilen ist abgeleitet von theil [got. dailjan, ahd. teilan teilen deilen, mhd. teilen, ags. dælan] und verwandt mit lat. dividere, partiri, dispartire sowie dem griech. δειλειν.5 Bei Adelung findet sich die Bedeutung von theilen als „was in Eines beysammen ist, oder beysammen gedacht wird, absondern, Dinge, welche ein Ganzes ausmachen [...], trennen“; damit stehe theilen in Verbindung mit der Bedeutung Schneiden in Analogie zu lat. talliare, ital. tagliare und frz. tailler.6 Der Theil verweist auf zählbare Quantitäten wie „Menge, Vielheit, Zahl“ ebenso wie auf erzählbare „Rede“ und „Sprache“, was sich wiederum in der Verwandtschaft von theilen mit dem engl. Verb (to) tell und den schwed. Ausdrücken Delas für „Streit, Prozeß“ und tälja für „schneiden“ sowie „erzählen und tadeln“ zeigt.7 Der Aspekt des Sprechens hat sich in den dt. Worten „ertheilen, Urtheil und urtheilen“ erhalten.8 Das WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN GEGENWARTSSPRACHE konkretisiert das Verteilen als „etw. in
Sharen Etymologie
verstanden werden müsse, sondern vielmehr auf ein im Versprechen der frictionlessness verankertes Problem: Warum sollte Teilen nämlich überhaupt reibungsfrei sein? Macht nicht das, was Reibungen beim Teilen erzeugt – nämlich Mediationen und Widerstände – das Teilen gerade aus? Man muss nicht erst an Aktionärsversammlungen teilnehmen, in einer WG wohnen oder mit Kindern Gummibärchen essen, um die Freuden und Leiden des Teilens zu erfahren und insbesondere der im frictionless sharing suggerierten Unmittelbarkeit einer „instant and invisible participation“4 skeptisch gegenüberzustehen.
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4 Gerlitz/Helmond: The Like Economy. In: New Media & Society, S. 1353. 5 Vgl. (Art.) theilen. In: Grimm, Sp. 356 sowie (Art.) Theilen. In: Adelung, Sp. 574. 6 (Art.) Theilen. In: Adelung, Sp. 574. 7 Ebd. 8 Ebd., vgl. (Art.) theilen. In: Grimm, Sp. 358.
501
Sharen Etymologie
Portionen verschiedenen Personen geben“ und gibt auch den mathematischen Terminus „dividieren“ als Synonym an.9 Darüber hinaus finden sich hier die gegensätzlichen Bedeutungen „etw., sich unterscheiden“ (z.B. „in diesem Punkte [teilen] sich unsere Meinungen“) einerseits und „etw. mit jmdm. gemeinsam innehaben, tun“ („an etw. teilhaben, etw. gleichfalls vertreten“) andererseits.10 Im Licht dieser semantischen Facetten deutet sich bereits an, dass mit der Rede vom Teilen ein äußerst heterogener Komplex von Praktiken mit sowohl trennenden als auch verbindenden Logiken und Effekten adressiert ist. Teilen erschließt sich hierbei als eine relationale Medienpraxis, insofern sie Menschen und Dinge in jeweils spezifische Verhältnisse zueinander setzt. Insbesondere beim ver- und aufteilenden Teilen muss also immer auch ein bestimmtes Verhältnis der Teile zum Ganzen sowie der Teile zueinander mitgedacht werden. So finden sich etwa Präzisierungen wie „etw. in einzelne gleich oder verschieden große Teile [...] zerlegen“11 und „mit jemandem etwas (zur hälfte) theilen“12. Damit ist das Teilen bereits als eine elementare ökonomische Praxis kenntlich gemacht, die als solche auch mit ethischen Diskursen der Gerechtigkeit in Verbindung steht.13 Mit Blick auf die Etymologie des engl. Verbs (to) share ergibt sich ein ähnliches Bild. Es geht zurück auf das aengl. scearu für Schnitt, Schur, Tonsur, Teil(ung) sowie den anatomischen Bereich rund um die Geschlechtsorgane, der den menschlichen Körper gliedert.14 Nach Kluge ist der Begriff share für „Anteil“ auch mit dem dt. Verb „bescheren“ für „zuteilen, bestimmen“ (über die got. Grundform skarwjan für „zuteilen“) urverwandt.15 Die frühe Bedeutung von sharing zeigte sich noch im 16. Jh. als „dividing, or splitting“;16 dieser ursprüngliche mechanisch-operative Sinn bezieht sich auf die Verteilung
9 (Art.) teilen. In: DWDS online. Unter: www.dwds.de [aufgerufen am 09.07.2019]. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 (Art.) theilen. In: Grimm, Sp. 358. 13 Siehe auch die idiomatischen Wendungen share and share alike (Appell, dass alle einen glei-
chen Anteil bekommen) und a (fair) share (ein angemessener Anteil an etwas).
14 Vgl. (Art.) share. In: OED online. Unter: www.oed.com [aufgerufen am 18.01.2020]. 15 (Art.) bescheren. In: Kluge, S. 51. 16 John: The Age of Sharing, S. 6.
502
KONTEXTE Nach Nicholas A. John findet sich sharing heute im Wesentli-
chen als konstitutive Tätigkeit in sozialen Medien, als Modell eines bestimmten ökonomischen Verhaltens und schließlich als spezifische Kategorie des
Sharen Kontexte
materieller Ressourcen17 und liege auch dem gegenwärtigen ‚naiven‘ Verständnis zugrunde: „sharing is when you let others have some of what’s yours“.18 Ab dem 19. Jh. gewinnt der Ausdruck sharing eine kommunikative Dimension, die zunächst noch angelehnt ist an das Motiv der Zerteilung: „Sharing the problem meant dividing it, and thus lightening the burden.“19 Erst ab Anfang des 20. Jhs. wird das Sprechen selbst, insbesondere die intime Kommunikation, explizit als sharing bezeichnet.20 Gegenwärtig können im Engl. folgende Grundbedeutungen von (to) share unterschieden werden: 1. etwas gleichzeitig nutzen oder haben, 2. etwas zerteilen und Teile weggeben, 3. (sich) in etwas (z.B. eine Aufgabe) (r)einteilen, 4. etwas (z.B. Gefühle, Eigenschaften) gemeinsam haben, 5. (jemandem) etwas Persönliches mitteilen sowie 6. etwas auf sozialen Netzwerken (weiter)verbreiten.21 Das engl. Substantiv share meint entsprechend 1. den Anteil an etwas, das zuvor auf- bzw. zerteilt wurde oder 2. an dem mehrere Personen beteiligt sind, 3. einen Geschäftsanteil und 4. das Ereignis des (Weiter-)Verbreitens in sozialen Medien.22 Wenngleich sharen im Dt. mittlerweile zur Alltagssprache gehört, verzeichnet der DUDEN diesen Anglizismus im Gegensatz etwa zu posten oder liken bisher noch nicht, repräsentiert aber mit den Substantiven Share (Aktie, Wertpapier), Shareholder (Aktionär), Shareholder-Value und Shareware sowie den zusammengesetzten Formen Bike-, Car-, Code-, Food-, Job- und Timesharing konkrete ökonomische Phänomene dieser Medienpraktik.23
S
17 Vgl. ebd., S. 7. 18 Ebd., S. 6. 19 John: A Short History of the Word ‚Sharing‘. In: Shareable. Unter: www.shareable.net/
a-short-history-of-the-word-sharing/ [aufgerufen am 22.12.2019].
20 Vgl. ebd. 21 Vgl. (Art.) share. In: Cambridge Dictionary. Unter: https://dictionary.cambridge.org [auf-
gerufen am 18.01.2020].
22 Vgl. ebd. 23 Vgl. Duden (online). Unter: https://www.duden.de [aufgerufen am 30.09.2020].
503
Sharen Kontexte
Sprechens.24 Um die Relationalität und Medialität des gemeinsamen und doch heterogenen Praxiskomplexes von sharen und teilen in den Blick zu bekommen, bietet sich eine etwas weiter gefasste heuristische Systematik an, die sharen/ teilen 1. als basale Operation, 2. als komplexe Öko-Praxis und schließlich 3. als Kommunikationsform sowohl on- als auch offline perspektiviert. Erstens bildet Teilen eine basale Operation im Sinne des Zer- und Verteilens, die sowohl physisch als auch abstrakt, aktiv wie auch reflexiv vonstattengehen kann. Im Fall physischer Teilung wird ein materielles Ganzes unter Einsatz eines Hilfsmittels in mindestens zwei Bestandteile zerlegt. Mechanisches Zerteilen kann als ein proto-technisches Verfahren begriffen werden, das zunächst den Körper selbst involviert und in der Folge die Entwicklung von immer komplexeren Werkzeugen motiviert.25 Demgegenüber steht das reflexive Teilen, d.h. wenn sich eine materielle Einheit scheinbar ‚von selbst‘ teilt. Am Beispiel der Zellteilung wird jedoch ersichtlich, dass auch hier bestimmte Codierungen, Katalysatoren und Kontrollmechanismen am Werk sind: Der Zellzyklus wird von der Erbinformation ‚programmiert‘ und durch biochemische Kontrollpunkte reguliert; die Zellteilung selbst wird durch bestimmte Proteine (Mitogene) angeregt und über Signaltransduktion vollzogen.26 Allein im Vokabular der Zellphysiologie lassen sich damit einschlägige medientheoretische Konzepte entdecken, mit denen dieses elementare organische Teilungsphänomen als medialer Prozess hervortritt. Darüber hinaus meint teilen auch die mathematische Operation der Division, bei der eine Zahl X (Dividend) durch eine Zahl Y (Divisor) geteilt wird. Auch dieses ‚abstrakte‘ Teilen vollzieht sich in verschiedenen Medien, angefangen vom menschlichen Intellekt und dessen Schulung über klassische Hilfsmittel wie Verschriftlichung bis hin zur Computerisierung mittels Codes und Algorithmen.
24 John: The Age of Sharing, S. 4. 25 Beispielhaft für den frühesten hominiden Werkzeuggebrauch stehen bearbeitete Steine, die
sogenannten Chopper, die in Ostafrika vor rund 2,6 Millionen Jahren mutmaßlich zum Zerschneiden und Aufspalten von Knochen und Fleisch dienten (vgl. Semaw: The World’s Oldest Stone Artefacts from Gona, Ethiopia. In: Journal of Archaeological Science). 26 Vgl. Alberts et al.: Molekularbiologie der Zelle, S. 1087–1154.
504
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Sharen Kontexte
Für diese drei Modi des operativen Teilens – mechanisches Zerteilen, organisch-reflexives sowie mathematisches Teilen – wird im Engl. zwar nicht der Ausdruck (to) share, sondern i.d.R. das Verb (to) divide angewandt. Ins truktiv ist deren Berücksichtigung dennoch, da die operative Perspektive das Teilen als grundlegend technischen Vorgang kenntlich macht, der als solcher Werkzeuge, Verfahren und Programme – also Vermittlungen – benötigt. Zudem wird deutlich, dass die mediale Operation des Teilens keineswegs nur in menschlichen oder sozialen Gebrauchskontexten angewandt wird, sondern ebenso als biologische und technologische Prozessierungsleistung und räumliche Distribution im Sinne von Verbreitung zu denken ist. Zweitens lassen sich teilen und sharen als komplexe Öko-Praktiken im Sinne des Auf- und Einteilens begreifen. Mit dem Begriff der Praktik lassen sie sich wiederum als kulturelle und historische Gebrauchsweisen von und mittels Medien innerhalb größerer Zusammenhänge in den Blick nehmen. Der Zusatz „Öko-“ verortet sie dabei in einem gemeinsamen Horizont aus Ökologie und Ökonomie, d.h. in der Grundbedeutung des oíkos als Haushaltung, Verwaltung und Einrichtung. Versteht man teilen und sharen als Praktiken der „gehörige[n] Einteilung“27 von Ressourcen im Sinne der oeconomia, die als solche „Wechselbeziehungen zwischen Organismen und der Umwelt“28 performativ herstellen, treten diese Medienpraktiken als kultur- und soziotechnische Bedingungen von Kollektivität und damit als Medien der Gemeinschaft hervor. Im Kontext der Sharing Economy hingegen werden teilen und sharen tendenziell einseitig mit Blick auf ihre kommerzielle Verwertbarkeit im Rahmen marktwirtschaftlicher Logiken bestimmt. Die Einführung dieses Begriffs wird dem Rechtswissenschaftler Lawrence Lessig (2008) zugeschrieben, der die drei sozialen Produktionsmodelle commercial economies, sharing economies und hybrid economies voneinander abgrenzt. Während in commercial economies jeder Austausch auf Geld basiere, sei in sharing economies monetärer Ausgleich nicht nur unangebracht, sondern geradezu ‚giftig‘.29 Anstelle des Preises treten hier vielmehr „non-price-based social relations“.30 Als Beispiele für sharing econo-
S
(Art.) Ökonomie. In: Kluge, S. 515. (Art.) Ökologie. In: Kluge, S. 515. Lessig: Remix, S. 118 f. Benkler: Sharing Nicely. In: The Yale Law Journal, S. 282.
505
Sharen Kontexte
mies führt er u.a. (Lebens-)Partner- und Freundschaften und Nachbarschaftshilfe an und geht am Beispiel von Wikipedia auf Internet Sharing Economies ein.31 Lessigs eigentliches Interesse gilt jedoch den Hybriden aus commercial und sharing economies, die er explizit auf die Tendenzen des Internets zurückführt, Mix-Kulturen zu generieren.32 In den 1990er Jahren entstand mit Open Source-Software wie Rat Hat – bei der Nutzer von der Zugänglichkeit des Codes profitieren und gleichzeitig an der Entwicklung eines (etwa an der Börse) erfolgreichen Produkts mitarbeiten – eine „ecology of commercial entities designed to leverage value out of a sharing economy“.33 Indem hybrid economies Praktiken des Verteilens und Momente des Gemeinsam-Habens in eine professionelle und profitorientierte Logik integrieren, erscheint sharing hier als wirtschaftliches Erfolgsmodell,34 für das Lessig „Economy Lessons“ und Reformbedarf des Copyrights darlegt.35 Wenn John (2012) – in Übereinstimmung mit Lessig – Sharing Economies als solche Ökonomien definiert, „that operate without money changing hands and whose goal, by and large, is not to make its participants richer“,36 dann lassen sich ähnliche Modelle bereits weit vor dem Internet und der Popularisierung des Begriffs der Sharing Economy finden: etwa in der Allmende37 und im Genossenschaftsprinzip, in Tausch- und Maschinenringen oder im Rahmen von Mitfahrbörsen, die zunächst während des Zweiten Weltkrieges als Sparmaßnahmen in den USA entstanden. Heute erstreckt sich die Sharing Economy in ihrer weitesten Definition über diverse Branchen und Akteure. Zu nennen wären hier die oft ineinander übergehenden Bereiche Accommodation und Tourismus (AirBnb, Couchsurfing etc.), Mobilität und Verkehr (Car- und Flightsharing, Mitfahr-Apps wie
31 32 33 34 35 36 37
506
Vgl. Lessig: Remix, S. 148–162. Vgl. ebd., S. 178. Ebd., S. 183. Vgl. ebd., S. 221. Vgl. ebd., S. 225–294. John: Sharing and Web 2.0. In: New Media & Society, S. 179. Vgl. Ostrom: Die Verfassung der Allmende.
38 Line-Sharing ist „ein Verfahren, mit dem herkömmliche Festnetz-Dienste (Analogan-
schluss/ISDN) und ADSL-basierte Datendienste von unterschiedlichen Anbietern über dieselbe Telefonleitung angeboten werden können“ ([Art.] Sharing. In: Wikipedia. Unter: https:// de.wikipedia.org/wiki/Sharing [aufgerufen am 29.02.2020]). 39 Sitesharing bezeichnet die „gemeinsame Nutzung eines Mobilfunksendemasten von zwei oder mehreren Betreibern von Mobilfunknetzen“ (ebd.). 40 Vgl. Gerling: Upload | Share | Keep in Touch – Fotografen in Gemeinschaften. In: Ette (Hrsg.): Wissensformen und Wissensnormen des Zusammenlebens. 41 Eckhardt/Bardhi: The Sharing Economy Isn’t About Sharing at All. In: Harvard Business Review Digital Articles, S. 2. Vgl. auch: Rifkin: The Age of Access. 42 Helfrich/Bollier: Frei, fair und lebendig, S. 19. 43 Ebd., S. 20. 44 Vgl. ebd., S. 29.
Sharen Kontexte
Uber etc.), Kommunikation und IT (Time-, File-, Line-38 und Site-Sharing39, Open Software und Cloud Computing etc.), Arbeit und Beruf (Workspace und Knowledge Sharing etc.), Unterhaltungs- und Gebrauchsgüter (Booksharing, DVD-Verleih und Streamingdienste wie Netflix, Fotosharing-Plattformen wie FlickR oder Instagram40, Tool Libraries, Kleiderkreisel etc.), Lebensmittel und Versorgung (Food- oder Gardensharing etc.), Finanzen (Crowdfunding, Peerto-peer banking etc.), Online-Marktplätze für Produkte und Dienstleistungen (eBay, Craigslist, MyHammer etc.), Soziale Netzwerke (Facebook, Google+ etc.) sowie kollaboratives Wissensmanagement und partizipative Contentsammlungen (Wikipedia, WikiLeaks, Fan-Fiction-Portale etc.). Da viele dieser Beispiele bekanntlich eher Tauschmodellen entsprechen und/oder monetäre Transaktionen beinhalten, repräsentieren sie ein derart weites und darin gerade symptomatisches Verständnis der Sharing Economy, so dass Umkodierungen des Begriffs – etwa als „access economy“41 – diskutiert werden. Gerade in Absetzung zur betriebs- und marktwirtschaftlich vereinnahmten Sharing Economy gerät gegenwärtig das Commoning in den Blick der Öffentlichkeit, dessen Kern darin besteht, „zu teilen beziehungsweise gemeinsam zu nutzen und zugleich dauerhafte soziale Strukturen hervorzubringen“.42 Commons bilden definierte Gemeinschaften, deren Teilnehmende (Commoners) „die gemeinsame Bewirtschaftung und Nutzung gemeinsamen Vermögens“43 bzw. natürlicher Ressourcen im Kollektiv organisieren, regulieren und kon trollieren, wobei die Zirkulation von Wissen44 als essentiell erachtet wird. Die von Helfrich und Bollier herausgearbeiteten Muster des Commonings – u.a.
S
507
Sharen Kontexte
„Gemeinstimmig entscheiden“, „Poolen, deckeln und aufteilen“, „Auf verteilte Strukturen setzen“ oder „Konviviale Werkzeuge nutzen“ – greifen verschiedene Aspekte des Teilens auf.45 Der dritte Kontext ist die Kommunikation, wo sharen/teilen grundlegende Praktiken der Informationsübermittlung darstellen und sich unter den Begriff des Mitteilens fassen lassen. Auch wenn im Dt. der Rede vom Mitteilen ein tendenziell förmlich distanzierter Gestus anhaftet (man denke etwa an die Vorstands- oder Pressemitteilung), verweist das Präfix mit- gerade auf den verbindenden Effekt von Kommunikationsakten. Für den englischen Sprachgebrauch bestimmt Nicholas A. John kommunikatives sharing als „the type of talk on which our close relationships are based“.46 An den Dialog zwischen Anwesenden im Sinne von „imparting one’s inner state to others“,47 der Privatheit und Intimität voraussetzt und diese zugleich konstituiert, schließen dann auch diachrone Kommunikationsformen wie der Liebesbrief oder synchrone Telekommunikation wie das vertrauliche Telefonat an. Den mittlerweile prominentesten Kontext des kommunikativen sharing bilden Social Media, wo sich Content-seitig zwei Verwendungsweisen des Begriffs voneinander abgrenzen lassen: Im engeren Sinne werden insbesondere Inhalte48 geshared/geteilt, die vorher bereits von einem anderen User gepostet wurden, d.h., der originäre Akt des Veröffentlichens fällt hier explizit nicht unter diese Praxis. Andererseits wird sharen auch synonym für posten (siehe dort, Bd. 2)49 verwendet und umfasst dann im weiteren Sinne jegliches Mitteilen von Botschaften. Demgegenüber macht die Eingrenzung auf das Weiterverbreiten sharing als ‚sekundäre‘ Medienpraxis kollektiver Anschlusskommunikation sichtbar, bei der die infrastrukturelle Einbettung in technische Netzwerke (z.B. die plattformübergreifende Implementierung von Share-Buttons) und das Zirkulationsmoment von Inhalten und Reaktionen noch stärker in 45 46 47 48
Ebd., S. 325 f. John: The Age of Sharing, S. 10. Ebd., S. 10. Grundsätzlich lässt sich alles teilen, was auch gepostet werden kann – also Texte, Fotos, Video- und Audiodateien oder Links sowie Kombinationen daraus, die mitunter plattformspezifisch formatiert werden wie bspw. als Stories auf Facebook oder Instagram. 49 (Art.) posten. In: Christians/Bickenbach/Wegmann (Hrsg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Bd. 2, S. 343–362.
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Sharen Kontexte
den Vordergrund rückten. Zudem differenzieren die Akteure ihre Praktiken selbst in dieser Weise, wenn sie zwischen tweeten und retweeten oder bloggen und rebloggen unterscheiden.50 Wie User konkrete Inhalte im Netz sharen können, ähnelt sich auf den einschlägigen Plattformen und lässt sich daher repräsentativ am Beispiel Facebook nachvollziehen: Hier ist bereits jeder Post mit den drei Schaltflächen Like, Comment und Share versehen, hinter denen sich Social PlugIns verbergen. Inhalte externer Websites können ebenfalls geshared werden, sofern diese über das entsprechende Share PlugIn verfügen.51 Mit Klick auf den Share-Button lässt sich auswählen, wohin der Post geshared werden soll, bspw. in der eigenen Timeline oder als Story, in einer Gruppe oder Nachricht sowie auf der Timeline eines Facebook-Freundes; je nachdem sind auch verschiedene Einstellungen möglich, welche User den gesharten Inhalt sehen können. Zudem lassen sich dem Inhalt eine individuelle Nachrichtenzeile, Markierungen von Orten und Userprofilen sowie „Gefühl/Aktivität“ hinzufügen. Insbesondere anhand der Social PlugIns zeigt sich ein weiteres Moment des Sharens/Teilens unterhalb der Content-Zirkulation in Social Media, das sich den Blicken der Community weitgehend entzieht: Sobald ein User eine mit Social Buttons ausgestattete Website aufruft, zeichnet das PlugIn Nutzerdaten auf und leiten sie an die Social Media Plattform weiter. Dabei wird nicht nur das Surfverhalten von eingeloggten Usern verfolgt, sondern bspw. auch die IP-Adresse von Usern erhoben, die dort (noch) gar nicht registriert sind. Dieses ‚Tracking‘ kann folglich als unfreiwilliges und datenschutzrechtlich höchst problematisches sharing verstanden werden,52 insofern hierbei die digitale Identität des Users in einzelne Standortdaten, Präferenzen,
S 50 Bei Google+ etwa wird sharen synonym für posten verwendet, was zu der Neubildung resharen
für das ‚eigentliche‘ Sharen führt.
51 Der bereits seit 2006 als Icon auf externen Websites verfügbare Share-Button wurde 2009
mit einem Live-Zähler ausgestattet, bevor er 2010 als Social PlugIn in den Open Graph integriert wurde. Mittels dieser Erweiterungsmodule können Facebook-Anwendungen direkt auf externen Websites implementiert werden. Dabei fügt das PlugIn den externen Inhalten klassifizierende Meta-Elemente hinzu, auf die Facebook zugreifen und dadurch u.a. sicherstellen kann, dass bei der Übernahme in Facebook korrekte Vorschaubilder angezeigt werden. 52 Lösungsansätze bestehen darin, eine distinkte Aktion (Shariff-Button) bzw. die explizite Zustimmung des Users zwischenzuschalten.
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Profilmerkmale etc. zer-teilt wird, die wiederum in ökonomische Verwertungsketten eingespeist und über die Netzwerkstrukturen des Internets global ver-teilt werden. Die Unternehmen betonen dagegen den verbindenden Charakter als sozialen Mehrwert des Mitteilens im Sinne von „your sharing is an expression of your caring“.53 Angesichts des ambivalenten sharing der Sharing Economy des Social Web sind Operation, Öko-Praxis und kommunikatives Mitteilen nicht voneinander zu trennen.
Sharen Konjunkturen
KONJUNKTUREN Sharing als Begriff für Kommunikation ist erstmals in den
1930er Jahren im Rahmen des urbanen Zusammenlebens und den Individualitätsdiskursen der modernen Werbeindustrie in den Blick geraten.54 Etwa zum selben Zeitpunkt etabliert sich der Ausdruck auch für die therapeutische Rede- bzw. Gesprächspraktik. Beispielhaft hierfür stehen die Praktiken der 1922 gegründeten christlichen Oxford Group, bei deren Treffen die Mitglieder einander ihre Sünden und Gefühle gestanden55 – ein Modell, das bereits auf frühchristliche Geständnispraktiken56 zurückgeht und später besonders in der Suchthilfe zentral wird. Ab den 1970ern verfestigte sich aus diesem Kontext heraus auch das altruistische Motiv sharing is caring. Das Ideal aufrichtiger und authentischer Kommunikation wird letztlich sowohl als Grundlage für gesunde Sozialbeziehungen angesehen als auch konstitutiv für das moderne Selbstverhältnis überhaupt.57 In der Computerkultur wurde bereits in den 1950er Jahren das Prinzip des Timesharing praktiziert; mit der Ablösung von Großrechnern durch Mini- und Personalcomputer verlagerte sich die Relevanz jedoch auf Disk- und Filesharing: In beiden Fällen nutzen mehrere Anwender rechnerferne Ressourcen, d.h., sie greifen auf Festplatten bzw. Dateien zu, die sich an einem anderen Ort befinden. Mittlerweile wird unter Filesharing jedoch vornehmlich die mit
53 John: Sharing and Web 2.0. In: New Media & Society, S. 176. 54 Vgl. John: The Age of Sharing, S. 2. 55 Vgl. ebd., S. 10. Hierbei werden spirituelle Erfahrungen nicht nur mit anderen Gruppen-
mitgliedern, sondern auch mit Gott geteilt.
56 Vgl. Foucault: Technologien des Selbst. In: Defert/Ewald (Hrsg.): Dits et Ecrits, S. 978–
980.
57 Vgl. John: Sharing and Web 2.0. In: New Media & Society, S. 170.
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Sharen Konjunkturen
Vervielfältigung einhergehend Verteilung von Dateien im Netz verstanden: Nutzer kopieren Software, Musik- oder Video-Dateien und eignen sich diese Kopien – meist in Umgehung von Urheber- oder Nutzungsrechten – an. Beim BitTorrenting geht es jedoch weniger um die geteilten Daten selbst als vielmehr um die Arbeitsteilung innerhalb der Community: Indem Datenmengen nicht ausschließlich von einem Server heruntergeladen, sondern gleichzeitig auch von den Nutzern für andere Nutzer hochgeladen werden (peer-to-peer), steht ein möglichst ausgewogenes Verhältnis zwischen Download und Upload („share ratio“) im Mittelpunkt.58 Vor allem aber kann das Internet selbst als ein verteiltes Kommunikationssystem auf Praktiken und Organisationen des sharing zurückgeführt werden. Lessig betont gar, „that the Internet was born a sharing economy“,59 insofern es von Beginn an entscheidend von ehrenamtlich und kooperativ organisierten Akteuren und verteiltem Arbeiten geprägt war: Zu nennen wären hier das 1983 gegründete GNU Project, das großen Anteil an der Verbreitung des seit 1992 unter der GNU Public License stehenden LINUX-Betriebssystems hatte, kollaborative Pionierprojekte wie das Project Gutenberg, das Internet Archive und das Open Directory Project sowie SETI@home im Bereich distributed computing und die Programmiersprachen Perl, PHP und Java.60 Obwohl also sharen/ teilen der Logik des Computers und der Struktur des Internets grundsätzlich eingeschrieben sind, spielte die Sharing-Praxis zumindest außerhalb des Hacker-Milieus61 in den Internet-Diskursen der 1990er und frühen 2000er begrifflich noch keine Rolle. Erst Mitte der 2000er etablierten Internetkonzerne sharing als „the fundamental and constitutive activity of Web 2.0 in general, and social network sites (SNSs) in particular.“62 Dabei beobachtet John eine
S
58 59 60 61
John: The Age of Sharing, S. 144. Lessig: Remix, S. 162. Vgl. ebd., S. 163–168; vgl. John: Sharing and Web 2.0. In: New Media & Society, S. 179. Die Hacker-Ethik der 1990er basierte zuallererst auf „[t]he belief that information-sharing is a powerful positive good, and that it is an ethical duty of hackers to share their expertise by writing free software and facilitating access to information and to computing resources wherever possible“ ([Art.] hacker ethic. In: Raymond: The New Hacker’s Dictionary, S. 234.) 62 John: Sharing and Web 2.0. In: New Media & Society, S. 167.
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Sharen Konjunkturen
zunehmende ‚fuzzy-ness‘ der Rhetoriken als Zeichen der Gleichsetzung von sharing und Online-Partizipation.63 Lange bevor Lessig explizit von Sharing Economies sprach, zirkulierten im akademischen Diskurs bereits ähnliche Konzepte wie collaborative consumption, collaborative economy, collaborative community, peer economy bzw. commonsbased peer production, online volunteering oder consumer participation.64 In der ab den 2000ern einsetzenden wirtschaftswissenschaftlichen Publikationsflut wird sharing betont affirmativ verhandelt, wobei hier verschiedene Praktiken wie teilen, tauschen, leihen und kollaborieren unter einem umbrella term subsumiert werden.65 Die steigende Relevanz der Öko-Praktik des Teilens außerhalb der akademischen Welt zeigt sich u.a. daran, dass das Time Magazine im Jahr 2011 Teilen in Abgrenzung zum Besitzen in die „10 Ideas That Will Change the World“ aufnahm.66 In Deutschland gelangte sharing auf die Nominierungsliste für den Anglizismus des Jahres 2012 und ein Jahr darauf stand die CeBIT unter dem Motto „Shareconomy“. Allerdings ist zu beachten, dass die aufgrund von digitalen Technologien zunehmende Alltäglichkeit des sharing in der Praxis nicht unbedingt mit einem expliziten Wissen um das Konzept der Sharing Economy verbunden ist – eine für Kulturtechniken typische Diskrepanz. So ergab etwa eine Studie des Pew Research Centers, dass bis 2015 lediglich 27 Prozent der ca. 4.700 befragten Amerikaner mit dem Begriff „Sharing Economy“
63 Ebd., S. 168 f. 64 Vgl. Benkler: The Wealth of Networks sowie ders.: Coase’s Penguin, or, Linux and The
Nature of the Firm. In: The Yale Law Journal; Jenkins: Textual Poachers und ders.: Convergence Culture. 65 Vgl. Botsman/Rogers: What’s Mine Is Yours; Gansky: The Mesh; Stephany: The Business of Sharing; Howard: We-Commerce; Tapscott/Williams: Wikinomics; Lamberton/Rose: When is Ours Better Than Mine? In: Journal of Marketing. Siehe dazu auch: Bulajewski: The Sharing Economy Was Dead on Arrival. In: JSTOR Daily. Unter: https://daily.jstor.org/thesharing-economy-was-dead-on-arrival/ [aufgerufen am 17.02.2020]. 66 Walsh: Today’s Smart Choice: Don’t Own. Share. In: Time Online. Unter: http://content. time.com/time/specials/packages/article/0,28804,2059521_2059717_2059710,00.html [aufgerufen am 26.02.2020].
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vertraut waren, aber 72 Prozent eine Form von „shared or on-demand online service“ in Anspruch genommen hatten.67 Wenn John den gegenwärtigen Zustand westlicher Informationsgesellschaften letztlich unter den Epochenbegriff „Age of Sharing“ bringt, dann angesichts der Engführung des Ausdrucks mit der digitalen und kommerziellen Netzkultur sowie der starken Verbindung zwischen kommunikativem sharing und moderner Subjektivität.68
verhältnissen zu verschiedenen Konzepten. Auf operativer Ebene steht dem Zerteilen ein Zusammenfügen entgegen; in der Mathematik ist die Umkehroperation der Division die Multiplikation. Wie im Fall von Zellteilung und BitTorrenting offensichtlich wurde, können Teilungen aber auch explizit in der Vervielfältigung der Ausgangselemente resultieren. Sharen/teilen als Öko-Praktiken rufen sogar ein ganzes Arsenal an Gegenbegriffen auf, die sich allesamt innerhalb der Achsen teilen vs. tauschen sowie Kapitalismus vs. Sharing Economy ansiedeln lassen. Wenn der gemeinsame Nenner aller Ökonomien darin zu sehen ist, dass sie auf Austausch basieren,69 hebe sich die Sharing Economy nach Lessig v.a. dadurch ab, dass es hier gerade nicht darum gehe, die gleiche Sache zurückzubekommen, sondern sich als Teil einer auf lange Sicht fairen – und das heißt: ausgeglichenen – Tauschpraxis jenseits konkreter Transaktionen zu verstehen.70 Dagegen ließe sich jedoch einwenden, dass damit die in kommerziellen Kontexten über Zahlungsmittel und Preispolitik sichergestellte Äquivalenzerwartung lediglich aufgeschoben und die Währung des Austauschs zur Sache subjektiven Empfindens gemacht wird.
Sharen Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Sharen und teilen stehen je nach Kontext in Spannungs-
S 67 Pew Research Center: Shared, Collaborative and On Demand. The New Digital Economy
(Mai 2016). Unter: www.pewresearch.org/internet/wp-content/uploads/sites/9/2016/05/PI_2016.05.19_SharingEconomy_FINAL.pdf [aufgerufen am 21.02.2020], S. 4. 68 Vgl. John: The Age of Sharing, S. 120. 69 Bereits bei Aristoteles heißt es, dass die „Gemeinschaft des Verkehrs“ dadurch entsteht, dass ein „Vermittler“ (Geld) „alle Dinge kommensurabel“ und ihren Tausch gleichwertig macht (Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 105–107). 70 Vgl. Lessig: Remix, S. 147.
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Sharen Gegenbegriffe
Zudem werden sharing economies vielfach mit Schenk- oder Tausch-Ökonomien gleichgesetzt.71 Den Ursprung solcher symptomatischen Verwechslungen von geben, teilen und tauschen rekonstruiert Wolfgang Sützl anhand von Gabentheorien, um den „naiven Lobdiskurs“72 rund um die Sharing Economy zugunsten einer begrifflich wie politisch differenzierteren Perspektive zu dekonstruieren: Bei Marcel Mauss (ESSAI SUR LE DON, 1923/24) finde bereits ein „Verbergen des Tauschs in der Gabe“ statt, insofern das rituelle Wechselspiel aus Gabe und Gegengabe, durch das ‚archaische Gesellschaften‘ ihre sozialen Strukturen reproduzierten, gerade nicht auf ein selbstloses Geben reduzierbar, sondern eine durchaus von Äquivalenzerwartungen und Verpflichtungen durchdrungene „symbolische Tauschform“ sei.73 Dieser rezi proken, symbolischen Gabe als Teil einer Tauschökonomie stehe „reines Geben“ gerade als „ein Anderes des Tauschs“ entgegen.74 Teilen ließe sich insofern als ein Modus dieses ‚reinen Gebens‘ denken, als dass hier kein wie auch immer gearteter oder verspäteter Ausgleich erwartet wird und das Geben bzw. Teilen freiwillig sowie meist „unbemerkt im Alltäglichen“ erfolgt.75 Problematisch an Gabentheorien nicht nur bei Mauss, sondern auch bei Pierre Bourdieu, Jean Baudrillard und Jacques Derrida sei aber vor allem, dass sie versäumen, „das Teilen als unausgesprochene Voraussetzung des Tauschs zu artikulieren“76: Jeder Tauschökonomie gehe nämlich das Teilen sozialer Praktiken und einer gemeinsamen Welt (Heidegger) voraus und jeder Aufrechnung von Eigenem gegen Fremdes liege zuallererst eine von allen geteilte Kondividualität (Raunig) zugrunde, die sich im Teilen ereignet.77 In dieser radikalen Sicht wäre also das Teilen nicht nur ein Modus reinen Gebens, sondern Möglichkeitsbedingung sowohl von Gabe als auch Tauschökonomie.
71 Während Lessig wiederholt Sharing Economies als „gift relationship[s]“ beschreibt (ebd.,
S. 148), erscheinen bei Howard teilen und tauschen „austauschbar“ (Sützl: Die Rede von der Sharing Economy. In: ZMK, S. 47). 72 Sützl: Die Rede von der Sharing Economy. In: ZMK, S. 54. 73 Ebd., S. 50; S. 49. 74 Ebd., S. 49. 75 Ebd., S. 53. 76 Ebd., S. 50. 77 Vgl. ebd., S. 50–52.
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78 Belk: Sharing Versus Pseudo-Sharing in Web 2.0. In: The Anthropologist, S. 11. 79 Ebd., S. 7. Mit Blick auf die jeweiligen Eigentumsverhältnisse unterscheidet Belk die vier
Typen „Long-Term Renting and Leasing“ (z.B. Anmietung eines Hauses) und „Short-term Rental“ (z.B. stundenweises Anmieten von Autos über Zipcar), aber auch „Online Sites’ ‚Sharing‘ Your Data“ (z.B. über die Wishlist auf Amazon) und „Online-facilitated Barter Economies“ (z.B. OnlineVermittlung von Babysittern im Austausch für Steuerberatung) (ebd., S. 11–14). 80 Vgl. Belk: Why Not Share Rather Than Own? In: Annals of the American Academy of Political and Social Science, S. 127. 81 Wie eine Studie 2007 feststellen konnte, hat nicht nur das sharing illegaler Kopien aktueller Kinofilme einen kannibalisierenden Effekt auf Kinobesuche, DVD-Verkäufe und -Ausleihe zur Folge, sondern bereits „file-sharing intentions (which imply the consumer’s expectation of being able to obtain a copy of a certain movie for free)“ schränken die Bereitschaft zur „legal channel consumption“ ein – „regardless of whether the consumer actually obtains an illegal copy of the movie or not“ (Hennig-Thurau/Henning/Sattler: Consumer File Sharing of Motion Pictures. In: Journal of Marketing, S. 14). 82 Vgl. Creative Commons: Creative Commons Licenses. Unter: https://creativecommons. org/use-remix/cc-licenses [aufgerufen am 20.02.2020].
Sharen Gegenbegriffe
Die besonders innerhalb der Sharing Economy zu beobachtende Vermischung von geben, teilen und tauschen ist nicht nur aus kulturtheoretischer Sicht zweifelhaft, sondern wird auch von Wirtschaftswissenschaftlern thematisiert. So entwirft etwa Russell Belk den Begriff „pseudo-sharing“ für „business relationship masquerading as communal sharing“.78 Solche ökonomischen Modelle bedienen sich zwar des sharing-Vokabulars, beinhalten aber konventionellen Warenaustausch, zielen auf Gewinn und Reziprozität ab, folgen keinen „feelings of community“ und nehmen oft sogar die Ausbeutung ihrer „consumer co-creators“ in Kauf.79 Mit Blick auf proprietäre und vertragliche Rahmenbedingungen wird sharing also zu mehreren Seiten hin abgegrenzt: zu Mietverhältnissen und marktförmigem Tausch, zu unfreiwilligem Datentransfer und zur verteilten Nutzung ohne entsprechende Vereinbarung.80 In letzterem Kontext wird besonders das Filesharing als Piraterie bzw. Diebstahl diskutiert und dessen Effekte auf die betroffenen Industrien sind in zahlreichen empirischen Studien untersucht worden.81 Zu den Ansätzen, eine rechtliche Lösung für das sharing zu finden, gehören v.a. spezifische Lizenzierungen wie das im Kontext freier Software entstandene Copyleft-Prinzip, unter das auch die General Public License fällt, sowie die „ShareAlike“-Lizenzen CC-BY-SA und CC-BY-NC-SA.82
S
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Sharen Perspektiven
Dem kommunikativen sharing steht das over-sharing entgegen: Insofern sharing im Bereich sozialer Medien immer auch eine normalisierte und normalisierende Praxis ist, verweist es auf eine als angemessen geltende Mitteilsamkeit, die weder unter- noch überschritten werden sollte. Als over-sharing wird daher bezeichnet, „when people publish ‚embarrassingly intimate – or gross and disgusting – details‘ of their lives“.83 Die Kriterien der shareableness von Inhalten werden dabei über die Richtlinien der Plattformbetreiber, juristische Vorgaben sowie in der Community selbst ausgehandelt. Als oversharer führt das URBAN DICTIONARY „[a] person who gives way too much information without request“,84 verdächtigt den Mediengebrauch bezeichnenderweise aber auch per se als over-sharing, wenn es sharen definiert als: „to relate something the receiver should ignore because it probably involves a low-resolution, fake, or out-of-context photo superimposed with a grammatically-incorrect statement that someone thinks is funny but is really just a waste of time.“85 Hierbei spielt nicht zuletzt eine Rolle, dass im Teilen eine Form der Nähe möglich wird, die auch als Grenzüberschreitung erfahren werden kann und „Angst vor Ansteckung und Kontrollverlust“86 provoziere. PERSPEKTIVEN Der Diskurs zum teilen/sharen kommt immer wieder zurück
auf den Kontrast der (Ver-)Teilung materieller, endlicher Ressourcen und des Gemeinsam-Habens von nicht notwendigerweise materiellem Teilbaren (z.B. der geteilte Glaube). Während ersteres ein „zero-sum game“87 sei, bei dem nicht am Ende mehr herauskommen kann als anfangs vorhanden war, sei letzteres gerade kein Nullsummenspiel: Indem es keinen ‚sharer‘ gibt, das Geteilte beim Teilen nicht weniger und auch niemand durch das Teilen ausgeschlossen wird, zeigt sich teilen hier als ‚Anteil haben an etwas‘.88
83 John: The Age of Sharing, S. 149. 84 (Art.) oversharer. In: Urban Dictionary. Unter: www.urbandictionary.com [aufgerufen am
18.01.2020].
85 (Art.) share. In: Urban Dictionary. Unter: www.urbandictionary.com [aufgerufen am
18.01.2020].
86 Sützl: Die Rede von der Sharing Economy. In: ZMK, S. 51. 87 John: The Age of Sharing, S. 6. 88 Ebd., S. 9.
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89 90 91 92 93 94
Sharen Perspektiven
In existentialphilosophischer Hinsicht erscheinen diese Pole des Teilens aufeinander bezogen: Dem Teilen kommt hier sowohl in seiner Bedeutung als ‚etwas gemeinsam haben‘ als auch im Sinne der Zer-Teilung ontologische Relevanz zu, etwa im Rahmen von Martin Heideggers Bestimmung des Daseins als eines „mithaften In-der-Welt-seins“ in einer folglich immer schon mit anderen geteilten „Mitwelt“,89 in Jean-Luc Nancys differenztheoretischer Dekonstruktion eines identitären zugunsten eines auf exponierender Mit-Teilung basierenden Gemeinschaftsbegriffs90 oder ganz explizit in Gerald Raunigs Philosophie der (Kon-)Dividualität, in der er zwischen den Teilungsweisen Partition (Trennung und Zuteilung von Teilen zum Zweck der Begrenzung), Partizipation (organische Teilung zur Reproduktion des Ganzen) und Division (Herstellung singulärer Eindeutigkeit in der Mannigfaltigkeit) unterscheidet.91 In Anlehnung an Gilbert von Poitiers entwirft Raunig mit Blick auf die Division das Modell einer nicht-individuellen Singularität, die sich im Teilen verteilter und darin gleicher Dividuen als Pluralität darstellt.92 Ubiquitäres kommunikatives sharing in sozialen Netzwerken produziere dagegen Dividuen in der Traditionslinie christlicher Moralerziehung, die in Form von Bekenntnis, Beichte und Geständnis die Opferung abgespalteter Teile des Selbst verlangt.93 Neu an der „manische[n] Bekenntnispraxis“ in Social Media sei allerdings das „maschinische[...] Begehren des totalen Teilens“, das mit einer „neuen Vorstellung von Privatheit als Defizienz“ einhergehe und als freiwilliger Gehorsam aufzufassen sei.94 Überlegungen dazu, dass dem gemeinsamen Anteilhaben immer schon eine gewisse Spaltung derer eignet, die es teilen, finden sich auch bei Hannah Arendt. Ihr zufolge heiße „[i]n der Welt zusammenleben [...] eigentlich, daß eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist [...]; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen,
S
Heidegger: Sein und Zeit, S. 118. Vgl. Nancy: Die herausgeforderte Gemeinschaft. Vgl. Raunig: Dividuum, S. 89–100. Vgl. Sützl: Die Rede von der Sharing Economy. In: ZMK, S. 51 f. Vgl. Nietzsche: Aphorismus Nr. 57. In: Ders.: Menschliches, Allzumenschliches. Raunig: Dividuum, S. 154; S. 156; S. 153.
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Sharen Perspektiven
denen sie jeweils gemeinsam ist.“95 Bruno Latour betont in ähnlicher Weise, dass das Ding (ahd. Thing) als „[Streit]Sache [...] die Leute zusammenbringt, weil sie sie entzweit“.96 Während diese Positionen die Verschränkung verbindender und trennender Aspekte im Sharen/Teilen thematisieren, steht in anthropologischer und sozialgeschichtlicher Perspektive ein anderer bias im Zentrum: Einerseits werden teilen und tauschen als „existentielle Notwendigkeiten und anthropologische Konstanten“ begriffen: „Menschsein verwirklicht sich im Teilen und im Tauschen. Und nicht nur darin, Güter zu wechselseitigen Vorteilen zu handeln, sondern zuvorderst, Beziehungen zu anderen herzustellen, aufrechtzuerhalten, zu vertiefen.“97 Andererseits müssen teilen und tauschen aber auch erlernt, eingeübt und verfeinert werden, sie bilden als „kommunikative und soziale Gesten“98 also eine historisch variable Kulturleistung. So merken etwa Andreas Ströhl und Nikolai Blaumer im Band TEILEN UND TAUSCHEN, der auf das gleichnamige Kultursymposium des Goethe-Instituts 2016 in Weimar zurückgeht, hinsichtlich des (Post-)Sozialismus an, dass hier „Tauschhandel [...] kein Ausdruck von Verzicht oder ökologischer Lebensführung, sondern Ausdruck von Mangel und Knappheit der Güter [war]. In sowjetischen Staaten lebten Menschen über Jahrzehnte unter dem Druck, Eigentum und Informationen mit anderen teilen zu müssen.“99 Zugleich ist es gerade dem spätkapitalistischen Dogma zuzurechnen, dass ökonomische Konkurrenz und marktförmiger Wettbewerb als die eigentlichen Wesenszüge des Menschen aufgefasst werden. Erst dadurch können auf Prinzipien des Teilens basierende Systeme als innovative ‚alternative‘ Ökonomien erscheinen. Gegen diese ‚Naturalisierung‘ kapitalistischer Sozialisation setzt Tomasz Konicz u.a. mit Blick auf mittelalterliche Zunftgesetze und Zinsverbote sowie das landwirtschaftliche Allmende-Prinzip die Diagnose, dass „der universelle, permanente Konkurrenzzwang der kapitalistischen Tauschwirtschaft“ vielmehr „eine historische, gerade mal rund 300 Jahre währende
95 Arendt: Vita Activa, S. 66. 96 Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, S. 30. 97 Ströhl/Blaumer: Einführung. In: Lehmann et al. (Hrsg.): Teilen und Tauschen, S. 13. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 17.
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100 101 102 103
Sharen Perspektiven
Anomalie darstellt“ und echte Sharing Economies folglich „Ausdruck einer Sehnsucht nach der Rückkehr zur historischen Normalität“ seien.100 Auch mit Blick auf die kindliche Sozialisation lässt sich das Teilen zwischen den Polen einer ‚unschuldigen‘ Praktik und einer Erziehungsleistung verorten und dahingehend untersuchen, inwieweit die Orientierung an Reziprozität ‚angeboren‘ oder erlernt ist. Letztlich können teilen und tauschen als „totale gesellschaftliche Tätigkeit[en]“101 aber nur dann verstanden werden, wenn sie mit Blick auf ihre jeweiligen kulturellen, historischen und ökonomischen Bedingungen betrachtet werden. Dabei ist der Idealisierung des Teilens als natürlicher Urzustand ebenso mit Vorsicht zu begegnen wie der Überbewertung des Teilens als einer noch nie dagewesenen Ausnahmeerscheinung. Wie bereits Konjunkturen und Gegenbegriffe zeigen konnten, steht im Zentrum der Kontroverse um die Sharing Economy die grundsätzliche Frage, ob in Sharing Economies tatsächlich geteilt wird. Im scharfen Kontrast zur wirtschaftswissenschaftlichen Verklärung der Sharing Economy zielen Kulturund Gesellschaftswissenschaften inzwischen vermehrt auf deren Dekonstruktion. Repräsentativ für eine solche Kritik stehen etwa die Debattenbeiträge von Sützl und Konicz in der ZEITSCHRIFT FÜR MEDIEN- UND KULTURFORSCHUNG: Laut Sützl werde die Gabe, die sich sowohl ökonomisch (d.h. als reziproker Tausch) als auch gänzlich unökonomisch (d.h. als nicht-reziproker NichtTausch) einsetzen lasse, in der Sharing Economy vollständig ökonomisiert: Geben erfolgt hier unter hohem Äquivalenz- und Optimierungsdruck und muss sich als Spektakel präsentieren.102 Wo teilen ‚echte‘ Nähe schaffe, generiere die Sharing Economy pseudo-persönliche Beziehungen zwischen Kunden und Verkäufern und halte die Akteure auf Distanz.103 Die Sharing Economy beruht dabei nach wie vor auf Wachstumsideologie und der Maxime maximaler Verwertung; folglich ist sie gerade keine Ent-, sondern totale Kapitalisierung: „Die Rede von der Sharing Economy wird am Ende ein Traum von der grenzenlosen Ökonomisierbarkeit von allem, was noch nicht Kapital ist, gewesen
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Konicz: Eine Ökonomie des Teilens ist überlebensnotwendig. In: ZMK, S. 57. Mauss: Die Gabe, S. 10. Vgl. Sützl: Die Rede von der Sharing Economy. In: ZMK, S. 53. Vgl. ebd., S. 51; S. 49.
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Sharen Perspektiven
sein.“104 Gerade darin zeigt sich auch ihr neoliberaler Zug, denn „[w]er über nicht ökonomisierte Ressourcen in Form von Zimmern oder ungenutzten Plätzen im Auto verfügt, der soll sich nicht beschweren, dass das Geld nicht reicht.“105 Sützl kommt so zu dem eindeutigen Schluss, dass „[i]n einer Sharing Economy [...] also nicht wirklich geteilt“ wird.106 Konicz beschreibt die Sharing Economy sogar noch radikaler als „reaktionäre Form kapitalistischer Krisenverwaltung im Informationszeitalter“ und als „Elendsökonomie“.107 „[D]ie Suche nach einer postkapitalistischen Ökonomie des Teilens“ sei zwar „schlicht überlebensnotwendig“, aber eben nicht ohne die „Überwindung des Kapitalverhältnisses in seiner selbstbezüglichen destruktiven Gesamtbewegung in allen Aggregatzuständen (Geld, Warenform, Lohnarbeit) denkbar“.108 Kritische Distanzierungen gegenüber dem sharing-Hype finden sich aber auch dort, wo es stattfindet. Exemplarisch können hier die Einträge zum Slogan sharing is caring im URBAN DICTIONARY herangezogen werden. User spielen hier u.a. auf Verweigerung und Konsequenzlosigkeit einer ethischen Gleichsetzung von sharing und caring („I don’t care“) und auf die sarkastische Geringschätzung nicht-kommerzieller Handlungen als kommunistische Praktiken an – etwa eines naiven oder rückschrittlichen „Kindergarten communism“.109 Ein illustrierendes Gif des winkenden Kim Jong Un erinnert dabei an das Motiv des „wolf-in-sheep’s-clothing“, mit dem Belk pseudo-sharing beschreibt.110 Damit bricht sich in sämtlichen, ausgerechnet die Grenzfälle des (Mit-)Teilens adressierenden Definitionen eine ironische Skepsis gegenüber dem sharing Bahn.
104 Ebd., S. 54. 105 Ebd. Zur Verschmelzung von neoliberalem Kapitalismus und digitalen Kommunikations-
technologien, die das Sharing im Netz und seine algorithmisch generierte Affektkommunikation als Praktiken eines Info-Liberalismus erkennbar machen, vgl.: Banning: Shared Entanglements. In: Information, Communication & Society. 106 Sützl: Die Rede von der Sharing Economy. In: ZMK, S. 47. 107 Konicz: Eine Ökonomie des Teilens ist überlebensnotwendig. In: ZMK, S. 59; S. 60. 108 Ebd., S. 61; S. 62. 109 (Art.) sharing is caring. In: Urban Dictionary. Unter: www.urbandictionary.com [aufgerufen am 26.02.2020]. 110 Belk: Sharing Versus Pseudo-Sharing in Web 2.0. In: The Anthropologist, S. 1.
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Insgesamt lässt das hier wiedergegebene Spektrum an Perspektiven erkennen, dass sharen/teilen einerseits für „the cutting edge of our digital mediasaturated capitalist society and economy“ steht und andererseits als deren radikale Gegenposition theoretisierbar ist.111
len/Sharen hat sich mit den Ambivalenzen auseinanderzusetzen, die diesem Mediengebrauch in seinen verschiedenen Dimensionen als Operation (Zerund Verteilen), als Öko-Praxis (Auf- und Einteilen) und als Kommunikationsmodus (Mitteilen) innewohnen und die deren Effekte kennzeichnen. Aufgabe einer Technikkritik wäre es, den Zusammenhang zwischen sharing und digitalen, vernetzten Kommunikationstechnologien zu adressieren. Dabei ist es unerlässlich, die Bedingungen zu verfolgen, unter denen diese entwickelt, angewandt und modifiziert werden. Im Internet und im Bereich Social Media, wo Produktion und Konsum auf komplexe Weise zusammenfallen, hat zudem eine Ideologie- und Sprachkritik anzusetzen, die mit Blick auf technische und ökonomische Abhängigkeiten die Machtrelationen und Eigentumsverhältnisse in Sharing Economies zu Tage fördert. Dabei ist neben einer historisch informierten Analyse der Technologien und Praktiken ebenso eine Differenzierung der Marktstrukturen und Geschäftsmodelle gefragt. Orientierung bietet hierbei neben den bereits genannten Perspektiven auch die Theorielage zu den Begriffen der platformization112 oder der application economy113, insofern diese nämlich die technische und ökonomische Infrastruktur beschreiben, in der Content- und Daten-Sharing eingebettet sind. Erweitert werden kann dies durch einen Blick in die Wirtschaftsgeschichte auch über die Problematisierung der Allmende hinaus. So rekurriert etwa Nicholas Carr mit dem Bild des „digital sharecropping“ auf das im amerikanischen Süden verbreitete Pachtsystem, bei dem Farmer (‚sharecroppers‘) einen Großteil ihrer angebauten Produkte an die Landbesitzer abtreten mussten. Web 2.0 und Social Web
Sharen Forschung
FORSCHUNG Medien- bzw. kulturwissenschaftliche Forschung zum Tei-
S
111 John: The Age of Sharing, S. 2. 112 Vgl. Helmond: The Platformization of the Web. In: Social Media + Society; Gillespie: Po-
litics of ‚Platforms‘. In: New Media & Society und Plantin et al.: Infrastructure Studies Meet Platform Studies in the Age of Google and Facebook. In: New Media & Society. 113 Vgl. Bodle: Regimes of Sharing. In: Information, Communication & Society.
521
Sharen Forschung
funktionieren hierzu analog: „MySpace, Facebook, and many other businesses have realized that they can give away the tools of production but maintain ownership over the resulting products.“114 Auch ließe sich fragen, inwiefern sich eine Share Economy von einer Like Economy unterscheidet, wenn beide Praxiskomplexe gleichermaßen über Social PlugIns im Rahmen der platformization mediatisiert sind und der Quantifizierung und Kapitalisierung von Affekten zugrunde liegen.115 Zudem kann die Rekonstruktion von Rhetoriken und Vokabular der Sharing Economy über diskursanalytische Zugänge freilegen, welchen Instanzen sich der inflationäre Gebrauch des Buzzwords sharing verdankt und welche kulturellen Phantasmen dabei konstruiert werden. Wenn eine Theoretisierung von teilen/sharen damit befasst ist, die Relationen zu bestimmen, die sich durch sie artikulieren und aus ihnen hervorgehen, dann dürfen diese weder als balancierte oder symmetrische Verhältnisse vorausgesetzt noch als Ziel in Anschlag gebracht werden. Dies gilt nicht nur für die Sharing Economy, sondern ganz basal auch für jede Form sozialen oder kommunikativen Teilens. Entscheidend wäre also, die Ungleichheiten und Asymmetrien zu reflektieren, die das Teilen erst ermöglicht. John A. Price stellt diesen Aspekt mit Blick auf ‚Intime Ökonomien‘ deutlich heraus, wenn er formuliert: As a relationship between people, sharing is usually an unequal exchange, because some people are consistently in a better position to give. Sharing is characterized by the attitude that each person will do what is appropriate, not by an expectation of equivalent return as in reciprocity. The ideal of ‚from each according to his ability and to each according to his needs‘ draws from this mundane, household arrangement of sharing.116
Zu den Problemfeldern, die über technik-, ideologie- und sprachkritische Ansätze erschlossen werden können, gehört die Transformation der Subjektivität und Gouvernementalität der Akteure, die teilen und sharen bzw. Anteil haben am Teilen/Sharen anderer. So wären etwa Ästhetisierung und Narrativierung 114 Carr: Digital Sharecropping. In: Roughtype. Unter: www.roughtype.com/?p=634 [aufgeru-
fen am 25.02.2020].
115 Vgl. Gerlitz: Die Like Economy. In: Leistert/Röhle (Hrsg.): Generation Facebook. 116 Price: Sharing. In: Anthropologica, S. 6.
522
Sharen Forschung
körper- und bewegungsbezogener Daten im Rahmen der Quantified SelfSzene nicht nur im Sinne der wettbewerbsorientierten Inszenierung von Fitness zu berücksichtigen, sondern auch als Teil einer therapeutischen Mitteilungspraxis, in der Schwächen und Rückschläge solidarisch geteilt werden. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei aber weniger die Frage danach, über welche Inhalte und Aussagen sich die Subjekte mitteilen, als vielmehr das mediale Regime, in dem sie dies tun. Subjektivierung erweist sich gerade dann als besonders prekär, wenn sharing nicht mehr nur über diskrete intentionale Akte des Postens, sondern wie beim frictionless sharing über Automatismen erfolgt, sodass die Kontrolle über das (Mit-)Teilen immer weiter auf die Plattform-Infrastrukturen übergeht. Ein weiteres Forschungsfeld betrifft die Transformation des Öffentlichen: Während bereits das frühkindliche Teilen als „transformation of the personal into the public“117 verstanden werden kann, wird digitalem sharing „the expansion of the public at the expense of the private in a manner that is increasingly mediated by digital, for-profit enterprises“ zugesprochen.118 In Bezug auf Eigentumskategorien sehen Helfrich und Bollier Teilen und Geteiltes im Rahmen des Commoning dagegen als etwas Drittes an: „Als politisches Projekt existiert es [das Gemeinsame, FR] nicht einfach neben dem Privaten und dem Öffentlichen, sondern entfaltet sich auf einer anderen, unter anderem affektiven, Grundlage.“119 Reflexionsbedarf zur medialen Logik des digitalen sharing besteht dabei gerade auch in Hinblick auf das im Plattform-Kapitalismus begünstigte Regime der surveillance culture.120 Sobald öffentliche Kommunikation den Logiken des digitalen sharing im Social Web unterworfen ist, beeinflusst dies auch die Mechanismen der Meinungsbildung und des demokratischen Diskurses. Phänomene wie Filter Bubble oder Shitstorm sowie jede Form von Viralität kommen maßgeblich
S
117 Katriel: „Bexibùdim!“ In: Language in Society, S. 318. 118 John: The Age of Sharing, S. 146. 119 Helfrich/Bollier: Frei, fair und lebendig, S. 21 f. Gemeint ist damit, dass Commons weder
Privat- noch Gemeinschaftseigentum (Wasser, Wälder, Land) sind, aber eben auch keine Ressourcen, „die niemandem gehören“ (ebd., S. 20). 120 Vgl. Lyon: Surveillance Culture. In: International Journal of Communication; Srnicek: Platform Capitalism und Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism.
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Sharen Forschung
durch die niedrigschwellige und affektive Weiterverbreitung von Inhalten durch sharing zustande: Wo dies zur Isolation homogener, um eine geteilte Weltsicht zentrierter Gruppen beiträgt, zeigt es sich als hochwirksamer „glue of community“.121 Wo es geballte Empörung über etwas provoziert, das dem geteilten Konsens nicht entspricht, tritt es dagegen als Medium kollektiver, bisweilen rauschhafter Destruktion hervor. Sharing lässt sich daher auch als soziale Selektionspraktik begreifen, die als solche ein-, aber auch ausschließt. Die beim sharing wie beim posting zu beobachtende Präferenz des Visuellen und Affektiven hat das Format der sogenannten sharepics hervorgebracht: Darunter sind „speziell für Social Media und das Verbreiten auf Social Media gebaut[e]“ Bilder zu verstehen, deren oft „stark verkürzt[e] und radikalisiert[e]“ Aussagen und spezifische „Optik bei den Empfängern ein gewisses Mindsetting und Emotionen“ hervorrufen, wodurch sie dazu „animieren [...], ohne groß darüber nachzudenken das Sharepic ebenso zu verteilen“.122 Diese massenhaft auftretenden und die Massen mobilisierenden sharepics werden nicht nur von Akteuren mit kommerziellen Betrugsabsichten, sondern auch von der Neuen Rechten genutzt und erfordern daher besonders dringlich quellenkritische Kompetenzen seitens der Online-Communities. Das frictionless sharing hingegen stellt die Community auf andere Weise auf die Probe: Wenn sharing im Netz eigentlich niemals wertneutral sein kann, sofern es Bewertung voraussetzt und anzeigt, verliert sich beim frictionless sharing dieser Empfehlungscharakter und der Kontextualisierungsbedarf des Geteilten tritt hervor. Am Beispiel des sharepics wird somit deutlich, dass der Mediengebrauch teilen nicht nur vom Geteilten abhängt, sondern umgekehrt das Wie-Teilen immer auch auf das Was-Teilen zurückwirkt. Aus epistemologischer Perspektive lässt sich fragen, wie sich Wissen und Wissenschaft durch die Medienpraktiken teilen bzw. sharen im digitalen Kontext selbst verändern. Große Bedeutung hat kollaboratives sharing von Forschungsdaten bereits in den Naturwissenschaften und insbesondere der Astronomie; inzwischen ist aber auch in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften
121 Lessig: Remix, S. 148. 122 Wolf: Sharepic Faktencheck. In: Mimikama. Unter: www.mimikama.at/allgemein/sharepic-
faktencheck/ [aufgerufen am 20.02.2020].
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Sharen Forschung
ein gesteigertes Interesse an Open Science und Open Access-Lösungen zu verzeichnen, um „möglichst Viele an der Produktion und Distribution von Wissen teilhaben zu lassen“.123 Angesichts der Problematik kolonialer Artefakte in ethnologischen Sammlungen stellt sich zudem die Frage, ob und wie ein gemeinsames Kulturerbe (shared heritage) auch tatsächlich geteilt werden kann (sharing heritage).124 Alle Forschungsfelder und -perspektiven finden sich letztlich damit konfrontiert, dass teilen und sharen spezifische Zugänglichkeiten herstellen oder ausschließen. Allein darin ist diese Medienpraxis also niemals frictionless denkbar.
S
123 Gesellschaft für Medienwissenschaft: AG Open Media Studies.
Unter: https://gfmedienwissenschaft.de/gesellschaft/ags/openmediastudies [aufgerufen am 26.02.2020]. 124 Der Begriff „shared/joint custody“ adressiert eine „Form des ‚geteilten/gemeinsamen Sorgerechts‘ für Objekte in Museen/Sammlungen gemeinsam mit Herkunftsstaaten/-gesellschaften“ (Deutscher Museumsbund [Hrsg.]: Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, S. 106).
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529
SPOILERN CHRISTIAN RICHTER
Spoilern Anekdote
ANEKDOTE Als Fans der US-Fernsehserie BREAKING BAD1 am 01. Oktober
S
2013 die Medienseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) aufschlugen, fanden diese dort einen Artikel vor, in dem die Journalistin Nina Rehfeld ausführlich das letzte Kapitel und damit das Finale der Geschichte um den drogendealenden Chemielehrer Walter White rezensierte. Illustriert war ihr Text mit einem anschaulichen Szenenfoto, das aus einer der letzten Minuten der Episode stammte.2 Eigentlich ein Vorgang, wie er sowohl in gedruckten Presse-Erzeugnissen als auch in Online-Angeboten tagtäglich dutzendfach zu beobachten ist, und dennoch löste ausgerechnet der scheinbar unauffällige Beitrag eine außerordentliche Welle der Empörung aus. Diese wurde nicht nur von verärgerten Fans getragen, die sich in sozialen Netzwerken zornig äußerten, sondern ebenso von vielen Journalist*innen, die ihr Unverständnis in eigenen Artikeln für konkurrierende Zeitungen und Online-Dienste zum Ausdruck brachten. Die Überschriften ihrer Beiträge trugen übereinstimmend den gleichen Tenor und warfen der FAZ vor, das Finale „verraten“3, „hinausposaunt“4 oder „ausgeplaudert“5 und den Fans das Ende der Serie „versaut“6 zu haben. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier warnte sogar schon vor der Veröffentlichung des Artikels via Twitter vor ihm: „Servicetweet:
1 USA, 2008–2013. 2 Rehfeld: Ich war richtig lebendig! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 3 mis/kiru: „FAZ“ verrät das Ende von „Breaking Bad“. In: FOCUS Online. Unter:
http://www.focus.de/kultur/medien/spoiler-auf-der-medienseite-faz-verraet-das-ende-vonbreaking-bad_aid_1117038.html [aufgerufen am 08.04.2020]. 4 Disselhoff: FAZ posaunt Finale von Breaking Bad hinaus. In: Meedia.de. Unter: http:// meedia.de/2013/10/01/faz-posaunt-finale-von-breaking-bad-hinaus/ [aufgerufen am 08.04.2020]. 5 Rentz: „FAZ“ plaudert Ende von „Breaking Bad“ aus. In: Horizont Online. Unter: http:// www.horizont.net/medien/nachrichten/Spoileralarm-FAZ-plaudert-Ende-von-BreakingBad-aus-117046 [aufgerufen am 08.04.2020]. 6 Lückerath: „FAZ“ versaut Serienfans das „Breaking Bad“-Finale. In: DWDL.de. Unter: http://www.dwdl.de/nachrichten/42837/faz_versaut_serienfans_das_breaking_badfinale/ [aufgerufen am 08.04.2020].
530
ETYMOLOGIE Die Resonanz auf den FAZ-Artikel zeigt: Das Verb spoi-
lern wird grammatikalisch sowohl im Aktiv als auch im Passiv verwendet. Man kann demnach selbst etwas spoilern – einen Spoiler (auch unabsichtlich) produzieren und in Umlauf bringen – oder von einer fremden Instanz (in der Regel gegen den eigenen Willen) eine vorwegnehmende Information zur Handlung „gespoilert“ bekommen. In seiner aktuellen Fassung führt der DUDEN spoilern als (schwaches) Verb auf und weist ihm folgende Bedeutung zu: „Details oder Pointen einer Filmhandlung o. Ä. verraten und dadurch
Spoilern Etymologie
Totaler Breaking-Bad-Spoiler, inkl. großem Foto der Schluss-Szene morgen auf der Medienseite der FAZ.“7 Worin bestand nun die Ursache für diese Reaktionen? Es war nicht der Inhalt des Textes, der als problematisch eingeschätzt wurde. Stattdessen bezog sich die formulierte Kritik auf den Zeitpunkt seiner Bereitstellung, die zwar wenige Tage nach der Erstausstrahlung der entsprechenden Folge im USamerikanischen Fernsehprogramm erfolgte, aber noch vor der deutschen TV-Premiere. Diese stand nämlich erst am Abend des Erscheinungstages der Rezension an. Die FAZ hat dadurch mit ihrem Text und insbesondere durch das Beifügen des verräterischen Fotos (ohne jeglichen Hinweis vorab) wesentliche Teile der Handlung und des Ausgangs der Serie beschrieben, noch bevor Interessierte in Deutschland die Möglichkeit hatten, sich die betreffende Folge legal anzusehen. Dieser unangekündigte Vorgriff war offenbar geeignet, den Genuss an der Rezeption der Serie massiv zu stören – wenn nicht gar zu ‚versauen‘. Die FAZ hatte das Finale von BREAKING BAD gespoilert. Kurioserweise ist unter den Reaktionen zu Niggemeiers ‚Servicetweet‘ auch eine Anmerkung des damaligen FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher zu finden, in der sich dieser für die Warnung bedankt.8 Offenbar war auch er erleichtert, vor dem Spoiler seiner eigenen Zeitung beschützt worden zu sein.
S
7
Niggemeier: Tweet vom 30.09.2013. In: Twitter.com. Unter: https://twitter.com/niggi/ status/384782672633270273?s=20 [aufgerufen am 08.04.2020]. 8 Schirrmacher: Tweet vom 30.03.2013. In: Twitter.com, Unter: https://twitter.com/fr_ schirrmacher/status/384784218611793920?s=20 [aufgerufen am 08.04.2020].
531
Spoilern Etymologie
jemandem die Überraschung nehmen.“9 Als Synonyme werden die Wörter „ausplaudern, enthüllen, erzählen, hinterbringen“ empfohlen. Hierbei, so der DUDEN weiter, verfügt der Begriff über eine Herkunft aus dem Engl., die auf das Verb „to spoil“ zurückzuführen und dessen Übersetzung mit „verderben, ruinieren“ angegeben ist.10 Mit dem Vorwegnehmen von entscheidenden Wendepunkten einer Narration geht also das Verderben eines Sehgenusses einher. Eine Geschichte wird in diesem Verständnis durch das Spoilern derart verdorben, dass ihr Zustand an verfaulte Milch erinnert und nur noch einen säuerlichen Geschmack hinterlässt.11 Das OXFORD ENGLISH DICTIONARY bestätigt zwar die im DUDEN hinterlegten Übersetzungen von „spoil“, führt aber vorrangig Erläuterungen an, die mit Handlungen des Entkleidens bzw. Ausziehens oder des (gewaltsamen) Wegnehmens im Zusammenhang stehen.12 Die Ursprünge des Wortes werden im Lat. angegeben, wo sich das Verb „spoliō“ bzw. „spoliāre“ mit einer Reihe von Bedeutungen findet, die ebenso mit diebischen Handlungen im Zusammenhang stehen. So ist damit etwa das Berauben von Kleidern,13 das Wegnehmen von Waffen oder Rüstungsteilen von einem geschlagenen Feind oder gewaltsames Rauben und Plündern gemeint14. Die abgenommene Beute, die dem erlegten Feind geraubte Rüstung oder Kleidung bzw. die abgezogene Haut eines Tieres wird wiederum als „spolium“ bezeichnet.15 Aus diesen lat. Wurzeln leitet sich auch das dt. Wort „spoliieren“ ab, das bereits in der Kriegssprache des Mittelalters als Begriff gebräuchlich war und für „rauben, berauben, plündern“, aber auch für „entsetzen und auszihen“ stand.16 Hierbei handelte es sich um einen Ausdruck, der nicht nur umgangssprachlich verwendet wurde,
9
(Art.) spoilern. In: Duden online. Unter: https://www.duden.de/node/171597/revision/ 171633 [aufgerufen am 16.07.2021]. 10 Ebd. 11 Vgl. Gray/Mittell: Speculation on Spoilers: In: Particip@tions, Absatz 3. 12 (Art.) spoil, v.1. In: OED online. Unter: https://www.oed.com/viewdictionaryentry/ Entry/187261 [aufgerufen am 16.07.2021]. 13 (Art.) spolio. In: Der neue Georges. Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, S. 4477. 14 (Art.) spoliō. In: Oxford Latin Dictionary, S. 1808. 15 (Art.) spolium. In: Langenscheidts Großwörterbuch Latein, S. 712. 16 (Art.) spoliieren. In: Grimm, Sp. 2673.
