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German Pages 588 Year 2005
Schriften zum Völkerrecht Band 161
Sozialstandards im Völkerrecht Eine Studie zu Entwicklung und Bedeutung der Normsetzung der Vereinten Nationen, der Internationalen Arbeitsorganisation und des Europarats zu Fragen des Sozialschutzes
Von
Angelika Nußberger
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
ANGELIKA NUSSBERGER
Sozialstandards im Völkerrecht
Schriften zum Völkerrecht Band 161
Sozialstandards im Völkerrecht Eine Studie zu Entwicklung und Bedeutung der Normsetzung der Vereinten Nationen, der Internationalen Arbeitsorganisation und des Europarats zu Fragen des Sozialschutzes
Von
Angelika Nußberger
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Habilitationsschrift angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-12009-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
„A proclamation of a right is not the fulfillment of a right, any more than an airplane schedule is a flight. A proclamation may or may not be an initial step toward the fulfillment of the rights listed. It is frequently the substitute of the promise in the place of the fulfillment“. Henry Shue 1980
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2002 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität München als Habilitationsschrift angenommen. Für die Druckfassung wurde sie überarbeitet; es wird die Sach- und Rechtslage im Sommer 2005 wiedergegeben. Ziel der Arbeit ist es, die internationalen Sozialstandards nicht nur in ihrer Entwicklung und ihrer normativen Fixierung vorzustellen, sondern auch zu ergründen, wie sie zur Anwendung kommen. Ob es sich um unverbindliche Stellungnahmen internationaler Sachverständigengremien oder um verbindliche Urteile handelt – juristische Argumentation, Entscheidungsfindung und Durchsetzung gestalten sich anders als im Kontext des nationalen Rechts. Für diese Besonderheiten gilt es auch auf theoretischer Grundlage Erklärungen zu geben. Die Anregung zur Auseinandersetzung mit dem Thema kam von dem ehemaligen Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, Herrn Professor Dr. Bernd Baron von Maydell, der als langjähriges Mitglied des Sachverständigenausschusses der Internationalen Arbeitsorganisation, des ältesten und traditionsreichsten Gremiums dieser Art, auch mit den praktischen Schwierigkeiten der Interpretation und Anwendung von Sozialstandards im Völkerrecht reiche Erfahrung gesammelt hatte. Herr Professor von Maydell hat die Habilitationsschrift von den ersten Skizzen bis zur Fertigstellung begleitet und gefördert – ohne seinen Rat, seinen Zuspruch und seinen großen persönlichen Einsatz wäre sie ein Fragment geblieben. Ich möchte ihm dafür danken, dass er mich auf diese Weise auf den akademischen Weg geführt hat, der es mir erlaubt, immer von neuem über immer Neues nachzudenken. Besonderer Dank gilt auch Herrn Richter am IGH Professor Dr. Bruno Simma, der trotz einer Vielzahl von Belastungen während einer Gastprofessur in den USA das Zweitgutachten zu meiner Arbeit erstellt hat. Seine völkerrechtlichen Seminare waren aufgrund der anregenden und offenen Diskussionen für mich beispielhaft für wissenschaftliches Arbeiten an der Universität. Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht in München, an dem ich während der Arbeit an der Habilitationsschrift tätig sein konnte, bot eine hervorragende Infrastruktur für eine Forschungsarbeit, die auf Materialien aus den verschiedensten Organisationen und Ländern, zum Teil auch auf historische Dokumente, angewiesen war. Der Gründer und erste Direktor des Instituts, Herr Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Zacher, war bei einer Vielzahl von Fragen und Überlegungen, ob es um die Theorie der Verrechtlichung oder um das Konzept eines „rechtsfreien Raums“ ging, mehr als nur ein Dialogpartner – er war ein Meister des Zuhörens, so dass Gespräche zu Wegmarken wurden.
8
Vorwort
Auch meinen Kollegen am Max-Planck-Institut, insbesondere Herrn Prof. Dr. Andreas Hänlein und Herrn Dr. Alexander Graser, schulde ich Dank für das MitDenken und für eine Vielzahl von hilfreichen Anregungen und Ideen. Die Überarbeitung der Habilitationsschrift und die Vorbereitung für die Drucklegung wurden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Ostrecht der Universität zu Köln unterstützt. Besonderer Dank gebührt meiner Sekretärin Frau Marina Schneider, die mit großem Engagement die Druckvorlage erstellt hat, sowie Herrn Dr. Dietrich Frenzke, der die Arbeit mit bewundernswerter Sorgfalt Korrektur gelesen hat. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Veröffentlichung der Arbeit mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt. Auch dafür möchte ich herzlich danken. Die langjährige Beschäftigung mit einer wissenschaftlichen Fragestellung wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht die gesamte Großfamilie, allen voraus meine Mutter und meine Schwiegereltern, immer wieder helfend und unterstützend zur Seite gestanden wären. So waren trotz allem die der Arbeit gewidmeten Jahre auch wertvolle Jahre mit meinem Mann, Prof. Dr. Stephan Boris Nußberger, und meinen Söhnen Benjamin Kyrill und Malte Manuel. Ihnen sei die Arbeit gewidmet. Angelika Nußberger
Inhaltsübersicht Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Thema der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
II. Zielsetzung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . .
44
I. Internationale Regelungen zur Garantie eines Bürgerrechts auf sozialen Schutz
45
II. Internationale Regelungen zur Harmonisierung von Sozialschutzsystemen . . . . . 103 III. Internationale Regelungen zur Integration Fremder in nationale Sozialschutzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 IV. Einbindung der verschiedenen Regelungsansätze ins Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . 174 B. Umfang der Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 I. Überblick über den Ratifikationsstand sozialrechtsrelevanter Konventionen . . . . 181 II. Umfang der Rechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . 228 I. Interpretationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 II. Kontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 D. Probleme der Mehrfachregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 I. Formen von Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 II. Gründe für die Entstehung von Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 III. Probleme aufgrund von Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 IV. Ansätze zur Lösung der bei Mehrfachregulierung entstehenden Probleme . . . . . . 405 V. Auswirkungen der Kollisionen verschiedener internationaler Sozialstandards auf die Rechtsanwendung im nationalen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
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Inhaltsübersicht
E. Relative Normativität internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 I. Spezifika der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 II. Konzept relativer Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 III. Experimenteller Charakter des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 F. Verrechtlichung durch internationale Sozialstandards – ein ambivalentes Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 I. Verrechtlichung als Charakteristikum der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 II. Formen von Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 III. Rechtskritik am Phänomen der Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 IV. Verrechtlichung aufgrund von Sozialstandards – ein ambivalentes Phänomen . . 495 Thesen
502
Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
I. Thema der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
1. Bedeutung internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
2. Begriff internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
3. Besonderheiten der Entwicklung internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . .
35
II. Zielsetzung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
1. Analyse von Bestand und Wirken internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . .
39
2. Analyse von Verrechtlichungsprozessen im internationalen Bereich . . . . . . . . . .
41
A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . .
44
I. Internationale Regelungen zur Garantie eines Bürgerrechts auf sozialen Schutz
45
1. Postulate im Schrifttum des 17. und 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
2. Aufnahme des Rechts auf sozialen Schutz in nationale Verfassungen im 18. und 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
3. Aufnahme des Rechts auf sozialen Schutz in völkerrechtliche Verträge vor 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
a) Entwicklung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
b) Entwicklung zwischen den beiden Weltkriegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
c) Paradigmenwechsel während des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
aa) Atlantikcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
bb) Declaration of Philadelphia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
cc) Empfehlungen der IAO aus dem Jahr 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
4. Institutionalisierung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
a) Entwicklung des Rechts auf sozialen Schutz im Rahmen der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
aa) Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
bb) Die allgemeinen Menschenrechtspakte ICCPR und ICESCR . . . . . . . . .
66
12
Inhaltsverzeichnis cc) Die spezifischen Menschenrechtspakte CEDAW, CERD, CRC und MWC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
dd) Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen . . . . . .
76
ee) Abschlusserklärungen internationaler Konferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
b) Entwicklung des Rechts auf sozialen Schutz im Rahmen des Europarats . .
79
aa) Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Zusatzprotokolle
79
bb) Die Europäische Sozialcharta mit Zusatzprotokollen . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
cc) Die revidierte Fassung der Europäischen Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . .
88
dd) Rechtsentwicklung de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
c) Entwicklung des Rechts auf sozialen Schutz im Rahmen der IAO . . . . . . . .
94
d) Das Recht auf sozialen Schutz in den Rechtsakten sonstiger internationaler Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
aa) Das Recht auf sozialen Schutz im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft / Europäischen Gemeinschaft / Europäischen Union . . . . .
97
bb) Das Recht auf sozialen Schutz in Rechtsakten weiterer internationaler Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 II. Internationale Regelungen zur Harmonisierung von Sozialschutzsystemen . . . . . 103 1. Entwicklung nationaler Schutzgesetze im Arbeits- und Sozialrecht des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 a) Arbeitsrechtliche Schutzregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Sozialrechtliche Schutzregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Erkenntnis der internationalen Dimension der Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 a) Sicherung gegen die Konkurrenz ausländischer Waren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Sicherung gegen die Konkurrenz ausländischer Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . 112 3. Abschluss bilateraler Verträge zur Harmonisierung der nationalen arbeitsund sozialrechtlichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) Französisch-italienisches Abkommen von 1904 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Nachfolgeverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Abschluss multilateraler Verträge zur Harmonisierung der nationalen arbeitsund sozialrechtlichen Regelungen vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Verbot der Verwendung von weißem (gelbem) Phosphor in der Industrie 118 b) Verbot der Nachtarbeit von Frauen in der Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 c) Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Inhaltsverzeichnis
13
5. Systematisierung der Harmonisierungsregelungen im Rahmen der IAO . . . . . . 120 a) Ausarbeitung eines selektiven Sozialversicherungsansatzes zwischen den Weltkriegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Ausarbeitung eines Ansatzes zur umfassenden Gewährleistung sozialer Sicherheit nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 aa) Konvention Nr. 102 der IAO als Grundlagenregelung . . . . . . . . . . . . . . . . 126 bb) Spezialregelungen zu einzelnen Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 6. Übernahme und Erweiterung der Regelungen der IAO durch den Europarat . . 132 a) Die Europäische Ordnung für Soziale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Protokoll zur Europäischen Ordnung für Soziale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Revidierte Europäische Ordnung für Soziale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 d) Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats . . . . . . 136 e) Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 7. Aufnahme von Regelungen zum sozialen Schutz in Zoll- und Handelsabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 III. Internationale Regelungen zur Integration Fremder in nationale Sozialschutzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Fremde als Bedürftige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Entwicklung des Rechts bis zum Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 aa) Entwicklung des allgemeinen Fremdenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 bb) Bilaterale Verträge zum Schutz bedürftiger Fremder . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 cc) Projekte für multilaterale Verträge zum Schutz bedürftiger Fremder . . 146 b) Entwicklung des Rechts in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . 147 aa) Die Anwendung grundrechtlicher Sozialschutznormen auf bedürftige Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 (1) Schutzbereich der Menschenrechtsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 (2) Umfang des Diskriminierungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 bb) Multilaterale Fürsorgeverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Fremde als Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 a) Regelungen zur Abgrenzung zwischen verschiedenen nationalen Rechtssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 aa) Bilaterale Verträge zur Bestimmung des auf sozialrechtliche Fragen anwendbaren Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 bb) Multilaterale Verträge zur Bestimmung des auf sozialrechtliche Fragen anwendbaren Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
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Inhaltsverzeichnis b) Regelungen zur Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer in nationalen Sozialschutzsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 aa) Bilaterale Verträge zur Regelung der Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer in nationalen Sozialschutzsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 bb) Multilaterale Verträge zur Regelung der Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer in nationalen Sozialschutzsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (1) Regelungen im Rahmen der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (2) Regelungen im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation 168 (3) Regelungen im Rahmen des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 IV. Einbindung der verschiedenen Regelungsansätze ins Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . 174 1. Koexistenzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Kooperationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3. Integrationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
B. Umfang der Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 I. Überblick über den Ratifikationsstand sozialrechtsrelevanter Konventionen . . . . 181 II. Umfang der Rechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1. Maximalistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Suche nach abschließenden Verhandlungskompromissen . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 b) Ansätze zu einer internationalen Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Minimalistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 a) Einräumung von Vorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 aa) Änderung des Verständnisses von Vorbehalten im Völkerrecht . . . . . . . 193 bb) Vorbehalte zu Sozialschutzbestimmungen in Menschenrechtsverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 cc) Vorbehalte zu spezifisch sozialrechtlichen Konventionen . . . . . . . . . . . . . 199 b) Einräumung von Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Regelungskomplexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 c) Einräumung von Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Einzelbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 aa) Auswahl zwischen Standards auf unterschiedlichem Niveau . . . . . . . . . . 211 bb) Ausnahmebestimmungen für bestimmte Personengruppen . . . . . . . . . . . . 215
Inhaltsverzeichnis
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cc) Vorgabe gleichberechtigter Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 dd) Optionsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 ee) Verwendung offener Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 d) Einschränkung der unmittelbaren Anwendbarkeit der Vertragsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 C. Interpretation und Dynamisierung iternationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . 228 I. Interpretationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Interpretation der Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen . . . . . 234 a) Allgemeine Kommentare zum ICCPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 aa) Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 bb) Charakteristik der allgemeinen Vertragspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 cc) Auslegung des Diskriminierungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 (1) Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 26 ICCPR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 (2) Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 ICCPR) . . . . . . . . . 236 dd) Konkretisierung von Verpflichtungen zu positivem Tun . . . . . . . . . . . . . . 237 (1) Anspruch der Familie auf Schutz (Art. 23 ICCPR) . . . . . . . . . . . . . . . 237 (2) Achtung der Menschenwürde beim Strafvollzug (Art. 10 ICCPR) 237 (3) Recht auf Leben (Art. 6 ICCPR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 (4) Recht des Kindes auf Schutzmaßnahmen (Art. 24 ICCPR) . . . . . . . 239 b) Allgemeine Kommentare zum ICESCR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 aa) Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 bb) Charakteristik der allgemeinen Vertragspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 cc) Kommentare zu Einzelthemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (1) Schutz Behinderter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (2) Schutz älterer Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 (3) Realisierung des Rechts auf Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 c) Allgemeine Empfehlungen zum CEDAW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 d) Allgemeine Empfehlungen zum CERD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 e) Allgemeine Kommentare zum CRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 2. Interpretation des Rechts der IAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 a) Beantwortung von Auslegungsfragen zur Verfassung und zu den Konventionen der IAO durch den StIGH / IGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 b) Beantwortung von Auslegungsfragen durch das Internationale Arbeitsamt 251 c) Allgemeine Überblicke zu den Konventionen und Empfehlungen der IAO 256
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Inhaltsverzeichnis 3. Interpretation der Menschen- und Sozialrechtskonventionen des Europarats 260 a) Kompetenz des EGMR zur Auslegung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 b) Allgemeine Betrachtungen zur ESC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 aa) Auslegung des Rechts auf soziale Sicherheit (Art. 12) und soziale Fürsorge (Art. 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 (1) Abgrenzung zwischen sozialer Sicherheit und sozialer Fürsorge . . 261 (2) Progressive Verwirklichung des Rechts auf soziale Sicherheit . . . . 262 (3) Konkrete Ausgestaltung des Rechts auf soziale Fürsorge . . . . . . . . . 263 (4) Umfang der Rechte von Ausländern im Bereich sozialer Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 (5) Umfang der Rechte von Ausländern im Bereich sozialer Fürsorge 265 bb) Recht der Familie auf sozialen Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 (1) Abgrenzung zwischen Familienleistungen und Leistungen sozialer Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 (2) Umfang des Diskriminierungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 (3) Umfang des Schutzes von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . 270 c) Allgemeine Beobachtungen zur EOSS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4. Problematik von allgemeinen Interpretationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Kompetenz zu abstrakten interpretatorischen Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 aa) Anwendbarkeit der Auslegungsregeln des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 (1) Problem der Nicht-Rückwirkung des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 (2) Anwendbarkeit des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge bei abstrakten Interpretationsentscheidungen . . . . . . . . . . . 274 bb) Besonderheiten bei der Auslegung von Menschenrechtsverträgen . . . . 275 (1) Extensive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 (2) Effektive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 (3) Dynamisch-evolutive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 (4) Autonome Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 cc) Sonstige Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 (1) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 (2) Berücksichtigung der Folgen einer Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 dd) Problem des Begründungsdefizits abstrakter Interpretationsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
Inhaltsverzeichnis
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II. Kontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 1. Überblick über die einzelnen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 2. Weiterentwicklung internationaler Sozialstandards in allgemeinen Kontrollverfahren zu Staatenberichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 a) Berichtsverfahren zu den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen 289 aa) Berichtsverfahren zum ICESCR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 bb) Berichtsverfahren zu den anderen Menschenrechtspakten . . . . . . . . . . . . 296 b) Berichtsverfahren zu den sozialrechtsrelevanten Konventionen der IAO . . 298 aa) Bewertung der Privatisierung der Rentensysteme in Südamerika . . . . . 299 bb) Bewertung der Einschränkungen der Sozialsysteme in Industrieländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 cc) Entwicklung des Diskriminierungsverbots im Bereich der sozialen Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 (1) Diskriminierung aufgrund der politischen Meinung . . . . . . . . . . . . . . 305 (2) Diskriminierung aufgrund des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 (3) Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 308 (4) Interpretation des Zusammenspiels von sozialer Sicherheit und Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 c) Kontrollverfahren zu den Staatenberichten über die Einhaltung der sozialrechtsrelevanten Konventionen des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 aa) Bewertung der Entwicklung der Sozialrechtssysteme nach der ESC / RESC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 (1) Allgemeine Anforderungen an Systeme sozialer Sicherheit . . . . . . 314 (2) Weiterentwicklung von Systemen sozialer Sicherheit . . . . . . . . . . . . . 316 (3) Einschluss ausländischer Staatsbürger in Systeme sozialer Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 (4) Gewährleistung eines Rechts auf soziale Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . 323 bb) Bewertung der Entwicklung der Sozialrechtssysteme nach der EOSS 326 3. Weiterentwicklung von internationalen Sozialstandards in Staatenbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 4. Weiterentwicklung von internationalen Sozialstandards in Kollektivbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 a) Kollektivbeschwerdeverfahren nach Art. 24 Verfassung der IAO . . . . . . . . . 331 aa) Beschwerden gegen Maßnahmen im Rahmen der Privatisierung von Rentenversicherungssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 bb) Beschwerden gegen eine liberale Arbeitsmarktpolitik und bestimmte Formen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 2 Nußberger
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Inhaltsverzeichnis cc) Beschwerden gegen Maßnahmen zur finanziellen Konsolidierung der Kranken- und Arbeitsunfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 dd) Beschwerden gegen die arbeits- und sozialrechtliche Behandlung ausländischer Staatsangehöriger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 b) Kollektivbeschwerdeverfahren nach dem Zusatzprotokoll zur ESC . . . . . . . 337 5. Weiterentwicklung von internationalen Sozialstandards in Individualbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 a) Verfahren mit unverbindlichen Stellungnahmen – Auslegung der Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 aa) ICCPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 (1) Berücksichtigung sozialer Rechte nach dem ICCPR . . . . . . . . . . . . . . 339 (2) Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 (3) Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . 344 (4) Ungleichbehandlung aus sonstigen Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 bb) CEDAW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 cc) ICESCR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 dd) CERD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 b) Verfahren mit verbindlichen Entscheidungen – Auslegung der EMRK und der Zusatzprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 aa) Anwendung von Art. 6 EMRK auf sozialrechtliche Ansprüche . . . . . . . 351 bb) Anwendung des Diskriminierungsverbots in Verbindung mit Art. 6 EMRK auf sozialrechtliche Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 cc) Anwendung von Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK auf sozialrechtliche Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 (1) Anerkennung sozialrechtlicher Ansprüche als „Eigentum“ . . . . . . . 356 (2) Schutzumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 dd) Anwendung des Diskriminierungsverbots in Verbindung mit Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 ee) Anwendung von Art. 8 EMRK auf sozialrechtliche Ansprüche . . . . . . . 367 ff) Anwendung des Diskriminierungsverbots in Verbindung mit Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 gg) Anwendung von Art. 3 EMRK auf sozialrechtliche Ansprüche . . . . . . . 369 hh) Zusatzprotokoll Nr. 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 6. Politische vs. rechtliche Dimension der Kontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Inhaltsverzeichnis
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D. Probleme der Mehrfachregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 I. Formen von Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 1. Offene vs. versteckte Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 2. Konflikte vs. Divergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 a) Konflikte zwischen verschiedenen Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 b) Divergenzen zwischen verschiedenen Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 3. Konzeptionelle Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 a) Hierarchisierung vs. Gleichbewertung von Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . 385 b) Systembezogener vs. individuumsbezogener Regelungsansatz . . . . . . . . . . . . 386 c) Arbeitnehmerschutz vs. Schutz benachteiligter Gruppen der Gesellschaft 387 d) Staatsangehörigkeit als Differenzierungskriterium vs. Verbot der Differenzierung aufgrund von Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 e) Progressive Verwirklichung vs. Garantie von Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . 389 f) Mindestsicherung vs. optimale Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 g) Diskriminierungsverbot vs. Schutzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 h) Kohärenzziel vs. Ziel eines konfliktfreien Nebeneinanders unterschiedlicher Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 II. Gründe für die Entstehung von Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 1. Inhaltliche Dimension von Überschneidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 2. Zeitliche Dimension von Überschneidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 3. Institutionelle Dimension von Überschneidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 4. Räumliche Dimension von Überschneidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 5. Überlagerung verbindlicher und unverbindlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 III. Probleme aufgrund von Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 1. Autoritätsverlust und Desintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 2. Kündigung von Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 3. Belastung mit Berichtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 4. Entscheidungsdisharmonie und Forum Shopping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 IV. Ansätze zur Lösung der bei Mehrfachregulierung entstehenden Probleme . . . . . . 405 1. Abstimmung bei der Abfassung der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 2*
20
Inhaltsverzeichnis 2. Aufnahme von Kollisionsregeln in Sachverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 a) Regelungen zur Kompatibilität verschiedener Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 b) Ansätze zu einer einheitlichen Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 c) Normierung des Günstigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 d) Rückgriff auf allgemeine Anwendungs- und Interpretationsregeln . . . . . . . . 411 aa) Auslegung der Verträge mit Blick auf andere Verträge . . . . . . . . . . . . . . . 411 bb) Anwendung des Lex-posterior-Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 cc) Anwendung des Lex-superior-Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 (1) Vorrang der UN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 (2) Vorrang von Gründungsverträgen internationaler Organisationen 414 (3) Vorrang grundlegender Rechtsdokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 (4) Vorrang des ius cogens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 dd) Anwendung des Lex-specialis-Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 3. Jurisdiktionsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 a) Potentielle Überschneidungen und Vervielfältigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 b) Einzelregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 aa) Vervielfältigung von Staatenbeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 bb) Vervielfältigung von Individualbeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 4. Institutionalisierte Zusammenarbeit bei Kontrollentscheidungen . . . . . . . . . . . . . 423 V. Auswirkungen der Kollisionen verschiedener internationaler Sozialstandards auf die Rechtsanwendung im nationalen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 1. Normenselektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 2. Normeninterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
E. Relative Normativität internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 I. Spezifika der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 1. Bestimmung der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards nach formalen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 a) Machtstellung der normsetzenden Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 b) Sanktionsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 c) Systemkohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 d) Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 e) Justitiabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
Inhaltsverzeichnis
21
2. Bestimmung der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards mit Blick auf die Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 a) Erwartungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 b) Verhaltensspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 c) Sprachstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 d) Besondere Argumentationsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 e) Gewicht in Entscheidungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 f) Besonderheiten des Kommunikationsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 g) Autopoietische Verselbständigung des Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 3. Bestimmung der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards nach inhaltlichen Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 II. Konzept relativer Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 III. Experimenteller Charakter des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 F. Verrechtlichung durch internationale Sozialstandards – ein ambivalentes Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 I. Verrechtlichung als Charakteristikum der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 1. Verfügbarkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 a) Emanzipation des Prozesses der Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 b) Emanzipation des Prozesses der Rechtsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 2. Rematerialisierung des Formalrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 3. Externalisierung von Lösungsansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 4. Herausbildung komplementärer Rechtsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 II. Formen von Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 1. Verrechtlichung als Einengung rechtsfreier Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 a) Konzept des rechtsfreien Raumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 b) Verrechtlichung rechtsfreier Räume als gradueller Prozess . . . . . . . . . . . . . . . 475 2. Verrechtlichung als Differenzierung allgemeiner Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . 477 3. Verrechtlichung als Wiederholung bereits bestehender Regelungen . . . . . . . . . . 479 a) Identische / teilidentische Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 b) Regelungen auf unterschiedlicher hierarchischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 c) Regelungen von unterschiedlicher Rechtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482
22
Inhaltsverzeichnis III. Rechtskritik am Phänomen der Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 1. Formalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 2. Desintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 3. Destabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 4. Grenzen rechtlicher Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 IV. Verrechtlichung aufgrund von Sozialstandards – ein ambivalentes Phänomen . . 495 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580
Abkürzungen ABl
Amtsblatt
AFDI
Annuaire français de droit international
AJIL
American Journal of International Law
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
ArbuR
Arbeit und Recht
ArchVR
Archiv des Völkerrechts
ARSP
Archiv für Rechts- und Staatsphilosophie
Aufl
Auflage
Bd
Band
BGBl
Bundesgesetzblatt
BIT
Bureau International du Travail
BSG
Bundessozialgericht
BSHG
Bundessozialhilfegesetz
BT
Bundestag
BT-Drucks
Bundestag-Drucksache
BVerfG E
Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen
BVerwG E
Bundesverwaltungsgericht, Entscheidungen
BYIL
British Yearbook of International Law
CAT
Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung)
CD
Collected Decisions (Gesammelte Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte)
CEDAW
Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau)
CERD
International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung)
CPJI
Cour Permanente de Justice Internationale
CRC
Convention on the Rights of the Child (Übereinkommen über die Rechte des Kindes)
24
Abkürzungen
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
DR
Decisions and Reports (Entscheidungen und Berichte der Europäischen Kommission für Menschenrechte)
DuR
Demokratie und Recht
DVBl
Deutsche Verwaltungsblätter
ECHR
European Convention on Human Rights
ECOSOC
Economic and Social Council (of the United Nations)
EFA
Europäisches Fürsorgeabkommen
EG
Europäische Gemeinschaft
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
EJIL
European Journal of International Law
EKMR
Europäische Kommission für Menschenrechte
EPIL
Encyclopedia of Public International Law
ESC
Europäische Sozialcharta
ETS
European Treaties Series
EU
Europäische Union
EuGH
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitung
EuroAS
Informationsdienst Europäisches Arbeits- und Sozialrecht
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
FN
Fußnote
fr
français
FS
Festschrift
GA
General Assembly
GG
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
GV
Generalversammlung
GYIL
German Yearbook of International Law
Hg
Herausgeber
HILJ
Harvard International Law Journal
HRC
Human Rights Committee
HRLJ
Human Rights Law Journal
EOSS
Europäische Ordnung für soziale Sicherheit
IAA
Internationales Arbeitsamt
IA Court HR
Interamerican Court of Human Rights
IAO
Internationale Arbeitsorganisation
Abkürzungen
25
ICCPR
International Covenant on Civil and Political Rights (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte)
ICESCR
International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte)
ICJ
International Court of Justice
IGH
Internationaler Gerichtshof
ILC
International Law Commission
ILM
International Legal Materials
ILO
International Labour Organisation; International Labour Office
ILR
International Labour Review
JZ
Juristenzeitung
KSZE
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
LVA
Landesversicherungsanstalt
MWC
International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families (Internationales Übereinkommen über den Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienmitglieder)
NDV
Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge
NJ
Neue Justiz
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
NYIL
Netherlands Yearbook of International Law
OB
Official Bulletin
RdA
Recht der Arbeit
RdC
Recueil des Cours
RESC
Revidierte Europäische Sozialcharta
RGDIP
Revue générale de droit international public
SGB
Sozialgesetzbuch
StIGH
Ständiger Internationaler Gerichtshof
trad
traduction
UN Doc
UN-Dokument
UNESCO
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organisation
UNGA
United Nations General Assembly
UNTS
United Nations Treaties Series
VN
Vereinte Nationen
Vol
Volume
26
Abkürzungen
VSSR
Vierteljahresschrift für Sozialrecht
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WHO
World Health Organisation
WTO
World Trade Organisation
WVK
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
ZfSH / SGB
Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch
ZIAS
Zeitschrift für ausländisches und internationales Sozialrecht
ZP
Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
Einführung I. Thema der Untersuchung 1. Bedeutung internationaler Sozialstandards Im deutschen Grundgesetz ist weder ein „Recht auf soziale Sicherheit“ noch ein „Recht auf soziale Fürsorge“ zu finden. Detaillierte Festlegungen, wer gegen welches soziale Risiko in welchem Umfang zu schützen ist, würden als Fremdkörper betrachtet. – Anders auf internationaler Ebene: In eine Vielzahl von multilateralen Verträgen, die im Rahmen der Vereinten Nationen, der Internationalen Arbeitsorganisation und des Europarats ausgearbeitet worden sind, sind Vorgaben zur Gestaltung des sozialen Schutzes, zum Teil auf hoher Abstraktionsebene, zum Teil mit konkreten Einzelbestimmungen zu Umfang und Inhalt von Leistungen, aufgenommen worden. Auch in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union haben sie Eingang gefunden. Textlyrik sei das, so meinen die Kritiker, Gegenstand von Sonntagsreden, irrelevant für die Entwicklung des Rechts. Über viele Jahre schien diese Aussage nicht zu widerlegen zu sein. Zwar mehrten sich die Regelungen, aber ihre Bedeutung blieb vage. Eine Anwendung auf konkrete Fälle war eine seltene Ausnahme, interpretatorisch wurden sie nicht erschlossen. Spätestens mit den gewaltsamen Protesten gegen die Welthandelsorganisation in den 90er Jahren ist aber deutlich geworden, dass internationale Sozialstandards in einer globalisierten Wirtschaft als Gegengewicht zu einer grenzüberschreitenden Maximierung von wirtschaftlichen Erträgen von essentieller Bedeutung sind. Das Ende des Ost-WestKonflikts hat dazu beigetragen, ritualisierte Formen des „Schweigens auf der Grundlage von Recht“ durch einen neuen Dialog über Rechtsinhalte zu ersetzen. Nicht nur in die politische Diskussion über internationale Sozialstandards ist Bewegung gekommen, sondern auch ihre konkrete Anwendung als „Recht“ ist Realität geworden. Damit werden internationale Sozialstandards auf den Prüfstand gestellt – vermögen sie die Entwicklung der nationalen Sozialschutzsysteme zu beeinflussen, vermögen sie Verstöße gegen ein auf internationaler Ebene allgemein anerkanntes Konzept von „sozialer Gerechtigkeit“ sichtbar zu machen? Im Jahr 1984 wurden an den Ausschuss für Menschenrechte1 zwei Fälle herangetragen, bei denen es um die Ungleichbehandlung von Frauen bei der Gewährung von Arbeitslosenunterstützung ging. Fälle von untergeordneter Bedeutung eigentlich: Frauen wurde nach niederländischem Recht eine Unterstützungsleistung nur 1 Human Rights Committee; vgl. die Übersicht zu den internationalen Kontrollgremien im Anhang.