532
17 18 19 20
Spoilern Etymologie
sondern seit mindestens dem 15. Jh. ebenso als ein offizieller Rechtsbegriff galt. Er beschrieb u.a. den Vorgang, „jn. eigenmächtig und widerrechtlich aus seinem Besitz oder einer anderen Rechtsperson [zu] drängen, des Besitzes [zu] entheben.“17 Dass es sich hierbei um eine Tat von erheblicher Schwere handelte, macht der zugehörige Eintrag in ZEDLERS UNIVERSAL-LEXICON deutlich, wo „spoliren“ charakterisiert wird als „[e]in Raub, welches in den Rechten eine solche Schätlichkeit bedeutet, da einem mit Gewalt und wieder Recht etwas genommen worden.“18 Mit dieser dem Begriff in sich tragenden kriegerischen Aggressivität wird deutlich, dass beim Spoilern ein räuberischer und unrechtsmäßiger Akt gegen den Willen einer anderen Person vorgenommen wird. Dies erklärt auch das herbe Echo auf den Artikel der oben exemplarisch angeführten Autorin Nina Rehfeld. Durch das Vorwegnehmen des Ausgangs von BREAKING BAD hat sie nichts weniger als einen Raub mit großer Schädlichkeit begangen und ihren Lesenden den Besitz am Abschluss der Handlung entrissen. Sie plünderte sinnbildlich das Ende der Serie als Kriegsbeute und ließ die Lesenden als entblößte Opfer zurück. Der Begriff spoilern steht allerdings nicht ausschließlich in einem negativen und kriminellen Zusammenhang, denn in der Architektur wird „ein wiederverwendeter Bauteil, der einem abgebrochenen Gebäude entnommen ist“, mit dem bis heute genutzten Wort „Spolie“ besetzt.19 Hierbei wird die mindestens seit 250 n. Chr. praktizierte Wiederverwendung nicht zwangsläufig als Plünderung verstanden, vielmehr wird sie als „Indiz für ein bewusstes, zielgerichtetes und reflektiertes Neukonstruieren“20 interpretiert, also als künstlerisches Zitat oder bauliches Erinnerungsstück, das als Hommage fungiert, mit der an eine vergangene Tradition angeknüpft werden soll. Obwohl die etymologischen Spuren weit zurückreichen, sind das Verb spoilern und sein zugehöriges Substantiv „Spoiler“ erst nach der Jahrtausendwende als Form und Beschreibung eines Mediengebrauchs vereinzelt in gängige Nachschlagewerke aufgenommen worden. Zuvor verwies der Begriff „Spoiler“
S
(Art.) spolieren. In: Deutsches Rechtswörterbuch, Sp. 1015. (Art.) spoliren. In: Zedler, Sp. 331. (Art.) Spolie. In: Bildwörterbuch der Architektur, S. 423. (Art.) Spolien. Der neue Pauly, Sp. 834–835.
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in Wörterbüchern und Lexika ausschließlich auf aerodynamische Bauteile, die in der Luftfahrttechnik „als ausfahrbare Klappen zur Verminderung des Auftriebs“ und bei Kraftfahrzeugen als „Luftleitblech (aus Kunststoff ) zur Beeinflussung der Luftströmung um die Karosserie“ beitragen.21 Hierbei wurde ebenso auf das engl. Verb „(to) spoil“ verwiesen, dieses jedoch zuweilen mit „wegnehmen“ und „vermindern“ übersetzt und seine Herkunft aus dem Altfranz. („espoillier, espollier“) angenommen.22 Der „Spoiler“ im Sinne des hier beschriebenen medialen Phänomens findet sich im OXFORD ENGLISH DICTIONARY erstmals durch eine Ergänzung im Jahr 2007.23 Dies aber gilt ausschließlich für das Substantiv, für das zugehörige Verb „spoil“ ist bislang keine Ausführung hinzugefügt worden, welche die spezifische mediale Praktik kennzeichnet. Der dt. DUDEN kennt hingegen das Verb spoilern. Dessen Aufnahme erfolgte jedoch erst im Jahr 2020 und damit zu einem Zeitpunkt, an dem die breite Empörung aufgrund des FAZ-Spoilers zu BREAKING BAD bereits mehr als sieben Jahre zurücklag.24
Spoilern Kontexte
KONTEXTE In ihrem intuitiven Glauben, dass Spannung ein wesentlicher
Bestandteil von Vergnügen ist, unternehmen viele Lesende und Kinobesuchende erhebliche Anstrengungen, um das Ende einer Geschichte nicht vorzeitig zu entdecken.25 Stattdessen bevorzugen sie die Rezeption eines Textes „mit so wenig Vorwissen wie möglich“26 und nähern sich diesem am liebsten als „naive und ignorante Zuschauer“.27 Sie wollen Zeit und Ort der Entfaltung einer Geschichte selbst bestimmen und ziehen es vor, die Handlung in der
21 (Art.) Spoiler. In: Brockhaus, S. 798. 22 (Art.) Spoiler. In: Kluge, S. 870. 23 (Art.) spoiler, n. In: OED online. Unter: https://www.oed.com/view/Entry/187269 [aufge-
rufen am 16.07.2021].
24 Vgl. Bibliographisches Institut: Pressemitteilung: 3000 Wörter stärker. Unter: https://
cdn.duden.de/public_files/2020-08/Pressemappe_D1_28_Aufl_innen_A4_RZ_1. pdf ?VersionId=null [aufgerufen am 16.07.2021]. 25 Vgl. Leavitt/Christenfeld: The fluency of spoilers. In: Scientific Study of Literature, S. 93. 26 Gray/Mittell: Speculation on Spoilers: In: Particip@tions, Abschnitt „The Epistemology of the Spoiler“. 27 Ebd.
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Spoilern Kontexte
Reihenfolge zu verfolgen, die für sie vorgesehen war.28 Diese Haltung wird oft mit einer klassischen Hierarchie zwischen den Schöpfenden von Texten und deren Verbrauchenden in Verbindung gebracht. Die absichtliche Vorwegnahme von Handlungsdetails gleicht dann einem Bruch des „unausgesprochenen“ Vertrags mit den Autor*innen und einer Missachtung der von ihnen festgelegten Reihenfolge der Erzählung.29 Jene Personen, die von den Autoren Jonathan Gray und Jason Mittell unter dem Terminus „spoiler avoiders“ zusammengefasst werden, haben demnach gemein, dass sie ständig besorgt seien, unbeabsichtigt mit unerwünschten Vorwegnahmen konfrontiert und hierdurch beraubt zu werden.30 Diese Angst könne derart weit führen, dass als Vermeidungspraktik etwa Internetseiten und Wikipedia-Beiträge über Fernsehserien vor einem Besuch in eine archivierte Version zurückversetzt werden, deren Stand vor der Ausstrahlung der zuletzt gesehenen Episode datiert.31 Für „spoiler avoiders“ sind nahezu alle Fragmente und Informationsquellen, die irgendeinen noch so kleinen Rückschluss auf den Fortgang einer Erzählung zulassen, als gefährlich einzuschätzen. Dabei können sich die Spoiler nicht nur in expliziten Hinweisen zu Ereignissen des Plots, zum Tod von Figuren oder zu anstehenden romantischen Verwicklungen erschöpfen, sondern ebenso aus dem Bekanntwerden von Episoden-Titeln und genutzten Drehorten, aus Angaben zu Gaststars und zu möglichen wiederkehrenden Charakteren oder aus Details zu Autor*innen und Regisseur*innen ableiten.32 Zuweilen reicht – wie das eingangs geschilderte Beispiel von BREAKING BAD offenbart – der Abdruck eines einzelnen Szenenfotos aus, um als Spielverderber*in an den medialen Pranger gestellt zu werden. Der Regisseur Rian Johnson bewertet sogar die Kenntnis der Firmenpolitik von Apple als geeignet, Spoiler zu
S 28 Vgl. Jones/Nelson/Van de Sompel: Avoiding spoilers. In: International Journal on Digital
Libraries, S. 78.
29 Vgl. Perks/McElrath-Hart: Spoiler Definitions and Behaviors in the Post-Network Era. In:
Convergence, S. 145.
30 Vgl. Gray/Mittell: Speculation on Spoilers: In: Particip@tions. Abschnitt „The Epistemo-
logy of the Spoiler“.
31 Vgl. Jones/Nelson/Sompel: Avoiding spoilers. In: International Journal on Digital Libraries,
S. 78 f.
32 Vgl. Williams: It’s About Power: Spoilers and Fan Hierarchy in On-Line Buffy Fandom,
Absatz 13.
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Spoilern Kontexte
produzieren. Diese würde nämlich eine Nutzung von iPhones in Filmen grundsätzlich zulassen, davon aber die ‚Bad Guys‘ ausdrücklich ausschließen. Demnach ließe sich die Zuordnung von Figuren nach Helden und Schurken allein anhand des Herstellers der von ihnen genutzten Smartphones schlussfolgern.33 Am anderen Ende des Spektrums stehen den „spoiler avoiders“ die „spoiler fans“ gegenüber, die Spoiler nicht nur nicht vermeiden, sondern gezielt und mit großem Engagement nach ihnen suchen und aktiv zu deren Verbreitung beitragen. Henry Jenkins hat dieses Verhalten anhand der US-amerikanischen Reality-Show SURVIVOR34 eindrucksvoll beschrieben und dargestellt, dass sich eine große Fan-Gemeinde in eigenen Online-Foren austauscht, um Voraussagen über den Ausgang des Wettbewerbs miteinander zu teilen und zu diskutieren.35 Ihnen dienen Luftaufnahmen des Sets, das unbemerkte Ausfragen von Mitarbeiter*innen oder Bild-für-Bild-Analysen des Vorspanns als mögliche Fundstellen, die sie zur Diskussion stellen und auf diese Weise eine geschlossene Community mit einer ausgeprägten kollektiven Intelligenz ausbilden. Ähnliche Prozesse haben Jonathan Gray und Jason Mittell in ihrer Studie unter Fans der US-Serie LOST36 identifizieren können.37 „Spoiler fans“ verstehen Texte wie SURVIVOR oder LOST nicht als bloße Erzählungen, vielmehr stellen sie große Rätsel und die einzelnen Ausgaben Codes dar, die mithilfe textueller und nicht-textueller Informationen geknackt werden wollen.38 Die Rezeption des eigentlichen Textes erfolgt dann in erster Linie aus der Motivation heraus, fremde oder eigene Hypothesen verifizieren zu können. Für „spoiler fans“ verbindet sich die Offenlegung von Handlungsdetails nicht mit einem Verlust des Vergnügens am Text, sondern mit der Etablierung eines Vergnügens mit dem Text. Ähnlich wie beim Aufsetzen von Fan-Wikis, beim Verfassen von Fan Fiction oder bei der Gestaltung von Fan Art kann sich im
33 Vgl. Vanity Fair: Director Rian Johnson Breaks Down a Scene from ‚Knives Out‘ | Va-
nity Fair. In: YouTube.com (Video). Unter: https://youtu.be/69GjaVWeGQM [aufgerufen am 07.03.2020], ca. 3:00 Min. 34 USA, seit 2000. 35 Vgl. Jenkins: Convergence culture, S. 25–58. 36 USA, 2004–2010. 37 Vgl. Gray/Mittell: Speculation on Spoilers: In: Particip@tions, Abschnitt „The Epistemology of the Spoiler!“. 38 Vgl. Kociemba: To Spoil or not to Spoil. In: Buffy in the Classroom (Re-Print), S. 14.
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Spoilern eine kreative Spielart von „Fan Culture“ zeigen, die sich weniger in der Rezeption des eigentlichen Textes vollzieht, sondern seinen Schwerpunkt auf das Studium und die Produktion von Para-Texten verschiebt.39 Die erbeuteten Informationsfragmente wandeln sich in diesem Prozess zu begehrten Bauteilen eines narrativen Gebäudes, die vergleichbar zu den Spolien in neue mediale Architekturen überführt werden. Für die Produzent*innen von Serien, Filmen und Shows bedeuten solche Aktivitäten, dass sie große Anstrengungen aufwenden müssen, wollen sie zentrale Wendepunkte und Entwicklungen ihrer Erzählung bis zum Veröffentlichungszeitraum geheim halten. Mithilfe von geschlossenen Sets und Verschwiegenheitsklauseln in den Verträgen der Mitarbeiter*innen, deren Missachtung mit hohen Geldstrafen geahndet wird,40 treten sie in einen Wettbewerb mit den Spoiler-Communities, die solche Maßnahmen als zusätzliche Herausforderung anerkennen. Nicht selten werden daher auch absichtlich falsche Spoiler (sogenannte „Foilers“) lanciert, um die Community bewusst in die Irre zu führen.41 In diesem Wettstreit zwischen Produzierenden und Spoiler-Jäger*innen erfahren Spoiler eine erneute metaphorische Nähe zu den antiken Kriegsbeuten, die wie Trophäen und als Beweis für die Entwaffnung des Gegners stolz präsentiert werden. Dabei richtet sich der räuberische Akt diesmal ausschließlich gegen den Bereich der Produzierenden und nicht gegen (andere) Rezipient*innen. Auf der Skala, deren beiden Endpunkte die zuvor beschriebenen Archetypen „spoiler avoiders“ und „spoiler fans“ bilden, lassen sich zahlreiche Schattierungen, die sich zwischen diesen beiden extremen Ausprägungen bewegen, feststellen. Die individuelle Zuordnung und persönliche Positionierung in diesem Spektrum spiegelt nicht nur die grundsätzliche Haltung gegenüber Spoilern wider, sie besteht ebenso in Abhängigkeit zum derzeitigen Interesse an der betreffenden Erzählung und dem (Zeit-)Aufwand, der bereits investiert
S
39 Vgl. Gray/Mittell: Speculation on Spoilers. In: Particip@tions, Abschnitt „Reading Spoilers
and Extra-Textual Pleasures“.
40 Vgl. Jenkins: Convergence culture, S. 25. 41 Vgl. Gray: Show Sold Separately, S. 152.
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Spoilern Kontexte
wurde (z.B. wie viele Staffeln einer Serie schon durchgesehen wurden).42 Die Gründe für den absichtlichen Gebrauch eines Spoilers sind hierbei ebenso von Person zu Person und von Text zu Text individuell verschieden. So können Jonathan Gray und Jason Mittell in ihrer Untersuchung eine Vielzahl weiterer Motive zusammentragen, in denen der jeweilige Umgang mit Spoilern auch verschiedene Formen des Gebrauchs von und mit medialen Texten offenbart. Darunter identifizieren sie eine gezielte Nutzung von Spoilern, um verpasste Teile der Erzählung nachholen und weiterhin an gemeinschaftlichen Gesprächen teilnehmen,43 um einer eigenen Ungeduld über den Fortgang der Erzählung begegnen,44 aber auch um im Sinne eines Mood-Managements den Auf- und Abbau von Spannung aktiv steuern zu können.45 Spoiler geraten in diesen Konstellationen von bedrohlichen Botschaften, denen Menschen scheinbar hilflos ausgesetzt sind und denen allenfalls durch Vermeidung von verdächtigen sozialen und medialen Räumen begegnet werden kann, zu mächtigen Werkzeugen. Sie sind Instrumente, die aktiv genutzt werden können, um narrative Erfahrungen von vorgegebenen Bedingungen zu entkoppeln und stattdessen an die eigenen Bedürfnisse angepasst zu gestalten. Im Umgang mit Spoilern manifestieren sich folglich individuelle Gebrauchsformen und Nutzungsmuster von medialen Texten. Ebenso bilden sie Instanzen in zwischenmenschlichen Kommunikationsprozessen, die soziale Verbundenheit stiften oder Ausgrenzungen provozieren können. Sie resultieren aus den zugrunde liegenden differenten Wissensbeständen, aus denen „Exklusions-, Inklusions- und Hierarchisierungsprozesse [erwachsen,] wie sie für die Herstellung bzw. Wahrung von Zugehörigkeit bzw. Vergemeinschaftung typisch sind.“46 So konnten Melina Meimaridis und Thaiane Oliveira bei ihrer Untersuchung des Spoiler-Verhaltens von brasilianischen Serienfans eine beabsichtigte soziale Aufwertung als gängiges Motiv beobachten. Sie wird durch die 42 Vgl. Perks/McElrath-Hart: Spoiler Definitions and Behaviors in the Post-Network Era. In:
Convergence, S. 144.
43 Vgl. Gray/Mittell: Speculation on Spoilers. In: Particip@tions, Abschnitt „Spoiler fans are
anti-fans“.
44 Vgl. ebd., Abschnitt „Spoiler fans aim to take control of their emotional responses …“ 45 Vgl. ebd. 46 Gothe/Leichner: Spoiler! In: Eisewicht/Grenz/Pfadenhauer (Hrsg.): Techniken der Zuge-
hörigkeit, S. 182.
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Spoilern Kontexte
explizite Ausstellung des eigenen Wissensvorsprungs erreicht, der wiederum auf einer finanziellen Privilegierung etwa durch einen Zugang zum Pay-TV basiert.47 In dieser Konstellation erfolgt das Spoilern nicht unabsichtlich; es wird vorsätzlich und aus narzisstischen Motiven praktiziert, wobei billigend in Kauf genommen wird, dass die Personen, die jene Informationen gegen ihren Wunsch erfahren, ihrem Vergnügen am Text beraubt werden. Narrative Plünderungen sind ebenso auf größeren medialen Bühnen zu beobachten, wo sie gezielt zum Schaden der als Bedrohung angenommenen Konkurrenz lanciert werden können. So geschehen ist dies im Jahr 1991 zur Deutschlandpremiere der US-Krimiserie TWIN PEAKS48 beim Fernsehsender RTLplus. Mit dem Ziel, das Interesse an der Produktion von Beginn an zu schmälern, enthüllte der Konkurrent Sat.1 das zentrale Geheimnis der Erzählung, in dem er nur wenige Tage vor dem Start der Ausstrahlung in seinem Videotext den Mörder von Laura Palmer und dessen Motiv verriet.49 Dieses Vorgehen erinnert an den längst legendären Vorfall um den Krimi-Mehrteiler 50 DAS HALSTUCH , dessen Ausgang (ebenfalls die Entlarvung eines Mörders) der Kabarettist Wolfgang Neuss am Vorabend der entscheidenden Episode in der Werbeanzeige einer Tageszeitung verriet. Diese hatte er schalten lassen, damit die Menschen ihren Abend nicht vor dem Fernseher verbringen und stattdessen seinen eigenen Film im Kino besuchen. Als Reaktion auf das gespoilerte Ende von DAS HALSTUCH soll der WDR ernsthaft überlegt haben, bei Nachfolgeproduktionen künftig drei Enden herstellen zu lassen.51 Was dort zwar als Idee aufgeworfen, aber nicht realisiert wurde, hat sich mittlerweile zu einer gängigen Praxis in der Film- und Fernsehbranche entwickelt, die unter anderem bei den Drehs entscheidender Szenen der Serie DALLAS52
S
47 48 49 50 51
Vgl. Meimaridis/Oliveira: The pleasure of spoiling. In: Participations, S. 286. USA, 1990–1991, 2017. Vgl. Reufsteck/Niggemeier: Das Fernsehlexikon, S. 446. D, 1962. Vgl. Gödecke/Trede: Deutsche TV-Straßenfeger – Alle mal zuschauen! In: Spiegel.de. Unter: https://www.spiegel.de/geschichte/deutsche-tv-strassenfeger-a-947456.html# [aufgerufen am 06.03.2020]. 52 USA, 1978–1991.
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Spoilern Konjunkturen
(Enthüllung, wer J.R. erschossen hat) oder den finalen Auflösungen von GAME 53 54 55 OF THRONES , THE SOPRANOS und BREAKING BAD zur Anwendung kam. KONJUNKTUREN Ein Bewusstsein, dass durch die Vorwegnahme von handlungsrelevanten Informationen, das Vergnügen an einer Erzählung beeinträchtigt werden kann, lässt sich kulturhistorisch einige Jahrzehnte und auch auf Medienformen jenseits der Fernsehserie zurückverfolgen. So endet das Theaterstück THE MOUSETRAP von Agatha Christie, das seit 1952 (fast) ohne Unterbrechung im Londoner West End Theater aufgeführt wird, nach der Entlarvung des Mörders allabendlich mit der Bitte an das Publikum, den Ausgang des Stücks nicht weiterzuerzählen, damit auch künftigen Besuchenden das Vergnügen nicht verdorben wird.56 Einer Legende zufolge soll der Regisseur Alfred Hitchcock vor der Premiere seines Films PSYCHO57 alle verfügbaren Ausgaben von Robert Blochs zugrunde liegender Romanvorlage aufgekauft und hierdurch aus dem Verkehr gezogen haben, um das Ende als ein Geheimnis bewahren zu können.58 Zusätzlich ließ er Anzeigen in Tagesszeitungen schalten, in denen er diejenigen Zuschauenden, die den Film bereits gesehen hatten, anflehte, das Ende bloß nicht weiter zu verraten.59 („Please don’t give away the ending, it’s the only one we have.“60) Als im Juni 1970 die Fußballweltmeisterschaft der Herren in Mexiko ausgetragen wurde und wichtige Spiele aufgrund der Zeitverschiebung erst
53 USA, 2011–2019. 54 USA, 1999–2007. 55 Vgl. Egner: ‚Game of Thrones‘ Will Shoot Multiple Endings to Prevent Spoilers. In: NY-
Times Online. Unter: https://www.nytimes.com/2017/09/14/arts/television/game-of-thronesmultiple-endings-hbo-casey-bloys.html [aufgerufen am 08.02.2020]. 56 Vgl. Leatherdale: Lifting the lid on spoilers. In: BBC News. Unter: https://www.bbc.com/ news/uk-england-33520725 [aufgerufen am 08.04.2020]. 57 USA, 1960. 58 Vgl. Rebello: Hitchcock und die Geschichte von Psycho, S. 57. 59 Derartige Maßnahmen sind auch als zentrales Werbeinstrument im Rahmen der ausgefeilten Werbekampagne für den Film zu verstehen. In dieser wurde gezielt die Entstehung eines Mythos um das geheimnisvolle Werk und seine (vermeintlich) überraschenden Wendungen befördert, um das Interesse an der Geschichte steigern zu können. 60 Hitchcock: A Lesson in PSYCHO-logy. In: Motion Picture Herald, zit. n.: Gottlieb (Hrsg.): Hitchcock on Hitchcock, S. 94.
540
um 23.00 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit begannen, waren die berichterstattenden Journalist*innen der SPORTSCHAU61 gezwungen, ein besonderes Verfahren für ihr Publikum zu entwickeln. Dieses stellte der Moderator Adolf Furler in der Halbzeitpause des ersten Vorgruppenspiels der deutschen Nationalmannschaft vor:
Ohne dass den Akteur*innen der Begriff bereits in dieser Lesart vertraut war, stellten all die getroffenen Maßnahmen aus heutiger Perspektive Vorbeugungen dar, um die Produktion und Verbreitung von Spoilern zu verhindern. Einzig der Begriff war noch nicht etabliert. Den Grundstein dafür legte ein Beitrag, der im Jahr 1971 in der AprilAusgabe des amerikanischen Unterhaltungs- und Satiremagazins National Lampoon veröffentlicht wurde. Darin offenbarte der Humorist Doug Kenney absichtlich den Ausgang von einer Reihe bekannter Werke wie CITIZEN 63 64 65 KANE , THE GODFATHER , THE BIRDS und PSYCHO, aber auch von mehreren Erzählungen von Agatha Christie. Übertitelt war diese Aufzählung mit dem
Spoilern Konjunkturen
Es gibt zwei Lager von Zuschauern, die einen wollen die Halbzeitergebnisse der übrigen Spiele sehen, weil sie vielleicht nicht so lang aufbleiben wollen, um selbst die Berichte noch sehen zu können, die anderen freuen sich auf die Berichte und wollen natürlich jetzt die Halbzeitergebnisse nicht sehen. Wir haben also nach einem Kompromiss gesucht und haben ihn gefunden, und haben ihn hier in unserer Redaktion als ‚Lembke-Effekt’ getauft. Sie kennen den ‚LembkeEffekt‘. [Furler platziert einen kleinen goldfarbenen Gong im Bild.] Wenn wir jetzt also die Halbzeitergebnisse einblenden, geschieht das mit Ankündigung durch einen Gong. Bitte seien Sie so liebenswürdig, wenn sie nicht hinsehen wollen, machen Sie die Augen zu für den Moment.62
S
61 D, seit 1961. 62 Schnipp08: WM 1970 Halbzeitanalyse (03.06.1970). In: YouTube.com (Video). Unter:
https://youtu.be/a7iUkJK56XU [aufgerufen am 07.03.2020], ca. 4:20 Min.
63 USA, 1941. 64 Hier ist der Roman von Mario Puzo aus dem Jahr 1969 gemeint. 65 USA, 1963.
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Spoilern Konjunkturen
Begriff „Spoilers!“66 Kenney wollte die Lesenden mit seinen Enthüllungen von (zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon bekannten) Stoffen jedoch nicht mutwillig verärgern, sondern eher spielerisch sticheln. Dies lässt zumindest seine mitgelieferte Begründung vermuten. Demnach wären Spoiler wie eine Abkürzung zu verstehen, mit deren Hilfe Zeit und Geld gespart werden kann, weil das Ansehen oder Lesen eines Werks nicht mehr nötig ist.67 Trotz ihres satirischen Hintergrunds fand die Umdeutung des Verbs „(to) spoil“ raschen Einzug in die popkulturelle Auseinandersetzung mit Filmen und Serien. Mittlerweile haben sich Spoiler zu einem omnipräsenten Phänomen entwickelt, das Gespräche unter Freunden, die Lektüre von Tageszeitungen, die Gestaltung von Seminaren in Universitäten, das Verfolgen von Newsfeeds in sozialen Netzwerken und sogar die Produktion von Filmen und Serien beeinflusst. Die Gefahr von Spoilern lauert an jedem Ort: im Supermarkt und im Hörsaal, in der S-Bahn oder beim Spaziergang. Es werden Handlungsstränge ausgeplaudert, Staffel-Finals verraten, Serientode verpetzt. Von Fremden, Freunden oder der eigenen Familie.68
Vor dieser Allgegenwärtigkeit von Spoilern ist scheinbar nicht einmal ein amtierender US-Präsident geschützt, wie eine Kurznachricht belegt, die Barack Obama während seiner Amtszeit über seinen offiziellen Twitter-Account zum Start der zweiten Staffel der Politik-Serie HOUSE OF CARDS69 veröffentlichen ließ: „Tomorrow: @HouseOfCards. No spoilers, please.“70
66 Zimmer: Spoiler Alert! Revealing the Origins of the „Spoiler“. In: visualthesaurus.com.
Unter: https://www.visualthesaurus.com/cm/wordroutes/spoiler-alert-revealing-the-origins-ofthe-spoiler/ [aufgerufen am 13.05.2020]. Eigentlich erschien in der März-Ausgabe von National Lampoon bereits eine kurze Ankündigung auf den Spoiler-Text. In diesem Ausblick, der ebenfalls von Doug Kenney verfasst wurde, war an einer Stelle das Wort „spoiled“ zu lesen, sodass streng genommen dieser Hinweis als erste Verwendung gewertet werden müsste. Weil es sich hierbei jedoch lediglich um einen Meta-Text handelt und der Begriff erst im eigentlichen Beitrag eine prominente Platzierung erfuhr, kann dieser vernachlässigt werden. 67 Vgl. ebd. 68 Giammarco: Achtung, dieser Text enthält Spoiler. In: UniSpiegel, S. 21. 69 USA, 2013–2018. 70 Obama: Tweet vom 13.02.2014. In: Twitter.com. Unter: https://twitter.com/BarackObama/ status/434108103789793281?s=20 [aufgerufen am 08.04.2020].
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Spoilern Konjunkturen
Die Gründe für diese wachsende Präsenz insbesondere im Film- und Serienbereich sind in der Durchsetzung von Techniken und Wegen zu suchen, die es ermöglichen, Inhalte zeitsouverän und unabhängig von einem verbindlichen Programmablauf zu nutzen. Neben analogen und digitalen Aufzeichnungsgeräten kommen hierbei DVD-Boxen und internetbasierten OnDemand-Diensten zentrale Bedeutungen zu, mit denen Narrative auch noch „Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre nach ihrer erstmaligen Veröffentlichung verfolgt werden können“.71 Insbesondere leisten Anbieter wie Netflix, Amazon Prime Video oder Disney+ einen erheblichen Beitrag, die mit ihrem zentralen Versprechen „Whatever show you want, whenever you want, on whatever screen you want“72 eine Auflösung von verbindlichen Rezeptionszeiten zu ihrem Markenkern erhoben haben. Sie fördern das Ausbilden von individuellen Rezeptionsmustern und -geschwindigkeiten, die nicht durch feste Sendezeiten und -rhythmen gesellschaftlich miteinander synchronisiert werden. Je weniger Rezipient*innen denselben Text zur selben Zeit im selben Tempo und in derselben Taktung verfolgen, desto größer gerät der aus den „differenten Wissensbeständen“73 resultierende Raum für Spoiler. Die amerikanischen Autorinnen Lisa G. Perks und Noelle McElrath-Hart stellen das Phänomen zuvorderst in den Kontext des Fernsehens und verorten es dort in der sogenannten Post-Network-Era – also in jener Zeit, in der die Dominanz von rundfunkbasierten Fernsehsendern durch digitale Angebote und Anbieter beginnt, unter Druck zu geraten. Den Beginn dieser Phase datieren sie mit Verweis auf Amanda Lotz auf die frühen 2000er Jahre.74 Katalysiert wird der Prozess durch eine zeitgleich steigende Beliebtheit von Serien mit hoher Fortsetzungsdichte und -reichweite – also Serien mit Handlungsbögen, die mehrere Folgen umspannen und in denen das Auslassen einzelner Episoden das Gesamtverständnis des übergreifenden Plots erschwert.75 Ein
S
71 Meimaridis/Oliveira: The pleasure of spoiling. In: Participations, S. 274. 72 Lotz: The Television Will Be Revolutionized, S. 3. 73 Gothe/Leichner: Spoiler! In: Eisewicht/Grenz/Pfadenhauer (Hrsg.): Techniken der Zuge-
hörigkeit, S. 177.
74 Vgl. Perks/McElrath-Hart: Spoiler Definitions and Behaviors in the Post-Network Era. In:
Convergence, S. 138. – Sie beziehen sich hierbei auf: Lotz: The Television Will Be Revolutionized, S. 64. 75 Vgl. Weber/Junklewitz: Das Gesetz der Serie. In: MEDIENwissenschaft, S. 23 f.
543
Spoilern Konjunkturen
Merkmal, das ebenso auf die Produktion BREAKING BAD zutrifft, wodurch die Vorwegnahme von Handlungselementen einzelner Episoden nicht selten die Gesamtnarration der Serie berührt. Auseinandersetzungen mit Sitcoms wie I 76 LOVE LUCY , in denen die einzelnen Folgen in sich narrativ geschlossen sind, mussten sich hingegen nie um Spoiler sorgen.77 Die beginnende Etablierung einer zeitversetzten Nutzung von (Fernseh-)Serien mit episodenübergreifenden Handlungen bereitete folglich den fruchtbaren Nährboden für die baldige Ausbreitung des Phänomens auf Kinofilme, Computerspiele, Belletristik und nahezu alle übrigen medialen Umgebungen. Wurden Spoiler in der ersten Dekade des 21. Jhs. noch überwiegend in eigenen Threads auf speziellen Message-Boards oder in einschlägigen Foren fernab einer breiten Öffentlichkeit verhandelt, zirkulieren sie nun ebenso in sozialen Netzwerken und damit in weitgehend öffentlichen Räumen, die weltweit zugänglich sind. Dort werden offizielle Presse-Veröffentlichungen, journalistische Beiträge, Musikvideos, jubelnde Kommentare oder enttäuschte Tweets, ironische Gifs und kreative Memes, aber auch Informationen von Fan-Sites und Nachrichtenseiten aus der ganzen Welt von automatisierten Algorithmen oft ohne entsprechende Markierung (gewollt und ungewollt) permanent in die Timelines und Newsfeeds der Nutzenden gespült. Welche Auswirkungen ein fehlendes Bewusstsein für diese Prozesse haben kann, bekam der USKabelsender AMC am Zorn vieler Fans seiner Serie THE WALKING DEAD78 im Herbst 2014 zu spüren. Zuvor hatte er direkt nach der Fernsehpremiere der Folge CODA79, in der ein wichtiger Charakter stirbt, auf seinem TwitterAccount ein Foto veröffentlicht, auf dem die Leiche dieser Figur zu erkennen und mit einem eindeutigen Hashtag versehen war.80 Dabei aber orientierte sich der Kanal lediglich am Ausstrahlungstermin der US-amerikanischen Ostküste und übersah, dass wegen der Zeitverschiebung die entsprechende Episode an der Westküste noch nicht einmal begonnen hatte. Außerdem
76 77 78 79 80
USA, 1951–1957. Vgl. Kociemba: To Spoil or not to Spoil. In: Buffy in the Classroom (Re-Print), S. 4. USA, seit 2010. Staffel 5, Folge 8 – US-Erstausstrahlung am 30.11.2014. The Walking Dead on AMC: Tweet vom 01.12.2014. In: Twitter.com. Unter: https://twitter. com/WalkingDead_AMC/status/539252240595550210?s=20 [aufgerufen am 08.04.2020].
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Achtung: Dieser Text verrät Inhalte der aktuellen achten Staffel von „Game of Thrones“ und aus allen bisherigen Staffeln. Wer noch nicht alle Folgen gesehen hat und sich lieber überraschen lassen möchte, sollte hier wirklich aufhören zu lesen.83
Hunderte ähnliche Beispiele lassen sich mittlerweile quer durch alle Medienformen finden. Sie alle haben ihren historischen Ursprung rund um das Jahr 1980, als an mehreren Stellen die Verwendung von solchen Spoiler-Warnungen erstmals dokumentiert wurde. So sind derartige Hinweise auf der Mailinglist
Spoilern Konjunkturen
war die Botschaft auch von Fans in anderen Ländern zu empfangen, wo die Ausstrahlung der Szene erst Tage, Wochen oder gar Monate später anstand. Die massiven Proteste bewegten die Verantwortlichen letztlich dazu, sich im Rahmen eines weiteren Beitrags offiziell zu entschuldigen.81 Eine enorme Herausforderung stellt das Phänomen ebenso für viele Journalist*innen und Kritiker*innen dar, besteht deren Anspruch doch darin, Narrative fundiert zu rezensieren und über diese nicht nur vage und andeutungsreich zu schreiben.82 In der Post-Network-Era verfügen Serien und Filme jedoch über keinen verlässlichen Zeitpunkt mehr, an dem angenommen werden kann, dass sie allgemein bekannt sind. Für Journalist*innen ist es dadurch faktisch unmöglich, über die Handlung einer Serie frei zu sprechen oder zu schreiben. Als ein Ausweg hat sich das Voranstellen einer SpoilerWarnung (oder „spoiler alert“) durchgesetzt, wodurch – analog zum Gong in der SPORTSCHAU – die Offenbarung relevanter Handlungselemente angekündigt wird. Ein solcher Hinweis findet sich längst flächendeckend in nahezu allen film- oder serienbezogenen Publikationen. So auch in einer Rezension des Finales von GAME OF THRONES:
S
81 Vgl. The Walking Dead: Post vom 01.12.2014. In: Facebook.com. Unter: https://www.
facebook.com/TheWalkingDeadAMC/posts/we-heard-your-feedback-to-last-nights-postand-were-sorry-with-zero-negative-int/1100589709967186/ [aufgerufen am 08.04.2020]. 82 Vgl. Perks/McElrath-Hart: The Television Spoiler Nuisance Rationale. In: International Journal of Communication, S. 5590. 83 Mansholt: Das Finale von „Game of Thrones“. In: Stern.de. Unter: https://www.stern.de/ kultur/tv/game-of-thrones-finale-in-der-kritik--ein-ende-mit-schrecken-8717688.html [aufgerufen am 08.04.2020].
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Spoilern Konjunkturen
SF-Lovers84 in Diskussionen im Zusammenhang mit dem Film STAR TREK – 85 86 THE MOTION PICTURE wiederholt ausgerufen worden. Eine weitere Quelle steht ebenfalls im Zusammenhang mit Raumschiff Enterprise, denn in einer Newsgroup von Usenet waren nur wenige Tage nach der Veröffentlichung von 87 STAR TREK II: THE WRATH OF KHAN mehrere Kommentare, in denen Details zur Story des Films besprochen wurden, mit einem Spoiler-Alarm („SPOILER ALERT“) versehen.88 Darüber hinaus hat der Autor Spider Robinson in seinen Buchrezensionen, die er zu jener Zeit für das Magazin Destinies: The Paperback Magazine of Science Fiction and Speculative Fact verfasst hat, ebenfalls Spoiler-Warnungen platziert, sobald er darin über das Ende einer Geschichte schrieb.89 Ob in den 80er Jahren oder heute – mit der Setzung eines solchen Spoiler-Alarms verbindet sich die absurde Konstellation, dass Autor*innen darin ausdrücklich davon abraten, ihre eigenen Texte zu lesen. Dies aber sei „ein Opfer“, das sie bereitwillig erbringen würden, um die Gefahr einer möglichen Verärgerung ihrer Zielgruppen zu minimieren.90 Wie schwer eine Missachtung dieser Konvention wiegt, zeigt die Reaktion des Journalisten Thomas Lückerath, der der Verfasserin der verfrühten BREAKING BAD-Kritik in der FAZ eine „Medieninkompetenz“ bescheinigt.91 In dieser Formulierung kommt zum Ausdruck, dass das Vorhandensein einer Sensibilisierung für Spoiler und 84 Hierbei handelt es sich um eine Mailing-Liste für Science-Fiction-Fans, die von Roger
Duffy vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) im Jahr 1980 gegründet wurde.
85 USA, 1979. 86 Vgl. Zimmer: Spoiler Alert! Revealing the Origins of the „Spoiler“. In: visualthesaurus.com.
Unter: https://www.visualthesaurus.com/cm/wordroutes/spoiler-alert-revealing-the-originsof-the-spoiler/ [aufgerufen am 13.05.2020]. 87 USA, 1982. 88 Vgl. Freeman: The History and Use of „Spoiler Alert“. In: theawl.com. Unter: https://www. theawl.com/2010/07/the-history-and-use-of-spoiler-alert/ [aufgerufen am 13.05.2020]. 89 Vgl. McCool: When National Lampoon Magazine Dropped The Atom Bomb Of Spoilers. In: techtimes.com. Unter: https://www.techtimes.com/articles/117575/20151218/whennational-lampoon-magazine-dropped-atom-bomb-spoilers.htm [aufgerufen am 13.05.2020]. 90 Vgl. Perks/McElrath-Hart: The Television Spoiler Nuisance Rationale. In: International Journal of Communication, S. 5592. 91 Vgl. Lückerath: „FAZ“ versaut Serienfans das „Breaking Bad“-Finale. In: DWDL.de. Unter: http://www.dwdl.de/nachrichten/42837/faz_versaut_serienfans_das_breaking_badfinale/ [aufgerufen am 08.04.2020]. [Herv. v. C.R.]
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GEGENBEGRIFFE Der Spoiler steht in einer engen Wechselbeziehung mit
dem Teaser, wodurch sich das Necken – (to) tease – als Antagonist gegen das Verderben – (to) spoil – in Stellung bringen lässt. Ein Teaser stellt ähnlich wie ein Spoiler Informationen vorab bereit, er tut dies aber behutsam und in kleinen Dosen, um gezielt das Interesse an einem Gegenstand zu erwecken. Insbesondere in Bezug auf erotische Ausprägungen wie beim Strip-Tease bietet er nur eine beschränkte Vorschau und entreißt diesen Einblick spätestens kurz vor der Erfüllung der Begierde wieder.92 Der Höhepunkt wird bewusst ausgelassen. Die Kunst eines gelungenen Teasers liegt im Liebesspiel wie in einer Kinovorschau also darin, das richtige (Aus-)Maß der Vorschau auszutarieren.
Spoilern Gegenbegriffe
die Formulierung entsprechender Warnungen bereits zum gesellschaftlichkonsensualen Set an Fertigkeiten und Fähigkeiten für den Gebrauch von Medien gehört. Eine Kompetenz, die das Team der SPORTSCHAU mit ihrem Lembke-Gong bereits im Jahr 1970 erfolgreich nachweisen konnte. Mit der Aufforderung, einen Text erst zu lesen, wenn die zugehörige Geschichte bekannt ist, wird für ihn zugleich eine Sperrfrist ausgerufen, die jedoch keinem verbindlichen und fixierten Termin entspricht. Stattdessen besteht diese für jede*n Rezipient*in individuell und ist an den jeweiligen Zeitpunkt gekoppelt, an dem das Individuum bereit ist, sich informieren zu lassen. Die Einhaltung der Frist wird nicht durch einen Programmplan oder ein Veröffentlichungsdatum von außen diktiert. Vielmehr gestaltet sie sich dynamisch und verlagert ihre Einhaltung in den Bereich einer eigenverantwortlichen Selbstkontrolle. Möglich wird eine solche Verfahrensweise einzig dadurch, dass in der Post-Network-Era nicht nur die betreffenden Sendungen, sondern auch die zugehörigen Berichte im Internet (nahezu) unbegrenzt vorgehalten und zeitsouverän abrufbar sind. Wann man erfährt, wie die Serie BREAKING BAD endet, hängt im Idealfall also nicht von einem Sendeplan oder einem Veröffentlichungsdatum ab. Dies obliegt neben der Wirkmächtigkeit der gewählten Vermeidungsstrategien auch der eigenen Willenskraft, sich den räuberischen Spoilern widersetzen zu können.
S
92 Vgl. Whitman: Teased and Spoiled. In: visualthesaurus.com. Unter: https://www.
visualthesaurus.com/cm/dictionary/teased-and-spoiled/ [aufgerufen am 13.05.2020].
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Spoilern Gegenbegriffe
Insofern vollzieht sich zwischen dem Teasern und Spoilern eine permanente Aushandlung, welche Informationen und Details angeboten werden, dass diese gerade noch Neugier evozieren, aber die Spannung (an) der Erzählung nicht schon verderben. Eine andere Möglichkeit, einen Gegenbegriff zu finden, ermöglicht ein Blick auf die Einwände, die dem zuvor dargestellten Verständnis von Spoilern entgegengebracht werden. Etwa lautet eine Position, dass der Präsenz von Spoilern grundsätzlich weniger Bedeutung beizumessen ist. Schließlich – so die zugrunde liegende Kritik – werde dadurch das Augenmerk auf den Ausgang eines Plots oder auf seine (vermeintlich) effektvollen Wendungen gelegt und ästhetische Eigenschaften der Erzählung wie Stil oder Form würden in den Hintergrund gedrängt.93 Die Autorin Laura Carroll stellt eine schädliche Wirkung von Spoilern indessen generell in Frage, denn eine gut erzählte Geschichte hielte jahrzehntelangem Gebrauch und Missbrauch stand.94 Unterstützung erhält sie darin von Noël Carroll, der feststellt, dass viele Menschen fiktionale Stoffe mehrfach mit der gezielten Erwartung rezipieren würden, die einmal als angenehm empfundenen Gefühle und Spannungen bei der wiederholten Lektüre noch einmal erleben zu können.95 Entsprechend können 96 STAR-WARS -Fans die zugehörigen Filme immer wieder genießen, obwohl ihnen längst bekannt ist, in welchem Verhältnis die Figuren Luke Skywalker und Darth Vader zueinander stehen. Daran anknüpfend lassen einige empirische Untersuchungen (zum Beispiel von Jonathan D. Leavitt und Nicholas J. S. Christenfeld) vermuten, dass Spoiler die Rezeption eines Textes nicht verderben, sondern unterhaltsamer machen, weil sie zu einem besseren Verständnis einer Geschichte beitragen können.97
93 Vgl. Rosenbaum: In defense of spoilers. In: jonatahrosenbaum.net. Unter: https://www.jo-
nathanrosenbaum.net/2018/05/in-defense-of-spoilers/ [aufgerufen am 06.03.2020].
94 Vgl. Carroll: Cruel Spoiler, the Embosom’d Foe. In: The Valve. Archiviert unter: https://
web.archive.org/web/20051219122559/http://www.thevalve.org/go/valve/article/cruel_spoiler_that_embosomd_foe/ [aufgerufen am 08.04.2020]. 95 Vgl. Carroll: The Paradox of Suspense. In: Vorderer/Wulff/Friedrichsen (Hrsg.): Suspense, S. 73. 96 USA, seit 1977. 97 Leavitt/Christenfeld: The fluency of spoilers. In: Scientific Study of Literature, S. 102.
548
Mit seiner Kraft, das Publikum von solch quälenden Fragen zu befreien, wer den Mord begangen hat oder welchen Verlauf das Schicksal von Walter White nimmt, vermag die Vorwegnahme der Auflösung zudem ästhetische Elemente und erzählerische Qualitäten zu offenbaren, die zuvor verdeckt blieben. Dieses Abziehen der narrativen Oberhaut kann den Blick etwa auf die Zeichnung der Charaktere, auf eine bildhafte und poetische Sprache oder auf die durch den Text ausgelösten emotionalen Erfahrungen freilegen. Auf diese Weise könne sich ein größeres Vergnügen einstellen, das vergleichbar wäre mit einer Fahrt zu einem vertrauten Ziel, bei dem weniger auf die Schilder geachtet und daher die Landschaft mehr genossen werden kann.99 Die Menschen würden demnach ihre Zeit verschwenden, wenn sie Spoilern absichtlich aus dem Weg gehen.100 Obwohl die Autor*innen Benjamin Johnson und Judith Rosenbaum die Ergebnisse von Leavitt und Christenfeld in einer Replikation der Studie nicht bestätigen können, halten sie es dennoch für möglich, dass die Kenntnis von Spoilern dazu beitragen kann, mehr Augenmerk auf Details der Geschichte zu legen, die sonst übersehen würden, und dadurch die Erzählung in ihrer Gänze besser nachvollzogen werden könne. Dies aber sei in ihren Augen nicht zwingend damit gleichzusetzen, dass die Story insgesamt als bewegender wahrgenommen und deren Rezeption als genussvoller empfunden wird.101 In der Regel enthüllen Spoiler nur das „Was“, aber nicht das „Wie“,102 wodurch sich der Anlass der ausgelösten Spannung verlagert. Im Interesse
Spoilern Gegenbegriffe
When a story begins, people and places are introduced, and a reader who knows what roles they will play by the denouement can make better, more confident inferences regarding their qualities and relevance. When a story ends, its various elements are resolved, and a reader who has made correct inferences along the way — while ignoring red herrings — is better able to comprehend and integrate them.98
S
98 Ebd., S. 94. 99 Vgl. ebd. 100 Vgl. Leavitt/Christenfeld: Story Spoilers Don’t Spoil Stories. In: Psychological S cience,
S. 1153.
101 Vgl. Johnson/Rosenbaum: Spoiler Alert. In: Communication Research, S. 1081. 102 Gray: Show Sold Separately, S. 150.
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Spoilern Perspektiven
steht dann weniger, welche Handlungspunkte die Charaktere absolvieren, sondern wie diese dorthin gelangen. Zu beobachten ist dieser Effekt im Film 103 AMERICAN BEAUTY , wenn darin die Hauptfigur Lester Burnham bereits in der ersten Minute spoilert, dass sie innerhalb eines Jahres sterben wird. Durch die Vorwegnahme des Plot-Höhepunkts gleich zu Beginn baut sich über den gesamten Verlauf des Films eine Spannung auf, die sich nicht aus der Unkenntnis des Endes generiert. Stattdessen wirft jeder dargestellte Konflikt, jeder Dialog und jede Szene die Frage auf, inwieweit diese zum Ableben der Figur beitragen. Ein anderes Beispiel lieferte die Ausgabe vom 03. Juni 2019 der US-amerikanischen Quizshow JEOPARDY104. Am Tag vor ihrer Ausstrahlung wurde bekannt, dass darin der bislang überlegene Kandidat James Holzhauer nach einer monatelangen Siegesserie geschlagen würde. Dieser Spoiler verprellte das Publikum nicht etwa, sondern weckte landesweit das Interesse daran, wie und von wem der übermächtige Spieler bezwungen wird, was der Sendung letztlich die höchste Sehbeteiligung seit 14 Jahren bescherte.105 Dieser Argumentation folgend, erfährt der Begriff spoilern eine funktionelle Umdeutung. Galt er zuvor als ein Verfahren, etwas zu ruinieren – vergleichbar mit dem Verderben von Milch –, wird er nun mit dem Prozess einer Veredelung oder Bereicherung in Verbindung gebracht und trägt damit seinen eigenen Gegenbegriff bereits in sich. Anstatt das Spoilern als einen räuberischen und disruptiven Akt aufzufassen, durch den der Genuss eines Textes verdorben wird, kann die Vorwegnahme von Handlungsdetails ebenso als ein Fermentationsprozess gedacht werden, der den Geschmack zwar verändern, aber dessen Köstlichkeit nicht mindern kann.106 PERSPEKTIVEN Aus den erläuterten Mechanismen ergibt sich eine zentrale Problematik, die der Journalist Markus Ehrenberg pointiert zusammenfasst: „Wie soll man über einen Film, eine Geschichte hinreichend schreiben,
103 USA, 1999. 104 USA, seit 1984. 105 Vgl. Thorne: TV Ratings. In: Variety.com. Unter: https://variety.com/2019/tv/news/tv-
ratings-jeopardy-1203232807/ [aufgerufen am 08.04.2020].
106 Vgl. Perks/McElrath-Hart: Spoiler Definitions and Behaviors in the Post-Network Era. In:
Convergence, S. 149.
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107 Ehrenberg: Bitte, bitte, nichts verraten! In: Tagesspiegel.de. Unter: https://www.tagesspiegel.
Spoilern Perspektiven
im Gesamteindruck, ohne das Ende in seine Beurteilung mit einfließen zu lassen?“107 Ist es dementsprechend zulässig, im Wikipedia-Artikel zum Theaterstück 108 THE MOUSETRAP die Auflösung des Mordfalls zu verraten? Mathew Prichard, der Enkel von Agatha Christie, verneint dies und versucht seit Längerem gegen eine Passage im entsprechenden Beitrag vorzugehen.109 Zugleich ist es fraglich, ob ein Angebot wie Wikipedia, das sich selbst als Lexikon versteht, bei der vollständigen Beschreibung des Werks auf diese Information überhaupt verzichten kann. An solche Überlegungen schließen sich unweigerlich weitere Fragen an. Ab wann darf in der Post-Network-Era über die Handlung eines Films oder einer Serie vollständig gesprochen werden, ohne dass man sich selbst zum potentiellen Spielverderber macht? Ab wann darf ein Szenenfoto aus dem Finale von BREAKING BAD in einer Zeitung abgedruckt werden? Darf das Ende von PSYCHO mittlerweile verraten werden? Wäre es vertretbar, im vorliegenden Artikel abzudrucken, wer Laura Palmer in TWIN PEAKS getötet hat und wer als Mörder im HALSTUCH entlarvt wird? Oder anders gefragt, wie früh ist zu früh, um öffentlich nicht nur andeutend über Bücher, Filme, Serien oder Spiele zu sprechen? Um für die Handhabung von Spoilern zumindest auf journalistischer Ebene einen Konsens herzustellen, haben Autor*innen wie Dan Kois110 und Darren Franich111 begonnen, detaillierte Regelwerke zu entwickeln, die jeweils konkrete Sperrfristen und
S
de/gesellschaft/medien/spoiler-alarm-bitte-bitte-nichts-verraten/9121426.html [aufgerufen am 08.04.2020]. 108 (Art.) The Moustrap. In: wikipedia.org (Englische Ausgabe). Unter: https://en.wikipedia. org/wiki/The_Mousetrap [aufgerufen am 27.07.2021]. 109 Vgl. Cohen: Spoiler Alert: Whodunit? In: New York Times Online. Unter: https://www.nytimes. com/2010/09/18/business/media/18spoiler.html?_r=1&adxnnl=1&adxnnlx=1284931453Cougj2fpRsBoD+tJX2gG5g [aufgerufen am 21.02.2020]. 110 Kois: The Official Vulture Statutes of Limitations. In: Vulture.com. Unter: https://www. vulture.com/2008/03/spoilers_the_official_vulture.html [aufgerufen am 21.02.2020]. 111 Franich: The New Rules of Spoilers. In: ew.com. Unter: https://ew.com/article/2014/02/20/ spoiler-rules-entertainment-geekly/ [aufgerufen am 21.02.2020].
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Spoilern Perspektiven
Veröffentlichungsfreigaben nach verschiedenen Medienformen sortiert auflisten.112 Es bleibt dabei jedoch angesichts der Feststellung, dass die Bewertung eines Spoilers für jeden Text, jeden Menschen, jeden Zeitpunkt und jede Information individuell verschieden ist, offen, ob ein solches Vorhaben überhaupt erfolgsversprechend und sinnvoll ist. Die aufgeworfenen Fragen beschränken sich allerdings längst nicht nur auf Zeitungsartikel, sie berühren ebenso den akademischen Diskurs, weil sich auch für wissenschaftliche Publikationen, fachliche Konferenzen und universitäre Seminare die Frage stellt, wie viel dort jeweils von einer Handlung thematisiert werden darf. Mehr noch, sie legen eine viel umfassendere Fragestellung frei: Wie kann angesichts allgegenwärtiger Sprechverbote überhaupt noch über irgendeine Geschichte frei gesprochen werden? Was sich hier abzeichnet, ist nämlich nichts Geringeres als ein substanzieller Wandel in der diskursiven Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur per se. Die Thematisierung von Werken aller Art geht demzufolge lediglich in vagen Andeutungen auf oder erfolgt vorbehaltlich einer individuellen Freigabe, wodurch auch der Zugang zu Forschungsergebnissen an die vorherige und vollständige Kenntnis des untersuchten Textes geknüpft ist. Noch ist kaum abschätzbar, was diese Entwicklung für unsere reichhaltige Kultur und den Umgang mit ihr bedeuten kann oder welche gesellschaftlichen Konsequenzen es birgt, wenn sich der Mensch in der Beschäftigung mit seinen Erzählkulturen nur noch gefahrlos auf die Anfänge seiner Geschichten reduzieren kann. Lediglich eine Erkenntnis scheint gesichert zu sein: „[T]hat way of watching TV, where everything is just a complete pure innocent surprise every week, is probably dead.“113
112 So schlagen sie für Fernsehserien, deren neue Episoden in einem wöchentlichen Rhythmus
erscheinen, eine Zeitspanne von 24 Stunden vor, in der nicht über deren Ausgang gesprochen werden darf. Für Serien, deren Staffeln in Gänze veröffentlicht werden, gewähren sie hingegen eine Woche für die ersten vier Folgen, eine weitere Woche für die Folgen fünf bis acht und insgesamt drei Wochen für die vollständige Staffel. Über die komplette Handlung von Kinofilmen dürfe demnach frühestens am zweiten Montag nach dem Kinostart berichtet werden. 113 Kirsten Baldwin, zit. n.: Nussbaum: The End of the Surprise Ending. In: New York Times Online. Unter: https://www.nytimes.com/2004/05/09/arts/television-the-end-of-the-surpriseending.html [aufgerufen am 21.02.2020].
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FORSCHUNG Die Aushandlung mit dem Umgang von Spoilern und Aus-
Spoilern Forschung
einandersetzungen mit dem Phänomen wird, so verfestigt sich der Eindruck, wiederkehrend im Umfeld von Zuschauenden und Journalist*innen geführt. Insofern umfasst der Diskurs auch zwingend diese Entwicklungslinien. In der akademischen Forschung erfährt das Thema bislang keine flächendeckende Berücksichtigung und findet allenfalls als Randphänomen statt. Entsprechend werden die wenigen wissenschaftlichen Behandlungen – überwiegend empirische Untersuchungen oder Interviewstudien – oft im Zusammenhang mit Fan-Kulturen oder zu spezifischen, meist angloamerikanischen Serien verhandelt. Der geringe Umfang des Diskurses dürfte auch darin begründet sein, dass Spoilern als mediale Praktik erst ab Beginn des neuen Jahrtausends im Zusammenhang mit der akademischen Aufwertung der televisuellen Serialität in den Blick gerät. Infolge dieser jungen Geschichte fehlt es noch an einer systematischen Historisierung des Phänomens ebenso wie an einer Kulturgeschichte des Verderbens.
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STREAMEN MATTHIAS BICKENBACH
Streamen Anekdote
ANEKDOTE 1991 begann in einem Rechenlabor der Universität Cambridge
S
eine Kamera, periodisch aktualisierte Bilder der Kaffeemaschine im Flur des Trojan Rooms aufzunehmen. Sie sollte Wissenschaftlern den womöglich vergeblichen Gang zur leeren Kanne ersparen. Die 128 x 128 Pixel großen Graustufenbilder wurden mit einem eigens entwickelten Remote Procedure Call Protokoll, einem Serverprogramm und einer Clientanwendung namens XCoffee im lokalen Netz zugänglich gemacht, bevor sie im November 1993 über das Internet für jedermann ohne zusätzliche Software abrufbar waren. Diese erste Webcam und der erste Stream der Internetgeschichte wurden legendär. Als er 2001 abgeschaltet wurde, erzielte die nun berühmteste Kaffeemaschine der Welt 3500 Pfund Sterling auf einer Versteigerung. Sie steht heute als Dauerleihgabe von Spiegel Online im Heinz Nixdorf MuseumsForum in Paderborn.1 Diese Urgeschichte des Streamens über den Trojan Room Coffee Pot enthält zwei konstitutive Merkmale dieses Mediengebrauchs, der inzwischen so erfolgreich und normal geworden ist, dass er kaum reflektiert wird. Man ‚holt‘ sich Musik oder Filme ‚on demand‘ auf seinen Laptop, Computer oder Smart-TV, der Download oder der Kauf von Speichermedien wie CD oder DVD entfällt. Streamen hat einen neuen Markt und ein Konkurrenzmedium für die Musik- und Filmindustrie sowie für Radio und Fernsehen geschaffen. Die Urgeschichte erzählt von der Bequemlichkeit, aber auch vom datentechnischen Aufwand, der notwendig ist, ohne dass dieser für den Endverbraucher sichtbar würde. Live-Streams oder der Abruf von Serien und Filmen aus dem Angebot verschiedener Streamingdienste basieren auf Codecs und Protokollprogrammen, deren Standards beim Download noch angezeigt werden (etwa mp3 oder wma, mpeg4 oder mov), während sie im Stream unsichtbar bleiben. Das ist bequem, doch die Folgen sind tiefgreifend. Daher muss eine zweite
1
Vgl. o.A.: Die Geschichte der berühmtesten Kaffeemaschine der Welt. In: Spiegel Online. Unter: https://www.spiegel.de/netzwelt/web/trojan-maschine-die-geschichte-der-beruehmtesten-kaffeemaschine-der-welt-a-186921.html [aufgerufen am 18.08.2020].
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Streamen Anekdote
Anekdote von den psychischen und nicht zuletzt kulturellen Konsequenzen erzählt werden. Es ist eine Erfahrung aus einer von der Internetgeneration lange vergessenen Welt. In einem Brief an seinen Freund Wackenroder schreibt der später berühmte Romantiker Ludwig Tieck am 12. Juni 1792, „wenn du recht glücklich sein willst auf mehrere Stunden, so lies den zweiten Teil vom ‚Genius‘“.2 Zu dieser Zeit sind Romane die probaten Medien, um in andere Welten einzutauchen. Doch es bleibt nicht beim Genuss der Immersion. Denn Tieck schreibt weiter, er befürchte „schlimmer als krank“ zu werden. Die Beglückung und etwas Schlimmeres als Krankheit, nämlich Wahnsinn, so stellt sich heraus, haben dieselbe Quelle in dem empfohlenen Schauer- und Verschwörungsroman DER GENIUS von Carl Grosse. In ihm überwacht eine Geheimgesellschaft den Protagonisten und manipuliert sein Leben. Der Roman ist so geschrieben, dass auch der Leser nie weiß, ob die Geschehnisse nicht schon Teil der Verschwörung sind. Tieck ist von dem Roman so begeistert, dass er zwei Freunden die ersten beiden Bände in voller Länge laut vorliest – über zehn Stunden lang. Danach fühlt er sich merkwürdig: „[A]lle Szenen wiederholten sich vor meinen Augen“. Er empfindet dies zunächst noch, als sei er in die „lieblichsten Träumen eingewiegt“, doch die Stimmung schlägt um, als er sich zur Ruhe legen will: „[M]ein Zimmer war, als flöge es mit mir in eine fürchterliche schwarze Unendlichkeit“.3 Er halluziniert, sieht Totenköpfe und Särge. Schließlich stürzt er sich „brüllend“ auf seine Freunde im Nebenraum und will sie erstechen – womit er eine Szene aus dem Roman wiederholt. „Ich war auf einige Sekunden wirklich wahnsinnig“, berichtet er seinem Freund. Man überwältigt ihn und bringt ihn in sein Zimmer zurück. Dann heißt es: „Sobald ich die Augen zumachte, war mir, als schwämme ich auf einem Strom, als löse sich mein Kopf ab und schwämme rückwärts, der Körper vorwärts – eine Empfindung, die ich sonst noch nie gehabt habe“.4 Tiecks Geschichte lässt sich als Warnung vor exzessivem Medienkonsum verstehen. Im historischen Kontext zeigt sie die Gefahr der „Lesewut“ als
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Tieck: Brief an Wackenroder (12.6.1792). In: Günzel: König der Romantik, S. 100. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103.
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Streamen Etymologie
Überreizung der Fantasie durch Romanlektüre auf, vor der damals noch gewarnt wurde. Doch das unheimliche Bild eines den Körper und Geist in verschiedene Richtungen treibenden Stromes lässt sich retrospektiv nicht nur als Darstellung der Dissoziation von Realem und Imaginären lesen, sondern stellt die mediale Grundstruktur des Streamens heraus: die Einheit von Downstream und Upstream, die sich im Mediengebrauch verbirgt. Während unsere Köpfe gleichsam rückwärts schwimmen, wenn sie filmische oder musikalische Inhalte genießen, fließen mit demselben Strom unsere digitalen Körper der Accountund Nutzerdaten vorwärts zu den Servern, Firmen und Werbepartnern, die unser Nutzerverhalten analysieren und uns Profile erstellen. Wie in Grosses Verschwörungsroman ermöglicht dieser doppelte Strom, dass unsere nächste Entscheidung bereits einkalkuliert ist. Streamen darf daher nicht mit dem Abruf von Inhalten zur bequemen Verfügung verwechselt werden, sondern es ist exemplarisch für die neue Kostenstruktur digitaler Angebote, die nur zum Teil mit Geld bezahlt werden. ETYMOLOGIE Die neudt. Wortbildung des schwachen Verbs streamen ist vom
Engl. „to stream“ abgeleitet.5 Sie nutzt damit eine Wassermetaphorik, um die Macht eines großen Flusses oder eben Stromes auf den Datenfluss anzuzeigen. Etymologisch gehen „Strom“ und „strömen“ in nahezu allen indogerm. Sprachen auf die Wortwurzel „sreu“ (fließen) zurück.6 Fließen, Fluss und Strom bezeichnen dabei die Bewegung des Wassers selbst und zugleich ihre Form – als fließende Gewässer i. U. zu stehenden Gewässern. Doch Fluss und Strom stehen dabei in einem Steigerungsverhältnis. Einen Bach als Strom zu bezeichnen, ist nicht mehr gebräuchlich. Dem Strom kommt die Qualität eines besonders großen Flusses zu. Er ist eine „elementare Naturkraft“, die „furcht einflöszt“,7 da ihm der Mensch ohnmächtig gegenübersteht. Erst durch die Begradigung und Regulierung seit dem späten 19. Jh. verlor der Strom seinen Schrecken weitgehend, sprachlich aber bleibt der „reißende“ oder der „über die Ufer“ tretende Strom bis heute bekannt. Die Bedeutung 5 Der DUDEN weist es als Wortgebrauch für EDV aus, vgl. (Art.) streamen. In: Duden on-
line. Unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/streamen [aufgerufen am 20.08.2020]. (Art.) strom. In: Grimm, Sp. 1. Ebd., Sp. 9.
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Streamen Etymologie
der unkontrollierbaren Naturgewalt wird auch auf andere Bereiche (etwa „Flüchtlingsstrom“) und nicht zuletzt auf Emotionen übertragen: Tränen strömen ebenso wie Aggression, Wut, Trauer oder Glück jemanden durchströmen. Die Metapher streamen funktioniert nicht nur durch ihre Anschaulichkeit, sondern profitiert von der positiven Konnotation (mächtiger Fluss), jedoch ohne die ursprünglich negativen Bedeutungen aufzurufen. Sie ist daher Teil eines offenkundigen Sprachwandels. Strömen wird zudem als stetige Bewegung in eine Richtung verstanden. Auch die Strömungen des Meeres sind sprachlich (nicht aber physikalisch!) als Bewegung „in dauernd gleicher richtung“ begriffen.8 Hieraus kann die Leitdifferenz der Redewendung „mit dem“ oder „gegen den“ Strom entstehen, die sich metaphorisch dann auf ‚Strömungen“ etwa der Kultur oder Mode anwenden lässt, in denen man mit oder gegen den Mainstream schwimmt. Die physikalische Strömungslehre (Fluidmechanik) weiß allerdings um die enorme innere Komplexität der Dynamik von Flüssigkeit oder Gasen, die Wirbel und Gegenrichtungen innerhalb der Gesamtbewegung kennt. Bis heute sind detaillierte digitale Simulationen von Strömungen Berechnungen, die auch Supercomputer an ihre Grenzen bringen und nur durch Reduktion von Komplexität möglich. Diese Komplexität wird sprachlich jedoch kaum repräsentiert, so dass streamen als Begriff für den Fluss von Daten in großen Mengen so sinnfällig und anschaulich ist, dass die Metapher in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. Allerdings suggeriert sie einen mächtigen, aber beherrschbaren „Strom“, dessen datentechnische Komplexität ebenso verborgen bleibt wie die einstige Konnotation der Gefahr. Nicht zuletzt die Differenzierung von Up- und Downstream erweist die Metapher als zu einfaches Denkbild. Die Bewegung des Strömens wird seit dem 18. Jh. auch auf andere Flüssigkeiten und Gase sowie auf damals noch unerklärliche Phänomene wie Magnetismus und nicht zuletzt auf Elektrizität übertragen, die seitdem „Strom“ heißt. Auch Menschenmengen als strömende Masse oder künstlerische „Strömungen“ innerhalb einer Epoche sind im Sprachgebrauch üblich geworden
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Ebd., Sp. 3.
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Streamen Kontexte
und zeigen das Dynamische und gleichsam Mitreißende ebenso an wie eine gewisse Vergänglichkeit im Kontrast zu (vermeintlich) ‚festen‘ Werten. Streamen als Mediengebrauch ist Teil dieses verbreiteten kulturellen Sprachgebrauchs und profitiert von den anschaulichen, positiven Konnotationen. Die Wassermetaphorik suggeriert eine gleichsam natürliche Kraft, Mühelosigkeit und Verfügbarkeit; Metaphern, die zur Etablierung neuer Medien beitragen und für die das Internet viele Beispiele kennt (Explorer, Surfen, Kanal, Datenmeer etc.).9 Geradezu entgegen des älteren Bildes vom unbeherrschbaren Strom bezeichnet streamen so den bequemen und reibungslosen Empfang und kann daher als Endpunkt einer positiven Umwertung angesehen werden. KONTEXTE Streamen ist unmittelbar mit der jüngeren Entwicklung des Internets verbunden und in den letzten Jahren u.a. mit dem Erfolg von Netflix populär geworden. Inzwischen ist es ein von internationalen Großkonzernen stark umkämpfter Markt, in dem eine zunehmende Zahl von Streamingdiensten Abonnements oder freie Zugänge für den Abruf von Serien, Filmen oder Livestreams anbieten und damit zur Alternative zu Fernsehprogrammen, aber auch zum Kino geworden sind. Die Grenzen zwischen Online-Videotheken, Mediatheken, Webcasts und Fernsehsendern im Livestream verschwimmen. Der Markt ist unübersichtlich geworden, eröffnet aber auch Chancen für spezialisierte Angebote – von Sport bis europäische Filmkunst –, während globale Konsortien wie Amazon Prime, Disney+ oder Apple TV mit Netflix nicht nur im Angebot, sondern auch bezüglich der Produktion neuer Serien und Filme konkurrieren. Streamen hat für die Fernseh- und Filmbranche Konsequenzen. Sie betreffen Produktion, Vertrieb und Serien-Formate gleichermaßen wie Stars und die Regeln von Preisverleihungen wie dem Grammy oder dem Oscar. Die öffentlichen Rundfunkanstalten wiederum reagieren mit Mediatheken und Livestreams und erweitern so ihr Angebot. Dieser Kontext der Filmbranche bestimmt weitgehend die öffentliche Wahrnehmung und verengt den Blick auf Video-on-demand, während streamen ebenfalls für Musik einerseits sowie andererseits nicht zuletzt für Livestreams und Videokonferenzen zum täglichen Mediengebrauch geworden ist. Die
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Vgl. Bickenbach/Maye: Metapher Internet.
Streamen Kontexte
Musikindustrie hatte streamen als neues Geschäftsmodell etabliert, nachdem digitale Formate wie mp3 die Ablösung der Musik von Tonträgern so vereinfacht hatte, dass Peer-to-Peer-‚Tauschbörsen‘ den Kauf und das Copyright umgehen konnten.10 Mit dem schwedischen Anbieter Spotify hat sich ein Markführer etabliert, der wiederum mit Großkonzernen wie Apple Music oder Amazon Prime konkurriert.11 In einem anderen Kontext sind Videokonferenzen als Livestream durch die Corona-Krise 2020 zum verbreiteten Mediengebrauch geworden. Obwohl diese Funktion u.a. durch Skype bereits seit langem eingeführt war, etablierte sich in der globalen Krise die Videokonferenz als Anwendung auch für Bildung, Wirtschaft, Politik und ‚Home office‘. Die Organisation internationaler Konferenzen oder von Parteitagen wird erstmals als Stream durchgeführt. Dies lässt auch bislang kaum genutzte Anwendungen – etwa Tele-Medizin oder Online-Unterricht – in den Blickpunkt geraten. Technisch entwickeln sich Streaming Media seitdem das Word Wide Web als grafische Oberfläche private Internetprovider ermöglicht. Etliche Vorformen wie Webradio und Webcast oder Liveübertragungen entstehen schon um 1995.12 Das NetAid-Konzert überträgt 1999 erstmals elf Stunden Musik in 132 Länder über das Internet. Dass sich der (bis heute bestehende) Videoverleih von Netflix zum global agierenden Online-Anbieter entwickelt hat, zeigt exemplarisch nicht nur den technischen, sondern auch einen paradigmatischen kulturellen Wandel auf.13 Kulturtechnisch etabliert streamen den Gebrauch von Musik und Filmen ‚on demand‘ in Echtzeit ohne vorherigen Download. Damit etabliert es eine Form des Konsums zwischen dem Kauf von Inhalten auf Speichermedien und der Nutzung des Programmangebots von Sendeanstalten. Was sich dabei ändert,
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10 Vgl. Dörr/Benlinan/Vetter: Music as a service as an alternative to music piracy? 11 Vgl. Wlömert/Papies: On‐demand streaming services and music industry revenues – In-
sights from Spotify’s market entry. Vgl. für 2017: Spotify hält Apple Music auf Abstand. In: statista. Unter: https://de.statista.com/infografik/8410/spotify-und-apple-musicabonnenten [aufgerufen am 14.06.2017]. 12 Vgl. (Art.) Geschichte und Entwicklung des Streaming Media. In: wikipedia. Unter: https:// de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_und_Entwicklung_des_Streaming_Media [aufgerufen am 18.08.2020]. 13 Vgl. Heger: Filme im Internet.