28
Einführung
gewährt, wenn sie nachweisen konnten, mit ihrem Einkommen die Familie zu ernähren, während diese Voraussetzung bei Männern als selbstverständlich unterstellt wurde. Der Ausschuss für Menschenrechte, ein aus achtzehn „Persönlichkeiten von hohem sittlichen Ansehen und anerkannter Sachkenntnis auf dem Gebiet der Menschenrechte“ zusammengesetztes internationales Gremium, beurteilte dies als Verstoß gegen das in Art. 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR)2 festgeschriebene Diskriminierungsverbot3. Nun war das Besondere an den Fällen nicht, dass eine Regelung, die Frauen direkt diskriminierte, als Verstoß gegen Völkerrecht angeprangert wurde – dies fügte sich ein in die allgemeine Entwicklung der Spruchpraxis internationaler Gremien. Bemerkenswert war der Fall vielmehr insofern, als die Diskriminierung die Gewährung einer Sozialleistung betraf, eine Frage, für deren Klärung der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte gerade nicht geschaffen war – soziale Rechte waren vielmehr in den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR)4 aufgenommen worden. Und zwischen den in den verschiedenen Pakten geschützten Rechten bestand eine untrennbare Kluft – trotz wiederholter Beteuerungen des Gegenteils – eine Kluft, die der Ost-West-Konflikt gegraben und ideologisch untermauert hatte. Die Garantie sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Rechte wurde zwar allseits als hehres Ziel des staatlichen Bemühens anerkannt, genauso einmütig aber – im Gegensatz zu den bürgerlichen und politischen Rechten – aus dem Bereich des rechtlich Relevanten und damit auf internationaler Ebene am Maßstab des Rechts Kontrollierbaren ausgeklammert. Und plötzlich hatte ein internationales Gremium die Kluft überbrückt, hatte eine Bestimmung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte auf eine dem sozialen Bereich zuzuordnende Rechtsposition angewandt und einen Staat wegen eines Verstoßes gerügt. Wenig später (1986) judizierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass sozialrechtliche Rechtspositionen, Ansprüche auf Krankengeld und Hinterbliebenenrenten, „zivile Rechte“ im Sinn der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)5 seien und damit die staatliche Tätigkeit im Hinblick auf die verfahrensrechtliche Geltendmachung dieser Rechte überprüft werden könne6. Waren die „Stellungnahmen“ des Ausschusses für Menschenrechte 2 International Covenant on Civil and Political Rights vom 19. 12. 1966; vgl. zu den völkerrechtlichen Verträgen die Zusammenstellung im Anhang. Im Folgenden werden die englischen Abkürzungen für die Verträge verwendet, soweit sie geläufiger als die deutschen Entsprechungen sind. 3 Broeks v. die Niederlande, Mitteilung vom 9. 4. 1987 (Nr. 172 / 1984); Zwaan de Vries v. die Niederlande, Mitteilung vom 9. 4. 1987 (Nr. 182 / 1984). 4 International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights vom 19. 12. 1966. 5 Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms vom 4. 11. 1950. 6 EGMR v. 29. 5. 1986, Serie A, Nr. 99 – Feldbrugge v. die Niederlande, EuGRZ 1988, S. 14 ff.; EGMR v. 29. 5. 1986, Serie A, Nr. 100 – Deumeland v. Deutschland, EuGRZ 1988, S. 20 ff.
I. Thema der Untersuchung
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unverbindlich, so gab es nunmehr auf regionaler Ebene im Völkerrecht auch verbindliche, durchsetzbare Entscheidungen, die das Recht auf sozialen Schutz zumindest teilweise als justitiabel am Maßstab einer internationalen Menschenrechtskonvention anerkannten. Die Schleusen waren geöffnet: In der Folge urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, sozialrechtliche Ansprüche könnten auch als Eigentum geschützt sein; zudem sei das Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens und das Verbot der unmenschlichen Behandlung in diesem Zusammenhang einschlägig. Damit war mit dem Ende des Kalten Krieges der Wunsch Realität geworden, Staaten bei Verstößen gegen auf verbindlichem Völkerrecht beruhende Normierungen im sozialen Bereich in Individualbeschwerdeverfahren zur Rechenschaft zu ziehen. Zudem bekam auch die Kontrolle der Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte selbst seit Mitte der 80er Jahre mehr „Biss“ – Meilensteine in der Entwicklung waren der Kommentar Nr. 3 des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte7 aus dem Jahr 1990, in dem die dogmatische Grundlage für eine zumindest teilweise Justitiabilität dieser Rechte geschaffen wurde8, die Veränderung des auf der Europäischen Sozialcharta9 beruhenden Kontrollverfahrens durch das Turiner Protokoll10 und die Ergänzung der Europäischen Sozialcharta durch ein Kollektivbeschwerdeprotokoll11. Damit zeitigten auch die bis dahin als Programmnormen verstandenen Formulierungen in den sozialen Rechten gewidmeten Menschenrechtsverträgen eine konkret fassbare Wirkung. Die internationale Dimension der Frage des sozialen Schutzes war auf neue Weise in den Vordergrund gerückt worden. Zwar war die Bedeutung länderübergreifender Regelungen in diesem Bereich seit mehr als einem Jahrhundert proklamiert worden und hatte auch zu einer Vielzahl von Regelungen geführt. Dennoch war die Frage wie kaum eine andere als „ureigenste Domäne nationaler Rechtspolitik“12 angesehen worden, da nur der einzelne Staat Sicherungssysteme auf obligatorischer Basis einführen und die Modi der Umverteilung bestimmen könne 7 Committee on Economic, Social and Cultural Rights, Ausschuss zur Einhaltung des Internationalen Paktes für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. 8 Committee on Economic, Social and Cultural Rights, Report on the fifth session, E.S.C.O.R. 1990, Suppl. No. 3, UN Doc. E / 1991 / 23; E / C.12 / 1990 / 8, S. 83 ff. („The Nature of States Parties Obligations“ (Art. 2, par. 1)). 9 European Social Charter vom 18. 10. 1961. 10 Protocol amending the European Social Charter vom 21. 10. 1991; das Protokoll ist zwar noch nicht in Kraft getreten; zentrale Änderungen zum Abstimmungsrecht bei Erlass individueller Empfehlungen und zur Rolle der verschiedenen Gremien im Kontrollverfahren wurden aber auf der Grundlage des Protokolls in der Resolution der Turiner Ministerkonferenz, bei der das Protokoll zur Unterzeichnung aufgelegt wurde, und in der Resolution des Ministerkomitees vom 11. 12. 1991 für anwendbar erklärt; vgl. Samuel, Fundamental Social Rights, S. 439. 11 Additional Protocol to the European Social Charter Providing for a System of Collective Complaints vom 9. 11. 1995. 12 Häfner, Motive, S. 114.
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und das Konzept der sozialen Gerechtigkeit nur auf nationaler Ebene, wenn nicht abschließend bestimmbar, so doch immer neu aktualisierbar sei. Dies wurde schon im 19. Jahrhundert in der Auseinandersetzung um die Möglichkeiten einer internationalen „Fabrikgesetzgebung“ reflektiert: „Mit dem Augenblicke, wo man die Schranken des einzelnen Staates überschreitet, häufen sich die Schwierigkeiten. Denn eben jenes Zusammenstimmen des Entschlusses und der Grundlagen für die Reform, das Vorhandensein des nöthigen Willens sowohl als der durchführbaren Zwecke, wird dadurch in hohem Maasse erschwert, dass die Erzeugung des Willens nicht mehr blos die Aufgabe des einzelnen Gemeinwesens, seiner Parteigegensätze, seiner gesetzgebenden Faktoren u.s.w. ist, sondern dass es jetzt darauf ankommt, einen gemeinsamen Willen zu schaffen weit über diejenigen Grenzen hinaus, innerhalb deren ein öffentlicher Wille mit bindender Kraft herstellbar ist. Es wird aber namentlich auch dadurch erschwert, dass die Voraussetzungen für einen gemeinsamen öffentlichen Willen, welche in den gemeinsamen Zuständen und deren Anforderungen liegen, um gerade so viel unvollkommener sind, als die Mannigfaltigkeit von Staaten, Völkern, Culturzuständen im Ganzen und im Einzelnen sich von der Gleichartigkeit der Zustände eines einzigen Landes entfernt. Der immer stärker hervortretende Zug unserer Zeit nach einem internationalen Rechte für das ökonomische und sociale Leben findet hierin den Maassstab der ihm entgegenstehenden Schwierigkeiten“13.
Auch die Europäische Gemeinschaft hatte bei der Regelung sozialpolitischer Fragen äußerste Zurückhaltung geübt, ging man doch davon aus, dass gerade hier die nationalen Traditionen so sehr divergierten, dass eine Harmonisierung – auch als Fernziel – nicht kompromissfähig wäre. Lediglich einzelne Fragen wie etwa die gleiche Entlohnung von Mann und Frau schienen in den 50er Jahren regelbar. Dass die nationale Monopolisierung des Themas „Sozialrecht“ nicht haltbar ist, hat sich in der Folge der dynamischen, Grenzen öffnenden wirtschaftlichen Entwicklung gezeigt. Die Forderung, die Globalisierung auch auf Fragen sozialpolitischer Gestaltung zu beziehen, ist Allgemeingut geworden: „The increasingly globalized world economy calls for a similarly globalized approach to basic ethics and political and social procedures“14.
Auf internationaler Ebene geht es zum einen um eine Sicherung gegen den Abbau eines bereits erreichten Sozialniveaus, um die Frage, ob die sozialrechtliche „Rundum-Versorgung“, die in mehreren Industrieländern besteht, auch im internationalen Wettbewerb mit Hilfe von für alle gleichermaßen weltweit geltenden Standards aufrechterhalten werden kann. Zum anderen aber bleibt auch die „19. Jahrhundert-Problematik“ bestehen, da insbesondere in Entwicklungsländern die schon damals eingeforderten elementaren Rechte noch nicht realisiert sind und mit der Begründung nicht realisiert werden, dies würde die einzigen auf dem Weltmarkt überhaupt bestehenden Wettbewerbsvorteile zunichte machen. 13 14
Cohn, Fabrikgesetzgebung, S. 318, 319. Sen, Work and Rights, S. 128.
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Dem Thema wird allgemein ein hoher Stellenwert eingeräumt. Auf dem Weltsozialgipfel 1995 war die Frage der sozialen Sicherheit einer der Punkte, die im Mittelpunkt des Interesses standen15. Die Internationale Arbeitsorganisation hat die Problematik im Jahr 2001 bei der internationalen Arbeitskonferenz diskutiert16. Der Europarat hat in den 90er Jahren verschiedene neue Konventionen in diesem Bereich ausgearbeitet und versucht, soziale Werte insbesondere in Mittel- und Osteuropa zu vermitteln und die neuen Mitgliedstaaten zur Ratifikation der sozialrechtsrelevanten Konventionen zu bringen17. Und sogar Amnesty International, eine Nicht-Regierungs-Organisation (NGO), die sich traditionell ausschließlich dem Schutz der bürgerlichen und politischen Rechte widmet, erwägt, auch die Einhaltung sozialer Grundrechte gezielt zu überwachen18. In gleicher Weise ist für die EU einerseits mit der Politik der offenen Koordinierung, andererseits mit der Aufnahme sozialer Rechte in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union eine Öffnung auch in diesem Bereich zu beobachten. Sieht man Globalisierung als Gefährdung sozialer Besitzstände, die nur jeweils im nationalen Kontext geschützt sind, so ist die Betonung der internationalen Dimension der Thematik nur folgerichtig. Nicht nur gilt es, den Handel auf ein Fundament zu stellen, auf dem Wettbewerb sich abspielen kann, ohne ruinös für nationale Sozialsysteme zu sein. Daneben haben internationale Regelungen auch Defizite auszugleichen, die dadurch entstehen, dass der Staat sich als Regelungsinstanz zurückzieht bzw. von anderen Regelungsinstanzen überlagert oder verdrängt wird19. Und schließlich ist es ein Desiderat, dass internationale Sozialstandards für das Operieren internationaler Akteure rechtliche Vorgaben im Bereich des Sozialschutzes machen. Dies gilt insbesondere für die Weltbank, die eine bestimmte Gestaltung der Sozialschutzsysteme zur Voraussetzung von Kreditvergaben macht – dies hat naturgemäß intensive Auswirkungen auf die jeweilige nationale Sozialpolitik. Internationale Sozialstandards könnten auch hier richtungsbestimmend wirken. Ob sie es in der Praxis tun, ist allerdings mehr als fraglich20. Problematisch ist, dass die Tätigkeiten der verschiedenen internationalen Organisationen nicht unbedingt aufeinander abgestimmt sind: Vgl. United Nations, World Summit for Social Development, New York 1995. Vgl. den vorbereitenden Bericht: ILO, Social security: Issues, challenges and prospects. International Labour Conference, 89th session 2001, Report VI, Genf 2001 (zitiert ILO, Social Security). 17 Vgl. das Programm des Europarats „Strategy for Promoting Social Standards“ (CDCS (99) 8). 18 Vgl. die Artikel im Economist, August 18th 2001, „Does it help to think of poverty or inadequate health care as violations of basic rights?“ (S. 9) und „Righting wrongs“ (S. 18 ff.). 19 Vgl. Zumbansen, Spiegelungen, S. 13 ff., Zumbansen, Zukunft des Völkerrechts, S. 46 ff.; vgl. außerdem die Einzelbeiträge in Teubner, Global Law without a State. 20 Vgl. z. B. Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Egypt 23 / 05 / 2000. E / C.12 / 1 Add.44, Punkt 14: „The Committee regrets that the State party does not take its obligations under the Covenant into account in its negotiations with international financial institutions“. 15 16
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Aber auch mit Blick auf die Menschenrechtsidee an sich ist es eine Notwendigkeit, sozialen Standards einen hohen Stellenwert einzuräumen. Henry Shue hat überzeugend nachgewiesen, dass es grundlegende Rechte gibt („basic rights“), ohne die ein menschenwürdiges Leben nicht vorstellbar ist; werden diese Rechte nicht garantiert, können auch alle anderen Rechte nicht mehr wirksam gesichert werden22. Und zu diesen grundlegenden Rechten gehört nicht nur das Recht auf Sicherheit („right to security“), sondern auch das Recht auf eine materielle Grundsicherung der Existenz („right to subsistence“). Dies gilt in besonderer Weise für diejenigen, die sich selbst nicht helfen können, für diejenigen, die in einer Gesellschaft, die Existenz auf Arbeit aufbaut, invalide, krank oder arbeitslos geworden sind. Die Garantie eines Rechts auf sozialen Schutz ist damit komplementär zur Garantie eines Rechts auf Sicherheit – eine Einsicht, die für die moderne Gesellschaft grundlegend ist. Aber auch wenn dies anerkannt wird, so besteht doch kein Konsens darüber, ob das Völkerrecht ein geeignetes Instrument ist, um entsprechenden Forderungen zur Durchsetzung zu verhelfen. Die vorliegende Arbeit nimmt das Völkerrecht als Regelungsinstrument ernst. Untersucht wird, was das Völkerrecht im Bereich des Sozialschutzes erreicht hat, wie mit Allgemeinklauseln wie „Recht auf soziale Sicherheit“ und „Recht auf soziale Fürsorge“ bei Kontrollverfahren operiert wird, mit welchen Maßstäben nationale Sozialschutzsysteme gemessen werden, ob sich dabei das Recht als Recht behauptet.
2. Begriff internationaler Sozialstandards Ausgangspunkt der Untersuchung sind „Sozialstandards“. Dieser Begriff liegt quer zu anderen konzeptionellen Einteilungen wie „soziale Grundrechte“, „Internationales Sozialrecht“ und „Internationales Sozial- und Arbeitsrecht“. Soziale Grundrechte werden in der Regel als Teil der Menschenrechte gesehen; die Systematisierung orientiert sich im internationalen Bereich an den Trennlinien, die mit der Aufnahme der Rechte in unterschiedliche Verträge gezogen wurden23. Valticos, Pluralité, S. 312. „. . . the substance of a basic right is something the deprivation of which is one standard threat to rights generally. The fulfillment of a basic right is a successful defense against a standard threat to rights generally.“ (Shue, Basic Rights, S. 34). 23 Vgl. z. B. die Trennlinien in folgenden Monographien bzw. Sammelbänden: Jenks, Human Rights, Eide / Krause / Rosas, Economic, Social and Cultural Rights, Drzewicki / Krause / Rosas, Social Rights as Human Rights. 21 22
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Diese Unterscheidung ist allerdings in keiner Weise trennscharf, da eine Reihe von Rechten in mehreren konzeptionell unterschiedlichen Pakten figuriert. Argumentationen, die auf soziale Grundrechte allgemein bezogen sind, fassen somit grundsätzlich Verschiedenes zusammen. Beispielsweise weisen das Recht auf Vereinigungsfreiheit und das Recht auf sozialen Schutz nicht mehr strukturelle Ähnlichkeiten auf als das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf sozialen Schutz. – Der Begriff „soziale Grundrechte“ erfasst nur Normierungen auf hoher Abstraktionsebene in Menschenrechtskonventionen, nicht dagegen Einzelregelungen im sozialen Bereich, wie sie sich insbesondere in Verträgen wie der Konvention Nr. 102 der Internationalen Arbeitsorganisation24, der Europäischen Ordnung für soziale Sicherheit25 und der Europäischen Fürsorgekonvention26 finden. Eine andere Systematisierung der Rechtsmaterie erfolgt mit dem Begriff „Internationales Sozialrecht“. Darunter fasst man zum einen, parallel zum Verständnis des Begriffes „Internationales Privatrecht“, die Kollisionsnormen, die regeln, ob bei einem Rechtsverhältnis mit Auslandsberührung deutsches oder ausländisches Recht eingreift27. Andererseits sind „alle diejenigen Normen unter dem Begriff des internationalen Sozialrechts zusammenzufassen, die internationale Sachverhalte zum Gegenstand haben“28 bzw. „alles seinem Ursprung oder seinem Gegenstand und Regelungsauftrag nach transnationale Sozialrecht“29 – die Begriffsverwendung ist sehr uneinheitlich30. Im englischen und französischen wissenschaftlichen Schrifttum ist es dagegen üblich, von „international labour law“31 bzw. „droit international du travail“32 oder Convention concerning Minimum Standards of Social Security vom 28. 6. 1952. European Code of Social Security vom 16. 4. 1964. 26 European Convention on Social and Medical Assistance vom 11. 12. 1953. 27 Vgl. Eichenhofer, Internationales Sozialrecht und Internationales Privatrecht, S. 65, der darunter den „Inbegriff der Sozialrechtsnormen eines Staates, die den internationalen Geltungsbereich des betreffenden Sozialrechts oder die Wirkungen ausländischen Sozialrechts auf die Sozialrechtsordnung des betreffenden Staates regeln“ versteht. Zacher, Grundfragen, S. 488 ff., spricht in diesem Zusammenhang von einem abgrenzenden oder koordinierenden internationalen Sozialrecht. 28 Steinmeyer, Einführung, S. 1583. 29 Schuler, Internationales Sozialrecht, S. 60. 30 Vgl. zu den verschiedenen Bedeutungen des Begriffes „internationales Sozialrecht“ grundlegend Zacher, Grundfragen, S. 488 ff., Horizontaler und vertikaler Sozialrechtsvergleich, S. 10 ff., der klarstellt, dass sich die Charakteristik „international“ einerseits auf den Gegenstand (Tatbestände mit Auslandsberührung), andererseits auf die Quellen eines Rechtsgebiets beziehen kann. Zacher unterscheidet ein „standardisierendes und harmonisierendes Sozialrecht“, ein „abgrenzendes und koordinierendes Sozialrecht“ und ein „entwicklungspolitisches Sozialrecht“ voneinander. 31 Vgl. die Monographien Valticos / Potobsky, International Labour Law; Betten, International Labour Law. 32 Vgl. Valticos, Droit international du travail; vgl. in der deutschsprachigen Literatur auch Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, Schnorr, Das Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Rechtsetzung. 24 25
3 Nußberger
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„droit international ouvrier“33 zu sprechen und arbeits- und sozialrechtliche Regelungen internationalen Ursprungs unter eine Klammer zu ziehen. In der vorliegenden Arbeit geht es darum, die vorgegebenen Systematisierungen und Schematisierungen aufzubrechen und alle internationalen Regelungen zu der Thematik des sozialen Schutzes des Bürgers durch den Staat als Einheit zu betrachten. Analysiert werden diejenigen Regelungen internationalen Ursprungs, die Fragen der Garantie sozialer Sicherheit und sozialer Fürsorge durch den Staat erfassen und damit Fragen des Schutzes des Einzelnen bei der Verwirklichung bestimmter Risiken, die in der modernen Gesellschaft nicht ohne Hilfe bewältigbar sind34, sowie Fragen nach der Verpflichtung des Staates zu Hilfeleistungen in sonstigen Fällen existentieller Not berühren35. Der Begriff „sozialer Schutz“ wird dabei als Oberbegriff verwendet. Internationale Sozialstandards schließen so einen Teil der sozialen Grundrechte und einen Teil des internationalen Arbeits- und Sozialrechts ein, zudem auch bürgerliche und politische Rechte, soweit diese soziale Rechtspositionen erfassen. Die Besonderheit internationaler Sozialstandards liegt darin, dass sie, nimmt man sie als Gesamtheit, auch zu einer Reihe von weiteren Kategorisierungen quer liegen. Weder sind sie dem klassischen Völkerrecht noch den Menschenrechten vollständig zuordenbar36. Reziprozität spielt bei einer Reihe von Regelungen eine zentrale Rolle, während andere Regelungen für die Staaten eine „urbi-et-orbi-Bindung“ bewirken und es gerade nicht um ein Geben und Nehmen zwischen verschiedenen Staaten geht37. Sozialstandards können Koordinierungs- wie auch Harmonisierungsregelungen umfassen. Regelungen auf einem hohen Abstraktionsniveau stehen konkreten Detailregelungen gegenüber. Zudem greifen unverbindliche und verbindliche Regelungen ineinander. 33 Vgl. dazu insbesondere die Schriften von der Jahrhundertwende z. B. Mahaim, Le droit international ouvrier (1913), der von dem „Teil des internationalen Rechts, der die Beziehungen der Staaten untereinander hinsichtlich ihrer eigenen Arbeiter regelt“ spricht (S. 23); Raynaud, Droit international ouvrier, (1906), nach dem es sich um das Recht handelt, das „die Rechtsstellung der ausländischen Arbeiter hinsichtlich der Arbeitsfragen regelt.“ (S. 13); vgl. auch Cohn, Über internationale Arbeiterschutzgesetzgebung (1890). 34 Dabei geht es in der Regel um Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Alter, Tod des Ernährers, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Arbeitslosigkeit und Familienleistungen, die aufgrund von beitrags- oder nicht-beitragsbezogenen Systemen sozialer Sicherheit gewährt werden; vgl. als Anhaltspunkt die Definition in Art. 2 Abs. 1 der Europäischen Konvention für Soziale Sicherheit, (European Convention on Social Security vom 14. 12. 1972), die für eben diese Risiken sowie auch für Leistungen im Todesfall (death grants) anwendbar ist. 35 Vgl. als Anhaltspunkt die Definition in Art. 2 a i) der Europäischen Fürsorgekonvention (European Convention on Social and Medical Assistance) vom 11. 12. 1953: „Assistance means . . . all assistance granted under the laws and regulations in force . . . under which persons without sufficient resources are granted means of subsistence and the care necessitated by their condition . . .“. 36 Zu der Unterscheidung vgl. Simma, International Human Rights, S. 153 ff. 37 Simma, International Human Rights, S. 167 ff.