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Streamen Konjunkturen
ist auch die Anwendung des Urheberrechts: „Anstatt Güter zu kaufen und zu besitzen, nutzen Konsumenten vermehrt Online-Plattformen, die lediglich den zeitlich begrenzten Zugang zu Gütern ermöglichen, ohne dabei Eigentumsrechte zu übertragen“.14 Während der Kauf von Datenträgern, gleich ob Bücher, Ton- oder Filmformate, die dauernde, wiederholte Nutzung für den eigenen Gebrauch erlaubt, bedeutet streamen nur die momentane Nutzung, nicht aber die Speicherung oder den Besitz des Produkts – es sei denn, man kauft die Speicheroption noch hinzu. Datentechnisch ist es als permanentes Laden zu definieren, das im Unterschied zum Download keine eigene Datei anlegt, die erst danach aufgerufen wird. Streams können und sollen gerade nicht gespeichert werden.15 Speichern und streamen bilden daher eine Leitdifferenz im Mediengebrauch des Digitalen. Die Frage, was mit den Daten privater Nutzer genau geschieht, wenn sie streamen, ist aktuell ungeklärt. KONJUNKTUREN Streamen wird immer beliebter, meldet das Handelsblatt im September 2018. Rund 30 Prozent der Fernsehzeit in Deutschland entfallen inzwischen, laut DIGITALISIERUNGSBERICHT VIDEO der Landesmedienanstalten (DLM), auf die Angebote von Video-on-Demand Anbietern.16 Dabei liegt YouTube mit 34,1 Prozent der Nutzer vor den Mediatheken öffentlichrechtlicher Sendeanstalten (31,2 Prozent), während Netflix und Amazon Prime 29,3 Prozent der Nutzer verbuchen. Allerdings zählt YouTube offiziell nicht als Streamingdienst, weil kein Abonnementmodell notwendig ist und jeder seine Videos hochladen kann. Die Plattform Twitch wiederum bietet ausschließlich Livestreams und ist damit ein weiterer Streamingdienst für private User und ‚Influencer‘ ohne die Vermarktungsstruktur der Film-Anbieter. Die aktuellen Konjunkturen des Streamens treten in direkte Konkurrenz zu Fernsehen und Kino. 2018 ist die Fernseh-Nutzung um 6,1 Prozent
14 Zu den Marketingformen ausführlich Danckwerts: Media Streaming. Das Zitat ebd., S. 1. 15 Vgl. Maciej: Was ist Streaming? In: GIGA. Unter: https://www.giga.de/extra/livestream/
specials/was-ist-streaming-erklaerung-fuer-dummys [aufgerufen am 18.08.2020]. Vgl. auch Randerath/Neumann: Streaming Media. 16 Vgl. o.A.: Streamingdienste werden immer beliebter – klassisches Fernsehen verliert. Unter: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/fernsehen-streamingdienstewerden-immer-beliebter-klassisches-fernsehen-verliert/22994168.html?ticket=ST-6750954Oc7rAlnUg2h7G43WVzls-ap1 [aufgerufen am 18.08.2020].
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Streamen Konjunkturen
zurückgegangen, während Video-on-Demand um nahezu 30 Prozent stieg. Diese Tendenz hat sich 2020 durch die Corona-Krise noch erheblich verstärkt, Netflix meldete Rekordzahlen und steigerte sich von rund 21 Mio. Abonnenten im Jahr 2011 auf fast 193 Mio. Anfang 2020.17 Ob Sky, Maxdome oder Magenta TV, Dazn oder Joyn, der neue Markt lässt die erheblichen Investitionen neuer Anbieter wie etwa auch Disney+ erklären, ebenso die Vielzahl kleinerer Anbieter mit zum Teil spezifischen Angeboten etwa für Cineasten z.B. bei Mubi.18 Indem die aktuellen Fernsehgeräte als Smart-TVs das Internet und über Apps den Zugang zu Streamingdiensten integriert haben, verwischen sie auch die Grenzen zwischen Fernseh- und Computernutzung. Im Zusammenfall von Internet und Fernsehen im Smart-TV deutet sich auch die Tendenz an, die Vielfalt der digitalen Endgeräte und Angebote zu bündeln. Die Konjunkturen des Streamens lassen sich in bislang drei Phasen gliedern. Der ersten experimentellen Phase einzelner Projekte von 1993 bis 2005 folgt eine Etablierungsphase erfolgreicher Anbieter, die 2020 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Zugleich kündigt sich mit dem durch das Coronavirus verbreiteten Gebrauch von Videokonferenzen, nicht zuletzt auch an Universitäten und Bildungseinrichtungen, eine dritte Konjunktur an für die exemplarisch der plötzliche Erfolg der ‚Videochat-App‘ Zoom einsteht, deren Umgang mit Nutzerdaten zugleich zu kritischen Diskussionen führte.19 Noch 2001 waren die technischen Möglichkeiten, Videos über das Internet zu streamen, sehr begrenzt. Zwar konkurrierten schon Microsoft und Progressive Networks (später RealNetworks) um die Technologie und schon 1995 wurde erstmals der Livestream eines Baseballspiels in den USA für Zuschauer
S 17
Vgl. o.A.: Anzahl der Streaming-Abonnenten von Netflix weltweit vom 3. Quartal 2011 bis zum 4. Quartal 2020. In: statista. Unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/196642/ umfrage/abonnenten-von-netflix-quartalszahlen/ [aufgerufen am 18.08.2020]. 18 Vgl. Bovermann/Heinrich/Maurer: Schaut euch um! In: Süddeutsche Zeitung online. Unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/streaming-netflix-alternativen-filmtipps-kino-videoon-demand-1.4317484 [aufgerufen am 24.08.2020]. 19 Vgl. Schasche: Zoom lässt Konkurrenz bei Videokonferenzen hinter sich. In: W&V. Unter: https://www.wuv.de/tech/zoom_laesst_konkurrenz_bei_videokonferenzen_hinter_sich [aufgerufen am 21.08.2020]. Zur Diskussion vgl. Fanta: Eurogruppe tagte mit umstrittener App Zoom. In: netzpolitik.org. Unter: https://netzpolitik.org/2020/eurogruppe-tagte-mit- umstrittener-app-zoom [aufgerufen am 24.08.2020].
565
Streamen Konjunkturen
angeboten, doch die technische Infrastruktur (Set Top Boxen für Fernseher und eine Internetverbindung) war noch kaum gegeben.20 Noch waren Peer-to-Peer-Filesharing-Netzwerke im Vorteil. Das änderte sich mit der Verbreitung des Flash Players und der Gründung von YouTube im Jahr 2005. Apple stellte zeitnah mit iTunes 6.0 die Möglichkeit bereit, Filme zu kaufen. Maxdome wurde 2006 gegründet. Netflix war bereits 1997 gegründet worden, stellte aber erst 2007 mit „Watch now“ konsequent auf Video-on-Demand um und gilt seitdem als erster echter Streamingdienst. Es ist dann der Erfolg von Serien wie DESPERATE HOUSEWIVES, LOST oder GAME OF THRONES, die wesentlich zur Popularität beigetragen haben und die Produktionen eigener Serien motivierten. Das Serienformat und die flexible Nutzung lässt Streaming zur bevorzugten Anwendung werden, die sich dann auch auf andere Formate (Kinofilme, Dokumentationen) erweitert. In Deutschland trat Netflix erst 2014 auf, aber schon 2012 hatte man begonnen eigene Serien zu produzieren. Das sehr erfolgreiche Remake von HOUSE OF CARDS entstand 2013. Damit wurde erstmals die Konkurrenz zu Fernsehsendern wie HBO in den USA deutlich. Spätestens seit 2019 gilt Streaming als hart umkämpfter Markt. Um die unterschiedlichen Programmangebote, technischen Voraussetzungen und Kostenstrukturen im „Tarif-Dschungel“ überblicken zu können, braucht es vergleichender Übersichten.21 Mit der Etablierung immer höherer Auflösung (Full HD, 4k, 8k) wachsen die Anforderungen an die Internet-Infrastruktur.22 Streamen zählt bereits jetzt zu den energieintensivsten Anwendungen und wird zukünftig auch ein Thema für
20 Vgl. Jecke: Eine kurze Geschichte der Streaming-Revolution. In: Moviepilot. Unter: h ttps://
www.moviepilot.de/news/eine-kurze-geschichte-der-streaming-revolution-195372 [aufgerufen am 24.08.2020]. 21 Für eine Übersicht vgl. SZ-Autoren: Bis die Augen brennen. In: Süddeutsche online. Unter: https://www.sueddeutsche.de/medien/netflix-amazon-prime-streamingdienste-1.4407484 [aufgerufen am 11.08.2019]. Zur Orientierung im „Tarif-Dschungel“ vgl.: Struck: StreamingDienste-Vergleich. In: Computerbild. Unter: https://www.computerbild.de/artikel/avf-TestsVideo-Streaming-Test-Netflix-Amazon-Maxdome-iTunes-Sky-Google-8034029.html [aufgerufen am 11.08.2019]. 22 5 bis 6 Mbit/s sind notwendig um komprimierte Full HD Filme ruckelfrei sehen zu können (DSL-6000-Leitung), bei 4k Auflösung sind je nach Dienst zwischen 15 Mbit/s und 25 Mbit/s Voraussetzung (DSL-25000-Leitung).
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umweltgerechten Ressourcenumgang werden. 2020 wurde die Höchstauflösung von 4k bei Netflix zeitweilig reduziert, um das Internet nicht zu überlasten.
Gegenüber dem Download und der Speicherung oder Archivierung bedeutet Streamen den permanenten Empfang von audiovisuellen Daten. Daher ist Download ebenfalls ein Gegenbegriff, der in allen Erklärungen zum Streamen als Differenz erwähnt wird. Darüber hinaus kann auch Senden im Sinne von Broadcasting als Gegenbegriff verstanden werden, wenn damit vorgefertigte Programminhalte etwa öffentlich-rechtlicher Sender vom Livestream oder dem Abruf von Inhalten eines Streaminganbieters unterschieden werden sollen. Allerdings sind diese Unterscheidungen nur scheinbar absolut. Inhalte eines Streams sind bei Abruf auf Servern gespeichert und werden von dort fortlaufend heruntergeladen und in den Empfangsgeräten mittels Datenpuffern und Arbeitsspeicher zunächst ‚gestaut‘, um Störungen des Bild- und Ton-Flusses beim Endverbraucher zu minimieren, während Livestreams auch als eine Form von Senden verstanden werden können. Die Differenzen der Gegenbegriffe ergeben sich dann einerseits im Sprachgebrauch, der bestimmte Formen von Angeboten unterscheidet, andererseits durch die technischen Signalwege – etwa der Empfang über Internetprotokolle im Unterschied zu Rundfunk und Fernsehen. PERSPEKTIVEN Streamen lässt die beschleunigte Evolution digitaler Techniken
deutlich werden und markiert zugleich einen Wandel des Konsumverhaltens. Etablierte Medien für Unterhaltungsangebote wie Radio, Fernsehen und Kino geraten durch die Möglichkeit des wahlfreien Zugriffs auf Medieninhalte durch Streaminganbieter unter Druck. Es geht daher nicht nur um eine weitere neue Technologie der Übertragung und Verbreitung, sondern streamen ist Symptom einer generellen Veränderung im Umgang mit Kommunikationsund Unterhaltungsangeboten. Dass dabei ein zunehmend unübersichtlicher Markt unterschiedlicher Abonnement- und Pay-per-View-Modelle neben freien Angeboten entsteht, zeigt an, dass die Entwicklung aktuell noch dynamisch ist. Die parallele Etablierung von Videokonferenzen wird sowohl für den medizinischen Bereich als auch für das Bildungssystem Möglichkeiten
Streamen Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Der zentrale Gegenbegriff zum Streamen ist Speichern.
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Streamen Perspektiven 568
eröffnen, die zwar auch schon zuvor bestanden, aber sich erst jetzt als Mediengebrauch verbreiten und etablieren. Wie auch immer der Erfolg von Streaming Media sich weiter entwickeln wird, sicher ist, dass sie den kulturellen Wandel verstärken, der die digitale Kodierung als Ablösung von materiellen Formen und Formaten klassischer Medien eingeleitet hat. Die Entwicklung wirft weitreichende rechtliche, praktische und auch ästhetische Fragen auf und konfrontiert nicht zuletzt den Endverbraucher mit technischen Fragen. Scheinen diese beim Streamen zunächst nachrangig, so lange keine Störungen entstehen, wird jeder Endverbraucher beim Einrichten der Signalwege und Ausgangsformate mit der Vielzahl von digitalen Formaten und ihren Möglichkeiten konfrontiert, die sich auch auf den audiovisuellen Output (u.a. Farbgebung, Stereo- oder Surroundsound) erstrecken. Während Smart-TVs zahlreiche Bildeinstellungen ermöglichen (Kinomodus, Dynamisch, Eco usw.), bleibt dies am Computerbildschirm scheinbar nebensächlich. Damit werden zwei grundlegende Medienerfahrungen deutlich: erstens, dass audiovisuelle Daten in ihrer digitalen Ästhetik veränderbar sind – für Videokonferenzen etwa lässt sich die eigene Hauttönung durch das Menü der Webcam oder den Programmanbieter manipulieren. Zweitens aber nivelliert streamen die Vielfalt der Optionen, indem der Stream gleichermaßen auf allen möglichen Bildschirmen, vom Smartphone bis zum neuesten 75 Zoll Fernsehbildschirm mit 8k-Auflösung empfangen werden kann. So erhält High-End-Kino-Ausstattung Einzug in Wohnzimmer (inklusive der Möglichkeit der Einmessung der akustischen Bedingungen für Stereo- und Surroundsound), während zugleich eine große Flexibilität der Standards an verschiedenen Bildschirmen gewährleistet sein muss. Im Fall von Handyvideos oder akustisch wie visuell dürftigen Videokonferenz-‚Schalten‘ hat sich inzwischen eine eigene Ästhetik und Bildform entwickelt, die für Authentizität einsteht. Streamen vereint beides: höchste Ansprüche wie notdürftige Übertragung und diese Flexibilität kann als technisch-evolutionärer Vorteil erkannt werden.
Streamen Perspektiven
Als Medienkonsum ist streamen darüber hinaus eine Kulturtechnik, die auf den sofortigen Gebrauch abstellt: Access-Based Consumption.23 Damit trägt es zu einer Konsumkultur bei, die Kulturen des Speicherns und Sammelns ablöst. Als individuelle Wahlfreiheit erscheint dies als Vorteil, kulturell und kollektiv sind damit jedoch weitreichende Veränderungen verbunden. Während wiederholter Gebrauch, Bewahrung und Pflege eine Kanonbildung gestattet und Klassiker auszeichnet und damit – unabhängig von Inhalten und Wertungen – eine kollektive kulturelle Orientierung in das Gesellschaftssystem integriert, erodiert dies in der Vielfalt der Medienangebote. Je nach Anbieter müssen Nutzer wählen oder hinzukaufen: Serien oder Sport, Filme oder Kinderprogramme. Die Vielfalt der Anbieter multipliziert sich in Programmpaketen. Wer Netflix-Serien favorisiert, kann mit Freunden, die Amazon Prime-Serien mögen, nicht diskutieren. Wer Fußballfan ist, muss sich wiederum anderen Anbietern verpflichten. Diese Ausdifferenzierung des Konsumverhaltens, der lange Zeit durch Fernsehsender und exemplarisch durch bestimmte Sendungen (TAGESSCHAU, TATORT, Fußball-Weltmeisterschaft) ein vergleichsweises kollektives öffentliches Erleben gegenüberstand, verstärkt die Diversifizierung von Konsumwelten. Streamen ist damit auch ein gesellschaftliches Phänomen, das nicht nur das Konsumverhalten, sondern auch die Kommunikation betrifft. Insbesondere die Produktion erfolgreicher Serien hat dabei das Potenzial entwickelt, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen, aus der wiederum Neukunden generiert werden können. Das Setzen von Trends oder ‚Hypes‘ durch Eigenproduktionen wird daher zum Distinktionsmerkmal, ähnlich wie es exklusive Rechte an Sportveranstaltungen sind. Während Kulturen der Sammlung und Speicherung und ihre Institutionen vergleichsweise strukturierte Orientierung bieten, verändert streamen auch dies. Da das aktuelle Nutzungsverhalten permanent rekursiv ausgewertet wird, verändert sich das Angebot der Streaminganbieter bei jedem Zugriff. Statt starrer Ordnungskriterien verändern ‚Empfehlungen‘ und Aktualisierungen den Zugriff ständig. Das befördert Features wie Sprachassistenten, die ihrerseits
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23 Vgl. Danckwerts: Media Streaming Services, S. 1. Bardhi/Eckhardt: Access-Based Con-
sumption, S. 881 definieren dies als Verkauf, der keinen Transfer materieller Datenträger impliziert, sondern nur temporäre Nutzungsrechte einräumt. Vgl. auch Dörr/Benlian/Vetter: Pricing of Content Services.
569
Streamen Forschung
die Anfragen rekursiv einspeisen. Die genauen Kriterien der Aus- und Verwertung der Nutzungsgewohnheiten bleiben das Geheimnis der Firmen und ihrer Algorithmen und die Unübersichtlichkeit wird als Angebot an die Vorlieben des Nutzers verkauft. Die Dynamik des sich stetig wandelnden Angebots ist damit auch innerhalb einzelner Anbieter hoch. Indem die Inhalte wechseln, aber auch Lizenzen oder Angebote auslaufen, generieren Streamingdienste so eine Dynamik vermeintlich ständiger Neuangebote. Das Prinzip des Neuen als dem Interessantesten erhält damit Priorität. Nutzerstatistiken („meist gesehen“, „höchste Bewertung“, „andere sahen auch“) ersetzen das Prinzip strukturierter Orientierung durch das jeweils aktuell Neueste. Die Produktion von Serien ist dann eine konsequente Antwort darauf. Auf der Ebene der Kultur stellt sich der Mediengebrauch damit auf ein System ‚on demand‘ ab, das Hitlisten und Favoriten, Bestseller oder Blockbuster kennt, sich jedoch vorwiegend an aktuellen Konsumpräferenzen und am jeweils Neuesten orientiert – der neueste Hype oder „neue heiße Scheiß“, der bereits um seine baldige Ersetzung weiß. Insofern entspricht streamen einer kapitalistischen Ökonomie, die ganz auf Verbrauch und Steigerung, auf ständige Produktion und Konsum ausgerichtet ist. Diese sozialen und kulturellen Auswirkungen stehen bislang noch kaum in der Diskussion. Noch beherrschen die jeweils neuesten technischen Möglichkeiten der neuesten Geräte, Programme, Apps oder Angebote die soziale Aufmerksamkeit. FORSCHUNG Weder die Geschichte der Streamingdienste noch die Ent-
stehung der sie ermöglichenden und sich wandelnden Technologien sind bislang Gegenstand dezidiert medien- und kulturwissenschaftlicher Forschung geworden. Empirische Erhebungen werden dagegen fortlaufend ermittelt und die jeweils neuesten technischen Standards werden in Fachzeitschriften und Testmagazinen für Computer und TV präsentiert. Deren medienästhetischer und soziokultureller Einfluss ist dagegen bislang kaum erforscht. Auch aus technologischer Sicht sind Forschungsergebnisse noch selten. Eine bereits ältere Diplomarbeit (2002) aus dem Fach Informationsmanagement der Universität Stuttgart stellt die technischen Perspektiven vor und verweist auf damals noch neue Anwendungsmöglichkeiten, etwa auch für Tele-Medizin.24 Eine aktuelle
24 Saile: Perspektiven des Einsatzes von Streaming-Technologien.
570
25 26 27 28
Streamen Forschung
Dissertationsschrift von Sebastian Danckwerts (2020) bietet einen Einblick in verschiedene Marketingmodelle.25 Die Monografie von Hennig-Thurau/ Houston (2019) nimmt Mechanismen rekursiver Datenauswertung für die neue Unterhaltungsindustrie aus ökonomischer Sicht als Erfolgsgeschichte in den Blick.26 Von kulturwissenschaftlicher Seite wären Forschungen weniger zu Konsumverhalten und Marketingmodellen oder zur Problematik des Datenschutzes zu erwarten als zunächst eine Einordnung des Streamens in die Geschichte audiovisueller Medien sowie eine kritische Beobachtung der sich wandelnden ästhetischen Paradigmen und der Kommunikation, die mitunter bereits Gegenstand von Romanen der Gegenwartsliteratur geworden ist. In MarcUwe Klings schöner neuer Welt namens QUALITYLAND (2019) unter der Dominanz des WWW („WeltWeiteWerbung“) und „The Shop“ werden die Kapitel von ständigen Werbeanzeigen oder Umfragen unterbrochen, während man Produkte direkt aus Filmen heraus bestellen kann. Ein Liebespaar beschließt, keinen Sex mehr vor dem laufenden Fernseher zu haben, weil die Werbeflut für Viagra überhandnimmt.27 Die Figur Sandra ist „zuständig für das Product Placement in Nachrichtenbeiträgen. Ein dröger Job. Suchalgorithmen liefern aus dem Wust der Nachrichten diejenigen, die die größte Aufmerksamkeit erregen werden. […] ‚Dumm klickt gut‘.“28 Der Roman wurde in einer weißen und einer schwarzen Version publiziert, die unterschiedliche Gewichtungen haben. So reflektiert er satirisch, inhaltlich und materiell bereits die Multiplikation von Medienangeboten, für die aktuell streamen paradigmatisch steht. Welche Techniken und Verkaufsmodelle sich durchsetzen, ist nicht absehbar. Sicher aber ist, dass künstliche Intelligenzen das Nutzungsverhalten gerade beim Streamen künftig noch besser auswerten werden und dass streamen daher die aktuelle Speerspitze eines technologischen und soziokulturellen Wandels darstellt, in dem Kopf und Körper durch einen Strom in unterschiedliche Richtungen getrieben werden – was Glück und Schrecken gleichermaßen bedeuten kann.
S
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573
SUCHEN ROBIN SCHRADE
Suchen Anekdote
ANEKDOTE Der seit Jahren zentrale Werbeslogan von Google ist ebenso ein-
S
fach wie plausibel. Er lautet schlicht: „Search on“.1 In einer gleichnamigen Video-Kampagne werden einzelne Menschen ins Zentrum gestellt: Protagonistinnen und Protagonisten, die für Gleichberechtigung, Anerkennung oder allgemein für eine bessere Welt kämpfen. Der eingeblendete Slogan „Search On“ bildet den Abschluss der jeweiligen Clips. Im deutschsprachigen Raum taucht alternativ die Formel „Jede Suche bringt dich weiter“ auf.2 Die Botschaft dieser Kampagne ist leicht zu deuten: Die berühmte Web-Suchmaschine und das dahinterstehende Technologie-Unternehmen aus dem Silicon-Valley beschwören eine kreative, emanzipative und widerständige Kraft und verbinden diese mit dem menschlichen Suchprozess. Google präsentiert sich als ein Werkzeug, das eine individuelle und selbstbestimmte Suche befördert. Diese Selbstvermarktung steht im Gegensatz zur gegenwärtigen Kritik an der Online-Suche. Insbesondere in der Suchmaschinenforschung wird befürchtet, dass die persönliche Autonomie, die Meinungspluralität und die Demokratie zunehmend in Gefahr geraten, wenn menschliche Suchprozesse an profitorientierte Web-Unternehmen delegiert werden. Eine derartige Sorge treibt z.B. die Arbeit der US-amerikanischen Informationswissenschaftlerin Safiya Umoja Noble an. Um ihren Befürchtungen Ausdruck zu verleihen, beginnt sie ihre einschlägige Monografie ALGORITHMS OF OPPRESSION: HOW SEARCH ENGINES REINFORCE RACISM (2018) mit einer autobiografischen Anekdote: Im Jahr 2011 wollte sie ihre junge Stieftochter und deren Cousine dazu animieren, über ihre eigene afroamerikanische Identität nachzudenken. Sie tippte „black girls“ in die Suchmaske von Google ein und stellte überrascht und
1
Ich beziehe mich exemplarisch auf: Search On: An original documentary series by Google. Unter: https://www.youtube.com/playlist?list=PL590L5WQmH8dIdGztNYxH2SyMKwY_ 2Zwq [aufgerufen am 05.08.2021]. 2 Vgl. hierzu exemplarisch das folgende Video: Tochter. Ein Werbefilm von Google. Unter: https://www.youtube.com/watch?v=SnUGzCgAaMs [aufgerufen am 05.08.2021].
574
schockiert fest, dass pornografisches und rassistisches Bild- und Textmaterial die angezeigte Ergebnisliste dominierte.3 Noble untersuchte und dokumentierte infolgedessen die Selektionsprozesse von Google, die, so ihr Vorwurf, häufig Verzerrungen mit stereotypen und rassistischen Tendenzen befördern würden. Sie ist eine von vielen Wissenschaftlerinnen und Aktivisten, die in den letzten Jahren die Exklusionsmechanismen von digitalen Suchdiensten beklagten. Denn diese propagieren zwar einen liberalen und egalitären Wissenszugang, erweisen sich aber als höchst manipulativ. Wer mit Web-Suchmaschinen wie Google ‚weitersucht‘, kann nicht nur finden und entdecken, sondern ebenso selbst gefunden, manipuliert, unterdrückt und verletzt werden. Diese Ambivalenz, so die These der folgenden Darstellungen, ist jedoch nicht erst durch digitale, weltweit vernetzte Technologien produziert worden, sondern ein historisch gewachsener Bestandteil der Kulturtechniken des Suchens.4
auch auf ein geistiges Bemühen, etwas Begehrtes, Verborgenes, Verlorenes zu finden. Etwas Gesuchtes wird dabei z.B. durch Nachforschungen aufgedeckt, durch Experimente bestätigt oder in Form einer Bitte bei Mitmenschen erfragt; etwas kann in diesem Sinne untersucht, versucht oder ersucht werden. Die Suche wird in diesen Kontexten mit einer Absicht, einer Vermutung, einem Verlangen verknüpft.5 Im Mittelhochdt. war das Verb suchen als „suochen“ und im Althochdt. als „suohhen“ bekannt. Es bedeutete damals so viel wie „nachspüren“ und soll sich einst auf den Jagdhund bezogen haben.6 Die etymologische Herkunft von suchen verweist also vor allem auf ein physisches Aufspüren. Eine ähnliche Herkunft hat auch das engl. Wort ‚search‘. Es ist etymologisch mit
Suchen Etymologie
ETYMOLOGIE Das dt. Verb suchen verweist sowohl auf ein körperliches als
S
3 4
Vgl. Noble: Algorithms of Oppression, S. 3 ff. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf meine eigene Untersuchung: Schrade: Wer sucht, kann gefunden werden. Manche der folgenden Überlegungen finden sich dort auf ähnliche Weise. 5 Vgl. (Art.) Suchen. In: Brockhaus. Deutsches Wörterbuch, S. 1441 sowie (Art.) Suchen. In: Grimm, Sp. 834–855. 6 Vgl. (Art.) Suchen. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1392 f.
575
Suchen Kontexte
dem franz. ‚chercher‘ verwandt und bedeutet so viel wie „im Kreis gehen“.7 Anthropologisch kann argumentiert werden, dass Menschen zunächst als ‚Jägerinnen und Sammlerinnen‘ nach Nahrung und Unterschlupf suchten. Die Romanistin Ricarda Liver erklärt, dass auch im Lat. fast „alle Verben für ‚suchen‘ […] etwas mit Jagd oder Fang zu tun“ haben.8 Darunter fallen ‚indagare‘, ‚vestigare‘, ‚investigare‘, ‚captare‘ und ‚aucupari‘. Geistige Verwendungen seien demgegenüber „immer sekundär“.9 Eine Ausnahme bildet das Wort ‚quaerere‘, das vor allem als ‚erfragen‘ oder ‚erkundigen‘ übersetzt wird und „dessen Etymologie nicht geklärt ist“.10 Bereits aus einer etymologischen Perspektive erscheint der Suchprozess ambivalent: Er kann rationalisiert, gelenkt und diszipliniert werden, zeichnet sich jedoch zunächst einmal durch seine Unberechenbarkeit aus. Er verweist einerseits auf funktionale, zielorientierte und planbare Tätigkeiten, kann jedoch andererseits mit einer gewissen Offenheit und Ereignishaftigkeit verknüpft werden. Es kann zwar gezielt gejagt werden, Dinge werden dabei aber auch unerwartet entdeckt oder tauchen plötzlich auf. Wenn z.B., um auf das eingangs erwähnte Beispiel zurückzukommen, Googles Werbeteam darauf verweist, dass ‚jede Suche dich weiterbringt‘, werden die Offenheit und der Möglichkeitshorizont der Suche betont. Diese vermeintliche Offenheit wird jedoch von Kritikerinnen und Kritikern in Frage gestellt, insbesondere mit Verweisen auf kapitalistische Interessen, Überwachungs- und Kontrolldispositive. KONTEXTE In der Neuropsychologie wird die Existenz eines neuronalen Seeking-Systems (Such-Systems) vermutet, das bei Säugetieren für Motivationen, Erwartungen und Erkundigungen zuständig ist. Gründend auf Studien des amerikanischen Psychologen Jaak Panksepp, wird angenommen, dass es sich bei der Suche um einen primären Prozess handelt, der noch vor Rage
7 8
Vgl. ebd. sowie (Art.) Search. In: The New Oxford Dictionary of English, S. 1677. Liver: Die Etymologie von fr. trouver und die bündnerromanischen Reflexe von TROPUS und TROPARE. In: Vox Romanica, S. 118. 9 Ebd. 10 Ebd.
576
Suchen Kontexte
(Wut), Fear (Furcht), Lust (Verlangen), Care (Fürsorge), Panic (Panik) und Play (Spiel) einen immensen emotionalen Einfluss auf die Individuen habe.11 Ausgehend von derartigen naturwissenschaftlichen und anthropologischen Bestimmungen, mag es nicht überraschen, dass das Suchen in diversen gesellschaftlichen Bereichen eine große Rolle spielt, vom Spurenlesen, über polizeiliche Ermittlungen bis hin zu wissenschaftlichen Taxonomien.12 Im Kontext des Mediengebrauchs und der folgenden Darstellungen sind jedoch insbesondere Suchverfahren von Interesse, die mit Hilfe kultureller Techniken innerhalb von Wissensräumen stattfinden. Bei den hier vorgestellten Kontexten steht das Suchen in einer Welt der Informationen im Fokus. Insbesondere in Auseinandersetzungen mit Web-Suchmaschinen wird das Suchen häufig als eine sehr spezifische und äußerst komplexe ‚Kulturtechnik‘ begriffen. In einem Debattenbeitrag mutmaßen z.B. Hans Hege und Eva Flecken, dass Suchmaschinen ein Programm „zur alltäglichen Bewältigung der uns umgebenden Komplexität“ bereitstellen würden und dass die „Nutzung ihrer Algorithmen“ eine zentrale „Kulturtechnik“ sei.13 Ausgehend von verschiedenen medienwissenschaftlichen Definitionen, beziehen sich Kulturtechniken in diesen Kontexten auf kulturelle Verfahren des Austauschs und der Kommunikation, in deren Rahmen eine Verschränkung von Menschen und Dingen zu beobachten ist. Harun Maye definiert Kulturtechniken als „Praktiken und Verfahren der Erzeugung von Kultur, die […] als Bedingung der Möglichkeit von Kultur überhaupt begriffen werden“.14 Hierbei wird davon ausgegangen, dass mediale „Ausweitungen des Menschen in seine Umwelt […] wechselseitig und rekursiv in einer zyklischen Vermittlung zwischen Zeichen, Personen und Dingen“ entstehen.15 Die Kulturtechniken der Informationssuche werden im Folgenden insbesondere als ‚(medien-)philologische‘ sowie als ‚dokumentarische Operationen‘
S
11
Vgl. Stewart/Panksepp: Biological Foundations. In: Kreitler (Hrsg.): Cognition and Motivation, S. 113 ff. 12 Vgl. weiterführend auch die Überlegungen in Sommer: Suchen und Finden. 13 Hege/Flecken: Debattenbeitrag. In: Stark/Dörr/Aufenanger (Hrsg.): Die Googleisierung der Informationssuche, S. 229. 14 Maye: Was ist eine Kulturtechnik? In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, S. 121. 15 Ebd., S. 124.
577
Suchen Kontexte
begriffen. Als philologische Operationen verweisen sie auf den Umgang mit Texten und auf Praktiken wie das Sammeln, Edieren und Kommentieren.16 Als Operationen des Dokumentierens markieren sie indessen, was als Dokument gelesen wird und was nicht. Sie sind konstitutiv für dokumentarische Inhalte und die damit verbundene Konstruktion von ‚Wirklichkeit‘.17 Im Jahr 2012 erschien der Sammelband VOR GOOGLE, der über seine Beiträge einen Einblick in die Geschichte von nicht-digitalen Suchhilfen, z.B. von schriftlichen Verzeichnissen, städtischen Versammlungsorten oder Dienstboten, gewährt. Die Herausgeber Brandstetter, Hübel und Tantner erklären, dass sie kein „teleologisch ausgerichtetes Geschichtsverständnis“ konstruieren, sondern „strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den jeweiligen Medien“ in Aussicht stellen wollen.18 Sie verweisen dabei auf einen gemeinsamen Nenner, der alle modernen Suchhilfen verbinden würde: Ein Phantasma, das Suchmaschinen im analogen wie im digitalen Zeitalter zu dominieren scheint, ist jenes von der unmittelbaren Wunscherfüllung. Diesem zufolge sollte die Tätigkeit des Suchens am besten gar nicht stattfinden müssen; ist sie aber dennoch notwendig, soll zumindest der Aufwand an Zeit und Ressourcen so gering wie nur möglich gehalten werden. Das Suchen wird hier gewissermaßen als Störung verstanden, die es zu beseitigen gilt.19
Suchmaschinen würden das Versprechen implizieren, ein lästiges Suchen durch ein schnelles Finden zu ersetzen. Eine Einschätzung, die für die OnlineSuche in besonderem Maße zuzutreffen scheint. Peter Morville erklärt unter dem Stichwort der ‚findability‘ das Finden zum Hauptanliegen der datenbankorientierten Suche der Gegenwart.20 Diese Vorstellungen können mit dem Wunsch nach einer perfekten Ordnung verknüpft werden. Stefan Rieger mutmaßt: „Würde es etwa eine vollständige Ordnung geben, wäre jegliche
16
Vgl. Gaderer: Was ist eine medienphilologische Frage? In: Balke/Gaderer (Hrsg.): Medienphilologie, S. 25–43. 17 Vgl. Balke/Fahle/Urban: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Durchbrochene Ordnungen, S. 7–19. 18 Vgl. Brandstetter/Hübel/Tantner: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Vor Google, S. 8 f. 19 Ebd., S. 9. 20 Vgl. Morville: Ambient Findability.
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Suchen Kontexte
Suche überflüssig, die Dinge wären allesamt an ihrem Ort, also dort, wo sie von sich aus eben hingehören“.21 Die Hoffnung, dass jede Suche mit einem erfolgreichen Fund belohnt wird, reicht bis ins Neue Testament zurück. Dort heißt es: „Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der nimmt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.“22 In Abgrenzung zu dieser Weisung stellt der Historiker Henning Trüper jedoch fest, dass die Fusion von suchen und finden nicht selbstverständlich ist: „Denn keineswegs gilt ja im Allgemeinen, dass wer sucht, auch finden müsse. Noch nicht einmal gilt, dass wer findet, auch gesucht hätte. Die beiden gewohnheitsmäßig zusammengeschirrten Verben unterscheiden sich in ihrer Ergebnisorientierung, ihrer teleologischen Verfassung.“23 Während die Operation des Findens „durch das Erreichen eines Ziels überhaupt erst konstituiert“ werde, müsse beim Suchen „nicht unmittelbar etwas herauskommen“, da die Suche „in offener und variabler Weise zielorientiert“ sei.24 Diese Argumentation verweist auf eine affirmative Idee des Suchens, die nicht durch ein ‚schnelles Finden‘ zu ersetzen ist. Sie taucht in unterschiedlichen Kontexten auf. Der Anglist Dieter Schulz untersucht z.B. den literarischen Topos einer abenteuerlichen ‚Suchwanderung‘ (im Engl. auch als ‚Quest‘ bezeichnet) und beschreibt, dass es sich bei diesem um „eines der ältesten und beständigsten Strukturmuster“ handelt, „das sich von den frühesten überlieferten Mythen bis in die jüngste Literatur verfolgen lässt“.25 Auch Vilém Flusser interessiert sich für das Unerwartete des Suchprozesses. Seine ‚Geste des Suchens‘ bezieht sich dabei in erster Linie auf die wissenschaftliche Forschung. Diese „tastende Geste“, bei der „man vorher nicht weiß, was man sucht“, sei „das Paradigma aller unserer Gesten“.26 Flus-
S
21 Rieger: Ordnung ist das halbe Leben. In: Brandstetter/Hübel/Tantner (Hrsg.): Vor Google,
S. 17.
22 Luther: Die Bibel, Lk 11,9–10. 23 Trüper: Suchen und Finden. In: Brandstetter/Hübel/Tantner (Hrsg.): Vor Google, S. 174. 24 Ebd. 25 Schulz: Suche und Abenteuer, S. 6. 26 Flusser: Gesten, S. 200.
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Suchen Konjunkturen
ser definiert eine Geste als „eine Bewegung des Körpers […] für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt“.27 Er stellt die These auf, dass „alle unsere Gesten (unsere Akte und unsere Gedanken) durch die wissenschaftliche Forschung strukturiert sind“ und dass „unsere Gesten […] deshalb anders werden, weil die Geste des Suchens im Begriff steht, sich zu verändern“.28 Die Kulturtechniken der Informationssuche können, so meine Folgerung, weder einer eindeutigen Kausalität noch einer stringenten Entwicklung untergeordnet werden. Der amerikanische Informationswissenschaftler Paul Duguid bezieht eine ganz ähnliche Position. Insbesondere bezweifelt er, dass die Entwicklung von Suchhilfen „von geschlossenen und restriktiven Institutionen weg und hin zu mehr demokratischer Offenheit“ geführt hätte.29 Er geht stattdessen davon aus, dass die Geschichte von Suchmaschinen „wie eine Reihe von fast unergründlichen Zyklen um offene und geschlossene Strukturen“ gelesen werden sollte.30 Die Probleme des Suchens zirkulieren in diesem Sinne um vielleicht unauflösbare Ambivalenzen. KONJUNKTUREN Derartige Ambivalenzen provozieren schon seit langer
Zeit eine kritische Auseinandersetzung mit dem Suchen von Wissen. Einige Konjunkturen dieser Beschäftigung werden im Folgenden anhand von Beispielen für den westlichen Kulturraum seit dem späten Mittelalter skizziert. Danach werfe ich noch einen Blick auf die gegenwärtigen Debatten der Suchmaschinenforschung. Der Mönch Hugo von Sankt Viktor gilt als Mittler zwischen einer monastischen Kontemplation und einem scholastischen Wissensstreben. Seine Fähigkeit, verschiedene Auffassungen von Wissen zusammenzuführen, schlugen sich im 12. Jh. auf besondere Weise in seiner Wissenschaftssystematik DIDASCALICON DE STUDIO LEGENDI nieder. Diese ‚Anleitung zum richtigen Lesen‘ kann heute vor dem Hintergrund eines geistesgeschichtlichen Umbruchs analysiert werden. In dessen Rahmen etablierte sich nicht zuletzt ein modernes TextLayout, das sich u.a. durch Seitenzahlen, Verzeichnisse und Überschriften 27 28 29 30
580
Ebd., S. 8. Ebd., S. 199. Duguid: Die Suche vor grep. In: Becker/Stalder (Hrsg.): Deep Search, S. 31. Ebd., S. 31 f.
31 32 33 34 35 36
Suchen Konjunkturen
auszeichnete. Bücher verwandelten sich in ‚Suchmaschinen‘ und ermöglichten es, Informationen gezielt zu ordnen und auffindbar zu machen.31 Hugo unterrichtete seine Studierenden u.a. darin, Wissen gezielt zu suchen und zu finden: „Bezüglich der gesuchten Ordnung unter den Wissenschaftsdisziplinen“ sollte „der Studierende der Heiligen Schrift“ z.B. „die historische, die allegorische und die tropologische Deutung beachten“.32 Bei der allegorischen Auslegung solle er jedoch vorsichtig sein und lieber zuerst eine Einführung „bei gelehrten und weisen Männern suchen“, denn wer alles eigenständig auslege, der laufe Gefahr, „auf Abwege“ zu geraten.33 Zu den weisen Männern zählte Hugo Hieronymus und Gennadius, die jeweils „auf der ganzen Welt nach Kirchenschriftstellern gesucht […] und deren Werke schließlich in einem einbändigen Verzeichnis aufgeführt“ haben.34 Sie gehörten für ihn zu den historischen ‚Begründern von Bibliotheken‘, da sie das Wissen für die Nachwelt aufbereiteten. Im Rahmen seines Lehrbuchs antizipierte Hugo jedoch nicht nur modern wirkende Formen der Wissensorganisation. Er sprach ebenso von einer asketischen Meditation, in deren Rahmen die Operation des Suchens eine viel weniger zweckgerichtete Bedeutung erhielt. Hugo war z.B. auf der Suche nach einer angemessenen Lebensführung: „Das gute Handeln ist die Straße, auf der man zum Leben gelangt. Wer auf dieser Straße geht, der sucht das Leben.“35 Die Suche war in diesem Kontext keine ‚Jagd‘ nach Informationen. Sie war vielmehr eine Hingabe zu Gott. Hugo beschrieb den Weg zur Weisheit über fünf Stufen: „Die erste Stufe, das Studium, verleiht Erkenntnis; die zweite, die Meditation, gewährt Rat; die dritte, das Gebet, erbittet; die vierte, das Handeln, sucht; die fünfte, die Kontemplation, findet.“36 Im Kontext dieses kontemplativen Leseverständnisses stehen das Suchen und Finden nicht am Anfang, sondern am Ende des Erkenntnisprozesses. Es handelt sich hierbei nicht länger um Operationen, die optimiert und an technische Hilfsmittel delegiert
S
Vgl. weiterführend auch Illich: Im Weinberg des Textes. Hugo: Didascalicon de studio legendi, S. 359. Ebd., S. 383. Ebd., S. 305. Ebd., S. 351 ff. Ebd., S. 349 ff.
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Suchen Konjunkturen
werden könnten. Hugo verwies vielmehr auf einen Suchprozess, der schwer zu vermitteln und kaum zu kontrollieren ist: eine Suche, die sich durch ihre Ereignishaftigkeit auszeichnet. Für Hugo bestand noch keine Notwendigkeit, einen rationalen Zugang zum Wissen zu privilegieren. Die Geschichte der abendländischen Wissensorganisation hat sich seitdem jedoch in eine Richtung entwickelt, in der die Kulturtechniken des Suchens vor allem als zielorientierte Funktionen gelesen und als solche technisch ausgelagert wurden. Michel de Montaigne, Essayist und Privatgelehrter im 16. Jh., beschäftigte sich in seinen ESSAIS intensiv mit Fragen der Wissensorganisation und kann heute vielleicht sogar als ein früher Kritiker moderner Suchmaschinen gelesen werden.37 Nicht zuletzt reagierte er auf die damals noch relativ neue Massenproduktion von gedrucktem Wissen sowie auf die blutigen Religionskriege im Zuge der Reformation. Die Glaubwürdigkeitskrisen seiner Zeit veranlassten Montaigne zu der Frage, „ob es überhaupt in der Macht des Menschen steht, zu finden, was er sucht, und ob all sein Forschen, das er seit so vielen Jahrhunderten hierauf verwendet, ihn um irgendeine neue Kraft oder festgegründete Wahrheit bereichert hat“.38 Die Herausforderungen der Wissenssuche markierten für Montaigne nicht weniger als den Ausgangspunkt der Philosophie: „Wer immer etwas sucht, gelangt schließlich an den Punkt, wo er entweder sagt, ich habe es gefunden, oder, es lasse sich nicht finden, oder, er sei noch auf der Suche. Alle Philosophie teilt sich in diese drei Gruppen.“39 Montaigne selbst sympathisierte mit der letzten Gruppe. In seinen eigenen Texten brachte er seine stets unabgeschlossene Suche zum Ausdruck, indem er Zitate, Beobachtungen, Erlebnisse, Meinungen und Erkenntnisse zu einer komplexen Gesamtschau vereinte, die durch ihre offenen Widersprüche die Lesenden bis heute zu einem kreativen und kritischen Umgang mit Wissen anregen. Ganz andere Ziele als Montaigne verfolgte im 17. Jh. der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz. Er partizipierte an einer gesellschaftspolitischen Transformation, in deren Rahmen die Steuerung der Bevölkerung
37 Zur Montaigne-Rezeption vgl. insb. Starobinski: Montaigne. 38 Montaigne: Essais, S. 248. 39 Ebd.
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Suchen Konjunkturen
einen immer wichtigeren Stellenwert erlangte.40 Michel Foucault erfasste diesen Wandel des europäischen Regierungsdenkens mit dem Begriff der ‚Gouvernementalität‘.41 Leibniz wusste, dass eine Regierung ohne eine effiziente Informationsverwaltung kaum handlungsfähig ist. Er konzipierte z.B. sogenannte Staats-Tafeln, die er als kompakte, faktenbasierte Übersichten für Fürsten und Könige beschrieb.42 Für den Waren- und Wissensaustausch der Bevölkerung wollte er indessen sogenannte Notiz-Ämter in allen großen Städten einrichten lassen.43 Leibniz begriff die Kulturtechniken des Suchens in diesen Kontexten stets als Regierungsinstrumente und verknüpfte sie nicht nur mit aufklärerischen Idealen, sondern ebenso mit Überwachungs- und Disziplinarmaßnahmen. Seine Auseinandersetzung mit der Wissensorganisation veranlasste ihn zu der anthropologischen These, dass dem menschlichen Gemüt nichts angenehmer sei, als „einen gewissen Faden an der Hand zu haben, dem man sicher folget, hingegen nichts beschwerlicher und schädlicher, als [...] gleich einem Jagdhund, der die Spur verloren, hin und herzulaufen, auf gut Glück, ob man wieder darauf kommen werde“.44 Leibniz warb daher für effiziente Ordnungshilfen und erklärte: Wer die Dinge nur dann „zusammensuchen will, wenn […] vonnöten“, lasse am Ende das Glück entscheiden, ob alles gefunden oder „nicht vielmehr das Beste übersehen wird“.45 Es würde hingegen so manches leichter fallen, wenn „die Sachen einmal wohl gefasset und leicht eingerichtet“ seien.46 Bereits Leibniz wollte die Kulturtechniken des Suchens durch effizientere Techniken des Findens ersetzen. Ganz ähnlich dachte zu Beginn des 19. Jhs. auch der Bibliothekar Martin Schrettinger. Er wollte die Münchener Hofbibliothek in eine liberale Institution verwandeln und die literarischen Bedürfnisse der Bevölkerung möglichst rasch befriedigen. In diesem Sinne warb er für den Einsatz von Buch-Signaturen,
S
40 Vgl. weiterführend Holz: Leibniz. 41 Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, insb. S. 162 f. 42 Vgl. Leibniz: Entwurf gewisser Staatstafeln. In: Ders.: Politische Schriften I, S. 80–89. 43 Vgl. Leibniz: Errichtung eines Notiz-Amtes. In: Ders.: Œuvres 7, S. 358–366. 44 Leibniz: Entwurf gewisser Staatstafeln. In: Ders.: Politische Schriften I, S. 84. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 83.
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Suchen Konjunkturen
Zettelkästen und Schlagwort-Katalogen. Seine Lehren folgten der Annahme, dass eine Bibliothek „das schnelle Auffinden“ der Bücher zur „Befriedigung eines jeden literarischen Bedürfnisses“ befördern müsse.47 Dieses Ziel erklärte er kurzerhand zum ‚obersten Grundsatz der Bibliothek-Wissenschaft‘. Schrettinger vertrat damit eine Position, die im frühen 19. Jh. umstritten war.48 Insbesondere der Dresdener Bibliothekar Friedrich Ebert gilt als ein scharfer Kritiker dieser neuen Bibliothekslehre. In seiner Monografie DIE BILDUNG DES BIBLIOTHEKARS (1820) warf er Schrettingers Einrichtungsmethode eine „grobe Mechanik“ sowie eine „überfeine Theorie“ vor.49 Ebert kritisierte, dass es keine Bedenken gebe, den erstbesten „Einfall als Princip an die Spitze ganzer Wissenschaften zu stellen“, und konnte nicht verstehen, warum die Bibliothekswissenschaft nun glaubte, dieses Prinzip „im schnellen Auffinden entdeckt zu haben“.50 Sein Einwand richtete sich gegen eine ‚Suchmaschine‘, die alles dem Zweck unterwirft, Angebot und Nachfrage reibungslos zusammenzuführen. Denn Ebert ging nicht davon aus, dass die Wissenssuche eindeutig zu programmieren sei: In der That bewähren sich im bibliothekarischen Kreise recht eigentlich die Worte: Suchet, so werdet ihr finden. Darum aber sey auch der Bibliothekar ein hundertaügiger Argus, spähe bald mit bald ohne Absicht (denn auch das absichtslose Suchen lehrt Treffliches finden) alle Theile seiner Bibliothek durch, und zeichne sich fleissig auf, was er von diesen Wanderungen mit zurück bringt. Ohne Ertrag wird er nie zurückkommen, die Bibliothek sey so klein, als sie wolle.51
Eberts kritische Perspektive auf die zunehmende Technisierung und Standardisierung von Suchhilfen spiegelt sich in den gegenwärtigen Debatten über Web-Suchmaschinen. Die Online-Suche ist jedoch wesentlich komplexer, als es die Bibliotheken des 19. Jhs. waren. Die weltweite Vernetzung, die vielfältigen
47 Schrettinger: Versuch eines vollständigen Lehrbuchs der Bibliothek-Wissenschaft, I . Heft,
S. 17. Das Heft erschien erstmals im Jahr 1808. Die Hervorhebungen wurden übernommen.
48 Vgl. weiterführend Garrett: Redefining Order in the German Library. In: Eighteenth-
Century Studies, S. 103–123
49 Ebert: Die Bildung des Bibliothekars, S. 18. 50 Ebd., S. 7 f. [Herv.i.O.] 51 Ebd., S. 50 f. [Herv.i.O.]
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Suchen Konjunkturen
Zugriffs- und Manipulationsmöglichkeiten, das automatisierte Auslesen gigantischer Datenmengen und die komplexen kapitalistischen Geschäftsmodelle führen geschlossene Theorien und Konzepte schnell an ihre Grenzen. Und so lässt sich in der interdisziplinären Suchmaschinenforschung eine große Beunruhigung und Überforderung beobachten. Ich möchte vier Aspekte hervorheben, die in der gegenwärtigen Suchmaschinenforschung eine besondere Rolle spielen: (1.) die Befürchtung, der Wissenskanon der Gesellschaft könne durch zielgruppenorientierte Selektionen und Filter zunehmend fragmentiert werden, (2.) der Vorwurf, Such-Algorithmen würden dominante Machthierarchien und unterdrückende Strukturen reproduzieren, (3.) die Beobachtung, dass digitale Suchmaschinen über ihre kybernetischen Steuerungsprozesse die suchende Bevölkerung überwachen und kontrollieren, und (4.) die Hilflosigkeit gegenüber der Intransparenz der gegenwärtigen Technologien. (Zu 1.) Die Sorge vor einer informationstechnischen Fragmentierung der Gesellschaft wird durch zwei Umstände verstärkt: Einerseits wird befürchtet, dass es kein ausreichendes Bewusstsein für die Manipulationen der Web-Suche gibt, und andererseits wird kritisiert, dass die Relevanzkriterien immer flexibler auf die einzelnen Nutzenden zugeschnitten werden. Der amerikanische Aktivist Eli Pariser greift diese Befürchtungen mit seinem Konzept der ‚Filter Bubble‘ auf. Er nimmt an, dass die Suchenden unbemerkt in individuelle Informationsblasen geraten, die mitunter verzerren, „was wichtig, wahr und wirklich ist“.52 Nicht zuletzt aber würden die Informationsblasen zu einem Verlust von ‚Kreativität‘ und ‚Offenheit‘ führen. Web-Suchmaschinen würden „einen passiven Informationskonsum“ befördern, „der Erkundungen und Entdeckungen im Wege steht“.53 (Zu 2.) Die eingangs bereits vorgestellte Safiya Umoja Noble begreift das Internet als das „am wenigsten regulierte soziale Experiment unserer Zeit“.54 Infolgedessen hätten es marginalisierte Gruppen im digitalen Raum besonders
S
52 Pariser: Filter Bubble, S. 28. 53 Ebd., S. 102. 54 Noble: Algorithms of Oppression, S. 6: „We need all the voices to come to the fore and
impact public policy on the most unregulated social experiment of our times: the Internet.“ (Übersetzung von R.S.).
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Suchen Konjunkturen
schwer. Noble beschreibt mit Hilfe des Begriffs ‚technological redlining‘, wie Menschen und Inhalte durch automatisierte Prozesse markiert und ausgegrenzt werden.55 Insbesondere der Web-Suchmaschine Google wirft sie in diesem Kontext rassistische Tendenzen vor. In ihrem Buch belegt sie diese Wahrnehmung, indem sie eine Reihe von Suchergebnissen mit höchst tendenziösen Inhalten dokumentiert. Die Medienwissenschaftlerin Astrid DeuberMankowsky fragt, ausgehend von ähnlichen Beobachtungen, ob es „unter den Bedingungen der Neoliberalisierung, Ökonomisierung und Überwachung mit den gewaltsamen Folgen sogenannter Fake News, des Rassismus, der Homophobie und Misogynie“ überhaupt noch möglich ist, im Internet ein kritisches Denken zu etablieren.56 (Zu 3.) Der Historiker David Gugerli stellt angesichts der Online-Suche fest, dass sich mit Suchmaschinen „Hoffnungen auf Fundamentaldemokratisierung, informationelle Emanzipation und vollständige Übersicht ebenso verbinden“ lassen, „wie die Horrorvisionen eines […] Überwachungsstaats, der über ein technokratisches Wissensmonopol verfügt“.57 Er unterscheidet vier basale Leistungen, die ein System vollbringen müsse, um gegenwärtig als ‚Suchmaschine‘ gelesen zu werden. Zunächst müssten die Ziele einer Suche als Objekte definiert werden. Daraufhin könne eine Adressierung erfolgen, also eine Zuordnung von konkreten Anschriften. Damit ein Suchverfahren durchgeführt werden kann, bedürfe es ferner einer Programmierung und einer Simulation, die gewährleisten, dass die adressierten Objekte jeweils ausgewählt und mit den Suchanfragen abgeglichen werden.58 Diese vier Operationen würden genügen, um eine Übersicht der Norm und eine Überwachung ihrer Ausnahmen systematisch zu gewährleisten.59 Die Ökonomin Shoshana Zuboff spricht im Hinblick auf gegenwärtige Big-Data-Analysen von einer neuen Marktform, die sie als ‚Überwachungskapitalismus‘ bezeichnet und in deren Rahmen „menschliche Erfahrung als Rohstoff
55 Vgl. ebd., S. 1. 56 Deuber-Mankowsky: Die Wahrheit des Relativen in der Krise der Fake News. In: Zeit-
schrift für Medienwissenschaft, S. 33.
57 Gugerli: Suchmaschinen, S. 11. 58 Vgl. ebd., S. 15 f. 59 Vgl. ebd., S. 17 f.
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Suchen Gegenbegriffe
zur Umwandlung in Verhaltensdaten“ verarbeitet werde.60 Zuboff bezeichnet Google als Pionier dieser „übermächtigen neuen Spielart des Kapitalismus“.61 Gilles Deleuze etablierte mit seinem Begriff der ‚Kontrollgesellschaft‘ bereits zu Beginn der 1990er Jahre ein bis heute beliebtes Analysewerkzeug, um zu markieren, dass die gegenwärtigen Regime die Subjekte nicht mehr ‚disziplinieren‘ wollen.62 Im Rückgriff auf dieses Konzept betont der Medienwissenschaftler Theo Röhle, dass für Web-Suchmaschinen auch „irreguläres Verhalten […] kontrollierbar“ sei, da es keine Gefahr mehr für das System darstelle, sondern von diesem zu ökonomischen Zwecken ausgewertet werden könne.63 (Zu 4.) Die genannte Kritik erscheint nicht zuletzt deswegen so virulent, weil die komplexen Selektionsprozesse der digitalen Maschinen im Verborgenen operieren. Web-Suchmaschinen sind technische ‚Black Boxes‘ in dem Sinne, dass ihre Funktionsweisen unbekannt bleiben und sie nur über ihre Inputs und Outputs zugänglich gemacht werden.64 Diese radikale Intransparenz verstärkt die Sorgen und lässt Web-Suchmaschinen schnell wie mächtige Phantome erscheinen, die alles sichtbar machen, selbst jedoch im Unsichtbaren verbleiben. So resümieren Zygmunt Bauman und David Lyon in einem gemeinsamen Dialog: „Während unser Alltag für die uns beobachtenden Organisationen in allen Details transparenter wird, entziehen sich deren Aktivitäten zunehmend unserer Einsichtsmöglichkeiten.“65 Das Suchen nach Informationen verweist in diesem Zusammenhang einmal mehr auf ein komplexes, technisches Zusammenspiel aus Wissen und Macht, in dessen Zentrum sich das Subjekt konstituiert, das nicht nur sucht, sondern jederzeit selbst gefunden werden kann. GEGENBEGRIFFE Das Ziel einer Suche besteht in der Regel darin, auf etwas
Verborgenes zuzugreifen, das sich dem direkten Zugriff entzieht. Infolgedessen ließen sich Tätigkeiten wie das Verstecken oder das Verbergen als gegenläufige
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60 Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungs-Kapitalismus, S. 22. 61 Ebd., S. 85. 62 Vgl. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen
1972–1990, S. 254–262.
63 Röhle: Der Google-Komplex, S. 230. 64 Vgl. hierzu auch die eigenen Überlegungen in Schrade: Die Suchmaschine als Black Box. 65 Bauman/Lyon: Daten, Drohnen, Disziplin, S. 24.
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Suchen Gegenbegriffe
Operationen lesen, die eine Suche überhaupt erst provozieren. Im Rahmen meiner Ausführungen möchte ich hier jedoch vor allem das Finden als Gegenbegriff hervorheben. Durch einen erfolgreichen Fund wird die Suche nicht etwa provoziert, sondern im Gegenteil beendet oder sogar für obsolet erklärt. Gerade im Kontext der Wissensorganisation ist nicht nur die Kooperation, sondern insbesondere das Konfliktpotenzial zwischen dem Suchen und Finden von Bedeutung. Insbesondere dann, wenn Maschinen des schnellen Findens die Suche als lästige Tätigkeit begreifen und überwinden sollen. Bei der Programmierung von Suchmaschinen werden aus dieser Perspektive sowohl das Suchen als auch das Finden zu Gegenständen, die analysiert, instrumentalisiert und manipuliert werden können. Die Maschinen des Findens legen fest, was und wie gesucht werden kann. Die Suche wird eingespeist in ein Programm, das Regeln folgt, um Evidenz und Konsens zu produzieren. Die Zielsetzungen moderner Suchmaschinen sind in besonderem Maße an das Finden gekoppelt, sie orientieren sich am Abgleich von Angebot und Nachfrage. Das Suchen kann hingegen als eine Kulturtechnik gelesen werden, die niemals vollständig zu kontrollieren ist. Eine Suche kann sich von einer fixen Idee treiben lassen. Sie ist dabei mitunter anfällig für äußere Manipulationen, kann aber auch unberechenbar und widerständig; kann spielerisch, investigativ, experimentell bleiben. Die Suche hat das Potenzial, regelhafte Einschränkungen zu durchbrechen. Doch auch wenn angenommen wird, dass das Suchen niemals im Finden aufgeht oder gar von diesem ersetzt werden kann, so bleibt es doch auf einen Fund angewiesen. Denn erst durch das Finden kann die Suche innehalten, abwägen, sich selbst reflektieren. Ohne Fund bleibt die Suche ein Spiel mit dem Unverfügbaren, ein unbefriedigendes Abenteuer. Suchen und Finden bedingen und begrenzen sich in diesem Sinne gegenseitig. Davon ausgehend, lässt sich ein Wechselspiel beobachten: Wenn die Informationssuche „als Störung verstanden [wird], die es zu beseitigen gilt“,66 befördert sie die Entwicklung neuer Techniken des Findens. Sobald das schnelle Finden die Suche jedoch zu stark einschränkt, findet eine Revolte, ein Protest statt, in der ein freieres, flexibleres, offeneres Suchen zurückgefordert wird. Zwischen dem Suchen und
66 Brandstetter/Hübel/Tantner: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Vor Google, S. 9 (vgl. oben).
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PERSPEKTIVEN Die paradoxe Situation, dass Web-Suchmaschinen die Suche nicht nur befördern, sondern zugleich beschränken, und dass jedes suchende Individuum potenziell manipuliert, unterdrückt und selbst gefunden werden kann, bildete die Ausgangslage der Darstellungen. Diese Ambivalenz befördert, dies sollte verdeutlicht werden, nicht erst in der digitalen Gegenwart das Bedürfnis nach einer selbstbestimmteren Suche, sondern hat schon lange die Entwicklung von Suchhilfen begleitet. Ich vertrete die These, dass das Verlangen nach einer unmittelbaren Wunscherfüllung die Programmierung von Suchmaschinen niemals ausschließlich geprägt hat. Der Umstand, dass die Operationen, die ein schnelles Finden ermöglichen, die Suche nach Wissen zugleich einschränken, wurde, so meine Annahme, stets mitreflektiert. Die Spannungsverhältnisse zwischen Emanzipation und Unterdrückung, zwischen Selbstbestimmung und Disziplinierung, zwischen Finden und Gefunden-Werden sind schon seit langer Zeit ein zentraler Bestandteil der Informationssuche. Vilém Flusser beobachtete bereits zu Beginn der 1990er Jahre, dass die ‚Geste des Suchens‘ gegenwärtig einem großen Wandel unterworfen ist. Insbesondere die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis beziehe sich immer stärker auf die Zukunft. Sie sei „eine Projektion ihrer selbst in die Zukunft, die von allen Seiten heranrückt, ein Entwerfen von Szenarien auf die Zukunft“.67 Auch im Kontext der Web-Suche spielt die Prognostik heute eine immer wichtigere Rolle. Das menschliche Suchverhalten wird von Algorithmen antizipiert, zukünftige Interessen werden vorausgesagt, Produkte und Informationen werden selbst ohne Anfrage automatisch unterbreitet. Gerade aufgrund dieser zunehmenden Kontrolle und Entmündigung der Suchenden bleibt es wichtig, die technologische Entwicklung der Wissensorganisation aus einer medienhistorischen Perspektive zu begleiten und kritisch zu reflektieren.
Suchen Perspektiven
dem Finden herrscht ein Konflikt, der sich in immer neuen Kulturtechniken und Maschinen der Wissensorganisation niederschlägt.
S
FORSCHUNG Web-Suchmaschinen gibt es erst seit den 1990er Jahren. Daher ist auch das sie betreffende Forschungsfeld noch recht jung. Besonders eine
67 Flusser: Gesten, S. 215.
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Suchen Forschung
Reihe interdisziplinärer Sammelbände legte den Grundstein einer neuen Suchmaschinenforschung. Bedeutende Titel sind u.a.: DIE GOOGLE-GESELLSCHAFT (2005), DIE MACHT DER SUCHMASCHINEN (2007), HANDBUCH INTERNET SUCHMASCHINEN (2008), WEB SEARCH: MULTIDISCIPLINARY PERSPECTIVES (2008), DEEP SEARCH (2009), DIE GOOGLEISIERUNG DER INFORMATIONSSU68 CHE (2014). Einschlägige Monografien zu dem Thema sind u.a. Battelle: DIE SUCHE (2006), Röhle: DER GOOGLE-KOMPLEX (2010), Noble: ALGORITHMS 69 OF OPPRESSION (2018). Seit dem Aufkommen der Web-Suche erschienen auch vermehrt Aufsätze, Monografien und Sammelbände, die Institutionen, Techniken und Berufe der Wissensorganisation in den Fokus rückten und historisch untersuchten. Gegenstände dieser Untersuchungen sind u.a. Adressbüros (Tantner 2015), Akten (Vismann 2000), Archive (Friedrich 2013), Bibliotheken (Wegmann 2000), Diener (Krajewski 2010), Enzyklopädien (Stammen/Weber 2004), Hausnummern (Tantner 2007), Schränke (te Heesen/Michels 2007), Sekretäre (Siegert/Vogl 2003), Zeitungsausschnittdienste (te Heesen 2006) und Zettelkästen (Krajewski 2002).70 Ein breiter kulturhistorischer Blick auf die Techniken des Suchens und Findens hat im Anschluss an die gegenwärtige Brisanz ebenfalls zugenommen, bleibt jedoch auch nach wie vor eher eine Seltenheit. Im deutschsprachigen Raum leisteten der Essay SUCHMASCHINEN (2009) von David Gugerli sowie der interdisziplinäre Sammelband VOR GOOGLE (2012) von Brandstetter/ Hübel/Tantner eine Art Pionierarbeit.71 Die hier geteilten Überlegungen
68 Vgl. Lehmann/Schetsche (Hrsg.): Die Google-Gesellschaft; Machill/Beiler (Hrsg.): Die
Macht der Suchmaschinen; Lewandowski (Hrsg.): Handbuch Internet-Suchmaschinen; Spink/ Zimmer (Hrsg.): Web Search; Becker/Stalder (Hrsg.): Deep Search; Stark/Dörr/Aufenanger (Hrsg.): Die Googleisierung der Informationssuche. 69 Vgl. Battelle: Die Suche; Röhle: Die Google-Gesellschaft; Noble: Algorithms of Oppression. 70 Vgl. Tantner: Die ersten Suchmaschinen; Vismann: Akten; Friedrich: Die Geburt des Archivs; Wegmann: Bücherlabyrinthe; Krajewski: Der Diener; Stammen/Weber (Hrsg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung; Tantner: Die Hausnummer; te Heesen/Michels (Hrsg.): auf\zu; Siegert/Vogl (Hrsg.): Europa; te Heesen: Der Zeitungsausschnitt; Krajewski: Zettelwirtschaft. 71 Vgl. Gugerli: Suchmaschinen; Brandstetter/Hübel/Tantner: Vor Google.
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Suchen Forschung
sind zudem das Ergebnis meiner eigenen langjährigen Forschungsarbeit. Sie werden in meiner Monografie WER SUCHT, KANN GEFUNDEN WERDEN (2022) weitergehend verhandelt.72 Aufgrund der anhaltenden Aktualität ist davon auszugehen, dass das skizzierte Feld in den nächsten Jahren um weitere Untersuchungen bereichert wird. Ein großes Desiderat im Bereich der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Informationssuche stellen insbesondere interkulturelle Vergleiche dar. Die meisten der aufgeführten Titel fokussieren sich stark auf den westlichen Kulturraum. Es wäre daher z.B. äußerst interessant, sich anzuschauen, wie sich die Suche als Kulturtechnik auf unterschiedlichen Kontinenten entwickelt hat und inwiefern sich diese Entwicklungen heute im gesellschaftspolitischen Umgang mit der Online-Suche wiederfinden.
S
72 Vgl. Schrade: Wer sucht, kann gefunden werden.
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Unter: https://www.youtube.com/watch? v=SnUGzCgAaMs [aufgerufen am
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Recht, Frankfurt/M. (2000).
und Finden im alexandrinischen Zeitalter,
Köln (2000).
Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwa-
chungs-Kapitalismus, Frankfurt/M./New
York (2018).
TAGGEN PABLO ABEND
war leidenschaftlicher Alpinist und Verfasser von Reiseberichten. Nachdem er sein Philosophiestudium „aus Unlust zum Studieren“1 abbrach, verschaffte ihm sein Vater eine Stelle als Praktikant in Wiener Kanzleien, woraufhin er bei der Hofkammer als Registratur-Assistent angestellt wurde, bei der er bis zu seinem Tod arbeiten sollte. Einen eigenen Eintrag im 1865 erschienenen BIOGRAPHISCHEN LEXIKON DES KAISERTHUMS OESTERREICH verdiente sich Kyselak jedoch weder durch diese Anstellung noch aufgrund seiner schriftstellerischen Versuche. Zwar erlangte er durch seine Wanderungen zu Fuß quer durch Österreich einen gewissen Bekanntheitsgrad, doch auch diese Reiseaufzeichnungen verhalfen ihm nicht zu seinem Ruhm.2 Zu einer geradezu „märchenhafte[n] Gestalt“3 wurde Kyselak durch eine eigentümliche Praxis, die er während seiner Wanderungen ausübte: Überall, wohin ihn seine Füße trugen, hinterließ er seinen Namen. In den Bergen Tirols, in der Steiermark und um Salzburg, in den Ungarischen Karpaten und in Siebenbürgen, in Höhlen und an fast unzugänglichen Stellen – auf Felsplatten, an Talwänden und in Grotten –, überall hinterließ Kyselak seine Inschrift.4 Stets war er mit Pinsel und schwarzer Farbe unterwegs, um seinen Namen in großen Lettern anzubringen. Laut Franz Heidinger, Büchersammler
Taggen Anekdote
ANEKDOTE Der 1798 in Wien geborene Joseph Michael, alias Josef Kyselak,
1 Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, S. 444. 2 Obschon die Veröffentlichung seiner dafür gewürdigt wird, den „nicht zu unterschätzenden
[Wert] der Wahrheit [zu]enthalte[n]; denn der Wanderer erzählt darin nur das, was er selbst gesehen, sozusagen mit seinen eigenen Füßen erprobt hat.“ Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, S. 445. 3 Ebd. 4 Angeblich geht seine „Manie“ auf eine enttäuschte Liebe zurück und mit dem Hinterlassen seines Namens wollte Kyselak erreichen, dass die Geliebte sich beim Anblick seines Namens immer an ihn erinnerte. Eine andere Erklärung führt eine Wette an, bei der es darum ging, den eigenen Namen in der gesamten Österreichischen Monarchie bekannt zu machen, ohne dafür ein Verbrechen oder Selbstmord zu begehen. Binnen dreier Jahre wollte Kyselak in den abgeschiedensten Regionen bekannt werden. Vgl. Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiser thums Oesterreich, S. 445.