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Dies ist auch der Grund dafür, von Sozialstandards in Anlehnung an Eibe Riedels „Menschenrechtsstandards“ zu sprechen. Eibe Riedel hat das Recht auf Eigentum und das Recht auf Arbeit analysiert und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Menschenrechtsstandards als „Kombinationsstandards“ „Normen unterschiedlichster Verdichtung in sich aufnehmen und ohne ,Aufweichung‘ von rechtsverbindlichen Normen als Maßstäbe wichtige Steuerungsfunktionen und Entscheidungshilfen bieten“38. In diesem Sinne wird auch in der vorliegenden Arbeit das umfassende Spektrum der verbindlichen und unverbindlichen Regelungen im Sozialbereich gleichermaßen in die Untersuchung mit einbezogen.
3. Besonderheiten der Entwicklung internationaler Sozialstandards Ubi societas, ibi ius39. Wo es eine Gesellschaft gibt, gibt es auch Recht. – Man möchte hinzufügen, dass, wo Recht ist, man sich auch über das Recht streitet, fragt, ob es das richtige Recht ist oder zu viel oder zu wenig, ob das Recht Freiräume lässt, die in nicht verantwortbarer Weise zu Konflikten führen oder ob notwendige Handlungsspielräume zu sehr eingeengt werden, ob das Recht so, wie intendiert, wirkt. Ein Mehr an Recht muss nicht unbedingt ein Mehr an Gerechtigkeit bedeuten40. Die – immer weiter zunehmende – Zahl von Regelungen betraf in der Vergangenheit im Wesentlichen das Verhältnis zwischen Staat und Bürger bzw. zwischen den Bürgern, die in einem Staat zusammenleben. Über ein Zuviel an Regelungen für das Zusammenleben der Völker wurde dagegen in der Regel keine Klage geführt. Im Gegenteil: Im Vordergrund der Diskussion stand die Forderung nach mehr Recht, um der Gewalt zwischen den Völkern Einhalt zu gebieten und den Handel und andere Formen der Begegnung auf eine sichere Grundlage zu stellen. Nunmehr ist aber – wenigstens bis zu einem gewissen Grad – auch eine internationale Gemeinschaft entstanden41. Ubi societas, ibi ius – auch hier ist nun das Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 375. Das Zitat stammt von Heinrich von Cocceji, Grotius illustratus seu Commentarii ad Hugonis Grotii de iure belli ac pacis, zu Prolog §§ 8 und 22. 40 Aus der griechischen Geschichte wird überliefert, dass bei den alten Lokrern eine Satzung des Zaleukus galt, wonach derjenige Lokrer, der ein neues Gesetz vorschlug, mit einem Strick um den Hals vor die Volksversammlung treten musste und dann, wenn sein Vorschlag keine Zustimmung fand, erdrosselt wurde. Der Hinweis findet sich bei Lotmar, Schriften, S. 99. 41 Zu den verschiedenen Implikationen des Konzepts der „internationalen Gemeinschaft“ vgl. Paulus, Internationale Gemeinschaft; Dupuy, La communauté internationale entre le mythe et l’histoire; Simma, Community Interest, S. 322 ff.; Khan / Paulus, Völkerrechtsgemeinschaft, S. 217 ff.; Simma / Paulus, International Community, S. 266 ff.; Lachs, Communauté internationale, S. 349 ff.; Verdross, Völkerrechtsgemeinschaft; S. V., Mosler, International Society, S. 32; Abi-Saab, International Community, S. 31; Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 159 – 171; McDougal / Reisman / Willard, World Community; Tomuschat, Die internationale Gemeinschaft, S. 1 ff. 38 39
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Phänomen zu beobachten, dass rechtliche Regelungen zunehmen, sich ausdehnen auf bisher noch nicht vom Recht erfasste Bereiche, dass neue Regelungen selbst auch wiederum neuen Regelungsbedarf erzeugen, sich überschneidende Regelungen entstehen, sich der Prozess der Rechtsproduktion verselbständigt, eine eigene Dynamik entwickelt. In diesem Kontext ist die Ausdifferenzierung der internationalen Sozialstandards zu sehen. Es geht um die Definition von sozialen Werten in der internationalen Gemeinschaft und ihre Weiterentwicklung als Recht: „When a modern people became conscious of its personality and organized its society, it established the standards of its new life. The United Nations had taken the first step towards a new life which embraced the whole world. Therefore the United Nations had to declare to the knowledge of all men what would be the standards of their future civic, social and economic life“42.
Bei der Entwicklung internationaler Sozialstandards sticht der quantitative Aspekt ganz grundsätzlich ins Auge. Sozialstandards werden – insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg – in großer Zahl in unterschiedlichem Kontext in Verträge, Deklarationen und Empfehlungen aufgenommen. Die Technik der Normierung erweist sich als überaus vielfältig. Das Spektrum reicht von Regelungen, die den Umfang der Leistungen bei Krankheit spezifizieren und Details wie etwa die Gewährung von Zahnprothesen und den Ersatz und die Erneuerung orthopädischer Hilfsmittel vorschreiben43, bis zu Allgemeinklauseln, die die Staaten verpflichten, ein „Recht auf soziale Sicherheit einschließlich der Sozialversicherung“ zu gewähren44 oder „sich zu bemühen, das System der Sozialen Sicherheit fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen“45. Insbesondere die Allgemeinklauseln finden sich mit leichten Abwandlungen in einer Vielzahl verschiedener normativer Instrumente. Aber auch konkrete Vorgaben werden zum Teil wörtlich wiederholt. Die Normierungsansätze von Vereinten Nationen, Internationaler Arbeitsorganisation und Europarat überschneiden sich in weitem Umfang; andere regionale Organisationen wie die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten greifen die Regelungen auf. Einzelstaaten, die Mitglied mehrerer internationaler Organisationen sind, sehen sich mit einer Vielzahl identischer oder teilidentischer, aber auch divergierender Normierungen von Sozialstandards konfrontiert. Normenkonflikte sind nicht ausgeschlossen, insbesondere, da die Normen im Rahmen jeder internationalen Organisation auf der Grundlage der Spruchpraxis von Sachverständigenausschüssen in Interpretations- und Kontrollverfahren eigenständig weiterentwickelt werden. 42 Stellungnahme des Vertreters Frankreichs bei der Diskussion zur ersten Generalversammlung der Vereinten Nationen M. Pezel (abgedruckt: Journal of the United Nations, No. 53, 8. 12. 1946, S. 284 – 289, zitiert nach Lauterpacht, International Protection, S. 75). 43 Vgl. Art. 10 Abs. 1 a – g Europäische Ordnung für Soziale Sicherheit (Revidiert) (European Code of Social Security (Revised)) vom 6. 11. 1990 (RESC). 44 Vgl. Art. 9 ICESCR. 45 Vgl. Art. 12 Abs. 3 ESC. Den gleichen Wortlaut hat Art. 12 Abs. 3 RESC.
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Jenks notiert dies ganz allgemein als Problem der Rechtsetzung im internationalen Bereich: „The conflict of law-making treaties, while undesirable and anomalous in principle, is an unavoidable incident of the absence of any overriding international legislative authority, the parallelism of international and regional action, the practical need for a functionally decentralized international legislative process, and the imperfect development of the law concerning the modification of law-making treaties by revision of amendment“46.
Besonderheiten weist nicht nur die Schaffung, sondern auch die Anwendung von Sozialstandards auf. Bis in die 80er Jahre ist eine konkrete Auslegung der Normen und eine Kontrolle des Rechts der jeweils vertraglich gebundenen Staaten nur in Ansätzen nachzuweisen. Eine Ausnahme bilden hier die sozialrechtlich relevanten Konventionen der IAO, die aufgrund eines in seinen Ursprüngen in die 20er Jahre zurückreichenden Kontrollverfahrens als Maßstab zur Beurteilung der Rechtsentwicklung in den verschiedenen nationalen Sozialrechtsordnungen herangezogen werden konnten. Zudem wurde die Bedeutung einzelner Normen auch in Anfragen an das Internationale Arbeitsamt geklärt; die nach der Verfassung vorgesehene Auslegung von Normen durch den Internationalen Gerichtshof dagegen ist nur in wenigen Fällen, die nicht unmittelbar sozialrechtliche Fragen betrafen, praktisch geworden. Seit den 80er Jahren ist hier eine grundlegende Änderung eingetreten. Nicht nur wurden, wie bereits erwähnt, Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Paktes für bürgerliche und politische Rechte auch auf sozialrechtliche Rechtspositionen angewandt. Auch die Kontroll- und Interpretationstätigkeit der Sachverständigengremien, die mit der Überwachung der Implementierung der Normen betraut sind, hat sich intensiviert. Die Rechtsentwicklung wird durch Stellungnahmen zu abstrakten Rechtsfragen, Kommentare zur Rechtspraxis in den jeweiligen Vertragsstaaten und Kontrollverfahren dynamisiert. Auch wenn diese nicht verbindlich sind, bauen sie doch ein case law auf, das bei der Auslegung der Normen nach Art. 31 Abs. 3 b des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVK) Beachtung finden kann. Dieses case law ist dadurch charakterisiert, dass Rechtsfortbildung nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Zum Teil wird der Wortlaut der Normen nur als Ausgangspunkt genommen, um allgemein-sozialpolitische Stellungnahmen abzugeben. Beispiele wären die Kommentare des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu den Problemen der Behinderten oder der alten Menschen – weder die eine noch die andere Gruppe wird in dem der Tätigkeit des Ausschusses zugrunde liegenden Rechtsdokument erwähnt. Ein anderes Beispiel wäre die Auseinandersetzung der verschiedenen Sachverständigenausschüsse mit dem Problem der Diskriminierung bei der Gewährung sozialer Rechte aufgrund von Staatsangehörigkeit, obwohl gerade dieses Kriterium in den entsprechenden 46
Jenks, Law-making treaties, S. 450.
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Diskriminierungsverboten nicht zu finden ist; Staatsangehörigkeit ist allenfalls unter die Allgemeinklausel „Diskriminierung aufgrund eines sonstigen Status“ zu subsumieren. Auch für die Kontrolle mittelbarer Diskriminierungen lässt sich im Wortlaut der verschiedenen Konventionen kein Anhaltspunkt finden; dennoch nimmt sie insbesondere in der Spruchpraxis des Sozialrechtsausschusses47 einen breiten Raum ein. Auch die Auslegung der bürgerlichen und politischen Rechte ist als rechtsfortbildend zu betrachten, wenn etwa die mit einer Abschiebung verbundene Beendigung der Gewährung medizinischer Leistungen als unmenschliche Behandlung gewertet und mit Folter auf eine Stufe gestellt wird48. Dynamische Interpretation ist charakteristisch für die Auslegung der Grundrechtsbestimmungen in internationalen Verträgen. Dies gilt auch für Sozialstandards, wird allerdings dann problematisch, wenn den Grundrechtsnormierungen Detailregelungen gegenüberstehen, mit denen eine ausgeglichene Balance der verschiedenen Interessen zu erreichen versucht wird, diese aber bei der Auslegung der Grundrechtsnormen schlicht ignoriert werden. Zudem ist zu bedenken, dass die Gewährung von Leistungen durch den Staat immer zugleich auch die Ausübung von Zwang bedeutet, da zur Finanzierung Steuern und Beiträge abzuführen sind; Leistungen und Zwangssparen bzw. Umverteilung sind zwei Seiten einer Medaille. Sind die Stellungnahmen der nur aus wenigen Mitgliedern zusammengesetzten Sachverständigengremien und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte praeter oder contra legem, so drängt sich die Frage nach der Legitimation dieser Form von internationaler Kontrolltätigkeit auf, ein Problem, das sich bei der Auslegung internationalen Rechts ganz allgemein stellt: „In the international sphere the problem is complicated, on the one hand, by the requirement of caution and restraint called for by the sovereignty of States and by the voluntary and, therefore, precarious nature of the jurisdiction of international tribunals. It is intensified, on the other hand, by the strong inducements to supplement and remedy the deficiencies and inconsistencies of an imperfect system of law“49.
Nun ist die Auslegung der Sozialstandards nur teilweise verbindlich; soweit sie von Sachverständigenausschüssen geleistet wird, ist sie unverbindlich. Dennoch kann auch eine unverbindliche Auslegung einer Norm, wenn sie beispielgebend wirkt, die tatsächliche Anwendung der Norm, die Normpraxis verändern50. Das Problem der Legitimation der Kontrolltätigkeit ist so nicht allein mit dem Hinweis auf die Rechtsnatur der Stellungnahmen der Sachverständigenausschüsse zu lösen. – Und noch ein weiteres Problem ist zu bedenken: Die Forderungen, die als Recht 47 Committee for Social Rights; Kontrollausschuss zur Überwachung der Einhaltung der Europäischen Sozialcharta. 48 Vgl. EGMR v. 2. 5. 1997 Nr. 30240 / 96, RDJ 1997-III – D. . / . das Vereinigte Königreich. 49 Lauterpacht, Development, S. 155. 50 Larenz, Methodenlehre, S. 299.
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durchgesetzt werden sollen, dürfen den Bezug zu dem in den einzelnen Ländern hic et nunc Realisierbaren nicht verlieren: „To pave the way for greater respect for human rights and human dignity, the human rights instruments must be more advanced than the mores of the community. But how far in advance should human rights instruments be? Idealism should not be confused with Utopia“51.
II. Zielsetzung der Untersuchung 1. Analyse von Bestand und Wirken internationaler Sozialstandards Neue internationale Sozialstandards sind notwendig52. Denn – die im Rahmen der Globalisierung eingeforderte „internationale Sozialverfassung“ ist noch nicht entstanden. Die Sozialstandards im Völkerrecht geben keine ausreichenden Antworten auf die drängenden sozialen Fragen angesichts der unumkehrbaren Entwicklungen im Bereich von Wirtschaft und Technologie, die zu einer immer engeren internationalen Vernetzung führen. Vielmehr sind sie geprägt von dem Denken des 19. Jahrhunderts, das von dem Dualismus Arbeitnehmer – Arbeitgeber in der Industrieproduktion bestimmt ist. Entwicklungen, die mit diesen Schemata nicht fassbar sind, können in ihrer Besonderheit nicht adäquat wahrgenommen werden. Das Recht hat sich von der Wirklichkeit abgekoppelt, wenn etwa die Nicht-Zahlung von Arbeitslosengeld für die Mitarbeiter von Zulieferfirmen in Betrieben, die mittelbar von Streiks betroffen sind, in einem institutionalisierten Verfahren gerügt werden kann, das Fehlen jeglicher Form von sozialer Sicherheit für mehr als die Hälfte der Menschen weltweit aber allenfalls in politische Statements Eingang findet53. Der Bedarf an neuen internationalen Sozialstandards lässt sich aber nur erkennen, wenn man die bestehenden Standards einer eingehenden Analyse unterzieht und abschätzt, wo einerseits Defizite und strukturelle Schwächen, wo andererseits aber auch die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeit des Sozialbereiches durch internationalrechtliche Regelungen liegen. Dies ist Ziel der vorliegenden Arbeit, die rechtsvergleichend die Normierungsansätze zum Recht auf soziale Sicherheit und zum Recht auf soziale Fürsorge im Rahmen der Vereinten Nationen, der Internationalen Arbeitsorganisation und des Europarats einander gegenüberstellt, ihrer Meron, Law-Making, S. 52. Dies zeigt nicht zuletzt auch die konkrete Ausgestaltung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die allerdings als Bestandteil des supranationalen Rechts nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist. 53 „One of the key problems facing social security today is the fact that more than half of the world’s population (workers and their dependants) is excluded from any type of social security protection. They are covered neither by a contribution-based social insurance scheme nor by tax-financed social benefits, while a significant additional proportion are covered for only a few contingencies.“ ILO, Social Security, S. 3. 51 52
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Entwicklung aufgrund der Spruchpraxis der mit der Auslegung der Normen befassten Sachverständigengremien nachgeht und rechtskritisch die Wirkungsmöglichkeiten von „Recht“ in diesem Bereich prüft. Das im Rahmen der Europäischen Union geschaffene Recht wird ausgeklammert, da es nach Struktur und Bedeutung ein Aliud darstellt; lediglich in der historischen Darstellung wird die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Kristallisationspunkt des in einem Teil von Europa anerkannten Rechts kurz gewürdigt. Welche Entwicklung, so ist zu fragen, hat dazu geführt, dass mit den internationalen Sozialstandards Normen mit besonderen strukturellen Merkmalen und zugleich politisch-moralische Postulate in das Völkerrecht, dessen Regelungsbereich ursprünglich nur die Rechtsbeziehungen zwischen den Staaten umfasste, Eingang gefunden hat. Im Einzelnen ist zu untersuchen, wie sich einerseits das Konzept internationaler Sozialstandards verändert und andererseits das Völkerrecht geöffnet hat, was konkret den Anstoß zum Abschluss von sozialrechtsrelevanten Verträgen gegeben hat, welche Interessenkonflikte zum Ausgleich zu bringen und welche Interessenkonflikte durch Formelkompromisse zu überbrücken waren. Internationale Sozialstandards sind auf drei Denktraditionen zurückzuführen: auf die Grundrechtsidee, die relevant ist, soweit sie auch den Schutz materieller Bedürfnisse des Einzelnen mit reflektiert, auf die Idee der Internationalisierung der Arbeiterschutzgesetzgebung, die in der Folge der Einführung von Sozialversicherungssystemen in einer Mehrzahl von Ländern auch Normierungen des Rechts auf soziale Sicherheit mit einschließt, und schließlich auf das Postulat, das bereits im klassischen Völkerrecht verankerte Fremdenrecht müsse auch den sozialen Schutz der Fremden im Ausland mit umfassen. Diese verschiedenen Ansätze überlagern und ergänzen sich und führen zu Parallelnormierungen, die nicht immer in sich stimmig sind (Kapitel A). Nun genügt es aber nicht, die Normen im Überblick darzustellen; nötig ist vielmehr auch, im Einzelnen zu prüfen, für wen und in welchem Umfang die Verträge tatsächlich gelten, gegen welche Bestimmungen Vorbehalte eingelegt oder inwiefern von einem Wahlrecht Gebrauch gemacht worden ist, welche Techniken Kompromisse auch trotz Meinungsverschiedenheiten in der Sache ermöglichen. Auf dieser Grundlage lässt sich das Substrat des rechtlich Verbindlichen ermitteln (Kapitel B). Geht es nicht nur um den Bestand, sondern auch um das Wirken internationaler Sozialstandards, so ist in einem weiteren Schritt zu untersuchen, wie die Normen zur Anwendung kommen, wie sie von den Sachverständigengremien ausgelegt werden. Abstrakte Interpretations- und konkrete Kontrollverfahren sind voneinander abzugrenzen, da beide in je unterschiedlicher Weise zur Konkretisierung des Normverständnisses beitragen (Kapitel C). Auf der Grundlage der Analyse von Bestand und Wirken internationaler Sozialstandards ist die Frage zu erörtern, ob die verschiedenen Normen sich zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen oder ob sich eine Vielzahl von nicht auf-
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einander abgestimmten Normierungsansätzen entwickelt hat, ein Quidproquo auf der internationalen Bühne. Möglich wäre, dass einzelne Normen die Staaten zu etwas verpflichten, was andere Normen gerade verbieten, ohne dass Mechanismen zur Lösung derartiger Konflikte bereitstünden. In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob der Einzelne, will er sein Recht auf internationaler Ebene durchsetzen, Wahlmöglichkeiten hat, die einem Forum Shopping im internationalen Prozessrecht vergleichbar wären. Im Ergebnis kann man bei der Anwendung internationaler Sozialstandards, parallel zum Internationalen Privatrecht, entweder von internationaler Entscheidungsharmonie sprechen oder aber Fälle von Entscheidungsdisharmonie nachweisen (Kapitel D). In den ersten vier Kapiteln soll so das Funktionieren internationaler Sozialstandards ausgelotet werden. Dabei geht es nicht um die Einhaltung oder Nicht-Einhaltung der Standards auf der nationalen Ebene – diese Frage könnte nur in einem Rechtsvergleich zwischen verschiedenen nationalen Rechtsordnungen beantwortet werden. Vielmehr ist das Interesse fokussiert auf das, was auf internationaler Ebene geschieht, wie auf die Einhaltung bzw. Nicht-Einhaltung der Standards reagiert, wie mit den Standards operiert wird, wie sie weiterentwickelt und ausdifferenziert werden.
2. Analyse von Verrechtlichungsprozessen im internationalen Bereich Die Tatsache, dass Recht Rechtssicherheit schafft, es ermöglicht, Entscheidungen vorhersehbar zu machen und Verhalten zu steuern, andererseits aber auch falsche Sicherheit suggeriert und Verhalten in einer Art und Weise beeinflusst, die den ursprünglichen Intentionen entgegenläuft, ist in verschiedenem Kontext als „Verrechtlichung“ – je nachdem, positiv oder negativ bewertet – thematisiert worden: in der Weimarer Republik von Carl Schmitt und Josef Kunz aufgrund des neu in das Völkerrecht aufgenommenen Verbots der kriegerischen Auseinandersetzung, im Bereich des Arbeitsrechts von Hugo Sinzheimer und Otto Kirchheimer aufgrund der Regelung grundlegender Fragen der Arbeitsverfassung, in den 70er und 80er Jahren angesichts eines mit der Vermehrung rechtlicher Regelungen einhergehenden Steuerungsdefizits im Rahmen einer umfassenden Diskussion über die Rechtsentwicklung, als deren Wortführer Niklas Luhmann, Jürgen Habermas und Gunther Teubner zu nennen sind. Thematisiert wird – zumindest ansatzweise – auch die insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg beobachtbare quantitative Zunahme internationaler Regelungen und das Eindringen von internationalen Regelungen in bisher dem Recht verschlossene Bereiche. Als „Verrechtlichung“ und damit als ambivalentes Phänomen, so die These der vorliegenden Arbeit, lässt sich auch die Entwicklung der Sozialstandards im Völkerrecht charakterisieren. Einerseits werden Orientierungspunkte für staatliche Sozialpolitik geschaffen, werden dem Einzelnen auch im sozialen Bereich Grund-
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rechte zuerkannt, wird eine international-rechtlich abgesicherte Verantwortung des Staates für das Wohlergehen des Einzelnen festgelegt, wird Politik in ein rechtlich determiniertes Koordinatensystem gestellt. Andererseits werden aber dynamische Meinungsbildungsprozesse formalisiert, wird Desintegration und Destabilisierung bewirkt. Recht erweist sich nicht als ein Instrument, mit dem Prozesse mathematisch-exakt steuerbar wären; vielmehr entfaltet es eine eigene Dynamik und greift in anderer Weise steuernd in Abläufe ein als vorgesehen. Zu berücksichtigen ist, dass der Begriff „Recht“ etwas Unterschiedliches bedeutet, bezeichnet man damit Regelungen, die im nationalen Bereich gelten, Regelungen des klassischen Völkerrechts oder aber internationale Sozialstandards. Für die Abgrenzung zwischen Recht und Nicht-Recht lassen sich eine Reihe unterschiedlicher Kriterien heranziehen, wobei man entweder formale oder inhaltliche Aspekte in den Vordergrund stellen oder aber die Rezeption als ausschlaggebend betrachten kann. Legt man die je unterschiedlichen Kriterien an internationale Sozialstandards an, so zeigt sich die Heterogenität der Sozialstandards. Es gibt verbindliche und nicht-verbindliche Sozialstandards, justitiable und nicht-justitiable Sozialstandards, solche die Erwartungen aufbauen und in politischen Entscheidungsprozessen von Bedeutung sind, und solche, bei denen dies gerade zu verneinen ist. Die Lackmusprobe kann auch bei den einzelnen Normen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. So gibt es Normen, die justitiabel, dennoch aber im politischen Prozess unbeachtlich sind, aber auch umgekehrt Normen, die noch nicht einmal verbindlich sind und dennoch als Druckmittel eingesetzt werden können. Diese Besonderheit internationaler Sozialstandards wird als „relative Normativität“ bezeichnet (Kapitel E). Auf dieser Grundlage ist zu untersuchen, in welcher Weise die Vervielfältigung von Sozialstandards auf internationaler Ebene zur „Verrechtlichung“ führt. Verrechtlichung wird dabei als ein Charakteristikum der Moderne verstanden. Recht, auch Völkerrecht, ist verfügbar, für konkrete Zwecke instrumentalisierbar geworden; es haben sich Strukturen herausgebildet, die eine quantitative Vermehrung der Regelungen begünstigen. Verrechtlichung durch internationale Sozialstandards bedeutet konkret das Eindringen von Normen in bisher dem Völkerrecht verschlossene Räume. Damit können in anderem Zusammenhang bereits bestehende Regelungen wiederholt, unvollständige Regelungen weiter differenziert oder auch bestehende Lücken geschlossen werden. – Diese Entwicklungen geben in verschiedener Weise Anlass zu Rechtskritik. Die Dysfunktionalitäten internationaler Sozialstandards zeigen die Grenzen rechtlicher Steuerung, die Grenzen der Möglichkeit, mit internationalen Vorgaben auf Entwicklungen im nationalen Bereich einzuwirken, auf (Kapitel F). Die Kritik an den Unzulänglichkeiten der bestehenden internationalen Sozialstandards bedeutet aber nicht, dass die Idee sozialer Gerechtigkeit nicht zu den Grundwerten der internationalen Gemeinschaft zu zählen wäre und auf dieser Grundlage konkrete Regelungen ausgearbeitet werden könnten. Aber der Aufbau einer internationalen Sozialverfassung, so rudimentär sie auch sein mag, wird immer mit dem Dilemma konfrontiert sein, dass sich adäquate Mindeststandards
II. Zielsetzung der Untersuchung
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einer Definition entziehen. Je konkreter und in ihrem rechtlichen Gehalt fassbarer Normen sind, desto weniger sind sie geeignet, den weltweit sehr unterschiedlichen Gegebenheiten in den verschiedenen Staaten gerecht zu werden; sie können nichts oder nur wenig zur Lösung der im jeweiligen nationalen Kontext aktuellen Probleme beitragen. Je mehr die Normen auf hoher Abstraktionsebene allgemeine Vorgaben zu machen suchen, desto größer ist die Gefahr, dass sie entweder mit beliebigen Inhalten ausgefüllt werden und keine eigenständige Steuerungsfunktion entfalten oder aber als bedeutungslos und redundant ignoriert werden.
A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards „Tant de traités ont été conclus dans le but de faire tuer des hommes, on saluerait avec une reconnaissance profonde ceux qui auraient pour but de les faire vivre“. Jérôme Blanqui 1839
Sozialstandards sind ein Novum im Völkerrecht. Noch 1896 schreibt Alphonse Rivier in seinem Buch „Principes du droit des gens“, zu der von Wilhelm II. einberufenen Konferenz in Berlin, auf der internationale sozial- und arbeitsrechtliche Fragen diskutiert werden, er fürchte, „de voir ainsi transporter dans le domaine du droit des gens certaines utopies qui, jusqu’à présent, ne peuvent exercer leurs ravages que dans quelques législations nationales“1.
Dabei geht die Idee, universelle Sozialstandards zu formulieren und im Recht zu verankern, auf das 18. und 19. Jahrhundert, die Ausarbeitung völkerrechtlicher Verträge im Wesentlichen auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Ein Jahrhundert später ist man mit einer Vielzahl sich überschneidender Standards, die in unterschiedliche Rechtsinstrumente Eingang gefunden haben, konfrontiert. Dies ist als Engführung parallel stattfindender Entwicklungen zu sehen. Zum einen werden die Grundrechte des Bürgers gegen seinen Heimatstaat nicht nur im jeweiligen nationalen Rechtssystem, sondern darüber hinaus – ergänzend und absichernd – auch auf vertraglicher Basis im internationalen Bereich garantiert. Daneben werden, um ruinöse Konkurrenz zu vermeiden, auf internationaler Ebene Vorgaben gemacht, wie die einzelnen Staaten ihre Sozialschutzsysteme zu gestalten haben. Eng mit diesen beiden Ansätzen verbunden ist schließlich als originär völkerrechtliche Thematik die Garantie von Schutz und Fürsorge für Fremde, die auch sozialrechtliche Ansprüche mit umfassen kann. Internationalen Sozialstandards liegen so grundsätzlich unterschiedliche Konzeptionen zugrunde. Entweder sie sind an der Grundrechtsidee ausgerichtet2 oder 1 Rivier, Droit des gens, Band I, S. 362. Auch Mahaim hält es in seiner Abhandlung „Droit international ouvrier“ im Jahr 1913 in der Einleitung für notwendig, die Verbindung von „droit international“ und „droit ouvrier“ zu erklären: „Le droit international évoque le monde aristocratique de la diplomatie, les grandes questions qui affectent les intérêts généraux des États. On n’aperçoit pas tout de suite comment il peut être ,ouvrier‘ ou s’occuper spécialement des ouvriers“ (Mahaim, Droit international ouvrier, S. 1). 2 Vgl. dazu grundlegend Stern, Idee der Menschen- und Grundrechte, S. 3 ff.
I. Garantie eines Bürgerrechts auf sozialen Schutz
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es geht um die Struktur des Sozialschutzsystems in seiner Gesamtheit. Im ersten Fall rückt das Individuum in den Blick. Dem Einzelnen soll ein konkretes Recht zuerkannt werden. Die klassische Formel lautet: „Jeder hat ein Recht auf . . .“. Dagegen zeigt eine Formulierung wie „der Kreis der geschützten Personen hat vorgeschriebene Gruppen von Arbeitnehmern, die insgesamt mindestens 50 vom Hundert aller Arbeitnehmer bilden, zu umfassen“, dass Anknüpfungspunkt der rechtlichen Normierung nicht der Einzelne ist – er kann zu den Gesicherten oder zu den Ungesicherten gehören. Entscheidend ist vielmehr, ob im Rahmen des gesamten Systems zumindest für einen Teil derer, die schutzbedürftig sind, Vorsorge gegen potentiell existentielle Risiken wie insbesondere Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Invalidität und Mutterschaft getroffen wird. Ein bestimmter Standard wird damit im Blick auf das System, nicht auf die konkreten Rechte des Einzelnen definiert. Grundrechtsschutz (das Recht auf sozialen Schutz) und Arbeiterschutz (die staatlich organisierte Vorsorge für den Eintritt bestimmter Risiken) sind so auf internationaler Ebene als zwei grundsätzlich verschiedene Konzeptionen zu sehen; die unterschiedlichen Entwicklungslinien werden in den ersten beiden Teilen des ersten Kapitels dargestellt. Überschneidungen zeigen sich bei der Betrachtung der Schutz- und Fürsorgemaßnahmen für Fremde; diesen ist der dritte Teil des ersten Kapitels gewidmet.
I. Internationale Regelungen zur Garantie eines Bürgerrechts auf sozialen Schutz 1. Postulate im Schrifttum des 17. und 18. Jahrhunderts Wird Hilfeleistung bei Not oder Fürsorge für Untergebene als moralische Pflicht des Gebenden angesehen, so ist der Bedürftige nicht Subjekt, sondern Objekt. Ein Paradigmenwechsel findet in dem Augenblick statt, in dem der Bedürftige selbst als Träger eines Anspruchs in Erscheinung tritt. Dies lässt sich erstmals im Schrifttum der Aufklärung nachweisen3. John Locke hat ein existentielles Schutzrecht des Einzelnen in der Gemeinschaft, ein „Recht auf sich selbst“ (Right to self-preservation) vorformuliert und aus der Vernunft und der biblischen Tradition begründet: „Whether we consider natural Reason, which tells us, that Men, being once born, have a right to their Preservation, and consequently to Meat and Drink, and such other things, as Nature affords for their Subsistence: Or Revelation, which gives us an account of those Grants God made of the World to Adam, and to Noah, and his Sons, tis very clear, that God, as King David says Psal. CXV. xvi. has given the Earth to the Children of Men, given it to Mankind in common“4. 3 Zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln des neuen Ansatzes im Schrifttum der Aufklärung vgl. Perrin, Right to social protection, S. 239 ff.; Brepohl, Soziale Rechte, S. 9 ff.
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
Diesen Gedanken greift auch Christian Wolff auf, wobei er aber nicht erklärt, gegen wen sich ein entsprechender Anspruch richtet. Er stellt lediglich fest, dass es zu den Rechten und Pflichten des Menschen gehöre, sich das „hinreichend verschaffen (zu) können, was zur Notdurft, Bequemlichkeit und dem Vergnügen, ja zur Glückseligkeit erfordert wird“5. Montesquieu sieht den Staat als Verpflichteten: „[L’État] doit à tous les citoyens une subsistance assurée, la nourriture, un vêtement convenable, et un genre de vie qui ne soit point contraire à la santé“6.
Allerdings bleibt offen, inwieweit mit diesen Forderungen bereits tatsächlich der Schritt weg von der patriarchalischen Fürsorge für Untergebene hin zur Formulierung sozialer Rechte, die dem Einzelnen als Menschen zustehen, vollzogen wird7. Im vorrevolutionären Schrifttum sind verschiedene, dem Konzept der „Brüderlichkeit“ entspringende „soziale“ Rechtsansprüche auszumachen, die die Forderung nach staatlicher Arbeitsbeschaffung, den Anspruch auf Mindestlohn, den Zugang zum Bildungssystem sowie den Schutz und die Hilfe des Mitmenschen gleichermaßen umfassen8. Die Formulierung eines Rechts auf sozialen Schutz als Menschenrecht findet sich erstmals bei Thomas Paine und dem Marquis de Condorcet. Das Besondere bei der Theorie von Thomas Paine ist, dass er diesen Schutz als Recht einfordert und es nicht dem Ermessen der Verwaltung überlassen will, Hilfe in Einzelfällen zu leisten9. Diese Überlegungen sind in der Schrift „The Rights of Man“ aus dem Jahr 1791 in dem Kapitel „Ways and means of improving the condition of Europe, interspersed with miscellaneous observations“ niedergelegt. Es handelt sich also um eine konkrete Utopie, die nicht nur die Situation in einem Land im Auge hat, sondern in der ganzen so genannten „zivilisierten“ Welt10. 4 Locke, Two Treatises of Government, S. 285 f.; zu Locke vgl. Donnelly, Universal Human Rights, S. 88 ff.; Dias, Grundrechte, S. 13 ff.; Euchner, Naturrecht, S. 78 ff.; Punt, Menschenrechte, S. 110 ff. 5 Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, § 103. 6 Montesquieu, De l’esprit des lois, S. 119 f. 7 Vgl. dazu Krause, Entwicklung, S. 404. 8 Vgl. Krause, Entwicklung, S. 406 ff.; Menger, Recht auf vollen Arbeitsertrag, S. 1 ff. 9 Paine fordert zum einen Unterstützungszahlungen für Kinder unter 14 Jahren, um ihnen einen Schulbesuch zu ermöglichen und kinderreiche Familien zu entlasten, zum anderen Renten für alte Menschen über 50 bzw. 60 Jahren. Dies will er mit Steuern finanzieren, die dann nicht mehr für die Lebenshaltung des Adels zur Verfügung stehen. Auf diese Leistungen fordert Paine ein Recht: „To provide for all those accidents, and whatever else may befall, I take the number of persons who, at one time or other of their lives, after fifty years of age, may feel it necessary or comfortable to be better supported than they can support themselves, and that not as a matter of grace and favour, but of right. . .“ (Paine, Rights of Man, S. 250). 10 „When, in countries that are called civilized, we see age going to the workhouse and youth to the gallows, something must be wrong in the system of Government. . . . Civil Government does not consist in executions; but in making that provision for the instruction of
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Condorcet formuliert das Konzept, dass die Hilfe der Gemeinschaft für den Einzelnen eine „heilige Pflicht“ sei, und befürwortet, dass Sozialschutzmaßnahmen die ganze Bevölkerung erfassen sollen. Die Gruppen der Gesellschaft, die er als hilfsbedürftig ansieht, entsprechen im Wesentlichen denen, die später von der Sozialversicherung erfasst werden11. Zur Umsetzung des Programms schlägt er die Bildung von Fonds vor. Allerdings geht keiner dieser Denker so weit, eine Absicherung derartiger Ansprüche im Völkerrecht zu fordern.
2. Aufnahme des Rechts auf sozialen Schutz in nationale Verfassungen im 18. und 19. Jahrhundert Die Diskussion im 17. und 18. Jahrhundert wird nicht von derartigen Forderungen im sozialen Bereich, sondern vielmehr von Abwehrrechten gegen den Staat bestimmt; die sozialen Rechte stehen, wenn überhaupt, nur in zweiter Reihe12. Dem entspricht, dass auch der Schritt von der Formulierung der Idee in philosophischen Traktaten, in politischen Programmen und Streitschriften zur normativen Festlegung zuerst nur in Bezug auf Freiheitsrechte vollzogen wird: in der Bill of Rights vom 13. 2. 1689, in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. 7. 1776 und auch in der Menschenrechtserklärung von 1789 sowie in der darauf aufbauenden französischen Verfassung von 1791. Erst in der am 24. 6. 1793 verabschiedeten und im Juli von der Diktatur des Wohlfahrtsausschusses suspendierten Jakobiner-Verfassung – der keine praktische Bedeutung zukommt13 – finden sich in Art. 18, 21 und 22 auch als Grundrechte formulierte Festlegungen, die youth and the support of age, as to exclude, as much as possible, profligacy from the one and despair from the other“ (Paine, Rights of Man, S. 221). 11 „Il existe donc une cause nécessaire d’inégalité, de dépendance et même de misère, qui menace sans cesse la classe la plus nombreuse et la plus active de nos sociétés. Nous montrerons qu’on peut la détruire en grande partie, en opposant le hasard à lui-même: en assurant à celui qui atteint la vieillesse un secours produit par ses épargnes, mais augmenté de celles des individus qui, en faisant le même sacrifice, meurent avant le moment d’avoir besoin d’en recueillir le fruit; en procurant, par l’effet d’une compensation semblable, aux femmes, aux enfants, pour le moment où ils perdent leur époux ou leur père, une ressource égale et acquise au même prix, soit pour les familles qu’afflige une mort prématurée, soit pour celles qui conservent leur chef plus longtemps; enfin en préparant aux enfants qui atteignent l’âge de travailler pour eux-mêmes, et de fonder une famille nouvelle, l’avantage d’un capital nécessaire au développement de leur industrie, et s’accroissant aux dépens de ceux qu’une mort trop prompte empêche d’arriver à ce terme. C’est à l’application du calcul aux probabilités de la vie, aux placement d’argent, que l’on doit l’idée de ces moyens, déjà employés avec succès, sans jamais l’avoir été cependant avec cette étendue, avec cette variété de formes que les rendraient vraiment utiles, non pas seulement à quelques individus, mais à la masse entière de la société qu’ils délivreraient de cette ruine périodique d’un grand nombre de familles, source toujours renaissante de corruption et de misère.“ (Condorcet, Esquisse, S. 360 – 362). 12 Vgl. dazu auch Iliopoulos-Strangas, Conclusions comparatives, S. 801 ff. 13 Brunner, Soziale Grundrechte, S. 6.
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explizit Leistungen für Bedürftige in Not betreffen14. Allerdings treten hier die Bedürftigen nicht als Subjekte von Ansprüchen, sondern als Objekte in Erscheinung; die Gemeinschaft wird zur Leistung verpflichtet: „Les secours publics sont une dette sacrée. La société doit la subsistance aux citoyens malheureux, soit en leur procurant du travail, soit en assurant les moyens d’exister à ceux, qui sont hors d’état de travailler“ (Art. 21)15.
Daneben werden auch noch ein Recht auf Arbeit und ein Recht auf Bildung garantiert16. In der französischen Verfassung von 1795 taucht die Verpflichtung zu staatlicher Fürsorge nicht mehr auf. Erwähnt wird nur noch das Recht des Einzelnen, über seine Zeit und Arbeitskraft zu verfügen. Abgesehen von der eigentlichen Normierung von Grundrechten enthalten die drei Verfassungen nur vage Anhaltspunkte für eine soziale Ausrichtung des Gemeinwesens. In Art. 13 der Verfassung von 1791 werden Kosten für soziale Aufgaben nicht explizit ausgewiesen, sondern die Kosten für den Staat vielmehr auf die Kosten für den Unterhalt der öffentlichen Macht und die Kosten für die Verwaltung beschränkt. Allerdings findet – wie auch in Art. 16 der Verfassung von 1795 – der Aspekt der Umverteilung in der Bestimmung Ausdruck, dass die Steuern als der für den Staat notwendige gemeinschaftliche Beitrag unter den Bürgern im Verhältnis zu ihrem Vermögen zu verteilen sei. Eine vergleichbare Regelung fehlt in der Verfassung von 1793. Allenfalls ist in der Zweckbestimmung von Art. 1 „le but de la société est le bonheur commun“ ein soziales Element auszumachen. Wichtig im Zusammenhang mit der Frage der Internationalisierung des Grundrechtsschutzes ist, dass Freiheitsrechte wie soziale Rechte als allgemeingültige Aussagen formuliert sind17. Damit werden – aus dem Pathos der Revolution heraus verstehbare – Vorgaben nicht nur für Frankreich, sondern für „jede politische Gemeinschaft“ gemacht. Dennoch ist die Garantie der Menschenrechte jeweils im nationalen Bereich zu verwirklichen; die nationale Souveränität in dieser Frage wird betont: 14 Zur „Solidarité“ der Französischen Revolution vgl. auch Stern, Die Idee der Menschenund Grundrechte, S. 33 ff. 15 Abgedruckt bei Hartung, Menschen- und Bürgerrechte, S. 36. 16 „Tout homme peut engager ses services, son temps; mais il ne peut se vendre ni être vendu; sa personne n’est pas une propriété aliénable. La loi ne reconnaît point de domesticité; il ne peut exister qu’un engagement de soins et de reconnaissance entre l’homme, qui travaille, et celui, qui l’emploie“ (Art. 18). „L’instruction est le besoin de tous. La société doit favoriser tout son pouvoir, le progrès de la raison publique et mettre l’instruction à la portée de tous les citoyens“ (Art. 22). 17 „Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l’homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance à l’opposition“ (Art. II der Verfassung von 1791); „La société doit la subsistance aux citoyens malheureux“ (Art. 21 der Verfassung von 1773).
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„La garantie sociale18 consiste dans l’action de tous, pour assurer à chacun la jouissance et la conservation de ses droits; cette garantie repose sur la souveraineté nationale“19.
So wird denn auch im Frühkonstitutionalismus des 19. Jahrhunderts die Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte als grundsätzlich nur nationale Aufgabe verstanden20. Aber auch auf nationaler Ebene wird ein Recht auf sozialen Schutz – im Gegensatz zu politischen Grundrechten21 – nur vereinzelt in Rechtstexte aufgenommen, wie etwa in Teil II Tit. 19 § 1, 2 des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 179422 oder in die französische Verfassung von 184823. Grundsätzlich wird es nicht für notwendig erachtet, da die Prämisse für die Ausübung von Freiheit, Bildung und Besitz mit Blick auf das Bürgertum für selbstverständlich erachtet wird und die Lage der Industriearbeiterschaft insoweit keine Berücksichtigung findet24. Bei der Ausarbeitung der Paulskirchenverfassung von 1848 wird der Vorschlag gemacht, nach dem Vorbild der französischen Verfassungen von 1793 und 1848 ein Recht auf Arbeit oder zumindest auf Unterhalt, soweit möglich durch Anweisung zur Arbeit, aufzunehmen; dies wird aber mit dem Argument verworfen, dadurch werde der Müßiggang gefördert25. Es fehlt im 19. Jahrhundert an einer gesellschaftlichen Bewegung, die sich die Aufnahme derartiger Rechte in die Verfassung auf das Banner geschrieben hätte26. 18 Gemeint ist damit allerdings nicht eine „soziale Garantie“ im Sinne einer Garantie sozialer Rechte, sondern vielmehr eine „gesellschaftliche Garantie“. 19 Verfassung von 1793, abgedruckt bei Hartung, Menschen- und Bürgerrechte, S. 36. 20 Vgl. Risse, Menschenrechte, S. 346; Ritter, Ursprung, S. 229, 230; vgl. allgemein zum Grundrechtsschutz in dieser Epoche Würtenberger, Von der Aufklärung zum Vormärz, S. 49 ff. 21 Vgl. den Überblick über die Aufnahme politischer Freiheitsrechte in nationale Verfassungen bei Lauterpacht, Human Rights, S. 89 ff. 22 „Dem Staate kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und denselben auch nicht von anderen Personen, welche nach besonderen Gesetzen dazu verpflichtet sind, erhalten können. Denjenigen, welchen es nur an Mitteln und Gelegenheit, ihren und der Ihrigen Unterhalt zu verdienen, mangelt, sollen Arbeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten angemessen sind, angewiesen werden.“ 23 „La constitution garantit aux citoyens la liberté du travail et de l’industrie. La société favorise et encourage le développement du travail par l’enseignement primaire gratuit, l’éducation professionnelle, l’égalité de rapports entre le patron et l’ouvrier, les institutions de prévoyance et de crédit, les institutions agricoles, les associations volontaires et l’établissement par l’état, les départements et les communes, de travaux publics abandonnés, aux infirmes et aux vieillards sans ressources et que leurs familles ne peuvent secourir“ (Art. 13); abgedruckt bei Hartung, Menschen- und Bürgerrechte, S. 48. 24 Vgl. Murswieck, Teilhaberechte, S. 260 Rdnr. 40. 25 Als Begründung wird darauf hingewiesen, dass „. . . durch die staatliche Bürgschaft der Arbeit und des Lohnes die Kraft der Nation erschlaffen, der wohltätige Sporn der Konkurrenz wegfallen, der physischen Trägheit die Geisteserschlaffung folgen müsse“; zitiert bei Ritter, Ursprung, S. 231; dazu auch Lange, Soziale Grundrechte.
4 Nußberger
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
3. Aufnahme des Rechts auf sozialen Schutz in völkerrechtliche Verträge vor 1945 a) Entwicklung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Finden Verpflichtungen des Staates gegenüber seinen in Not geratenen Bürgern damit im 19. Jahrhundert vereinzelt in nationale Verfassungen Eingang, so stellen sie aber doch noch keinen internationalen Regelungsgegenstand dar. Das Völkerrecht des 19. Jahrhunderts27 basiert auf der Anerkennung der staatlichen Souveränität bei allen Fragen, die das Los des Einzelnen in der Gemeinschaft betreffen; ausschließlich dem jeweiligen Herrscher gilt das Wohl der Untertanen anvertraut. So hat der Einzelne auch keine eigenständige Rechtsposition im Völkerrecht; er wird durch den Staat mediatisiert, wie Politis anschaulich zum Ausdruck bringt: „L’État souverain était pour ses sujets une cage de fer d’où ils ne pouvaient juridiquement communiquer avec l’extérieur qu’au travers de très étroits barreaux“28.
Die Staaten sind nicht – in den Worten Henkins – von einem „concern for international welfare“ über ihre Grenzen hinaus bewegt, sondern greifen zum Schutz der Menschen gegen ihren jeweiligen Heimatstaat allenfalls ein, wenn es um auch 26 Dem liberalistischen Ansatz liegt ein derartiger Antrag fern, wird er doch als im Widerspruch zu den Grundforderungen des freiheitlichen Rechtsstaats gesehen: soziale Grundrechte engen den Spielraum individueller, insbesondere unternehmerischer Tätigkeit ein und fördern – so die grundlegende Kritik – ein solches Maß an staatlicher Intervention, dass freie Wirtschaft nicht mehr funktionieren kann. Doch auch die Sozialdemokratie ist bei dieser Frage aus verschiedenen Gründen zurückhaltend. Grundsätzliche Zweifel werden an der normativen Bedeutung der Verfassung geäußert – Verfassungen werden nur als innerhalb des jeweiligen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Systems wirksam verstanden. Dagegen ist die Veränderung des gesellschaftlichen Systems das politische Ziel. Die Einsprengsel einzelner sozialer Elemente würden, so die allgemeine – nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit der Bismarck’schen Sozialpolitik genährte – Befürchtung, den Elan der Arbeiterbewegung hemmen. Daraus erklärt sich auch der Streit um das Recht auf Arbeit, mit dem sich – so Karl Liebknecht – die Partei von dem Boden des tatsächlich Möglichen entfernen würde (vgl. dazu Martiny, Recht auf Arbeit, S. 449 – 466; Bentele, Das Recht auf Arbeit; Rath, Garantie; Schminck-Gustavus, Recht auf Arbeit; Samwer, Erklärung). Demokratischen Bürgerrechten wird dagegen von der Sozialdemokratie existentielle Bedeutung beigemessen, da sie die Voraussetzung für das Wirken der Partei bilden (vgl. zu der Thematik auch Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 30 ff.; Miller, Sozialdemokratie, S. 35 ff.). 27 Dies gilt nicht in gleicher Weise für das Völkerrecht früherer Jahrhunderte, das durch das naturrechtliche Denken beeinflusst war und auch den Einzelnen als Subjekt von Rechten und Pflichten im Völkerrecht anerkannte; vgl. dazu als Beispiel etwa die Schriften von Francisco de Vitoria über die Rechte der Indianer bei der Eroberung Amerikas („Von den kürzlich entdeckten Indern“ (De Indis recenter inventis) und „Vom Recht des Krieges der Spanier gegen die Barbaren“ (De iure belli Hispanorum in barbaris)); vgl. dazu Sudre, Droit international, S. 21 ff.; Partsch, Individuals in International Law, S. 957 ff.; vgl. auch Lauterpacht, Human Rights, S. 76 ff. in Bezug auf das Völkerrecht des 19. Jahrhunderts: „The sovereign State, in an unprecedented ascendancy of power, became the insurmountable barrier between man and the law of mankind“. 28 Politis, Nouvelles Tendences, S. 91 – 92.
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im eigenen Staat lebende und in anderen Staaten als Minderheiten verfolgte oder benachteiligte Gruppen geht, oder aber wenn die Situation Einzelner in einem anderen Staat Auswirkungen auf die Wirtschaft des eigenen Landes haben kann29. Eine Kontrolle staatlichen Handelns von einem Punkt außerhalb des Systems wird nur in Ausnahmefällen für notwendig empfunden. Dabei soll nicht verkannt werden, dass der Humanitätsgedanke, inspiriert von den verfassungspolitischen Ideen des bürgerlichen Liberalismus, auch im Völkerrecht, zumindest in ersten Ansätzen, bereits im 19. Jahrhundert Eingang findet. Die Staatenpraxis weist eine Reihe von so genannten „Humanitätsinterventionen“ auf30. Allerdings werden dabei nur diejenigen Grundrechte aufgegriffen, die als grundlegend und unverzichtbar empfunden werden: das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und das Recht auf eine gesetzmäßige Ordnung31. Und auch wenn erste Ansätze für eine vertragliche Verankerung des Menschenrechtsschutzes im Völkerrecht etwa in dem Vertrag von Brüssel aus dem Jahr 1890 über die Abschaffung der Sklaverei32 oder in Vertragsklauseln zugunsten religiöser Minderheiten33 zu sehen sind, so ist der Weg von diesen Regeln bis zur Aufnahme eines Rechts auf sozialen Schutz in Menschenrechtsverträge zu weit, um von einer gemeinsamen Traditionslinie zu sprechen 34.
b) Entwicklung zwischen den beiden Weltkriegen Nach dem Ersten Weltkrieg gewinnt die Auseinandersetzung um die rechtliche Normierung von Menschenrechten in internationalen Dokumenten zwar an Bedeutung. Da der Völkerbund dies aber nicht zu seiner Sache macht, bleibt die Behandlung dieser Thematik dennoch weiterhin eine Randerscheinung35; die Entwicklung von universellen Standards ist allenfalls pointillistisch. Interessant ist aber, dass, obwohl die Diskussion von den Freiheitsrechten bestimmt wird36, es arbeits- und sozialrechtliche, das Verhältnis Bürger – Bürger und Henkin, Age of Rights, S. 15; Mosler, International Community, S. 44 ff. Vgl. dazu im Einzelnen Grewe, Epochen, S. 576 ff. 31 Vgl. Grewe, Epochen, S. 576. 32 Luard (Human Rights, S. 10) etwa wertet das Verbot der Sklaverei als „genuinely international movement for human rights“, eine Einschätzung, die allerdings angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der Regelung und der Implikationen für den internationalen Wettbewerb zu relativieren ist (Henkin, Age of Rights, S. 15; Grewe, Epochen, S. 651 ff.). Oppenheim (International Law, § 292) bestreitet in seiner Abhandlung „International Law: A Treatise“ noch 1912 kategorisch, dass „the so-called human rights of mankind“ in irgendeiner Weise Bestandteil der völkerrechtlichen Ordnung seien. 33 Vgl. dazu Capotorti, Universality, S. 979. 34 Vgl. Robertson / Merrils, Human Rights, S. 14 f. 35 Vgl. McDougal, Menschenrechte, S. 507, 508; Köhler, Aktivitäten, S. 168. 36 Vgl. die Ausarbeitung der „Declaration of the Rights of Man“ von 1929; dazu Risse, Menschenrechte, S. 354 ff., Szabo; Historical Foundations of Human Rights, S. 21; Ezejiofor, Protection, S. 85 ff.; Drost, Human Rights, S. 19. 29 30
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das Verhältnis Bürger – Staat betreffende Grundforderungen sind, die erstmals in ein völkerrechtliches Dokument, in die Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) aus dem Jahr 191937, aufgenommen werden. Dies bedeutet eine Diskontinuität in der historischen Entwicklung. Während auf nationaler Ebene die Freiheitsrechte zuerst normiert werden, wird auf der internationalen Ebene den sozialen Rechten der Vorrang eingeräumt38. So sind in Abschnitt II der Verfassung unter der Überschrift „Allgemeine Grundsätze“ Kernelemente von Aufgaben der „industriellen Gemeinschaften“ – das Wort „Staat“ wird vermieden – im sozialen Bereich enthalten: „Aber in der Überzeugung, daß die Arbeit nicht als bloße Handelsware betrachtet werden darf, glauben (die Hohen vertragsschließenden Teile), daß Verfahren und Grundsätze für die Regelung der Arbeitsverhältnisse sich finden lassen, die alle industriellen Gemeinschaften zu befolgen sich bemühen sollten, soweit ihre besonderen Verhältnisse dies gestatten“39.