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Taggen Anekdote
und Wirtshausbesitzer aus Wien-Margareten, der seine Gedanken zu Kyselaks merkwürdiger Praxis niederschrieb, markierte der signierende Wanderer besonders Orte, die eine schöne An- oder Aussicht boten. Die meisten dieser Tags stammen von ihm selbst, wobei der Einschub im Biographischen Lexikon des Kaiserreichs „wenigstens zum größten Theile“5 darauf hindeutet, dass es auch Nachahmer gab, die Kyselaks Praxis imitierten:6 Eine Praxis, die mit Fug und Recht als historischer Vorläufer des GraffitiTaggens gelten kann. Zwar finden sich Namensgravuren nach dem Muster „XY war hier“ bereits in der Antike, entdeckt hat man solche in Wände eingeritzten tituli memoriales zum Beispiel in Pompeji7 oder als Existenzbekundungen auf den durch römische Bausklaven hergestellten Ziegeln,8 Kyselaks Vorgehen weist jedoch einen bedeutenden Unterschied auf. Er gilt als erster habitueller Tagger, denn er schritt mit Vorsatz zur Tat mit einem beinahe zwanghaft anmutenden Drang zur Wiederholung. Dabei benutzte Kyselak angeblich sogar Schablonen, um seinen Namen und das Datum möglichst schnell auftragen zu können und dem Schriftzug eine einheitliche Gestalt zu geben.9 Und da ist noch das „Element der Renitenz“10, das ihn mit den modernen Taggern verbindet. Zwar hat ihn das biedermeierliche Österreich lange gewähren lassen, doch irgendwann bekam Kyselak Schwierigkeiten mit den Behörden. Das Anbringen seines Namens auf einer frisch eingeweihten Donaubrücke wurde ihm zunächst von Amtswegen her untersagt. Kyselak gehorchte jedoch nicht, sondern brachte seinen Namen zwar weniger offensichtlich, dafür umso größer
5 Ebd. 6 Angeblich habe sogar Alexander von Humboldt auf dem Gipfel des Chimborasso die In-
schrift „Kyselak 1837“ vorgefunden, was jedoch schon deshalb nicht stimmen kann, weil Kyselak bereits 1831 verstarb. Vgl. Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, S. 446. 7 Vgl. etwa Langer: Ancient Street Signs, Posters, and Graffiti, S. 36; sowie Lohmann: Graffiti als Interaktionsform. 8 Vgl. Sennett: Handwerk, S. 183 f. 9 „Modern sind Kyselaks Graffiti, weil er […] mit Vorsatz arbeitet, oft sogar schon mit einer Schablone. Es geht ihm um die Reproduzierbarkeit des Gleichen. Dadurch wird sein Name zum ‚Logo‘, zu einer Art Signet und Markenzeichen.“ Staguhn: Vom Pinsel getrieben. In: Die Zeit, 04.04.2007. Unter: https://www.zeit.de/2007/15/A-Kyselak/komplettansicht [aufgerufen am 04.03.2020]. 10 Ebd.
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in der Wölbung des Brückenbogens an, wo ein Schiffer ihn wenige Tage nach der Einweihung entdeckte. Nachdem er sogar ein kaiserliches Gebäude mit seinem Namens-Tag versehen haben soll, wurde er wohl von Kaiser Franz höchstpersönlich einbestellt, der ihn für seine „Unart“ rügte und ihm sein Hobby untersagte.11
etikettieren, kennzeichnen, markieren) entlehnt, wo es sich wiederum vom Substantiv tag ableitet. Seine Bedeutung geht auf die Bezeichnung für ein loses Stück Stoff oder einen Stofffetzen zurück (kurz für das engl. „tagrag“), eine Ableitung des Skandinavischen „tagg“, was im Schwed. für Zacke, Spitze und im Norweg. für Stachel oder Dorn steht.12 Eine ähnliche Bedeutung hat das Mittelniederdt. „tagge“, das für Ast, Zweig, Stachel benutzt wurde. Die Bedeutungsverschiebung könnte von der Verwendung für eine Metallspitze am Ende einer Schnur oder Kordel herrühren (ein lose hängender Teil) oder letztlich auf die indoeuropäischen Wortwurzeln für Fransen, Schachtelhalm oder Haarlocken zurückgehen. Die Bedeutung von tag als „Etikett“ wird erstmals 1835 erwähnt; ab 1935 wird die Bedeutung „Autokennzeichen“ aufgezeichnet, ursprünglich ein Unterwelt-Slang.13 In der neueren Bedeutung kommt es zu einer metaphorischen Erweiterung des Bedeutungsgehalts von Tag als ein an etwas befestigtes Etikett. Das Tag steht hier auch für eine elektronische Markierung, die es, an eine Person oder Sache angebracht, ermöglicht, den Aufenthaltsort zu verfolgen. Das transitive Verb taggen bedeutet demnach, eine Person oder Sache mit einer elektronischen Markierung zu versehen, um die Bewegung zu kontrollieren oder zu überwachen. In den USA der 1970er Jahre wird der Begriff erstmals in Zeitungsberichten für die elektronischen Etiketten verwendet, die in Form eines schweren Plastiketiketts als Schutz vor Ladendiebstahl an Waren angeheftet
Taggen Etymologie
ETYMOLOGIE Der Neologismus taggen ist dem engl. „to tag“ (auszeichnen,
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11 An dieser Stelle berichtet das Biographische Lexikon des Kaiserthums von einer weiteren
Legende, nach der der Kaiser nach Kyselaks Wegtreten, dessen Namen nebst Jahreszahl auf seinem Schreibtisch wiedergefunden haben soll. Vgl. Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, S. 446. 12 (Art.) tag. In: Partridge: Origins. A Short Etymological Dictionary of Modern English. 13 (Art.) tag. In: Online Etymology Dictionary. Unter: https://www.etymonline.com/word/tag [aufgerufen am 05.03.2020].
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Taggen Kontexte
werden. Feldversuche mit ähnlichen Etiketten an Menschen fanden im selben Jahrzehnt in psychiatrischen Einrichtungen statt. In den späten 80er Jahren wurde diese Idee auf Gefangene und Menschen auf Bewährung ausgedehnt. Bei diesem Markierungssystem wurde ein kleiner elektronischer Funksender mit einem Band am Handgelenk oder Knöchel der Person befestigt. Parallel dazu bildete sich eine weitere Verwendung von Tag im Sinne von „Etikett“ heraus: Erstmals in der ersten Hälfte der 70er Jahre wird der Begriff Graffiti-Tag für die Wandbilder in den Straßen von New York benutzt. Hier entsteht mit der Popularisierung der Hip-Hop-Kultur Mitte der 1980er auch eine weitere Bedeutung des Verbs taggen (engl. tagging): mit Graffiti einen Ort oder Gegenstand dekorieren bzw. eine Graffiti-Signatur an einem öffentlichen Ort hinterlassen.14 Eine durch Plattformen wie Twitter und Instagram populär gewordene Spielart des Taggens ist das Setzen eines Hashtags. Ein Hashtag wird vom DUDEN als ein „mit einem vorangestellten Rautezeichen [hash] markiertes Schlüssel- oder Schlagwort in einem [elektronischen] Text“15 beschrieben. Es handelt sich folglich um ein Wort, dem ein # vorangestellt wird. KONTEXTE Taggen bedeutet, etwas (einen Ort, eine Person, ein Tier, einen Datenbestand) mit Zusatzinformationen (auch: Metainformationen) oder einem datensammelnden Sender zu versehen (Annotation) zum Zweck der Klassifikation, Identifikation und Lokalisation. In der Logistik werden Objekte mit Barcodes und RFID-Chips16 getaggt, um ihre Position in der Lieferkette verfolgen zu können, durch das Taggen von Tieren bekommen Forscher Einblicke in deren Verhalten und Gewohnheiten17 und Museumsbesucher*innen können mittels QR-Codes digitale Zusatzinformationen zu Ausstellungsstücken abrufen. Das Taggen ist in so vielen unterschiedlichen Kontexten zu finden, dass eine umfassende Darstellung kaum möglich ist. Das Graffiti-Taggen, von dem in der Eingangsanekdote die Rede war, bezeichnet das Ausführen eines Signaturkürzels (Tags), häufig das Akronym
14 Vgl. (Art.) tag. In: Knowles/Elliott (Hrsg.): The Oxford dictionary of new words. 15 (Art.) hashtag. In: Duden Online. Unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Hashtag
[aufgerufen am 05.03.2020].
16 RFID steht für radio-frequency identification. 17 Vgl. Bolinski: Animal Tagging. In: Engemann/Sprenger (Hrsg.): Internet der Dinge, S. 205–221.
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Taggen Kontexte
des ausführenden Graffitikünstlers (Writers). Das Taggen dient hier, wie einst bei Kyselak, der Markierung eines Ortes und oftmals der Zurschaustellung eines innovativen und wiedererkennbaren Stils. In erster Linie bedeutet taggen das Setzen einer indexikalischen Referenz, weshalb der Tag auch als „genealogische Grund- oder Reinform eines jeden (Graffiti-)Pieces“18 gelten kann. Dabei sind Tagger darauf bedacht, ihren Tag möglichst gut sichtbar anzubringen und weit zu verbreiten, wodurch eine Art Wettkampfkultur entstehen kann. Eine andere Anwendung finden Tags beim Militär, wo sie als Erkennungsmarken zur Identifikation verwundeter und getöteter Soldat*innen eingesetzt werden. Im Soldatenjargon werden diese Erkennungsmarken auch „Hundemarken“ (engl. Dog Tags) genannt, in Anlehnung an die Marken, die bei Hunden zum Nachweis über die Zahlung der Hundesteuer oder als Identitätsmarke am Halsband angebracht werden. Bei militärischen Erkennungsmarken handelt es sich um Plaketten, die von Soldat*innen an einer Halskette getragen werden. Die bereits im römischen Heer eingesetzten signacula bestehen heute aus einem Stück dünnem rostfreien Metall, in das Basisinformationen über den Träger oder die Trägerin eingestanzt sind, neben dem Namen und einer Identifikationsnummer gehören dazu in manchen Ländern auch die Blutgruppe (Rhesusfaktor), der Impfstatus und die Religionszugehörigkeit.19 Neben diesen analogen Kontexten, in denen Tags zum Einsatz kommen, wird das Taggen als mediale Praxis heutzutage meist mit digitalen Medien in Verbindung gebracht. Bei genauerer Betrachtung lässt sich taggen als hybride Praxis beschreiben, die eine Unterscheidung zwischen analog und digital unterläuft bzw. sich im Dazwischen bewegt. Frühe Beispiele solcher hybriden Praktiken, die Verbindungen zwischen physischen und medialen Räumen schaffen, finden sich in verschiedenen Locative-Media-Projekten. Hier werden Tags an geografischen Orten oder physischen Objekten angebracht, die als Links zu digitalen Inhalten fungieren. Bei Yellow Arrow, das im Jahre 2004 an den Start ging, handelte es sich um ein partizipatives Kunstprojekt, bei dem Teilnehmer*innen gelbe Pfeile im Stadtraum
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18 Glaser: Street Art und neue Medien, S. 371. 19 Vgl. (Art.) Erkennungsmarke. In: Wikipedia. Unter: https://de.wikipedia.org/wiki/
Erkennungsmarke [aufgerufen am 05.03.2020].
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Taggen Kontexte
anbringen konnten, auf denen Zahlencodes aufgedruckt waren. Wurde eine SMS an eine bestimmte Nummer geschickt, die mit dem jeweiligen Code begann, bekam man kurze Texte über den Ort zugeschickt, die andere Teilnehmer*innen hinterlassen hatten. Auf diese Weise verband jeder Pfeil den physischen Ort mit zusätzlichen digitalen Inhalten, die über das Mobiltelefon abgerufen werden konnten. Ebenso wie bei Yellow Arrow handelte es sich beim Projekt Urban Tapestries20 um eine Praxis, die Orte mit zusätzlichen digitalen Informationen versah. Das zentrale Motiv ist das Sammeln und die Verfügbarmachung von sozialen Wissensbeständen, die individuelle Bedeutungsebenen und lokales Wissen beinhalten.21 Bei den oben Genannten handelt es sich um einzelne, künstlerisch-experimentelle Projekte. Nahezu ubiquitär wurde das Taggen von Orten und Objekten mit der Entwicklung zweidimensionaler Codes, die an beliebige Objekte angebracht werden können. Zweidimensionale Codes sind die Nachfolger des Strichcodes, wie er seit den 1970er Jahren auf jedem Produkt zu finden ist. Beim Strichcode handelt es sich um einen sogenannten 1D-Code, mit dem alphanumerische Zeichen in Reihe angeordnet werden können. Daher wird der Strichcode auch Balken- oder Streifencode genannt. Die Informationsmenge eines eindimensionalen Codes genügt zwar, um die Preisinformation und die Artikelnummer im Supermarkt als binären Code an das Produkt zu heften und an der Kasse mit einem Scanner auszulesen, sie ist für längere Zeichenfolgen aber nicht ausreichend.22 Abhilfe schaffen zweidimensional lesbare Codes wie der von Masahiro Hara und seinem Team 1994 für das japanische Unternehmen Denso Wave, einer Tochterfirma des Automobilzulieferers Denso, entwickelte QR-Code (kurz für Quick Response Code).23 Aufgrund der Möglichkeit zur
20 Urban Tapestries / Social Tapestries. Unter: http://urbantapestries.net/ [aufgerufen am
05.03.2020].
21 Vgl. Tuters/Varnelis: Beyond Locative Media. In: Leonardo, S. 357–363. 22 Die meisten Barcodes können nur maximal 20 bis 40 alphanumerische Zeichen speichern
und nur wenige Sonderzeichen.
23 QR-Codes haben eine höhere Datenkapazität als Barcodes und mit ihnen können alle Arten
von Daten kodiert werden. Dazu gehören alphanumerische, 8-Bit-Doppelzahlen (binär), Kontrollcodes sowie japanische Zeichen. Somit ist eine 1D Barcode lediglich ein Schlüssel zu einer Datenbank, während ein QR-Code als tragbare Datenbank selbst fungieren kann. Vgl. Aktaş: The evolution and emergence of QR codes, S. 34. Die Historie aus der Perspektive der Entwickler gibt es auf der Firmenwebseite. Vgl. Denso Wave. Unter: https://www.denso-wave.com/en/ technology/vol1.html [aufgerufen am 05.03.2020].
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automatischen Fehlerkorrektur und der damit verbundenen Lesbarkeit auch bei Verschmutzung oder partieller Zerstörung verbreitete sich der Code rasch, zunächst im Bereich des Supply Chain Managements in der Logistik. Das Besondere am QR-Code ist neben seiner Robustheit zudem seine Skaleninvarianz: Solange das Lesegerät das Bild formatfüllend und differenziert aufnehmen kann, lässt sich der Code auch entziffern. Auf diese Weise lassen sich Plakatwände und ganze Häuserfassaden mit QR-Codes versehen. Da der Code einfach gedruckt und mittels einer Smart Phone App gelesen werden kann, finden sich QR-Codes heute in vielen Alltagskontexten. In der Printwerbung wird der Code eingesetzt, um auf multimediale Zusatzinhalte wie Produktvideos oder Webseiten zu verlinken, gedruckt auf Konzertkarten, dient er zur Identifikation und Zutrittskontrolle.24 Neben dem QR-Code existieren eine Reihe weiterer zweidimensionaler Standardcodes, die für das Taggen genutzt werden, wie bspw. der Aztec-Code, den der Internationale Eisenbahnverband als Standard für Fahrkarten definiert hat, oder der ältere DataMatrix-Code, der für dauerhafte Beschriftung mittels Laser- und Nadelprägung in der Produktion von Elektronikbauteilen, im Automobilbau sowie gedruckt zur DVFreimachung (Daten-Verarbeitung-Freimachung) von der Post genutzt wird. Angebracht im öffentlichen Raum und auf Objekten in Museen oder abgedruckt in Printmedien, schaffen QR-Codes Verbindungen zwischen physischen Orten und medialen Räumen. Dabei kann das Scannen eines QR-Codes die codierten Daten auf dem Bildschirm des Geräts anzeigen, zu Inhalten im Internet weiterleiten oder bestimmte Aktionen auf dem Endgerät auslösen, wobei eine Internetverbindung nicht immer erforderlich ist.25 Das Taggen mittels QR-Codes ist eine Form des Mediengebrauchs, die zu einer Mediatisierung von Orten und des geografischen Raums führt, indem Informationen auf virtuellen Layern über den Raum gelegt werden, die über die Tags abgerufen werden können. Ebenso wie Graffiti-Tags sind QR-Codes als indexikalische
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24 Die Zeitschrift Spex – Magazin für Popkultur veröffentlichte am 16. Oktober 2007 auf der
Titelseite einen QR-Code unter der Überschrift „Was sagt uns dieser Code?“ Der zugehörige Artikel befasst sich mit dem 2D-Code als Zeichen unserer Zeit und stellt unterschiedliche Anwendungsfelder in der Modebranche und der Musik- und Videoindustrie vor. Liest man den Code aus, erscheint übrigens das Wort „Erkenntnisschnittstelle“ im Display. 25 Vgl. Aktaş: The evolution and emergence of QR codes, S. 29 ff.
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Zeichen beschreibbar, denn sie verweisen auf zunächst abwesende (digitale) Inhalte.26 Taggen kann jedoch auch in umgekehrte Richtung deuten. Beim Geotaggen werden digitale Inhalte indexikalisch referenziert, indem geografische Koordinaten (Breite und Länge) in die Metadaten geschrieben werden, wodurch die Inhalte auf einem bestimmten Punkt auf der Erde verortet werden. Hierbei handelt es sich um die Umkehrbewegung der Praxis, Codes im geografischen Raum anzubringen, um den physischen Raum mit digitalen Inhalten anzureichern. Bei Fotos bezieht sich dies in der Regel auf den Aufnahmeort, dessen geografische Koordinaten neben dem Aufnahmedatum und der Aufnahmezeit, der Brennweite, Blende, Belichtungsdauer und weiteren technischen und rechtlichen Informationen in einem speziellen Dateiformat abgespeichert werden. Anfänglich wurden geografische Koordinaten mittels eines GPS-Empfängers, der als zusätzliche Hardware direkt mit der Kamera verbunden war, direkt in die Metadaten geschrieben oder manuell über die Synchronisation der Zeitstempel der GPS-Punkte und der Aufnahmezeit der Fotos nachträglich getagged. Da GPS-Empfänger heute in jedem Smartphone und in vielen anderen Geräteklassen fest verbaut sind, ist die Geokodierung ein Feature, das standardmäßig aktiviert ist. Das Geotaggen ermöglicht dabei neben dem Auffinden von Informationen auf der Basis von Orten auch ein Nachverfolgen (tracing) von Daten, Menschen, Tieren und Objekten. Das verlorene Smartphone lässt sich über die Positionsdaten ermitteln und Objekte, die mit einem RFID-Tag versehen sind, teilen ihre Position mit, sobald sie ein Lesegerät passieren oder gescannt werden und können so nachverfolgt (getracked) werden. Auch hier werden zusätzliche Informationen – in diesem Fall über die Position und Lage von Objekten – erfasst und digital zugänglich gemacht. Das Geotaggen ist eng mit dem sogenannten Geospatial Web verbunden.27 Dabei handelt es sich um eine Unterkategorie des semantischen Webs, bei dem die semantischen Zusatzinformationen in der Zuweisung und damit Rückbindung an den geografischen Raum bestehen. Für das semantische Web ist
26 Werden QR-Codes gesprüht, ergibt sich eine direkte Verbindung zum Taggen in der Street
Art- und Graffiti-Kultur. Der Berliner Street-Art-Künstler SWEZA nutzt für seine Projekte mit Schablonen gesprühte QR-Codes, die er auf Papier oder Fließen als Träger im Stadtraum anbringt. Vgl. Glaser: Street Art und Neue Medien, S. 312 ff. 27 Vgl. Scharl/Tochtermann (Hrsg.): The Geospatial Web.
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Taggen Kontexte
das Taggen als manuelle und automatische Verschlagwortung von Inhalten eine konstitutive Praxis. Dabei sollen alle im Internet zirkulierenden Inhalte so indexiert werden, dass ihr Bedeutungsgehalt auch von Computern verstanden werden kann. Besonders im Hinblick auf die Onlinesuche visueller Daten spielt dies eine große Rolle. Denn während sich der semantische Gehalt von Texten leichter automatisiert extrahieren lässt – mit allen damit einhergehenden Prob lemen der zeichenhaften Ambiguität –, ist der Inhalt von Bildern wesentlich schwieriger zu erfassen. Bevor der Inhalt näher bestimmt werden kann, müssen Bildinhalte zunächst als distinkte Elemente erkannt und priorisiert werden. Das Taggen ist in diesem Zusammenhang auch ein ökonomisch bedeutsamer Mediengebrauch, denn die Flut an kulturellen Artefakten, die vor allem auf Plattformen für nutzergenerierte Inhalte täglich hochgeladen wird, kann nur mit Hilfe von Metainformationen bewältigt werden. Das Taggen entscheidet darüber, ob etwas gefunden werden kann und damit überhaupt sichtbar ist.28 Als Metadaten sind Tags also die Grundlage der Sichtbarkeit digitaler Inhalte und die Popularisierung des Taggens ist ein Weg, an Metadaten zu gelangen. Im Zuge des Internets der Dinge muss die Verschlagwortung dabei vor allem maschinenverständlich sein, weshalb eine Standardisierung der Formulierung von Metadaten wichtig ist. Nur so können Inhalte, die sonst nur von Menschen verstanden werden, auch für Maschinen interpretierbar gemacht werden. Als alltägliche Form des Mediengebrauchs setzte sich das Taggen mit dem sogenannten Web 2.0 durch.29 Hier wurde es zum dominanten Bestandteil des Mediengebrauchs, Inhalte wie beispielsweise Bilder, Internetseiten oder Social Media-Einträge mit Schlagworten zu versehen, um sie verwalten, sortieren und auffinden zu können. Einem engeren Verständnis nach bedeutet taggen hier, Elemente in Archiven manuell zu indexieren, um eine freie, selbst definierten
T 28 Vgl. Rubinstein: Tags, Tagging. In: Philosophy of Photography, S. 198. Die Bedeutung des Taggens für die Digitalökonomie führt auch dazu, dass die Praxis wie beispielsweise auf der FotoPlattform Flickr als sozial wertvoll angepriesen wird. Google hat das Taggen sogar gamifiziert, indem es mit dem Online-Spiel Google Image Labeller das manuelle Hinzufügung von Metadaten zu Fotos zwischen 2006 und 2011 in eine spielerische Aktivität transformierte. Vgl. (Art.) Google Image Labeler. In: Wikipedia. Unter: https://en.wikipedia.org/wiki/Google_Image_ Labeler [aufgerufen am 05.03.2020]. 29 Vgl. O’Reilly: What is Web 2.0. Unter: https://www.oreilly.com/pub/a/web2/archive/whatis-web-20.html [aufgerufen am 05.03.2020].
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Taggen Kontexte
Kriterien folgende Sortierung zu ermöglichen.30 Als soziale, geteilte Praxis ist das Taggen als Verschlagwortung Teil des Phänomens der Folksonomy. Das Kofferwort setzt sich aus den engl. Begriffen folk und taxonomy zusammen und bedeutet so viel wie Laien-Taxonomie. Darunter fasst man Praktiken wie das Social Tagging oder Collaborative Tagging, bei denen Nutzer*innen digitale Inhalte gemeinschaftlich und ohne fest vorgegebene Regeln verschlagworten. Das soziale Taggen kann als gemeinschaftliche Tätigkeit des Indexierens beschrieben werden und bietet die Möglichkeit, kooperativ erarbeitete Ordnungssysteme als Alternative zu anbieterseitig vorgegebenen Klassifikationen zu entwickeln. PEOPLE-POWERED METADATA FOR THE SOCIAL WEB, so der Untertitel eines im Jahre 2008 erschienen Buches zum Thema,31 soll den Nutzer*innen die Kontrolle über die Generierung und Klassifikation von Wissen geben und so alternative Wissensordnungen stützen. Populär wurde das Prinzip durch die social bookmarking Webseite del.icio.us, die es erlaubte, Internetlinks selbst zu verschlagworten sowie gemeinschaftliche Sammlungen zu erstellen. Eine weitere Plattform, die das Taggen popularisierte und als Paradebeispiel für den Aufbau einer Folksonomy gilt, ist Flickr. In der Foto-Community dienen Tags dazu, die Suche nach passenden Inhalten zu erleichtern. Hochgeladene Bilder können von allen Benutzer*innen mit Tags versehen werden, wenn die Urheberin bzw. der Urheber dies erlaubt. Verschlagwortete, also getaggte Bilder liefern bei Suchen genauere Ergebnisse und werden bei relevanzbasierten Suchen weiter oben in der Trefferliste angezeigt. Taggen transformiert den Mediengebrauch solcher Plattformen, denn es erlaubt, auf der Basis von Stichwörtern durch die Inhalte zu stöbern und die Datenbank durchzublättern (to flick through), indem man sich von Tag zu Tag hangelt. Flickr war auch eine der ersten Dienste, der Tag-Clouds implementierte. Dieses Prinzip des Social Taggings wurde in der Folge auf alle möglichen Inhalte übertragen. Auch auf sozialen Plattformen gehört das Taggen fest zum Mediengebrauch. Auf Facebook werden hauptsächlich Personen durch taggen markiert. Taggen bedeutet hier, sich selbst oder andere Facebook-Nutzer*innen in Posts oder auf Fotos zu markieren, wodurch ein Link auf das entsprechende Profil erstellt
30 Vgl. Rubinstein: Tags, Tagging. In: Philosophy of Photography, S. 197. 31 Smith: Tagging. People-Powered Metadata for the Social Web.
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wird. Dabei macht eine Gesichtserkennungssoftware Vorschläge, wer sich auf einem Foto befindet, und ermöglicht so eine automatische Zuordnung.32
gebrauch des sogenannten Web 2.0. Tagging-Syteme als Alternative zu vorgefertigten Verzeichnissen galten als konstitutiv für den Wandel vom Web 1.0 zum Web 2.0. Tatsächlich hat sich das Taggen ausgehend von der social bookmarking-Seite del.icio.us und der Foto-Plattform Flickr rasant weiterverbreitet. Nachdem sich das Taggen als Verschlagwortung digitaler Artefakte etabliert hatte, erfuhr es mit dem Aufkommen des Hashtags erneut eine Popularisierung. Für die Gegenwart lässt sich behaupten, dass die Verwendung von Hashtags eine der dominanten Formen des Mediengebrauchs auf digitalen Plattformen darstellt. Die zentralen Verwendungskontexte des Hashtags sind der Mikroblogging Dienst Twitter, auf dem der Hashtag als Erstes in die Funktionalität integriert wurde, sowie die Foto-Blogging-Plattform Instagram. Äußerlich unterscheidet sich der Hashtag vom gewöhnlichen Tag nur durch das Hinzufügen eines weiteren Zeichens, dem vorangestellten Rautezeichen „#“, dennoch verändert sich der Gebrauch und damit der Sinn und Zweck von Tags grundlegend. Bislang war das Taggen mit einer Verschlagwortung gleichgesetzt worden und die daraus resultierenden Tags wurden als Teil eines Ordnungsprinzips beschrieben. Der Hashtag erfüllt diese Funktion immer noch, wird aber nicht mehr im Sinne der Folksonomy primär zur bottom-up Indexikalisierung der Datenbanken von Plattformen für nutzergenerierte Inhalte gebraucht, sondern dient als ein Kommunikations- und Informationsfilter für schnelllebige Kommunikationsdienste. Zudem dienen Hashtags dazu, die Kommunikation über ein aktuelles Geschehen dem jeweiligen Ereignis zuzuordnen. Das ermöglicht beispielsweise das Verfolgen einer Veranstaltung in Abwesenheit, wenn Teilnehmer*innen unter einem bestimmten Hashtag darüber berichten, was zu einem Gefühl der Ko-Präsenz führen kann. Essentiell ist der Einsatz von #Hashtags für die Nutzung des Smartphones oder Tablets
Taggen Konjunkturen
KONJUNKTUREN Die Konjunktur des Begriffs ergibt sich aus dem Medien-
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32 Diese Verwendung des Taggens zur Kennzeichnung von Personen ist Gegenstand der De-
batte um die Privatsphäre im Internet. Zudem werden Tags auch eingesetzt, um ungewollt Werbung zu verbreiten, indem Nutzerprofile auf Werbeanzeigen verknüpft werden, was ebenfalls kritisch gesehen wird und zu einem Gegenstand der Regulierung wurde.
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Taggen Konjunkturen
als Second Screen während Live-Übertragungen oder beim Schauen einer Serie im linearen Fernsehen. In Deutschland wird allsonntaglich unter #Tatort die jeweilige Episode des Krimis live kommentiert und debattiert. Zudem sind Hashtags eine Art der Metakommunikation, um eine Aussage, ein Foto oder Video in einen besonderen Zusammenhang zu setzen. Hashtags werden beispielsweise gesetzt, um eine bestimmte Gefühlsregung auszudrücken.33 Das Taggen sorgt für Ordnung in digitalen Diskursräumen, weil es Kommunikationsschnipsel einem bestimmten Ereignis oder Thema zuordnet. Dabei können Hashtags eine eigene Dynamik entfalten und, abhängig von der Art und Weise ihres Einsatzes, selbst breiter angelegte Diskurse anstoßen und aufrechterhalten, als Affektverstärker wirken und unterschiedliche Öffentlichkeiten miteinander verbinden oder sogar erst hervorbringen.34 Besonders auf Twitter werden unter bestimmten Hashtags gesellschaftlich relevante Debatten geführt. Dabei dienen Hashtags nicht nur der Zuordnung von Äußerungen zu bestimmten Themen, sondern werden produktiv dazu eingesetzt, Dinge öffentlich zu machen und sogar gesellschaftspolitische Diskussionen anzustoßen. Damit verbunden ist der Mediengebrauch, mittels Hashtags die eigene Position öffentlich zu machen oder seine Solidarität zu bekunden. Diese Gebrauchsweisen verändern die ursprüngliche Form des Tags als (ein) Schlagwort, indem es den Tag in ein kurzes Statement verwandelt, für das häufig mehrere Worte aneinandergehängt werden. Je nachdem, wie weit sich ein Hashtag verbreitet, schafft das Taggen hier eine Verbindung von persönlichen Themen hin zu einer breiteren öffentlichen Debatte. Beispielsweise berichten Twitter-Nutzer*innen mit dem Hashtag #NotJustSad über ihre Depression und identifizieren zugleich eine gesellschaftliche Tabuisierung, die sich unter anderem darin äußert, dass Menschen mit Depressionen häufig mit der Einschätzung konfrontiert sind, sie seien lediglich traurig und sollten sich zusammenreißen. Zu den bekanntesten Hashtags der letzten Jahre gehört ohne Zweifel #Metoo. Unter diesem Hashtag rief die US-amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano im Oktober 2017 andere Frauen dazu auf,
33 Um darauf zu verweisen und zu betonen, dass ein Foto einen gegenwärtigen Gemütszustand
widerspiegeln soll, kann ein Foto mit dem Hashtag #mood versehen werden.
34 Vgl. Rambukkana: #Introduction. In: Rambukkana (Hrsg.): HashtagPublics, S. 2.
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35 Milano nutzte den Hashtag zehn Tage nachdem erste Anschuldigungen wegen sexueller
Belästigung gegen den mittlerweile verurteilten Filmproduzenten Harvey Weinstein öffentlich wurden. 36 Dabei wird auch die Verwendung des Hashtags kontrovers diskutiert, denn es ist strittig, ob unter diesem lediglich strafbewehrte Handlungen diskutiert werden sollen oder auch Themen wie Alltagssexismus und die Gleichstellung der Geschlechter. 37 Marres: Issues spark a public into being: A key but often forgotten point of the LippmannDewey debate. In: Latour/Weibel (Hrsg.): Making Things Public, S. 208–217. 38 Hashtags werden aber nicht nur von Protestakteuren eingesetzt, auch staatliche Akteure setzen Hashtags zum Zwecke der Politikgestaltung ein, bevorzugt, um Ideen zu verbreiten und zu „branden“. Vgl. Jeffares: Interpreting Hashtag Politics. Das Setzen von Hashtags kann dabei selbst zum Gegenstand von Auseinandersetzungen werden. Das Hashtag hijacking bezeichnet die feindliche Übernahme eines Hashtags, indem eine große Anzahl von menschlichen Benutzer*innen oder automatisierten Softwareagenten einen bestehenden Hashtag aufgreifen und inflationär für divergierende oder widersprechende Aussagen benutzen. Vgl. Gerlitz/Rieder: Tweets are not created equal. 39 Rambukkana: #Introduction. In: Rambukkana (Hrsg.): HashtagPublics, S. 1–10.
Taggen Konjunkturen
in sozialen Medien ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen, Missbrauch und Diskriminierung zu teilen.35 Die sich anschließende, so genannte #MeTooDebatte entwickelte sich weg von der Diskussion konkreter Vorfälle sexueller Belästigung hin zu einer jenseits von Twitter wesentlich breiteren, öffentlich geführten Debatte über toxische Maskulinität, Alltagssexismus und den Stand der Gleichberechtigung.36 Taggen ist hier auch eine Form des Öffentlichmachens und Adressierens von Themen. Über den kollektiven Gebrauch eines Hashtags entstehen (Mikro-) Öffentlichkeiten, die nicht länger aus persönlichen Verbindungen hervorgehen und nicht unbedingt auf geteilten Wertesystemen beruhen. Vielmehr entstehen online issue publics,37 die sich um bestimmte gesellschaftspolitische Themen (issues) herum bilden.38 Hashtags können als „technosocial events“39 von unterschiedlichen Akteur*innen – Individuen und Kollektiven – jeweils einzigartig ausgestaltet werden. Auf diese Weise entfalten Tags innerhalb von Akteursnetzwerken eine Performanz, die zu distinkten Ereignissen führen kann. Inwieweit diese Online-Ereignishaftigkeit dazu genutzt werden kann, Menschen dazu zu mobilisieren, ihren Protest auch offline zu artikulieren und
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auf die Straße zu tragen, ist strittig, wobei ein transgressiver Charakter des Hashtag zwischen online und offline nicht ausgeschlossen ist.40
Taggen Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE In der kompetitiven, wettkampforientierten Graffiti-Kultur
kennt man das Crossen, bei dem Tags anderer Writer mit dem eigenen Schriftzug übersprüht werden.41 Ein direktes Antonym durch eine Präfixbildung hat der Begriff Taggen nicht. Zwar existiert die Bezeichnung Attaging, dabei geht es aber um eine Spielart des Taggens, das in böser Absicht erfolgt. Das Portmanteau aus Attack und Tagging bezeichnet einen Malware-Angriff, der mit einem QR-Code ausgeführt wird. Dabei wird ausgenutzt, dass bei einem Tag nicht ersichtlich ist, wohin der Verweis führt. Eine arglose Nutzerin oder ein argloser Nutzer scannt den Code, wird anschließend aber nicht auf den gewünschten Inhalt weitergeleitet, sondern lädt stattdessen ungewollt eine Schadsoftware auf das Endgerät.42 Abgesehen von diesen antagonistischen Praktiken, die innerhalb der Mediengebräuche des Taggings erfolgen, ergeben sich Gegenbegriffe aus den Mediengebräuchen, gegen die sich das Taggen mehr oder weniger explizit wendet. Strukturell stehen auf Tags aufbauende Ordnungssysteme hierarchischen Datenbanken gegenüber. Verbunden mit dem Aufkommen von nutzergenerierten Inhalten, stand das Taggen für eine unreglementierte, demokratischere Art der Wissensorganisation als Alternative zu tradierten Klassifikationssystemen, die auf zentrale institutionelle Autoritäten angewiesen waren.43 Sowohl beim analogen als auch beim digitalen Taggen geht es um das Hinzufügen von Informationen, die das eigentliche Objekt näher auszeichnen und beschreiben, und zwar aus Sicht der Nutzer*innen. Wie
40 Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem vermeintlich revolutionären Momentum von
#OccupyWallStreet vgl. Gerbaudo: Tweets and the streets, S. 102 ff.
41 Außerhalb der Graffitiszene erlangten die Tags von Thomas Baumgärtel eine gewisse Be-
kanntheit. Der Künstler begann 1986 damit, Kunstorte mit einer auf die Fassade aufgesprayten Banane zu markieren. 42 Vgl. etwa Heise: Android-Trojaner per QR Code. Unter: https://www.heise.de/security// meldung/Android-Trojaner-per-QR-Code-1353146.html [aufgerufen am 05.03.2020]. Eine harmlosere Variante ist das Überkleben kommerzieller QR-Codes mit eigenen Botschaften, wie dies der Graffiti-Künstler SWEZA ebenfalls praktiziert. Solche Formen der Praxis sind vergleichbar mit dem Ad-Busting oder Culture Jamming. 43 Vgl. Rubinstein: Tags, Tagging. In: Philosophy of Photography, S. 198.
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bereits bei den anfangs vorgestellten Projekten im geografischen Raum geht es oftmals darum, individuelle Bedeutungsschichten sichtbar und so lokales Wissen „bottom-up“ zugänglich zu machen. Die Geschichte des Taggens als digitale Medienpraxis ist daher eng verbunden mit den Ideen einer technologisch ermöglichten Selbstorganisation kollektiver Intelligenzen, die vor allem um die Jahrtausendwende Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen waren.44
des Taggens vorgestellt: vom Taggen als Praxis in der Graffitikultur über das Anbringen von Tags an Objekte in der Logistik bis hin zum digitalen Taggen als Verschlagwortung von digitalen Inhalten mit Metadaten zum Zwecke der Filterung. Es zeigt sich, dass taggen kein Mediengebrauch ist, der sich auf ein Praxisfeld45 eingrenzen lässt. Dennoch lassen sich einige Eigentümlichkeiten ausmachen, die in allen Formen des Taggings zu finden sind. Da wäre zum einen der Brückenschlag zwischen analog und digital, den das Taggen bewerkstelligen kann. Durch den Einsatz von Tags erfährt der physische Raum eine digitale Erweiterung und umgekehrt werden Daten mittels Hinzufügen geografischer Koordinaten wieder an physische Orte rückgebunden. Damit ist das Taggen eine Form des Mediengebrauchs, die kennzeichnend für ein postdigitales Zeitalter ist, denn das Taggen ist so selbstverständlich geworden, dass das einst mit diesem Mediengebrauch verbundene emanzipatorische Potential einer alternativen Wissensordnung im Digitalen in gegenwärtigen Kontexten kaum noch eine Rolle zu spielen scheint. Darüber hinaus zeigt sich am Mediengebrauch des Taggens, dass zwischen einer analogen und digitalen Mediennutzung ein Kontinuum besteht. Neben dem Brückenschlag von den analogen in die digitalen Umgebungen verbindet das Taggen auch den individuellen Mediengebrauch mit größeren (teil-)öffentlichen Sphären. Dies trifft sowohl auf das Taggen von medialen Inhalten zum Zwecke der Kategorisierung zu als auch auf den Einsatz von Hashtags, wenn auch anders gelagert. Mit der Transformation von einer individuellen in eine soziale Medienpraxis sind auch
Taggen Perspektiven
PERSPEKTIVEN Weiter oben wurden sehr heterogene Anwendungsfelder
T
44 Vgl. etwa Surowiecki: The wisdom of crowds; Rheingold: Smart Mobs; Lévy: Die Kollektive
Intelligenz.
45 Zum Begriff des Praxisfeldes siehe Schatzki: Introduction: Practice Theory. In: Schatzki/
Knorr Cetina/Savigny (Hrsg.): The practice turn in contemporary theory, S. 10–23.
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Taggen Perspektiven
enorme Bedeutungsverschiebungen verbunden. Da sich diese Verschiebungen innerhalb weniger Jahre und in enger Abhängigkeit mit den technologischen Bedingungen vollziehen, lässt sich vermuten, dass das Tagging in weitere Nutzungskontexte vordringen und sich seine Bedeutung als Form des Mediengebrauchs weiter wandeln wird. Gegenwärtig ist zu beobachten, dass das Taggen zum Zweck des Tracings von Individuen weiter zunimmt. Dabei hat vor allem die Corona-Pandemie für eine Renaissance des QR-Codes gesorgt, der für die verpflichtende Registrierung im Rahmen der sogenannten Kontakterfassung und -verfolgung beim Besuch von Restaurants und Freizeiteinrichtungen sowie am Arbeitsplatz und für die Zuordnung und Übermittlung von Testergebnissen eingesetzt wird. Zumindest solange die Pandemie anhält, werden Tags, die den Impfstatus in kodierter Form enthalten, dazu genutzt, immunisierten Personen den Zugang zum öffentlichen Leben zu ermöglichen. Der Blick auf aktuelle Veröffentlichungen zum Thema Taggen zeigt, dass es sich von der sozialen Praxis (social tagging) hin zu einem automatisierten Verfahren (auto-tagging) entwickelt. Die Verbesserung der automatisierten tagbasierten Verschlagwortung ist vor allem für die Entwicklung von Anwendungen von Bedeutung, die mit großen Datenmengen operieren, z.B. für die Bild- und Videosuche auf sozialen Plattformen.46 Das automatisierte Taggen geschieht dabei mit Hilfe von training sets und maschinellem Lernen. Innerhalb der Softwareentwicklung werden automatisch generierte Tags wiederum zum Auffinden von Artefakten in Programmbibliotheken und zur Kommentierung von Quelltext genutzt.47 Vor allem auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz kommen ständig neue Anwendungsfelder hinzu, wenn bspw. Roboter die Befehle von Menschen erkennen und entsprechend reagieren sollen oder autonome Fahrzeuge Tags für „Mikroentscheidungen“48 nutzen.
46 Vgl. Chaudhary et al.: Enhancing the Quality of Image Tagging Using a Visio-Textual
Knowledge Base. In: IEEE Transactions on Multimedia, S. 897–911.
47 Vgl. Velázquez-Rodríguez/De Roover: MUTAMA: An Automated Multi-label Tagging
Approach for Software Libraries on Maven. In: IEEE 20th International Working Conference on Source Code Analysis and Manipulation (SCAM), S. 254–258. 48 Vgl. Sprenger: Microdecisions and autonomy in self-driving cars: virtual probabilities.
610
auseinandergehalten werden: Zum einen beschäftigt sich die wissenschaftliche Forschung mit dem Taggen als Phänomen, das es ebenso wie andere Mediengebräuche zu untersuchen gilt. Zum anderen wird das Taggen selbst zu einem Mediengebrauch innerhalb der Wissenschaft in ganz unterschiedlichen Disziplinen. In der empirischen Mediensoziologie ist die Hashtagnutzung ein Untersuchungsfeld, das mittels digitaler Methoden erschlossen wird.49 Ein Fokus liegt hier auf den Praktiken des Öffentlichmachens, der „issuefication“ bestimmter Themen: Über die Häufigkeit sowie die Analyse des Auftauchens und Verschwindens eines bestimmten Hashtags lassen sich lokale und globale Trends ausmachen50 und durch das Issue-Mapping51 werden Debattenverläufe in sozialen Netzwerken und die beteiligten Akteure sichtbar. Daneben ist das Taggen als Mediengebrauch selbst Teil der wissenschaftlichen Forschungspraxis. Nicht nur Literaturverwaltungen nutzen Tags, auch qualitative und quantitative Daten werden mittels Tags codiert und historische Dokumente durch Taggen erschlossen. In der Genetik und der Bioinformatik werden DNA-Sequenzen annotiert, die Linguistik heftet deskriptive und analytische Anmerkungen an ihr Datenmaterial und in den digitalen Geisteswissenschaften werden automatische Verfahren des Taggens angewendet, um geschriebene und gesprochene Sprache computerunterstützt zu analysieren. Ein zukünftiges Forschungsfeld, das sich mit dem Taggen auseinandersetzt, sollte jedoch nicht nur an einer Ausweitung des Taggings in immer mehr Anwendungsfelder interessiert sein, sondern das Taggen als Praxis der Registrierung, Identifizierung und Klassifizierung untersuchen und entsprechend als wirkmächtige epistemische Größe im alltäglichen Mediengebrauch sowie in Forschungsprozessen anerkennen. Anhand der Betrachtung konkreter Tagging-Praktiken ließe sich so bspw. fragen, welche klassifikatorischen Ordnungen durch das Taggen entstehen und welche Rolle diese in der Reproduktion sozialer Ungleichheiten und Trennlinien im Digitalen spielen.
Taggen Forschung
FORSCHUNG Beim Blick auf die Forschung zum Taggen müssen zwei Dinge
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49 Werkzeuge zum Crawlen und Scrapen von Issues und Hashtags finden sich auf den Seiten
der Digital Methods Initiative. Unter: https://wiki.digitalmethods.net/Dmi/ToolDatabase [aufgerufen am 05.03.2020]; vgl. auch Rogers: Doing digital methods. 50 Vgl. Marres/Weltevrede: Scraping the Social? In: Journal of Cultural Economy, S. 313–335. 51 Vgl. Sánchez-Querubín: Case Study. In: Schäfer/Es (Hrsg.): The Datafied Society, S. 95–106.
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TAKTEN FLORIAN SPRENGER
Takten Anekdote
ANEKDOTE Die Beobachtung ist so simpel wie vermeintlich zufällig: Eine
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Magnetnadel, die unter einem Draht steht, bewegt sich, wenn Elektrizität durch diesen Draht geleitet wird. Steht die Nadel unter dem Ende, das zum negativen Pol der Batterie führt, und ist der Draht von Süden nach Norden ausgerichtet, weicht sie nach Westen ab, steht sie darüber, zeigt sie nach Osten. Elektrizität und Magnetismus wirken aufeinander, womit die seit 1600 geltende strikte Trennung der Phänomene aufgehoben ist. 1819 entdeckt der dänische Physiker und Romantiker Hans Christian Oersted bei einer Vorlesung zur Demonstration elektrischer Übertragung den Elektromagnetismus, d.h. die Einwirkung elektrischer auf magnetische Kräfte. Damit glaubt er, den bis dahin nur postulierten universellen Dualismus der Natur beweisen zu können, und legt zugleich den Grundstein für die technische Implementierung des Takts in Übertragungen. Innerhalb von Tagen verschickt Oersted einen eigens gedruckten lateinischen Rundbrief über den VERSUCH ÜBER DIE WIRKUNG DES ELEKTRISCHEN 1 KONFLIKTS AUF DIE MAGNETNADEL. Oersted kann frohen Mutes von einer undulatorischen, d.h. wellenförmigen Kraft im Kabel berichten. Sie erzeugt, so vermutet er, eine spiralförmige Kraft um den Draht herum, die auf die ebenfalls undulatorische Kraft des Magneten wirkt. Jeder kann das Experiment mit einfachsten Mitteln nachprüfen, was innerhalb von Wochen in ganz Europa geschieht. Oersted öffnet zahlreichen Forschungen ein neues Paradigma, das in unterschiedliche Richtungen diffundiert, von der Telegrafie und der Induktion bis zur Feldtheorie und zur Mathematisierung der Elektrodynamik. Elektrizität erscheint nicht mehr an Träger gebunden, sondern breitet sich ‚frei‘ als Welle im Raum aus. Die Wechselwirkung mit dem Magnetismus ermöglicht es, mit dem Ein- und Ausschalten eines Stroms durch ein Relais diskrete Operationen in der Ferne zu erzeugen, und erlaubt so die
1 Vgl. Doran: Origins and Consolidation of Field Theory in Nineteenth Century Britian. In:
British Journal for the History of Science.
614
Takten Anekdote
Konstruktion von Instrumenten und Maschinen, die durch das Takten letztlich technische Medien werden. Die Erforschung des elektromagnetischen Takts wird von einer Spekulation Oersteds über den undulatorischen Takt der Elektrizität begleitet. Elektrizität breitet sich, so vermutete er bereits 1806, in einem Leiter und nun auch im umgebenden Raum aus, weil sich ihre beiden postulierten diskreten Zustände in einem Prozess der Teilung befinden, in dem sie zwar aufeinander angewiesen sind, sich aber gegenseitig ausschließen und „jede Electricität ihren Gegensatz hervorruft“.2 Ihre „Mitteilung“ besteht entsprechend, so Oersted, aus zwei zusammengehörigen Schritten: der Polarisierung (der Verteilung der unterschiedlichen Ladung) und der Identifizierung (der Aufhebung und Wiederherstellung des Gegensatzes durch Mitteilung). Gemeinsam bilden diese Schritte die Undulation, also die Verteilung der Elektrizität durch Teilung des Gleichnamigen und ihre gegenseitige Mitteilung durch Abstoßung. Oersteds auf Deutsch verfasste Texte sind sprachlich überaus genau: Die Elektrizität breitet sich aus, weil sich ihre beiden Zustände in einem Prozess der Teilung befinden, in dem sie zwar aufeinander angewiesen sind (Mit-Teilung), sich aber gegenseitig ausschließen (Ver-Teilung). Die kontinuierliche Mitteilung ist nicht die schlagartige Herstellung einer Verteilung, sondern ein Prozess in der Zeit – ein Prozess, der Takt hat, weil er über die Undulation zweier Zustände verläuft, „wechselnde Wogen des Positiven und Negativen“,3 die sich gleichsam voreinander hertreiben und schließlich in Oersteds Erklärung seines Experiments von 1819 auch Elektrizität und Magnetismus kurzschließen. Wenn die Übertragung von Elektrizität nunmehr bedeutet, Polaritäten zu ver-teilen, müssen diese Polaritäten aufeinander folgen, weil sie sich gegenseitig ausschließen und daher nicht simultan sein können. Den einen Zustand gibt es, weil es den anderen gegeben hat. Zwei Schwingungen, zwei Ereignisse am gleichen Ort im Kabel können nicht zur gleichen Zeit geschehen. Sie haben einen Takt, der sie voneinander unterscheidet, weil sie erstens zwar aufeinander folgen, aber nie ineinander aufgehen, und weil sie zweitens zwar nebeneinanderliegen, sich aber nie berühren.
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2 Oersted: Ueber die Art, wie sich die Electricität fortpflanzt. In: Journal der Chemie, S. 294. 3 Ebd.
615
Takten Anekdote
Oersteds Auseinandersetzung mit dem Elektromagnetismus ist an dieser Stelle als historischer Einstiegspunkt relevant, weil er eine doppelte Theorie des Takts mitliefert, ohne jedoch diesen Begriff zu verwenden. Mitteilung der Elektrizität heißt bei Oersted, dass zwischen den beiden Polen eine räumliche und zeitliche, durch die Verteilung hervorgebrachte Teilung liegt. Die Mitteilung lässt die beiden Zustände zwei sein, weil sie als Dualismus aufeinander angewiesen sind. „Und so geht der ganze Prozess immer weiter fort, bis das Negative sich über die vordere Hälfte, das Positive aber über die hintere Hälfte erstreckt, und die Mitte indifferent bleibt.“4 Indifferent ist die Mitte, insofern sie in der Differenz ist. Die beiden Zustände brauchen einen Zwischenraum der Verteilung, weil sie nicht ineinander übergehen. Metaphorisch gesprochen, muss sich die Welle heben und senken, wodurch es auch den Weg von oben nach unten gibt. Dieser Wechsel ist kontinuierlich, spielt sich also in der Zeit ab und hat zugleich eine Strukturierung des Raums zur Folge, die später als elektromagnetisches Feld beschrieben wird. Oersted betont, dass dieser Prozess als diskret dargestellt wird, aber ein Kontinuum bildet, weil die Mitteilung stetig vonstattengeht: „Ein jeder wird nun leicht diesen Proceß, den wir, der Darstellung wegen, als discret vorgestellt haben, als ein Continuum auffassen, und so das innere Leben, in jeder Verbreitung der Electricität, sich anschaulich machen.“5 Das Band der Undulation in einer geschlossenen elektrischen Kette hält Ursache und Wirkung in einer getakteten Verbindung und in einer unterbrochenen Berührung zusammen, die aus Wellenkämmen, Wellentälern und dem Bereich dazwischen besteht. Wenn sich Elektrizität in Undulationen fortbewegt und wenn sich ein und aus gegenseitig bedingen, also in Formationen entstehen, die räumlich lokalisiert sind und in denen Zustände aufeinander folgen, dann kann Elektrizität nicht instantan sein. Weil sie raumgreifend ist, braucht sie Zeit. Diese Zeit ist diskret und erweist sich letztendlich als messbar und zählbar. Das Agens des Takts ist die gegenseitige Ausschließung der beiden Zustände, die die Zeit ihrer Aufeinanderfolge öffnet. Oersted verhandelt mithin Teilungen als Voraussetzung von Kontinuitäten.
4 Ebd., S. 293 f. 5 Ebd., S. 294.
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plex, weil seine historische Semantik in unterschiedliche Bedeutungsfelder übergreift und eine Vielfalt von Praktiken umfasst. Der lat. Begriff tactus meint zunächst Berührung, Gefühlssinn und Gefühl und ist von tangere für anrühren und berühren abgeleitet. Der Begriff Taktilität erschließt das weite Feld des Tastsinns, das philosophiehistorisch von enormer Bedeutung ist, weil es erkenntnistheoretische mit physiologischen Fragen verbindet.6 Auch religionshistorisch spielt dies im Kontext des noli me tangere eine wichtige Rolle.7 Taktilität meint in dieser Hinsicht das zeitliche und räumliche Zusammentreffen von Körpern, in dem die berührenden Körper zwar aneinandergrenzen, aber nicht ineinander aufgehen (Kon-takt).8 Takt spielt im weiteren Sinn in das Wortfeld des Anstands hinein. Im Mittelfranz. meint tact nicht nur den Tastsinn, sondern auch „das innerliche feine Gefühl für das Rechte und Schickliche, ein feines und richtiges Urtheil“,9 also geschmackliche Sicherheit und guten Ton im gesellschaftlichen Umgang, Empfindsamkeit und Empathie. Das Gegenteil taktlos bedeutet ungeschickt oder plump. Nicht verwechselt werden sollte Takt mit Taktik, das einen anderen Wortstamm hat. Im Engl. beschränkt sich das Wortfeld tact auf die Taktilität, während Takt im technischen Sinn, als Arbeitstakt oder Taktsignal, bezeichnenderweise clock heißt. Takt bezeichnet spätestens seit dem 16. Jh. die kontinuierliche Aufeinanderfolge von Zeiteinheiten. Exakte Zeitmessung erfordert seit jeher regelmäßige Schläge oder Bewegungen, die Zeit unterteilen und zählbar machen. Bereits seit dem 10. Jh. meint Takt in der Musik die rhythmische Gliederung durch metrische Maße.10 Der Begriff spielt auch in der Poetik in Bezug auf die kleinste metrische Zeiteinheit in einer fortschreitenden Bewegung sowie in der Mechanik in Bezug auf die Zeitmessung durch rhythmische Schläge eine Rolle. Auch die Gliederung von Bewegungsabläufen und rhythmischen Bewegungen bei Tätigkeiten wie Hämmern, Rudern, Reiten, Holzhacken,
Takten Etymologie
ETYMOLOGIE Die Etymologie des Begriffs Takt ist vielschichtig und kom-
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6 Vgl. Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie sowie Ahmed/Stacey (Hrsg.): Thinking through
the skin. Vgl. Nancy: Noli me tangere. Vgl. Binczek: Kontakt. (Art.) Takt. In: Grimm, Sp. 93. Vgl. Kursell/Schäfer: Fliehend wie der Schall. In: Archiv für Mediengeschichte.
7 8 9 10
617
Marschieren oder die Arbeit am Fließband sind ebenso einem Takt unterstellt wie Maschinen, Motoren und Uhrwerke aller Art. Solche getakteten Abläufe behalten, wie Zedlers Wörterbuch berichtet, einen Bezug auf den Körper, „weil in den älteren Zeiten solche Abmessung durch den Fuß, daher auch in der Poesie die pedes entstanden, gleichwie jetzo gemeiniglich durch die Hand verrichtet und mit derselbigen die Erde berühret worden. Es ist aber der Tact eine richtige Bewegung mit der Hand, nach welcher sich die Sänger und Instrumentisten richten müssen.“11 Takt als zeitliches Ordnungsprinzip ist mithin nicht an eine historische Epoche gebunden, wird aber durch die technische Implementierung von mikrotemporalen Rhythmen und komplexen Systemen zum Signum der Moderne.
Takten Kontexte
KONTEXTE Takt ist von Beginn an und schon lange vor seiner technischen
Implementierung eine Denkfigur, mit der Fragen der Vermittlung zwischen Unmittelbarkeit und Differenz verhandelt werden. Takten ist in allen genannten Bedeutungsschattierungen ein Mittel der ordnenden Strukturierung durch die Rhythmisierung von Zeitabläufen, an denen sich andere Prozesse orientieren können. Es sorgt für das gesellschaftlich akzeptable Aufeinandertreffen von Körpern, lässt zwischen ihnen einen unaufhebbaren Abstand bestehen und ordnet differente Zeiten durch eine gleichbleibende Wiederholung. Ein Takt – ob im Berühren, in der Musik, in der Verslehre, in der Mechanik, im Transport von Waren und Menschen oder in der Elektrizitätsphysik – bezeichnet eine Phase des wiederkehrenden Wechsels, die durch den kontinuierlichen Abstand zwischen den wechselnden Elementen konstituiert wird. Takt ist mit einer Frage der Vermittlung verbunden, denn dieser Abstand, der Zwischenraum und das Intervall, das ihn ermöglicht, beziehen die jeweils benachbarten Elemente aufeinander und setzen sie durch ihre Differenz zueinander in Bezug. Takt kann man also einerseits als einen Akt der Vermittlung verstehen, weil Takt eine Trennung voraussetzt und ein taktloser Takt mangels Zwischenraum kein Takt mehr wäre. Andererseits ist Takt stets durch etwas anderes vermittelt: Etwas gibt den Takt vor, setzt die getakteten Elemente und stellt die Zeit des Takts fest. Technisch gesprochen gibt es einen Taktgeber: ein Metronom, ein
11 (Art.) Tact. In: Zedler, S. 1348.
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Wenn nämlich zwischen zwei Körpern nichts dazwischenliegt, so ist es unausweichlich, daß sie sich gegenseitig berühren und es ist offensichtlich widersprüchlich, daß sie voneinander entfernt sind, d.h. zwischen ihnen ein Abstand sein solle, und gleichwohl dieser Abstand nichts sein solle, weil alle Distanz ein Zustand der Ausdehnung ist und von daher ohne ausgedehnte Substanz gar nicht sein kann.12
Für Descartes gibt es keinen leeren Raum, weil Materie als res extensa ausgedehnt ist und res cogitans keinen Raum hat. Das bedeutet, dass zwei Körper, zwischen denen nichts ist, sich Descartes zufolge trennungslos berühren. Doch zwei Körper können sich, contra Descartes, nicht unmittelbar berühren, weil dann die Trennung zwischen ihnen aufgehoben und sie vereint würden. Diese Denkfigur aufnehmend, ist jeder Kontakt, wie Jacques Derrida in seinem Buch BERÜHREN. JEAN-LUC NANCY immer wieder aufs Neue gezeigt hat, von einer Trennung durchzogen. Jede Wirkung geschieht durch Kontakt, und wenn ihre Ursache in einer Distanz liegt, wenn es also einen Abstand dazwischen gibt, muss es ein Medium dazwischen geben, wie im spätscholastischen Mittelalter formuliert wurde: „Omnis actio fit per contactum, quo fit ut nihil
Takten Kontexte
Zahnrad, einen Vorarbeiter, ein Zählwerk, ein Versmaß, eine Ampelschaltung, einen Fahrplan, ein Pendel, eine Uhr, einen Schwingquarz, einen Dirigenten. Der Taktgeber setzt durch die regelmäßige Wiederholung eine zeitliche Abfolge, anhand derer sich eine Vielzahl anderer Prozesse ordnen können: verschiedene Musikinstrumente, elektronische Komponenten, Prozessoren, Arbeitsschritte, Stimmen, Sekunden, Ruderschläge, Zugabfahrten oder Individuen im gesellschaftlichen Kontext. Als verkörperte Instanz in Zeit und Raum verstanden, benötigt Takt also eine Apparatur der vermittelnden Vermittlung, damit das synchronisierte Geschehen nicht taktlos wird. Auch mit jeder körperlichen Berührung, mit jeder Instanz der Taktilität stellt sich die Frage, ob die Trennung zwischen den beiden Körpern bestehen bleibt oder aufgehoben wird. René Descartes schreibt 1637 in seinen PRINCIPIA PHILOSOPHIAE über die Frage, wie Kräfte zwischen sich berührenden Körpern vermittelt werden:
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12 Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, S. 113.
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Takten Kontexte
agat in distans nisi per aliquid medium.“13 Der Takt wahrt den Abstand und den Anstand zwischen den getrennten, aber verbundenen Körpern. Die Aufhebung des Taktes der Taktilität beschreibt Derrida in einer dekonstruktiven Lektüre der Schriften Aristoteles’, Thomas von Aquins und der Bibel als „intuitio-kontinuistische Logik des Unmittelbaren“, die sich „so ununterdrückbar zeigt wie das Begehren selbst“.14 Zwischen sich berührenden Körpern liegt Derrida zufolge eine différance: „[D]iese elementare différance der Zwischen-setzung oder des Intervalls zwischen zwei Oberflächen ist zugleich die Bedingung des Kontakts und die originär verräumlichte Öffnung, die unverzüglich nach der technischen Prothese ruft und sie damit möglich macht.“15 Die Distanz sowie ihr Abstand enthalten Verräumlichung und damit unweigerlich Verzeitlichung. Damit Körper A Körper B berühren kann, muss A bestimmt werden, indem er von B unterschieden wird. Zwischen ihnen liegen räumliche und zeitliche Abstände. Sie bedingen, dass die Körper sich berühren können, und sind die Voraussetzung des Takts. Wo A ist, kann B nicht sein. Deshalb muss es eine differenzierende Distanz zwischen ihnen geben. Das Phantasma der Unmittelbarkeit, dessen philosophiehistorische Schattierungen Derrida herausarbeitet, hebt all das auf: Es macht aus B A und tilgt alle Trennung. Das Takten kann als eine Medienpraxis des Umgangs mit dieser Differenz gelten. Der Tastsinn ist in diesem Sinn zur Unmittelbarkeit prädestiniert. Er wird seit der Antike als medienlos oder wenigstens in der Oszillation von Vermittlung und Unmittelbarkeit beschrieben, weil er die Gegenwart der Berührenden voraussetzt. Zwischen ihnen liegt ein Intervall. Dieses Intervall dazwischen oszilliert und wird mal als getrennt, mal als verbunden beschrieben. Jeder Kontakt ist, so folgt aus dieser Logik, von einer Trennung durchzogen. Ohne Trennung gibt es keinen Kontakt, weil es zwei Elemente geben muss, die in Kontakt treten und dabei ihren Takt bewahren, um zwei zu bleiben und nicht eins zu werden.16 Um in Kontakt treten zu können, muss zwischen ihnen ein
13 Eustachius a Sancto Paulo (1614): Summa Philosophiae, zit. n. Spitzer: Milieu and Am-
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14 Derrida: Berühren, S. 168. 15 Ebd., S. 292. 16 Vgl. Peters: Speaking into the Air und Chang: Deconstructing Communication.
620
KONJUNKTUREN In der an Oersteds Entdeckung anschließenden Entwicklung setzt Michael Faraday in den 1830er Jahren die Experimente zur Erforschung elektromagnetischer Wellen fort, die schließlich zur Formulierung der elektromagnetischen Induktion führen, d.h. der Erzeugung eines elektrischen Stroms durch ein Magnetfeld.17 Diese Entdeckung ermöglicht die Entwicklung von Transformatoren und Relais, die als elektromagnetische Schalter durch das Aktivieren von Magneten zum Ein- oder Ausschalten von Arbeitsstromkreisen für die Telegrafie wichtig sind, weil sie mit äußerst geringen, über lange Distanzen übertragenen Impulsen starke Signale auslösen und etwa eine Klingel anschlagen oder einen Strich anschreiben können. Die Einschaltung von Relais erlaubt seit den 1830er Jahren eine extreme Verlängerung von Kabeln bis hin zum ersten Transatlantikkabel von 1858. Das Relais diskretisiert die kontinuierlich aus der Ferne übertragene Elektrizität eines Übertragungskreises durch das Ein- und Ausschalten eines Arbeitskreises.18 Der in elektromagnetischen Telegrafen verbaute Elektromagnet drückt im Takt der Signale einen Stift auf einen gleichmäßig laufenden Papierstreifen, auf dem diskrete Punkte und Striche sichtbar werden. Sie sind zwar nicht mit den ‚wechselnden Wogen des Positiven und Negativen‘ identisch, die für Oersted Elektrizität ausmachen. Aber als übertragene und vom Relais diskretisierte Öffnungen und Schließungen eines Stromkreises sind sie zwei Zustände, deren Differenz die Übertragung diskreter Signale ermöglicht. Der Takt, elektromagnetisch geschaltet, kommt in die Welt. Den Takt der Inskription gibt beim Morse-Telegrafen die Verschränkung der ankommenden Signale mit dem Antrieb des Papierstreifens vor, der sich kontinuierlich bewegt und so dafür sorgt, dass Punkte und Striche nacheinander und nicht aufeinander angeschrieben werden – dass sie also Takt haben, der in Zeit und Raum diskret ist, anstatt sich unmittelbar zu berühren.
Takten Konjunkturen
trennender Raum oder eine unterscheidende Zeit liegen, eine getrennte Verbindung. Sie ist das Medium des Taktens.
T
17 Vgl. Faraday: On some new Electro-Magnetic Motions. In: Quarterly Journal of Science,
Literature and the Arts.
18 Vgl. Horwitz: Das Relais-Prinzip. In: Ders.: Das Relais-Prinzip.
621
Takten Konjunkturen
Die Übertragung von Elektrizität wird durch den Takt des Relais von der Übertragung einer Kraft in die Übertragung diskreter Zustände verwandelt, die getaktet sind, weil sie in einer Reihe von Schritten vermittelt werden und dabei zeitkritisch aufeinander abgestimmt, d.h. synchronisiert werden müssen. Der Morse-Apparat operiert zwar mit drei Zuständen: kurzen Signalen, langen Signalen und Pausen dazwischen. Er ist in diesem Sinne aber nicht digital. Die Pausen werden in verbesserten Apparaten eliminiert und nur noch kurze/lange Signale übertragen.19 Logisch symbolisieren die zwei Zustände eine binäre Opposition, die Information unabhängig vom jeweiligen Medium verarbeitbar macht, historisch aber an konkrete Technologien gebunden ist. Die Geschichte der Telegrafie wird, um einen Gedanken Bernhard Siegerts aufzugreifen, als Teil der Geschichte der Diskretisierung lesbar, die der elektronischen Datenverarbeitung vorausgeht.20 Der diskrete Code von ‚dots and dashes‘, der durch die Anschreibung getaktet wird, verwandelt die Kontinuität der Zeit in eine Folge von Signalen. Eine Signalfolge erzeugt unterscheidenden Takt und Takt ist eine Folge in der Zeit, denn für die Maschine sind Signale nur nacheinander verwertbar.21 Die Diskretheit, die Oersted zum Signum der Elektrizität erklärt, wird zum operativen Parameter eines Mediensystems und beginnt, das 19. Jh. medientechnisch zum Jahrhundert des Takts zu machen. Dieser Prozess der Taktung durch zeitkritische Synchronisation dominiert bis in die Gegenwart die Praktiken technischer Medien: Nur weil Elektrizität nicht gleichzeitig ist, nur weil alle Verarbeitungs-, Übertragungs- und Speicherprozesse auf mikrotemporaler Ebene so synchronisiert sind, dass sie nacheinander geschehen, gibt es Telegrafie, gibt es Telefon, gibt es Kino, gibt es Fernsehen, gibt es Computer, gibt es Internet – gegeben vom Takt. Schon eine piezoelektrische Quarzuhr, Ende der 1920er Jahre entwickelt, funktioniert mit einer einfachen Taktung, die in kontinuierlichem Abstand ein Signal gibt, das in Bewegungen des Uhrwerks umgesetzt wird und aufgrund der extrem genauen und zuverlässigen Taktung des Springquarzes zur Messung von Zeit ausreicht. Das gleiche Prinzip steuert als Systemtakt komplexe Computer, die
19 Vgl. Pircher: Kinder der Telegraphie. In: Felderer (Hrsg.): Wunschmaschine Welterfindung. 20 Vgl. Siegert: Passage des Digitalen. 21 Vgl. Pias: Time of Non-Reality. In: Volmar (Hrsg.): Zeitkritische Medien.
622
Takten Konjunkturen
nur mit einer gegebenen Zeit, d.h. mit dem Vor- und dem Nacheinander der Mit-Teilung operieren können. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stellt Alan Turing sein Modell einer universellen Rechenmaschine vor, das trotz aller Unterschiede einige Ähnlichkeiten zum Telegrafen aufweist. Der mit diskreten Signalen codierte Datenträger wird in Turings Modell am Prozessor vorbeigezogen. In einem Vortrag von 1947 betont Turing in ähnlichen Worten wie Oersted die Bedeutung der Geschwindigkeit, mit der die Daten an den Prozessor geliefert werden: „We might say that the clock enables us to introduce a discreteness into time, so that time can for some purposes be regarded as a succession of instants instead of as a continuous flow.“22 Der Prozessortakt ist, vereinfacht gesagt, die Verarbeitung solcher Unterschiede zwischen zwei diskreten Zuständen. „Takt ist im Computer nichts anderes als ein Ja/Nein-Impuls, der angibt, wann die diskreten Elemente aktiv sein dürfen und wann nicht. Es existiert somit nicht nur ein verbotener Raum zwischen stabilen Zuständen, sondern auch verbotene Zeiten zwischen aufeinanderfolgenden Zustandsänderungen.“23 Die Taktfrequenz (clock) ist die Anzahl der Unterschiede pro Sekunde, angegeben in Hertz. Dieser Takt wird in heutigen Computern durch einen Oszillator gegeben, der die vom Prozessor zu verarbeitende Rate durch ein stabiles, sinusförmiges Signal sicherstellt. Dieses Sinussignal wird in ein idealiter rechteckförmiges Taktsignal umgewandelt. Mittels des Taktsignals wird der korrekte zeitliche Ablauf der Prozesse elektronischer Schaltungen gewährleistet, d.h. die Aufeinanderfolge der Schritte durch die Taktung zeitlich geordnet. Vor allem, wenn mehrere Schaltkreise, wie etwa in einem PC, gleichzeitig arbeiten, ist ein Taktsignal vom Taktgeber nötig, um die Prozesse zu synchronisieren. Als Systemtakt bestimmt dieses Signal den Zugriff des Prozessors auf den Arbeitsspeicher. Ein heute üblicher PC mit vier parallelen Hauptprozessoren mit einer Taktrate von jeweils beispielsweise vier Gigahertz ist in der Lage, zwölf Milliarden solcher Unterschiede pro Sekunde zu verarbeiten. Die Verarbeitungsrate des Prozessors ergibt sich aus der Taktfrequenz und
T
22 Turing: Lecture on the Automatic Computing Engine. In: Copeland (Hrsg.): The Essential
Turing, S. 382.
23 Pflüger: Wo die Quantität in Qualität umschlägt. In: Coy/Tholen/Warnke (Hrsg.): Hyper-
kult II, S. 45.