Im Einzelnen werden eine Reihe von Grundsätzen, die „von besonderer und Beschleunigung erheischender Wichtigkeit“ sind, herausgestellt, die aber nur das Grundverständnis der Arbeit, die Vereinigungsfreiheit und die Regelung und Bezahlung der Arbeit, nicht aber Leistungen der sozialen Fürsorge und Vorsorge durch den Staat betreffen40: Die Verpflichtung des Staates, den Arbeitsmarkt zu 37 Der Gründungsvertrag der IAO von 1919 war ursprünglich Teil XIII (Arbeit) des Vertrags von Versailles vom 28. Juni 1919, zugleich auch Teil XIII des Vertrags von St. Germain vom 10. September 1919, Teil XII des Vertrags von Neuilly vom 27. November 1919 und Teil XIII des Vertrags von Trianon vom 4. Juni 1920. Als eigenständiger Text wurde er 1928 vom Internationalen Arbeitsamt mit einer neuen Paragraphenzählung unter der Überschrift „Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation“ veröffentlicht, firmiert damit explizit unter dem Begriff „Verfassung“, der auch in allen nachfolgenden Textänderungen beibehalten worden ist und von der Literatur im Wesentlichen unreflektiert aufgegriffen wird; vgl. die Textdokumentation bei Hudson, International Legislation, S. 228 ff.; zur Ausarbeitung der Verfassung der IAO vgl. ausführlich Troclet, Législation sociale internationale, S. 285 ff.; Valticos, Droit international du Travail, S. 29 ff.; Ghebali, L’Organisation Internationale du Travail, S. 21 ff. 38 Valticos, Protection des droits de l’homme, S. 695. 39 Vgl. weiter: „. . . Die Hohen vertragsschließenden Teile verkünden nicht die Vollständigkeit oder Endgültigkeit dieser Grundsätze und Verfahren („methods and principles“), erachten sie jedoch für geeignet, der Politik des Völkerbundes als Richtschnur zu dienen und im Falle ihrer Annahme durch die dem Völkerbund als Mitglieder angehörenden industriellen Gemeinschaften sowie der Sicherstellung ihrer praktischen Durchführung durch eine entsprechende Aufsichtsbehörde dauernde Wohltaten unter den Lohnarbeitern der Welt zu verbreiten“, abgedruckt bei Eckardt / Kuttig, Das internationale Arbeitsrecht im Friedensvertrage, S. 70. Diese Grundsätze wurden bei der Änderung der Verfassung im Jahr 1946 nicht mehr aufgenommen, da sie im Wesentlichen in der „Declaration of Philadelphia“ mit enthalten sind; vgl. dazu die Synopse der verschiedenen Textfassungen UNTS 1948, 35. 40 (1) Der oben erwähnte leitende Grundsatz, dass die Arbeit nicht lediglich als Ware oder Handelsgegenstand angesehen werden darf; (2) das Recht des Zusammenschlusses zu allen nicht dem Gesetz zuwiderlaufenden Zwecken sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber; (3) die Bezahlung der Arbeiter mit einem Lohn, der ihnen eine nach der Auffassung
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regeln, Arbeitslosigkeit zu verhüten, die Arbeiter gegen allgemeine und Berufskrankheiten sowie gegen Arbeitsunfälle zu schützen und eine Alters- und Invalidenunterstützung einzuführen, wird dagegen nur in der Präambel41, nicht im Text der Verfassung selbst angesprochen42. Die Aufnahme dieser Vorgaben in die Verfassung der IAO ist Ergebnis der Bemühungen, arbeiterschutzrechtliche Maßnahmen auch auf internationaler Ebene zu verankern43. Leitprinzipien sind soziale Gerechtigkeit und menschliche Arbeitsbedingungen. Es geht um Verpflichtungen im sozialen Bereich, die von den Staaten zu übernehmen sind, Verpflichtungen des Staates, in die Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses Arbeitgeber – Arbeitnehmer einzugreifen. Die Überzeugung, jeder Mensch sei Träger nicht nur von Freiheitsrechten, sondern auch von sozialen Rechten, hat darauf nur mittelbar Einfluss. Der Begriff der „Menschenrechte“ wird an keiner Stelle verwendet. – Nichtsdestotrotz zielen eine Vielzahl der hier auf internationaler Ebene festgeschriebenen Rechte nicht nur auf den Schutz der abhängigen Arbeitnehmer ab, sondern sind „Jedermann-Rechte“, die später auch in allgemeine Grundrechtskataloge Eingang finden. Treffend schreibt so Leary, dass die IAO seit ihren Anfängen Grundrechte kodifiziert habe, ohne es zu wissen44. Den Vorgaben der Verfassung entsprechend weisen verschiedene der in der Folge in der Zwischenkriegszeit im Rahmen der IAO ausgearbeiteten Konventionen und Empfehlungen grundrechtliche Bezüge auf. In der Konvention Nr. 11 von 1921 wird die Vereinigungsfreiheit für den Bereich der Landwirtschaft geregelt. Allerdings enthält die Konvention keine absolute Garantie des Rechts; festgelegt wird lediglich, in der Landwirtschaft solle in gleicher Weise wie in der Industrie die Vereinigungsfreiheit gewährt werden45. Die Konvention Nr. 29 aus dem Jahr ihrer Zeit und ihres Landes angemessene Lebensführung ermöglicht; (4) die Annahme des Achtstundentags oder der 48-Stunden-Woche als zu erstrebendes Ziel überall da, wo es noch nicht erreicht ist; (5) die Annahme einer wöchentlichen Arbeitsruhe von mindestens 24 Stunden, die nach Möglichkeit jedes Mal den Sonntag einschließen soll; (6) die Beseitigung der Kinderarbeit und die Verpflichtung, die Arbeit Jugendlicher beiderlei Geschlechts so einzuschränken, wie es notwendig ist, um ihnen die Fortsetzung ihrer Ausbildung zu ermöglichen und ihre körperliche Entwicklung sicherzustellen; (7) der Grundsatz gleichen Lohnes ohne Unterschied des Geschlechts für eine Arbeit von gleichem Werte; (8) die in jedem Lande über die Arbeitsverhältnisse erlassenen Vorschriften haben allen im Lande sich erlaubterweise aufhaltenden Arbeitern eine gerechte wirtschaftliche Behandlung zu sichern; (9) jeder Staat hat einen Aufsichtsdienst einzurichten, an dem auch Frauen teilnehmen, um die Durchführung der Gesetze und Vorschriften für den Arbeiterschutz sicherzustellen. 41 Vgl. zur Bedeutung von Präambeln im Völkerrecht Kotzur, Theorieelemente, S. 60 ff. 42 Vgl. dazu Perrin, Ursprünge, S. 70 ff. 43 Vgl. dazu Kapitel A.II.5. 44 Leary, Lessons, S. 580 ff.; vgl. auch Metall, Soziale Grundrechte S. 196 ff.; Wolf, Human Rights, S. 273 ff.; Samson, Protection of economic and social rights, S. 123 ff. 45 Vgl. Art. 1 der Konvention Nr. 11: „Each member of the International Labour Organisation which ratifies this Convention undertakes to secure to all those engaged in agriculture the same rights of association and combination as to industrial workers, and to repeal any statutory or other provisions restricting such rights in the case of those engaged in agriculture“.
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1930 enthält die Verpflichtung, Zwangsarbeit sobald als möglich abzuschaffen. Damit wird das grundrechtliche Verbot der Zwangsarbeit sowie das Recht auf Bestimmung über die eigene Arbeitskraft antizipiert. Die anderen Konventionen der IAO aus der Zwischenkriegszeit, die sich mit einzelnen Schutzpflichten des Staates im Arbeits- und Sozialrecht befassen, verfolgen dagegen nicht den Ansatz, den Menschen „an sich“, sondern vielmehr den Arbeiter in der Industrie bzw. in der Landwirtschaft, nicht zuletzt im Hinblick auf internationale Konkurrenz, zu schützen. Regelungsgegenstand ist das jeweilige Sicherungssystem in seiner Gesamtheit, nicht aber die rechtliche Stellung des Einzelnen46. Von Bedeutung für die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im sozialen Bereich sind aber die weithin vernachlässigten Resolutionen der Internationalen Arbeitskonferenz der IAO. Beispielsweise propagiert die Resolution vom 20. 6. 1938 ein Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse und Religion, das zwar nicht auf alle Menschen, sondern nur auf die Arbeiterschaft bezogen ist, damit aber dennoch nicht nur die Entwicklung zu Konvention Nr. 111 der IAO, sondern auch zu den Diskriminierungsverboten in den Rechtsakten der Vereinten Nationen vorzeichnet47. Die Resolution vom 21. 6. 1937 thematisiert Frauenarbeit, greift dabei aber nicht nur, wie vor dem Ersten Weltkrieg, die Notwendigkeit von besonderen Schutzmaßnahmen auf, sondern postuliert ein Recht auf Arbeit und gleiche Entlohnung, zudem auch ein Recht auf Bildung und auf Gleichstellung im Hinblick auf zivile und bürgerliche Rechte48. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet, dennoch in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist schließlich auch noch die Resolution vom 4. 11. 1945, die bereits eine Vielzahl von Regelungen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen enthält, die erst Jahrzehnte später in der Europäischen Sozialcharta, im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und in dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC)49 rechtsverbindlich normiert werden50. Beispielsweise wird darin bereits die Notwendigkeit spezieller Hilfeleistungen für behinderte Kinder angesprochen. – Dem Recht auf soziale Sicherheit oder soziale Fürsorge wird dagegen Vgl. dazu S. 122 ff. Vgl. den Wortlaut: „The Conference . . .. invites all Members of the International Labour Organisation to apply the principle of equality of treatment to all workers resident in their territory, and to renounce all measures of exception which might in particular establish discrimination against workers belonging to certain races or confessions with regard to their admission to public or private posts“ (abgedruckt: ILO, International Labour Code, Band 2, S. 3). 48 Vgl. den Wortlaut: „Whereas it is for the best interests of society that, in addition to full political and civil rights and full opportunity for education, women should have full opportunity to work and should receive remuneration without discrimination because of sex, and be protected by legislative safeguards against physically harmful conditions of employment and economic exploitation, including the safeguarding of motherhood“ (abgedruckt: ILO, International Labour Code, Band 2, S. 20). 49 Convention on the Rights of the Child vom 20. 11. 1989. 50 Vgl. insbesondere Abschnitt I B „Health and Social Protection“ und Abschnitt III C „Economic Assistance“ (abgedruckt: ILO, International Labour Code, Band 2, S. 4 ff.). 46 47
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in der Zwischenkriegszeit keine eigene Resolution der Internationalen Arbeitskonferenz gewidmet. Die Erklärungen (Conclusions) einzelner Komitees der IAO, die die Gewähr sozialen Schutzes durch den Staat betreffen, stehen, wie auch die sozialrechtlichen Konventionen, nicht in der Tradition des menschenrechtlichen, sondern des systemreformatorischen Ansatzes51. Dagegen zeigen die Resolutionen der Konferenzen der amerikanischen Mitgliedstaaten der IAO von Santiago aus dem Jahr 1936 und von Havanna aus dem Jahr 1939 bereits Elemente eines spezifisch menschenrechtlichen Schutzanspruches, auch wenn noch nicht dem Individuum als Subjekt Rechte zuerkannt werden: „A system of labour regulations, to be true to the dictates of humanity and to the principles of social justice, must secure the effective protection of the workers against occupational and social risks“52.
c) Paradigmenwechsel während des Zweiten Weltkriegs Die eigentliche Internationalisierung des menschenrechtlichen Ansatzes53, die Überzeugung, die Einzelstaaten müssten nicht nur in der jeweiligen nationalen Verfassung die Garantie der Grund- und Menschenrechte festschreiben, sondern sich darüber hinaus – rechtlich verbindlich – auch den anderen Staaten bzw. der (organisierten) internationalen Gemeinschaft gegenüber zur Einhaltung bestimmter Rechte allen Menschen bzw. den Bürgern in ihrem Land gegenüber verpflichten, beginnt nicht erst nach, sondern bereits während des Zweiten Weltkriegs54. Henkin bringt diesen Ansatz treffend auf eine Formel, die an die Formulierung bei Kant in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ erinnert55: „. . . that how human beings are treated anywhere concerns everybody everywhere“56. Vgl. dazu Kapitel A. II. Santiago Resolution, abgedruckt als Teil des Inter-American Social Insurance Code in ILO, The International Labour Code, S. 664 ff., S. 666. 53 Jacquart, Economic, Social and Cultural Rights, S. 979; Henkin, How Nations Behave, S. 16; Lillich, Harmonization, S. 456; Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 33; Kimminich, Menschenrechte, S. 15 ff.; Köhler, Aktivitäten, S. 148 ff. 54 Vgl. die Formulierung Lauterpachts in einem öffentlichen Vortrag in Cambridge im Jahr 1943 (Lauterpacht, Human Rights, S. 79 FN 15): „The habitation of the rights of man within the exclusive precincts of the sovereign State has proved insecure. There are signs that, in the view of many, the time is ripe for an advance and that the rights of man ought to be anchored where they properly belong, to wit, in a universal law of organised mankind, in the law of nations“. 55 „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf“ (Kant, Zum ewigen Frieden, S. 360). 56 Henkin, International Human Rights, S. 257. 51 52
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Und dies betrifft nicht nur die Sicherung von Freiheitsrechten, sondern auch das Recht des Bürgers auf Vor- und Fürsorgeleistungen des Staates. aa) Atlantikcharta Ein Markstein in der Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes ist die Atlantikcharta57, die gemeinsame Erklärung des US-amerikanischen Präsidenten Roosevelt und des britischen Premierministers Churchill vom 14. 8. 1941. Gerade für die Entwicklung der grundrechtlichen Sicherung im Sozialbereich ist sie von besonderer Bedeutung. Sie dokumentiert nicht nur Pläne für die „Schaffung eines umfassenden und dauerhaften Systems allgemeiner Sicherheit“ (Punkt 8) und allgemeine politische Grundsätze, sondern auch Vorgaben zur Verbesserung der sozialen Bedingungen: die Forderung nach sozialer Sicherheit für alle wird explizit und gleichberechtigt mit den anderen Forderungen formuliert. So heißt es unter Punkt 5: „. . . the fullest collaboration between all nations in the economic field with the object of securing, for all, improved labour standards, economic advancement and social security“58.
Auch wenn es sich hier nicht um eine juristisch fassbare, justitiable Vorgabe handelt, so wird „soziale Sicherheit“ darin doch erstmals als „Jedermann-Recht“ anerkannt59. Der Begriff „soziale Sicherheit“ (social security) ist innovativ in einem internationalen Dokument, kann nicht auf ein gemeinsames tradiertes Grundverständnis aufbauen; verschiedene Vorstellungen werden auf eine gemeinsame Formel gebracht60: Churchill versteht darunter Sicherheit, die eine soziale Organisation und somit der Zusammenschluss Einzelner zu gegenseitigem Schutz und Hilfe, vermitteln kann61, Roosevelt den auf Versicherung beruhenden Schutz gegen bestimmte Lebensrisiken62. Mit diesen Konzepten konkurrieren sozialisti57 Abgedruckt bei Knipping / v. Mangoldt / Rittberger, System der Vereinten Nationen, Band I, Dokument 1, S. 3 ff. 58 Hervorhebung von der Verfasserin. 59 Die Bedeutung der Atlantik-Charta, einer unverbindlichen, nicht einmal unterschriebenen Erklärung, für die nachfolgende Rechtsentwicklung wird von dem Faktum belegt, dass sie implizit oder explizit in einer Reihe von Dokumenten zitiert wird, so in der „Declaration by United Nations“ vom 1. Januar 1942 (abgedruckt bei Spröte / Wünsche, Dokumente, S. 130 ff.), in den Präambeln zu den Empfehlungen der IAO Nr. 67 (Recommendation concerning Income Security) und Nr. 69 (Recommendation concerning Medical Care) aus dem Jahr 1944 sowie in der Präambel zur Universellen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 (vgl. die Formulierung: „. . . da die Schaffung einer Welt, in der den Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteil wird, als das höchste Bestreben der Menschheit verkündet worden ist . . .“). 60 Vgl. dazu die Analyse von Parrott, Social Security, S. 370 ff.; Greber, Principes fondamentaux, S. 53 ff. 61 Vgl. dazu den Nachweis in einem Brief Churchills (abgedruckt in Randolph S. Churchill: Winston Churchill (Companion Vol. II, Part. 2: 1907 – 1911, London 1969, S. 759) zitiert bei Parrott, Social Security, S. 370).
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sche und paternalistische Vorstellungen, die auf Umverteilung des Reichtums und umfassender Fürsorge des Staates für den Einzelnen aufbauen. Von dem im Versicherungskonzept betonten „input“ des Einzelnen wird dabei abstrahiert63. bb) Declaration of Philadelphia64 Dass sich auch die IAO bereits während des Zweiten Weltkrieges am Menschenrechtsansatz orientiert65, zeigen die Revision des Gründungsvertrags im Jahre 194466 und die Verabschiedung der „Declaration of Philadelphia“, die die ursprünglich in Abschnitt II der Verfassung enthaltenen allgemeinen Grundsätze ersetzt und in den Vertrag integriert. Die neue Fassung geht in wesentlichen Punkten über die im Jahr 1919 im sozialen Bereich erhobenen Forderungen hinaus und gibt „Grundsätze, welche die Politik ihrer Mitglieder leiten sollten“, vor67. Als konkretes Ziel staatlicher Politik wird festgelegt: „Alle Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Glaubens und ihres Geschlechts, haben das Recht, materiellen Wohlstand und geistige Entwicklung in Freiheit und Würde, in wirtschaftlicher Sicherheit und unter gleich günstigen Bedingungen zu erstreben“ (II a)68.
Allgemeine Menschenrechte wie etwa die Freiheit der Meinungsäußerung und die Koalitionsfreiheit sind in der Deklaration mit enthalten. Für die Ausgestaltung sozialrechtlicher Rechtspositionen relevant sind insbesondere der Grundsatz, dass Armut, wo immer sie besteht, den Wohlstand aller gefährdet (I c), sowie der Grundsatz, dass der Kampf gegen die Not innerhalb jeder Nation und durch ständiges gemeinsames internationales Vorgehen unermüdlich weitergeführt werden müsse (I d). Dieser Gedanke wird unmittelbar mit einem verfahrensrechtlichen Grundsatz verbunden: „. . . wobei die Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber sich gleichberechtigt mit den Vertretern der Regierungen in freier Aussprache und zu demokratischen Entscheidungen zusammenfinden, um das Gemeinwohl zu fördern“ (I d). 62 Vgl. dazu die Debatte über die Namensgebung für den US Social Security Act 1935, dokumentiert bei Parrott, Social Security, S. 370. 63 Vgl. zu den Konzepten, die dem Social Security Act in Neuseeland und der Aufnahme des Rechts auf soziale Sicherheit in die sowjetische Verfassung von 1936 entsprechen, Parrott, Social Security, S. 371 ff. 64 Vgl. dazu auch ausführlich Greber, Principes fondamentaux, S. 55 ff. 65 Vgl. dazu Juvigny, Droits de l’homme, S. 85 ff.; Valticos, Protection des droits de l’homme, S. 691 ff.; Jenks, Human Rights, S. 1 ff. ; Wolf, Human Rights, S. 273 ff.; vgl. auch L’O.I.T. et les droits de l’homme, Rapport du Directeur général du B.I.T. à la Conférence internationale du Travail, 52e session 1968. 66 Schwelb, Amending Procedure, S. 49 ff. 67 Vgl. die zurückhaltendere Formulierung 1919: „. . . im Falle ihrer (d. h. der Grundsätze und Verfahren; Anm. der Verfasserin) Aufnahme durch die dem Völkerbund als Mitglieder angehörenden industriellen Gemeinschaften“. 68 Hervorhebung von der Verfasserin.
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Die Einzelziele, die sich die IAO zu fördern verpflichtet (III), gehen über die Festlegungen im Jahr 1919 deutlich hinaus, werden weiter konkretisiert, ergänzt und radikalisiert69, neu gefasst im Hinblick auf ein neues Verständnis von Grundrechten, die die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft sichern. Steht in dem Dokument von 1919 noch der Aspekt der Existenzsicherung und der Schutz der Schwachen im Vordergrund, deutet sich 1944 bereits eine Tendenz zur individuellen beruflichen Verwirklichung sowie zu einer sozial gerechten Umverteilung, damit – in den Worten Ghebalis – zur „sauvegarde de la condition humaine en général“70, an. Es geht nicht mehr nur um die Verhütung der Arbeitslosigkeit, sondern um „Vollbeschäftigung und Verbesserung des Lebensstandards“ (III a) – eine Zielvorgabe, die ein nach oben offenes Gestaltungspostulat beinhaltet. Zugleich wird gefordert, die Arbeitnehmer seien in den Berufen zu beschäftigen, „in denen sie Befriedigung haben können, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse in vollem Umfang zu entfalten und das Beste zum Gemeinwohl beizutragen“ (III b). Auch im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen werden keine statischen Vorgaben mehr gemacht, sondern vielmehr mit der „Gewährleistung eines gerechten Anteils aller an den Früchten des Fortschritts“ (III d) ein dynamisches Element eingebracht, wobei die Forderung nach einem „lebensnotwendigen Mindestlohn für alle Arbeitnehmer, die eines solchen Schutzes bedürfen“ noch mit enthalten ist. Statt einer auf Alter und Invalidität begrenzten Vorsorge wird ein „Ausbau von Maßnahmen der sozialen Sicherheit“ gefordert, „um allen, die eines solchen Schutzes bedürfen, ein Mindesteinkommen zu sichern, und um umfassende ärztliche Betreuung zu gewährleisten“ (III f). Der Grundsatz der Koalitionsfreiheit wird konkretisiert und erweitert im Hinblick auf die „tatsächliche Anerkennung des Rechts zu Kollektivverhandlungen, Zusammenwirken von Betriebsleitung und Arbeitskräften zur ständigen Steigerung der Produktivität sowie Zusammenarbeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bei der Vorbereitung und Durchführung sozialer und wirtschaftlicher Maßnahmen“ (III e). Damit erfolgt eine Abkehr von einer ausschließlich auf Konfrontation gerichteten Sicht der Beziehung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern; betont werden vielmehr auch die Möglichkeiten einer Kooperation. Der Arbeitsmarkt wird nicht mehr nur auf den nationalen Bereich beschränkt gesehen. Zur optimalen Verwirklichung der Fähigkeiten des Einzelnen im Beruf wird es für nötig befunden, auch grenzüberschreitend Möglichkeiten zu Weiterbildung und Arbeitsplatzwechsel zu garantieren (III c). Der Gleichheitsgrundsatz wird von dem Verständnis „gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ abgekoppelt und allgemein als „Gewährleistung gleicher Gelegenheiten in Erziehung und Beruf“ ver69 Die Erklärung von Philadelphia enthält fünf Abschnitte, die mit „Bekenntnis zu leitenden Grundsätzen“, „Verständnis von sozialer Gerechtigkeit“, „Konkrete Zielvorgaben“, „Grundsätze für eine Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen“ und „Universale Geltung der Grundsätze“ zu überschreiben wären; zur Entstehung vgl. Ghebali, L’Organisation Internationale du Travail S. 44 – 45, zur allgemeinen Bedeutung vgl. ebenda, S. 91 ff.; French, The Declaration of Philadelphia , S. 27 ff.; Greber, Principes fondamentaux, S. 55 ff. 70 Ghebali, L’Organisation Internationale du Travail, S. 94.