623
Takten Konjunkturen
der Datenübertragungsrate aus dem Arbeitsspeicher. Der Takt sollte daher nicht mit digitalen Daten verwechselt werden, deren Verarbeitung von vielen Faktoren abhängt. Er ist vielmehr die basale zeitliche Erstreckung, deren regelmäßige Ordnung Prozesse steuerbar macht. Kein Takt ist jedoch so genau, dass er allein aus zwei eindeutigen Zuständen bestehen würde. Elektrischer, akustischer, mechanischer oder optischer Takt ist immer eine Idealisierung durch die Elimination all dessen, was nicht der vorgegebenen Aufeinanderfolge entspricht. Zwischen ihnen liegt das, was Norbert Wiener „time of non-reality“24 genannt hat. Takt, ob in technischen Medien, einem Orchester oder einem Uhrwerk, muss nur so rechtzeitig sein, dass die Grenzwerte seiner Weiterverarbeitung eingehalten werden. In dieser abstrakten Denkfigur prägt das Takten so unterschiedliche Felder wie die Musik, die Poesie, die Mechanik, die Zeitmessung, Praktiken rhythmischer Bewegungen und schließlich spätestens seit Ende des 19. Jhs. die Strukturen der Arbeitswelt, des Verkehrs, des Transports und der Maschine. Auch physiologische Prozesse sind von den Takten des Herzschlags und der Atmung geprägt.25 Die polymorphen Formen der Taktilität unterliegen ebenfalls diesem Schema: Kontakte des Berührens sind stets Auslöser von Übertragungsprozessen – ob zwischen menschlichen Körpern oder physikalischen Objekten. Diese Figur des Takts markiert nicht zuletzt einen Wendepunkt in der Erklärung elektrischer und nun vor allem elektromagnetischer Phänomene. Sie ist die Bedingung der Entwicklung technischer Medien. Um 1820 wird es, aufbauend auf Oersteds Experimenten, mit der Zwischenschaltung von Relais möglich, kontinuierlich übertragene Elektrizität zum Ein- und Ausschalten eines Stromkreises zu verwenden und so elektromagnetische Medien wie den Telegrafen zu takten. Mit der Verzeitlichung des Raums und der Diskretisierung der Undulation ist der Takt als Ablauf einer zeitlichen Zergliederung im Raum eines Mediums gegeben. Oersteds Experiment stellt mit der Übersetzung unterschiedlicher Kräfte nicht nur einen Scheidepunkt für die romantische Naturauffassung dar und liefert die physikalischen Grundlagen zur Entwicklung technischer Medien. Seine Konzeption von Elektrizität spricht darüber
24 Pias (Hrsg.): Kybernetik – Cybernetics, S. 158. 25 Vgl. Borck: Der Takt des Denkens. In: Archiv für Mediengeschichte.
624
hinaus jenes Verhältnis von Trennung und Verbindung an, das den Takt zur Denkfigur und zur Medienpraktik macht. In dieser PASSAGE DES DIGITALEN26 sind technische Medien nunmehr auf Taktgeber unterschiedlicher Art angewiesen, welche die variablen Zeiten, mit denen sie operieren, synchronisieren und so das Übertragen, Verarbeiten und Speichern von letztendlich getakteter Information ermöglichen.
ihre Übertragungen nicht instantan sind und sein können. Takt schließt Instantanität als Operationsmodus aus. Wie der Rhythmus ist er eine „geregelte Vermeidung von Gleichzeitigkeit“.27 Besonders deutlich wird diese Dimension des Takts erneut beim Blick auf die Geschichte der Elektrizitätsforschung: Zu Beginn des 18. Jhs. wurde elektrische Übertragung als instantane, unmittelbare, raum- und zeitlose Überwindung des Zwischenraums zwischen den Enden eines Kabels verstanden.28 Die Ereignisse an den Enden wirkten gleichzeitig, weil sie durch eine instantane Kraft verbunden schienen, die differenzlos überträgt. Takt hingegen, wie er mit Oersted dazwischentritt, ist immer Differenz, ob in der Undulation oder der technischen Anwendung. Historisch erscheint das Wissen vom Takt der Elektrizität in Figuren der Vermittlung, deren Kontext die Frage nach der Geschwindigkeit der Elektrizität bildet – ist sie instantan, also unmittelbar und geschwindigkeitslos, oder braucht sie Zeit, ist also vermittelt? Das Wissen vom Takt ist hier Wissen von der Unmöglichkeit der Unmittelbarkeit und der Instantanität der Elektrizität. Dabei zeigt sich, entgegen allen Unmittelbarkeitsphantasmen der Taktlosigkeit und des trennungslosen Kontakts, dass jeder Kontakt von einer Trennung durchzogen ist. Es muss zwei geben, damit es Berührung geben kann, ohne dass sie zu einem werden. Gegenüber der Vereinnahmung durch eine metaphysische Einheit plädiert Derrida dafür, die Differenzen zu bedenken, die es gibt, weil es Medien gibt. Dass Medien mit Aufschüben operieren, vereinzeln statt vereinigen und dort,
Takten Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Netzwerke technischer Medien sind nur möglich, weil
T
26 Vgl. Siegert: Passage des Digitalen. 27 Kassung/Macho: Einleitung. In: Kassung/Macho (Hrsg.): Kulturtechniken der Synchronisa-
tion, S. 15.
28 Vgl. Gethmann/Sprenger: Die Enden des Kabels.
625
wo sie gleichzeitig oder in Echtzeit erscheinen, allenfalls rechtzeitig sind und als (Kultur)Techniken der Synchronisation29 auftreten, kommt nicht in den Blick, wenn Medien phantasmatisch mit Unmittelbarkeit besetzt sind und Berührungen Fernes taktlos verbinden. Die in verschiedenen historischen Konstellationen aufweisbare Verdeckung der Unterbrechung durch Phantasmen der Unmittelbarkeit hat sowohl technische und theoretische als auch politische Konsequenzen. Theorien der Unmittelbarkeit sind Anleitungen zur Ohnmacht, weil sie keine Zeit zwischen den Ereignissen lassen und ohne Aufschub alles schon entschieden ist. Theorien des Takts hingegen sind unweigerlich Theorien der Differenz.
Takten Perspektiven
PERSPEKTIVEN Technische Medien operieren in diesem Sinne mit Differen-
zen, mit Unterbrechungen und mit Verzögerungen. Sie können nur funktionieren, weil sie nicht unmittelbar sind. Ein Fotoapparat oder ein Computer beispielsweise können als komplexe Gefüge von Prozessen der Synchronisation beschrieben werden, die zeitkritisch mit der Hilfe von Taktgebern verschiedene Temporalitäten auf einen Nenner bringen, ohne jemals Echtzeit oder Gleichzeitigkeit erreichen zu können. Synchronisation durch Taktung ist die Abstimmung mehrerer Zeitebenen und der Versuch, unterschiedliche Temporalitäten in Einklang zu bringen, um mit Differenzen zu operieren. Ihr Ziel kann nicht in der Übereinstimmung liegen, sondern in Grenzwerten, zwischen denen das gewünschte Ereignis stattfinden kann – etwa die passende Belichtung des Bildträgers oder die Verarbeitung von Befehlen in der korrekten Reihenfolge. Einer Medientheorie des Takts müsste es entsprechend darum gehen, die Trennung aufrechtzuerhalten, die Differenz als Differenz und nicht als ihre Aufhebung zu beschreiben, anstatt Medien durch Phantasmen der Unmittelbarkeit zu tilgen.30 Eine Medienarchäologie des elektrischen Takts fragt entsprechend, in welchen historischen Konstellationen das Wissen vom elektrischen Takt entsteht und in Techniken der Taktgebung aufgeht, wie also in
29 Vgl. Kassung/Macho: Kulturtechniken der Synchronisation sowie Rohrhuber: Das Rechtzei-
tige. In: Volmar (Hrsg.): Zeitkritische Medien.
30 Vgl. Sprenger: Medien des Immediaten.
626
die vermeintliche Kontinuität einer vermeintlich unmittelbaren elektrischen Übertragung eine Diskontinuität eintritt, ein Zeitverlauf und ein Abstand, der Signale voneinander unterscheidbar macht und schließlich zur Übertragung von Information anleitet.31 Ein solcher Ansatz zielt auf eine Archäologie des Zwischenraums zwischen zwei Größen und mithin darauf, dass „technische Taktungsprobleme stets mit Raumorganisationsfragen verbunden“32 sind.
ein elementarer Bestandteil der Gestaltung von Zeit: Tonale Musik ist ebenso auf Takt angewiesen wie westliche Poesie, eine moderne Fabrik ebenso wie eine Straßenkreuzung. Diesen Ansatz aufnehmend, haben Christian Kassung und Thomas Macho Synchronisation als Kulturtechnik in den Blick genommen und gezeigt, wie eng der Umgang mit unterschiedlichen Zeiten mit den Medien des Takts verbunden ist. Mechanische, elektrische, elektromagnetische und elektronische Medien brauchen stets einen Taktgeber. In dieser Hinsicht ist insbesondere die Frage der Taktilität von einer Reihe von medien- und literaturwissenschaftlichen Studien fokussiert worden. Das Berühren wird dabei als vermitteltes Geschehen beschrieben und seine Gebundenheit an Medien des Tastens unterstrichen (beispielsweise Blindenstöcke33, Blindenschrift34, Prothesen35, Choreografien36, Tasten37 oder Touchscreens38). Diese Arbeiten verbindet ein Interesse an eben jenem Verhältnis von Vermittlung und Unmittelbarkeit, das den Kern der Auseinandersetzung mit dem Takt bildet und das Takten zu einer auch medientheoretisch einschlägigen Medienpraxis macht. Friedrich Balke, Bernhard Siegert und Joseph Vogl haben dem Takt den Begriff der Frequenz zur Seite gestellt: „Während der Takt der Ordnung der
Takten Forschung
FORSCHUNG Das Takten ist als Medienpraxis des Umgangs mit Differenzen
T 31 Vgl. Volmar (Hrsg.): Zeitkritische Medien. 32 Engemann/Vehlken: Supercomputing. In: Archiv für Mediengeschichte, S. 145. 33 Vgl. Binczek: Kontakt. 34 Vgl. Bergermann: Tastaturen des Wissens. In: Peters/Schäfer (Hrsg.): Intellektuelle An-
schauung.
35 Vgl. Harrasser: Prothesen. 36 Vgl. Egert: Berührungen. 37 Vgl. Heilmann: Digitalität als Taktilität. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. 38 Vgl. Kaerlein: Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien.
627
Takten Forschung
Zeit (t) und der Geschwindigkeit angehört, in der er Rhythmisierungen, Skandierungen und Serialisierungen in den verschiedensten kulturellen Bereichen hervorbringt, ist Frequenz selbst definiert als Kehrwert der Zeit (1/t).“39 Während Takt den Taktgeber in den Mittelpunkt rückt, geht es mit der Frequenz um den Kanal und das Medium, durch den und in dem etwas geschieht. Entsprechend ginge es in dieser über den Takt hinausweisenden Bewegung darum, Takte von Frequenzen her neu zu denken und die Zeitlichkeit des Takts als eine Funktion seiner Wiederkehr zu verstehen. Auf dieser Grundlage ergeben sich etwa mit den neuesten Entwicklungen von Quantencomputern oder mit der globalen Vernetzung von Datencentern, die komplexe Synchronisierungsleistungen erfordern, auch neue theoretische Herausforderungen an das Verständnis des Takts.
39 Balke/Siegert/Vogl: Editorial. In: Archiv für Mediengeschichte, S. 5.
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TRACKEN KATHRIN FRIEDRICH
übertitelt die Zeitschrift Spiegel einen Artikel vom 25.10.2019, der eine kuriose Begebenheit beschreibt.1 Eine Gruppe russischer Ornitholog*innen hatte einem Adlerweibchen einen GPS-Sender angeheftet, um die Flugrouten der zunehmend gefährdeten Adlerart technologisch nachzuverfolgen. Die Lokalisierungsdaten sollten in regemäßigen Abständen per SMS an die Forschenden geschickt werden, damit diese die Wanderbewegungen des Vogels nachvollziehen konnten. Während sich das Tier vier Monate in Kasachstan aufhielt, konnten aufgrund mangelnder Netzabdeckung jedoch keine Nachrichten mit Statusmeldungen des GPS-Senders abgeschickt werden. Dies wurde nachgeholt, als das Adlerweibchen seine Wanderung in den Iran fortsetzte, wo ein entsprechendes Mobilfunknetz verfügbar war. Die in Kasachstan nicht gesendeten Nachrichten wurden nachträglich auf einmal versendet, sodass horrende Roaming-Gebühren anfielen, die das Budget des russischen Forschungsprojekts so stark belastet haben sollen, dass dieses in einer öffentlichen Spendenaktion um finanzielle Unterstützung bitten muss. Der Versuch, die Flugbewegungen des Adlerweibchens mittels GPS-Sender und Kurznachrichtentechnik über größere Zeit- und Raumdistanzen zu verfolgen, zeigt sich mit Blick auf die mediale Praxis Tracken schwierig. Die mehrmonatige Pause in der Aufzeichnung und Kommunikation der jeweiligen Lokalisierungsdaten zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund des Funklochs zeugt von der Fehleranfälligkeit der medialen Infrastrukturen, die Trackingverfahren zwar ermöglichen, dies jedoch nicht in der gewünschten Zeitlichkeit zu leisten vermögen.2 So macht diese Anekdote auf vier grund-
Tracken Anekdote
ANEKDOTE „Adlerweibchen stürzt russische Forscher in den Ruin“ – so
T
1 Römer: Roaminggebühren in Iran. Adlerweibchen stürzt russische Forscher in den Ruin. In:
Spiegel Online. Unter: https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/russland-adler-gefaehrdetstudie-durch-hohe-gps-gebuehren-in-iran-a-1293350.html [aufgerufen am 15.01.2020]. 2 Zur langjährigen Geschichte des Trackings in der Wildtierbeobachtung bzw. Bewegungsökologie vgl. Benson: Trackable Life. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, S. 137–147 sowie Benson: Wired Wilderness.
631
legende Charakteristika der Medienpraktik Tracken aufmerksam, die sich in verschiedenartigen Technologien in unterschiedlicher Ausprägung zeigen. Die grundsätzliche Funktionalität des Trackens besteht in der Erhebung von Lokalisierungsdaten in Abhängigkeit von Zeitverläufen, also in der Mit- oder Nachverfolgung von Bewegungen. Diese zeit- und raumkritische Funktionalität ist eingebunden in eine komplexe mediale Infrastruktur, die ein zu trackendes Objekt oder einen Prozess erfasst, in eine Form der Datenerhebung und -speicherung integriert und mit ästhetischen, oft auch operationalen Formen der menschlichen Interaktion verschränkt. Möglichkeiten des nahezu echtzeitlichen Zugriffs sind dabei je nach Anwendungskontext ebenso signifikant für Trackingverfahren wie die (retrospektive) Aufzeichnung und Darstellung von Bewegungsverläufen, wie im Fall der Flugrouten des Adlerweibchens.
Tracken Etymologie
ETYMOLOGIE Tracken als Praxis der Bewegungsverfolgung anhand beobach-
teter oder gemessener Spuren deutet sich bereits in der Etymologie des eingedeutschten Verbs tracken an. Dieses leitet sich vom engl. to track ab, welches mit verfolgen, nachspüren und bewegen übersetzt wird.3 Einen Hinweis zur Funktion, Zeitlichkeit oder (medien-)technischen Verfassung dieser Tätigkeiten findet sich in dieser allgemeinen etymologischen Fährte zunächst nicht. Konkreter wird das CAMBRIDGE DICTIONARY in der Assoziierung von to track mit to follow. Hier finden sich semantische Dimensionen wie „to follow a person or animal by looking for proof that they have been somewhere, or by using electronic equipment“ oder „to record the progress or development of something over a period.“4 In der Übersetzung von to track mit folgen oder nachverfolgen findet sich ein erster Hinweis auf die Objekte von Trackingverfahren sowie deren raumzeitkritische Funktion. In der Wendung von to track als to move wird die prozessual-direktionale sowie visuelle Bedeutungsebene des Begriffs hervorgehoben – „If a film or video camera tracks in a particular direction, it moves along while it is filming.“5
3 Vgl. (Art.) to track. In: dict.cc. Deutsch-Englisches Wörterbuch. Unter: https://www.dict.cc/
englisch-deutsch/to+track.html [aufgerufen am 10.01.2020].
4 (Art.) to track. In: Cambridge Dictionary. Unter: https://dictionary.cambridge.org/de/
worterbuch/englisch/track [aufgerufen am 10.01.2020].
5 Ebd.
632
KONTEXTE Wie sich in der Etymologie des Begriffs andeutet, geht die Medi-
enpraktik mit Entwicklungs- und Anwendungskontexten einher, in denen
6 (Art.) to track. In: Oxford English Dictionary Lexikon. Unter: https://www.lexico.com/
Tracken Kontexte
Auch das OXFORD ENGLISH DICTIONARY LEXIKON rückt das Verb to track semantisch in die Nähe der visuellen Spurbildung, jedoch nicht in Form der technisch-filmischen Einschreibung, sondern als Spur, die ein Lebewesen oder ein Gegenstand als Bewegungseindruck in der Umwelt hinterlassen haben. „Follow the trail or movements of (someone or something), typically in order to find them or note their course.“6 Die Einschreibung einer Spur ist in dieser begrifflichen Wendung eng mit dem Zweck des Auffindens von Lebewesen und Dingen oder der Nachverfolgung ihres Bewegungsmusters verbunden. Etymologisch wird diese Bedeutungsdimension im OXFORD ADVANCED LEARNER‘S DICTIONARY ins späte 15. Jh. zurückgeführt. Dabei wird das Substantiv Track im Sinn von „trail, marks left behind“ vom altfranz. trac oder auch vom niederdt. oder niederländ. trek für „draught, drawing“, also Entwurf oder Zeichnung, abgeleitet.7 Die Etymologie des Verbs to track wird direkt mit der des Substantivs oder ab etwa Mitte des 16. Jhs. mit der des franz. Verbs traquer für aufspüren verbunden.8 Während die Etymologie des Substantivs die Verfolgung einer Spur eng mit grafischen Verfahren verkoppelt und auf die Entwicklung der Medienpraktik Tracken vorausweist, ist die etymologische Verbindung zu traquer enger an die Bedeutungsdimension des Spurenlesens als sinnliche Spürtechnik gebunden.9 Tiefergehende deutschsprachige lexikalische oder etymologische Einträge zum eingedeutschten Verb tracken oder dem Substantiv Tracking lassen sich kaum finden, obgleich die Worte in den alltäglichen Sprachgebrauch übergegangen sind.10
T
definition/track [aufgerufen am 10.01.2020]. track verb. In: Oxford Learner’s Dictionaries. Unter: https://www. oxfordlearnersdictionaries.com/definition/english/track_2 [aufgerufen am 12.01.2020]. 8 Vgl. ebd. 9 Zur Kulturtechnik Spurenlesen und dem Begriff der Spur vgl. Krämer: Was also ist eine Spur? In: Krämer/Kogge/Grube (Hrsg.): Spur. 10 So verzeichnet der DUDEN zur Herkunft des Worts tracken schlicht, dass es aus dem Englischen komme. Vgl. (Art.): tracken. In: Duden. Unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/ tracken#herkunft [aufgerufen am 12.01.2020].
7 (Art.):
633
Tracken Kontexte
Spuren verschiedener Art beobachtet, aufgezeichnet und dargestellt werden sollen. Aktuelle Einsatzgebiete des medialen Aufspürens und Verfolgens raumzeitkritischer Bewegungsverläufe basieren fast ausschließlich auf automatisierten und vernetzten Digitaltechnologien, von denen einige im Abschnitt Konjunkturen vorgestellt werden. Frühformen des medialen Trackings changieren hingegen zwischen menschlich-sinnlicher Wahrnehmung, technischstandardisierten Handlungen sowie parametrisierten Normbildungen.11 Die Funktion früher Trackingpraktiken in solch heterogenen Kontexten wie Physiologie und Kriegsführung besteht hauptsächlich in der optisch-instrumentellen Verfolgung von Bewegungen sowie der grafischen Aufzeichnung und operativen Weiterverarbeitung der Spurbildung. Tracken als Verfahren der Bewegungserfassung und -aufzeichnung findet derzeit in scheinbar höchst unterschiedlichen Feldern wie Rehabilitationswissenschaft und Filmproduktion Anwendung. Verfahren des markerbasierten Trackings zum Zweck der Bewegungserkennung, auch als Motion Capture bezeichnet, werden sowohl für die Beurteilung von Bewegungsabläufen bei neurologischen Erkrankungen12 als auch bei der Produktion von Hollywoodfilmen eingesetzt.13 Ein früher Entstehungskontext dieser spezifischen Trackingform zeigt sich dort, wo Bewegungsabläufe nicht oder nur unzureichend mit dem menschlichen Auge allein beobachtet werden konnten.14 ÉtienneJules Mareys fotografische Flinte ist ein prominentes Beispiel eines solchen optischen Trackingverfahrens, auch wenn dieses nicht explizit als solches
11 An dieser Stelle werden keine ökonomisch-repressiven und bürokratisch-administrativen
Trackingverfahren ausgeführt, sondern solche, die konstitutiv auf der Verwendung technischer Medien basieren. Zur Verfolgung und Kontrolle von Sklav*innen zu Beginn des 19. Jhs. vgl. Browne: Dark Matters, zur Entwicklung des Trackings als Verfahren der hochschulpolitischen Klassenbildung im US-amerikanischen Bildungssystem, vgl. Culpepper: The Development of Tracking sowie Gamoran: Tracking and inequality. In: Apple/Ball/Gandin (Hrsg.): The Routledge International Handbook of the Sociology of Education. 12 Vgl. Knippenberg et al.: Markerless Motion Capture Systems as Training Device in Neurological Rehabilitation. In: Journal of Neuroengineering and Rehabilitation. 13 Vgl. Allison: More than a Man in a Monkey Suit. In: Quarterly Review of Film and Video. 14 Vgl. Snyder: Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. In: Geimer (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit, S. 144 ff.
634
Tracken Kontexte
benannt wurde.15 Marey entwickelte eine Fülle von (foto-)mechanischen Verfahren zur Aufzeichnung und retrospektiven Analyse von menschlichen, tierischen und anderen natürlichen Bewegungen sowie physiologischen Prozessen.16 Inspiriert durch die Gestaltung des astronomischen Revolvers von Jules Janssen und Eadweard Muybridges Reihenfotografie, entwickelte der Physiologe Marey um 1883 eine fotografische Flinte, um die Flügelbewegungen von Vögeln nachzuverfolgen.17 Durch den Sucher der Flinte konnte ein Vogel anvisiert und chronofotografisch ‚abgeschossen‘ werden, sodass die Bewegungsphase später etwa in einem Zoopraxiskop animiert wiedergegeben werden konnte. Daneben übertrug Marey die Aufnahmen auch zeichnerisch, in Gipsmodellen materialisiert oder zu Silhouetten abstrahiert. Diese Frühform des optischen und markerlosen Motion-Tracking macht darauf aufmerksam, dass frühe Anwendungen auf ein Zusammenspiel von erkennendem Auge, geübter Handlung und mechanischem Aufzeichnungsverfahren angewiesen waren, um kontextuell signifikante Daten zu erheben, welche den Zweck der wissenschaftlichen Beobachtung mit der Bewegungsverfolgung verschränken.18 Zudem lassen sich in diesem frühen Anwendungskontext bereits analytische Perspektiven entdecken, welche Tracken medientheoretisch über spezifische technologische Besonderheiten hinaus interessant erscheinen lassen. Das Beispiel der fotografischen Flinte weist darauf hin, wie Trackingpraktiken per se raumzeitliche Gefüge etablieren, die Echtzeit, Aufzeichnungszeit und Reanimationszeit ineinanderfalten und auf spezifische Zwecke ausrichten sowie Wissensbestände und Handlungsoptionen auf bewegte Objekte beziehen.19
15 Der Medienwissenschaftler Pasi Väliaho situiert Mareys optische Instrumente in einer alter-
nativen Mediengeschichte des Kinos und spricht so nicht explizit von Trackingpraktiken, sondern vom Motion Capturing, welches er an den bildtheoretischen Diskurs um operationale Bilder anschließt, Väliaho: Marey’s Gun. In: Oever (Hrsg.): Technē/Technology, S. 174 f. 16 Ausführlich dazu Braun: Picturing Time sowie Cartwright: Experiments of Destruction. In: Representations. 17 Vgl. Väliaho: Marey’s Gun. In: Oever (Hrsg.): Technē/Technology, S. 171. 18 Vgl. Snyder: Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. In: Geimer (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit, S. 162 f. 19 Zur Frage der epistemologischen Bedeutung und wissenschaftlichen Objektivität grafischer Methoden, insbesondere als Datenerhebungsverfahren unter Rekurs auf Mareys Entwicklungen vgl. Snyder: Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. In: Geimer (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit.
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Tracken Kontexte
Daran lässt sich eine kritische Perspektive anschließen, die Tracken explizit mit Machtfragen verknüpft. Wer oder was wird von wem zu welchem Zweck verfolgt, unter welchen Kriterien und mit welchen Einschränkungen? Mit welchen Mitteln, über welche Zeit und aus welcher Distanz wird die Entität fokussiert? Diese Fragen gewinnen auch im Kontext aktuellerer Trackingpraktiken, die lebendige Entitäten als Verfolgungsobjekte bestimmen, intransparent operieren und kontrollierend sowie intervenierend agieren, eine besondere Brisanz. Im frühen Entwicklungs- und Anwendungskontext der Kriegsführung wurden ebenfalls bewegte Objekte – und in ihnen Individuen – optisch getrackt. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatten US-amerikanische Streitkräfte zunächst ein manuelles Verfahren zur Fernerkundung, Verfolgung und Zerstörung von gegnerischen Schiffen und Flugzeugen entwickelt, das auf menschlichen Synchronisierungsleistungen verschiedener Systemkomponenten basierte.20 So mussten Soldat*innen als Servomechanismen fungieren und die Position beweglicher Ziele so verfolgen, dass die erhobenen Daten als Eingabegröße für die Ausrichtung der eigenen Geschütze genutzt werden konnten. Bevor Analogrechner wie der Differential Analyzer dazu entwickelt wurden, „auch die Flugbahnen von Projektilen oder Flugzeugen [zu] berechnen“, war die Verfolgung von beweglichen Zielen an manuelle Operationen geknüpft, welche die Beobachtung aus der optischen Verfolgung in zielgerichtete Feuerleitungen transformierten.21 Zu Beginn des zweiten Weltkrieges stammt diese kontinuierlich veränderliche Eingabegröße meist aus der Bewegung einer Handkurbel, mit der die Position eines Flugzeuges verfolgt wird, während die entsprechende Ausgabe in der zunächst manuellen Ausrichtung eines Geschützes oder Suchscheinwerfers besteht. Das manuelle Verfolgen der Zielposition mittels einer Kurbel wird im Militärjargon als laying bezeichnet.22
Die optisch-mechanische Praktik des Laying wird später im MIT Servomechanisms Laboratory in eine automatisierte und vor allem berechenbare 20 Vgl. zur Rolle von Bildmedien und optischer Erfassung in der Kriegsführung auch Bousquet: The Eye of War, insbes. S. 81–119. 21 Scherffig: Feedbackmaschinen, S. 56. 22 Ebd., S. 58 [Herv.i.O.].
636
KONJUNKTUREN Mit der Verbreitung von Digital- und Sensortechnolo-
gien diversifizieren sich auch die Entwicklungs- und Anwendungskontexte
23 Vgl. ebd. Mit Entwicklung von Digitalcomputern ab den 1960er Jahren erlebt auch
die Verwendung des Begriffs Tracking in englischsprachigen Publikationen einen sprunghaften Anstieg. Vgl.: Google Ngram Viewer. Unter: https://books.google.com/ngrams/ graph?content=tracking&year_start=1500&year_end=2020&corpus=15&smoothing=3&share= &direct_url=t1%3B%2Ctracking%3B%2Cc0#t1%3B%2Ctracking%3B%2Cc0 [aufgerufen am 22.01.2020]. 24 Eingehender Scherffig: Feedbackmaschinen, S. 94 ff. 25 Der Wissenschaftshistoriker Etienne Benson verortet auch den Fortschritt der Wildtierbeobachtung im Kontext technologischer Entwicklungen der Kriegsführung: „In search of new methods of locating, tracking and identifying individual wild animals in their natural habitats, wildlife biologists in the 1950s looked to the electronic technologies of the Cold War and the space age. The recent invention of the transistor had made it possible to build, for the first time radio transmitters small enough to be attached to living creatures without causing significant changes in behavior.“ Benson: Wired Wilderness, S. 5. 26 Vgl. Geoghegan: An Ecoloogy of Operations sowie Mindell: Between Human and Machine.
Tracken Konjunkturen
Funktionslogik transformiert und als Tracking bezeichnet.23 Die Entwicklung des Echtzeit-Digitalrechners Whirlwind und seine Verbindung mit Radarsystemen delegierte die Verfolgung und Vorhersage von Flugbahnen an die Rechen- und Darstellungslogik früher Computersysteme, die neue menschliche Wahrnehmungs- und Handlungskompetenzen erforderten. Der Modus des tracking while scanning erforderte, dabei nicht nur digital erfasste und verfolgte Flugobjekte wahrzunehmen, sondern gleichermaßen deren per radarbasiertem Scanning erfasste Umweltsituation einzuschätzen, um entsprechende strategische Entscheidungen zu treffen.24 Das Nachverfolgen von Bewegungsverläufen über große Distanzen und daraus abgeleitete Handlungen wurden in diesem Kontext in ein digitales interaktiv-kybernetisches System gefügt.25 Menschliche Wahrnehmung war hier nur mehr medial vermittelt möglich, Entscheidungsprozesse auf digitale Daten angewiesen sowie Tracking mit einer genuin interventionellen Funktion ausgestattet.26 Die Verlagerung der Medienpraktik Tracking in private Kontexte zeigt sich in jüngerer Zeit vor allem als Self-Tracking mittels sogenannter Smart Devices und wird nachfolgend unter Konjunkturen näher beleuchtet.
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637
von Trackingpraktiken.27 Die Erfassung und Integration ganz unterschiedlicher Objekte sowie Raumzeitgefüge scheint möglich, wie der Künstler und Medientheoretiker Jordan Crandall diagnostiziert.
Tracken Konjunkturen
Tracking arises as a dominant perceptual activity in a computerized culture where looking has come to mean calculating rather than visualizing in the traditional sense and where seeing is infused with the logics of tactics and manoeuvre – whether in the mode of acquisition or defence. Such processes of calculation, and their necessary forms of information storage (memory), are distributed and shared in a larger field of human and technological agency. The object is dislodged from any inherently fixed position, and instead becomes a mobile actor in a shared field of competitive endeavour.28
Neuere Trackingtechnologien erlauben eine je spezifische Weise der medialen Nachverfolgung oder Mitführung, die nicht mehr notwendigerweise die Beobachtung eines singulären bewegten Objekts oder die grafische Einschreibung einer Spur zum Ziel haben. Erfassbare und erfasste Raumzeitrelationen werden sowohl weiter ausgedehnt und unübersichtlicher, etwa durch GPSTracking und Fernsteuerungstechnologien, als auch partikularisierter und intransparenter, zum Beispiel in Form von HTTP-Cookies, welche im Hintergrund der Aufmerksamkeit die Onlineaktivität von Nutzer*innen verfolgen und analysierbar machen. Eine eindeutige und übergreifende Systematisierung, die sowohl die technologischen als auch operativ-pragmatischen Spezifika von Trackingsystemen erfasst, scheint im Zuge dieser Entwicklungen schwierig. Dennoch lassen sich in zeitgenössischen Trackingpraktiken drei konjunkturelle
27 Mark Andrejevic und Mark Burdon sprechen in ihrer Analyse aktueller Entwicklungen gar
von einer Sensor Society: „The notion of a ‚sensor society‘ (Schermer 2008), then, is meant to focus attention on developments in the collection and use of information in the digital era that might help re-orient discussions about issues ranging from surveillance and power to privacy and social sorting. The frame of the ‚sensor-society‘ addresses the shifts that take place when the once relatively exceptional and discrete character of monitoring becomes the rule, and when the monitoring infrastructure allows for passive, distributed, always-on data collection.“ Andrejevic/ Burdon: Sensor Society. In: Television & New Media, S. 24. 28 Crandall: Precision + Guided + Seeing. In: ctheory. Unter: http://ctheory.net/ctheory_wp/ precision-guided-seeing/ [aufgerufen am 28.01.2020].
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29 Vgl. Crandall: Geospatialization of Calculative Operations. In: Theory, Culture & Society;
Tracken Konjunkturen
Schlaglichter setzen, die je spezifische Skalierungen, Funktionalitäten und Zwecke von ähnlichen Trackingverfahren klammern. Insbesondere die im Abschnitt Kontexte bereits erwähnte Einführung von Digitalcomputern und die Verkopplung dieser mit Radarsystemen leistete Tracken als automatisierter und ferngesteuerter Verfolgungspraxis Vorschub, die Berechenbarkeit als Primat von Sichtbarkeit und taktischer Intervention installierte.29 Weder war die primäre Erfassung und andauernde Verfolgung eines Objekts auf menschliche Wahrnehmung angewiesen noch mussten die Spuren im physikalischen Nahbereich oder zumindest menschlichen Sichtbereich liegen. Trackingpraktiken als konstitutive Ermöglichungsbedingung automatisierter und ferngesteuerter Kriegsführung erleben mit dem Einsatz von unbemannten Flugobjekten bzw. Drohnen im Zuge des Golfkriegs Anfang der 1990er Jahre eine weitere Konjunktur.30 Ähnliche operative Verschaltungen von Sensorsystemen, Satelliteninfrastrukturen und ferngesteuerten, bildgestützten Entscheidungsprozessen finden sich in Anwendungskontexten, die heterogene Entitäten in ausgedehnten Raumzeitgefügen zu interventionellen Zwecken aneinander ausrichten.31 Insbesondere der Einsatz von digitalen Medientechnologien in der industriellen Landwirtschaft macht auf die prekäre Verkopplung lebendiger Entitäten mit
Gabrys: Program Earth.
30 Vgl. Elish: Remote Split. In: Science, Technology & Human Values sowie das dazugehörige
Editorial von Suchman/Follis/Weber: Tracking and Targeting. In: Science, Technology, & Human Values. 31 Jordan Crandall merkt zu solcherart Trackingdispositiven an: „Tracking, then, is not simply a technology or a modality of perception, but a cluster of discursive orientations. It is through such discourses that subjects, machines, and institutions are linked. As tracking mediates among viewer, screen, and world, it generates the tactical mindsets, communication modes, and sensorial and somatic adjustments that are appropriate to it. Tracking provides a scrim through which relevant data are historically selected, systems of address and command determined, and human and cultural sensoria differentiated and reintegrated.“ Crandall: Precision + Guided + Seeing. In: ctheory. Unter: http://ctheory.net/ctheory_wp/precision-guided-seeing/ [aufgerufen am 28.01.2020].
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Tracken Konjunkturen
Kontroll- und Steuerungsprozessen durch Trackingpraktiken aufmerksam.32 Eine Operationalisierung von Bewegungs- und Vitaldaten zeigt sich insbesondere im Virtual Fencing, dem virtuellen Hüten von Tierherden. In solchen Anwendungen treffen Landwirt*innen bildgestützt Entscheidungen zur Weidefläche, die durch GPS-Tracking, Sensortechnologien sowie Clouddienste in eine geschlossene Operationslogik gefügt werden. Diese überwacht nicht allein das Bewegungsverhalten der Tiere, sondern reguliert dieses automatisiert durch sensorische Signale, wenn sich ein Tier dem virtuell definierten Zaun nähert. Die Kulturtechnik Hüten wird so zu einer vorrangig datengetriebenen, ferngesteuerten medialen Praktik, die von Landwirt*innen neue Handlungskompetenzen verlangt und Tiere in eine digitale Verhaltensökonomie einspeist. Durch Tracking regulierte Verhaltensökonomien spielen auch bei einer weiteren Konjunktur eine in mehrfacher Hinsicht entscheidende Rolle. Tracken als Self-Tracking oder Selbstbeobachtung hat in den letzten fünf bis zehn Jahren eine zunehmende Beliebtheit erfahren.33 Körpernahe, mobile Sensorund Trackingtechnologien, auch als Wearables bezeichnet, werden vor allem im Fitness- und Lifestylebereich eingesetzt, um persönliche Daten wie den Schlafrhythmus oder das eigene Bewegungsverhalten aufzuzeichnen und zu dokumentieren. In letzterem Fall etwa erheben Sensoren, die am Körper befestigt werden, Vital- und Geodaten, um diese im Zusammenspiel mit GPSTracking und Softwareanwendungen zu prozessieren und als Information zu zurückgelegten Wegstrecken und deren Auswirkungen auf Herzfrequenz und Kalorienverbrauch aufzubereiten. Initiativen von Entwickler*innen und Nutzer*innen wie Quantified Self haben zudem zu einer dezentralen Kollektivierung von Selbstvermessungpraktiken geführt. Die häufig genannte Funktion
32 Für einen fachwissenschaftlichen Überblick vgl. Berckmans: General introduction to preci-
sion livestock farming. In: Animal Frontiers; einen analytisch-kritischen Überblick bietet Bolinski: Virtual Farming. In: Kasprowicz/Rieger (Hrsg.): Handbuch Virtualität sowie Miles: The Combine Will Tell the Truth. In: Big Data & Society. 33 Vgl. Dodge/Kitchin: Outlines of a world coming into existence. In: Environment and Planning B: Planning & Design; Duttweiler/Passoth (Hrsg.): Leben nach Zahlen; Nafus/Sherman: Self-Tracking.
640
Tracken Konjunkturen
des Self-Tracking zur Selbstoptimierung stieß dabei ebenso auf Kritik wie der Umgang mit Privatheit und Datensicherheit.34 Sensorbasiertes Tracken von Körper- und Körperteilbewegungen ist ebenso konstitutiv für Virtual Reality (VR) Anwendungen, die auf der Nutzung von opaken Head-mounted Displays (HMD) basieren. Dabei operieren unterschiedliche HMDs mit je anderen Trackingtechniken, etwa Kopftracking oder Eyetracking, welche die Körperbewegung der Nutzer*innen mit deren Perspektive auf die im Inneren des HMD dargestellten Visualisierungen synchronisieren.35 Dies soll für eine minimale Latenz zwischen Körperbewegung und visueller Wahrnehmung sorgen, um Augen- und Körpersinn so zu integrieren, dass ein immersiver Eindruck entsteht. Zudem soll so vermieden werden, dass ein Unwohlsein aufgrund der mangelnden Synchronisation von Körperbewegung und visueller Wahrnehmung verursacht wird. Eine solche Simulator Sickness würde den Wahrnehmungseindruck und damit den angestrebten Effekt einer HMD-basierten VR-Anwendung erheblich beeinträchtigen, wenn nicht verunmöglichen. Die konstitutive Rolle von Trackingpraktiken zur Synchronisierung von körperlicher und medialer Wahrnehmung wird besonders dort deutlich, wo über virtuelle Erfahrungen psychotherapeutische Absichten verfolgt werden. Die sogenannte Virtuelle Therapie, etwa zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen oder Phobien, macht sich die idealiter immersive Wirkung zu eigen, um Patient*innen in traumatisierende Umgebungen (rück) zu versetzen. Das virtuelle Erleben einer stressbesetzten Umgebung soll dazu beitragen, den verhaltenstherapeutischen Prozess zu unterstützen, indem etwa physisch nicht mehr zugängliche Räume wie Kriegsgebiete dennoch als therapeutische Expositionsräume genutzt werden
T 34 Vgl. Lambert: Bodies, Mood and Excess. In: Abend/Fuchs (Hrsg.): Quantified Selves and
Statistical Bodies; Lupton: The Quantified Self.
35 Da Trackingtechnologien konstitutiv für die Immersionsqualität von VR-Anwendungen in
verschiedenen Bereichen sind, wird an weiteren Trackingverfahren gearbeitet, die den physischen und virtuellen Körper synchronisieren sollen, u.a. an sogenannten Tracking Suits, vgl. Pita: List of Full Body VR Tracking Solutions. In: Virtual Reality Times. Unter: http://virtualrealitytimes. com/2017/02/21/list-of-full-body-vr-tracking-solutions/ [aufgerufen am 28.01.2020]. Vgl. auch Grimm et al.: VR/AR-Eingabegeräte und Tracking. In: Dörner et al. (Hrsg.): Virtual und Augmented Reality (VR/AR).
641
Tracken Gegenbegriffe
können.36 Eine solche Funktionalisierung von VR-Displays basiert eminent darauf, dass Kopfbewegung und HMD-basierte Visualisierung mittels Sensorund Trackingtechnologien so synchronisiert werden, dass ein therapeutisch effektiver Eindruck für Patient*innen entstehen kann. Während die funktionale Rolle von Trackingtechnologien für Nutzer*innen im Self-Tracking und in VR-Systemen trotz kritischer Einwände relativ transparent erscheint, operiert Webtracking sui generis für die getrackten Entitäten möglichst unbemerkt und undurchsichtig. Mit der Zunahme und Spezialisierung von Webtrackingtechnologien37 werden in den letzten Jahren kritische Fragen nach der Überwachungs- und Kontrollfunktion durch Tracken bei der Internetnutzung auf breiterer Basis verstärkt diskutiert.38 Im Webtracking und der damit verbundenen Datenanalytik erlauben verschiedenartige Technologien, das Nutzungsverhalten großflächig und über längere Dauer zu erfassen, zu analysieren und insbesondere marketingstrategisch nutzbar zu machen.39 Die etymologische Konnotation vom Tracken mit Spurenlesen scheint in solchen Trackingpraktiken vordergründig und bedingt gleichsam die Frage nach der medialen Spezifik des Webtracking. Als automatisiertes, intransparentes Verfahren verfolgt Webanalyse-Software etwa das Klickverhalten oder die eingegebenen Suchbegriffe von Nutzer*innen auf Webseiten, um auf Grundlage dieser Daten Werbung zu integrieren. Spurenlesen und Spurenlegen sind im Webtracking eng verzahnt und werfen nochmals nachdrücklich machtpolitische Fragen auf. GEGENBEGRIFFE Dezidierte Gegenbegriffe zu Tracken finden sich kaum,
eher bestimmen begriffliche Unschärfen und semantische Überschneidungen das Begriffsfeld. Der Begriff Tracken bewegt sich häufig in semantischer Nähe zu anderen Begriffen, die mit Erfassungs-, Verfolgungs- und
36 Vgl. Brandt: Simulated war. In: Catalyst; Friedrich: Therapeutic Media. In: MediaTropes. 37 Eine Übersicht bietet Rötgen: Gefällt mir, gefällt mir nicht. In: Hoeren/Kolany-Raiser
(Hrsg..): Big Data zwischen Kausalität und Korrelation.
38 Vgl. Dijck: Datafication, Dataism and Dataveillance. In: Surveillance & Society; Zuboff: The
Age of Surveillance Capitalism.
39 Vgl. Bucher: The Algorithmic Imaginary. In: Information, Communication & Society.
642
40 Vgl. Crandell: The Geospatialization of Calculative Operations. In: Theory, Culture & So-
Tracken Gegenbegriffe
Überwachungspraktiken assoziiert werden.40 Insbesondere die auch im Deutschen beibehaltene Rede vom Monitoring, Capturing und Tracing benennt mediale Verfahren der (Dauer-)Beobachtung und Bewegungserfassung. Eine semantische Unterscheidung kann durch die Raumzeitlichkeit und das Objekt der Erfassung getroffen werden. So bezeichnet Monitoring mediale Verfahren der andauernden Beobachtung, wobei nicht die Verfolgung eines Verlaufs oder einer Spur im Mittelpunkt steht, sondern die Erfassung der Ist-Situation. Der retro- oder prospektive Aspekt, der beim Tracken im Mittelpunkt steht und Ist-Zustände oftmals allein als Referenz nutzt, wird beim Monitoring weniger beachtet. Zudem ist das mit den Medienpraktiken verknüpfte Erkenntnisinteresse ein anderes, geht es beim Monitoring doch eher um einen Überblick und ein Überwachen der Gesamtsituation als um die Fokussierung eines spezifischen Teilprozesses oder Objekts und die gezielte Einflussnahme darauf. Der Begriff Capturing hingegen betont die Zurichtung auf ein bestimmtes Objekt oder einen kleinteiligen Prozess, insbesondere Bewegungsabläufe. Wie eingangs erwähnt, wird das Motion Capturing unter dieser Bezeichnung sowohl im Film als auch in medizinischen Kontexten verwendet, wobei es seltener als Bewegungstracking bezeichnet wird. Während Monitoring auch Trackingtechnologien einschließen kann, bezeichnet Capturing also spezifische Trackingpraktiken.41 Tracing wird häufig mit tracking in einem feststehenden Begriffspaar genutzt, wobei die Wendung track and trace ein Fachbegriff der Logistik im Bereich Sendungsverfolgung ist.42
T
ciety.
41 Philip Agre untersucht verschiedenartige Trackingtechnologien unter den Aspekten der
Überwachung und Privatheit mit Bezug zu zwei kulturellen Modellen der Privatheit, die er als „surveillance model“ und „capture model“ bezeichnet. Der Begriff des Capturing wird hier weniger technologisch als metaphorisch verwendet, auch wenn Agre den Begriff der Informationswissenschaft entlehnt. Tracking wird nicht als Gegenbegriff, sondern als technologischphänomenale Grundlage des „capture model“ verstanden. Agre: Surveillance and Capture. In: Information Society. 42 Vgl. Gleißner/Femerlin: Logistik, S. 225 f.
643
Während wir es beim Tracking mit einem Standort-Monitoring zu tun haben, bezeichnet Tracing die mehr oder weniger kontinuierliche Rückverfolgung eines Weges. Tracking verweist somit auf die instantane Verfolgung von Standorten (Aufzeichnung) und Tracing auf deren ex post vorgenommene Rückverfolgung (Nachzeichnung).43
Tracking wird hier mit einer Standortbestimmung verknüpft, jedoch weniger mit der Nachverfolgung eines zurückgelegten Wegs und Prozessablaufs. In anderen Kontexten als Logistik und geomedialer Praxis, etwa den im Abschnitt Konjunkturen beschriebenen, scheint der Begriff Tracing so eng mit dem des Trackings verschmolzen, dass mit letzterem keine semantischen Unterschiede mehr zwischen Auf- und Nachzeichnung getroffen werden.44
Tracken Perspektiven
PERSPEKTIVEN Die oben ausgeführten aktuellen Konjunkturen von sensor-
644
basierten, automatisierten und vernetzten Trackingverfahren verdeutlichen die mediale Wandlung früher optischer Nachverfolgungspraktiken. Die operative Zuordnungsrelation zwischen getracktem Objekt, raumzeitlichen Gefügen und zweckgebundenem Handlungswissen hat sich mit solchen Verfahren weiter verkompliziert. Weder kann etwa von einem kausalen Zusammenhang zwischen technischem Mess- und Beobachtungsverfahren sowie Sichtbarmachungsimpetus ausgegangen werden noch ist die operative Reichweite von
43 Passmann/Thielmann: Beinahe Medien, S. 89. Die Autoren nehmen Bezug auf eine Defini-
tion des Medienwissenschaftlers Richard Rogers, der sich in seinem Text mit Kartografierungspraktiken sozialer Netzwerke auseinandersetzt und zur Veranschaulichung den Bezug zur Logistik sucht: „Tracking concerns recording events, such as arrivals and departures of a package along a route that includes a warehousing event, a truck-loading event, a customs arrival event, a customs clearance event, etc. A package is tracked by recording its arrival and departure at given points along the route. [...] Tracing, however, should not be confused with connecting the dots of events. Rather, tracing is movement monitoring, an effort to record the full trajectory of the package‘s journey. [...] The location is always either to be determined (which is not quite tracing), or actually being determined through the monitoring of the recording (which is tracing).“ Rogers: Why map, zit. n. Passmann/Thielmann: Beinahe Medien, S. 89. 44 So nutzt etwa auch die Geografin Anja Kanngieser die feststehende Wendung tracking und tracing als Klammer, um die macht- und mobilitätspolitischen Auswirkungen von Digitaltechnologien in der Logistikindustrie zu untersuchen, ohne jedoch eine explizite definitorische Unterscheidung beider zu treffen. Kanngieser: Tracking and tracing. In: Environment and Planning D: Society and Space.
FORSCHUNG Eine kritische Analyse von Tracken als medialer Praxis ist
sodann mehrfach herausgefordert. Eine differenzierte Medienkritik aktueller Trackingpraktiken erfordert zunächst in methodischer Hinsicht die Erarbeitung einer analytischen Systematik, welche die operative Spezifik einzelner Trackingverfahren herausarbeitet, ohne deren darüber hinausweisende sozio-politische, ökologische und ähnliche Auswirkungen zu vernachlässigen. Dabei werden, wie sich in den Beispielen oben angedeutet hat, die Aspekte
Tracken Forschung
Trackingverfahren eindeutig identifizierbar, da sie Entitäten und mediale Infrastrukturen in einem scheinbar unterschiedslosen und stetig dynamischen Gefüge verkoppeln. Bereits die eingangs erwähnte Anekdote des sensorbasierten Trackings der Adlerflugrouten verweist auf die Fehleranfälligkeit und die mangelnden Zugriffsmöglichkeiten für Nutzer*innen. Dabei bergen körpernahe Sensorund Trackingtechnologien andere operative und analytische Herausforderungen als die erwähnten satellitenbasierten Technologien zur Fernerkundung und Fernsteuerung von Flugobjekten oder Kühen. Was sich jedoch trotz der technologischen und kontextuellen Verschiedenartigkeit abzeichnet, ist eine zunehmende Automatisierung und Interventionalität durch und von Trackingtechnologien. Wenn etwa das Closed Loop Sensing in der Viehzucht zunehmend auf Grundlage einer geschlossenen, rückgekoppelten Datenlogik automatisierte und kurz getaktete Entscheidungen trifft und diese in physische Interventionen transformiert, stellen sich Fragen nach der verbleibenden menschlichen Handlungsmächtigkeit und veränderten Interaktionsbedingungen von Lebewesen.45 Auch im medizinisch-chirurgischen Kontext ermöglichen Sensor- und Trackingtechnologien eine zunehmende Synchronisierung von physischen Körpern und digitalen Daten, die über Zwecke der Visualisierung und Lokalisierung hinausreichen und dezidiert interventionelle Handlungen ermöglichen sollen, die in Kooperation von Medientechnologie und menschlicher Kompetenz durchgeführt werden.46
T
45 Vgl. Friedrich: Im virtuellen Zaun. In: Ladewig/Seppi (Hrsg.): Techno-ästhetische Perspek-
tivierungen des Milieus,
46 Vgl. Friedrich/Queisner: Automated Killing and Mediated Caring. In: Proceedings of
MEMCA-14.
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Tracken Forschung
der Kontroll- und Überwachungsfunktion, Automatisierung und Interventionalität besonders virulent. Diese Aspekte bedingen im gleichen Zug die Auseinandersetzung mit subversiven Potentialen, etwa des Entzugs oder der Transparentmachung,47 um eine kritische Distanz in die scheinbar unterschiedslose, unsichtbare und allumfassende Operationslogik und Verhaltensökonomisierung von Trackingtechnologien zu implementieren.48 Hierzu kann ebenfalls eine fundierte Aufarbeitung der historischen Entwicklungslinien beitragen, wenn diese mit aktuellen Ausläufern sowie über Anwendungskontexte hinweg mit sozio-politischen Fragestellungen verknüpft werden. Auch wenn aus medienhistorischer Sicht die oben skizzierte Entwicklung von Bewegtbildmedien zur physiologischen Forschung und die Schwelle von mechanisch-verkörperten zu digital-automatisierten Verfahren der Mit- und Nachführung besonders interessant erscheinen, wäre die Rolle von grafischen Einschreibetechniken zur Verfolgung von Personen, etwa in der frühen Sklaverei, eingehender auf ihre performativ-machtpolitische Rolle zu befragen.
47 Die Künstlerin Jasmine Guffond nutzt beispielsweise selbstentwickelte Software, um Web-
trackingpraktiken, die sonst unbemerkt im Hintergrund der Nutzung von Webseiten ablaufen, zu sonifizieren und so in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, etwa in der Installation „The Web never forgets“ (Unter: http://jasmineguffond.com/art/The+Web+Never+Forgets [aufgerufen am 12.02.2020]). Der Medientheoretiker und Künstler Jordan Crandall setzt sich in Performances mit der Allgegenwart von Tracking und deren sozio-politischen Auswirkungen auseinander (vgl. dazu die Analyse von Hansen: Feed-Forward, S. 251–270). 48 Die Geografin Doreen Boyd und ihr Team wenden die Visualisierungen satellitenbasierten Trackings an, um moderne Formen der Sklaverei, z.B. im Bergbau und der Landwirtschaft, aufzudecken und spitzen so die Sichtbarmachungsversprechen und ferngesteuerten Verfolgungsmöglichkeiten in politisch-produktiver Weise zu. (Boyd et al.: Slavery from Space. In: ISPRS Journal of Photogrammetry and Remote Sensing sowie unter: https://www.nottingham.ac.uk/connectonline/research/2017/fighting-slavery-from-space.aspx [aufgerufen am 12.02.2020]).
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649
UNTERHALTEN CLAUDIA LIEB
ANEKDOTE Dieter Bohlens Biografie NICHTS ALS DIE WAHRHEIT, verfasst mit
Bild-Journalistin Katja Kessler, wurde 2002 auf Anhieb zum Bestseller und rückte zum Flaghship-Produkt der Frankfurter Buchmesse auf. „Kann eine ganze Nation verdummen“? fragte Jens Jessen und kommentierte in Die Zeit:
Unterhalten Anekdote
Nicht ohne Fassungslosigkeit vernimmt man, dass der deutsche Buchhandel auch zu dieser Frankfurter Messe wieder alle wirtschaftliche Hoffnung auf ein Klatsch-und-Tratsch-Buch von Dieter Bohlen setzt. Die deutschen Verleger und Händler selbst scheinen leicht schockiert, dass es keine klassischen Trivialromane oder Ratgeber mehr sind, von denen der erlösende Umsatzschub ausgeht, sondern ein Gegenstand noch unterhalb der Schundgrenze. Die Geständnisse, Bosheiten, Bettgeschichten eines alternden Schlagerstars, einschließlich der begleitenden Rechtshändel und Enthüllungen gekränkter Sternchen am Rande, sind offenbar das einzig noch geeignete Material, mit dem Menschen, die sonst wenig lesen, zum Besuch einer Buchhandlung gebracht werden können.
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Unterhaltungsfernsehen und Boulevardpresse hätten nun die Führung über die Öffentlichkeit übernommen. Indessen werde das Interesse für die „Bohlens oder Naddels dieser Welt“ mit viel Geld hergestellt. „Es ist eine überaus tüchtig-zynische Industrie, an deren Erfolg nun auch die Büchermacher teilhaben“, so urteilt Jessen, weil „Papier mindestens so geduldig wie ein Fernsehkanal sein kann.“ Bohlens Leser wüssten zwar, dass sie „nichts als unterhaltsamen, vulgären Unfug“ konsumierten. Wenn dieser jedoch grell „von allen Medien gleichzeitig ausgesendet“ werde und den „höchsten Erregungsgrad über das Allernichtigste“ verspreche, so könnte daraus ein politisches Problem erwachsen. Woraus folgt: „Das Problem an Dieter Bohlens Erfolg ist nicht, dass sich aus seinen Büchern nichts lernen ließe. Im Gegenteil: Das Problem besteht darin, dass die dümmsten Bücher stets Nachfolger haben. Gegen solche Bestseller ist kein Kraut gewachsen.“1
1 Alle Zitate Jessen: Zu Tode amüsiert. In: Die Zeit, 09.10.2003, Nr. 42.
650
ETYMOLOGIE Das Mittelhochdt. kennt noch kein Unterhalten, wohl aber underreden im Sinne von abwechselnd reden, (sich) beraten; die mittelhochdt. Präposition under meint räumlich ‚unter‘, ‚zwischen‘ und sozial ‚untereinander‘.3 Dem KLEINEN FRÜHNEUHOCHDEUTSCHEN WÖRTERBUCH nach bedeutet unterhalten so viel wie ‚einen zu Boden geworfenen Gegner mit einem Spezialgriff festhalten‘, und zwar beim Ringkampf.4 Dies lässt an mediale Unterhaltungsformate von Big Brother bis zu Twitter denken, wo Gegner nicht nur im Ring, sondern gleich auf dem Schlachtfeld niedergerungen werden: „Wenn du auf
Unterhalten Etymologie
In der Tat war es Bohlen, der diese Prophezeiung zu erfüllen schien – 2003 warfen Kessler und er die nächste Bohlen-Biografie auf den Markt, HINTER DEN KULISSEN. Dies konterten Frank Farian, Dieter Kaltwasser und Reginald Rudorf mit ihrem Buch STUPID DIESER BOHLEN: DIE WAHRHEIT UND NICHTS ALS DIE WAHRHEIT ÜBER DEN POP-HOCHSTAPLER (2004). Im März 2006 lief auf RTL DIETER – DER FILM, ein nach Bohlens erster Biografie gedrehter Zeichentrickfilm, der ursprünglich für das Kino vorgesehenen war – wobei Titelsong, Soundtrack und Erzählerstimme von Bohlen selbst stammen. 2008 legte er das Buch DER BOHLENWEG – PLANIEREN STATT SANIEREN nach. Daraus folgt dreierlei: 1. Mediales Unterhalten ist lukrativ. 2. Unterhalten, unterhaltsam und Unterhaltung sind – wie auch Trash, Schund und Kunst – nicht nur Gattungs-, sondern auch Wertungsbegriffe. 3. Unterhalten impliziert strukturelle Heuchelei, da die intellektuelle Ablehnung der massenhaften Rezeption widerspricht. In diesem Sinn hat schon Friedrich Schiller das schöne Paradox hervorgebracht, sich heftig gegen das „unterhaltende Buch“ zu wenden („geistlose, Geschmak- und Sittenverderbende Romane, dramatisierte Geschichten, sogenannte Schriften für Damen und dergleichen“, produziert „von mittelmäßigen Scribenten und gewinnsüchtigen Verlegern“), sein eigenes Buch aber als Werk, das „Unterhaltung“ gewährt, anzupreisen – und das in nur einem Text, der VORREDE ZU DEM ERSTEN THEILE DER MERKWÜRDIGSTEN 2 RECHTSFÄLLE NACH PITAVAL (1792).
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2 Schiller: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, S. 201–
203.
3 Vgl. (Art.) under; underreden. In: Lexer: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, S. 246 f. 4 (Art.) unterhalten. In: Baufeld: Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch, S. 236.
651
Unterhalten Etymologie
Twitter bist, glaubst du, es ist Krieg. Es ist wie ‚Game of Thrones‘“, so der Comedian Ricky Gervais.5 Jan Böhmermann ergänzt: „Da treffen zusammengefasste Positionen aus Schützengräben aufeinander. Es ist nicht das Medium, in dem du mit diplomatischen Bemühen Konsens findest […] prinzipiell geht es dort um den Austausch von Positionen, nicht um das Finden einer gemeinsamen Position.“6 Um die Mitte des 17. Jhs. gelangte das Verb unterhalten als Lehnübersetzung der franz. Verben soutenir und entretenir ins Dt. (sous, ‚unter‘, entre, ‚zwischen‘, tenir, ‚(in der Hand) halten‘, aus lat. sustinere, ‚tragen im Zustand der Ruhe, in der Höhe erhalten, vor dem Fall bewahren‘). Seitdem ist der Begriff in den noch heute gebräuchlichen Wortverwendungen nachweisbar.7 So notiert Pierre Rondeau 1711 in seinem franz.-dt. Wörterbuch unter dem Eintrag Soutenir die Übersetzung ‚tragen, empor halten‘ und nennt weitere Begriffsverwendungen: soutenir la conversation, das Gespräch unterhalten, soutenir une opinion, eine Meinung behaupten.8 Entretenir wird mit ‚erhalten, ernähren, unterhalten‘ übersetzt, ansonsten aber auch mit ‚aufhalten, aufziehen‘ im Sinne von amuser: Entretenir quelqu‘un de bonnes paroles, einen mit guten Worten aufziehen. Es folgen weitere Beispiele zu Unterhalten im Kontext von Mündlichkeit und Schriftlichkeit: entretenir, „mit gespräch unterhalten“ sowie entretenir quelqu‘un des nouvelles du temps, „mit einem von neuen zeitungen reden“.9 Indessen ist das Verb entretenieren als Synonym für unterhalten überliefert.10 Diese Hauptbedeutungen kehren in Johann Christian Adelungs GRAMMATISCH-KRITISCHEM WÖRTERBUCH aus dem Jahr 1801 wieder. Adelung unterscheidet zwischen unterhalten im wörtlichen und im figürlichen Sinn. Ersteres meine (die Hand) unter etwas halten oder ein Ding an der unteren Fläche halten, „damit es nicht falle“, diese Wortbedeutung sei jedoch bereits veraltet. Die figürliche Begriffsverwendung aus lat. sustinere im Sinn von ‚machen, 5 Zit. n. Adorján: Interview mit Jan Böhmermann über Twitter. In: Süddeutsche Zeitung,
05./06.09.2020, Nr. 205, S. 52.
6 Ebd. 7 Vgl. (Art.) Unterhaltung. In: Grimm, Bd. 11, Sp. 1609; Fauser: Unterhaltung. In: Müller
(Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 729.
8 (Art.) Soutenir. In: Rondeau: Nouveau Dictionnaire françois-allemand, S. 542. 9 (Art.) Entretenir. In: Rondeau: Nouveau Dictionnaire françois-allemand, S. 198. 10 (Art.) Unterhalten. In: Grimm, Bd. 11, Sp. 1603.
652
Dasjenige, was zur Verkürzung der Zeit, zur Vertreibung und Zerstreuung der langen Weile dienet, wo der Plural von mehreren Arten am üblichsten ist. Das Spiel, das Tanzen, die Musik sind unschätzbare Unterhaltungen. Besonders ein Gespräch zur Verkürzung der Zeit. Unsere Unterhaltung betraf, wie gewöhnlich, das Wetter.12
Johann Heinrich Campes WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE (1811) übernimmt alle Wortbedeutungen und -verwendungen von Adelung und versieht sie mit denselben Beispielen. Campe interessiert sich aber mehr für diejenigen Bedeutungen, die auf Konversation und Unterhaltung als medial gelenkte Zeitverkürzungen verweisen. Dabei wird unterhalten zudem als Wertungsbegriff verwendet:
Unterhalten Etymologie
dass etwas fortdauert, am Leben bzw. Laufen erhalten‘ wird an etlichen Beispielen ausgefaltet: konkrete aktive Tätigkeiten (ein Feuer, ein Gespräch, eine Bewegung unterhalten), Gefühle (jemandes Leidenschaft, Liebe, Kühnheit, Hass unterhalten), Eigentum im weitesten Sinn (ein Gebäude, einen Garten, ein Gut, viel Vieh, Truppen, eine Armee unterhalten) sowie das menschliche Leben (durch Nahrung, Kleidung, Geld etc. unterhalten). Das polyseme Wort kursiert also in etlichen Diskursen. Sie reichen vom häuslichen Alltag über Pflanzen- und Tierhaltung, Militär und Recht bis hin zur Sprache der Emotion und des Sprechens selbst. Die reflexive bzw. passivische Form sich unterhalten (lassen) meint im engeren Sinn ein Soldat werden oder sein, so Adelung, bezeichnet im weiteren Sinn aber kommunikative Tätigkeiten, die auf allerlei Kurzweil verweisen: „Oft bedeutet es auch die Zeit verkürzen, wo die Figur freylich ein wenig dunkel ist.“ Als wichtigstes Beispiel nennt Adelung das mündliche Gespräch (mit Gesprächen die Zeit verkürzen, sich mit jemandem unterhalten: sich zur Verkürzung der Zeit mit ihm unterreden), doch werden auch Medien wie Musik und Spiel genannt.11 Diese Begriffsverwendung wird unter dem Lemma „Unterhaltung“ ausgeführt:
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11 (Art.) Unterhalten. In: Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen
Mundart, Bd. IV, Sp. 910.
12 (Art.) Unterhaltung. In: Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen
Mundart, Bd. IV, Sp. 910.
653
Durch Gespräch und auf andere Art gleichsam hinhalten, die Länge der Zeit nicht empfinden lassen. Man unterhielt ihn indeß, bis der Herr zurückkam, so gut man konnte. Jemand mit Erzählungen, mit Kartenspiel, mit Spiel und Gesang unterhalten. Einen angenehm, schlecht unterhalten. […] Gewöhnlich ist damit der Begriff des Angenehmen und auch Nützlichen und Belehrenden verbunden, wodurch sich die Unterhaltung von bloßer Kurzweil und bloßem Zeitvertreibe unterscheidet.13
Darüber hinaus führt Campe bereits etliche Varianten als Lemmata, z. B. die „Unterhaltungsgabe“, die „Unterhaltungskunst“ – „die Kunst, gut und angenehm zu unterhalten. Er bildete seine Unterhaltungsgabe zur Unterhaltungskunst aus.“14 Auch Adjektive werden genannt, so „unterhaltbar“ (mit Zeitverkürzung versehen werden könnend, Beispiel: „Deren zärtliches Abentheuer die Leser unterhalten soll, in sofern sie nämlich unterhaltbar (amusable) sind“) und „unterhaltlich“ in der heutigen Bedeutung von „unterhaltsam“: Salomon Gessner, ein Bestsellerautor, sei sehr unterhaltlich.15
Unterhalten Kontexte
KONTEXTE Maßgeblich für das Verständnis von Unterhalten und Unterhal-
tungsliteratur um 1700 ist die antike Rhetoriklehre, vor allem die topische Formulierung aus der ARS POETICA des Horaz: „aut prodesse volunt aut delectare poetae/ aut simul et iucunda et idonea dicere vitae“ (‚entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was angenehm und nützlich ist fürs Leben, sagen‘).16 Diese doppelte Wirkabsicht, die der Dichtung einen Nützlichkeits- und einen Unterhaltungszweck attestiert, ohne einer Seite den Vorzug zu geben, fusioniert in den zeitgenössischen Poetologien mit den von Quintilian festgeschriebenen Redeabsichten docere, delectare, movere (‚nützen, erfreuen, bewegen‘) und verkürzt sich schließlich zu der Kopplung von delectare et prodesse. Seit etwa 1750 wird diese Doppelfunktion literarischer Texte mit ‚unterhalten und bilden‘ übersetzt. Dass „Lust und Nutz“ aus rhetorischen und didaktischen Gründen untrennbar aufeinander angewiesen seien, wird in der Literatur des Barock vielfach 13 14 15 16
654
(Art.) Unterhalten. In: Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 5, S. 199. (Art.) Unterhaltungsgabe, Unterhaltungskunst. In: Ebd. (Art.) Unterhaltbar, Unterhaltlich. In: Ebd. Horaz: De Arte poetica, Von der Dichtkunst, v. 333 f.
Unterhalten Kontexte
zitiert und schlägt sich ungebrochen in den Texten des frühen 18. Jhs. nieder. Im Gegensatz zur unterhaltenden Gebrauchsliteratur des 17. Jhs., die ein Sammelsurium sprachlicher Kleinformen aufbietet – neben komprimierten Schwänken scharf pointierte Witze, die kompiliert unter dem buchhändlerisch bewährten Titel SCHIMPFF UND ERNST und seinen vielen Abwandlungen dargeboten werden –, sind die wichtigsten Unterhaltungsmedien um 1700 die Zeitschrift und der Roman. In diesem Kontext muss die in Frankreich aufkommende Salonkultur genannt werden sowie ferner der galante Roman, der zuerst in Form von Übersetzungen und dann von Fortschreibungen auch in Deutschland Einzug hält. Weil der französische Adel unter Ludwig XIV. seine politische Funktion verliert und sich dadurch das Problem der Freizeitgestaltung stellt, entsteht innerhalb der höfischen Elite Frankreichs ein besonderes Bedürfnis nach Unterhaltungsprodukten. Es wird in den neu entstehenden salons aufgefangen. Das Salonideal, das im ausgehenden 17. Jh. formuliert wird, propagiert das Ideal eines Raumes, in dem jenseits der politischen und der häuslichen Rede eine Form der Rede geführt und geschrieben werden kann, die sich durch eine gepflegte Form des Witzes auszeichnet, aber noch keine Ambitionen in Richtung einer massenkulturellen Verbreitung zeigt. Am galanten Roman hingegen, der trotz seiner Orientierung am Salonideal eben diese Richtung einschlägt, entzündet sich schon früh eine Reflexion über „gute“ und „schlechte“, das heißt: einseitig unterhaltsame Bücher, die schließlich in die bekannte Lesesucht-Debatte einmündet. Hier wäre Pierre Daniel Huets TRAITÉ DE L’ORIGINE DES ROMANS (1670) zu nennen, eine der wenigen romantheoretischen Abhandlungen des 17. Jhs., die bis zu Friedrich von Blanckenburgs VERSUCH ÜBER DEN ROMAN (1774) wirkt und den Roman als unmoralisch abqualifiziert. Trotzdem lässt sich an den zeittypisch ausführlichen, auf Werbewirksamkeit abgestellten Romantiteln und Vorworten der 1680er und 1690er Jahre die Tendenz beobachten, die unterhaltsamen Aspekte der Texte unter Auslassung des Belehrenden anzupreisen, so z. B. in den Romanen von August Bohse, genannt Talander: DIE AMAZONINNEN AUS DEM KLOSTER IN EINER ANGENEH-
U
MEN LIEBES-GESCHICHTE ZU VERGÖNNTER GEMÜTHSERGÖTZUNG AUFFGEFÜHRET VON TALANDERN
(1681), DER DURCHLAUCHTIGSTE ARSACES AUS PER-
SIEN IN EINEM CURIEUSEN KRIEGES- UND LIEBES-ROMAN DER GALANTEN WELT
655
Unterhalten Kontexte
ZU VERGÖNNETER GEMÜTHS-ERGÖTZUNG VORGESTELLET VON TALANDERN
(1691) etc. Beispiele dieser Art häufen sich damals zunehmend. Als Reaktion darauf spricht der Zwinglianer Gotthard Heidegger in seiner MYTHOSCOPIA ROMANTICA 1698 das erste Romanverbot aus und ebnet so den Weg für die radikale Abwertung des Romans: „Die Romans mögen zuschanden gehen/ durch was Wege sie wollen/ wann sie nur zuschanden gehen“.17 Heidegger begründet dies u. a. mit dem Paulusbrief an Timotheus, wo es heißt: „Die ungeistigen Altweiberfabeln aber weise zurück; übe dich selbst aber in der Frömmigkeit.“ (1 Tim 4,7). Um gegen Unterhaltungsliteratur ins Feld zu ziehen, schlägt Heidegger einen reformierten Sonderweg ein. Im Gegensatz dazu lassen sich Lutheraner und Katholiken anführen, die selbst Romane schreiben, um die Schundliteratur ihrer Tage zu verdrängen, so etwa Jean Pierre Camus, Bischof de Belley, der auf Anraten des hl. Franz von Sales etwa 20 erbauliche Romane verfasste. Dessen ungeachtet löste Heideggers MYTHOSCOPIA ROMANTICA eine poetologische Debatte aus, die sich bis in die 1730er Jahre hinein zieht. Scharfe Kritik kommt aus dem Umfeld von Christian Thomasius, der versuchte, die Salonkultur in Deutschland einzuführen. Thomasius gibt im Januar 1688 mit seinen MONATSGESPRÄCHEN die erste Literaturzeitschrift Deutschlands heraus und stellt sie im Titel nicht weniger als drei Mal unter die Maxime von prodesse et delectare: SCHERTZ- UND ERNSTHAFFTER VERNÜNFTIGER UND EINFÄLTIGER GEDANCKEN ÜBER ALLERHAND
LUSTIGE UND NÜTZLICHE BÜCHER UND FRAGEN […], IN EINEM GESPRÄCH VORGESTELLET VON EINER GESELLSCHAFT DERER MÜSSIGEN. Vor
allem die ersten Ausgaben des Journals sind dem Unterhaltungsaspekt verpflichtet und stellen den Prototyp einer neuen Textsorte dar, die sich im Verlauf des 18. Jhs. Bahn bricht: der Unterhaltungszeitschrift. Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund einer rasanten Entwicklung des Zeitschriftenmarktes zu sehen. Während das Gesamtvolumen der Zeitschriften in Deutschland durch das gesamte 18. Jh. hindurch kontinuierlich und bisweilen sprunghaft ansteigt, verschiebt sich die Verteilung der streng
17 Heidegger: Mythoscopia romantica: oder Discours von den sobenanten Romans, o.S. [Zu-
schrift].