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standen (III j). Über den abgegrenzten Bereich des Arbeits- und Sozialrechts im engeren Sinn hinaus werden auch „angemessene Ernährungs- und Wohnverhältnisse und Möglichkeiten zur Erholung und zur Teilnahme am kulturellen Leben“ in den mit Regelungen auf internationaler Ebene zu schützenden Bereich mit einbezogen (III i). Diese Grundsätze werden als universell gültig gesehen, allerdings relativiert im Hinblick auf den jeweiligen sozialen Entwicklungsstand: „Die Konferenz bekräftigt, daß die in dieser Erklärung niedergelegten Grundsätze für alle Völker der Welt volle Geltung haben. Die Art ihrer Anwendung muß sich zwar nach der von jedem Volk erreichten sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsstufe richten, aber ihre fortschreitende Verwirklichung in noch abhängigen Gebieten sowie für Völker, die bereits die Stufe der Selbstregierung erreicht haben, ist Anliegen der gesamten zivilisierten Welt“ (V).
cc) Empfehlungen der IAO aus dem Jahr 1944 Eine neue umfassende Definition von „sozialer Sicherheit“, die auf den Aspekt der individuellen Sicherheit abstellt, leitet für die IAO unter dem Generalsekretär Winant die Orientierung an den Grundrechten ein. Das Verständnis des Konzepts ist noch nicht eindeutig: „Soziale Sicherheit“ wird, wie die Formulierungen im Detail zeigen, nicht als Menschenrecht, als Recht aller, sondern als Recht des „individual of small means“ bzw. des „working man“ verstanden. Zugleich wird aber auch ausgesprochen, dass die Risiken, gegen die der Staat Vorsorge zu treffen hat, potentiell jedes Mitglied der Gesellschaft treffen können71. Der zweite Stützpunkt für die Neuorientierung ist das Konzept des 1942 veröffentlichten Beveridge-Reports; soziale Sicherheit bedeutet im Wesentlichen Einkommenssicherheit für alle72. 71 Vgl. den Wortlaut der Definition: „Social security is the security that society furnishes, through appropriate organization against certain risks to which its members are exposed. These risks are essentially contingencies against which the individual of small means cannot effectively provide by its own ability or foresight alone or even in private combination with his fellows. It is characteristic of these contingencies that they imperil the ability of the working man to support himself and his dependants in health and decency. Accordingly, as the State is an association of citizens which exists for the sake of their general well-being, it is a proper function of the State to promote social security. While all state policy has some bearing on social security, it is convenient to regard as social security services only such schemes as provide the citizen with benefits designed to prevent or cure disease, to support him when unable to earn and to restore him to gainful activity. Not all such measures, however, can be considered as affording security. For security is a state of mind as well as an objective fact. To enjoy security, one must have confidence that the benefits will be available when required, and, in order to afford security, the protection must be adequate in quality and quantity“ (ILO, Approaches to social security, S. 80). 72 Vgl. Beveridge, Social insurance and allied services, S. 120: „The term ,social security‘ is used here to denote the securing of an income to take the place of earnings when they are interrupted by unemployment, sickness or accident, to provide for retirement through age, to provide against loss of support by the death of another person, and to meet exceptional ex-
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Eine Synthese dieser Konzepte findet Eingang in die im Vergleich zu den Sozialversicherungskonventionen der 20er und 30er Jahre73 revolutionären Empfehlungen aus dem Jahr 1944, die „Recommendation Concerning Income Security“ und die „Medical Care Recommendation“. Hier geht es um den sozialen Schutz aller: im Hinblick auf Einkommensersatz um den Schutz der gesamten arbeitenden Bevölkerung, gleich ob abhängig oder selbständig beschäftigt, sowie um den Schutz derer, die nicht arbeiten; im Hinblick auf medizinische Versorgung um den Schutz auch derjenigen, die kein eigenes Einkommen haben74. In diesen beiden Dokumenten werden die allgemeinen internationalen Sozialstandards, wenn auch in unverbindlicher Form, so doch so präzise und auf das Wesentliche beschränkt formuliert wie in keinem anderen Dokument internationalen Ursprungs. In der „Recommendation Concerning Income Security“ wird gefordert, Einkommensersatz bei Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, Alter, Tod des Ernährers, Arbeitslosigkeit, übermäßigen Ausgaben in Notfällen und Arbeitsunfällen zu leisten. Mit dieser Aufzählung wird erstmals umfassend das Spektrum von Risiken, für die der Staat Vorsorge zu treffen hat, definiert. Es geht dabei um Fälle unverschuldeten Einkommensverlustes, gegen die der Einzelne in einer modernen Gesellschaft, in der Arbeit die Grundlage der materiellen Sicherung ist, nur schwer Vorsorge treffen kann. In der Empfehlung wird die Vorzugswürdigkeit obligatorischer Sozialversicherungssysteme hervorgehoben, bei denen die Berechtigten auf der Grundlage von Beiträgen Ansprüche in rechtlich definierten Fällen erhalten. Subsidiär wird Sozialhilfe für besondere, grundsätzlich bedürftige Gruppen von Personen vorgesehen. Auch sie sollen Ansprüche nach einem bestimmten Schema haben; ihre Versorgung soll rechtlich gesichert und nicht vom Ermessen der Verwaltung abhängig sein. Abgegrenzt davon werden Hilfsleistungen für die Gruppe „sonstiger Bedürftiger“ („other persons in want“), denen zwar Leistungen gewährt, aber keine im Voraus bestimmten Ansprüche zuerkannt werden sollen. In diesen Bestimmungen ist ein internationales Credo zu den Grundlagen eines die Interessen des Individuums in den Mittelpunkt stellenden und damit am Grundrechtsansatz orientierten Konzepts von sozialem Schutz enthalten, das eine nähere Betrachtung lohnt – als Orientierungspunkt hat dieses Konzept nichts an seiner Aktualität verloren; unter verschiedenen Aspekten weist es weiter in die Zukunft als die in der Folge ausgearbeiteten internationalen Sozialstandards, auch wenn diese als rechtlich verbindlich anerkannt werden. In der Empfehlung von 1944 werden die einzelnen sozialen Risiken sehr klar definiert; dabei sind die Formulierungen so allgemein gehalten, dass sie auch ein penditures, such as those connected with birth, death and marriage. Primarily social security means security of income up to a minimum but the provision of an income should be associated with treatment designed to bring the interruption of earnings to an end as soon as possible“. 73 Vgl. dazu Kapitel S. 122 ff. 74 Vgl. dazu Perrin, Fifty years of social security, S. 12 ff.
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halbes Jahrhundert später – im Gegensatz zu den in den Sozialversicherungskonventionen enthaltenen Detailbestimmungen – nicht „veraltet“ sind. Flexibilität bedeutet dennoch nicht Beliebigkeit. Für das Risiko „Alter“ wird nicht eine bestimmte Altersgrenze vorgegeben, sondern auf den Zeitpunkt abgestellt, an dem die Menschen gewöhnlicherweise nicht mehr in der Lage sind, effektive Arbeit zu leisten und die sonst vorübergehenden Risiken Krankheit und Arbeitslosigkeit dauerhaft werden. Alter wird damit als ein Fall der typisierten Invalidität definiert. Diese Formulierung des Risikos ist so flexibel, dass es möglich ist, nicht nur die Entwicklung der Lebenserwartung, sondern auch des Gesundheitszustands im Alter zu berücksichtigen75. Die Bestimmung des Risikos „Verlust des Ernährers“ ist so neutral gehalten, dass sie, im Gegensatz zu später ausgearbeiteten Bestimmungen, keine diskriminierenden Elemente enthält, dennoch aber nicht zu einem Schutz derer, die nicht bedürftig sind, führt. So wird auf den Tod des „Familienoberhaupts“ abgestellt, ohne zu implizieren, dies müsse notwendigerweise der Ehemann sein. Ersetzt werden soll der Verlust der Unterstützungsleistung, den die Abhängigen des Familienoberhaupts voraussichtlich erleiden. Damit lassen sich die Fälle, in denen die überlebenden Ehepartner eine eigenständige Sicherung haben, ausnehmen. Die Definition von Invalidität zeigt, dass nicht die Sicherung des beruflichen Status intendiert wird, sondern gegen eine Notlage Vorsorge geschaffen werden soll, die dadurch entsteht, dass der Betroffene aufgrund einer chronischen Krankheit, in der Folge eines Unfalls oder aufgrund des Verlusts eines Körpergliedes oder einer Körperfunktion nicht mehr in der Lage ist, gleich welche Arbeit, die zu einem substantiellen Einkommen führt, auszuüben. Nicht auf die vor Eintritt der Invalidität geleistete Arbeit und das dabei erzielte Einkommen, sondern auf die Möglichkeit, überhaupt noch Einkommen zu erzielen, wird abgestellt. Gesichert werden damit alle in gleicher Weise. Leistungen bei Arbeitslosigkeit sollen bei Verlust des Einkommens gezahlt werden, wenn eine für gewöhnlich beschäftigte, versicherte Person, die fähig ist, regelmäßig in einem Beruf zu arbeiten und eine passende Beschäftigung sucht, arbeitslos wird. Einbezogen wird auch Teilzeitarbeitslosigkeit. Auch hier geht es nicht um einen Schutz des beruflichen Status, sondern um die Absicherung gegen existentielle Not. Im Gegensatz zu anderen Definitionen wird gerade nicht auf die Möglichkeit, eine „geeignete“ Arbeit, sondern überhaupt Arbeit zu finden, abgestellt. Dieser Ansatz erscheint überzeugend, geht es doch darum, auf internationaler Ebene Standards zu definieren, die in der Vielzahl der unterschiedlichen wirtschaftlichen Systeme realisiert werden können. Unter dem Risiko der Krankheit wird der Verlust von Einkommen aufgrund der aus medizinischen Gründen bei einer akuten Situation notwendigen Abwesenheit 75 Vgl. zur Gefahr von Diskriminierungen bei konkreten Festsetzungen von Altersgrenzen Nußberger, Altersgrenzen, S. 524 ff.
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von der Arbeit verstanden, wenn medizinische Behandlung oder Überwachung notwendig ist. Die Leistungen bei Mutterschaft sollen bei Abwesenheit von der Arbeit in den jeweils vorgeschriebenen Zeiträumen vor und nach der Niederkunft erbracht werden. Über diesen Grundkanon hinaus werden auch noch Leistungen bei außergewöhnlichen, nicht in anderer Weise kompensierten Ausgaben im Fall von Krankheit, Mutterschaft, Invalidität und Tod gefordert. Versicherungsschutz in vollem Umfang soll abhängig beschäftigten Personen gewährt werden; Selbständige sollen in den Schutz gegen Invalidität, Alter und Tod einbezogen werden, vorausgesetzt, dass es möglich ist, ohne einen übermäßigen administrativen Aufwand Beiträge einzutreiben und Leistungen auszuzahlen. Eine Absicherung der Selbständigen auch gegen die weiteren Risiken wird als Desiderat formuliert. Diese Vorschrift macht deutlich, dass es nicht um den abhängig beschäftigten Arbeitnehmer, sondern um den potentiell bedürftigen Menschen geht. Auch insofern ist die Bestimmung zukunftsweisend, da etwa auch neue Formen der Beschäftigung darunter subsumiert werden können. Die Formulierung der Prinzipien bei der Bemessung der Höhe der Leistungen zeigt, welche unterschiedlichen Interessen bei der Festsetzung gegeneinander abzuwägen sind. Die Leistungen sollen das verlorene Einkommen ersetzen, wobei die jeweils bestehenden Familienpflichten zu berücksichtigen seien. Zur Bestimmung der Höhe der Leistungen heißt es: „. . . up to a level as is practicable without impairing the will to resume work where resumption is a possibility, and without levying charges on the productive groups so heavy that output and employment are checked“
Der Ansatz ist so – im Gegensatz zu anderen internationalen Bestimmungen – nicht ausschließlich bedürfnisorientiert. Vielmehr wird das komplexe Spannungsverhältnis unterschiedlicher Interessen, die dabei zu berücksichtigen sind, explizit angesprochen. Die Leistungen sollen in Relation zum früheren Einkommen der versicherten Person stehen, wobei das Einkommen in gleicher Weise wie bei der Beitragsbemessung definiert wird. Über das Durchschnittseinkommen qualifizierter Arbeiter hinausgehende Einkünfte können unberücksichtigt bleiben. Alternativ wird die Festsetzung von Leistungen zu festen Sätzen vorgesehen, wenn die Möglichkeit zu freiwilliger Zusatzversicherung besteht. Für die Verteilung der Kosten zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Steuerzahlern wird kein prozentuales Verhältnis vorgegeben; die Lösung soll gerecht für die Versicherten sein, eine Härte für diejenigen, die nur kleine Einkommen beziehen, ebenso wie eine Störung der Produktion vermeiden. An der Verwaltung sollten auch die Versicherten selbst teilhaben. Die Bestimmungen zur Sozialhilfe, die im Grunde über das Mandat der IAO hinausgehen76, sind sehr kurz gehalten. Familienleistungen – damit nicht den an-
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deren durch Vorsorgeleistungen abzudeckenden Risiken gleichgestellt – werden mit der Formel erfasst, dass die Gesellschaft mit den Eltern zusammenarbeiten und Hilfe leisten solle, so dass das Wohlergehen der Kinder gesichert werde. Als bedürftige Gruppen, die einen Anspruch auf besondere Unterstützungsleistungen haben sollen, werden Invalide, Alte und Witwen genannt, die weder durch Leistungen der Sozialversicherung noch durch eigenes Einkommen ausreichend gesichert sind. Allgemeine Sozialhilfe wird in Form von Geldleistungen oder einer Kombination von Geld- und Sachleistungen für diejenigen, die in Not sind und nicht in Anstalten eingewiesen werden müssen, vorgesehen. Diese allgemeinen Prinzipien, zeitgleich ausgearbeitet mit der „Declaration of Philadelphia“, in einer Phase des Krieges, in der existentielle Not allgegenwärtig und Wohlstand ein utopisches Ziel war, legen die Grundlage für ein internationales Verständnis des Rechts auf soziale Sicherheit und soziale Fürsorge. Sie werden durch detailliertere Bestimmungen (Guiding Principles Accompanied by Suggestions for Application) ergänzt; diese allerdings sind wiederum deutlich mehr von den Anschauungen der Zeit bestimmt und weisen eine Vielzahl von Elementen auf, die mittlerweile als diskriminierend oder als inadäquat eingestuft werden. Die „Recommendation Concerning Medical Care“ ist vergleichbar grundlegend für das Verständnis des „Rechts auf Gesundheit“. Bestimmt werden der gegen das Risiko abzusichernde Personenkreis, die Verwaltungsstrukturen, die Qualität der Leistungen, die Finanzierung und die Überwachung des Systems. Der grundrechtliche Ansatz wird daraus deutlich, dass der Schutz aller77 in umfassender Form78 intendiert ist und auch die Interessen der verschiedenen Beteiligten berücksichtigt werden79.
4. Institutionalisierung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes nach 1945 Nach 1945 erfährt der Menschenrechtsschutz auf internationaler Ebene eine qualitative Veränderung, da mit der Gründung der Vereinten Nationen und des Europarats auf universeller und regionaler Ebene staatenübergreifende Organisationen geschaffen werden, die den Schutz der Menschenrechte zu einem ihrer zen76 Vgl. die Vertretungsstruktur, in der sich nur Regierungen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüberstehen. 77 Punkt 8: „The medical care service should cover all members of the community, whether or not they are gainfully occupied “. 78 Punkt 19: „Complete preventive and curative care should be constantly available rationally organised and, so far as possible, co-ordinated with general health services“. 79 Punkt 46: „The medical care service should aim at providing the highest possible standard of care, due regard being paid to the importance of the doctor-patient relationship and the professional and personal responsibility of the doctor, while safeguarding both the interests of the beneficiaries and those of the professions participating“.
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tralen Anliegen machen80. Zudem interpretiert auch die IAO ihr Mandat nach 1945 als eine schwerpunktmäßig auf den Schutz der Menschenrechte im sozialen Bereich gerichtete Tätigkeit. a) Entwicklung des Rechts auf sozialen Schutz im Rahmen der Vereinten Nationen aa) Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Die im Jahr 1948 ausgearbeitete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte81 wird in der Präambel als „von allen Völkern und Nationen zu erreichendes gemeinsames Ideal“ bezeichnet. Wie bei der Atlantikcharta und den Empfehlungen der IAO aus dem Jahr 1944 handelt es sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag, der mit der Ratifikation als bindendes Recht anerkannt werden könnte. Dennoch ist die Festlegung des Rechts auf soziale Sicherheit in Art. 22 der Erklärung als entscheidender Schritt, der die Kodifizierung unmittelbar vorbereitet, anzusehen. „Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen“82.
Das Konzept der sozialen Sicherheit erweist sich als so weit ausgereift, dass es, wie auch die klassischen Freiheitsrechte, etwa das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit oder die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, bei der Zusammenstellung der weltweit für das Zusammenleben der Menschen in Staaten als grundlegend angesehenen Prinzipien Aufnahme finden kann83. So offen die For80 Vgl. die Präambel der Charta der Vereinten Nationen, in der explizit auf die Grundrechte des Menschen, die Würde und den Wert der menschlichen Persönlichkeit Bezug genommen wird; vgl. auch Art. 1 Abs. 3: „Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele: . . . eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um . . . die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen“; Art. 55 „. . . fördern die Vereinten Nationen (a) die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg; (b) die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und verwandter Art . . . ; (c) die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“; vgl. auch Art. 1 der Satzung des Europarats, in der der Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten als primäre Aufgabe genannt werden. 81 Universal Declaration of Human Rights vom 10. 12. 1948; zum Entstehungsprozess allgemein vgl. Köhler, Aktivitäten, S. 269 ff. 82 Die Texte werden in deutscher Übersetzung zitiert, soweit der Wortlaut im Original nicht von besonderer Bedeutung und eine amtliche Übersetzung vorhanden ist. 83 Zum Prozess der Ausarbeitung von Art. 22 vgl. Köhler, Aktivitäten, S. 279 ff., S. 282 ff.; Andreassen, Article 22, S. 453 ff., S. 461 ff.
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mulierung auch ist, wird doch deutlich, dass es sich um ein „Jedermann-Recht“ und nicht nur um ein Arbeitnehmerrecht handelt. Dem Einzelnen wird ein Anspruch gegen den Staat zuerkannt, so dass es nicht im Ermessen des Staates steht, tätig zu werden oder nicht. Aufgenommen in die Erklärung (Art. 25) wird auch das „Recht auf soziale Betreuung“: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet; er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. Mutter und Kind haben Anspruch auf besondere Hilfe und Unterstützung . . .“.
Für die weitere Rechtsentwicklung ausschlaggebend ist, dass das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf Fürsorge gleichberechtigt in den Kanon der Menschenrechte Eingang gefunden haben. Damit werden diese „sozialen“ Grundrechte – im Vergleich zu der an den nationalen Verfassungen ablesbaren Tradition – entscheidend aufgewertet: Das materielle Wohlergehen der Menschen, die Versorgung zumindest mit den wichtigsten Lebensgütern wird als notwendiges Korrelat zur Garantie politischer Freiheit gesehen; grundlegend ist die Einsicht, dass politische Rechte der Menschen, wird die wirtschaftliche Existenz nicht gesichert, leerlaufen84. Erst die Verwirklichung sowohl der politischen als auch der sozialen Rechte, so die Theorie, garantiert die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen85. Diese Überlegungen sind nicht zuletzt auch Ausdruck einer allgemeinen Akzeptanz neuer wirtschaftspolitischer Konzepte vom Wohlfahrtsstaat. So scheinen die wirtschaftspolitischen Ideen Keynes’ zur „respectable orthodoxy“ geworden zu sein; eine Vielzahl der wirtschaftlich wichtigen Staaten erkennen sozialpolitische Interventionen als grundsätzlich notwendig an86. Noch ein anderer Gesichtspunkt aber ist von besonderer Bedeutung: Bereits hier zeigt sich, dass die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Bestimmungen schwierig ist. Denn was bedeutet soziale Sicherheit, die nach Art. 22 der Erklärung zu gewähren ist, anderes als ebenden Schutz in den in Art. 25 der Erklärung aufgezählten Fällen? Diese beiden Bestimmungen überlappen sich zusätzlich auch noch mit dem Recht auf Leben (Art. 3), das, legt man es weit aus, auch den Schutz des materiellen Existenzminimums umfasst87. Soziale Sicherung wird zudem auch in Art. 23 Abs. 3 der Erklärung angesprochen. Darin heißt es, jeder habe ein „Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die dem Einzelnen und Vgl. Köhler, Aktivitäten, S. 270 ff. Vgl. dazu auch Klein, Stille Revolution, S. 10 ff. 86 Stammers, Critique, S. 490 ff. 87 Eine weite Auslegung des Rechts auf Leben entspricht auch der Tradition des sozialistischen Schrifttums zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. die Schriften von Benoît Malon, Jean Jaurès, Anton Menger); vgl. dazu Perrin, Right to social protection, S. 245. 84 85
5 Nußberger
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seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist“. Auch das in Art. 23 Abs. 1 festgelegte Recht auf Schutz vor Arbeitslosigkeit ist bereits als Bestandteil des in Art. 22 enthaltenen Rechts auf soziale Sicherheit zu sehen. – In dem Moment, in dem die einzelnen Rechte verschiedenen Pakten mit verschiedenen Überwachungsverfahren zugeordnet werden, taucht zwangsläufig die Frage nach einer eindeutigen Abgrenzung der jeweiligen Schutzbereiche der Normen auf. Bereits mit den offenen Formulierungen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Bühne vorbereitet für die Auseinandersetzungen zu dieser Frage.
bb) Die allgemeinen Menschenrechtspakte ICCPR und ICESCR Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist erster Teil der „International Bill of Rights“. Sie enthält die wesentlichen Bestimmungen, die in der Folge in verschiedenen Dokumenten weiter differenziert werden88. Dabei handelt es sich um unter der Ägide der Vereinten Nationen ausgearbeitete völkerrechtliche Verträge, die zur Ratifikation ausgelegt werden und für die Staaten, die sie ratifizieren, verbindlich anwendbares Recht sind. Hier ein Überblick über die expliziten Normierungen des Rechts auf soziale Sicherheit: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1966 (ICCPR) Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1966 (ICESCR) Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 1966 (CERD)
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Art. 9
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Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf soziale Sicherheit an; diese schließt die Sozialversicherung ein.
Art. 5 e iv Im Einklang mit den in Artikel 2 niedergelegten grundsätzlichen Verpflichtungen werden die Vertragsstaaten die Rassendiskriminierung in jeder Form verbieten und beseitigen und das Recht jedes Einzelnen, ohne Unterschied der Rasse, der Hautfarbe, des nationalen Ursprungs oder des Volkstums, auf Gleichheit vor dem Gesetz gewährleisten; dies gilt insbesondere für folgende Rechte: . . . wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, insbesondere . . . das Recht auf öffentliche Gesundheitsfürsorge, ärztliche Betreuung, soziale Sicherheit und soziale Dienstleistungen.
Zur Kodifzierungsgeschichte vgl. ausführlich Köhler, Aktivitäten, S. 907 ff.
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Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau 1979 (CEDAW)
Art. 11 Abs. 1 e
Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau im Berufsleben, um ihr auf der Grundlage der Gleichberechtigung von Mann und Frau gleiche Rechte zu gewährleisten, insbesondere . . . das Recht auf soziale Sicherheit, insbesondere auf Leistungen bei Eintritt in den Ruhestand, bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität und im Alter oder bei sonstiger Arbeitsunfähigkeit, sowie das Recht auf bezahlten Urlaub.
Übereinkommen über die Rechte des Kindes 1989 (CRC)
Art. 26
Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Kindes auf Leistungen der sozialen Sicherheit einschließlich der Sozialversicherung an und treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die volle Verwirklichung dieses Rechts in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht sicherzustellen. Die Leistungen sollen gegebenenfalls unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse und der sonstigen Umstände des Kindes und der Unterhaltspflichtigen sowie anderer für die Beantragung von Leistungen durch das Kind oder im Namen des Kindes maßgeblicher Gesichtspunkte gewährt werden.
Internationales Übereinkommen über den Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienmitglieder
Art. 27
In Bezug auf soziale Sicherheit genießen Wanderarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen im Beschäftigungsstaat die gleiche Behandlung wie Staatsangehörige, soweit sie die von der einschlägigen Gesetzgebung dieses Staates und von den einschlägigen bi- und multilateralen Verträgen geforderten Voraussetzungen erfüllen. Die zuständigen Behörden des Herkunftsstaates und des Beschäftigungsstaates können jederzeit die notwendigen Vereinbarungen treffen, um die Anwendungsvoraussetzungen für diese Norm zu bestimmen. Soweit nach der einschlägigen Gesetzgebung den Wanderarbeitnehmern und ihren Familienangehörigen eine Leistung nicht zusteht, soll der betreffende Staat die Möglichkeit prüfen, den betroffenen Personen, auf der Basis der Behandlung der eigenen Staatsangehörigen unter gleichen Umständen die Beiträge zu erstatten, die sie in Bezug auf diese Leistung gemacht haben89.
5*
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Das Recht auf Fürsorge findet sich auf internationaler Ebene nicht explizit normiert; wohl aber ist es implizit in einer Mehrzahl von Verträgen angesprochen90: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1966 (ICCPR) Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1966 (ICESCR)
Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 1966 (CERD)
–
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Art. 11
Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten, und erkennen zu diesem Zweck die entscheidende Bedeutung einer internationalen, auf freier Zustimmung beruhenden Zusammenarbeit an.
Art. 5 e iv Im Einklang mit den in Artikel 2 niedergelegten grundsätzlichen Verpflichtungen werden die Vertragsstaaten die Rassendiskriminierung in jeder Form verbieten und beseitigen und das Recht jedes Einzelnen, ohne Unterschied der Rasse, der Hautfarbe, des nationalen Ursprungs oder des Volkstums, auf Gleichheit vor dem Gesetz gewährleisten; dies gilt insbesondere für folgende Rechte: .. wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, insbesondere . . . das Recht auf öffentliche Gesundheitsfürsorge, ärztliche Betreuung, soziale Sicherheit und soziale Dienstleistungen.
89 Da die Bundesrepublik Deutschland den Vertrag nicht ratifiziert hat, findet sich im Bundesgesetzblatt keine offizielle Übersetzung; die vorliegende Übersetzung stammt von der Verfasserin. 90 Nach Scott (Interdependence, S. 779 ff.) gibt es logisch-semantische Überschneidungen („logical or semantic entailments“) und effektive Überschneidungen („effectivist or foundational conception“). Bei ersterer Form ist ein Konzept bereits auf der Ebene sprachlicher Zusammenhänge notwendigerweise in einem anderen Konzept mit enthalten (z. B. das Recht auf Nahrung in dem Recht auf Leben), bei letzterer ist ein Konzept so zu interpretieren, als wäre ein anderes darin enthalten, da die Vorschrift sonst keinen wirklichen Grundrechtsschutz ermöglicht (z. B. wird argumentiert, das Recht auf Streik müsse in dem Konzept der Vereinigungsfreiheit mit enthalten sein). Im Sinne der „effectivist oder foundational conception“ ist auch das Recht auf Fürsorge in den angeführten Normierungen auf internationaler Ebene enthalten.
I. Garantie eines Bürgerrechts auf sozialen Schutz Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau 1979 (CEDAW)
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Übereinkommen über die Rechte des Kindes 1989 (CRC)
Art. 27
Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard an. Es ist in erster Linie Aufgabe der Eltern oder anderer für das Kind verantwortlicher Personen, im Rahmen ihrer Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Lebensbedingungen sicherzustellen.
Internationales Übereinkommen über den Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienmitglieder (MWC)
Art. 28
Wanderarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen sollen das Recht haben, jede medizinische Leistung, die zum Überleben oder zur Verhinderung eines irreparablen Gesundheitsschadens dringend notwendig ist, auf der Basis der Gleichberechtigung mit den Staatsangehörigen des betroffenen Staates zu bekommen. Eine derartige medizinische Notfallleistung soll nicht verweigert werden aufgrund illegalen Aufenthalts oder illegaler Beschäftigung91.
Der einzige Menschenrechtspakt, der weder das Recht auf soziale Sicherheit noch auf Fürsorge erwähnt, ist der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR). Normiert ist zwar ein Recht auf Leben (Art. 6 ICCPR), nicht aber ein Recht auf sozialen Schutz. Letzteres wird den so genannten „sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten“ zugeschlagen und in den Zwilling zum ICCPR, in den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, aufgenommen. Auch dort ist das Recht auf sozialen Schutz in Art. 9 ICESCR nur rudimentär geregelt; welche Risiken in welchem Umfang abgedeckt werden sollen, ist aus dem Wortlaut nicht ersichtlich. Deutlich ist nur, dass es sich um ein „Jedermann-Recht“ handelt. Sozialversicherung wird explizit erwähnt; welcher Stellenwert ihr zukommt, ist aber im Gegensatz zu der Empfehlung der IAO aus dem Jahr 1944, in der sie als vorzugswürdig bezeichnet wird, nicht zu klären92. Art. 9 ICESCR wird ergänzt durch Art. 11 ICESCR (Recht auf einen angemessenen Lebensstandard) und Art. 12 ICESCR (Recht auf Gesundheit)93. 91 92 93
Übersetzung der Verfasserin. Zu Art. 9 ICESCR vgl. auch Köhler, Aktivitäten, S. 974 f. Zu Art. 11 und 12 ICESCR vgl. auch Köhler, Aktivitäten, S. 976 ff.
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
Die Ausklammerung dieser Rechte aus dem ICCPR ist eine für die gesamte Rechtsentwicklung in diesem Bereich weichenstellende Entscheidung. Die Trennung bzw. Zusammenfassung der Menschenrechte in einem bzw. in zwei Dokumenten war über lange Zeit sehr strittig. Ursprünglich wurde geplant, eine Deklaration, einen Vertrag und Maßnahmen zur Implementierung dieses Vertrages – die „International Bill of Human Rights“ – gleichzeitig auszuarbeiten94. Allerdings entschied die Menschenrechtskommission dann nach der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bei ihrer sechsten Sitzung im Jahr 1950, die politischen von den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten zu trennen. Die in der Folge ergangenen Resolutionen des Wirtschafts- und Sozialrates und der Generalversammlung der Vereinten Nationen bekräftigten zur Frage der Trennung der Rechte oder Zusammenfassung in einem Dokument unterschiedliche Konzeptionen95; die Resolution 421 D (V) (1950) sah die Integration auch der wirtschaftlichen und sozialen Rechte vor96; die Resolution 543 (VI) (1952) dagegen bestand auf der Abfassung zweier getrennter Verträge97. Der Entwicklungsprozess spiegelt den Einfluss der verschiedenen Staatengruppen, des Ostblocks und der Entwicklungsländer bzw. der westeuropäischen Staaten und der USA wider98. Auf der einen Seite wird argumentiert, eine Trennung sei notwendig, da der Implementierungsmechanismus bei den Rechten notwendigerweise verschieden sei; zudem werde bei zwei verschiedenen Pakten verhindert, dass ein Staat, akzeptiere er eines der Konzepte nicht, sich überhaupt nicht völkerrechtlich in diesem Bereich verpflichten könne. Auch wird auf Überschneidungen mit der Arbeit der IAO aufmerksam gemacht99. Dem wird vor allem die inhaltliche Zusammengehörigkeit der Rechte entgegengehalten100. Im Ergebnis werden zwei getrennte Rechtsinstrumente ausgearbeitet, die Theorie von der Unteilbarkeit und Abhängigkeit der Rechte aber – von offizieller Seite – nicht in Frage gestellt, 94 Vgl. die Präambel der UN GA Resolution 521 (V) „Draft International Covenant on Human Rights and Measures of Implementation: Future Work of the Commission on Human Rights“ (4. 12. 1950) Part E, Par. 3, 4: „Whereas the enjoyment of civil and political freedoms and of economic, social and cultural rights are interconnected and interdependent; Whereas when deprived of economic, social and cultural rights, man does not represent the human person whom the Universal Declaration regards as the ideal of the free man . . . (b) Calls upon the Economic and Social Council to request the Commission on Human Rights, in accordance with the spirit of the Universal Declaration, to include in the draft Covenant a clear expression of economic, social and cultural rights in a manner which relates them to the civil and political freedoms proclaimed by the draft Covenant . . .“. 95 Vgl. ECOSOC Resolution 303 C (XI) vom 9. 8. 1950, ECOSOC Resolution 303 I (XI) vom 9. 8. 1950. 96 UN GA Resolution 421 E (V) vom 4. 12. 1950. 97 Vgl. UN GA Resolution 543 (VI) „Preparation of two Draft International Covenants on Human Rights“ vom 5. 2. 1952. 98 Vgl. Scott, Interdependence, S. 791 ff.; Köhler, Aktivitäten, S. 908 ff. 99 Vgl. dazu die Fundstellen in der Debatte bei Scott, Interdependence, S. 196, FN 92. 100 Vgl. dazu die detaillierte Analyse der Debatte bei Scott, Interdependence, S. 491 ff.
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weder zu diesem Zeitpunkt noch später101. Aufgrund der Unteilbarkeitstheorie wird gefordert, dass es zwischen beiden Pakten so viele Überschneidungen wie möglich geben müsse: „The General Assembly requests . . . the two Covenants to contain, in order to emphasise the unity of the aim in view and to ensure respect for and observance of human right, as many similar provisions as possible, particularly in so far as the reports to be submitted by States on the implementation of these rights are concerned“102.
Diesen Vorgaben entsprechend finden sich in den beiden im Jahr 1966 angenommenen Menschenrechtspakten eine Vielzahl von Doppelungen103. Dabei ist zu unterscheiden zwischen (fast) wörtlichen Wiederholungen104, Wiederholungen, die zwar wortgleich sind, sich aber auf Unterschiedliches beziehen105, Bestimmungen, die sich inhaltlich im Wesentlichen entsprechen, wie die Erziehungsfreiheit der Eltern106, die Gewerkschaftsfreiheit107, der Schutz der Familie108, die Eheschließungsfreiheit109, der Schutz Minderjähriger110, dennoch aber im Einzelnen Unterschiede bei der Formulierung und Akzentsetzung aufweisen, und Bestimmungen, die so interpretiert werden können, dass sie sich überschneiden. Diese Form der Überschneidung von ICCPR und ICESCR ist für die hier untersuchte Thematik der 101 Vgl. Art. 1 (a) UN GA Resolution 32 / 130 „Alternative approaches and ways and means within the UN system for improving the effective enjoyment of human rights and fundamental freedoms“ (16. 12. 1977), Präambel zu der UN GA Resolution 41 / 117 „Indivisibility and interdependence of economic, social, cultural, civil and political rights“ (4. 12. 1986), Präambel und Art. 6 Abs. 2 UN GA Resolution 41 / 128 „Declaration on the Right to Development“ (Dezember 1986); vgl. auch The Limburg Principles on the Implementation of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights Nr. 3: „As human rights and fundamental freedoms are indivisible and interdependent, equal attention and urgent consideration should be given to the implementation, promotion and protection of both civil and political, and economic, social, and cultural rights“ (UN Doc E / CN4 / 1987 / 17, Annex, abgedruckt bei Hunt, Social Rights, S. 241 ff.). 102 UN GA Resolution 543 (VI), oben FN 97. 103 Vgl. dazu auch die Aussage in den Limburg Principles FN 101 Nr. 98: „The Covenant on Economic, Social and Cultural Rights is related to the Covenant on Civil and Political Rights. Although most rights can clearly be delineated as falling within the framework of one or other Covenant, there are several rights and provisions referred to in both instruments which are not susceptible to clear differentiation. Both Covenants moreover share common provisions and articles“. 104 Vgl. die Präambeln der beiden Abkommen wie auch Art. 1, das Recht auf Selbstbestimmung. 105 Vgl. das jeweils in Art. 2 Abs. 1 enthaltene Diskriminierungsverbot im Hinblick auf die im Pakt garantierten Rechte und das jeweils in Art. 3 enthaltene Gebot der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Hinblick auf die im Pakt garantierten Rechte. 106 Vgl. Art. Art. 18 Abs. 4 ICPCR und Art. 13 Abs. 3 ICESCR. 107 Vgl. Art. 22 ICCPR und Art. 8 ICESCR. 108 Vgl. Art. 23 Abs. 1 ICCPR und Art. 10 Abs. 1 ICESCR. 109 Vgl. Art. 23 Abs. 2 ICCPR und Art. 10 Abs. 1 S. 2 ICESCR. 110 Vgl. Art. 24 Abs. 1 ICCPR und Art. 10 Abs. 3 ICESCR.
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Rechtsentwicklung völkerrechtlicher Sozialstandards relevant. Auch wenn das Recht auf sozialen Schutz nicht in beiden Pakten figuriert, enthalten doch beide Pakte Ansätze, auf deren Basis eigenständig Sozialstandards entwickelt werden können: das Recht auf Leben (Art. 6 ICCPR) einerseits, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard und Schutz vor Hunger (Art. 11 ICESCR) sowie das Recht auf Gesundheit (Art. 12 ICESCR) andererseits111. Auch bei der Normierung des Diskriminierungsverbots überschneiden sich die Pakte. Das in Art. 26 ICCPR enthaltene allgemeine Diskriminierungsverbot kann so gelesen werden, als ob es auch alle in dem ICESCR enthaltenen Rechte mit umfasse112. Damit wäre es lex generalis im Hinblick auf die im ICESCR enthaltenen speziellen Ausformungen des Gleichheitssatzes113, so dass ein materiell-rechtlicher Eingriff über das im Fakultativprotokoll zum ICCPR enthaltene Kontrollinstrumentarium in sozialrechtliche Rechtspositionen möglich ist. Der Ausschuss für Menschenrechte hat diese Möglichkeit explizit bestätigt und festgestellt, dass das in Art. 26 ICCPR enthaltene allgemeine Diskriminierungsverbot auch auf Rechte, die nach dem ICESCR geschützt werden, anwendbar ist114. Die im ICESCR enthaltenen Einzelnormierungen sind, dem Vorbild der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte entsprechend, nicht trennscharf abzugrenzen. Zwar ist hinter Art. 9 ICESCR das Konzept „soziale Sicherheit, Sozialversicherung“ und hinter Art. 11 ICESCR das Konzept „soziale Fürsorge“ zu erkennen; die in der Universellen Menschenrechtsdeklaration zu erkennende Verzahnung der beiden Bereiche wird nicht übernommen. Allerdings ergeben sich im Detail dennoch eine Reihe von Überschneidungen, so insbesondere zwischen dem Recht auf Gesundheit (Art. 12) und dem Recht auf soziale Sicherheit (Art. 9). – Analysiert man nicht die von den Normen erfassten Schutzbereiche, sondern prüft, inwieweit bestimmte Lebenssachverhalte unter verschiedene Normen gleichermaßen zu subsumieren sind, so zeigt sich, dass etwa das Problem der Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit Art. 9 ICESCR wie auch mit Art. 6 ICESCR, dem Recht auf Arbeit, anzusprechen ist. Auch dieser Umstand programmiert Wiederholungen und Mehrfachprüfungen bei der Kontrolltätigkeit der Sachverständigenkomitees vor.
111 Die Überschneidung zwischen dem Recht auf Leben und dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, Gesundheit und Schutz vor Hunger findet sich in dem Allgemeinen Kommentar Nr. 6 des Ausschusses für Menschenrechte explizit bestätigt; vgl. im Einzelnen S. 238 ff. 112 Zu beachten ist, dass damit der ICCPR in Art. 2 Abs. 1 und Art. 26 zwei unterschiedlich weit greifende Diskriminierungsverbote enthält. 113 Insbesondere Art. 7 a i (gleiches Arbeitsentgelt) und Art. 10 Abs. 3 (gleiche Rechte der Kinder auf Schutzmaßnahmen). 114 Vgl. dazu ausführlich S. 339 ff.
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cc) Die spezifischen Menschenrechtspakte CEDAW, CERD, CRC und MWC Das Recht auf sozialen Schutz findet auch in Pakte Eingang, die besonderen Themenkomplexen gewidmet sind, wie dem Schutz gegen Rassendiskriminierung und Apartheid115, dem Schutz der Kinder116, dem Schutz der Frauen117 und dem Schutz der Wanderarbeitnehmer 118. Im Gegensatz zu der „International Bill of Rights“, die, wie dargestellt, ursprünglich auf eine Gesamtkonzeption zurückgeht, beruht die Ausdifferenzierung der einzelnen Rechte in den weiteren Pakten nicht auf einem Gesamtplan, sondern ist vielmehr als Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf besondere Risiken und Gefährdungen119 bzw. auf Unzulänglichkeiten in den einzelnen Pakten zu erklären120. Den Vorschriften, die sich mit der Garantie des Rechts auf sozialen Schutz befassen, kommt im Rahmen der spezifischen Menschenrechtsübereinkommen eine unterschiedliche, in der Regel aber nur untergeordnete Bedeutung zu. Für den im Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) verankerten Schutz der Frauen im sozialrechtlichen Bereich sind das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 11 Abs. 1 e), das Recht auf bezahlten Mutterschaftsurlaub (Art. 11 Abs. 2 b), das Verbot der Diskriminierung bei der Gewähr von Gesundheitsleistungen (Art. 12) und das Verbot der Diskriminierung im Hinblick auf andere Bereiche des wirtschaftlichen und sozialen Lebens (Art. 13) relevant. Allerdings stehen im CEDAW politische Gleichberechtigung und Gleichberechtigung im familien- und erbrechtlichen Bereich im Vordergrund121. 115 International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Dicrimination vom 21. 12. 1965, International Convention on the Suppression and Punishment of the Crime of Apartheid vom 30. 11. 1973. 116 Convention on the Rights of the Child vom 20. 11. 1989. 117 Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women vom 18. 12. 1979. 118 International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families vom 18. 12. 1990. 119 Vgl. etwa die Entstehungsgeschichte des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung, zu dessen Ausarbeitung „manifestations of antisemitism and other forms of racial and national hatred and religious and racial prejudices of a similar nature“ Ende der 50er Jahre den Anstoß gaben; vgl. dazu Meron, Law-making, S. 9; Schwelb, Racial Discrimination, S. 996 ff. 120 Vgl. etwa die Entstehungsgeschichte des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung von 1984; der Schutz hiergegen aufgrund der bis dahin bestehenden Rechtsinstrumente war nicht als ausreichend erachtet worden; vgl. Meron, Law-Making, S. 112 mwN. 121 Zum CEDAW vgl. Fraser, Women’s Human Rights, S. 853 ff.; Tomasevski, Women, S. 273 ff.; zu einer kritischen Analyse des in diesem Bereich Erreichten vgl. Apodaca, Women’s Economic and Social Rights, S. 139 ff.
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Bei Sozialschutzmaßnahmen ist das grundlegende Problem, ob sie Männern und Frauen gleichberechtigt zu gewähren sind bzw. ob Frauen einer gezielten Förderung bedürfen. Art. 4 Abs. 2 CEDAW, nach dem Sondermaßnahmen von Vertragsstaaten zum Schutz der Mutterschaft nicht als Diskriminierung gelten, ist sehr weit gefasst; insbesondere ist der Begriff „Mutterschaft“ nicht spezifiziert: möglich ist, darunter nur die Zeit der Schwangerschaft, die Zeit der Sorge für Kleinkinder oder für Kinder allgemein oder aber die Fähigkeit, Kinder zu gebären, zu subsumieren. Je weiter man den Begriff fasst, desto mehr Ausnahmebestimmungen, auch im sozialen Bereich, sind zulässig, desto mehr besteht aber auch die Gefahr, dass die Frauen als Gesamtgruppe wirtschaftlich schlechter gestellt werden122. Die Möglichkeiten des Kontrollausschusses zum CEDAW123, Diskriminierungen im Bereich der sozialen Sicherheit zu monieren, sind dadurch beschränkt, dass Art. 11 CEDAW nur die „Beseitigung der Diskriminierung der Frau im Berufsleben“ thematisiert. Die Tatsache, dass unbezahlte Arbeit sozialrechtlich in der Regel nicht relevant ist, gerade diese aber überproportional häufig von Frauen geleistet wird, ist dagegen nach den Normen des CEDAW nicht erfassbar, obwohl darin der eigentliche Grund für die sozialrechtliche Schlechterstellung von Frauen liegt124. Interpretiert man Art. 11 CEDAW so, dass „Berufsleben“ auch die unbezahlte Pflege von Kindern und Kranken im häuslichen Bereich einschließt, so würde der Pakt im sozialrechtlichen Bereich theoretisch nicht nur oberflächliche Korrekturen bewirken, sondern politische Sprengkraft entfalten. Auch im Kontext des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD)125 stehen Sozialschutzmaßnahmen nicht im Mittelpunkt des Interesses. Dennoch steckt auch in diesen Regelungen ein Potential für die Umgestaltung von Sozialpolitik. So kann die in Art. 2 Abs. 1 CERD enthaltene Verpflichtung, „mit allen geeigneten Mitteln unverzüglich eine Politik der Beseitigung der Rassendiskriminierung in jeder Form“ zu verfolgen, im Zusammenhang mit Art. 5 e iv CERD als Hebel dienen, um sozialpolitische Ausgleichsforderungen durchzusetzen, wenn man davon ausgeht, dass auch in der Vergangenheit liegende Benachteiligungen bestimmter Gruppen der Gesellschaft zu berücksichtigen sind126, da sich diese Benachteiligungen auch und gerade an sozialrechtlichen Positionen manifestieren127. Vgl. zu der Problematik Meron, Law-Making, S. 73. Vgl. dazu S. 296. 124 Vgl. Luckhaus, Equal treatment, S. 149 ff. 125 Bei der Ausarbeitung des CERD wurde zum Teil auf Normen aus der ILO-Konvention Nr. 111 sowie aus der Konvention der UNESCO gegen Diskriminierung bei der Erziehung Bezug genommen; zum CERD vgl. allgemein Lerner, Racial Discrimination; Meron, International Convention on the Elimination of all Forms of Racial Discrimination, S. 283 ff.; Meron, Law-Making, S. 7 ff. 126 Vgl. zu der Problematik Meron, Law-Making, S. 14. 122 123
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Im Rahmen des Übereinkommens zum Schutz der Rechte der Kinder (CRC)128 sind sowohl Fürsorgeansprüche als auch Ansprüche auf soziale Sicherheit (insbesondere Hinterbliebenenrenten, Familienleistungen) von zentraler Bedeutung. Überschneidungen bestehen zwischen allgemeinen Ansprüchen aller Kinder, die parallel zu den anderen Menschenrechtspakten formuliert sind (Recht jedes Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit (Art. 24 CRC), Recht jedes Kindes auf Leistungen der sozialen Sicherheit (Art. 26 CRC)), Recht jedes Kindes auf einen seiner Entwicklung angemessenen Lebensstandard (Art. 27 CRC) und Ansprüchen von Kindern in besonders schwierigen Lebenslagen (Anspruch auf besonderen Schutz und Beistand des Staates bei Herauslösung eines Kindes aus seiner familiären Umgebung (Art. 20 CRC), Recht auf Schutz und humanitäre Hilfe für Flüchtlinge (Art. 22 CRC), Recht geistig oder körperlich behinderter Kinder auf ein erfülltes und menschenwürdiges Leben (Art. 23 CRC)). Am 1. 7. 2003 ist das Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (MWC) in Kraft getreten, nachdem es von 20 Staaten ratifiziert worden ist. Es wird grundsätzlich als siebte Konvention der menschenrechtlichen Tradition der Vereinten Nationen zugeordnet, ist aber auch als Glied in der Entwicklung des völkerrechtlichen Fremdenschutzes zu verstehen129. Erfasst werden die mit der Migration verbundenen Gefährdungen des Einzelnen von der Vorbereitung der Ausreise bis zur Rückkehr und Reintegration in den Herkunftsstaat. Im Bereich der sozialen Sicherheit enthält die Konvention keine eigenständige Definition eines bestimmten Mindeststandards, der für Wanderarbeitnehmer zu gewährleisten wäre, sondern statuiert den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 27). Eine Gleichbehandlung wird aber nur dann gefordert, wenn der Wanderarbeitnehmer die vom jeweiligen nationalen System bzw. von entsprechenden multi- oder bilateralen Verträgen aufgestellten Voraussetzungen erfüllt; hier hat der nationale Gesetzgeber einen Spielraum, der sogar ausdrücklich hervorgehoben wird. Auch eine Verpflichtung zur Rückzahlung geleisteter Beiträge für den Fall, dass Leistungen nicht erbracht werden, wird nur als Bemühensverpflichtung ausgestaltet. Anders ist es beim Recht auf Gesundheit; hier wird eine Behandlung zumindest im Notfall gefordert, und zwar auch dann, wenn der Betroffene sich illegal in dem betreffenden Land aufhält oder aber illegal arbeitet. Allerdings ist auch diese Vorschrift insofern eingeschränkt, als eine Notfallbehandlung nur dann gewährt wird, wenn auch die Bürger des entsprechenden Landes ein Recht darauf hätten (Art. 28). Der Überblick über die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen zeigt, dass auf internationaler Ebene eine Vielzahl von Foren zur Diskussion so127 Beispielsweise kann der Ausschluss einer bestimmten Gruppe vom Arbeitsmarkt bedeuten, dass die von diskriminierenden Maßnahmen in der Vergangenheit Betroffenen keine sozialrechtlich gesicherten Positionen erwerben konnten. 128 Vgl. zum CRC allgemein: Dorsch, Rechte des Kindes, sowie die Beiträge in Detrick, Rights of the Child. 129 Vgl. dazu Kapitel A.III.
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
zialer Schutzmaßnahmen geschaffen und im System des Völkerrechts verankert wird. dd) Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen Das Recht auf sozialen Schutz findet sich außerdem noch in einer Reihe von Resolutionen, die zum Teil nur ein Vorbereitungsstadium vor der Ausarbeitung eigenständiger Konventionen markieren130, zum Teil aber auch einen eigenständigen Wert als materielle Festlegung von Rechten haben. Dies gilt insbesondere für die Festlegung der Rechte von in besonderer Weise Bedürftigen, die noch nicht in Konventionen Eingang gefunden haben. Während die allgemeinen Regelungen zu sozialer Sicherheit und Fürsorge das Risiko der Behinderung nur unter dem eingeschränkten Gesichtswinkel der Versorgung Invalider – sei es auf der Basis eines Versicherungssystems, sei es im Wege der Fürsorge – erfassen, wird die grundrechtliche Absicherung Behinderter in einer Mehrzahl von Resolutionen als Gesamtregelungskomplex vorgestellt: über die materielle Absicherung hinaus geht es darum, den jeweils Bedürftigen zu helfen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und ihre Integration in das normale Leben so weit wie möglich zu fördern. Der Thematik sind die „Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons“ vom 20. Dezember 1971131, die „Declaration on the Rights of Disabled Persons“ vom 9. Dezember 1975132, die „Principles for the Protection of Persons with Mental Illness and the Improvement of Mental Health Care“133 und die „Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities von 1993“134 gewidmet. Auch für die Behinderten wird ein Anspruch auf wirtschaftliche und soziale Sicherheit und auf einen menschenwürdigen Lebensstandard gefordert135, ohne dass dies allerdings im Einzelnen näher bestimmt würde. Der Schwerpunkt der Regelungen liegt auf Gesundheitsfürsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts rückt auch das Thema „Alter“ als umfassendes Regelungsfeld neu ins Blickfeld: aus dem Jahr 1991 stammen die 130 Vgl. United Nations Declaration on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (General Assembly Resolution 1904 (XVIII) vom 20. 11. 1963); Declaration on the Elimination of Discrimination against Women (General Assembly Resolution 2263 (XXII) vom 7. 11. 1967). 131 Res 2856 (XXVI), abgedruckt in: UNIFO Editorial Staff, International Human Rights Instruments of the United Nations 1948 – 1982, S. 117 ff. 132 Res 3447 (XXX), abgedruckt in: UNIFO Editorial Staff, International Human Rights Instruments of the United Nations 1948 – 1982, S. 131 ff. 133 Res. 46 / 119 vom 17. 12. 1991, abgedruckt in: Centre for Human Rights, Human Rights. A Compilation of International Instruments. Volume I (Second Part). Universal Instruments, United Nations. New York, Geneva 1994, S. 517 ff. 134 UN GA Resolution 48 / 96 vom 20. 12. 1993. 135 Vgl. Punkt 6 der Declaration on the Rights of Disabled Persons vom 9. 12. 1975 (FN 132).
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„Principles for Older Persons“136, die „Proclamation on Ageing“ aus dem Jahr 1992137. Vergleicht man die Formulierungen in den Menschenrechtspakten und in den vorbereitenden Resolutionen, so fällt auf, dass sie zum Teil nur im Wortlaut voneinander abweichen, zum Teil die Unterschiede aber auch von substantieller Bedeutung sind. Beispielsweise fehlt in der „Declaration on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination“ eine Bestimmung zur sozialen Sicherheit, während in den Pakt eine besondere Vorschrift aufgenommen worden ist. Gravierend ist der Unterschied im Hinblick auf das Verständnis des Diskriminierungsverbots aufgrund des Geschlechts: Die Konvention aus dem Jahr 1979 spiegelt eine völlig andere Konzeption als die Erklärung aus dem Jahr 1967 wider; Schutzbestimmungen, die in den 60er Jahren noch gefordert werden, werden ein Jahrzehnt später bereits für diskriminierend erklärt138. Die „Declaration on Social Progress and Development“ vom 11. Dezember 1969139 geht nicht von den Rechten der Einzelnen, sondern von der Gestaltung der staatlichen Sozialpolitik in den einzelnen Staaten aus. Auch hier finden sich Bestimmungen, die den in den Menschenrechtspakten enthaltenen Bestimmungen fast wörtlich entsprechen.
ee) Abschlusserklärungen internationaler Konferenzen Zu den genannten Vorschriften treten schließlich noch die Abschlusserklärungen internationaler Konferenzen, deren Einberufung zur Kristallisation der Meinungsbildung teilweise institutionalisiert ist, hinzu140. Ein frühes Beispiel ist die Proklamation von Teheran von 1968, die den Abschluss der internationalen Menschenrechtskonferenz in Teheran vom 22. 4. bis zum 13. 5. 1968 bildet. Darin sind allerUN GA Resolution vom 16. 12. 1991. UN GA Resolution vom 16. 10. 1992. 138 Vgl. dazu Kapitel D.II.2. 139 Res 2542 (XXIV), abgedruckt in: UNIFO Editorial Staff, International Human Rights Instruments of the United Nations 1948 – 1982, S. 110 ff.; vgl. insbesondere Art. 11: „Social progress and development shall aim equally at the progressive attainment of the following main goals: (a) The provision of comprehensive social security schemes and social welfare services; the establishment and improvement of social security and insurance schemes for all persons who, because of illness, disability or old age, are temporarily or permanently unable to earn a living, with a view to ensuring a proper standard of living for such persons and for their families and dependants“. 140 Vgl. Art. 62 Abs. 4 UN-Charta; vgl. zu den Abschlusserklärungen Tomuschat, Concluding Documents, S. 563 ff. Beispiele für Konferenzen sind die World Population Conference in Bukarest 1974, die International Conference on Population in Mexico City 1984, die World Conferences on Women in Mexico City 1975 und Nairobi 1985, die UN Conference on Environment and Development in Rio de Janeiro1992, die International Conference on Human Rights in Wien 1993, die International Conference on Population and Development in Kairo 1994, die World Conference on Women in Peking 1995. 136 137
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dings nur allgemeine Feststellungen zu den Verpflichtungen der Staaten zum Schutz der Menschenrechte enthalten; konkrete Aussagen zu einzelnen Rechtspositionen finden sich nicht. In die „Universal Declaration on the Eradication of Hunger and Malnutrition“ wird dagegen ein Grundrecht auf Nahrung aufgenommen, das sich mit dem Recht auf soziale Fürsorge im Fall der Not teilweise überschneidet: „Every man, woman and child has the inalienable right to be free from hunger and malnutrition in order to develop fully and maintain their physical and mental facilities“141.