656
thematisch gebundenen Zeitschriften zugunsten von Unterhaltungsformaten. Bei diesen handelt es sich in erster Linie um die sogenannten moralischen Wochenschriften nach dem Vorbild der englischen Zeitschriften Tatler, Spectator und Guardian. Schon an den Titeln der moralischen Wochenschriften lässt sich beobachten, dass das Format noch immer einseitig auf die Formel von prodesse et delectare gebracht wird: FRANZÖSISCHES MUSEUM ODER DIE NÜTZLICHSTEN UND UNTERHALTENDSTEN AUFSÄZE FÜR TEUTSCHE, AUS DEN
reuth); UNTERHALTER FÜR KRIEGER ZUM NUTZEN UND VERGNÜGEN. EINE PERIODISCHE SCHRIFT (1781–1782, Breslau); MANCHERLEY ZUR ANGENEHMEN UND NÜTZLICHEN UNTERHALTUNG (1789–1790, Cleve) etc. Angesichts der Fülle von Titeln dieser Art ist anzunehmen, dass die Dopplung von Unterhaltung und Nutzen die Funktion einer stereotypen Formel erfüllt, die von den Zeitgenossen als Unterhaltungsmarker verstanden wird. Wie der Zeitungsmarkt explodiert auch der Buchmarkt im 18. Jh. Es kommt zu einem radikalen Anstieg von publizierten Büchern im Allgemeinen und von Romanen im Besonderen. Es entwickelt sich ein professioneller Buchmarkt mit einer enormen Steigerung der Buchproduktion, das Bargeschäft löst das bis dahin gängige Tauschgeschäft ab, und es treten Verleger in Erscheinung, die weniger an Kunst, umso mehr aber am Gewinn interessiert sind. Im Zuge dieser Kommerzialisierung des Buchmarktes gewinnt Unterhaltungsliteratur an Boden. Nach Reinhard Wittmanns GESCHICHTE DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS belegt die sogenannte schöne Literatur im Jahr 1800 den ersten Rang unter allen Rubriken und löst erstmals die Theologie als Leitmedium ab. Die zahlenstärkste Gruppe innerhalb der schönen Literatur bilden die als Unterhaltungsmedium deklarierten und diffamierten Romane.18 Der Boom von Unterhaltungsformaten im Buch- und Zeitschriftenmarkt fällt zusammen mit der Ausdifferenzierung von Serialität. Periodische bzw. zyklische Schreib- und Publikationstechniken werden zunehmend professionalisiert: Unterhaltungszeitschriften werden auf mehreren Ebenen seriell ausgestaltet (so gehen Titelbild, Layout, Heftstruktur und -ideologie in Serie) und sie befördern serielle Inhalte wie den Fortsetzungsroman und die Rubrik.
Unterhalten Kontexte
NEUESTEN UND BESTEN FRANZÖSISCHEN ZEITSCHRIFTEN […] (1790–1792, Bay-
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18 Vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels.
657
Das Serielle triumphiert in der populären Printkultur, bevor es alle anderen Medien erobert und zum Standard der industriell geprägten Welt „schneller, nicht abreißender Unterhaltung“19 wird. Dies lässt sich auch an der Zeitschrift Die Gartenlaube (1853 ff.) beobachten: Das Publikum […] zeigte sich zunehmend fasziniert von der Variation des Invarianten, genauer von einem Unterhaltungsangebot, das nicht nur verlässliche Schemata garantierte – eine regelmäßige Erscheinungsweise, einen gleichbleibenden Aufbau, ein stabiles Programm –, sondern auch auf vielfältige Weise zur fortgesetzten Lektüre anregte.20
Parallel dazu entstehen zwei Figuren, die seit dem 18. Jh. eine beachtliche Karriere machen: der freie Autor und der Kritiker. Es werden etliche Zeitschriften publiziert, die das Adjektiv „critisch“ oder die „Critik“ im Titel führen, z. B. Pierre Bayles DICTIONNAIRE HISTORIQUE ET CRITIQUE (1695–1697), Johann Christoph Gottscheds BEYTRÄGE ZUR CRITISCHEN HISTORIE DER DEUTSCHEN SPRACHE, POESIE UND BEREDSAMKEIT (1732–1744), Johann Jakob Bodmers CRITO (1751) und dessen SAMMLUNG CRITISCHER, POETISCHER, UND ANDERER GEISTVOLLER SCHRIFTEN, ZUR VERBESSERUNG DES URTHEILS UND DES WIZES
(1741–1744). Die Titulierung verdankt sich einer in den Zeitschriften ausgetragenen Rezensionswelle, die sich vor die Aufgabe gestellt sieht, gute von schlechten Büchern zu scheiden. Das hat zur Folge, dass der Kritiker zum Ende des 18. Jhs. hin eine der meistgehassten Figuren des Diskurses ist. Beispiele für die Diffamierung von Kritikern bietet etwa Jean Pauls Beitrag ÜBER DIE SCHRIFTSTELLEREI (1783), in dem der Kritiker (zeitgenössisch: der „Kunstrichter“) einer radikalen Polemik unterzogen wird:
Unterhalten Kontexte
IN DEN WERCKEN DER WOLREDENHEIT UND DER POESIE
Stat das Urtheil von den Augen abhängen zu lassen, braucht er ja nur dem Munde des Publikums seine Schmeichelei oder Verläumdung abzustehlen […]. Und zu was auch Augen, da man tadeln kan, was man nicht gelesen? Eine misverstandne Stelle schaft das ganze Urtheil, und nach der Vorrede schneidet man die Kritik des ganzen Buchs zu. […] Zu was Augen, da er ferner seiner
19 Christians: Wilhelm Meisters Erbe, S. 134. 20 Stockinger: An den Ursprüngen populärer Serialität, S. 12.
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Der globale Vorwurf nicht nur von Jean Paul besagt: Kritiker maßen sich an, das Gute vom Schlechten zu scheiden, ohne dazu in der Lage zu sein. Vor diesem Hintergrund gewinnen die ästhetischen Kategorien des Geschmacks und des Urteils an Interesse. Hierzu erscheint eine lange Reihe theoretischer Schriften, deren bekannteste vielleicht Immanuel Kants CRITIK DER URTHEILSKRAFT (1790) ist. In diesem Kontext formiert sich eine Gegenstellung von autonomer, durch das Genie geschaffener Kunst auf der einen Seite und Unterhaltung auf der anderen Seite. Dabei werden neue Kategorien etabliert, die fortan zur Wertung von Unterhaltung herangezogen werden. Vor allem die Kategorien des Nutzens bzw. des Zwecks sind in diesem Zusammenhang von Interesse: Vor dem Hintergrund einer ästhetischen Kunstreflexion, die Nutzen und Zweck in größtmögliche Distanz zur Kunst bringt und die Zweckfreiheit in der Rezeption von Kunstwerken predigt, kann Unterhaltung nur ins Abseits geraten – ist es doch das Genre schlechthin, das seit alters her mit Attributen der Nützlichkeit und der Zweckgebundenheit verbunden wird. Die Zwecke, die Unterhaltung erfüllen soll, sind etwa Zeitverkürzung sowie sinnlicher Genuss und Vergnügen – also all das, was Kant dem interesselosen Wohlgefallen am Schönen abspricht. So verhöhnt auch Jean Paul den „Unterhalter“,22 der „in nützliche Verse ausbricht“.23 Es etabliert sich also zwischen 1780 und 1800 eine Argumentation, die vor allem das Nützlichkeitsargument gegen Unterhaltungsprodukte ins Feld führt. Gerade in der Entwicklung der deutschen Ästhetik Kant’scher Tradition erscheint Unterhaltung daher als Skandalon, das dem Ideal eines zweckfreien genialischen Kunstwerks widerspricht. Ein weiteres Problem, das in etlichen Texten der Zeit thematisiert wird und für diesen Kontext von Bedeutung ist, ist das Problem der Raub- und Nachdrucke sowie der gängigen Praxis des Plagiierens. Ein Urheberrecht existiert
Unterhalten Kontexte
verschleimten Zunge das Urtheil überläst? […] Und zu was auch endlich Augen, da sie zu den Hauptendzwekken des Kritikers zur Verläumdung und Schmeichelei entbehrlich sind?21
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21 Jean Paul: Über die Schriftstellerei, S. 417–419. 22 Ebd., S. 393. 23 Ebd., 383.
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Unterhalten Konjunkturen
noch nicht, und in dem Moment, in dem man mit fiktionalen Texten Geld verdienen kann und muss, muss viel geschrieben werden. Es etabliert sich also im 18. Jh. eine Produktion von Unterhaltungsromanen nach französischen und englischen Vorbildern. So moniert August Wilhelm Schlegel an den Romanen von August Lafontaine, einem der beliebtesten Unterhaltungsschriftsteller der Zeit, dass sie Plagiate anderer Romane seien: „St. Julien gründet sich auf den Landpriester von Wakefield, im Flaming ist etwas von Siegfried von Lindenberg, zu Anfang von Natur und Buhlerey schimmert viel guter Wille den Werther zu machen hindurch, und was das pikanteste ist: er Jean-PaulRichterisirt seit kurzem mit dem besten Anstande.“24 An der Diskussion um Raub- und Nachdrucke beteiligen sich Autoritäten wie Kant (VON DER UNRECHTMÄSSIGKEIT DES BÜCHERNACHDRUCKS, 1785), Adolph Freiherr von Knigge (UEBER DEN BÜCHER-NACHDRUCK, 1792) und Johann Gottlieb Fichte (BEWEIS DER UNRECHTMÄSSIGKEIT DES BÜCHERNACHDRUCKS, 1793). Für diesen Kontext von Interesse ist, dass in den eigentlich rechtstheoretischen Texten zum Büchernachdruck Fragen aufgeworfen werden, die keine juristischen, sondern medien- und literaturtheoretische sind: Was ist ein Buch? Was ist ein Text? Ist ein Text vom Autor zu trennen, wenn ja, wie? Dabei lässt sich beobachten, dass die Autoren z. T. eine genieästhetische Argumentation verfolgen, die darauf hinausläuft, dass nur (Original-) Kunst, nicht aber Unterhaltung, schützenswert ist. Zeitgleich entsteht um 1800 der bis heute gebräuchliche Sammelplural „die Kunst“ und damit ein starker Kunstbegriff, der sich von dem älteren, eher schwachen und eher handwerklich gedachten Kunstbegriff der „schönen Künste“ prägnant absetzt. KONJUNKTUREN Die oben skizzierten Kontexte leisten zum einen der mas-
senhaften Verbreitung von Unterhaltung Vorschub und treiben zum anderen die Wertminderung von unterhalten als Produktions- und Rezeptionsprozess (ich unterhalte / ich lasse mich bzw. werde unterhalten) sowie ferner von Unterhaltungsprodukten voran. Dieser Widerspruch zwischen Beliebtheit und Verurteilung lässt sich bereits im 17. Jh. beobachten und verfestigt sich bis ins 21. Jh. hinein.
24 Schlegel: Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur. In: Athenaeum, Bd. 1, S. 173 f.
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Ausgangspunkt ist der Wortgebrauch ‚durch ein Gespräch unterhalten (werden)‘. Dies wird in der französischen Salonkultur des 17. Jhs. an das Amusement sozialer Eliten gebunden, als eine Theorie der richtigen Gesprächsführung entsteht. Sie wird in Erziehungsbüchern, Modellkonversationen und Romanen ausgearbeitet. Es sei erwähnt, dass das Gespräch als Textmodell auch in Deutschland gepflegt wird, beispielsweise durch Georg Philipp Harsdörffer (FRAUENZIMMER GESPRÄCHSPIELE, 1644–1657) und Johann Wolfgang von Goethe (UNTERHALTUNGEN DEUTSCHER AUSGEWANDERTEN, 1775). Medienhistorisch ist bemerkenswert, dass hier ein Rückschritt in die seit langem untergegangene Epoche mündlicher Kultur simuliert wird – mutmaßlich deshalb, weil sich der Hof von den umgebenden Schriftkulturen der Wissenschaft, der Politik etc. absetzen will. Im Vordergrund der französischen Theorie steht die conversation enjouee (‚spielerische Gesprächsführung ’), bei der alle Gesprächspartner die Möglichkeit finden sollten, sich gegenseitig zu gefallen. Bei den meisten Autoren ist die Konversation deutlich dem rhetorischen delectare und nicht dem prodesse zugeordnet – plaisanterie, ‚vergnügliche Unterhaltung‘, und divertissement, ‚Zerstreuung‘, sind die angestrebten Ziele und Funktionen. Gegenwind kommt aus dem stark wertenden Jansenismus, einer in Frankreich verbreiteten Bewegung der katholischen Kirche. Sich zu vergnügen oder zu zerstreuen bedeutet für den Jansenisten Pascal, sich von der Wahrheit zu entfernen und sich auf Scheinwahrheiten zu konzentrieren, die das Wesentliche vergessen lassen. Der Mensch unterhält sich, weil er die Wahrheit nicht aushält – mit diesem Zuschnitt diffamiert Pascal Unterhaltung in seinen seit 1670 veröffentlichten PENSÉES, einem der meistgelesenen theologisch-philosophischen Werke der europäischen Geistesgeschichte.25 War unterhalten in der Salonkultur mit dem Angenehmen konnotiert, so führte die theologische Kritik daran das Ernsthafte, Wichtige und Wesentliche als Gegenteil von Unterhaltung ins Feld. In diesem Sinn ergab sich eine entsprechende Bedeutungsverschiebung: Wenn es um Ernsthaftes geht,
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25 Pascal: Pensées. In: Œuvres complètes, S. 67–73. Vgl. Strosetzki: Die Norm und ihre Alter-
native in der Geselligkeitskultur des absolutistischen Frankreich. In: Adam (Hrsg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, S. 141–144.
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unterhalten wir uns nicht, sondern sprechen miteinander. So notiert Karl Leberecht Immermann: „Ich unterscheide nämlich, wie Sie wissen, ein Gespräch von einer Unterhaltung. In dem ersten spricht man, in der zweiten hält man nur Worte unter, um nicht in’s Schweigen zu verfallen.“26 Wurde die Diskussion um Unterhaltung und Ernst in Frankreich am Leitfaden des Unterhaltens als Gespräch geführt, so wird sie, als sie zeitversetzt nach Deutschland gelangt, im Blick auf die Literatur ausgetragen, genauer: auf den Roman. So heißt es 1817 in BROCKHAUS‘ CONVERSATIONS-LEXICON ODER ENCYCLOPÄDISCHES HANDWÖRTERBUCH FÜR GEBILDETE STÄNDE unter dem Eintrag „Roman“: Wir bemerken vor allen Dingen, daß wir den Roman durchaus dem Gebiete der Poesie vindiciren, Poesie aber keineswegs als eine Dienerin der Laune und der sogenannten Unterhaltung oder Zeitverkürzung angesehn wissen wollen, sofern ihr einen höhern Rang anweisend, sie als die zweite Hälfte des idealen Lebens betrachten, so daß sie (und in diesem Sinne ist Kunst nur eine Species dieses Gattungsworts) nach unsrer Ansicht mit der Wissenschaft schwesterlich vereinigt ist, beide aber nur in dieser Vereinigung das Ideale in seiner Vollendung darstellen.27
Die Dichotomisierung von Kunst bzw. Poesie auf der einen Seite und Unterhaltung auf der anderen Seite findet ihre Entsprechung in der Gegenübersetzung von ‚gutem‘ und ‚schlechtem‘ Roman. Zu letzterem heißt es: Wir halten hiernach jene ekelhafte Romanlektüre, die ohne mit Form und Inhalt es sonderlich genau zu nehmen, nur immer nach dem neusten greift, und keine andern Forderungen macht, als daß nur das Herz gekitzelt (gerührt, wie sie es nennen) […] für eine Art geistiger Unzucht und Wollust, und können unsern Abscheu gegen die sowohl, welche für diesen Zweck ihre Federn in Bewegung setzen, als gegen jene, die mit Begierde nach dieser dargebotenen Speise langen, nicht stark genug aussprechen.28
26 Immermann: Schriften, Bd. 2, S. 150. 27 (Art.) Roman. In: Brockhaus: Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörter-
buch für gebildete Stände, Bd. 8, S. 395.
28 Ebd., S. 396.
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Alljährlich zweymal wirft die große Buchhändlermeßflut (die kleineren monatlichen Fluten ungerechnet, womit die Journale angespült werden) aus dem großen Ocean schriftstellerischer Seichtigkeit und Plattheit die neuen Geburten in großen Ballen ans Land. Diese werden dann von dem großen Haufen der Lesewelt mit krankhaftem Heißhunger verschlungen, aber ohne ihnen die mindeste Nahrung zu gewähren; sogleich wieder vergessen, gehen sie in den Schmutz der Lesebibliotheken über, und mit der nächsten Messe fängt derselbe Kreislauf wieder an. Man lobt den jetzt allgemeiner verbreiteten Geschmack am Lesen, aber hilf Himmel! welch eine Leserey ist das! Sie verdammt sich selbst schon dadurch, daß sie so rastlos nach dem neuen greift, was doch kein wirklich neues ist.30
Wie beliebt die Unterhaltungslektüre beim Publikum ist, lässt sich auch daran ermessen, dass der Begriff unterhalten sich in etliche Varianten auffächert und somit in aller Munde ist. So belegt das GRIMMSCHE WÖRTERBUCH etliche Komposita wie unterhaltungsbedürftig und -süchtig, Unterhaltungshunger, -kitzel, -trieb, mit Blick auf Produktion und Produkte: Unterhaltungsschreiberei, -schriftsteller, -talent, -bibliothek, -blatt, -dichtung, -stoff, -stück, -waare, -zeitschrift.31 Im 20. Jh. gewinnt der vom gesprochenen Wort sowie vom Buchdruck geprägte Medienbegriff unterhalten eine neue Dimension, da
Unterhalten Konjunkturen
Tatsächlich kombinieren die zeitgenössischen Unterhaltungsromane Sentimentalität und Komik, Idyllik und Unglück; die Leserschaft, gegen die der BROCKHAUS ins Feld zieht, ist eindeutig weiblich konnotiert. Auch August Wilhelm Schlegel bedient die Semantik des Ekelhaften und der Völlerei, wenn er 1802 über schlechte, aber „beliebte“ Schriftsteller im Vergleich zu guten Autoren schreibt. Beide seien in Deutschland völlig getrennt; während man gute Schriftsteller zwar in Bibliotheken aufstelle, aber wenig lese, seien die beliebten Schriftsteller „Geschöpfe der Mode: zum Beweise, daß selbst diejenigen, welche ihre Zeit mit ihnen verderben, nichts haltbares daran zu finden wissen, werden sie immerfort von andern verdrängt, und dann rein vergessen.“29 Er bekundet „Ekel und Unmuth“ und fährt fort:
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29 Schlegel: Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der Deutschen Literatur,
S. 17 f.
30 Ebd., S. 19. 31 Vgl. Grimm, Bd. 11, Sp. 1610 f.
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er sich umstandslos auf auditive und audiovisuelle Medien übertragen lässt und in den Mittelpunkt von Radio-, Film-, Fernseh- und Videokultur rückt. Die Ambivalenz der Wertungsdimension bleibt dabei bestehen: Je nach Perspektive wird unterhalten (werden) negativ oder positiv verwendet.
Unterhalten Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Da unterhalten seit dem 17. Jh. außerordentlich mehrdeu-
tig verwendet wird, kann das Verb nicht ex negativo durch einen oder wenige eng umgrenzte Gegenbegriffe definiert werden. Allerdings lassen sich aus den skizzierten historischen Diskursen semantische Felder erschließen, die mit Dichotomisierungen arbeiten und unterhalten bestimmten Polen im Gegensatz zu anderen zuordnen. So verortet die französische Salonkultur unterhalten auf Seiten des rhetorischen delectare im Gegensatz zum prodesse. Unterhalten wird mit Geselligkeit, nicht Einsamkeit verknüpft. Der Begriff ist ferner lat. otium, ‚Muße‘, nicht aber negotium, ‚Beschäftigung, Tätigkeit, Staatsgeschäft‘ zugeordnet, er gehört zu lat. dissimulatio, ‚Verstellung‘, nicht aber zu veritas, ‚Wahrhaftigkeit‘. Er wird verbunden mit plaisir, ‚Vergnügen‘, nicht utilité, ‚Nützlichkeit‘, mit Zerstreuung, nicht Konzentration, mit vergnüglicher und nicht etwa religiöser, politischer, geschäftlicher und gerichtlicher Konversation, mit höfischer Lässigkeit (honnêteté) und nicht mit Pedantismus, mit Weiblichkeit und Zärtlichkeit und nicht mit Männlichkeit und Kraft: Die Trägerschicht von Unterhaltung sind adelige Frauen, und auch der honnête homme bzw. galant homme entspricht im Wesentlichen der Frau.32 Die aus England importierte Genieästhetik des 18. und 19. Jhs. lässt sich als Gegenbewegung zur Salonkultur verstehen. So erklärt es sich, dass hier das Genie, der Schöpfer echter Kunst, als Gegenpol zum honnête homme, dem Ideal des höfischen Unterhalters, zugeschnitten und mit gegenteiligen Attributen versehen wird: Das Genie ist männlich, kraftvoll und unverstellt – genauso wie sein Produkt, das Originalkunstwerk. Diese Polarisierungen überdauern z. T. bis weit ins 20. und 21. Jh. hinein, wenngleich die Trägerschicht von 32 Vgl. Strosetzki: Fachsprachliche Kommunikationsformen in der französischen Aufklärung.
In: Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand (Hrsg.): Fachsprachen, S. 2550–2560; Strosetzki: Die Norm und ihre Alternative in der Geselligkeitskultur des absolutistischen Frankreich. In: Adam (Hrsg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, S. 135–153.
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PERSPEKTIVEN Die westeuropäisch geprägte, printgestützte Wortverwendung von unterhalten ist bis in die Gegenwart gebräuchlich. Außerdem lassen sich Varianten und Übertragungen beobachten, z. B. auf Formate aus dem globalen Raum des Internets. In diesem Kontext muss erwähnt werden, dass die Bindung von unterhalten an Freizeitkultur(en) lediglich als Phase verstanden werden kann: Zu Beginn der Begriffsverwendung im Barock gab es noch keine Freizeit im modernen Sinn von privater, arbeitsfrei verbrachter Zeit, während seit dem Aufkommen von Massenmedien und Netzkultur die Dichotomie von Freizeit und Arbeitszeit aufweicht. Daher berührt Unterhaltung kein Randphänomen, sondern darf als substanzieller Bereich der Lebensorganisation betrachtet werden. Durch das Internet haben sich sowohl die Formen als auch die Distributionswege von Wörtern und Bildern vervielfältigt. Bemerkenswert ist, dass sich dabei eine Vervielfältigung von Kleinformen ergeben hat, die als Erben beliebter sprachlicher Kleinformen wie Schwänke, Witze und Pointen erscheinen: Die Netzkultur kennt wenige Dutzend Zeichen umfassende Kurzformen von Printkultur, sie kennt nur mehr sekundenlange Formate (audio)visueller Kultur und etliche Cross-overs. Diese verzichten mithin auf Eloquenz, Grammatik, Orthografie, Narration etc. Daher nimmt es nicht wunder, dass sie noch immer als Unterhaltung im ursprünglich printgestützten Sinn rubriziert werden. So notiert Wikipedia im Blick auf Memes, kurze Witzvideos, -bilder oder -texte, die auf Plattformen wie Facebook, Twitter oder Instagram gepostet werden, dass viele Memes „bloß der einfachen und schnellen Unterhaltung dienen“.33 Im Gegensatz zur Buch- und Fernsehkultur erscheint die Durchsatzgeschwindigkeit von Unterhaltungsprodukten wie Memes erhöht. Trotzdem kommen Memes hier als ebenso wertlose Konsumprodukte daher wie der Unterhaltungsroman um 1800. Dass Medienkonzerne dessen ungeachtet
Unterhalten Perspektiven
Unterhaltung auf alle Bevölkerungsteile ausgeweitet wird und auch bürgerliche Frauen sowie Männer, Jugendliche und Kinder umfasst.
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33 (Art.) Meme. In: wikipedia. Unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Meme_(Kulturph%C3%
A4nomen) [aufgerufen am 30.09.2020].
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die besten Geschäfte durch Unterhaltung machen und Memes sich ungebrochener Beliebtheit erfreuen, versteht sich beinahe von selbst. Die ohnehin recht unübersichtliche Begriffsverwendung hat sich auf ihrem über 300-jährigen Weg ins 21. Jh. nicht vereinfacht. Dies betrifft auch die subs tantivierte Form Unterhaltung. Im Medienbereich bedeutet dies zum einen Individual- und Netzkommunikation. Was massenwirksame Breitenkommunikation betrifft, so kann Unterhaltung bestimmte Medien meinen (laut Neil Postman z. B. das Fernsehen), es kann Streamingdienste, Sender, Programme und Rubriken bezeichnen, außerdem Genres (wie Krimis) oder Formate (wie Quizshows). Hybridbildungen aus dem Anglo-Amerikanischen wie Edutainment, Infotainment und Informercials ergänzen das Bild.
Unterhalten Forschung
FORSCHUNG Unterhalten wird in verschiedenen Disziplinen erforscht.34
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Dem zeitlichen Vorsprung von Literatur und Philologie entsprechend, wurde es bereits im 19. und frühen 20. Jh. zum literaturwissenschaftlichen Thema,35 hat jedoch bis heute in den Philologien keinen zentralen Stellenwert behaupten können. Seit den 1960er Jahren sind literaturgeschichtliche Arbeiten zu Rhetorik36, Trivialliteratur37 und Literatursoziologie38 entstanden. Unter dem Einfluss diskursanalytischen und feldtheoretischen Denkens39 erfuhr das Thema seit den 1990er Jahren eine Aufwertung, und in jüngerer Zeit stehen Varianten wie SPIELARTEN DES TRASH sowie POPULÄRE LEKTÜRE IM MEDIENWANDEL,
34 Im Folgenden werden vor allem philologische und medienorientierte Arbeiten berücksich-
tigt, zu anderen Disziplinen, z. B. der Psychologie, vgl. Hügel: Unterhaltung. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch Populäre Kultur, S. 77–80. 35 Vgl. Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, insbesondere der Deutschen. In: Ders.: Kleine Schriften; Thalmann: Der Trivialroman des 18. Jahrhunderts und der romantische Roman. 36 Z. B. Adam: Docere – delectare – movere. 37 Z. B. Foltin: Die minderwertige Prosaliteratur. In: DVjs 39 (1965), S. 228–323; Foltin: Zur Erforschung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur, insbesondere im Bereich des Romans. In: Burger (Hrsg.), Studien zur Trivialliteratur, S. 242–270; Kreuzer: Trivialliteratur als Forschungsproblem. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 41 (1967), 173–191. 38 Z. B. Schenda: Volk ohne Buch. 39 Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede.
Denn jene Sphäre gehorchte nie dem selbst erst gewordenen und späten Begriff reiner Kunst. Stets ragte sie als Zeugnis des Mißlingens von Kultur in diese hinein, machte es zu ihrem eigenen Willen, daß sie mißlinge […]. Die von der Kulturindustrie Überlisteten und nach ihren Waren Dürstenden befinden sich diesseits der Kunst: […] Sie drängen auf Entkunstung der Kunst.44
Im krassen Gegensatz zu Adorno und Horkheimer ist Walter Benjamin außerordentlich aufgeschlossen für die Produkte der „Vergnügungsindustrie“45 40 Nesselhauf/Schleich (Hrsg.): Banal, trivial, phänomenal; Martus/Spoerhase (Hrsg.): Gele-
Unterhalten Forschung
z. B. in der Netzkultur, zur Diskussion.40 Aus einer kulturwissenschaftlichen bzw. volkskundlichen Perspektive haben Hans-Otto Hügel und Kaspar Maase etliche Beiträge zu „Populärkultur“ vorgelegt.41 Einer breiten Öffentlichkeit wurden die medienästhetischen Positionen der Frankfurter Schule bekannt, insbesondere Theodor W. Adornos und Max Horkheimers DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG (1947). In dem Kapitel „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“ wird Unterhaltung wenig originell auf unkritischen Konsum, Wiederkehr des Immergleichen und Massentäuschung durch Großkapitalisten reduziert. Einleitend heißt es: „Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben. Die Wahrheit, daß sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen.“42 Entstanden während des Zweiten Weltkriegs im US-amerikanischen Exil, richtet sich das Buch gegen damals moderne Erscheinungsformen wie Jazz, Ton- und Trickfilm sowie das Fernsehen. „Das Fernsehen zielt auf eine Synthese von Radio und Film“, deren unbegrenzte Möglichkeiten die Verarmung der ästhetischen Materialien radikal zu steigern verspreche.43 Noch in seinem Spätwerk, der posthum erschienenen ÄSTHETISCHEN THEORIE (1970), wütet Adorno gegen „die niedere Kunst oder Unterhaltung“:
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sene Literatur.
41 Vgl. z. B. Hügel: Lob des Mainstreams; Maase: Grenzenloses Vergnügen; ders.: Populärkul-
turforschung: eine Einführung.
42 Adorno/Horkheimer: Dialetktik der Aufklärung, S. 129. 43 Ebd., S. 132. 44 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 32. 45 Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 967.
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und befürwortet deren Erforschung. So notiert er in seinem Essay DIENSTMÄDCHENROMANE DES VORIGEN JAHRHUNDERTS (1929), die Literaturgeschichte sollte, „statt sich nur immer für die Aussicht auf Gipfeln zu interessieren, die geologische Struktur des Buchgebirges erforschen“ – anstelle von Hohenkammliteratur will Benjamin die Bücher der „unteren Schichten“ in den städtischen Dienstbotenkammern und den dörflichen Bauernstuben berücksichtigt wissen.
Unterhalten Forschung
Noch tasten wir uns unbeholfen an diese unbeholfenen Werke heran. Es kommt uns seltsam vor, Bücher ernst nehmen zu wollen, die nie Bestandteil einer ‚Bibliothek‘ waren. Vergessen wir nicht, daß das Buch ursprünglich ein Gebrauchsgegenstand, ja ein Lebensmittel gewesen ist. Diese hier sind verschlungen worden. Studieren wir an ihnen die Nahrungsmittelchemie der Romane!46
Ganz im Sinn der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG, jedoch ohne diese zu zitieren, veröffentlicht der US-amerikanische Medienhistoriker Neil Postman 1985 sein berühmtes Buch AMUSING OURSELVES TO DEATH: PUBLIC DISCOURSE IN THE AGE OF SHOW BUSINESS (dt. WIR AMÜSIEREN UNS ZU TODE. URTEILSBILDUNG IM ZEITALTER DER UNTERHALTUNGSINDUSTRIE ). Hatten Adorno und Horkheimer konstatiert: „Die ganze Welt wird durch das Filter [sic!] der Kulturindustrie geleitet“,47 so schreibt Postman über die amerikanische Kultur, sie sei a culture in which all public discourse increasingly takes the form of entertainment. Our politics, religion, news, athletics, education and commerce have been transformed into congenial adjuncts of show business, largely without protest or even much popular notice. The result is we are a people on the verge of amusing ourselves to death.48
Postman wendet sich im Folgenden insbesondere gegen die Allmacht des Fernsehens. Auch in der bundesdeutschen Medien- und Kommunikationswissenschaft sind Arbeiten zu Unterhaltung entstanden, das Thema hat sich
46 Benjamin: Dienstmädchenromane des vorigen Jahrhunderts. In: Ders.: Medienästhetische
Schriften, S. 156 f.
47 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 132. 48 Postman: Amusing Ourselves to Death, S. 3.
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49 Vgl. den Band von Schmidt/Westerbarkey/Zurstiege (Hrsg.): a/effektive Kommunikation:
Unterhaltung und Werbung. Darin u.a. Lieb: Gemütserregungskunst. Der Grenzfall Unterhaltung in funktionalistischen Medientheorien, S. 25–52 sowie ebd. dies.: Siegfried J. Schmidt im Gespräch mit Claudia Lieb. Unterhaltung und/als Medienkommunikation, S. 133–143. 50 Vgl. Früh/Frey: Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde (Unterhaltungsforschung, Bd. 10). Vgl. auch Bd. 1 der Reihe von Wirth/Schramm/Gerlau: Unterhaltung durch Medien. Theorie und Messung. 51 Lieb: Entertainment. In: Poetics, S. 225. 52 Kittler: Rockmusik – ein Mißbrauch von Heeresgerät. In: Ders.: Short Cuts, S. 7–30, hier S. 16.
Unterhalten Forschung
jedoch nicht zu einem breit wahrgenommenen Forschungsgegenstand entwickelt.49 Zwar existiert die kommunikationswissenschaftliche Reihe UNTERHALTUNGSFORSCHUNG, betreut von Werner Früh u.a., seit dem Jahr 2006, doch umfasst sie lediglich zehn Bände, deren letzter aus dem Jahr 2014 stammt.50 – „The mass media are all about entertainment. But scientific research into the media is all about the news. In a nutshell, this is what critics have lamented since the beginnings of communication research.“51 Das mag daran liegen, dass sich die kulturwissenschaftlich geprägte Medienwissenschaft eines Friedrich Kittler oder Siegfried Zielinski in Abgrenzung von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule entwickelte und daher das einschlägig besetzte Unterhaltungsthema meist gemieden wurde. Überdies hat die Medienwissenschaft radikal neue Begriffsfindungen und -verwendungen etabliert, die das alte ästhetisch-marxistische Vokabular der Kritischen Theorie ersetzen sollten, z. B. durch eine militärtechnische Lexik. Dementsprechend geprägt ist Kittlers Perspektive auf Unterhaltungsmusik. So wird die Geburt des Radios bzw. des Unterhaltungsrundfunks auf die militärische Nutzung von Detektorgeräten und Röhrenapparaten im Ersten Weltkrieg zurückgeführt. „Die deutsche Telegraphentruppe“ zählte am 02. August 1914 „800 Offiziere und 25.000 Mann“, so Kittler, und diese „Funker in ihren Grabenstellungen wollten unterhalten sein. […] Radio als ‚Mißbrauch von Heeresgerät‘ konnte also beginnen.“52 Erscheinen die technischen Vorläufer des Radios ihm als „Waffengattung“, so stilisiert er den berühmten Beatles-Song YELLOW SUBMARINE nonchalant zur „Nachkriegslyrik“. „[D]a es zivile U-Boote einfach nicht gab, folgt Yellow Submarine mit all seinen Militärmarscheffekten und Soundortungstricks den Erinnerungen eines Royal-Navy-Matrosen. Der
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Song ist Nachkriegslyrik im Wortsinn.“53 Kittler selbst folgt einer Lektüreerinnerung, nämlich an Oswald Spenglers DER UNTERGANG DES ABENDLANDES. Dort heißt es, jedoch mit Blick auf die Hochkultur: Zu Beginn einer jeden Zivilisation übernehme die „Technik des Krieges […] die Führung“. Daraus folgt, dass die Kriegstechnik „alle mechanischen Möglichkeiten rücksichtslos in ihren Dienst stellt und ganz neue Gebiete durch das militärische Bedürfnis überhaupt erst erschließt […]. Eine starke Tradition zieht von allen Seiten die Talente an“, so Spengler weiter. „Das beweisen die Malerschulen in Italien und Holland nicht weniger wie [sic!] das preußische Heer“.54 Die systemtheoretisch geprägte Kommunikationswissenschaft wiederum verwendet eine andere Optik und ein radikal anderes Vokabular als die Kritische Theorie auf der einen Seite und die kulturwissenschaftliche Medienwissenschaft auf der anderen Seite. So überrascht es geradezu, dass Niklas Luhmann Unterhaltung in seinem viel beachteten Ausflug in die Welt der Massenmedien als „Trivialkunst“ diffamiert. Deren „Zuordnung zu Kunst oder Unterhaltung“ sei uneindeutig, so Luhmann weiter, und bleibe der Einstellung des Beobachters überlassen:55 Unterhaltung ist, was unterhält. Zu guter Letzt muss Joachim Westerbarkeys – vergeblicher – Versuch angeführt werden, das Wort Unterhaltung auf den Schrotthaufen der Geschichte zu verfrachten. Unterhaltung als Begriff sei undefinierbar und wissenschaftlich antiquiert, so Westerbarkey: „Legen wir sie also getrost ad acta“.56
53 Ebd., S. 25. Vgl. auch Kittler: Der Gott der Ohren. In: Ders.: Draculas Vermächtnis, S. 130– 148. 54 Spengler: Der Untergang des Abendlandes, S. 1086 u. 1115. Für diesen Hinweis danke ich Erich Hörl. 55 Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 123 f. 56 Westerbarkey: Von allerley Kurzweyl oder vom wissenschaftlichen Umgang mit einem antiquierten Begriff. In: Schmidt/Westerbarkey/Zurstiege (Hrsg.): a/effektive Kommunikation: Unterhaltung und Werbung, S. 22.
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673
VORLESEN HARUN MAYE
ANEKDOTE Eine wahre Meisterschaft im Vorlesen wurde immer wieder Ludwig
Vorlesen Anekdote
Tieck zugeschrieben. Ein Beleg dafür sind die vielen historischen Zeugnisse über Tiecks legendäre Vorlesemarathons in Dresden. Diese Vortragsabende, die zwischen 1820 und 1841 mehrmals in der Woche in der Kreuzgasse 521 am Altmarkt in Dresden stattfanden, hatten Kultstatus und dauerten in der Regel drei bis vier Stunden, in denen der Hausherr etliche Besucherinnen und Besucher beeindruckt hat.1 Die Schriftstellerin Charlotte von Glümer gibt einen guten Einblick in den theatralen Ablauf eines solchen Abends:
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Sein Körper ist durch Krankheit, ich glaube durch Gicht, krumm gezogen. Dennoch lebt er sehr gesellig, ich möchte sagen wie ein kleiner Fürst, inmitten eines Kreises von Männern und Frauen, Gelehrten, Künstlern, Schriftstellern, Einheimischen und Fremden, die sich beeifern, ihm ihre Verehrung zu bezeugen. – Man kommt in einem großen, geschmackvoll eingerichteten, hell erleuchteten Zimmer zusammen. Die Gräfin Finckenstein, die mit der Tieckschen Familie zusammen lebt, bereitet den Tee, den die Töchter des Hauses herumreichen; Literatur, Theater und Musik bilden den Hauptinhalt der Gespräche, die sogleich verstummen, wenn der Tee getrunken ist, denn nun eilen die Damen, dem Hausherrn seinen Sitz zu bereiten. Sein Sessel wird in die Mitte des Zimmers geschoben; ein Tischchen davor gerückt, auf dem vier Wachskerzen um ein Lesepult stehen; Tieck holt ein Buch, nimmt seinen Platz ein; die Zuhörer reihen sich um ihn her, und er liest vor. – Er tut das nicht nur mit herrlichem, klangvollem Organ und wundervoller, jede der auftretenden Personen charakterisierender Deklamation, sondern auch mit einer Mimik, die seine Vorlesungen gewissermaßen zu einer Schule der Schauspielkunst machen. Meist trägt er Shakespearesche Dramen vor; zuweilen auch Calderon, Lope de Vega und, wenn er darum gebeten wird, eigene Dichtungen wie den Gestiefelten Kater oder ein Bruchstück aus Fortunat. Nach dem Lesen unterhält man sich noch eine Weile,
1 Vgl. Günzel: „Das beste Theater in Deutschland“.
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An der Beschreibung sind vor allem zwei Merkmale auffällig, die in fast jeder Erinnerung an die Leseabende erwähnt werden: erstens der strenge, ritualisierte Ablauf, der während der Lesung keine echte Interaktion unter den Anwesenden zulässt; zweitens der Kontrast zwischen Tiecks ‚krummem‘ Körper und dem ‚wohlklingenden‘ Körper seiner Stimme. Beide Merkmale hängen zusammen und sind Teil einer einheitlichen Inszenierung. Ob es nun ursprünglich „Tieck’s eigenthümlicher Körperbau“ selbst gewesen ist, der ihn dazu veranlasst hat, die „Virtuosität“ seiner Vortragskunst „soweit als möglich auszubilden“, wie Alexander von Sternberg vermutet,3 oder ob der Kontrast zwischen Stimme und Körper Tiecks Poetik des Vortrags bloß effektvoll in Szene setzt, kann nicht entschieden werden. Wichtig ist nur, dass vielen Besuchern der Leseabende dieser Gegensatz überdeutlich ins Auge gesprungen ist. Tiecks Vorlesungen sind daher fast unkörperlich und kaum noch von Gestik begleitet, er betont dagegen eine differenzierte Stimmführung.4 Mit anderen Worten: Tieck vernachlässigte programmatisch die rhetorische actio zugunsten der pronuntiatio und initiierte damit einen Wandel, der für die moderne Vorlesung prägend werden sollte. Nicht nur ist in der Moderne der Unterschied zwischen Deklamation, Rezitation und Vorlesung fast vollkommen verschwunden, sondern auch die Unterscheidung zwischen den die Lesung begleitenden Gesten und Gebärden (actio) und der rhetorischen Modulation der Stimme (pronuntiatio) ist von einem sich als natürlich gebenden Vorlesen weitgehend kassiert worden.5 ETYMOLOGIE Vorlesen ist eine Lektürepraktik und geht etymologisch auf
das Lesen als Lehnwort aus dem Griech. (legein) und Lat. (legere) zurück. Lesen bedeutet wörtlich das Sammeln oder Auflesen und wurde erst in einem erweiterten Sinne mit dem Einsammeln von Buchstaben bzw. dem Entziffern von Zeichen verbunden. In den germ. Dialekten des Mittelalters sind beide 2 3 4 5
Vorlesen Etymologie
während Wein und Backwerk herumgereicht wird, und gegen zehn Uhr geht die Gesellschaft, die sich schon um sechs Uhr versammelt hat, auseinander.2
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Kasack/Mohrhenn (Hrsg.): Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 251 f. Sternberg: Tieck’s Vorlese-Abende in Dresden, S. 117. Vgl. Boatin: Der Vorleser, S. 184. Vgl. Häntzschel: Deklamation, S. 333.
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Vorlesen Etymologie
Bedeutungen noch gleichzeitig präsent (‚Sammeln‘ bzw. ‚Auflesen‘ und ‚im Buche lesen‘), während in der Neuzeit die Rezeption von schriftlichen Zeichen dominant wird.6 Man kann also sowohl Fallobst, Körner oder Steine auflesen als auch in Träumen, den Sternen, dem Flug der Vögel oder eben die Schrift lesen. Auch das Wiedergeben von Schrift durch Sprechen, das Vorlesen, gehört zu diesem erweiterten Bedeutungsumfang des Lesens, denn die Grundbedeutung von legere ist das ‚hörbare Lesen‘, d.h., dass „die lautliche Realisation des Gelesenen im Begriff eingeschlossen ist“.7 Dem entspricht auch die in der Antike weitverbreitete Rede von den ‚sprechenden Buchseiten‘ und den ‚klingenden Wörtern‘.8 Diese Bedeutung des Lesens als lautes Vorlesen ist in dem Wort „ablesen“ noch deutlich und bedeutet dem Sinn nach „mündlich auseinander setzen, erklären, ausgehend von dem vortrage aus einem buche oder eines aus einem buche gelernten gegenstandes“.9 Die Präposition „vor“ kann sowohl ein räumliches (‚vorn‘ bzw. ‚nach vorn‘) als auch ein zeitliches (‚früher‘) Verhältnis bezeichnen und findet sich in dieser Bedeutung auch in mit „vor“ trennbar zusammengesetzten Verben (wie vorlesen) und Substantiven (Vorlesung). Als „Lektion“ (lectio) kennt das Vorlesen bzw. der Vorleser (Lektor) auch eine eigene Begrifflichkeit, die allerdings den Sonderfall einer Vorlesung im Unterricht oder während einer Messe bezeichnet. Das dt. Wort „Lektüre“ (von franz. lecture) geht ebenfalls auf diese Bedeutung von lectura bzw. lectio zurück und hält ähnlich wie die „Lesung“ die Doppelbedeutung von ‚Sammeln‘ bzw. ‚Sammlung‘ und ‚Lesen‘ bzw. ‚Lesung‘ von Worten oder Schrift präsent. Die Lesung kennt als Begriff drei spezielle Ausprägungen: Als technischer Ausdruck bezieht sie sich auf die erste und zweite Lesung eines Gesetzentwurfs im Parlament, sodann auf den Vortrag oder die Vorlesung eines Akademikers und schließlich auf den kunstvollen Vortrag von literarischen Werken im Sinne einer Rezitation.10 Das Vorlesen als Praktik muss von dieser verengten Bedeutung unterschieden werden, insofern es ganz allgemein ein
6 7 8 9 10
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Vgl. Lexer: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, S. 125. Busch: Lautes und leises Lesen in der Antike, S. 12. Siehe die Belege bei Balogh: „Voces Paginarum“. (Art.) Lesen. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Vgl. (Art.) Lesung. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm.
lautes Lesen „ohne bezeichnung des gegenstandes und des hörers“ bezeichnet.11 So kann das Vorlesen zwar vom Lesen als eine Sonderform unterschieden werden, aber die vielen unterschiedlichen Praktiken (Deklamieren, Rezitieren, rhythmischer Vortrag u.a.), die diese Kulturtechnik kennzeichnen, werden dadurch nicht erfasst und bleiben etymologisch unsichtbar.
engeren Sinne, die Vermittlung von Politik und Kultur geschah weitgehend mündlich. Schriftrollen waren zunächst nicht zum Lesen bestimmt, sondern dienten als Gedächtnisstützen für den freien Vortrag. Literatur und öffentliche Reden waren durch Mündlichkeit und nicht durch Schriftlichkeit geprägt, sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption.12 Erst in dem langen Zeitraum zwischen Hellenismus und Spätantike entwickelte sich eine echte Lesekultur, die allerdings eine Kultur des lauten Lesens war. Damit ist nicht gemeint, dass die gebildete Oberschicht nicht leise lesen konnte,13 sondern dass die laute Lektüre die dominante Form des Lesens war, zumal in einer Versammlungsöffentlichkeit. Texte wurden nicht nur mit den Augen, sondern in Gemeinschaft gelesen, begleitet von der laut vortragenden Stimme eines Vorlesers.14 Wer allein las, tat dies sehr wahrscheinlich mit halblauter Stimme, murmelnd oder ließ sich von einem Sklaven vorlesen.15 Neben etymologischen und semantischen Argumenten lässt sich dafür vor allem eine medientechnische Ursache anführen: Latein und Griechisch werden bis in die Spätantike in einer phonetischen Alphabetschrift verfasst, die ohne Spatien zwischen den Worten, ohne regelmäßige Interpunktion, ohne die Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung und ohne echte Absätze auskommt. Diese scriptio continua erzeugt wahre Bandwurmsätze, die nur schwer und vor allem langsam zu entziffern sind. Die auf Buchrollen fixierten Texte waren offenbar nicht
11 (Art.) Vorlesen. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 12 Siehe dazu grundlegend Goody/Watt: Konsequenzen der Literalität. 13 In der Antike lassen sich Belege sowohl für lautes als auch für leises Lesen finden, die Erwäh-
Vorlesen Kontexte
KONTEXTE In der frühen griechischen Antike gab es keine Lesekultur im
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nungen des leisen Lesens sind aber viel seltener und zudem interpretationsbedürftig, vgl. Knox: Silent Reading in Antiquity; Gavrilov: Techniques of Reading in Classical Antiquity. 14 Vgl. Vogt-Spira: Vox und Littera. 15 Vgl. Parker: Books and Reading Latin Poetry.
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Vorlesen Konjunkturen
dafür konzipiert, leise gelesen zu werden, sondern dienten wie eine Partitur als Vorlage für rhetorisch und grammatisch geschulte Leser, die gut vorlesen konnten.16 Erst im Zuhören gliederte sich die Rede in sinnvolle Sätze, denen man in einer durch den Vortrag vorgegebenen Geschwindigkeit folgen konnte. Das gilt erst recht für wenig geübte Leserinnen und Leser, die nur eine Elementarschule besucht hatten und ohne Zuhilfenahme der eigenen Stimme kaum auskamen. Daher war das halblaute oder murmelnde Lesen in der gesamten Antike und auch noch im Mittelalter weit verbreitet.17 Auch in der Neuzeit und Moderne spielt das laute Lesen eine bedeutende Rolle. Damit ist nicht nur die bis heute weitverbreitete Funktion angesprochen, dass Kleinkindern durch das Vorlesen ein Impuls für deren sprachliche Entwicklung gegeben oder Analphabeten ein Zugang zur Schriftkultur ermöglicht wird.18 Denn mit zunehmender Lesefähigkeit und Verbreitung des leisen Lesens in allen Gesellschaftsschichten ändern sich auch die Kontexte, in denen lautes Lesen praktiziert und produktiv wird. Vorleserinnen und Vorleser trugen nicht nur Nachrichten und Berichte aus den Zeitungen vor, sondern es wurden in bürgerlichen Kreisen auch belletristische, moralische oder religiöse Schriften gemeinsam gelesen. Je mehr der Vortrag der Texte nicht mehr bloß dem Verständnis des Gelesenen dient, desto mehr wird es zu einer geselligen Tätigkeit bei verschiedenen Anlässen und Zwecken.19 KONJUNKTUREN Ein besonders interessantes Beispiel für diese Geselligkeits-
kultur ist der signifikante Anstieg von literarischen Lesungen, der vor allem auf die kulturelle Ausstrahlung der Sprach- und Lesegesellschaften im 17. und 18. Jh. zurückzuführen ist. In diesen Gesellschaften wurde nicht nur die leise Lektüre, sondern auch der laute Vortrag von Literatur aus unterschiedlichen Motiven besonders gepflegt und propagiert: aus Interesse an Aufklärung und
16 Das gilt selbst noch für das byzantinische Mittelalter, siehe dazu die kenntnis- und material-
reiche Monografie von Hunger: Schreiben und Lesen in Byzanz, S. 125–129.
17 Vgl. Busch: Lautes und leises Lesen in der Antike. 18 Siehe etwa Wieler: Vorlesen in der Familie. 19 Vgl. Chartier: Muße und Geselligkeit; Welke: Gemeinsame Lektüre und frühe Formen von
Gruppenbildungen im 17. und 18. Jahrhundert.
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Unterhaltung, zur Verbesserung des sprachlichen Ausdrucks, aus Kulturpatriotismus und nicht zuletzt in wirkungsästhetischer Absicht. Vor allem Friedrich Gottlieb Klopstock, der die Aufführungspraxis und den Begriff der deutschen Literatur im 18. Jh. maßgeblich erneuert hat, nimmt hier eine zentrale Stellung ein. Als Mitglied der Jenaer Sprachgesellschaft und Begründer einer eigenen Lesegesellschaft in Hamburg hat er sich besonders nachdrücklich für das laute Lesen engagiert.20 Für Klopstock war nicht die leise Lektüre im „einsamen Winkel“, sondern das laute Vorlesen die ideale Rezeptionssituation von Literatur:
Klopstocks Engagement und Wirkungspoetik führte zu „einem Anstieg an Dichter- und Autorenlesungen und zu einer wahren Welle der Begeisterung dafür“.22 Nicht nur Klopstock, sondern nach ihm auch Goethe, Herder und die Romantiker betonen die besondere Qualität des lauten Lesens für das Verständnis von Dichtung.23 Dessen Funktion besteht in der Aufhebung des scheinbaren Mangels, den die Dichtung in der Schrift erleidet. Wenn Lautung, Rhythmus und andere Mittel der sprachlichen Gestaltung nicht mehr nur als bloße Transportmittel eines immer schon vorausgesetzten Sinngehalts angesehen werden, sondern dieser Sinngehalt in der Darstellung selbst zu finden sein soll, dann kann dessen Vermittlung nicht ohne Verlust im Medium der Schrift dargestellt werden.
20 Vgl. Hurlebusch: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 69–77. 21 So lautet ein Auszug aus der Satzung der „Klopstock-Büsch’schen Lesegesellschaft“, die
Vorlesen Konjunkturen
Man kennt die Werke der Dichter, und selbst einige Stücke im prosaischen nicht genug, wenn man nicht weiß, dass sie durch Hülfe der Vorlesung am richtigsten verstanden, und am lebhaftesten empfunden werden. Dieses ist so wahr, dass die Vorlesung, wenn nicht das einzige, doch das kürzeste Mittel ist, Schriften, die einige Schwierigkeit haben, den Ungeübten verständlich zu machen. Man entbehrt daher sehr viel, wenn man sich in einen einsamen Winkel setzt, und den Schall sieht.21
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Klopstock einem Brief an Lavater vom 01.05.1771 als Anhang hinzugefügt hat, vgl. Klopstock: Briefe 1767–1772, S. 274. 22 Flaschka: Vom Vorlesen und seiner Geschichte, S. 282. 23 Vgl. Göttert: Geschichte der Stimme, S. 381–390.
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Vorlesen Konjunkturen
Das Vorlesen als Deklamieren, Rezitieren oder Vortragskunst setzt die frühzeitliche Oralität nicht einfach ungebrochen fort, sondern ist ganz im Gegenteil überhaupt nur unter den Bedingungen einer Ausdifferenzierung von Schrift möglich geworden. Es handelt sich um ein typisches Phänomen „sekundärer Oralität“, denn erst infolge der Umstellung literarischer Kommunikation auf Schrift und Druck entsteht eine eigenständige Funktion des Vorlesens, die als Reaktion auf den dominanten Einfluss von Schriftkommunikation begriffen werden muss.24 Erst durch die Autonomie von religiösen und höfischen Kontexten sowie infolge einer damit einhergehenden Veränderung der Lesekultur kann sich das Vorlesen als eine Kulturtechnik etablieren, die eine absichtsvolle Abweichung von der stillen Lektüre literarischer und anderer Texte markiert. Auch unter der Vorherrschaft des leisen Lesens wird also weiterhin laut gelesen, aber was laut vorgelesen wird, bekommt eine völlig neue Bedeutung insofern es eben nicht leise gelesen wird.25 Dieses neue Vorlesen, so könnte man die poetologische und hermeneutische Programmatik zuspitzen, fügt dem gedruckten Text scheinbar nichts Äußeres hinzu, sondern bringt sein Innerstes erst eigentlich zur Darstellung.26 Dabei werden die toten Buchstaben gegen das lebendige Wort ausgespielt. Diese einflussreiche Unterscheidung, die auf den Apostel Paulus zurückgeht (2 Kor 3,6) und in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. besonders einflussreich war, richtet sich sowohl gegen den Verlust von Mündlichkeit als auch gegen das Erstarren der Kultur in gesellschaftlichen und schriftsprachlichen Konventionen. Dabei ist der mündliche Vortrag nicht einfach das Gegenteil der Schrift, sondern die Stimme soll die toten Buchstaben, die den ursprünglichen Sinn gleichsam ‚eingefroren‘ enthalten, wieder verflüssigen.27 Vor diesem Hintergrund der Geschichte der lauten Lesung deutscher Dichtung seit Klopstock lässt sich kaum übersehen, dass das gesellige Vorlesen um 24 Das trifft vor allem auf Lesungen im Kontext akustischer und audiovisueller Medien zu, die
laut Walter J. Ong die eigentliche Epoche „sekundärer Oralität“ begründen, einer Oralität des Telefons, des Radios und des Fernsehens, die es allerdings ohne eine vorangehende Epoche der Schrift und des Drucks nicht geben würde. Siehe dazu Ong: Oralität und Literalität, S. 10. 25 Vgl. Göttert: Geschichte der Stimme, S. 14. 26 Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 341. 27 Vgl. Göttert: Wider den toten Buchstaben, S. 97; Danneck: Lebendige Rede, tote Buchstaben und die Normierung des Sprechens im Schrifttum zur Deklamation um 1800.
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28 Vgl. Herrmann: Für eine wahrhaft deutsche Kunst und Rede. 29 Klopstock: Messias, S. 197 (Erster Gesang, Verse 21–23). 30 Siehe dazu Christians: Der Traum vom Epos. 31 Vgl. dazu Meyer-Kalkus: Goethe als Vorleser, Sprecherzieher und Theoretiker der Vortrags-
Vorlesen Konjunkturen
1800 nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine politische Praxis war.28 In Klopstocks Versepos DER MESSIAS, EIN HELDENGEDICHT (1749), das von dem Leben, Tod und der Wiederauferstehung Jesus Christus handelt, werden die Zuhörenden und auch die Lesenden als „ihr wenigen Edlen, teure, herzliche Freunde“ adressiert, die gemeinsam mit dem Sänger und Erzähler des Heldengedichts „den ewigen Sohn durch ein göttliches Leben“ singend begleiten sollen.29 Dieses Modell einer fiktiven Sängergemeinde zwischen dem Erzähler und seinen Leserinnen und Lesern, deren Gemeinschaftsbildung als eine Art Gottesdienst im Namen des Messias vorgestellt wird, hat einen eindeutig theologisch-politischen Charakter und ist seit der zweiten Hälfte des 18. Jhs. auch in vielen ähnlich strukturierten Vorleseszenarien und Leseszenen präsent.30 Klopstocks Vorlesepoetik wollte eine poetisch-politische Gemeinschaft im gemeinsamen Erleben von Literatur stiften, die sich über gesellschaftliche Standes- und politische Landesgrenzen hinwegsetzt. Unter den Bedingungen einer leisen Lesekultur sollte gerade das laute Lesen disziplinierend und gemeinschaftsstiftend wirksam sein. Das lässt sich prototypisch auch an den Lesungen und den Lesepoetiken von Johann Wolfgang Goethe und Ludwig Tieck beobachten, die nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein bildungspolitisches Programm verfolgen. Das Vorlesen sollte als eine gleichberechtigte Kunstform und Kulturtechnik neben der Deklamation auf einer Theaterbühne etabliert werden.31 Ein berühmtes Diktum Goethes stellt das neue Rezeptionsideal vor: „Der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen, er läse hinter einem Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen im allgemeinen zu hören glaubte.“32 Der Vorleser soll zu einem Medium der Dichtung werden, d.h., er muss so lesen, dass seine Physiognomie, Gestik und Mimik unsichtbar werden, als lese er hinter einem Vorhang, damit seine Stimme allein die Ideen und das Klangerlebnis
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kunst.
32 Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung, S. 251.
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Vorlesen Konjunkturen
der Dichtung evoziert. Als Intendant des Weimarer Hoftheaters von 1791 bis 1817 hatte Goethe immer wieder versucht, die Deklamation auf einer Theaterbühne vom Vorlesen und Rezitieren abzugrenzen. Auf der Bühne soll der Schauspieler sich ganz in eine andere Figur verwandeln, in der Rezitation und beim häuslichen Vorlesen geht es dagegen um den ruhigeren Vortrag eines literarischen Textes, von dessen Handlung und Emotionen die Vortragenden gerade nicht mit- und fortgerissen werden sollen. Ein spärlicher Einsatz von Mimik und Tonfärbung, für den vor allem Tieck berühmt war, ist dabei zwar erlaubt, jedoch ausdrücklich keine „leidenschaftliche Tonerhebung“, denn die Rezitation und erst recht das Vorlesen sollen in Ausdruck, Betonung und Empfindung ganz „den Ideen des Dichters“ folgen, nicht aber die Persönlichkeit des Vorlesenden hervortreten lassen.33 Erst in der Deklamation und im rhythmischen Vortrag ist nach Goethes REGELN FÜR SCHAUSPIELER (1803) der Einsatz pathetischer Ausdrucksformen erlaubt, ja sogar empfohlen. Hier haben die Vortragenden die Freiheit, eigene Unterscheidungen und Interpretationen am Text vorzunehmen, da sie ihren und den vorgestellten Charakter nicht mehr streng trennen müssen, sondern die dargestellte Rolle und deren Stimmungen im Spiel präsent machen sollen. Ähnliche Bestimmungen finden sich dann auch kurze Zeit später in den Deklamationshandbüchern der romantischen Epoche, z.B. bei Heinrich August Kerndörffer, wo es heißt, dass der Vortrag von Dichtung eine eigene Gattung des Sprechens darzustellen habe, die „eine zu lebhafte personifizierende Charakteristik und ein wirkliches Versetzen in die Individualität jener Personen“, wie im Schauspiel üblich, vermeiden solle.34 Gebundene Sprache sei daher auf der Bühne ganz anders vorzutragen als im Konversationsraum eines Salons. Tieck hat dieses Rezeptionsideal in der Praxis seiner Lesungen gezielt umgesetzt. Seine halböffentlichen Dresdner Lesungen vor einem gemischten Publikum, das sich sowohl aus regelmäßigen Gästen als auch aus in- und ausländischen Besucherinnen und Besuchern zusammensetzte, dienten der Rezeptionssteuerung und Geschmacksprägung eines zunehmend anonymer werdenden Publikums. Das erklärte Ziel war die Prägung einer Gemeinschaft
33 Goethe: Regeln für Schauspieler, S. 254. 34 Kerndörffer: Handbuch der Declamation, S. 114.
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der Hörenden durch einen von Tieck bestimmten Kanon, der nicht zuletzt auch seine eigenen Werke umfasste. Dazu diente sowohl die Entschleunigung des Rezeptionsvorgangs durch das laute Vorlesen ausgesuchter Dramen und Erzählungen als auch die Entscheidung, fast ausschließlich ganze Werke anstelle von Auszügen (‚schöne Stellen‘) wiederholt vorzutragen.35 Zum einen hatte Tieck Lieblingsschriftsteller, die er immer wieder vortrug (Calderon, Goethe, Lope de Vega, Shakespeare, Tieck), zum anderen hatten seine Leseabende auch strukturell den Charakter von Wiederholungslektüren, da sie wöchentlich zu einer festen Uhrzeit an einem festen Ort stattfanden und dabei einem ritualisierten Ablauf folgten, der nur selten geändert wurde. Diese Programmatik und Tiecks Vorlesekunst haben Epoche gemacht und prägen bis heute die ästhetischen und hermeneutischen Erwartungshaltungen, die wir mit dem Vorlesen von Literatur verbinden.
sind durch die Gegenbegriffe ‚laut‘ und ‚leise‘ bestimmt. Entgegen der weit verbreiteten Annahme vom „Ende des lauten Lesens“ in der Neuzeit,36 muss man davon ausgehen, dass die Praktiken der lauten und der leisen Lektüre relational aufeinander bezogen sind. Beide Varianten bleiben grundsätzlich immer nebeneinander bestehen, sind aber zu unterschiedlichen Zeiten und Orten auch unterschiedlich in Gebrauch und bewertet worden.37 So wird die laute Lektüre nicht einfach durch die leise Lektüre abgelöst, sondern die zunehmende Verbreitung des leisen Lesens weist dem lauten Lesen eine neue Systemstelle in der kulturellen Kommunikation zu. Das lässt sich an der vielleicht berühmtesten Leseszene der Geschichte leicht demonstrieren: Augustinus berichtet in den BEKENNTNISSEN (397–401) von den Lektüregewohnheiten seines Lehrers Ambrosius, dem Bischof von Mailand, der nicht nur als ein großer Redner und Gelehrter bekannt war, sondern auch als ein außergewöhnlicher Leser:
Vorlesen Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Die Theorie und vor allem die Geschichte des Vorlesens
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35 Vgl. dazu Maye: Der König der Romantik. 36 Vgl. Schön: Das Ende des lauten Lesens. 37 Vgl. Bickenbach: Von lauter und stiller Lektüre in Antike und Mittelalter.
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Vorlesen Gegenbegriffe
Wenn er aber las, glitten seine Augen über die Seiten, und sein Herz suchte den Sinn zu erkunden, doch Stimme und Zunge blieben stumm. Oft, wenn wir anwesend waren – der Zutritt war nämlich niemandem verwehrt, auch brauchte niemand seinen Besuch anzukündigen –, sahen wir ihn so stillschweigend lesen, niemals anders als so, und wir selbst saßen da, in fortdauerndes Schweigen versunken […], gingen dann wieder und vermuteten, dass er in der ohnehin knappen Zeit, die ihm, vom Stress durch Anliegen anderer frei, blieb und die er sich zur eigenen geistigen Erneuerung nahm, nicht abgelenkt werden wolle.38
Diese außergewöhnliche Beschreibung einer leisen Lektüre, die in der antiken Literatur auch sonst kaum Erwähnung findet, lässt darauf schließen, dass stilles Lesen damals sehr selten war, da man üblicherweise auch in der Einsamkeit laut las. Augustinus findet es allerdings nicht erstaunlich, dass Ambrosius diese Lektürepraktik überhaupt beherrscht, sondern dass er ‚niemals anders‘ las. Über die Beweggründe des Ambrosius kann auch Augustinus nur Vermutungen anstellen: Vielleicht wollte er sich nicht durch Fragen seiner Zuhörer vom Text ablenken lassen, vielleicht war er im Lesen so trainiert, dass seine Augen den Sinn der Worte schneller erfassen konnten als seine Stimme, die bei ihm zudem sehr leicht in Heiserkeit überging und daher geschont werden musste.39 Das sind alles mehr oder weniger plausible Erläuterungen. In dem Hinweis, dass Ambrosius mit seinen Augen die Seiten überflog und er deren Bedeutung mit dem Herzen aufnahm, deutet sich aber noch eine andere Erklärung an. Offenbar las Ambrosius nicht nur Schriftrollen, sondern auch Kodizes, die eine leise Lektüre durch das strukturiertere Schriftbild deutlich erleichtert haben. Zudem nimmt er die Bedeutung der Worte in seinem Herzen auf, d.h., er achtet nicht so sehr auf die äußere Lautgestalt, sondern hört gleichsam mit einem inneren Ohr. Stille und der stillgestellte Körper des Lesenden, der in meditativer Versenkung den Text auslegt und studiert, werden hier zur privilegierten Form der Erkenntnis Gottes. Wer laut vorliest, beschäftigt sich dagegen vor allem mit Äußerlichkeiten, mit dem Klang und der Einkleidung der Worte, die vom Gedanken ablenken. Wer aber deren Bedeutung erkennen will, muss geistig verstehen lernen, was
38 Augustinus: Confessiones, S. 251–253 (Sechstes Buch, III.3). 39 Vgl. ebd., S. 253.
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Ambrosius offenbar durch das Studium und die Verinnerlichung der Worte in einer leisen, meditativen Lektüre betrieben hat.40 Diese Unterscheidung gilt bis heute: Das leise, innerliche Lesen fördert einerseits Empathie und Identifikation, andererseits dient es dem Studium und der Konzentration auf die Gedanken. Das laute, äußerliche Vorlesen befördert dagegen nicht nur Debatten, Kommentare und Kritik, sondern auch den Genuss der Lautgestalt, des Rhythmus und der Performanz des Gelesenen.
akustischen Speichermedien, die verhindern, dass Stimmen und Worte als Klänge in der Zeit einfach verschwinden. Bereits 1877 war durch Edisons Phonographen prinzipiell alles speicherbar geworden, „was Kehlköpfe vor jeder Zeichenordnung und allen Wortbedeutungen an Geräusch auswerfen“.41 Seitdem wurden Lesungen auf Wachswalzen aufgenommen, später auf Sprechschallplatten, Audiokassetten und Compact Discs.42 Durch die neue Schallgestalt, die das laute Lesen durch akustische Speichermedien annimmt, kommt es zu einer unheimlichen Entkörperung und Ermächtigung der Stimme.43 Die Stellung des Körpers beim Vorlesen wandelt sich zu einer Leerstelle in der modernen Lesung, die durch den Klangkörper und das Sounddesign akustischer Medien gefüllt wird. Die Aufmerksamkeit verlagert sich vom Ausdruck des Körpers und des Gesichts auf die Physiognomie der Stimme, deren Nuancen durch eine verbesserte Raumakustik und technische Verstärkung deutlicher hörbar werden. Die medientechnische Installation hat direkte Auswirkungen auf die Haltung der Sprechenden, den Klang der Stimme und die Weise, wie gesprochen wird. Vor allem die Entwicklung einer spezifischen Radio- oder Lautsprecherstimme wird dominiert durch die Herrschaft des Mikrofons, dessen verstärkende Effekte eine Physiognomie der Stimme allererst möglich machen, da nicht nur das Gesagte, sondern dessen Sound den Hörerinnen und
40 Zu dieser Deutung siehe Manguel: Eine Geschichte des Lesens, S. 55–69; Bickenbach:
Vorlesen Perspektiven
PERSPEKTIVEN Die Gegenwart des Vorlesens beginnt bereits um 1900 mit
V
Techniken des Lesens und Hörens. 41 Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 29. 42 Zur Geschichte des literarischen Vortrags und des Vorlesens in der Moderne siehe ausführlich Meyer-Kalkus: Geschichte der literarischen Vortragskunst. 43 Vgl. Macho: Stimmen ohne Körper, S. 131.
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Vorlesen Perspektiven
Hörern überdeutlich werden.44 Ausgerechnet diese anonyme Situation, in der Sprechen und Hören voneinander getrennt sind, wird seitdem als besonders authentisch und natürlich wahrgenommen. Die entkörperte Stimme, die aus dem Lautsprecher kommt, wird zur Voraussetzung für die Identifikation mit dieser Stimme durch die Hörerinnen und Hörer. Infolge des erhöhten Sendebedarfs des Rundfunks werden Hörspiele und Lesungen zu kulturellen Massenveranstaltungen, die bis heute durch die Distribution über Hörbücher, Mediatheken und Streaming-Media-Angebote weitverbreitet sind. Dabei sind Hörbücher und andere digitale Vorlesemedien nicht auf eine Popularisierungsund Vermittlungsfunktion beschränkt, sondern haben eine eigene Ästhetik und Hermeneutik ausgebildet, die sich zentral an der Kategorie der Stimme ausrichtet.45 Nach ihrer Abkopplung vom Körper der Sprechenden kann diese Stimme hinsichtlich der ihr eigenen ‚Körperlichkeit‘ nach unterschiedlichen Parametern beurteilt werden, z.B. Lautstärke, Klangfarbe, Intonation, Sprechduktus, -tempo und -rhythmus.46 Eine solche Konzeption des Vorlesens muss auch Konsequenzen für das Verstehen haben. Durch den sinnkonstituierenden Präsenzeffekt des Vorlesens können dunkle Stellen in Schriften plötzlich erhellt erscheinen, denn jeder laute Vortrag eines Textes trifft durch Betonung, Rhythmus und Klangfarbe immer auch hermeneutische Entscheidungen. Eine prototypische Bestimmung dieser Hermeneutik stammt von Hans-Georg Gadamer, der grundsätzlich davon ausgeht, dass Sprachliches, das als Text begegnet, „dem ursprünglichen Gesprächsleben, in dem Sprache ihr eigentliches Dasein hat“, entfremdet sei. In der Schrift fehle der Atem des Vortragenden, „der das Verstehen anhaucht“.47 Auch die Unterscheidung zwischen laut und leise erfährt dadurch eine neue Wendung. Denn das leise Lesen ist in Wahrheit keineswegs immer leise, sondern gleicht manchmal einem „inneren Sprechen“, das nur die jeweiligen Leserinnen und
44 Vgl. Gethmann: Technologie der Vereinzelung. 45 Siehe dazu grundlegend die Beiträge in Binczek/Epping-Jäger (Hrsg.): Das Hörbuch. 46 Was die medial vermittelte Stimme an mimisch-gestischer Sinngebung verloren hat, muss sie
durch den eigenen Stimmkörper ersetzen, der sich nach unterschiedlichen Parametern ordnen lässt: Lautstärke, Klangfarbe, Intonation, Sprechduktus, Sprechtempo, Sprechrhythmus und so weiter. Siehe dazu Zymner: Lesen hören; vgl. Hachenberg: Hörbuch. 47 Gadamer: Lesen ist wie Übersetzen, S. 279 u. S. 281.
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Vorlesen Perspektiven
Leser hören.48 Dieses Phänomen ist als Subvokalisation bekannt, ein inneres Mitsprechen beim Lesen, selbst wenn keine Lippen- oder Kehlkopfbewegungen mehr stattfinden.49 Diese innere Stimme spielt eine wichtige Rolle für das Vorlesen in akustischen Medien, denn es macht einen entscheidenden Unterschied, ob man einen Text mit der eigenen inneren Stimme liest oder einer fremden Vortragsstimme zuhört. Jede Form der Aussprache eines geschriebenen Satzes ist auch eine semantische Vereindeutigung und Charakterisierung der sprechenden Person. Das Heben der Stimme am Ende eines Fragesatzes zeigt beispielsweise an, dass der Sprechakt dazu dient, eine informative Antwort zu erhalten. Eine Frage kann aber auch eine Bitte, ein Befehl oder ironisch gemeint sein. Auf dem Papier lassen sich diese unterschiedlichen Bedeutungen nur aus dem weiteren Kontext erschließen, in den eine Frage eingebettet ist. Nicht selten ist dieser Kontext nicht vollständig oder uneindeutig, so dass eine Interpretation der Frageintention getroffen werden muss, bevor man alle Kontextinformationen kennt. Das ist beim stillen Lesen ständig der Fall, Selbstkorrekturen an der inneren Aussprache sind daher der Normalfall. Jede Lesung ist dagegen bereits eine durchdachte Interpretation, die eine wiederholte Lektüre des vorgelesenen Werks zur Voraussetzung hat. Darum hören wir Hörbücher nicht in derselben Weise wie wir sie selbst lesen: „Der Vorleser gibt den Figuren eine stimmliche Physiognomie vor dem Hintergrund der gesamten Textkenntnis und unter Berücksichtigung aller textuellen Informationen, während der Leser, zumindest der Erstleser, gezwungen ist, Sprechhandlungen probeweise zuzuweisen und ohne das Spätere bereits zu kennen“.50 Ein solches Vorlesen gibt immer eine verbindliche Lesart vor, dem sich die Zuhörerinnen und Zuhörer nicht entziehen können, wie es beim stillen Lesen der Fall ist. Dieser Zusammenhang zwischen dem lauten Lesen und der Interpretation hat eine hermeneutisch interessante Pointe. Aus Sicht der Apologeten des lauten Lesens ist Vorlesen nichts weniger als die „Erweckung“
V 48 Weimar: Lesen: zu sich selbst sprechen in fremden Namen, S. 55. 49 Dass wir beim stillen Lesen sowohl phonologisch als auch lexikalisch lesen, zeigt anhand von
vielen Beispielen Dehaene: Lesen, S. 38–54.
50 Lehmann: Literatur lesen, Literatur hören, S. 6.
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Vorlesen Perspektiven
eines Textes „in neue Unmittelbarkeit“.51 Das „richtige Vorlesen“ muss allerdings alle Fragen der Interpretation immer schon entschieden haben, „weil man nur vorlesen kann, was man verstanden hat“.52 Das laute Lesen soll den Erzählungen zurückgeben, was sie in der Schrift verloren haben – die hermeneutische Voraussetzung dieser Vorlesekunst ist aber die stille Lektüre der Texte. Vorlesen in der Moderne beabsichtigt die Herstellung eines unmittelbaren Sinnzusammenhangs zwischen Text und Vortrag, der in einer Hermeneutik der Verlebendigung seine Deutung findet, die allerdings tote Buchstaben zu ihrer Voraussetzung hat. Digitale Tools, die über jedes smarte Mobiltelefon verfügbar sind, unterlaufen diese ästhetische und hermeneutische Überfrachtung des Vorlesens durch Pragmatik und eine neue Praxis des Lesens. Wer am Steuer seines Autos sitzt oder aus anderen Gründen keine Zeit oder Möglichkeit zur Lektüre hat, kann sich auf mobilen Betriebssystemen wie iOS oder Android einen Text mithilfe von Text-To-Speech-Software (TTS) vorlesen lassen. Es gibt zudem zahlreiche Vorlese-Apps, die weitreichendere Funktionen und Möglichkeiten der Stimmmodulation bieten.53 Dienste wie Amazon Polly und Unternehmen wie DeepZen oder Speechki setzen TTS mittlerweile auch ganz gezielt für eine Hörbuchproduktion ohne menschliche Sprecherinnen und Sprecher ein. Nur noch aus Gnade oder Gründen der Beruhigung hyperaktiver Nutzerinnen und Nutzer lesen diese Voice Reader „with the emotion, intonation and rhythm of the natural voice“.54 Ihre eigentliche Gestalt verdanken sie nicht mehr einer literarischen Vortragskunst oder einem wie auch immer konzipierten Hören
51 Ebd. 52 Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 376. 53 Sogar die Stiftung Lesen hat mittlerweile mit „Einfach vorlesen!“ (https://www.einfachvorlesen.
de/app) eine eigene App entwickelt, die das früher von derselben Stiftung so gepriesene analoge Buch und das Vorleseritual zwischen Eltern und Kindern jetzt einer Software überantwortet: „Egal, ob im Wohnzimmer, im Urlaub oder als Gute-Nacht-Ritual – mit der einfach vorlesen!App hast du immer eine Auswahl an Geschichten für Kinder ab 3 Jahren, ab 5 Jahren und ab 7 Jahren auf deinem Smartphone dabei“. Noch sollen die Eltern die E-Books hier selbst vorlesen, ein letztes Zugeständnis an die medien- und kulturkritische Tradition der Stiftung, dessen Halbwertzeit absehbar ist. 54 Vgl. AI Voice Solutions – Bringing Text To Life. Online unter: https://deepzen.io/ [aufgerufen am 17.05.2022].
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auf die Sprache, sondern einem Algorithmus, der ohne Referenz auf den Menschen oder die menschliche Stimme auskommt.
didaktischen Funktion und damit als ein pragmatisch reduzierter Begriff thematisiert: als Vorstufe zum Erwerb der eigentlichen, stillen Lesekompetenz von Kleinkindern und Jugendlichen. Das Vorlesen von Kinderbüchern gilt als wichtige Propädeutik für die Leseentwicklung, in der nicht nur Wortschatz und sprachliche Strukturen, sondern auch Ausdrucksfähigkeit, Weltwissen und Fantasie vermittelt werden sollen. Dem Vorlesen wird so die Bürde auferlegt, die Beziehung zum Lesen, die Lesemotivation und das Leseverhalten vorab bereits zu strukturieren und so die Grundlagen für die spätere schulische Entwicklung und ein breites Interessenspektrum zu schaffen.55 In der Lesedidaktik nimmt das Vorlesen als Lautleseverfahren daher eine zentrale Stellung ein. Nicht nur die Lesekompetenz, sondern auch die Leseflüssigkeit, Lesemotivation und das Reflexionsvermögen sollen mit solchen Verfahren insgesamt trainiert und gesteigert werden.56 Demgegenüber thematisieren die historische Leseforschung und die medienwissenschaftliche Forschung eine andere, weitere Dimension des Begriffs, die Vorlesen im Rahmen der Erforschung historischer und systematischer Lesepraktiken verortet. Um diese unterschiedliche Bedeutung des Vorlesens auch begrifflich zu unterscheiden, hat Roger Chartier den Vorschlag gemacht, das Vortragen vom Vorlesen abzuheben.57 Folgt man diesem Vorschlag, dann erscheint das Vorlesen als Vortrag in der modernen Lesung von Literatur als eine Kulturtechnik mit eigenständiger Geschichte und Systematik, die allerdings noch kaum erforscht ist. Die weitverbreitete Annahme, dass die moderne Form der Lesung als Vortrag von Literatur bis ins Altertum zurückreiche, in
Vorlesen Forschung
FORSCHUNG In der Forschung wird das Vorlesen zumeist nur noch in seiner
V 55 Vgl. Stiftung Lesen (Hrsg.): Vorlesestudie 2012; Ehmig: Mehr als Kuscheln und schöne
Geschichten; Muratović: Vorlesen digital.
56 Vgl. Rosebrock/Nix: Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Le-
seförderung, S. 33–56.
57 Chartier: Lesewelten, S. 155.
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Vorlesen Forschung
deren kontinuierlicher Geschichte sich nicht viel verändert,58 ist irreführend, da die Aufführungspraxis von Literatur in Antike und Mittelalter nur sehr begrenzt mit der sozialen und medialen Situation in der Neuzeit verglichen werden kann. Gerade für die Abgrenzung des neuzeitlichen von dem antiken und mittelalterlichen Vortrag gilt das Primat der Verschriftlichung von Literatur und kultureller Kommunikation. Die neuzeitliche Lesung setzt gerade nicht mit technischen Instrumenten die frühzeitliche Oralität in der Moderne fort, sondern ist ganz im Gegenteil überhaupt nur unter den Bedingungen einer Ausdifferenzierung von Schrift möglich geworden. Erst infolge einer fast vollständigen Umstellung der literarischen Kommunikation auf Schrift und Druck, die in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. als konsolidiert gelten kann, entsteht eine Poetik der Reoralisierung, die als Reaktion auf den dominanten Einfluss der Schriftkommunikation begriffen werden muss. Natürlich wurde Literatur immer schon laut vorgetragen, aber erst durch die Autonomie von religiösen und höfischen Kontexten sowie in der Folge eines allgemeinen Wechsels der Lesekultur von einer lauten zur leisen Lektüre kann sich der Vortrag von Literatur als eine eigenständige Form etablieren, die eine absichtsvolle Abweichung von der leisen Lektüre literarischer Texte markiert.59
58 Vgl. Schöne: Literatur im audiovisuellen Medium; Grimm: „Nichts ist widerlicher als eine
sogenannte Dichterlesung“.
59 Vgl. Maye: Die Entstehung der Dichterlesung; Meyer-Kalkus: Akteure, Formate und Me-
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1 Gillespie: Custodians of the Internet, S. 139.
Zensieren Anekdote
ANEKDOTE Das Napalm Girl: Das Foto gewinnt 1972 den Pulitzer Prize und
Z 695
Zensieren Anekdote
einer öffentlichen Inspektion auszusetzen: „This makes it extremely difficult to understand why particular decisions are made, why certain rules are inconsistently enforced, and how the review process can be improved“,2 kritisiert Tarleton Gillespie, der von der Notwendigkeit der Moderation grundsätzlich überzeugt ist. Moderation scheint zumindest dies mit den autoritären Praktiken der Zensur gemeinsam zu haben: eine Neigung zur Opazität, die verhindert, dass die Selektions- und Exklusionsakte der Internet-Hüter (Custodians of the Internet) für die Öffentlichkeit nachvollziehbar sind. Wenn der damalige Facebook-Vize daher bereitwillig einen Fehler bei der Klassifizierung des Napalm-Girl-Fotos eingesteht, dann schließt er seine Einlassung mit der unverdrossen vorgebrachten Behauptung: „We’ll keep working to make Facebook an open plattform for all ideas.“3 All ideas? In diesem Fall fände eine Zensur tatsächlich nicht statt – und letztlich ist bereits der Ausdruck „Moderation“ ein Versuch, die Aktivitäten einer umfassenden Überwachung der Plattform, der Klassifikation des von ihren Nutzern bereitgestellten Contents sowie der Löschung bestimmter Inhalte oder der Sperrung von Zugängen zur Plattform in ihrer zensierenden Wirksamkeit zu verdecken. Nun ist es keineswegs so, dass das von Facebook gelöschte Foto nicht bereits zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung in klassischen Printmedien und in der TV-Berichterstattung zum Vietnamkrieg eine intensive Debatte ausgelöst hätte, in welchem Ausmaß der Öffentlichkeit die Konfrontation mit den Schrecken des Krieges und der exzessiven Gewalt bestimmter (hier chemischer) Kriegsführung zumutbar ist. Anders als derartige Debatten, die in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, bezeichnet Moderation einen öffentlich nicht ohne weiteres zugänglichen Modus der Regulierung von Inhalten und den für sie verantwortlich gemachten Individuen oder Gruppen, den selbst die Betroffenen nur über seine Effekte wahrnehmen können: Die Entfernung von Inhalten oder Accounts geschieht ‚automatisch‘ und ohne vorherige Ankündigung. Die Millionen von Einzelfallentscheidungen, die im Plattformmoderationsgeschäft täglich getroffen werden, werden zwar grundsätzlich unter Verweis auf sogenannte community guidelines der jeweiligen Plattform gerechtfertigt,
2 Ebd. 3 Zit. n. Gillespie: Ebd., S. 3.
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aber wie jede Form der Rechtsprechung spielt sich der entscheidende Vorgang in den Akten der Subsumption individueller Fälle unter allgemeine Regeln ab, die häufig auf sie gar nicht anwendbar sind. Moderation kann in ihrer Reichweite und in ihren verdeckten Mechanismen nur verstanden werden, wenn sie zwar nicht vorschnell als Zensur diskreditiert, aber doch mit der Geschichte der Zensur und ihren unterschiedlichen Äußerungsformen in Verbindung gebracht wird. Es handelt sich bei der Moderation um das Ergebnis eines bestimmten Formwandels der Zensur, der im Kern darauf abzielt, die Schwelle der Akzeptabilität der zensierenden Intervention zu senken, z.B. durch die Verwendung von Algorithmen, die eine technisch-neutrale Lösung des Vorgangs in Aussicht stellen, aber auch durch Formen einer sogenannten User-generated Censorship. Auch dies ist kein prinzipiell neuer Aspekt, denn insbesondere die umfassende Beteiligung derjenigen an der Zensur, die sich auf den Plattformen bewegen und Content generieren, hat ihre Vorgeschichte. Die Geschichte der Zensur ist immer auch durch Versuche geprägt gewesen, die Kollaboration der Zensierten sicherzustellen.
zung oder Würdigung von Dingen, Personen oder Zeichen vornimmt. Censere bedeutet nicht nur bestimmen, sondern vor allem: befehlen. Dem neuzeitlichen, auf Medien bezogenen Begriff der Zensur (z.B. Bücherzensur, Pressezensur, Theaterzensur) geht eine Zensur voraus, die zunächst als Zensus operiert: Im antiken Rom bezeichnet der Zensus die nach den Vermögensverhältnissen der Bürger bemessene Verteilung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten. Der Zensus ist der Vorgang einer umfassenden Einteilung oder Klassifikation aller Bürger (unter römischen Bedingungen: in Tribus und Centurien), wobei diese in regelmäßigen (meist fünfjährigen) Abständen vorgenommene ‚Volkszählung‘ die Form des sogenannten Lustrums annahm, bei dem sich das ganze römische Volk auf dem Marsfeld versammelte. Die Einteilung in bestimmte Klassen und Stände setzt die individuelle Identifizierung aller Anwesenden voraus. Diese primär ökonomische und politische Dimension des Zensierens – also die Feststellung der Leistungsfähigkeit jedes Bürgers, um seinen entsprechenden Anteil an den öffentlichen Lasten zu bestimmen – ist von dem,
Zensieren Etymologie
ETYMOLOGIE Zensor ist ursprünglich derjenige, der eine bestimmte Schät-
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Zensieren Etymologie
wie es in den einschlägigen Lexika des 19. Jhs. heißt, „sittenrichterlichen Amt“4 der Zensur zu unterscheiden. Den Zensoren obliegt in der römischen Republik die Aufsicht über die Sitten der Bürger. Sie verfügen über keine polizei- oder strafrechtlichen Befugnisse, sondern nutzen das Mittel der öffentlichen Rüge (nota censoria), mit der sie moralische, überwiegend auf das öffentliche Leben bezogene Verfehlungen (Feigheit vor dem Feind, Unbotmäßigkeit den Behörden gegenüber, Missbrauch von Amtsgewalt, Meineid) ahnden. Die Strafe besteht regelmäßig in bestimmten Formen des sozialen Ausschlusses oder der sozialen Degradation, indem gerügte Personen von der Wahrnehmung politischer Ämter ausgeschlossen oder aus ihrer Tribus ausgestoßen und einem niedrigeren Stand zugewiesen werden. Die Urteilssprüche der Zensoren erfolgen nach persönlicher Überzeugung und nicht auf der Grundlage eines formalen Verfahrens, so dass kein Einspruch gegen sie möglich ist. Allerdings war das Institut der Zensur durch zwei Bedingungen beschränkt: Die Beschlüsse der Zensoren, von denen es in Rom immer zwei gab, mussten einstimmig erfolgen und die Dauer der öffentlichen Rügen war auf den Zeitraum der Amtszeit der Zensoren (also bis zur nächsten ‚Musterung‘) beschränkt, während gerichtlich ausgesprochene Infamiestrafen immerwährend waren. Im Zuge der neuzeitlichen Einführung des Buchdrucks etablierte sich die Kirche als zentrale Zensurbehörde. Sie führte effektive Maßnahmen der Medienorganisation und -kontrolle ein: „Der Papst verlieh Universitäten und Bischöfen das Recht, Drucker, Händler, Käufer und Leser glaubensfeindlicher Schriften unter Androhung der Exkommunikation zu verfolgen.“5 Die Zensurpraxis ‚verengt‘ sich also auf die bürokratische Regulierung von Medienprodukten, deren sichtbares Zeichen die kontinuierliche Fortschreibung des Index Librorum Prohibitorum (ILP) war. Der Index „zählte all diejenigen Werke auf, deren Besitz, Lektüre und Verbreitung untersagt waren“ und fungierte als „das negative Korrelat des christlich-biblischen Kanons.“6 Die Zensur, wie sie im kanonischen Recht der katholischen Kirche verankert wurde, entwickelt nicht nur Kriterien zum Ausschluss von gedruckten Texten, sondern hält an der
4 (Art.) Censores. In: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, S. 38. 5 (Art.) Zensur. In: Der Neue Pauly, Sp. 1003. 6 Ebd.
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moralischen Dimension, die die Zensur bei den Römern hatte, fest. Sie umfasst „das Sammelsurium der Exkommunikationen, Interdikte und Suspensionen“7 und richtet sich damit nicht nur gegen bestimmte theologische Doktrinen, sondern stellt zugleich auch die „Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse“8 sicher, indem sie diese Subjekte aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausschließt, wenn sie „eine oder mehrere unzulässige Aussagen gemacht“9 haben. Dabei wird der Ausschluss immer zugleich in der Perspektive einer möglichen Reintegration in die Diskursgemeinschaft gedacht: Die Zensur wird theologisch als eine Strafe konzipiert, „die jedoch der Heilung der Seele dient, also eine Medizinal-Strafe darstellt.“10
schen Altertums mit denen der aktuellen Debatten um das Verhältnis von Zensur und Moderation unter den Bedingungen digitaler Kommunikationsverhältnisse und sozialer Medien sind, so sind zensierende Praktiken doch weiterhin an der Polarität von Zensus und Zensur ausgerichtet. Soziale Medien, dies ist oft bemerkt worden, orientieren sich in ihrer internen Verwaltung stark an staatlich-administrativen Praktiken und sind daher in unterschiedlicher Weise daran interessiert, ihre weltumspannenden Gemeinschaften Kontrollregimes zu unterwerfen, die den Zugriff auf ‚reale Identitäten‘, wie sie in Profilen abgespeichert werden, sichern und die zugleich umfassende Dispositive einrichten, mit denen es gelingen soll, illegale und normwidrige Inhalte aufzuspüren und zu beseitigen. Die großen Internetplattformen streben in für die Rhetorik staatlicher Machtansprüche typischen normativen Projektionen danach, eine weltumfassende Gemeinschaft aus Nutzern zu ‚bauen‘ (community building als zeitgemäße Form des früheren nation building), die sich universalistischen Zielen verpflichtet fühlt und daher auch in ihrem Einzugsgebiet eine Quasijurisdiktion etablieren kann, die sonst staatlicher Hoheit vorbehalten ist. Mark Zuckerberg bringt es unmissverständlich auf den Punkt: „In a lot of ways Facebook is more like a government than a traditional company. We have 7 8 9 10
Legendre: Die Liebe des Zensors, S. 36. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 30. Ebd., S. 29 f. Legendre: Die Liebe des Zensors, S. 36.
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KONTEXTE So unvergleichlich die politisch-kulturellen Kontexte des römi-
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this large community of people, and more than other technology companies we’re really setting policies.“11 Der quasistaatliche Anspruch global operierender sozialer Netzwerke erklärt, warum die juristischen Kommentare die Plattformen nicht nur als „new governors“ beschreiben, sondern ihre Macht daran festmachen, dass sie zwar die Einschränkungen der freien Rede durch staatliche Autoritäten erfolgreich konterkarieren, dabei aber als private Akteure mit quasistaatlichen Ambitionen ihrerseits Mechanismen der Regulation und Moderation etablieren, um den entschränkten Kommunikationsraum, den sie eröffnen, effektiv zu schützen.12 Die für die klassischen Zensurpraktiken typischen Exklusionsmechanismen werden von den new governors übernommen, denn die Regulation zielt nicht nur auf bestimmte Inhalte, sondern resultiert regelmäßig in sozialen Ausschlüssen der Personen, denen sie (etwa über die Autorfunktion) zugerechnet werden. Vom frühen, weitgehend ungeregelten und unreglementierten Internet konnte man noch sagen, dass es, stärker als alle publizistischen Vorgängermedien, ausschließlich der freien Meinungsäußerung verpflichtet ist. In den Worten Bruce Sterlings: „There is no ‚Internet Inc.‘ There are no official censors, no bosses, no board of directors, no stockholders.“13 Insbesondere in den USA bildete sich eine juristische Auffassung aus, die unter dem Stichwort der „safe harbor protection“ diskutiert wurde. Dieser Auffassung zufolge sind Plattformbetreiber bloße intermediaries, die nach dem Modell der Telefonkommunikation konzipiert werden: Sie vermitteln zwischen den Usern in einem ausschließlich technischen Sinn. Sie sind Distributionsagenten, die das, was als „Rede“ (speech) ausgetauscht wird, weder selbst hervorbringen noch überprüfen, bewerten und gegebenenfalls korrigieren. Die Sorge vor der Gefahr staatlicher Einmischung in die Netzkommunikation, wie sie vor allem die frühen Phasen der Netzregulation kennzeichnete,14 lenkte von den Möglichkeiten einer Regulierungsmacht ab, die die Plattformbetreiber einsetzen konnten, um die
11 Kirkpatrick: The Facebook Effect: The Inside Story of the Company that is connecting the
world, S. 254.
12 Vgl. Klonick: The new governors: The people, rules, and processes governing online speech,
S. 1664.
13 Sterling: Short History of the Internet, S. 3. 14 Vgl. dazu Palfrey: Four Phases of Internet Regulation.
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15 (Art.) Census. In: Meyer’s neues Konversations-Lexikon, S. 512. 16 Haimson/Hoffmann: Constructing and enforcing „authentic“ identity online: Facebook, real
names, and non-normative identities, S. 8. Noch 2012 gibt Zuckerberg daher zu Protokoll, wie schwer er sich mit der längst zur Gewohnheit gewordenen Einschätzung von Facebook als einem sozialen Netzwerk tat und insistiert darauf, dass Menschen es in ihrem täglichen Leben nutzen „to look people up and find information about people“ (Ebd.).
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Kommunikation auf den Plattformen von bestimmten Inhalten zu ‚reinigen‘ und die inzwischen die Figur des Internet-Hüters hervorgebracht hat. Zensus und Zensur wirken noch in den grundsätzlichen Einschätzungen und Konstruktionsprinzipien der sozialen Medien nach. Denn noch bevor die Zensur als Aufsicht über die Sitten der Bürger wirksam wird, manifestiert sich eine spezifische Form des digitalen Zensus, die an den Vorgaben zur Selbstidentifizierung im Netz deutlich wird. Denn der Schätzung der Bürger nach Stand und Vermögen und ihrer anschließenden Einteilung in soziale Klassen, aus denen ihre Rechte und Pflichten folgen, ging die minutiöse Personenstandsfeststellung voraus: „Vor dem Censor musste jeder Bürger seinen vollständigen Namen angeben, dann seinen Tribus oder regio, den Namen seines Vaters, seiner Frau und der Kinder, und endlich sein Alter.“15 Vor diesem Hintergrund erkennt man die Tragweite von Äußerungen, mit denen der Gründer von Facebook die Idee der ‚realen‘ Identität als jenes Element bezeichnet, das Facebook zu Facebook macht – und man hat zurecht darauf hingewiesen, dass in diesem Beharren darauf, plattformweit eine „real name policy“ durchzusetzen, der administrative Buchcharakter von Facebook, seine symbolische Ordnung, ihre Wirksamkeit entfalten. Denn wichtiger als alles, was auf den Seiten von Facebook geschrieben wird, ist der Eintrag ins Adressverzeichnis der Plattform, die die Zurechenbarkeit der Schreibakte garantieren soll. Medienarchäologisch ist daher die Beobachtung entscheidend: „The earliest iterations of the site deliberately mimicked the printed student directories“, die bekanntlich an den US-amerikanischen Universitäten als „face-books“ firmierten.16 Bevor die Zensur auf Inhalte zugreift, die auf eine Plattform gepostet werden, versichert sie sich zunächst der ‚realen’ Identität der User und zwingt diese im Zweifelsfall, ihre Identität durch Beglaubigungsakte und die Vorlage von offiziellen Dokumenten zu verifizieren.
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KONJUNKTUREN Eine Mediengeschichte der Zensur, ihrer Gebrauchsweisen
und Einsatzorte profitiert vom Medienvergleich, denn der zensierende Akt ist nicht exklusiv an bestimmte Medien gebunden. Dieser fundamentalen Einsicht hat Michel Foucault dadurch Rechnung zu tragen versucht, dass er einen Begriff des Diskurses vorgeschlagen hat, mit dem er die Verschränkung von Rede und Institution zu fassen versucht. Der Diskurs unterliegt nicht nur der Zensur, er inkorporiert sie auch, denn in jeder Gesellschaft wird „die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert […] – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“17 Kontrolle, Selektion, Organisation, Kanalisierung: Bei all diesen Begriffen handelt es sich um Prozeduren, die eine zensierende Wirkung ausüben, sei es, dass sie sich expliziter Ausschließungsverfahren (Verbote) bedienen, sei es, dass sie die Rede über bestimmte Gegenstände an den Status (z.B. die Qualifikation) von Subjekten binden, z.B. weil sie einer gelehrten Körperschaft (Diskursgesellschaft) angehören, die über ein bestimmtes Monopol auf die wissenschaftliche Wahrheit verfügt. Von diesen zensierenden Verfahren, die gewissermaßen von außen auf den Diskurs einwirken, unterscheidet Foucault „interne Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben“ (Kommentar, Autorschaft, Disziplin), wobei auch in diesen Fällen die zensierende Wirkung von bestimmten Akteuren ausgeht, die z.B. als Gelehrte, Autoren oder Mitglieder einer methodischen Standards verpflichteten scientific community auftreten. Zensoren, so verstehen wir sie politisch, sind die Agenten einer vormals kirchlichen Orthodoxie, deren Funktionen im Zeitalter des Buchdrucks an staatliche Behörden weitergegeben werden. Dieses Bild gilt es zu korrigieren – und die Einsätze der Diskursforschung, wie sie von Foucault programmatisch vorgestellt wurde, reagiert genau auf diese Notwendigkeit. Für die Zensur ist eine grundlegende Bifurkation charakteristisch: Einerseits wirkt sie durch Verbote und über Ausschließungsprozeduren, indem sie zum Verstummen bringt, überschreibt oder auslöscht. Dieser Fall steht auch Sigmund Freud
17 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 7.
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vor Augen, der die Verdrängung mit dem Modell der Zensur zu denken versucht: Bestimmte Inhalte des Unbewussten können die Schranke, die es vom Bewusstsein trennt, nicht passieren – oder doch nur auf eine Weise, die die entstellte ‚Botschaft‘ nicht ohne mühsame Entzifferungsarbeit wiederherzustellen erlaubt:
Aber Freud kennt nicht nur den Fall der Zensur, die von der „hohen Zensurbehörde“ ausgeht und die „auf den fertigen Satz gewirkt“ hat, in den sie mittels Löschungsoperationen nachträglich eingreift. Auch für seine Theoriebildung ist die Unterscheidung von Vor- und Nachzensur maßgebend: Die Zensur wirkt im zweiten Fall nicht von außen auf den „Autor“, sondern wird von diesem vorweggenommen, denn er hat vorhergesehen, so Freud, „welche Stellen die Beanständigung durch die Zensur zu erwarten haben, und hat sie darum vorbeugend gemildert, leicht modifiziert, oder sich mit Annäherungen und Anspielungen an das, was ihm eigentlich aus der Feder fließen wollte, begnügt.“19 Die Zensur kann also einmal darin bestehen, dass die ‚beste Stelle‘, wie Freud sagt, schlicht entfernt wird, wie im Fall der Zensur politischer Zeitungen oder Massenmedien überhaupt. Sie kann aber auch subtiler verfahren, indem sie an den Zensierten delegiert wird, dessen Kooperation sie sucht. Dass ein Medium wie die Schrift durch den Druck maßlos ‚aufgeheizt‘20 wird (also räumlich Abwesende in einem zuvor unvorstellbaren Maße erreicht und in ihren Überzeugungen und Affekten prägt sowie sie zu imagined communities integriert), hat Robert Darnton als das Bezugsproblem der Zensur in literarischen Kommunikationsverhältnissen, speziell im sogenannten 18 Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 150. 19 Ebd., S. 151. 20 Zur Rolle des Buchdrucks als Medium der ‚Aufheizung‘ von Schrift vgl. McLuhan: Magi-
sche Kanäle. Understanding Media, S. 45.
Zensieren Konjunkturen
Nehmen Sie irgend eine politische Zeitung zur Hand. Sie werden finden, daß von Stelle zu Stelle der Text weggeblieben ist und an seiner Statt die Weiße des Papiers schimmert. Sie wissen, das ist das Werk der Zeitungszensur. An diesen leer gewordenen Stellen stand etwas, was der hohen Zensurbehörde mißliebig war, und darum wurde es entfernt. Sie meinen, es ist schade darum, es wird wohl das Interessanteste gewesen sein, es war die ‚beste Stelle‘.18
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literarischen Untergrund des Ancien Régime, identifiziert. Dabei hat Darnton für das Ancien Régime eine auffällige Komplementarität zweier Zensurverfahren beschrieben, die das aufgeheizte Medium unterschiedlich stark ‚abkühlen‘ und damit die von Freud und Foucault gleichermaßen beschriebene Bifurkation zensierender Praktiken bestätigt. Auf der einen Seite steht die Bücherpolizei, die dem literarischen Untergrund und seiner „jederzeit entflammbare[n] Bevölkerung“21 mit massiven Maßnahmen beizukommen versucht, indem sie Bücher in großem Umfang beschlagnahmt und dadurch an ihrer Zirkulation zu hindern versucht: Statt einen verbotenen Gedanken oder eine hasserfüllte Invektive gegen die offiziellen Autoritäten in Staat und Gesellschaft aus- oder durchzustreichen, greift diese Zensur die medialen Träger dieser Botschaften an und entzieht sie dem sozialen Verkehr. Von diesem radikalen Ausschließungssystem unterscheidet Darnton eine andere Zensur, die sich interner Prozeduren bedient, um das Sag- und Darstellbare zu modifizieren und zu kontrollieren. Das Merkmal dieser Zensur besteht darin, dass die Zensoren hier mit den Zensierten kooperieren bzw. die Zensierten zur Kooperation anzuhalten verstehen. Im Operationsfeld dieser Zensur, die im Vorfeld der Publikation wirksam wird, wird nur wenig und eigentlich nur im Ausnahmefall verboten – Darnton spricht von zehn Prozent der zensierten Buchtitel. Offiziell beauftragte Zensoren überprüften in diesem System Bücher, um ihnen im Genehmigungsfall eine „Approbation“ zu gewähren, die besagte, dass das Buch mit dem Privileg des Königs gedruckt werden durfte: „Zensur war nicht einfach ein Verfahren, um ketzerisches Gedankengut auszumerzen. Sie war positiv: eine königliche Empfehlung für das Buch mit der offiziellen Aufforderung, es zu lesen.“22 Zensoren fungieren in diesem System als Lektoren, Kommentatoren und Redaktoren: Sie werden vom Oberzensor nach fachwissenschaftlichen Kriterien ausgewählt, also danach, ob sie etwas von der Disziplin, der das Buch zuzurechnen ist, verstehen, weil sie möglicherweise selbst auf diesem Gebiet publizieren. Sie begründen ihr Urteil durch fortlaufende Anmerkungen und Verbesserungen des zuvor von den Autoren
21 Darnton: Literaten im Untergrund, S. 24. 22 Darnton: Die Zensoren, S. 27.
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23 Ebd., S. 180. 24 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 11. Foucault zählt im Anschluss an Nietzsche die-
sen Willen zur Wahrheit ausdrücklich ebenfalls zu den diskursiven Ausschließungsmechanismen: Die Wahrheit tendiert dazu, „auf die anderen Diskurse Druck und Zwang auszuüben“ (Ebd., S. 13). 25 Ebd., S. 11. 26 Darnton: Literaten im Untergrund, S. 69.
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beim Oberzensor eingereichten Manuskripts und in Form eines regelrechten Gutachtens, das Verstöße gegen die Rechtschreibung und den guten Stil ebenso ahndet wie die mangelnde Berücksichtigung des Forschungsstandes. Da die meisten Zensoren selbst als Schriftsteller arbeiteten, nimmt es nicht wunder, dass Autoren und Zensoren kollaborierten und die Zensoren für den jeweiligen Verfasser oft Sympathien entwickelten. Die Praxis dieser absolutistischen Zensur, weit davon entfernt, an die singuläre Situation des französischen Absolutismus gebunden zu sein, lebt im 20. Jh. in den kommunistischen Staaten wieder auf, wie Darnton am Beispiel der DDR beschreibt, wo es ein komplexes Zusammenspiel behördlicher Zensurpraktiken gab, die ihre Hauptaufgabe bezeichnenderweise nicht darin sahen, Literatur zu verbieten, sondern „zu ermöglichen, also den Prozess zu überwachen, durch den aus Ideen Bücher würden, die hernach Leser erreichten.“23 Für die staatstragende Zensur gilt, dass sie grundsätzlich jenen Diskursen vorbehalten war, die sich ‚im Wahren‘ befanden, deren Mängel und Irrtümer also durch bestimmte diskursive Eingriffe beseitigt werden konnten. Weil dem gesamten literarischen Untergrund – in dem vor allem offen staatsfeindliche, irreligiöse und pornografische Schriften (‚erotische‘ oder ‚obszöne‘ Literatur) produziert und distribuiert wurden – dieser „Wille zur Wahrheit“24 fehlte, traf ihn das Ausschließungssystem der polizeiförmigen Zensur, die nicht widerlegt und korrigiert, sondern ein Verbot formuliert und durchsetzt. Die Polizei verfolgte nicht die berühmten Schriftsteller der Aufklärung, deren Kritik von einem „ganzen Netz von Institutionen getragen“25 wurde, sondern elende Skribenten und „dubiose Figuren, die die übelsten der ‚üblen Bücher‘ zusammenkritzelten“26 und von denen Darnton behauptet, dass sie die „außerordentlichen Möglichkeiten“ der Krise, in die die alte Ordnung geraten sei, „mit der wohl größten Schmutzkampagne [nutzten], die je gegen eine Gesellschaft
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geführt wurde“27 – ein Superlativ, der uns heute in den Debatten um die Auswüchse der hate speech und der Dynamik von shitstorms in den sogenannten sozialen Netzwerken28 wiederbegegnet. Anhand der Bestelllisten der „verbotenen Bücher“ lässt sich ablesen, dass es sich bei der verbotenen Literatur um sogenannte chroniques scandaleuses handelte, die sich darauf spezialisiert hatten, „beinahe jeden zur Staatsmacht in Frankreich Gehörenden“29 zu verletzen: Indem sie „herausragende Einzelne in den Dreck zogen, nahmen sie dem ganzen Regime die Weihe.“30 Die „geschlossene Masse“ der gelehrten und staatlich approbierten Bücher, über die eine wohltätige Zensur wacht, erfüllt einen Raum (der gelehrten Öffentlichkeit, der Akademien, der Salons), der ihr zugewiesen ist. Anders dagegen die „offene Masse“31 der Schmähschriften (libelles), die „alles aufnimmt“32 und sich weder auf bestimmte Kanäle beschränkt noch in den meisten Fällen einem Urheber zuzurechnen ist. Deshalb ist die Polizei umso mehr daran interessiert, diese Urheberschaft ‚festzustellen‘ bzw. zu konstruieren: Sie bezieht die literarischen Übertragungsdynamiken auf einen bestimmten Ursprung und vereindeutigt damit den schwer zu bestimmenden kollektiven Status einer kollaborativen Textproduktion. Die Monströsität und die Verbreitungsgeschwindigkeit von Gerüchten und auf ihnen basierenden populären Textgenres, die
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27 Ebd., S. 34. 28 Zum shitstorm vgl. Gaderer: Das eigentliche Übel der vernetzten Gesellschaft. 29 Darnton: Literaten im Untergrund, S. 128. 30 Ebd., S. 130. Mit einem Ausdruck Judith Butlers handelt es sich um excitable speech, also um
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eine Rede, die die Leser anreizt und aufwiegelt, konkret: „um journalistische Schilderungen von Liebesaffären, Verbrechen und sensationellen Ereignissen“ bei Hofe (ebd., S. 128). 31 Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht, S. 10 f. „Der Drang zu wachsen ist die erste und oberste Eigenschaft der Masse“. Damit trägt Canetti, der seinen Begriff der Masse nicht auf Menschen begrenzt, der Proliferationsgeschwindigkeit jener ‚Kurznachrichten‘ Rechnung, die oft nur auf Fetzen Papier gekritzelt und im Geheimen weitergegeben werden. Durch ihre Ermittlungstätigkeit muss die Polizei erkennen, dass die Information, die die mauvais propos enthielt, „auf noch weitaus komplexere und großflächigere Weise geflossen sein muss“, schreibt Darnton (Poesie und Polizei, S. 21). Dass rivalisierende Parteien am Hof des Königs häufig durch gezielte Indiskretionen die moralische ‚Aufheizung‘ des Publikums in Gang setzen (ebd., S. 50 f.) unterstreicht zudem, dass die polizeiliche Ermittlung von Autorschaft der strukturellen Komplexität des Kommunikationsnetzwerks nicht gerecht wird, weil sie die Involviertheit offizieller Stellen oder Personen notwendigerweise ausblenden muss. 32 Canetti: Masse und Macht, S. 11.
33 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 19. 34 Darnton: Poesie und Polizei, S. 88. 35 Milan: When Algorithms Shape Collective Action, S. 5. Mit Blick auf die Struktur von
Versammlungen, wie sie anlässlich der Occupy-Bewegung entstanden, wird die Nähe zu den Phänomenen, die Darnton beschreibt, noch deutlicher: „Assemblies unfolded like a conversation in a social media platform, connecting self-contained individuals rather than pre-existing groups. The so-called ‚human microphone,‘ that is, the choral repetition of a speaker’s statement, represents a working example: it enabled each participant to contribute in the first person to the definition of the situation while echoing with its ‚reverberating‘ mechanism, multi-author nature, and emphatic exchange the way messages move across on social media.“ (Ebd.)
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im städtischen Raum zirkulieren, ist bekanntlich dem Modus ihrer Genese geschuldet, die ohne die Funktion des (einen) Autors auskommt und damit an jene Zeiten erinnert, in denen selbst im Bereich des literarischen Diskurses Texte mehr oder weniger anonym zirkulierten, ohne danach befragt zu werden, „woher sie kommen, wer sie geschrieben hat“.33 Als ein bestimmtes Lied, das die Pompadour angriff („Daß eine Hurentochter / Es in Versailles so weit gebracht hat …“), die Runde machte, änderten die Pariser es ab, um weitere Regierungsmitglieder der lyrischen Schmähung auszusetzen: „Improvisationen dieser Art stellten eine beliebte Unterhaltung in Gasthäusern und entlang der Boulevards und Quais dar, wo sich die Menschen um Sänger mit Leierkästen versammelten. Die Versifikation war derart einfach, daß jeder ein neues Reimpaar der alten Melodie anpassen und das Ergebnis schriftlich oder mündlich weitergeben konnte.“34 Genau diese Mühelosigkeit der Formierung sozialen Protests, die sich der verwendeten Medien und ihrer leicht zugänglichen Infrastruktur verdankt, ist ein zentrales Thema in den aktuellen Debatten um das sogenannte cloud protesting – ein politischer Aktivismus, der durch Social Media Plattformen und mobile Endgeräte ermöglicht und strukturiert wird. Die politischen Versammlungsformen, die unter diesen Bedingungen entstehen, lassen sich in vielem als digitale Erneuerungen jener flüchtigen Kommunikationsnetzwerke verstehen, die der literarische Untergrund des 18. Jhs. hervorgebracht hat: „Cloud protesting groupings are temporary, elusive, and action-oriented micro-organizations“,35 die selbstgenügsame Individuen statt bereits existierende soziale Gruppen miteinander verbinden. Der literarische Untergrund tritt uns als eine riesige Sammlung von Memen unter analogen Bedingungen
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entgegen,36 der ganz im Sinne des heutigen cloud protesting Echo- oder Widerhall-Mechanismen zur individuellen Verstärkung politischer Botschaften nutzt. Wenn die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern ein entscheidender Katalysator der neuzeitlichen Zensur war, weil er Schriftmassen und Informationsfluten auslöste, die insbesondere für Kirchen und Staaten die Frage ihrer Regierbarmachung aufwarfen (im bibliothekstechnisch-archivarischen ebenso wie im ‚gedankenpolizeilichen‘ Sinne), dann lassen sich Linien aufzeigen, auf denen die am Buchdruck eingeübten Verfahrensweisen auf neue Medien übertragen wurden. Zensurpraktiken unterscheiden sich seit dieser Zeit dadurch, an welcher Stelle des Instanzenmodells der Kommunikation sie ansetzen: an der Informationsquelle (Vor- oder Präventivzensur), am Kanal (Nachzensur 1) oder beim Empfänger der Botschaft (Nachzensur 2). Die von Staats wegen organisierte Zensur von gelehrten oder literarischen Buchmanuskripten ist ein Beispiel für die Vorzensur, denn sie setzt an der Quelle der Kommunikation (Autoren) an und sie spielt jenseits des Buchdrucks auch in den modernen Massenmedien eine Rolle, sofern sie einer (editorischen, redaktionellen) Programmierung unterliegen. Die Zensur, die den literarischen Untergrund im Frankreich der Aufklärung einzudämmen versucht, unterbricht die Übertragungswege von bereits zirkulierenden Botschaften, weil sie ihre Quelle nicht trockenlegen kann. Dieser Untergrund ist ein frühes Beispiel selbstorganisierter und distribuierter Netzwerkkultur. Eine erweiterte Form der distribuierten Nachzensur hat sich gegenwärtig im digitalen Raum etabliert: User-generated censorship entsteht, wenn die Gemeinschaft der Nutzer bestimmter Social Media Plattformen systematisch an der Zensurausübung beteiligt werden und damit eine Form des digitalen self-policing ausüben. Netzwerke müssen sich selbst kontrollieren und regulieren, so dass es nur konsequent ist, ihre User als Kontrolleure zu rekrutieren; gleichzeitig kann sich das Kontrollregime nicht ausschließlich auf die Nutzer verlassen: „The network itself must be articulated as an object of design, implementation, and regulation. Control in this sense does not pervade the network but operates over it; control in this sense is topsight and oversight.“37
36 Vgl. dazu Shifman: Meme, S. 22–40. 37 Galloway/Thacker: The Exploit, S. 36.
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An den Verfahren, mit denen man klassische audiovisuelle Massenmedien (Film, Fernsehen) überwacht, erkennt man die unverminderte Bedeutung proaktiven Zensierens: So durchlaufen Filme, bevor sie ins Kino kommen, routinemäßig Prüf- und Zertifizierungskontrollen. Die Ausarbeitung des US-amerikanischen Codes zur Durchsetzung einer umfassenden Filmzensur war mit einer bezeichnenden Haltung gegenüber der Möglichkeit zentraler bundesstaatlicher Zensurmaßnahmen verbunden: Der Code verstand sich ausdrücklich als das effektivere und umfassendere Instrumentarium, das zentrale staatliche Regulierungsbemühungen überflüssig machen würde, da er nicht fertiggestellte Filme überprüfte, sondern bereits in deren Produktionsprozess intervenierte und die Studios zur Vorlage der Drehbücher zwang: „If films were made correctly in the first place, there would be no need for government censorship.“38 Wie im Fall der klassischen Buchzensur im 18. Jh. wurde die Zensur im Bereich der Filmindustrie im Wesentlichen als Vorzensur organisiert; aber anders als im französischen Absolutismus ging die Zensur nicht vom Staat aus, sondern wurde an die Filmindustrie selbst delegiert. Die Zensur auf dem Feld des frühen Fernsehens wiederum flexibilisiert die Vor- und Selbstzensur, indem sie Zuschauerreaktionen ermittelt und nutzt, um bestimmte Sendungen einer nachträglichen Regulierung zu unterwerfen bzw. die Regulierungskriterien den Reaktionen anzupassen. Da Fernsehen die Menschen in ihren privaten Umgebungen erreichte, war die Befürchtung von Beeinträchtigungen der Zuschauer bei den Hütern der öffentlichen Moral und bestimmter Wertvorstellungen noch größer als im Falle des Kinos. Das Manual der entsprechenden US-Regulierungsbehörde des frühen TV verwendet eine entsprechend unklare und nebulöse Sprache, die den moralischen Erregungskurven des Publikums, das sich in Briefen an die Fernsehsender wendet, Rechnung zu tragen verspricht. Da es unmöglich ist, jede fragwürdige Idee, jedes Wort oder Bild zu kodifizieren, hat Robert Pondillo die Vagheit als das entscheidende Kennzeichen zensierender Praktiken hervorgehoben: „vagueness becomes a fundamental part of any censorship document in
38 Black: Hollywood Censored, S. 171. Vgl. zum politischen Kontext der Etablierung des Pre-
Codes auch Lane: The Decency Wars: The Campaign to Cleanse American Culture.
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order to allow for myriad situations and multiple interpretations“.39 Welche Inhalte der TV-Zensur unterliegen, hängt dabei weniger von individuellen Beschwerden ab, sondern basiert auf Trends, deren Indikator die Häufigkeit ähnlich ausgerichteter Eingaben an die Zensurbehörde ist. Am Beispiel sogenannter „swish characters“ im frühen US-amerikanischen TV, die virtuos mit Geschlechterstereotypen spielten, zeigt sich zudem, dass sich die Schauspieler in den entsprechenden Shows häufig über die entsprechenden strikten Zensurregeln hinwegsetzten,40 ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen, weil sie sich der Sympathie der Zuschauer sicher sein konnten. In dieser Form einer noch auf schriftlichen Eingaben beruhender Zuschauschauerbeteiligung am Zensurgeschehen kann man eine frühe Form der kollektiven Selbstzensur erkennen, wie sie dann im Zeitalter der sozialen Medien mit ihren eingebauten Rückkopplungsschleifen die allgegenwärtigen Praktiken des Meldens anstößiger Inhalte (flagging) generalisieren. „Juggling the many, often contradictory, demands“, mit denen sich die TV-Zensurbehörde CAD konfrontiert sah, machte sie zu einem „complex system of constant negotiations“,41 eine Formel, die ziemlich genau die Situation beschreibt, in der sich auch die Custodians of the Internet wiederfinden. In dem Maße, wie Live-Formate für TV-Sendungen eine immer größere Bedeutung gewinnen, versucht man, die Reaktionsgeschwindigkeit zensierender Akte durch die Einschaltung eines nur wenige Sekunden umfassenden Intervalls zu steigern, das ein Minimum an editorischer Reaktionszeit erzeugt. TV experimentiert also mit Formen einer frühen Publikumsbeteiligung an seiner Selbstzensur und versucht zugleich, selbst unter Livebedingungen einen Rest an editorischer Souveränität der ‚Sender‘ zu bewahren, die anstößige Formulierungen oder Darstellungen optisch oder akustisch tilgt, bevor sie auf dem Bildschirm erscheinen können. Zensieren, diese Lektion lässt sich von der Film- und Fernsehindustrie auf die Plattformindustrie im digitalen Zeitalter übertragen, zielt auf die Bereitschaft eines bestimmten Mediums zur Mitwirkung an der
39 Pondillo: America’s First Network TV Censor, S. 56. 40 Die Zensoren „read scripts and watched rehearsals for even the slightest inclination that a
character might be coded as gay.“ McCracken: Regulating Swish: Early Television Censorship, S. 359. 41 Ebd., S. 358.
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Zensur, um die Eingriffe als selbstregulatorische Maßnahmen zu legitimieren, die nicht von einer dem Medium äußerlichen Instanz auferlegt werden.
mativen Konzept des Diskurses, der allein dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments (Habermas) verpflichtet ist, ignoriert jene „Unruhe“, von der Foucault behauptet hatte, dass sie unvermeidlicherweise entstehe, „angesichts dessen, was der Diskurs in seiner materiellen Wirklichkeit als gesprochenes oder geschriebenes Ding ist“.42 Philosophische Konzepte der Gedanken- und Redefreiheit reagieren auf die Anmaßungen des neuzeitlichen souveränen Staates, der Gesprochenes und Geschriebenes überwacht, weil er, wie Thomas Hobbes im LEVIATHAN formuliert, weiß, dass die Ursache für die Auflösung des bürgerlichen Zustandes und damit für die Rückkehr des Naturzustandes in der „Zunge des Menschen“ liegt, von der Hobbes feststellt, dass sie „gleichsam die Trompete des Krieges und Aufruhrs“43 ist. Obwohl Hobbes‘ politische Rechtfertigung der Zensur, konkret: der Befugnis des Souveräns, das öffentliche ‚Bekenntnis‘ verbindlich für alle Bürger festzulegen, vom Wissen um die „Gefahren des Diskurses“ ausgeht, konzediert er den Untertanen zugleich, dass sie frei seien, zu denken, was sie wollen. Diese Liberalität der Gedankenfreiheit ist allerdings, wie schon Spinoza klar erkannte, erkauft mit einer metaphysischen Konzeption des Denkens, die es in das Bewusstsein der Individuen einschließt und es von seiner Handlungsmacht trennt. Spinoza beharrte daher darauf, dass es „in einem freien Staate“ nicht nur „jedem erlaubt ist, zu denken, was er will“, sondern auch „zu sagen, was er denkt.“44 Und er tut dies ausdrücklich im Wissen um die Gefährlichkeit dieser Redefreiheit, schließlich könne „die Majestät mit Worten so gut wie durch die Tat verletzt werden“.45 Für politisch noch gefährlicher hält er aber die Unterdrückung der Redefreiheit (als der Freiheit, wie er sich ausdrückt, „zu mucken“46), weil sie die Menschen dazu zwinge, dass sie „tagaus, tagein anders redeten, als sie dächten“.
42 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 6. 43 Hobbes: Vom Bürger, S. 127. 44 Spinoza: Theologisch-Politischer Traktat, S. 299 45 Ebd., S. 301. 46 Ebd., S. 304.
Zensieren Gegenbegriffe
GEGENBEGRIFFE Die Freiheit der Rede, ihre Ausarbeitung zu einem nor-
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Damit schafft das Verbot der Redefreiheit aber genau die Voraussetzungen für Verschwörungen und Aufruhr, die es ausschließen sollte. Die Freiheit der Rede basiert, philosophisch gesehen, auf der Alternative von Sprechen und Handeln und damit auf der Zurückweisung aller Einsichten in die Handlungsfunktionen von Rede, wie sie nicht erst in der Sprechakttheorie formuliert wurde. Aber, wie Stanley Fish in einem einflussreichen Aufsatz deutlich gemacht hat (sein Argument wiederholt die entsprechenden Einsichten Spinozas): Die Schwierigkeit dieser Trennung von Rede und Handlung ist allen, die die Möglichkeit dieser Trennung behaupten, geläufig: „speech always seems to be crossing the line into action, where it becomes, at least potentially, consequential.“47 Fishs Analyse der rechtsphilosophischen Begründungsfiguren uneingeschränkter Redefreiheit liefert Argumente für die Unvermeidbarkeit der Zensur auf einer grundsätzlichen Ebene. Die Gerichte, so Fish, schützen niemals die Freiheit der Rede als solche. Ihre Arbeit besteht vielmehr darin, die Rede zu klassifizieren und sie entweder als schützenswert oder, aufgrund bestimmter Eigenschaften, die sie als provozierende Rede und diskriminierendes Verhalten (fighting words) zu interpretieren erlauben, als Straftatbestand zu behandeln:
Zensieren Gegenbegriffe
Despite what they say, courts are never in the business of protecting speech per se, ‚mere‘ speech (a nonexistant animal); rather, they are in the business of classifying speech (as protected or regulatable) in relation to a value – the health of the republic, the vigor of economy, the maintenance of the status quo, the undoing of the status quo – that is the true, if unacknowledged, object of their protection.48
Fish hält trotz seiner Kritik an den philosophischen Prinzipien des First Amendments („There’s No Such Thing as Free Speech“) an der Wünschbarkeit einer ‚freien‘ Rede („and It’s a Good Thing, Too“) und der Möglichkeit ihrer Ausweitung fest, weil das Prinzip, auch wenn es auf falschen metaphysischen Grundlagen beruht, die juristische Nachprüfbarkeit von staatlichen Maßnahmen zur Unterdrückung von als gefährlich betrachteten Meinungen
47 Fish: „There’s No Such Thing as Free Speech, and It’s a Good Thing, Too“, S. 105. 48 Ebd., S. 106.
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garantiert49 und darüber hinaus eine Debatte über die Reichweite des Begriffs „speech“ ermöglicht: Wie genau ist der Umfang des Begriffs ‚Rede‘ festgelegt und welchen, z.B. visuellen Ausdrucksmöglichkeiten versagt diese Redefreiheit ihren Schutz?
medien wie dem Film und der Fernsehsendung konnte man sich eine Zensur überlegen, die bereits in der Phase ihrer Produktion wirksam wurde. Das entsprach, zensurlogistisch gesehen, ziemlich genau der Operationsweise der absolutistischen Buchzensoren Frankreichs, die zunächst das Manuskript prüften, Änderungen vornahmen und vor der Veröffentlichung des Buches die Fahnen noch einmal daraufhin abgleichen mussten, ob die Publikationsauflagen auch umgesetzt worden waren. Für die plattformorganisierten, nicht länger zentral programmierten50 sozialen Medien gilt dagegen, dass eine Vorzensur schon aus technischen Gründen nicht stattfindet, weil sie viel zu zeitraubend wäre und dem Anspruch dieser Medien, Produktion und Distribution tendenziell zusammenfallen zu lassen, zuwiderlaufen würde. Dass Plattformen „moderieren“ müssen, obwohl sie sich dabei nicht wohl fühlen (weil die Moderation niemals trennscharf von der Zensur abzuheben ist und in der Medienöffentlichkeit von Betroffenen als Zensur aufgefasst wird), ist der Ausgangspunkt einer großen Zahl von Publikationen, die sich mit der Regierbarmachung von Plattformen befassen. Die Plattformmoderation vollzieht sich grundsätzlich auf vier Ebenen, die Gillespie grafisch in die Form einer Pyramide überführt, die auf den ersten Blick wenig zur distribuierten Form der Machtverteilung in Netzwerken passt:51 „Editorial Review“, „Crowdworkers“, „Automatic Detection“ und
49 Ebd., S. 113. First Amendment Bestimmungen „slow down outcomes in an area in which the
fear of overhasty outcomes is justified by a long record of abuses of power.“
50 Zur Unterscheidung von „programm“ (klassische Massenmedien) und „programmability (so-
ziale Medien) vgl. Dijck/Poell: Understanding Social Media Logic, S. 5.
51 Gillespie: Custodians of the Internet, S. 116. Dass Souveränität und Netzwerke keineswegs
unvereinbar sind, die Gegenüberstellung von zentralisierten und distribuierten Machtformen unter digitalen Bedingungen also ihre Gültigkeit verliert, hatten Alexander Galloway und Eugene Thacker schon vor längerer Zeit festgestellt. Vgl. Galloway/Thacker: The Exploit, S. 20: „networks create the conditions of existence for a new mode of sovereignty“.
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PERSPEKTIVEN Für die ‚werkzentrierten‘ Bereiche der modernen Massen-
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„Community Flagging“.52 Editorial Review beschränkt sich auf wenige Bereiche (etwa App-Freigaben), denn die Plattformen sind aufgrund der schieren Größe des Datendurchsatzes gar nicht in der Lage, Content proaktiv, also durch eine Art Vorzensur, zu regulieren. Daher verfolgen fast alle Plattformen einen publish-then-filter-Ansatz. Fragwürdige Inhalte werden ggf. erst nach ihrer Veröffentlichung gelöscht. Während interne Teams die CommunityRichtlinien verfassen und strategische Fragen der Moderation behandeln, sind Plattformen für die Ex-Post-Moderation des anfallenden Contents in hohem Maße auf Mitarbeiter angewiesen, die sie regelmäßig in Drittweltländern über unabhängige Firmen und zu günstigeren Konditionen anheuern. Diese Net-Cleaners prüfen im Sekundentakt indiziertes Material auf seine Vereinbarkeit mit den Richtlinien und, was operativ entscheidender ist, mit den detaillierten, aber höchst widersprüchlichen Ausführungsbestimmungen (removal instructions), über deren Anwendung sie in jedem Einzelfall entscheiden müssen. Wir bewegen uns mit den cleaners im Bereich einer wesentlich taktischen Netz-Gouvernementalität, die nach dem Modell einer delegierten Souveränität funktioniert. Zentrale Richtlinien und umfangreiches Beispielmaterial, an dem die Vertragsarbeiter ihren Blick schulen sollen, suggerieren zwar die Standardisierbarkeit der jeweiligen Entscheidungen. Sie können aber zugleich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Entscheidung, einen bestimmten Inhalt zu entfernen oder zuzulassen oder, in zweifelhaften Fällen, an die internen Teams der Plattform weiterzuleiten, von kriteriell nur schwer handhabbaren Einschätzungen, Präferenzen und Wertbindungen abhängt – und dass in vielen Fällen, die Entscheidung offensichtlich anstößige Inhalte auf den Plattformen zu belassen, nicht zuletzt von monetären Erwägungen
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52 Gillespie fügt noch die Ebene der community managers hinzu, deren Bedeutung allerdings
zunehmend geringer wird, weil das Wachstum der Plattformen eine direkte Kommunikation mit den Nutzern unmöglich macht und die flexible algorithmische Clusterung von Nutzern mit der Vorstellung relativ stabiler Nutzergemeinschaften bzw. community spaces unvereinbar ist. Vgl. Gillespie: Custodians of the Internet, S. 125–127.
53 Vgl. dazu Roberts: „Commercial Content Moderation: Digital Laborers‘ Dirty Work“, S. 8.
Roberts bezieht sich u.a. auf Videos, die Nutzer hochladen, um die Ausübung (teilweise von ihnen selbst erfahrener und dokumentierter) exzessiver Gewalt im familialen, politischen und militärischen Kontext anzuprangern. Dass diese Videos nicht der Zensur zum Opfer fallen, kann Roberts zufolge keineswegs umstandslos auf die ‚aufklärerische‘ Absicht der Plattformmoderation zurückgeführt werden, sondern schon eher auf den Sensationswert des Materials, wie an den Clickzahlen abzulesen ist, sowie an seiner Profitabilität im Hinblick auf die mit dem Material verbundene Werbung: „Simply put, the decision for what stays up and what comes down must, at some level, be a monetary one.“ 54 Bowker/Starr, Sorting Things Out, S. 10. 55 Gillespie: Custodians of the Internet, S. 116. 56 Ebd., S. 128. 57 Ebd., S. 131.
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abhängt.53 Nur in einer idealen Welt sind Kategorien „clearly demarcated bins, into which any object addressed by the system will neatly and uniquely fit“.54 Die Entscheidung darüber, was auf einer Plattform erscheinen darf und was verschwinden muss, teilen diverse Akteure, darunter auch nicht-menschliche, unter sich auf. Im römischen Rechtsinstitut des Justitium geht die volle Macht in bestimmten politischen Situationen an diejenigen über, die ihr normalerweise unterworfen sind: Jeder Bürger übt sie aus, da diejenigen, die dieses Recht der Verfassung nach innehaben, mit seiner Ausübung überfordert sind. Die Vollzugsgewalt im Bereich der Plattformen geht tendenziell auf diejenigen über, die die potentiellen Regelverstößer sind und für die in Gillespies Pyramide schlicht die unvermeidlicherweise diffuse Bezeichnung „everyone“55 firmiert. Jeder ist aufgerufen, für die eigenen Inhalte Verantwortung zu übernehmen und sie mit Blick auf ihre Angemessenheit für bestimmte Nutzergruppen zu bewerten. Und tendenziell jeder kann sich als „volunteer regulator“56 anwerben lassen, um Regelverletzungen anderer zu melden (flagging). Wer sich besonders hervortut, wird als „superflagger“57 (zu denen auch institutionelle Melder zählen, die über eine hohe Reputation verfügen) geführt, dessen Meldungen bevorzugte Aufmerksamkeit erhalten. Während die Crowdworker noch in einem, wenn auch abgeleiteten, arbeitsrechtlichen Dienstverhältnis zur Zentrale stehen, sind die flagger besorgte und engagierte Nutzer, die in der Funktion als Hilfspolizisten das Netz sauber halten. Allerdings hat diese Ausweitung der Moderation auf die Gruppe aller User eine eigentümliche Dialektik, denn die Beteiligung der Community
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führt regelmäßig dazu, dass ‚Flagger‘ die Anzeige ‚missbrauchen‘, um aus ihrer Sicht unliebsame Inhalte zu diskreditieren: „An anonymous volunteer police force from within the community is not always a neat fit when the plattform hosts users with competing cultural or political values, discussing contentious political topics.“58 Die Hilfspolizei lässt sich nur metaphorisch als verlängerter Arm der Plattformdirektion konzipieren: Sie ist mindestens ebenso Teil des Problems wie seiner Lösung. Die Taktik „ist immer darauf aus, ihren Vorteil ‚im Fluge zu erfassen‘“,59 was bedeutet, dass die taktische Integration der Nutzer in das Moderationsgeschehen von diesen wiederum taktisch genutzt werden kann, um ihre eigene Agenda zu befördern. Flagging – dem Verständnis der Plattformen nach: „self-policing of the crowd“60 – erfolgt häufig organisiert, so dass von einem regelrechten „user-generated warfare“61 gesprochen werden kann, der dazu führt, dass der gesamte moderation apparatus umfunktioniert bzw. ‚gehijacked‘ wird. Christopher E. Peterson hat die Mechanismen nutzergenerierter Zensur im Rahmen einer instruktiven Fallstudie analysiert und zugleich in ihrer mediengeschichtlichen Bedeutung erfasst. Er bestimmt das Paradox dieser Zensur als die taktische Umfunktionierung sozialer Medien mit dem Ziel der Unterdrückung von Inhalten: „the tools designed to help make information more available have been repurposed and reversed to make it less available.“62 Nutzer können sich z.B. zu politisch aktiven Gruppen zusammenschließen, um die Beiträge konkurrierender politischer Lager ‚downzuvoten‘, indem sie andere Nutzer oder sogar Algorithmen für sich einspannen. Für die Kommunikation auf sozialen Plattformen ist es entscheidend, die eigenen Inhalte möglichst sichtbar zu platzieren. Die Alternative ist hier nicht löschen vs. bewahren, sondern pop vs. bury, also up- oder downvoten: Nachrichten tauchen entweder auf den Bildschirmen auf oder sinken soweit ab, dass sie nur noch mit großem Aufwand wieder ‚nach vorne‘ geholt werden können. Nutzergenerierte Zensur diesen Typs setzt daher nicht bei bestimmten Inhalten an, sondern an den Pfaden, die zu ihnen führen: „The subversive genius
58 Ebd., S. 88. 59 De Certeau: Kunst des Handelns, S. 23. 60 Gillespie: Custodians of the Internet, S. 128. 61 Ebd., S. 93. 62 Peterson: User-Generated Censorship, S. 2.
FORSCHUNG Obwohl die Forschung zu Zensurpraktiken im Netz dem Begriff der Zensur selbst reserviert gegenübertritt und ihn durch eine Reihe von anderen Begriffen ersetzt, ist es bislang nicht gelungen, die Vielfalt der regulierenden Eingriffe in die plattformbasierte Kommunikation trennscharf vom Akt des Zensierens zu unterscheiden. Typisch für die Forschungslage sind daher additive Lösungen, die das digitale Zensieren in eine Reihe von Interventionstypen einordnen, ohne dass ihr Verhältnis zueinander geklärt würde. So liest man: „platforms rank, channel, promote, censor, and delete content, facilitating or hindering information flows“.65 Weil die Plattformkommunikation „wuchert“, wie es Foucault bereits für den Diskurs und seine „bedrohlichen Kräfte“66 beschrieben hat, versucht sie dem Wuchern, das sie anreizt,
63 Ebd., S. 54. 64 Bucher: Want to be on the top? In: New Media & Society, S. 1167. 65 Myers West: Raging Against the Machine, S. 28. 66 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 7 f.
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of user-generated censorship is that it intervenes not on objects but on the routes through which they can be found, which are erased or made to appear less interesting to travel down.“63 User-generated censorship ist allerdings keineswegs nur das intentionale Ergebnis explizit moderierender Akte, sondern das Geschäft eines spezifischen Algorithmus, der die Relevanz eines geposteten ‚Objekts‘ für einen Nutzer und damit sein In-Erscheinung-Treten im Newsfeed in Abhängigkeit von der personalen Nähe zwischen Ersteller und Nutzer (friends), dem Gewicht der Interaktionen mit ihm (likes, comments) und schließlich dem Alter eines Postings feststellt. Wenn Taina Bucher EdgeRank als „the algorithmic editorial voice of Facebook“64 begreift, dann macht sie damit zugleich klar, dass editorische Praktiken weiterhin das ‚Erscheinungsbild‘ sozialer Medien prägen, die nicht nur nachträglich herausfiltern, was den Community Guidelines widerspricht, sondern bereits vorab regulieren, mit welcher Wahrscheinlichkeit welcher Inhalt wem überhaupt zugänglich wird: also nicht auf der Basis von Entscheidungen, die ein Redaktionskomitee trifft, sondern durch die Auswertung des social graphs, den jeder Nutzer durch seine Interaktionen mit anderen Nutzern und deren Inhalten erzeugt.
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zugleich mit einem Spektrum von Einhegungspraktiken zu begegnen, die auf unterschiedlichsten Ebenen ansetzen und sich unterschiedlichster Modalitäten bedienen. Und was Foucault vom Diskurs feststellte, dass er die Macht sei, „derer man sich zu bemächtigen sucht“,67 gilt genauso für die Plattformkommunikation, die deswegen auch vielfach zur Zielscheibe von kollektiven Aktionen wird, mit denen die Nutzer sich den Regulierungsmaßnahmen und ihren strategischen Kalkülen zu entziehen versuchen: „social media users are turning to collective action campaigns, redirecting information flows by subverting the activities of moderators, raising the visibility of otherwise hidden moderation practices, and organizing constituencies in opposition to content policies.“68 Weitere Debatten auf dem Feld der Plattformmoderation, die nicht zuletzt durch Entwicklungen im Bereich der KI angestoßen worden sind, betreffen die Frage des Zusammenspiels von humanen und nichthumanen Filtertechniken sowie die Perspektive einer ‚vollautomatischen‘ Identifizierung und Beseitigung ‚anstößiger‘ Inhalte. Der Einsatz von automatischen Erfassungstechniken (detection tools), an die viele Hoffnungen für ein zukünftiges ‚sauberes‘ Netz knüpfen, erweitert zwar die Infrastruktur des Zensierens und Moderierens um nicht-menschliche Akteure, aber diese Technologien ersetzen die menschliche Entscheidung, welche der automatisch gemeldeten Verstöße zur Löschung von Inhalten führt, nicht. Künstliche Intelligenz ist auch deshalb nicht ‚die Antwort‘ auf das Moderationsproblem, weil die Identifizierung von problematischen Inhalten weiterhin auf interpretativen und kontextbezogenen Einschätzungen beruht, die durch bloßes Mustererkennen (pattern recognition) nicht zu gewinnen sind: „Data is never definitive; it always requires interpretation.“69 Die Rede von den ‚Inhalten‘ suggeriert, dass es sie unabhängig von den Formen, Formaten, Auftrittsszenarien, performativen Strategien, Rhetoriken und zitativen Verwendungen, in denen sie erscheinen, gebe. Umgekehrt können Anbieter von problematischen Inhalten Ausweichstrategien entwickeln, die die Datenbanken der entsprechenden Filter ausspielen, in denen die inkriminierten
67 Ebd., S. 8. 68 Myers West: Raging Against the Machine, S. 28. 69 Gillespie: Custodians of the Internet, S. 139.
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70 Ebd., S. 105. 71 Butler: Haß spricht, S. 38.
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Bild- und Textbeispiele (proxies) gesammelt sind, mit denen die jeweiligen Inhalte automatisch abgeglichen werden. „Automatic detection can assess only what it can know – that is, what can be represented as data, limited to the data it has.“70 Die zukünftige Auseinandersetzung mit den Träumen automatisierter Plattformmoderation dürfte von Einsichten profitieren, wie sie bereits in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Debatte um hate speech entwickelt wurden, also zu einer Zeit, als der digitale Massenkommunikationsraum noch keinerlei Rolle spielte. Judith Butlers Frage danach, wie ein Wort zum Ort der Macht zu verletzen wird, hat nichts von ihrer Brisanz für die heutigen Debatten verloren, denn, darauf weist Gillespie zu Recht hin, das Modell effektiver automatisierter detection tools ist immer noch der mechanische Abgleich von konkreten Äußerungen mit bestimmten Listen z.B. obszöner Wörter. Bezieht man dagegen die „Szenarien der Äußerung“71 in die Untersuchung mit ein, ist der Weg in die simple Identifizierung von einzelnen Wörtern oder Sätzen, die ein Verhalten ‚auslösen‘, versperrt. Selbst diejenigen, die dem Akt einer sprachlichen Drohung oder Verunglimpfung ausgesetzt sind, stehen ihm nicht völlig wehrlos gegenüber – und die Komplexität kommunikativer Verwicklungen, in deren Verlauf sich sprachliche oder visuelle Akte der Missachtung ereignen, erkennt man daran, dass sie häufig eine Geschichte erzeugt, in der aggressive symbolische Handlungen Gegenwehr und Widerstand provozieren. Dieser Widerstand bezieht sich auf vorausgehende Akte der sprachlichen Verunglimpfung, greift sie auf, wiederholt und verschiebt sie, wendet sie gegen den Aggressor: Butler hat mit den Konzepten der Reiteration, der Resignifizierung und der Reinzenierung diesen ‚zitativen‘ Verwendungsweisen von verletzender Rede Rechnung getragen. In der Auseinandersetzung mit den wüsten Beschimpfungen und Beleidigungen im Netz gilt es, darauf zu achten, nicht einer Vorstellung von hate speech Vorschub zu leisten, die die Selbsttäuschung dessen, der sie verwendet, reproduziert. Diese Selbsttäuschung liegt darin, „daß der Sprechakt der Drohung die angedrohte Handlung vollständig verkörpern soll. Dagegen ist dieses Sprechen
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verwundbar, anfällig für ein Mißlingen – und genau diese Verletzlichkeit muß man ausnutzen, um der Drohung entgegenzutreten.“72 Es mag durchaus zutreffen, dass ein Großteil der Forschung zu „onlinehostility“, also zu den diversen Spielarten von flaming, cyberviolence, cyberbullying und trolling die Dimensionen, die hate speech und degradierende Kommunikation im Netz inzwischen angenommen haben, systematisch trivialisiert und herunterspielt oder die flame wars sogar groteskerweise als Ausdruck einer „deliberative democracy in action“73 nobilitiert. Teilen der Forschung zu diesem wachsenden Feld der online-hostility Naivität und konzeptuelle Blindheit vorzuwerfen, ist nicht unberechtigt; aber selbst dort, wo es zu detailreichen Beschreibungen und ethisch-politischen Verurteilungen derartiger Praktiken kommt, wird der Kurzschluss von der verletzenden Rede auf ihre Wirkung unbesehen übernommen, so dass als Heilmittel gegen „hyperbolic vitriol“ und „textual sadism“74 im Netz klassische Zensurmaßnahmen aufgerufen werden, die die ungehinderte Zirkulation des Materials unterbindet. Untersuchungen zu Verlaufsformen von gender harassment zeigen, dass das Ziel der Drohungen und Beleidigungen häufig darin besteht, die angegriffenen Frauen zum Schweigen zu bringen, während schon die bloße Weigerung, das Feld zu räumen, als Widerstand eingeschätzt wird, weil er ganz offensichtlich die (relative) Wirkungslosigkeit männlicher Drohgebärden beweist.75 Harassment hat selbst eine zensierende Wirkung, denn es zielt darauf ab, die Adressierte(n) „an ihre Stelle zu verweisen“ und ihre Sprech- und Handlungsmöglichkeiten drastisch einzuschränken. Man gewinnt diese Handlungsmacht nicht dadurch zurück, dass man einen ‚noch stärkeren‘ (staatlichen) Agenten anruft oder beauftragt, ‚die Sache für einen zu regeln‘. Wenn die Drohung unter hypermedialen Kommunikationsbedingungen allerdings ‚Erfolg‘ hat und in gewaltförmige Handlungen übergeht, die „den Adressierten die Handlungsmacht umfassend raubt“,76 kann es durchaus lebensrettend sein, die Bühne des Gerichts zu betreten – und zwar nicht allein deshalb, weil ein Aggressor zu bestrafen ist,
72 Ebd., S. 25. 73 Jane: „Your a Ugly, Whorish, Slut“. Understanding E-bile, S. 9. 74 Ebd., S. 12. 75 Vgl. Herring: The Rhetorical Dynamics of Gender Harassment, S. 158. 76 Eickelmann: Mediatisierte Missachtung, S. 160.
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sondern um die verletzenden Darstellungsakte aus der Routine der fragmentierten Netz-Öffentlichkeiten herauszuheben und verhandelbar zu machen. Hate speech wird in der Regel nach dem Modell der ‚Volksverhetzung‘ gedacht, das auf höchst bestreitbaren massenpsychologischen Voraussetzungen beruht, die davon ausgehen, dass ein hasserfülltes Vokabular, von geschickten Rednern oder Propagandisten eingesetzt, dazu dient, Gruppen zur direkten Aktion zu motivieren. Aber es gibt auch einen ‚kühlen‘ Hass, der sich der (pseudo-)wissenschaftlichen Argumentation bedient und sich im Gewand wissenschaftlichen Wahrheitsstrebens des Beistandes offizieller Institutionen versichert: „Proponents of hate speech regulation may be legitimately concerned that hate speech will simply disguise itself as scientific or religious analysis and thus avoid regulation.“77 Charles King hat dies kürzlich in seiner Monografie zu den intellektuellen Bedingungen des US-amerikanischen Staatsrassismus im 20. Jh. gezeigt:78 Statt Massen zu mobilisieren, verbündeten sich seine intellektuellen Propagandisten mit politischen Entscheidungsträgern, die die rassistischen Phantasmen in segregative Realpolitik umsetzten. Es bedurfte der hartnäckigen Gegenrede und öffentlichen Mobilisierung der entstehenden Kulturanthropologie um Franz Boas, diesen Diskurs auf seinem eigenen Terrain zu konfrontieren und seine wissenschaftliche Unhaltbarkeit vorzuführen, damit schließlich auch sein offizielles Bündnis mit den staatlichen Institutionen zerbrach.
77 Sellars: Defining Hate Speech, S. 31. 78 Vgl. King: Schule der Rebellen.
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ZOOMEN WINFRIED GERLING
Democracy – eine wissenschaftliche Non-Profit-Organisation – kommentierte am 14.09.2020 in einer CNN-Sendung über die Videokonferenzsoftware Zoom die Ernennung des Klimawandelleugners David Legates durch Donald Trump zum Deputy Assistant Secretary of Commerce for Observation and Prediction bei der National Oceanic and Atmospheric Administration. Als sie erklärte, warum David Legates eine problematische Wahl war, sah ihre Umgebung im Fernsehbild geschmackvoll eingerichtet und sie professionell gekleidet aus. Ihr Ehemann fotografierte diese Szene von der Seite, und am nächsten Tag postete Gretchen Goldman das Bild zusammen mit einem Screenshot ihres CNN-Auftritts auf Twitter. „Just so I’m being honest“, schrieb sie neben die Fotos. Außerhalb des einwandfrei eingerichteten Bildes der Videokonferenz waren kurze Shorts und ein paar Outdoor-Sandalen zu sehen. Das gut beleuchtete Zimmer, aus dem sie sprach, war mit Spielzeug übersät und ihre Computerkamera stand wackelig auf einem Stuhl. Sie hatte es geschafft, das Private visuell aus dem offiziellen Bild zu verbannen.1 Als ich Anfang 2020 begann diesen Artikel zu konzipieren, war zoomen eine relativ klare optisch-physikalische Angelegenheit. Meine Kameras hatten Zoomobjektive, mit denen ich mein fotografisches Verhältnis zur Welt flexibel einstellen konnte. Ohne den Standort zu verlassen war es mir möglich, visuell unterschiedliche Perspektiven auf denselben Gegenstand einzunehmen, und fast alle Displays, Interfaces und Programme, mit denen ich umging, hatten eine sogenannte Zoom-Funktion. Mit der ersten, durch die Covid-19-Pandemie notwendig gewordenen Zoom-Konferenz veränderte sich dieses Verhältnis zum Gegenstand noch nicht wesentlich, außer dass jetzt eine Software existierte, die ‚Zoom‘ im Namen trug
Zoomen Anekdote
ANEKDOTE Gretchen Goldman, Research Director im Center for Science and
1 Vgl.: Schwedel: An Interview With the Scientist and Mom Who Had a Little Secret During
Her CNN Appearance. In: Slate, 17.09.2020. Unter: https://slate.com/human-interest/2020/09/ cnn-mom-pants-interview.html [aufgerufen am 02.07.2021].
Z 725
und die es möglich machte, in sicherer technischer Distanz den Regeln des ‚social distancing‘ im ‚Home-Office‘ gerecht zu werden und trotzdem anderen live zu ‚begegnen‘. Zuvor war diese Form der visuellen Überwindung von Distanz im Privatbereich eher mit dem ‚Skypen‘ verbunden worden. Skypen2 und fotografieren bzw. filmen hatten keine begrifflich verwechselbare Nähe, allerdings wurde Zoom im Verlauf des Jahres – als erfolgreichste Entwicklung auf dem Markt – zum Synonym für das neue Verhältnis, das eine privilegierte Gruppe von Arbeitenden zur Welt entwickelte. In sicherer Distanz zum Virus stellten sich schnell die Zoom-Fatigue3 und diverse weitere Probleme mit dem Home-Office ein. So wurde es notwendig, in einem Text über Objektive und Vergrößerungen ein Videokonferenzsystem zu integrieren, das aktuell zum Synonym für Online-Treffen in der Co-Isolation4 geworden ist. „Wir leben in Zoom – Zoom ist der Ort, an dem wir heutzutage arbeiten, zur Schule gehen und feiern.“ titelte die New York Times im März 2020.5 ETYMOLOGIE Zoom (v.) kommt ursprünglich aus dem Engl. und bezeichnet
ein lautmalendes to zoom: summen, surren.6
Zoomen Etymologie
2 Der Name der Software leitet sich von „Sky peer-to-peer“ ab, der dann zu „Skyper“ abgekürzt
726
wurde. Einige mit „Skyper“ verbundenen Domainnamen waren jedoch bei der Einführung des Dienstes vergeben. Durch das Weglassen des letzten „r“ blieb der aktuelle Titel „Skype“ übrig, für den Domainnamen verfügbar waren. Vgl.: Skype: https://web.archive.org/web/20051104064354/http://share.skype.com/blog/ insight/origin_of_the_name%10word_%22skype%22/ [aufgerufen am 24.03.2021]. 3 Sacasas: A Theory of Zoom Fatigue. In: The Convivial Society: Dispatch No. 5. Unter: https://theconvivialsociety.substack.com/p/a-theory-of-zoom-fatigue [aufgerufen am 24.03.2021]. 4 Vgl.: Moskatova: Networked Screens. In: img journal, Nr. 2(2) 2020, S. 282-305, hier: S. 297 ff. 5 Lorenz/Griffith/Isaac: We Live in Zoom Now. In: New York Times 17.03.2020. Unter: https://www.nytimes.com/2020/03/17/style/zoom-parties-coronavirus-memes.html [aufgerufen am 24.03.2021]. 6 Vgl. (Art.) Zoom. In: DWDS online. Unter: https://www.dwds.de/wb/Zoom [aufgerufen am 24.03.2021]; (Art.) Zoomen. In: DWDS online. Unter: https://www.dwds.de/wb/zoomen [aufgerufen am 24.03.2021]; Insekten Zoomen: „humming noise from something moving very fast“.
Die heutige Bedeutung entwickelte sich aus dem Geräusch, das ein schnell ansteigendes Propeller-Flugzeug machte. Der Begriff wurde ab ca. 1917 von Flieger*innen7 verwendet, um diesen Vorgang zu beschreiben. „A Zoom is a brief climb at an unnaturally steep angle“.8 In diese Zeit datiert die erste Verwendung als Substantiv. In der Luftfahrt wird der Begriff auch in jüngerer Vergangenheit noch für ein besonders schnelles Aufsteigen genutzt.9 Die Verwendung des Begriffs in der Optik als Zoom-Lens ist hinsichtlich der Brennweite ein ‚schnell ansteigen (oder absteigen) lassen‘ bzw. ein visuelles ‚sich schnell annähern (oder enfernen)‘ ohne den Standort der Aufnahme zu verlassen. Die erste Verwendung konnte ich in diesem Kontext auf 1932 datieren: „describes a new type of variable focus, variable magnification lens, generally designated as the ‚zoom lens,‘ which is critically sharp at all phases of the zoom and very simple to operate.“10 Eine weitere Begriffserklärung geht darauf zurück, dass Zoom-Objektive, die zuerst im Film genutzt wurden, relativ früh einen Motor bekamen, um eine gleichmäßige Bewegung zu gewährleisten, und dieser Motor ein surrendes Geräusch machte. Da aber die ersten Verwendungen des Begriffs im Kontext des Films auf den Beginn der 1930er Jahre zurückgehen und es dort noch keine motorischen Zoomobjektive gab, scheint diese Herkunft eher unwahrscheinlich bzw. nachrangig.
kurz: Zoom) ist die Möglichkeit einer kontinuierlichen Veränderung der Brennweite in einem festgelegten Bereich. Die Brennweitenänderung wird durch ein axiales Verschieben von Linsen bzw. Linsengruppen in einem optischen System ermöglicht. Es gibt zwei unterschiedliche Bautypen: Drehzoom und Schiebezoom. Beim Drehzoom erfolgt die Brennweitenänderung
7 Vgl. (Art.) Zoom. In: etymonline. Unter: https://www.etymonline.com/word/zoom [aufge-
rufen am 24.03.2021].
8 Avion (pseud.): The Way to Fly, S. 123. 9 Lowery: Zoom Climb. In: Airforcemag.
Unter https://www.airforcemag.com/ article/0205zoom/ [aufgerufen am 24.03.2021]. 10 Warmisham/Mitchell: The Bell & Howell Cooke Varo lens. In: Journal of the SMPTE. Society of Motion Picture and Television Engineers, S. 329.
Zoomen Kontexte
KONTEXTE Die wesentliche Funktion des Zoomobjektivs (Zoom-Lens oder
Z 727
Zoomen Kontexte
mittels eines Drehringes, beim Schiebezoom mittels eines in Richtung der Objektivachse verschiebbaren Rings. Objektive, die dabei eine gleichbleibende Schärfe und möglichst gleiche Blendenöffnung gewährleisten, werden (parfokale) Zoomobjektive genannt.11 Ein parfokales Objektiv ermöglicht bei Video- oder Filmaufnahmen, während der Aufnahme zu zoomen, ohne nachfokussieren zu müssen. Objektive, deren Brennweite variiert werden kann, die aber bei der Veränderung den Fokus verlieren, also nachjustiert werden müssen, sind einfacher in der Konstruktion und werden oft als Variofokus-Objektiv bezeichnet. In Deutschland wurden Zoomobjektive begrifflich nicht immer eindeutig auch als Gummilinse, Vario-Objektiv, seltener als Transfokar oder Transfokator bezeichnet. Die zentrale visuelle Eigenschaft des Zooms ist, dass sich – anders als bei einer bewegten Kamera – der Aufnahmewinkel und die Tiefenschärfe kontinuierlich verändern, während gezoomt wird. Bei einer Weitwinkeleinstellung erfasst die Aufnahme sehr viel mehr von der Umgebung der Kamera als bei einer Teleeinstellung. Die Teleaufnahme verdichtet den Raum und außerdem ist die selektive Schärfe deutlicher als im Weitwinkelbereich, der die größere Schärfentiefe hat und so eine selektive Fokussierung auf einen bestimmten Gegenstand, wie ein Gesicht, nur eingeschränkt zulässt. Das Einzoomen (Zoom-In) ist in dieser besonderen Veränderung der Perspektive nicht einfach ein Vergrößern, sondern die Einschränkung der räumlichen Weite mit einer besonderen Konzentration auf das fokussierte Objekt. Beim Herauszoomen (Zoom-Out) entsteht der gegenteilige Effekt. Technologien zur Veränderung der Brennweite eines Linsensystems sind schon in den 1830er Jahren in Teleskopen entwickelt worden. Peter Barlow, ein britischer Mathematiker und Physiker, stellte ein solches optisches System 1834 der Royal Society vor und der italienische Erfinder Ignazio Porro entwickelte in den 1850er Jahren ein weiteres derartiges Teleskop. Das erste Patent für ein fotografisches Zoomobjektiv wurde 1902 an Clile C. Allen vergeben. Er beschrieb es als ein Objektiv:
11 Eine gleichbleibende Blende ist allerdings nicht immer gewährleistet und erfordert insbeson-
dere bei lichtstarken Objektiven eine aufwendige Bauweise.
728
whereby the focal length of the lens system may be varied without removal or substitution of some part of the lens system, and to provide, further that the image formed by the objective shall remain at a fixed distance with reference to the objective for all variations of the focal length.12
Anwendungsfälle dieser Optik sind leider nicht dokumentiert. Die Entwicklung schritt im 20. Jh. schnell voran, zuerst für den Film und später für das Fernsehen. In der Fotografie spielte das Zoom auch aufgrund seiner Größe und den hohen Herstellungskosten zuerst keine Rolle. Die erste einschlägige Entwicklung tätigte dann der Special-Effect-Techniker Rolla T. Flora bei Paramount, sein erstes Patent datiert auf 1927. Auf ihn geht auch die vielleicht erste Theoretisierung des Objektivs zurück. In seiner Patentschrift heißt es:
The effect gained by gradually merging a long shot into a close-up, or vice-versa, is greatly superior to that gained by an abrupt change from one to the other, as is well recognized and my apparatus is especially well fitted to carry out this effect. Furthermore, there are many situations where it is impossible to use the usual method of making „approach“ or receding shots which may be handled most advantageously by my apparatus […] On the other hand, my device enables the set-up of the camera at the edge of the inaccessible terrain, and then,
12 Allen: Optical Objektive U.S. Patent 696788.
Zoomen Kontexte
Assume, for instance, that it be desired to take a relatively „long shot“ of a landscape and then take a close-up of some detail thereof. The usual method of accomplishing this would involve either two camera settings one for the long shot and the other for, the closeup, or else the mounting of the camera on a car which is advanced toward the object while the cameraman constantly changes his focus to agree with the variable distance therefrom. Both of these operations call for laborius preparations and are necessarily costly. In contradistinction to this, the same situation may be handled by my device with but a single setting of the camera. The camera is set up to take the long shot and while the film is being exposed the lenses are moved as described above to cause the gradual magnification or increase of linear dimensions of the image on the film, thus giving the effect of a gradual change from a long shot to a close- up. […]
Z 729
by moving the lenses, the effect of approach or recession may be simulated, or a long shot may be followed by a close-up of some detail.13
Zoomen Kontexte
Er spricht damit zwei vermeintliche Vorteile der neuen Technologie an, einerseits die (Arbeits-)Ökonomie im Sinne einer Ersparnis für die Produktion und andererseits, dass mit diesem ‚approach‘ eine Annäherung in unzugänglichem Gelände möglich wird, die mit der bis dahin verfügbaren Kameratechnik sonst nicht durchzuführen wäre. Er thematisiert eine virtuelle Bewegung im Film, die so schon bei ihrem frühen Einsatz im Film IT (Clarence G. Badger, 1927)14 augenfällig wird. Die Eingangssequenz zeigt den Blick auf das Signet ‚Waltham’s Worlds Largest Store‘ auf dem Dach des Kaufhauses, erhöht von einem gegenüberliegenden Haus, um dann mit einem Zoom-Out die Fassade in einem kleinen Schwenk nach unten abzufahren und mit einem Zoom-In den Eingang des Kaufhauses in den Blick zu nehmen und auf die Menschen im Kaufhaus überzublenden. Diese Bewegung wäre mit einer Kamera ohne Zoom-Objektiv nur unter enormem logistischem Aufwand zu realisieren gewesen und ist damit ein frühes Beispiel für diesen besonderen ‚approach‘, der sowohl ökonomisch als auch physikalisch bedeutend ist. Der ebenfalls für Paramount arbeitende Kameramann und Ingenieur Joseph B. Walker entwickelte auf diesen Vorarbeiten ein Zoomobjektiv, welches er „Traveling Telephoto Lens“ nannte und das in der Folge weiten Einsatz fand.15 Die erste industrielle Produktion eines einsatzfähigen Zoomobjektivs war das 1932 eingeführte Bell & Howell „Cooke Varo“ 40–120 mm-Objektiv für 35mmFilmkameras.16 1936 brachte die Emil Busch AG (Rathenow) das Vario-Glaukar 2,8/25–80 mm für die Siemens FII 16mm-Schmalfilmkamera heraus.17
13 Flora: Photographic apparatus. U.S. Patent 1790232A, 1927 [Hervorh. W.G.]. 14 Der Film ist auf YouTube verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=yPUecxyHTIU
[aufgerufen am 27.05.2021].
15 In Filmen wie IT (Clarence G. Badger, 1927), Dirigible (Frank Capra, 1931), Love Me To-
night (Rouben Mamoulian, 1932) und American Madness (Frank Capra, 1932).
16 Vgl. Hall: The Zoom, S. 37 ff. 17 Auffällig ist, dass in den Technikgeschichten zum Zoom in der Frühzeit eine amerikanische
Dominanz vorzuherrschen scheint, die, wie das Busch-Beispiel zeigt, nicht unbedingt gerechtfertigt ist. So beschreibt Nick Hall in seiner einschlägigen Arbeit zum Zoom die Frühzeit des Zooms als eine amerikanische. Vgl. Hall: The Zoom.
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18 Vgl. ebd., S. 51 ff. 19 Back: Varifocal lens for cameras. U.S. Patent 2454686, 1946. 20 Back: Reflex camera varifocal lens. U.S. Patent 2902901, 1958. 21 Xfach zeigt den Vergrößerungsfaktor an. 22 Vgl. Hall: The Zoom, S. 73 ff. 23 Vgl. ebd., S. 97 ff.
Zoomen Kontexte
Wesentliche Weiterentwicklungen gingen nach dem Zweiten Weltkrieg von Frank Back,18 einem Ingenieur aus Österreich, aus, der das Zoomar-Objektiv entwickelte, welches in der TV Produktion US-Amerikas eine breite Anwendung fand.19 Ihm ist es auch zu verdanken, dass das Zoom Eingang in die Fotografie fand, da er 1959 das erste Zoomobjektiv für Spiegelreflexkameras entwickelte. Es wurde ab Anfang der 1960er Jahre von Voigtländer in Braunschweig hergestellt und als Voigtländer-Zoomar20 1:2,8/36–82 mm vermarktet. Damit beginnt die Einführung dieser Technologie in die Fotografie, die aber, anders als im Film, kaum eine eigenständige Ästhetik hervorbringen konnte, da das statische Bild der Fotografie eine Zoom-Bewegung nur in experimentellen Langzeitbelichtungen zu zeigen imstande ist. Die Technikgeschichte des Zooms ist lang und verzweigt, und es wären einige weitere wichtige Entwickler*innen zu nennen: So z.B. Roger Cuvillier, der zusammen mit seinen Kollegen Lucien Reymond und Raymond Rosier der Erfinder des SOM-Berthiot-Zoomobjektivs „Pan Cinor“ (ein 4fach Zoom21) war.22 In der amerikanischen Film- und Fernsehproduktion ist dieses Objektiv eine Art Zwischenglied zwischen dem Zoomar-Objektiv, das in den Fernsehproduktionen weit verbreitet war, aber kaum für Filmproduktionen eingesetzt wurde, und dem 10fach-Objektiv Angénieux, das 1958 auf den Markt kam. Pierre Angénieux ist der Erfinder des ersten 10fach-Zoomobjektivs (12– 120 mm Brennweite) für Filmkameras, das nach längerer Entwicklungszeit ab 1958 vermarktet wurde.23 Er leistete einen der wichtigsten Beiträge zur Entwicklung des Zoomobjektivs und den damit möglichen Gestaltungen. Sein Objektiv ermöglichte extremere Zoom-Effekte, die in den 1960er und 1970er Jahren im europäischen und amerikanischen Kino eine wichtige Rolle für die Ästhetik vieler Filme spielen sollten. Im Film sind Zoom-In und Zoom-Out die beiden entgegengesetzten Veränderungen des Bildes, eine Annäherung an oder Entfernung vom Gegenstand
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Zoomen Kontexte
bei gleichbleibender Position der Kamera. Zoomen wird dann allgemein zu den kinematografischen Bewegungsformen24 gezählt und reiht sich ein in eine Geschichte des Diskurses über Kameras und Kamerabewegungen,25 als eine Übersetzung dessen, wie Menschen die Welt sehen. Schon F.W. Murnau setzte Auge und Kamera gleich: „To me the camera represents the eye of a person, through whose mind one is watching the events on the screen.“26 Diese Antropomorphisierung der Kamera27 als Bewegung der Augen oder/und des Körpers hat eine lange Tradition, sie ist aber ästhetisch schon früh angezweifelt worden, und hierfür liefert das Zoomen ein Argument: Der Mensch kann die Brennweite seiner Augen nicht verändern, sie sind dauerhaft auf die gleiche Brennweite eingestellt. Bei einem Objektiv ist das die sogenannte Normalbrennweite, sie liegt bei rund 50 mm bezogen auf das Kleinbildformat bzw. den 35 mm Film. Der Fokus des Auges kann zwar aktiv verändert werden, die wahrgenommene Entfernung ohne Hilfsmittel (Fernglas, Lupe etc.) aber nicht. Schon im eingangs erwähnten Film IT von 1927 wird der Zoom-Effekt genutzt, um filmische Bewegungen zu vollziehen, die ein Mensch nicht ausführen könnte.28 So kann auf die Kamera als agierendes Objekt und damit auf eine artifizielle Bedingtheit des Films aufmerksam gemacht oder z.B. auch psychische Zustände einer Protagonistin visualisiert werden. Ein schneller Zoom auf eine Person kann narrativ als Visualisierung der Konzentration eines Blicks verstanden werden. In der Fotografie ist das Zoomen in erster Linie eine ökonomische Entscheidung zugunsten des geringeren Gewichts eines Zoomobjektivs im Verhältnis
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24 Vgl. zur Übersicht: Nielsen: Camera Movement in Narrative Cinema. S. 309 ff. Er unterscheidet hier den Zoom von Kamerabewegungen als „mobile framing“. 25 Vgl. beispielsweise Bordwell: Camera Movement and Cinematic Space. In: Ciné-Tracts, Nr. 1/2 (1977). 26 Murnau: Films of the Future (1927). In: Koszarski (Hrsg.): Hollywood Directors, 1914–1940, S. 219. 27 Vgl.: Sobchack: Toward Inhabited Space. In: Semiotica, no. 1–4 (1982). 28 In diese Zeit – Ende der 1920er Jahre – fallen auch erste intensive Nutzungen von Technologien wie Kran und Dolly, die den Blick der Kamera weiter deutlich von ihrer vermeintlich antropomorphen Bedingtheit entfernen. Vgl. Keating: A Homeless Ghost. n: [in]Transition: Journal of Videographic Film & Moving Image Studies 2/4.
29 Vgl. Schneider/Walsh: The politics of zoom: Problems with downscaling climate visualizati-
ons. In: Geography and Environment, Vol. 6, Issue1 ( January–June 2019). Unter: https://rgs-ibg. onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/geo2.70 [aufgerufen am 24.03.2021]. 30 Eine der wenigen frei verfügbaren Peer-to-Peer- Software-Architekturen in diesem Bereich. 31 Zoom Video Communications, Inc. 2011 von Eric Yuan in San Jose/Kalifornien gegründet. 32 Die Nutzung von Zoom stieg innerhalb kürzester Zeit von 10 Millionen täglichen Meeting-Teilnehmer*innen im Dezember 2019 auf über 300 Millionen im April 2020. Vgl. Warren: Zoom admits it doesn’t have 300 million users, corrects misleading claims (2020). In: The Verge. Unter: https://www.theverge.com/2020/4/30/21242421/zoom-300-million-users-incorrectmeeting-participants-statement [aufgerufen am 24.03.2021].
Zoomen Kontexte
zu mehreren Festbrennweiten, die in der Regel auch kostspieliger sind. Dieser Vorteil ist für die sogenannten Reise-Zooms namensgebend. Die Abbildungsleistung von Zoomobjektiven ist im Verhältnis zu Festbrennweiten in der Regel schlechter, der Nachteil wird aber oftmals wegen der höheren Flexibilität in Kauf genommen. Eine besondere Ästhetik des Zooms hat sich in der Fotografie, mit den wenigen experimentellen Aufnahmen, in denen bei langer Belichtungszeit gezoomt wird, nicht etabliert. In diesem besonderen Fall scheinen sich Bildelemente von der Bildmitte zum Bildrand bzw. umgekehrt zu ‚bewegen‘. Neben den hier ausgeführten Kontexten in Film und Fotografie wird der Begriff in der Computervisualisierung seit den frühen 1960er Jahren und zunehmend in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit grafischen User Interfaces verwendet.29 Mit dem Aufkommen des Smartphones und damit dem paradigmatischen Einsatz von Touchscreens wird das hier Zoomen genannte Vergrößern eine alltägliche Multi-Touch-Geste. Der Beginn der Covid-19-Pandemie sorgte seit März 2020 dafür, dass Zoomen zum Synonym für Videokonferenzen bzw. Online-Treffen geworden ist. Mit der Notwendigkeit der Kommunikation aus sicherer Umgebung bekamen Videokonferenzsysteme wie Jitsi,30 BigBlueButton, MS-Teams, Skype, Google Classrooms und viele andere zu Beginn 2020 eine enorme Nachfrage. Das Unternehmen Zoom31 hatte sich schnell den Ruf der am einfachsten zu handhabenden Videokonferenz-Software erarbeitet.32 Da spielten zunächst viel diskutierte Sicherheitslücken und Datenschutz schnell keine Rolle mehr, die Software funktionierte unter vielen Bedingungen einfach unproblematisch. Dieses Zoomen ist verantwortlich für die Zuspitzung einer Perforation der
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Grenze von Privat- und Arbeitssphäre bzw. Öffentlichkeit, die mit der Eta blierung digitaler mobiler Kommunikationsgeräte tendenziell schon gegeben ist. Zoomer ist aktuell auch Bezeichnung für eine bestimmte Generation von Menschen: Ein Zoomer ist ein Mitglied der Generation Z, der Generation von Menschen, die in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren geboren wurden. Sie folgen auf die Millennials, auch bekannt als Generation Y.33
Zoomen Konjunkturen
KONJUNKTUREN Das Zoomen hat einige Konjunkturen. Im Kino beginnt
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sein Einsatz in den späten 1920er Jahren, im TV mit dem Zoomar in den 1950er Jahren, hier kann es seine Versatilität insbesondere bei Einsätzen außerhalb des Studios unter Beweis stellen: Sportereignisse, Paraden, Wahlkämpfe und ähnliche Anlässe lassen sich mit dem Zoomar wesentlich flexibler aufnehmen als mit Wechselobjektiven34 oder räumlich beschränkten Kamerafahrten. Fotograf*innen nutzen es seit der Herstellung des Voigtländer-Zoomar Anfang der 1960er Jahre und verstärkt mit Zoom-Optiken von Vivitar. Es wird in diesem Zusammenhang oft als ‚Reise-Zoom‘ bezeichnet. Heute ist ein optischer Zoom in den meisten kompakten Digitalkameras verbaut. Allerdings gibt es hier häufig einen fließenden Übergang vom optischen zum digitalen Zoom, das keine Veränderung der Brennweite vollzieht, sondern im Prinzip das aufgenommene Bild nur noch algorithmisch vergrößert, was einen Verlust an Detail und Schärfe mit sich bringt. Oftmals ist der Übergang von analogem (optischem) zu digitalem (algorithmischem) Zoom in der Bedienung dieser Kameras für die User*innen nicht zu bemerken. Auf diese Weise ist das Zoom in diesen Kameras ein frühes Beispiel für die hybride Verbindung von Hardware und Software, die in heutigen digitalen fotografischen Apparaten eine kaum noch zu trennende Einheit bei der Bildproduktion herstellen.
33 Vgl. (Art.) Zoomer. In: Merriam Webster online. Unter: https://www.merriam-webster.com/
words-at-play/words-were-watching-zoomer-gen-z [aufgerufen am 24.03.2021], dort werden auch noch einige andere Verwendungen des Wortes im Kontext der englischen Sprache genannt. 34 Es existieren allerdings sogenannte Objektivrevolver-Systeme (rotating lens turrets), die einen schnellen Wechsel zwischen Objektiven möglich machten. Sehr prominent geworden mit der Bolex S.A. aber schon 1927 von Bell & Howell im Film Model C eingeführt.
35 Auch hier hat Bolex neben Kodak das Zoom populär gemacht. 36 Zur komplexen Geschichte des Einsatzes in Film und Fernsehen siehe ausführlich: Hall: The
Zoom.
37 Der Ästhetik des Zooms wird regelmäßig eine gewisse Minderwertigkeit zugeschrieben, da
es verbreitet im Fernsehen eingesetzt wurde, das auch ästhetisch als billig galt.
38 Einige dieser Regisseur*innen kamen aus der TV-Produktion zum Film und waren gewohnt,
mit dem Zoom zu arbeiten (z.B. Frankenheimer, Pollack und Altman). Vgl. Belton: The Bionic Eye: Zoom Esthetics. In: Cinéaste, S. 24. 39 Zum Dolly-Shot siehe ausführlicher unter Gegenbegriffe in diesem Eintrag.
Zoomen Konjunkturen
Schmalfilm-Amateur*innen nutzen das Zoom ab den frühen 1970er Jahren.35 Im Kino erlebt es regelmäßig Konjunkturen,36 z.B. im sogenannten ItaloWestern,37 aber auch in Hollywood, wo es besonders von Protagonist*innen wie Stanley Kubrick, Francis Ford Coppola, Robert Altman, John Frankenheimer und Alfred Hitchcock genutzt wird.38 Hitchcock erfindet dann sogar einen Zoom-Effekt, der oft nach seinem berühmten Einsatz im Film VERTIGO (1958) Hitchcock- oder Vertigo-Shot genannt wird, in der Fachwelt aber als Dolly-Zoom39 bezeichnet wird. Er wird durch ein Zoomen erreicht, während die Kamera sich gleichzeitig auf das Motiv zu- oder von ihm wegbewegt, so dass das Motiv im Bildausschnitt die gleiche Größe behält. Während des Zooms kommt es zu einer kontinuierlichen perspektivischen Verzerrung, die sich vor allem dadurch bemerkbar macht, dass der Hintergrund seine Größe relativ zum Motiv ändert. Die fortlaufende Änderung dieser Größenverhältnisse ist für die menschliche Wahrnehmung sehr ungewohnt, und es entsteht ein beunruhigender Effekt, der eine starke emotionale Wirkung erzeugen kann. Der sogenannte Snap- oder Whip-Zoom ist ein weiterer spezieller ZoomEffekt, eine extrem schnelle Zoombewegung auf das Objekt zu oder von dem Objekt weg. Er wird verwendet, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf einen bestimmten Teil des Bildes zu lenken, oftmals sind es Gesichter oder Augen. In seiner extensiven Verwendung von z.B. Quentin Tarantino in KILL BILL: VOLUME 1 (2003) erinnert er auch an den Stil des ‚Kung-Fu‘-Films der 1970er Jahre. Der Ken-Burns-Effekt ist eine Art Schwenk- und Zoomeffekt (pan and zoom), der bei der Videoproduktion eingesetzt wird, wenn nur ein Standbild
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Zoomen Konjunkturen
bzw. eine Fotografie zur Verfügung steht.40 Diese Art der Bewegung, die kinematische Technik mit Fotografie und Computertechnologie verbindet, wurde 2003 mit iPhoto- und iMovie-Software von Apple eingeführt und wird bis heute in den automatisch generierten Slideshows von Apple-Photos als Effekt zur Animation der stehenden Bilder zur Verfügung gestellt.41 „Rather than absorbing us in a singular manner each image seems to nudge us toward another,“42 beschreibt Martin Lister die besondere Rezeption beweglicher Stand-Bilder. Ivan Sutherland entwickelte 1963 mit dem Sketchpad das erste Programm zum Erstellen grafischer Strukturen, das eine zoombare Grundstruktur hatte. Er begründet damit die Idee der grafischen User Interfaces (Graphical User Interface: GUI) und gleichzeitig eine frühe Form zoombarer Benutzeroberflächen (Zoomable User Interface: ZUI). ZUIs sind Benutzeroberflächen, in denen Benutzer*innen den Maßstab des angezeigten Bereichs ändern können, um mehr oder weniger Details zu sehen und durch verschiedene Dokumente zu scrollen.43 Informationselemente erscheinen direkt auf einer unendlichen virtuellen Arbeitsfläche anstatt in Fenstern.44 Mit deren Popularisierung in den 1980er Jahren und entsprechender Software wird das Zoomen dann in mindestens zwei Weisen eingesetzt: Erstens ist es als Zoomen im Sinne eines Vergrößerns in vielen Bildbearbeitungs- und Desktop-Publishingprogrammen als Funktion enthalten und zweitens als Suchbewegung in einer Software auf ein gewähltes Informationsziel hin, von der Übersicht zum Detail: „Overview first, zoom and filter, then details-on-demand.“45
736
40 Namensgebend ist der amerikanische Dokumentarfilmer Ken Burns, der diesen Effekt häufig
einsetzte.
41 Vgl. Hölzl: Moving Stills: Images That are no Longer Immobile. In: Photographies. 42 Lister: Introduction. In: Ders. (Hrsg.): The Photographic Image in Digital Culture, S. 9. 43 Eine GUI-Umgebung der 70er Jahre, die die Zooming-Idee nutzte, war Smalltalk, das über
unendliche Oberflächen verfügte, in die aus einer Vogelperspektive hineingezoomt werden konnte. Entwickelt von der Learning Research Group (LRG) von Xerox PARC: Alan Kay, Dan Ingalls, Adele Goldberg, Ted Kaehler, Diana Merry, Scott Wallace und anderen. 44 Diese Art des Interface wird auch in heutigen kollaborativen Tools wie Miro wieder angewendet. Siehe: https://miro.com/ 45 Shneiderman: The eyes have it. In: Computer Science Proceedings 1996 IEEE Symposium on Visual Languages, S. 2.
In der Funktion der Vergrößerung wird es heute meist als Lupenwerkzeug46 angezeigt und ist de facto nur eine Veränderung der Darstellung desselben Bildes (Information) im Verhältnis zur Auflösung des Monitors, so dass die Pixel im Bild in anderen Verhältnissen als 1:1 dargestellt werden.47 Die gleiche Form des Zoomens tritt als Standardgeste auf den heutigen Touchscreens mobiler Endgeräte auf. Mit der Multitouch „Pinch-to-Zoom-Geste“ kann das jeweilige Bild vergrößert werden.48 In 3D Software (CAD Programmen oder auch Computerspielen) werden optische Systeme simuliert, indem sich die Anzeige der 3D Objekte im Display auf ein virtuelles Objektiv bezieht. Wenn in 3D Simulationen gezoomt wird, bleibt allerdings in der Regel der Aufnahmewinkel gleich. Diese Funktion entspricht daher eher einer Kamerafahrt als einem optischen Zoom, trotzdem wird auch hier von Zoomen gesprochen. Ein Unterschied ist, dass diese Systeme meist vektorbasiert und nicht wie Bildverarbeitung pixelbasiert sind, damit kann die Zoom-Bewegung zumindest theoretisch unendlich sein. Eine gewisse Popularität erlangten Zoom-Bücher, die in einer Art Daumenkino distinkte Abstandsveränderungen – Sprünge – zum Ausgangsmotiv vollziehen. Das sehr bekannt gewordene, 1957 erschienene Buch COSMIC VIEW: 49 THE UNIVERSE IN 40 JUMPS von Kees Boeke visualisiert, ausgehend von der Aufsicht eines Mädchens, das auf einem Liegestuhl sitzt und eine Katze im
Computermonitor das Dokument in seiner exakten Ausgabegröße dargestellt wurde. Das funktionierte nur so lange, wie die Auflösung nicht variabel einstellbar war und die Displays in der Regel 72 dpi besaßen. 48 Roger Dannenberg, Paul McAvinney und Dean Rubine arbeiteten bereits ab 1983 an einer der ersten Multitouch-Oberflächen der Welt: „The Sensor Frame“ genannt. 1985 wurden dann die verschiedene Multitouch-Gesten auf dem Sensor-Frame-System an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh vorgeführt. Die Pinch-to-Zoom-Geste war dort schon etabliert. Vgl. McAvinney: The Sensor Frame. Vgl. auch die Patentschrift McAvinney: Method and apparatus for isolating and manipulating graphic objects on computer video monitor, US4746770A, 1987. 49 Neben diesem Buch des niederländischen Pädagogen, Sozialisten und Pazifisten erlangten später die Zoom-Bücher des Illustrators Istvan Banyai einige Popularität. Das erste „Zoom“ erschien 1995 und wurde als eines der besten Kinderbücher des Jahres von The New York Times und Publishers Weekly ausgezeichnet. Es wurde in 18 Sprachen übersetzt. In diesen Büchern werden ähnliche, aber stärker grafisch und narrativ angelegte Dimensionssprünge vollzogen.
Zoomen Konjunkturen
46 Wie z.B. schon 1990 in der ersten Version von Photoshop. 47 Die ursprüngliche Idee des wysiwyg (what you see is what you get) war, dass auf einem
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Arm hält, insgesamt 40 Dimensionssprünge.50 Zuerst bis hinaus ins Weltall, um dann in einer Gegenbewegung durch Haut und Moleküle in die kleinsten bekannten Teilchen vorzudringen. Ein cm im Ausgangsbild sind 10 cm in der Welt. Im letzten Bild der Bewegung in den Weltraum im Maßstab 1026 wird das All aus einem Abstand zur Erde von ungefähr 100 Millionen Lichtjahren gezeigt. Ein sehr weiter Zoom-Out. Das Buch setzt dann, ausgehend vom Bild des Mädchens, in einer Zoom-In Bewegung wieder an, um in 13 Dimensionssprüngen durch die Haut ins Innere des Körpers vorzudringen und am Ende bei dem Nukleus eines Natrium-Atoms zu landen. Man erkennt das
Zoomen Konjunkturen
Anliegen, die Erkenntnisse der Wissenschaft zu thematisieren, die Verbundenheit von Kleinstem und Größtem zu demonstrieren, den Maßstab der menschlichen Wahrnehmung aufzugreifen, zu bedienen, ihn gleichzeitig zu verfolgen und an seine Grenzen zu führen.51
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Dieses Buch ist das Vorbild für den paradigmatischen Lehrfilm von Ray und Charles Eames THE POWERS OF TEN aus dem Jahr 1977, der eine sehr ähnliche Visualisierung im Film als kontinuierliche Bewegung nachvollzieht: Ausgehend von einen Paar, das auf einer Wiese in Chicago picknickt, wird der Zoom-Out ins Weltall vollzogen, um dann in einer beschleunigten kontinuierlichen Rückbewegung über die Hand des Protagonisten durch Zellen und Moleküle auch im kleinsten damals bekannten Teilchen – den Quarks – anzukommen.52 Bemerkenswert ist der fast nahtlose Übergang von Film, Fotografie und Computergrafik, der nicht nur ein Zoom durch Dimensionen und Wissensformen ist, sondern auch durch Visualisierungsstrategien, die sich in dieser Bewegung erstaunlich bruchlos zeigen. Eine Geste der Verfügung, die sich als dezentral überall verfügbar und jeden Ort auf der Erde in den Blick
50 Beginnend mit einer Bewegung vom Ausgangsbild, die 26 Mal eine Zehnerpotenz im Maß-
stab von 1:10 über 1:102 bis zu 1:1026 hinzufügt bzw. in der Gegenbewegung zu 1:10-13 abzieht. 51 Bergermann: Das Planetarische. In: Bergermann/Otto/Schabacher (Hrsg.): Das Planetarische, S. 17–42, hier: S. 36. 52 Auch eine Bewegung durch 40 Potenzen von 1024 bis zu 10-16 Metern. Siehe: https://www. youtube.com/watch?v=0fKBhvDjuy0 [aufgerufen am 24.03.2021].
nehmend in der Software GoogleEarth und anderen Geo-Visualisierungssystemen heute auf neue Weise zeigt. Mit der Videokonferenz-Software Zoom war schnell das Synonym Zoomen für die in der Covid-19-Pandemie notwendig gewordene körperliche Distanzierungsstrategie gefunden. Kommunikative Nähe wird medial hergestellt unter gleichzeitiger Ausblendung direkt wahrnehmbarer körperlicher Signale. Das birgt ein nicht unerhebliches Konfliktpotenzial. Eine Dissonanz in der Wahrnehmung, die durch asynchrone Übertragung unterstützt werden kann.53 Der Schirm soll vor Infektion schützen, gleichzeitig aber rekonstituiert er, wie Simon Strick ausgeführt hat: die Interaktion zwischen Körper und Maschine im Paradigma einer glatten Oberfläche und der berührungslosen Intimität, welches jede Möglichkeit einer illegitimen Benutzung und des Eindringens unmöglich macht. Das Innere der Technologie – der Code – wird versiegelt und immunisiert, seine Benutzung wird dank metaphorisch berührbarer Bilder (Icons) simpel, persönlich, produktiv und nicht-invasiv. Die Rechenmaschine wird im Jargon von Apple damit zum tatsächlichen Personal Computer, dessen ebenso sichere wie intime Interaktion mit den Nutzer_innen sich ausschließlich in einer heimeligen Szenerie jenseits anonymer, eindringender, manipulativer Erreger abspielt.54
53 Vgl.: Sacasas: A Theory of Zoom Fatigue. In: The Convivial Society. Unter: https://
theconvivialsociety.substack.com/p/a-theory-of-zoom-fatigue [aufgerufen am 24.03.2021].
54 Strick: The Straight Screen. In: Feministische Studien: S. 228–244, hier: S. 234 f. 55 Villi: ‚Hey, I’m Here Right Now‘. In: Photographies, S. 3–22, hier: S. 4. 56 An einer Technologie, die virtuellen Augenkontakt möglich machen soll, arbeitet das
Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik, Heinrich-Hertz-Institut, HHI. Vgl. https://www. hhi.fraunhofer.de/en/departments/vit/technologies-and-solutions/capture/virtual-eye-contact- engine.html [aufgerufen am 24.03.2021].
Zoomen Konjunkturen
So ist Zoomen Schutz und unüberwindbare Oberfläche, die suggerierte Nähe verschwindet hinter der gläsernen Schicht des Displays. Und die „visually mediated present presence“55 bleibt eine Präsenz, die nicht mehr ist als eine von Softwarebedingungen geregelte Co-Präsenz am Schirm: Blicke, die sich nicht mehr begegnen (können).56
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GEGENBEGRIFFE Der Gegenbegriff zum Zoom im Kontext der Kamera ist
Zoomen Gegenbegriffe
die sogenannte Prime Lens (Festbrennweite), ein Objektiv, dessen Brennweite nicht veränderlich ist und somit immer das gleiche Verhältnis zum aufgenommenen Raum hat. Einer der zentralen Gegenbegriffe ist Vergrößern, in Michelangelo Antonionis Film BLOW UP (1966) aufs Schönste mit der Vergrößerung eines analogen Kleinbildfilms vorgeführt.57 Der Protagonist des Films, ein Fotograf (David Hemmings), vergrößert das Detail eines Kleinbildfilmes mittels Zwischennegativ – auf der Suche nach einem vermeintlich Ermordeten im Bild – bis nur noch das Korn, die abstrakte materielle Basis des Films, sichtbar ist und damit das Medium in Erscheinung tritt. Auf ähnliche Weise funktioniert das Vergrößern digitaler Bilder auf den Displays von Smartphones, Tablets, Laptops und Computern: Das sogenannte Zoomen ist hier in der Regel auch ein Vergrößern. Das Bild kann bis auf seine grundlegende Einheit, das Pixel,58 vergrößert werden, allerdings gibt es jenseits dieser distinkten kleinsten Einheit des Bildes keine weitere Information zu erkennen. Die Ordnung, die sichtbar wird, ist im Gegensatz zum analogen Film immer wieder dieselbe rasterförmige Anordnung von Punkten, nachvollziehbar organisiert in einem xy-Koordinatensystem. Mit verschiedenen Bewegungen der Kamera wird ein dem Zoom visuell ähnelnder Effekt erzeugt. So kann auch das Bewegen als einer der Gegenbegriffe zum Zoomen genannt werden.
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One tool I never use is the zoom lens, because it doesn’t correspond to my idea of filmmaking. The zoom is just an optical gadget; it’s purely practical. And I will always prefer moving the camera, because I find that it physically projects you inside the film’s space. And zooming doesn’t achieve that. It keeps you outside.59
57 Eine in der Filmgeschichte immer wieder auf unterschiedliche Weise vorgeführte Strategie:
der Versuch, in einem schon vorhandenen Material durch Vergrößerung nachträglich Evidenz zu erzeugen. 58 Vgl. Lyon: A Brief History of ‚Pixel‘. In: Proceedings of SPIE – The International Society for Optical Engineering. 59 Cronenberg. In: Tirard (Hrsg.): Moviemakers’ Master Class, S. 108.
Der Dolly Shot ist dem Zoomen im visuellen Effekt ähnlich, hat aber eine völlig andere Wirkung. Beim Dolly Shot handelt es sich um die Bewegung der Kamera auf einem vorher festgelegten Weg, die in der Regel mit der Kamera auf einem Wagen, der auf Schienen fährt, vollzogen wird. Hier gibt es wie beim Zoomen ein dolly in und ein dolly out: eine Bewegung auf das Objekt/ Subjekt der Betrachtung zu oder das Gegenteil davon. Der entscheidende Unterschied ist, dass sich die Kamera durch den Raum bewegt und dadurch eine andere Vorstellung vom Volumen eines Objekts gegeben werden kann: „In dollying, we find it’s a good idea to pass things in order to get the effect of movement. We always noted that if we dollied past a tree, it became solid and round instead of flat.“60 Im Zoom-In würde sich die Perspektive auf diesen Baum nicht ändern, er würde in derselben Perspektive aus dem Brennweitenbereich verschwinden und kaum an Volumen gewinnen. Als weiterer Gegenbegriff könnte das Beamen gelten: sich nicht nur optisch an einen Ort begeben, sondern physisch an den Ort transportiert werden. Dieses Science-Fiction Prinzip wurde auch für eine Videokonferenz-Software namensgebend: Beam.61 Auch das Fraunhofer Institut forscht an Virtual Reality und Videokonferenz-Systemen, die zumindest sprachlich mit dem Beamen verbunden werden.62
tung des Zoomens verändern. Ein Zoom wird heute in der digitalen Filmproduktion oftmals durch eine virtuelle Kamerafahrt bzw. durch einen Flug mit der Drohne ‚substituiert‘. Durch die Drohne wird die eingangs durch Rolla T. Flora bemerkte Beschränkung des „approach“ körperlich wie ökonomisch neu überwunden. Eine Bewegung der Kamera die zwei Formen der Bewegung miteinander verbindet: eine Annäherung oder Entfernung (wie beim Dolly) bei gleichzeitiger
60 Alan Dwan zit. n. Bordwell: Camera Movement and Cinematic Space. In: Ciné-Tracts,
S. 19–25, hier S. 23.
61 Siehe: Beam: https://beamconference.com/ [aufgerufen am 24.03.2021]. 62 Vgl. „Zur Videokonferenz beamen“ Forschung Kompakt / 01. September 2016. Unter: https://
www.fraunhofer.de/de/presse/presseinformationen/2016/september/zur-v ideokonferenzbeamen.html [aufgerufen am 24.03.2021].
Zoomen Perspektiven
PERSPEKTIVEN Es sind mehrere Aspekte, die die Ästhetik und die Bedeu-
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Zoomen Forschung
freier Bewegung in allen drei Raumachsen. Zuerst wurden beim Einsatz von Drohnen keine Zooms genutzt, aber in jüngerer Vergangenheit werden Drohnen auch mit dieser Technik ausgestattet,63 so dass sämtliche Bewegungsarten im Film jederzeit in alle Richtungen mit einem Apparat vollzogen werden können. Dies führt allerdings zu einer erheblichen Steigerung der Komplexität bei der Steuerung dieser Bewegungen. Es werden dann oftmals eine Drohnenpilotin und eine Kamerafrau für die Aufnahme eingesetzt. Der Begriff Zoomen hat in den letzten Jahrzehnten mit der Einführung digitaler Technologien eine weitere Veränderung erfahren. Er bedeutet nicht mehr das kontinuierliche Verändern der Brennweite, sondern ist synonym geworden für das Vergrößern. Viele Anwender*innen bemerken – wie beschrieben – den Unterschied nicht, wenn der analoge optische Zoom einer digitalen Kamera in eine digitale Vergrößerung (digitaler Zoom) des Bildes überspringt. Auf dem Smartphone wird der Zoom als Multitouch-Geste mit zwei Fingern auf dem Display durchgeführt. Es handelt sich um die gleiche Bewegung, die sonst bei der Vergrößerung der Darstellung auf dem Screen vollzogen wird. Dass diese Vergrößerung endlich ist und danach nur noch eine Vergrößerung der technischen Basis (Pixel) des Bildes vollzogen wird, ist den meisten Anwender*innen nicht klar. Der Touchscreen ist ein Katalysator für die Verbindung von Sehen und Bedienen: „The haptic nature of the touch screen technology transforms the practice of screening; it foregrounds the temporal collapse between making and viewing images.“64 Wie die von der Pandemie angetriebene Video-Konferenz unsere kommunikative Zukunft verändern wird, ist noch nicht abzusehen, das Synonym dafür ist erstmal etabliert: Zoomen. FORSCHUNG Im Diskurs um das Zoomen im Film steht meist im Vorder-
grund, welche Art von Kamera bzw. filmischer Bewegung durch das Zoom vollzogen wird und wie sich Raum und Zeit dazu verhalten. Vivian Sobchack z.B. unterscheidet vier Bewegungsarten: Die erste und älteste Bewegung ist
63 Spätestens 2018 mit der Einführung der DJI Mavic 2 Zoom ist diese Kombination im semi-
professionellen Kontext angekommen.
64 Verhoeff: Grasping the Screen. In: van den Boomen et al. (Hrsg.): Digital Material: Tracing
New Media in Everyday Life and Technology, S. 209–222, hier S. 214.
742
die des Menschen oder der Objekte innerhalb des Bildes; die zweite ist die Bewegung zwischen den Bildern (der Schnitt); die dritte ist die optische oder visuelle Bewegung des Bildes aus einer festen Position (der Zoom) und die vierte ist die körperliche Bewegung der Kamera selbst.65 John Belton hält für den Zoom fest:
Im Kontext des Computers ist das Zoomen als Vergrößern kaum erforscht. Es taucht aber regelmäßig in der Auseinandersetzung mit dem Interface auf, zuerst als Eigenschaft des grafischen User-Interface: „There are many visual design guidelines but the basic principle might be summarized as the Visual Information Seeking Mantra: Overview first, zoom and filter, then detailson-demand.“67 Zoomen wird hier oft metaphorisch verwendet als Konzentration auf die Gegenstände von Interesse. Ein Hineinzoomen in die relevanten Informationen. Zoomen wird auch als Geste der Verfügbarkeit gesehen, die einen Blick von oben impliziert und damit die Kontrollierbarkeit des gewählten Terrains. Der Blick von oben schließt die Betrachter*innen aus dem beobachteten Gegenstand aus68 und lässt einen distanzierten und beherrschenden Zugriff auf den Gegenstand zu. Das ist besonders in Anwendungen wie Google Earth und Google Maps zu beobachten. Die Vogelperspektive wird unmittelbar mit der Geste des Zoomens verbunden. Die performative Aneignung der Welt findet
65 Vgl. Sobchack: Toward Inhabited Space. In: Semiotica, S. 317. 66 Belton: The Bionic Eye: Zoom Esthetics. In: Cinéaste, Vol. 11, No. 1, S. 20–27, hier: S. 27. 67 Shneiderman: The eyes have it. In: Computer Science Proceedings 1996 IEEE Symposium
on Visual Languages, S. 1–8, hier: S. 2.
Zoomen Forschung
Spatially distorting and inherently self-conscious, the zoom reflects the disintegration of cinematic codes developed before the Second World War. […] Space is no longer defined in terms of perspective cues and parallax, but in terms of changing image size and time. Its measurement of space in terms of time gives it an Einsteinian (as opposed to Eisensteinian) identity. The zoom reflects a way of seeing the world not as it appears to the human eye, but, perhaps, as it really is.66
68 Vgl. Schneider/Walsh: The politics of zoom: Problems with downscaling climate visualiza-
tions. In: Geography and Environment, Volume 6, Issue1 ( January–June 2019). Unter: https:// rgs-ibg.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/geo2.70 [aufgerufen am 24.03.2021].
Z 743
ohne körperliche Fortbewegung in einem programmierten und inszenierten Zugriff auf die Welt statt. Spätestens mit dem Aufkommen des Smartphones wird Zoomen als grundlegende Funktion des Touchscreen diskutiert und hier als Eingabe und gleichzeitige Veränderung der Ausgabe über mögliche (multi-touch) Gesten: Significant for the touchscreen of the iPhone is that at the level of user interaction it is both an instrument for input and for output. This is the level of ‚access‘ (to data) and of the ‚experience‘ of it. Where the action takes place is, literally, on the screen. Moreover, it is a multi-touchscreen in a technological and practical sense: multi-touch technology allows for multifarious ways of touching such as swiping, virtual scrolling or swirling, and two-fingered pinch movements for enlarging or shrinking.69
Zoomen Forschung
Die Forschung zum Videokonferenz-Synonym Zoomen ist noch sehr jung, erlebt aber gerade eine deutliche Konjunktur.70 Sie wird aus der Perspektive von unterschiedlichen Wissenschaften geführt und hat mit der Zoom-Fatigue71 ihre erste medienpathologische Zuschreibung und mit dem Zoom Bombing72 ihre erste Katastrophe entwickelt. Hier wird zu fragen sein, wie dieses Zoomen unsere menschlichen Beziehungen neu konfiguriert und wie die immer deutlichere Tendenz der softwarebedingten Regelung dieser Verhältnisse einzuschätzen sein wird: „Sociality coded by technology [...] renders people’s activities formal, manageable, and
744
69 Verhoeff: Mobile Screen, S. 152. 70 Um nur einige medienwissenschaftliche Beispiele zu nennen: Jan Distelmeyer: Programma-
tische Verhältnisse. In: CARGO Film/Medien/Kultur, S. 28–34. Olga Moskatova: Networked Screens: Topologies of Distance and Media Regime of Immunization. In: img journal, S. 282– 305. Geert Lovink: The anatomy of Zoom fatigue. In: Eurozine. Unter: https://www.eurozine.com/ the-anatomy-of-zoom-fatigue/ [aufgerufen am 24.03.2021] Robby Nadler: Understanding „Zoom fatigue“. In: Computers and Composition. 71 Vgl. Sacasas: A Theory of Zoom Fatigue. In: The Convivial Society. Unter: https:// theconvivialsociety.substack.com/p/a-theory-of-zoom-fatigue [aufgerufen am 24.03.2021] 72 Vgl. Distelmeyer: Programmatische Verhältnisse. In: Cargo.
manipulable, enabling platforms to engineer the sociality in people’s everyday routines.“73 Auch wenn die Pandemie eines Tages überwunden sein wird: After the Covid siege, we will proudly say: we survived Zoom. Our post-digital exodus needs no Zoom vaccine. Let us not medicalize our working conditions. In line with the demonstration on Amsterdam Museumplein (2 October 2020) where students demanded ‚physical education‘, we must now fight for the right to gather, debate and learn in person. We need a strong collective commitment to reconvene ‚in real life‘ – and soon. For it is no longer self-evident that the promise to meet again will be fulfilled.74
Zoomen Forschung
Was die unterschiedlichen Formen des Zoomens, die hier skizziert wurden, vereint, ist eine Bewegung, die nicht mehr körperlich vollzogen wird, sei es die Kamera, die nicht mehr bewegt wird oder der Körper in der Zoom-Konferenz. Hieraus könnte eine Perspektive für verbindende Überlegungen entstehen.
73 Van Dijck: The Culture of Connectivity, S. 12. 74 Lovink: The anatomy of Zoom fatigue.
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Agricola, Rudolf 127
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Belk, Russell W. 398, 399, 515, 520 Beller, Hans 258
Benjamin, Walter 76, 265, 266, 267, 273, 394, 398, 474, 475, 481, 667, 668
Alberti, Leon Battista 448, 476
Benveniste, Émile 373, 374, 375, 377, 382
Aldrin, Edwin 488
Berliner, Emil 37
Albion, Robert G. 12, 13 Alhazen 465
Altman, Robert 735
Ambrosius 683, 684, 685 Anderson, Benedict 14
Antonioni, Michelangelo 740 Appia, Adolphe 377, 378
Aquin, Thomas von 620 Arago, François 433 Archilochos 379
Arc, Jeanne d’ 66
Ardenne, Manfred von 446 Arendt, Hannah 23, 517
Aristoteles 119, 120, 127, 470, 620 Armstrong, Neil 487, 488 Arnauld, Antoine 122
Arnheim, Rudolf 261, 262
Berkeley, George 480
Bernays, Edward Louis 339
Bischoff, Sir Winfried Franz Wilhelm 262 Blankenburg, Friedrich von 655 Bloch, Ernst 266, 267 Bloch, Robert 540 Blom, Philipp 398
Blumenberg, Hans 118, 217, 468 Boas, Franz 721
Bodamer, Joachim 475
Bodmer, Johann Jakob 658 Boeke, Kees 737
Boethius, Anicius Manlius Severinus 120 Bohse, August 655
Bonaparte, Louis 279
Bontsch-Brujewitsch, Michael Alexandrowitsch 28, 29
Augustinus 683, 684
Boomen, Marianne van den 51, 235, 236
B
Bourdieu, Pierre 54, 514
Bosch, Hieronymus 465
Babbage, Charles 80, 84
Brandstetter, Thomas 578
Bacon, Roger 465
Bredekamp, Horst 398, 468
Barlow, Peter 728
Brunelleschi, Filippo 476
Baťa, Tomáš 282
Bücher, Karl 376, 377
Bauman, Zygmunt 587
Bürger, Peter 265, 266, 267, 268
Bayard, Hippolyte 492
Burton, Tim 414
Bazin, André 270
Butler, Judith 719
Bacon, Francis 67, 68, 222
Brecht, Bertolt 266, 267, 269
Balázs, Béla 81, 269, 270
Bredow, Hans 28
Barthes, Roland 376, 482
Brunner, Otto 16, 205
Baudrillard, Jean 105, 514
Buolamwini, Joy 134, 135
Bausinger, Hermann 24, 25
Burns, Kenneth Lauren 735
Bayle, Pierre 658
Bush, Vannevar 241, 242, 243, 250
749
C
E
Calderón de la Barca, Pedro 683
Ebert, Friedrich 584
Camus, Jean Pierre 656
Einstein, Albert 385
Calvin, Jean 202
Canetti, Elias 216, 217, 223 Carr, Nicholas 521
Celsus, Aulus Cornelius 224
Certeau, Michel de 20, 21, 23, 27, 221 Chamberlain, Huston Steward 378 Chartier, Roger 689
Chateaubriand, François-René de 201 Christenfeld, Nicholas J. S. 548, 549 Christie, Agatha 540, 541, 551 Chun, Wendy 245
Cicero, Marcus Tullius 119, 120, 121, 124 Clair, René 283
Colbert, Jean-Baptiste 210 Colbert, Stephen 254
Conze, Werner 16, 29
Coppola, Francis Ford 735 Coy, Wolfgang 240
Crary, Jonathan 462, 464, 473 Cromwell, Oliver 164
Curtius, Ernst Robert 121, 122, 129
Cusanus, Nicolaus 454, 466, 467, 480
Edison, Thomas Alva 37, 685 Eisenstein, Sergej 269, 270, 273 Elias, Norbert 226
Equevilley Montjustin, Raimondo Lorenzo de 75 Espinas, Alfred 410 Euklid 476
Euripides 374
F Faraday, Michael 621
Fessenden, Reginald 37, 39
Fichte, Johann Gottlieb 660 Fielding, Henry 224
Fischer-Lichte, Erika 265 Flasch, Kurt 15, 466 Fleck, Ludwik 125
Flusser, Vilém 53, 225, 478, 480, 483, 579, 580, 589 Forest, Lee De 36, 39
Foucault, Michel 130, 142, 211, 238, 390, 392, 481, 583, 702, 704, 711, 717, 718
Franco, Francisco 212
Frankenheimer, John 735 Franklin, Benjamin 237
D Darnton, Robert 703, 704, 705 Darwin, Charles 71
Deleuze, Gilles 17, 223, 227, 286, 378, 407, 587 Derrida, Jacques 65, 72, 77, 319, 380, 514, 619, 620, 626
Descartes, René 122, 463, 471, 472, 619 Dickens, Charles 92
Diderot, Denis 118, 473
Didi-Huberman, Georges 266 Dijck, José van 490
Döblin, Alfred 266, 267
Dohrn, Wolf 377, 379, 381 Dorsey, Jack 303
Dubois, Philippe 439
Duchamp, Marcel 53, 265, 267 Dumas, Alexandre 278 Dürer, Albrecht 492
Franz Joseph I. 597
Frege, Gottlob 462
Freud, Sigmund 226, 306, 702, 703, 704
Freyer, Hans 9, 29, 30, 209, 210, 214, 228 Friedrich II. 139, 320
Fulton, Robert 73, 74, 76
G Gadamer, Hans-Georg 686
Galbraith, John Kenneth 380
Galilei, Galileo 463, 468, 469, 470, 471, 480 Galton, Francis 409, 410 Galvani, Luigi 314
Gehlen, Arnold 199, 204, 209, 217 Geiger, Theodor 22, 24, 26 Genettes, Gérard 130 Gennadius 581
Gessner, Salomon 654
Girard, René 15, 79, 217
750
Glümer, Charlotte von 674
Goethe, Johann Wolfgang von 400, 661, 679, 681, 682, 683
Goldman, Gretchen 725
Gottsched, Johann Christoph 658
Griffith, David Llewelyn Wark 269, 270 Groebner, Valentin 137, 139, 141, 143, 282 Grosse, Carl 559, 560 Grosz, George 265
Gründer, Karlfried 17
Guattari, Félix 286, 378, 407 Gutenberg, Johannes 15
H Hamann, Johann Georg 224 Händel, Georg Friedrich 37
Harsdörffer, Georg Philipp 661 Heartfield, John 265
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 315, 316, 379 Heidegger, Martin 378, 379, 514, 517 Heine, Heinrich 464
Herder, Johann Gottfried 224, 679 Hering, Ewald 477
Hermann, Ludimar 477 Hieronymus 200, 581 Hippokrates 224
Hitchcock, Alfred 412, 540, 735 Hobbes, Thomas 711
Hoffmann, Walther G. 22 Hölderlin, Friedrich 376 Hooke, Robert 471 Horaz 298, 654
Horkheimer, Max 215, 667, 668 Hornby, Nick 49
Hsieh, Tehching 372, 373, 380 Hubble, Edwin Powell 454 Huet, Pierre Daniel 655 Hugo, Victor 279
Humboldt, Alexander von 314 Husserl, Edmund 399
I Illich, Ivan 30
Imdahl, Max 480
Immermann, Karl Leberecht 211, 226, 662 Innis, Harold A. 13, 14
J Janssen, Jules 635 Jantke, Carl 22
Jaques-Dalcroze, Émile 377 Jean Paul 658, 659
Jenkins, Thomas 88, 89
Jennings, Betty Jean 244 Johannitius 460
Johnson, Benjamin 549 Joyce, James 267
Jünger, Ernst 201, 203, 218, 219, 404
K Kafka, Franz 267
Kant, Immanuel 69, 315, 408, 659, 660 Kapp, Ernst 461, 470
Karlstadt, Andreas von 407 Kelly, Kevin 419
Kenney, Doug 541, 542
Kepler, Johannes 461, 462, 463, 465, 466, 469, 470, 471
Kerndörffer, Heinrich August 682 Kierkegaard, Søren 17 Kim, Jong-un 520
Kittler, Friedrich 10, 50, 53, 81, 240, 319, 320, 321, 322, 464, 669, 670
Klopstock, Friedrich Gottlieb 679, 680, 681 Knigge, Adolph Freiherr von 660 Kolumbus, Christoph 78, 128 Kopetzky, Helmut 263
Koselleck, Reinhart 17, 23, 71 Krupp, Friedrich 75
Kubrick, Stanley 735 Kuhn, Thomas 125
Kunzelmann, Dieter 91
L Lacan, Jacques 226, 448
Lafontaine, August 660 Lanier, Jaron 306
Lanzmann, Claude 15
Latour, Bruno 82, 83, 283, 327, 518 Laubeuf, Maxime 74, 75, 76 Lausberg, Heinrich 116, 117
Leavitt, Jonathan D. 548, 549
Le Bon, Gustave 339, 409, 410
751
Leeuwenhoek, Antoni van 463
Mumford, Lewis 206
Leibniz, Gottfried Wilhelm 582, 583
Murnau, Friedrich Wilhelm 732
Legendre, Pierre 226
Lem, Stanisław 420, 422
Lenin, Wladimir Iljitsch 28 Leonardo da Vinci 476
Lessig, Lawrence 46, 505, 506, 511, 512, 513 Lévi-Strauss, Claude 78, 217, 358
Lichtenberg, Georg Christoph 409 Lichterman, Ruth 244
Lincoln, Abraham 144 Lippmann, Walter 339 Lister, Martin 736
Locke, John 461, 472 Lord Kelvin 246
Lovelace, Ada 84, 85
Ludwig XIV. 210, 655
Luhmann, Niklas 117, 126, 127, 319, 337, 670 Luther, Martin 407
Luxemburg, Johann von 70
Musil, Robert 409 Musk, Elon 242
Muybridge, Eadweard 635
N Nancy, Jean-Luc 517
Napoleon Bonaparte 73, 201 Nero 465
Neuss, Wolfgang 539
Newton, Isaac 461, 463 Nicole, Pierre 122
Niépce, Joseph Nicéphore 435
Nietzsche, Friedrich 129, 219, 223 Novalis 224, 315
O Obama, Barack 542
Oersted, Hans Christian 240, 614, 615, 616, 621,
M Macho, Thomas 281, 627 Mann, Thomas 385
Manovich, Lev 185, 399
Marey, Étienne-Jules 474, 634, 635
Marx, Karl 198, 202, 203, 316, 317, 334, 379 Mauss, Marcel 21, 514
McCain, John 254, 255
McLuhan, Marshall 14, 28, 205, 206, 213, 223, 297, 306
McNulty, Kathleen 244 Méliès, Georges 258
Menabrea, Luigi Federico 84
Mendelssohn Bartholdy, Felix 36 Mengers, Carl 202
Miller, Daniel 220, 221 Millikan, Robert 385
Modena, Tommaso da 465
Molyneux, William 472, 473
Montaigne, Michel de 118, 582
Morse, Samuel Finley Breese 621, 622 Müller, Adam 215
Müller, Johannes 473
752
Müntzer, Thomas 407
622, 623, 624, 625
Ortega y Gasset, José 22 Orwell, George 422
P Packard, Vance 204 Pariser, Eli 585
Pascal, Blaise 661
Pasteur, Louis 82, 83 Paulus 680
Peirce, Charles Sanders 440 Philipp II. 139
Picard, Rosalind 329 Pieper, Josef 23, 25
Platon 375, 376, 378, 456, 459, 460 Poitiers, Gilbert von 517 Popitz, Heinrich 22, 24 Porro, Ignazio 728 Poschardt, Ulf 53
Postman, Neil 666, 668 Presley, Elvis 255
Proust, Marcel 267
Q
Spengler, Oswald 670
Quintilian, Marcus Fabius 120, 122, 223, 654
Spinoza, Baruch de 464, 711, 712
R
Sterling, Bruce 700
Ramus, Petrus 118, 122, 127 Reisch, Gregor 121
Rembrandt 465, 492 Ressel, Josef 74
Riedel, Manfred 16
Stahl, Georg Ernst 313
Sternberg, Alexander von 675 Stieler, Kaspar 209, 210, 299 Sutherland, Ivan 736
Systrom, Kevin 50, 181
Riegl, Alois 16
T
Ritter, Joachim 17
Talbot, William Henry Fox 434, 435, 474
Robinson, Spider 546
Tarde, Gabriel de 219, 409, 410
Rosenbaum, Judith 549
Theokrit 374
Rossini, Gioachino 36
Tieck, Ludwig 559, 674, 675, 681, 682, 683
Riesman, David 204
Talander 655
Ritter, Johann Wilhelm 314
Tarantino, Quentin 735
Rondeau, Pierre 652
Temnos, Hermagoras von 120
Rosenstock-Huessy, Eugen 12, 13, 16, 27, 29, 224
Thomasius, Christian 656
Ruttmann, Walter 262
Tönnies, Ferdinand 16, 17
S
Trump, Donald J. 102, 104, 105, 113, 725
Sales, Franz von 16, 656 Samjatins, Jewgenij 282
Sankt Viktor, Hugo von 580, 581, 582 Say, Jean-Baptiste 213
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 314, 315, 327 Schiller, Friedrich 651
Schivelbusch, Wolfgang 81, 207
Schlegel, August Wilhelm 660, 663 Schliemann, Heinrich 465 Schmitt, Carl 17
Schrettinger, Martin 583, 584 Sennett, Richard 495 Serres, Michel 296
Sevilla, Isidor von 120
Shakespeare, William 683 Sighele, Scipio 409, 410 Sloterdijk, Peter 219 Smith, Adam 207
Sobchack, Vivian 742
Sombart, Werner 206, 209, 213, 217, 355 Sommer, Manfred 399
Sontag, Susan 480, 481, 482, 483 Sophokles 374
Soyfer, Jura 284
Trentmann, Frank 201 Turing, Alan 623
Tyndall, John 477
U Uexküll, Jakob von 378, 457
V Vega, Lope de 683
Vernant, Jean-Pierre 455, 456 Verne, Jules 74, 76
Vespucci, Amerigo 128 Vierkandt, Alfred 16
Virilio, Paul 464, 475, 481, 483 Volta, Alessandro 314
W Wackenroder, Wilhelm Heinrich 559 Wagner, Richard 378 Walpole, Horace 125 Warhol, Andy 53
Wassermann, Jakob 127 Weber, Max 10, 22, 24
Wertham, Frederic 227
Wheatstone, Charles 477
753
Wieland, Christoph Martin 298 Wiener, Norbert 624
Williams, Raymond 17
Winckelmann, Johann Joachim 88, 89, 90 Wittgenstein, Ludwig Josef Johann 478
Y Yates, JoAnne 144
754
Z Zola, Émile 409
Zöllner, Karl Friedrich 476, 477
Zuboff, Shoshana 305, 306, 586, 587 Zuckerberg, Mark 242, 699
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(Anton Tantner)
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| II 69 | | II 93 | | I 90 |
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| I 149 | | I 162 | | I 179 |
| II 133 | | I 195 |
| III 58 |
| II 149 | | III 88 | | I 209 | | I 225 |
| I 241 |
| III 113 | | II 167 | | I 253 |
| II 186 | | I 268 | | I 288 |
| II 201 |
| III 134 |
| III 163 |
| III 180 | | I 297 | | I 322 |
| II 220 | | I 332 |
755
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| I 429 |
| II 257 |
| II 273 |
| II 300 |
| III 254 | | I 445 |
| III 278 | | III 289| | II 316 |
| II 328 | | II 343 |
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| III 310 | | III 333 | | III 351 |
| III 372 |
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| III 404 | | III 430 | | III 454 |
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| III 500 | | II 412 | | I 521 |
| II 425 | | I 535 |
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| II 458 |
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| I 666 |
| III 695 | | I 687 |
| I 703 |
| III 725 |
757