Für das internationale Sozialrecht relevant ist weiter die Vienna Declaration and Programme of Action, die auf der World Conference on Human Rights in Wien im Jahr 1993 angenommen wird142 – darin wird auf die Probleme einer „extremen Armut“ und einer „sozialen Marginalisierung“ hingewiesen; konkrete Rechte werden allerdings auch hier nicht formuliert. In dem „Report of the Fourth World Conference on Women“143 ist ein expliziter Verweis auf soziale Rechtspositionen enthalten. Ganz dem Thema der sozialen Grundrechte gewidmet ist die Kopenhagener Erklärung über soziale Entwicklung144, die Schlusserklärung des Weltsozialgipfels, der auf der Grundlage der Resolution 47 / 92 der Generalversammlung der Vereinten Nationen organisiert wurde und bei dem sich vom 6. bis zum 12. 3. 1995 117 Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen versammelten. Die Erklärung weist sehr unterschiedliche Teile auf, nämlich eine Einleitung und einen Teil A (Current Social Situation and Reasons for Convening the Summit), die dominant beschreibende Elemente enthalten, einen Teil B, der Prinzipien und Ziele und einen Teil C, der Verpflichtungen enthält. Von besonderer Bedeutung ist das „Commitment 8“, das die Förderung von Sozialleistungen insbesondere für die ärmsten und am wenigsten geschützten Mitglieder der Gesellschaft vorsieht. Thematisch relevant sind weiter die „Declaration and Recommendations of the International Conference on Primary Health Care“ in Alma Ata, 1978145, die Abschlusserklärungen des Weltgipfels zum Thema Kinder146 und der Konferenz über die Entwicklung sozialer Wohlfahrtspolitik in Entwicklungsländern147 sowie der Konferenz über Bevölkerungsentwicklung148. Köhler, Aktivitäten, S. 686 ff. U.N. doc. A / CONF.157 / 23; abgedruckt 32: 1663 ILM (1993), EuGRZ 1993, S. 520 ff. 143 U.N.doc. A / CONF.177 / 20. 144 Vgl. United Nations, The Copenhagen Declaration and Programme of Action. World Summit for Social Development, New York 1995. 145 32 WHO Chronicle 409 – 430 (1978). 146 World Declaration on the Survival, Protection and Development of Children, Annahme durch die GV der Vereinten Nationen: UN G.A. Doc. A / 45 / 625, Annex. 147 Interregional Consultation on Developmental Social Welfare Policies and Programmes, Vienna, 7 – 15 Sept. 1987: Guiding Principles for Developmental Social Welfare Policies and Programmes in the Near Future, Annahme durch die GV der Vereinten Nationen: G.A. Res. 42 / 125, 7 Dec. 1987. 141 142
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Die Entwicklung internationaler Sozialstandards im Rahmen der Vereinten Nationen ist so als mäandrisch zu bezeichnen; eine Richtung ist mit dem Ziel eines umfassenden und effektiven Schutzes aller Menschen vorgegeben; die Fortentwicklung ist aber nicht gradlinig, sondern vollzieht sich in verschiedenen, im Einzelnen nicht miteinander koordinierten Einzelschritten. Menschenrechtsschutz entwickelt sich so schichtenweise, wobei die juristischen Probleme, die durch sich überlappende Garantien entstehen, nicht systematisch reflektiert werden. – Die Verpflichtung für die Staaten, ein Sozialschutzsystem aufzubauen, um dem Einzelnen im Fall von Not oder zumindest in bestimmten Fällen von Not finanziell abgesicherte Hilfeleistungen garantieren zu können, ist, implizit oder explizit, in den grundlegenden internationalen Dokumenten in einer Vielzahl von Einzelbestimmungen enthalten. Das Recht auf Fürsorge, d. h. das Recht auf Hilfe des Staates in nicht durch Vorsorgesysteme abgesicherten Notfällen, wird in den genannten Dokumenten vor allem im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot angesprochen, aber in den rechtsverbindlichen Konventionen nicht ausdrücklich als allgemeines Menschenrecht normiert. b) Entwicklung des Rechts auf sozialen Schutz im Rahmen des Europarats Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im Rahmen des Europarats ist von Anfang an mit der Rechtsentwicklung in den Vereinten Nationen verschränkt. Geht die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte den Übereinkommen des Europarats voraus, so treten jene wiederum als rechtsverbindliche Akte vor den beiden Menschenrechtspakten in Kraft. aa) Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Zusatzprotokolle Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) enthält, wie auch der ICCPR, keine Normierung eines Rechts auf sozialen Schutz. Auch der Europarat vollzieht – analog zu den Vereinten Nationen, wenn auch ohne ideologische Polarisierung der Mitgliedstaaten – eine Trennung zwischen „politischen“ und „sozialen“ Rechten. Bereits zu Beginn seiner Tätigkeit stellt der Europarat die Freiheitsrechte in den Vordergrund. Bei dem Kongress im Jahr 1948 in Den Haag, der auf Initiative des „International Committee of Movement for European Unity“ zustande kommt, wird eine Resolution verfasst, in der die Ausarbeitung einer Charta gefordert wird, die die Gedanken-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit ebenso wie das Recht, eine politische Opposition zu bilden, garantiert. Auch in dem ersten Entwurf der 148 Vgl. Report of the International Conference on Population and Development U.N.doc A / CONF.171 / 13.
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
Menschenrechtscharta149 sind nur Freiheitsrechte enthalten. Bei der Diskussion über die in die Konvention aufzunehmenden und einem Durchsetzungsmechanismus zu unterwerfenden Rechte im „Committee on Legal Affairs“ einigt man sich darauf, dass nur die Rechte und Freiheiten, die die folgenden Voraussetzungen erfüllen, zu berücksichtigen seien: „(a) which imposed on the States only obligations ,not to do things‘, which would thus be susceptible to immediate sanction by a court; and (b) which were so fundamental that human dignity and democracy were inconceivable if they were not respected“150.
Wirtschaftliche und soziale Rechte werden damit ausgeschlossen. Allerdings wird ihre rechtliche Fixierung nicht abgelehnt, sondern nur auf einen späteren Zeitpunkt verschoben151. Die EMRK wird in der Folge von einer Reihe von Protokollen ergänzt, die weitere inhaltliche Garantien enthalten152. Diskutiert wird auch, ein Zusatzprotokoll anzufügen, das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte enthält153. Nach der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung sind dabei aber drei Prinzipien zu berücksichtigen: „. . . in order to be incorporated in the convention, any right must be fundamental and enjoy general recognition, and capable of sufficiently precise definition to lay legal obligations on a state, rather than simply constitute a general rule“.
Vorgeschlagen wird die Einbeziehung des Rechts auf Entschädigung bei Enteignung, des Rechts von Männern und Frauen auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, der Gleichheit von Männern und Frauen bei Beschäftigung und Beruf und des Rechts auf eine kostenlose Grundschulausbildung154. Allerdings kann kein Konsens erzielt werden, da man das Kriterium der Justitiabilität dieser Rechte als nicht gewährleistet ansieht. Die Aufnahme eines Rechtes auf sozialen Schutz wird nicht diskutiert. Abgedruckt bei Robertson, Travaux Préparatoires, S. 296 ff. Teitgen, European Convention on Human Rights, S. 10. 151 „Certainly, ,professional‘ liberties and ,social‘ rights, which have themselves an intrinsic value, must also, in the future, be defined and protected; but everyone will understand that it is necessary to begin at the beginning and to guarantee political democracy in the European Union, and then to co-ordinate our economies before undertaking the generalisation of social democracy“ (Robertson, Traveaux Préparatoires, S. 194). 152 Zusatzprotokoll vom 20. 3. 1952 (Schutz des Eigentums, Recht auf Bildung, Recht auf freie Wahlen), Zusatzprotokoll Nr. 4 vom 16. 9. 1963 (Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden, Freizügigkeit, Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger, Verbot der Kollektivausweisung ausländischer Personen), Protokoll Nr. 6 vom 28. 4. 1983 (Abschaffung der Todesstrafe). 153 Vgl. die „Declaration on Human Rights“ des Ministerkomitees vom 27. 4. 1978; vgl. dazu ausführlich Berenstein, Economic and social rights, S. 257 ff. 154 Report Submitted by the Austrian delegation to the European Ministerial Conference on Human Rights, Vienna 19 – 20 March 1985, Council of Europe Doc. MDH (85) 2 at 9 (1984); vgl. dazu auch Meron, Law-Making, S. 171. 149 150
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Nun deckt sich die Absicherung von Grundrechten im Rahmen der EMRK in weitem Umfang mit dem vom ICCPR gewährten Schutz – für Mitgliedstaaten beider Organisationen wird eine Doppelsicherung erreicht. Die potentiellen Überschneidungen mit der Tätigkeit der Vereinten Nationen werden bereits zu Beginn der Tätigkeit des Europarats, bei der ersten Sitzung des Ministerkomitees, erkannt. Der Antrag, die Sicherung der Menschenrechte auf die Tagesordnung zu nehmen, wird mit der Begründung abgelehnt, die Ergebnisse der Kodifizierung im Rahmen der Vereinten Nationen seien abzuwarten, da es sonst zu nicht erwünschten Widersprüchlichkeiten kommen könne155. Mögliche Überschneidungen werden auch zur Tätigkeit des IGH gesehen; so wird die Errichtung eines Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, der für Staaten- und Individualbeschwerden zuständig ist, als „schädlich und überflüssig“ angesehen, da in die Zuständigkeit des IGH eingegriffen und dessen Prestige beeinträchtigt werde156. Auch wird diskutiert, inwieweit die Vereinten Nationen ein Monopol beim Menschenrechtsschutz haben sollen157. Trotz dieser Bedenken entscheidet man sich aber für eine eigenständige europäische Lösung zum völkerrechtlichen Schutz der Menschenrechte, um den regionalen Acquis sichern zu können, da man beim Europarat als kulturell homogener Staatengemeinschaft davon ausgeht, dass im Vergleich zur universellen Ebene ein höherer Standard zu realisieren sei. Allerdings zeigt eine vom Europarat in Auftrag gegebene umfassende Analyse Ende der 60er Jahre158, dass das System der EMRK, selbst wenn man die Protokolle mit einbezieht, weniger umfassend ist als das System des ICCPR. Ersteres umfasst eine Reihe von Rechten nicht, die in das System der Vereinten Nationen mit einbezogen sind159. Auch im sozialen Bereich geht der Menschenrechtspakt partiell über die EMRK hinaus, da das Recht der Familie auf Schutz (Art. 23 Abs. 1 155 Vgl. zur Vorgeschichte der Ausarbeitung der EMRK Teitgen, European Convention on Human Rights, S. 3 ff. 156 Vgl. die Stellungnahme von Henri Rolin beim Consultative Assembly; vgl. dazu Teitgen, European Convention on Human Rights, S. 13. 157 Vgl. Teitgen, European Convention on Human Rights, S. 11. 158 Report of the Committee of Experts on Problems Arising from the Coexistence of the United Nations Covenants on Human Rights and the European Convention on Human Rights: Differences as Regards the Rights Guaranteed, Council of Europe Doc. H. (70) 7 (1970); vgl. auch die Drucksache des Deutschen Bundestages 7 / 660, 7. Wahlperiode. 159 Art. 1 ICPCR: Recht auf Selbstbestimmung und freie Verfügung über natürliche Reichtümer und Güter; Art. 10 ICPCR: Recht derer, denen die Freiheit entzogen worden ist, mit Menschlichkeit und Respekt für die menschliche Würde behandelt zu werden; Art. 16: Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden; Art. 20: Verbot der Kriegspropaganda und des Eintretens für nationalen, rassischen oder religiösen Hass; Art. 23 Abs. 1: Recht der Familie auf Schutz durch Gesellschaft und Staat; Art. 24: Recht jeden Kindes auf Schutzmaßnahmen, auf einen Namen und eine Staatsangehörigkeit; Art. 25 (a) und (c): Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen und zu öffentlichen Ämtern des Landes Zugang zu haben; Art. 26: Gleichheit vor dem Gesetz; Art. 27: Rechte ethnischer, sprachlicher und religiöser Minderheiten.
6 Nußberger
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ICCPR) und auch das Recht des Kindes auf Schutz (Art. 24 ICCPR) darin verankert sind. Zudem enthält der internationale Pakt in Art. 26 ICCPR ein allgemeines Diskriminierungsverbot, während die EMRK nur eine Ungleichbehandlung bei den in der EMRK garantierten Rechten verbietet. Mittlerweile ist allerdings das diesem Problem gewidmete 12. Zusatzprotokoll zur EMRK, das am 4. 11. 2000 zur Unterzeichnung ausgelegt worden ist, in Kraft getreten160. In dem zu dem Protokoll erstellten „Explanatory Report“ wird dieses Ungleichgewicht zwischen regionalem und universellem Menschenrechtsschutz gerade auch als Begründung für eine notwendige Erweiterung des auf regionaler Ebene garantierten Schutzes genannt161. Umgekehrt gibt es aber auch in der EMRK Rechte, die über die Rechtsgarantien auf internationaler Ebene im Einzelnen hinausweisen, so das Recht auf Achtung des Eigentums (Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls), das Recht auf Bildung (Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls) und das Verbot der Ausweisung Staatsangehöriger (Art. 3 des vierten Zusatzprotokolls)162. Eine Vielzahl von Rechten sind in beiden Abkommen gleichermaßen enthalten, wobei die Bestimmungen zum Teil im Wortlaut divergieren, zum Teil unterschiedliche Einschränkungsmöglichkeiten vorsehen163. Einen qualitativen Vorsprung hat das System der EMRK aber insofern, als es weit umfangreichere Kontrollmöglichkeiten – eine Gerichtsbarkeit im engeren Sinn mit endgültig bindenden Entscheidungen – zur Verfügung stellt164. Überschneidungen finden sich auch zwischen EMRK und ICESCR. Dies betrifft das Recht auf Bildung165, wobei die Akzentsetzung der beiden Übereinkommen unterschiedlich ist. Während auf universeller Ebene die fortschreitende Verwirklichung dieses Rechts durch den Staat eingefordert wird, wird auf regionaler Ebene 160 Voraussetzung für das Inkrafttreten sind zehn Ratifikationen; gegenwärtig (Stand August 2004) haben das Zusatzprotokoll sechs Staaten ratifiziert. 161 Vgl. http: // www.humanrights.coe.int / Prot12: „The general principle of equality and non-discrimination is a fundamental element of international human rights law. It has been recognised as such in Article 7 of the Universal Declaration of Human Rights, Article 26 of the International Covenant on Civil and Political Rights and in similar provisions in other international human rights instruments. The relevant provision in the European Convention of Human Rights (ECHR) in this respect is Article 14. However, the protection provided by Article 14 of the Convention with regard to equality and non-discrimination is limited in comparison with those provisions of other international instruments“. 162 Vgl. im Einzelnen Eissen, Problems of coexistence, S. 181 ff.; Robertson, The United Nations Covenant, S. 21 ff.; Dinstein, Quest for Concretization, S. 13 ff.; vgl. auch Report of the Committee of Experts on Problems Arising from the Coexistence of the United Nations Covenants on Human Rights and the European Convention on Human Rights: Differences as Regards the Rights Guaranteed, Council of Europe Doc. H. (70) 7 (1970). 163 Vgl. Eissen, Problems of Coexistence, S. 208 ff., der die Unterschiede im Einzelnen auflistet. 164 Vgl. Meron, Law-Making, S. 169; Eissen, Problems of Coexistence, S. 181 ff., S. 184; vgl. dazu Kapitel D.I.3. 165 Art. 13 Abs. 1 ICESCR bzw. Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK.
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das Bestehen eines allgemeinen Schulsystems vorausgesetzt und verboten, dem Einzelnen den Zugang zu diesem System zu verweigern. Allerdings entnimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Art. 2 des Protokolls zur EMRK im belgischen Sprachenstreitfall166 gleichermaßen den Auftrag an den Staat, ein umfassendes Schulsystem aufzubauen; durch die Interpretation im konkreten Fall wird so eine Konvergenz der im Wortlaut unterschiedlichen Vorschriften erreicht. Daneben wird auch die Freiheit der Eltern und des gesetzlichen Vormunds, die religiöse und sittliche Erziehung der Kinder in Übereinstimmung mit den eigenen Überzeugungen sicherzustellen, im ICESCR und im 1. Zusatzprotokoll zur EMRK aufgegriffen. Schließlich ergeben sich Überschneidungen bei der Gewerkschaftsfreiheit. Für Fragen des Sozialschutzes potentiell von Bedeutung sind das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK), die Garantie eines fairen Verfahrens zum Schutz ziviler Rechte (Art. 6 EMRK), die Garantie des Eigentumsrechts (Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls) und das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung (Art. 3 EMRK). Die „soziale Dimension“ dieser Rechte ist aber nicht aus dem Wortlaut zu erkennen und auch bei einer effektiven Auslegung nicht zwingend167. Dennoch hat die Rechtsprechung des EGMR hier besondere Bedeutungsebenen herauskristallisiert, die zu Überschneidungen zwischen den einzelnen Pakten führen168. bb) Die Europäische Sozialcharta mit Zusatzprotokollen169 Die sozialen Grundrechte werden in einem von der EMRK getrennten Abkommen niedergelegt: 1961, nach Vorarbeiten zwischen 1954 und 1961, an denen sich auch die IAO mit technischer Hilfe beteiligt, wird die Europäische Sozialcharta verabschiedet. In Teil 1 enthält sie „Jedermann-Rechte“ im sozialen Bereich, so: Art. 11: Jedermann hat das Recht, alle Maßnahmen in Anspruch zu nehmen, die es ihm ermöglichen, sich des besten Gesundheitszustandes zu erfreuen, den er erreichen kann. EMRK v. 23. 7. 1963, Serie A, Nr. 6 – Belgischer Sprachenfall, EuGRZ 1975, S. 298 ff. Im Sinne von Scott, Interdependence, S. 779 ff., handelt es sich also – mit Ausnahme des Rechts auf Leben – weder um eine logisch-semantische noch um eine effektive Überschneidung zwischen dem Recht auf soziale Sicherheit und soziale Fürsorge und diesen in der EMRK fixierten Rechten; vgl. dazu oben FN 90 168 Vgl. dazu ausführlich S. 351 ff. 169 Vgl. dazu Schambeck, Sozialcharta, Papadatos, European Social Charter, S. 214 ff.; Harris, European Social Charter, Öhlinger, Europäische Sozialcharta, S. 335 ff.; Bohling, Sozialcharta, S. 17 ff.; Neubeck, Europäische Sozialcharta, S. 63 ff.; speziell zur Bedeutung der sozialen Sicherheit in der ESC vgl. Harris, European Social Charta, S. 108 ff.; Villars, Social security standards, S. 343 ff.; Wiebringhaus, Sozialversicherung, S. 50 ff.; Schuler, Internationales Sozialrecht, S. 344 ff. 166 167
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards Art. 12: Alle Arbeitnehmer und ihre Angehörigen haben das Recht auf soziale Sicherheit. Art. 13: Jedermann hat das Recht auf Fürsorge, wenn er keine ausreichenden Mittel hat.
Diese Bestimmungen gelten aber nicht unmittelbar. Auch können sie von dem Kontrollausschuss, das die Einhaltung der Charta überwacht, nicht überprüft werden. Allerdings geben die Vertragsparteien an, dass sie gewillt sind, „. . . mit allen zweckdienlichen Mitteln staatlicher und zwischenstaatlicher Art eine Politik zu verfolgen, die darauf abzielt, geeignete Voraussetzungen zu schaffen, damit die tatsächliche Ausübung der . . . Rechte und Grundsätze gewährleistet ist“.
In Teil 2 der Sozialcharta sind dagegen Verpflichtungen enthalten, an die sich die Vertragsparteien gebunden erachten. In 19 Artikeln werden grundlegende soziale Rechte festgelegt. Das Recht auf soziale Sicherheit und auf soziale Fürsorge wird ausführlicher umschrieben als in den anderen vergleichbaren Übereinkommen. In Art. 12 Abs. 1 ESC wird verlangt, überhaupt ein System sozialer Sicherheit aufzubauen. Art. 12 Abs. 2 ESC ergänzt diese Bestimmung: mindestens müsse das System den Anforderungen entsprechen, die Staaten, die die Konvention Nr. 102 der IAO ratifizieren, einzuhalten haben. Der Verweis auf Konvention Nr. 102 der IAO war ursprünglich nur eine Ausweichlösung, da die Europäische Ordnung für soziale Sicherheit (EOSS)170 1961 noch nicht fertig gestellt war. Diese Vorschrift ist so eines der wenigen Beispiele, bei denen eine direkte Verbindung zwischen sozialrechtlichen Normen einer regionalen und einer universellen internationalen Organisation besteht171. In Art. 12 Abs. 3 ESC ist eine problematische „Fortschrittsklausel“ enthalten172, Art. 12 Abs. 4 regelt den Einschluss ausländischer Bürger in Systeme sozialer Sicherheit173. Art. 13 ESC, das Recht auf soziale und medizinische Fürsorge, ist als Unikat anzusprechen. Zwar normiert Art. 11 ICESCR das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard; der Aspekt der Fürsorge wird aber gerade nicht genannt174. In den European Code of Social Security vom 16. 4. 1964. Dies ist nicht unproblematisch, da bei der Kontrolle der Einhaltung der Normen der IAO Sachverständige aus Ländern mitwirken, die nicht Vertragsstaaten der ESC sind und auch nicht sein können. Werden die im Rahmen dieses Kontrollverfahrens gewonnenen interpretatorischen Ergebnisse als Grundlage für negative Stellungnahmen gegenüber Vertragsstaaten der ESC genommen, so entsteht ein Missverhältnis zwischen der Möglichkeit, auf das Kontrollverfahren Einfluss zu nehmen, und dem Faktum, der Kontrolle unterworfen zu sein. 172 Zur Interpretation vgl. S. 262 ff. (allgemeiner Kommentar), S. 316 ff. (konkrete Anwendungsbeispiele). 173 Vgl. S. 265 ff. (allgemeiner Kommentar), S. 321 ff. (konkrete Anwendungsbeispiele). 174 Vgl. in diesem Zusammenhang die bedeutsamen Unterschiede im Wortlaut von Art. 25 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und Art. 11 ICESCR: Art. 25 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spricht von dem „Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet“, Art. 11 ICESCR dagegen von dem „Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstan170 171
I. Garantie eines Bürgerrechts auf sozialen Schutz
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übrigen Pakten werden Fürsorgeleistungen immer nur im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsaspekt gesehen175. Der Sozialrechtsausschuss, der Sachverständigenausschuss zur ESC, sieht so denn auch in dieser Bestimmung eine hervorstechende Besonderheit der ESC im Vergleich zu den anderen Menschenrechtspakten: „The Committee is still of the opinion that this distinction concerning social and medical assistance is one of the essential characteristics of the Charter and makes Article 13 a particularly ambitious provision. Such a concept of assistance is moreover specific to European countries and does not exist in other areas of the world“176.
Allerdings ist die Grundkonzeption eines Rechts auf Fürsorge, eines Anspruchs bestimmter, unverschuldet notleidender Menschen auf materielle Hilfe sowie einer Pflicht zur Unterstützung sonstiger Bedürftiger, wie dargestellt, bereits in der Empfehlung über Einkommenssicherheit der IAO aus dem Jahr 1944 explizit enthalten177. Auch im Rahmen der ESC lässt sich eine Vielzahl von Überschneidungen nachweisen. Beispielsweise sind sowohl von Art. 12 ESC wie auch von Art. 16 ESC Familienleistungen erfasst; soweit sie bedürftigkeitsabhängig sind, ist zusätzlich auch noch Art. 13 ESC einschlägig178. Art. 7 ESC normiert das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz, Art. 17 ESC bezieht sich auf das „Recht der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz“. Die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses hat Überschneidungsprobleme zum Teil geklärt179. Es gibt aber auch eine Reihe von Fällen, in denen er die Normen so interpretiert hat, dass zusätzliche Überschneidungen entstanden sind180. dard für sich und seine Familie, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen“. 175 Vgl. die Bestimmungen im CEDAW, CERD, CRC. 176 Conclusions XIII-4, S. 54, 55. 177 Eine andere Frage ist, inwieweit ein derartiges Recht implizit etwa in dem „Recht auf Würde“ oder in dem „Recht auf Leben“ mit enthalten ist. 178 Diese Überschneidungen haben auch rechtliche Konsequenzen für die Feststellung der konkreten Verpflichtungen der Vertragsstaaten, die die Geltung einzelner Bestimmungen ausgeschlossen haben; vgl. dazu ausführlich S. 265 f. 179 So hat der Ausschuss etwa ausgeführt, Art. 17 ESC betreffe nur Kinder im Vorschulalter, Art. 7 ESC dagegen schulpflichtige Kinder; zur Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses ausführlich S. 267 f. 180 Ein Beispiel ist etwa die Diskriminierung von ausländischen Mitarbeitern bei gewerkschaftlicher Tätigkeit. Diese Frage ist explizit in Art. 19 Abs. 4 b ESC geregelt. Trotzdem hat sie der Sachverständigenausschuss auch bei Art. 5 ESC untersucht. Ein weiteres Beispiel ist das Recht auf Arbeit: Art. 1 ESC legt der Sachverständigenausschuss sehr weit aus und untersucht dabei auch umfassend, inwieweit besonders schützenswerte Gruppen von Arbeitnehmern – insbesondere Frauen, Behinderte, Jugendliche, Langzeitarbeitslose, Ausländer und ältere Arbeitnehmer – auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben. Aufgrund dieser Interpretation überschneidet sich aber Art. 1 ESC mit den spezielleren Schutzbestimmungen wie etwa Art. 15 ESC.
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
Aufgrund der engen Kooperation mit der IAO bei der Ausarbeitung der ESC ergeben sich aber auch eine Vielzahl von Überschneidungen mit Normen, die in den Konventionen der IAO enthalten sind. Deshalb gibt es Stimmen, die die Bedeutung der ESC darin sehen, in einem einzigen Dokument die in einer Vielzahl von Konventionen und Empfehlungen verstreut enthaltenen grundlegenden Prinzipien der IAO zusammenzufassen und eine Synthese für den europäischen Raum vorzustellen181. In Aufbau und Inhalt entspricht die ESC im Wesentlichen dem ICESCR182, weicht in den Einzelheiten allerdings doch deutlich ab; die von der ESC geforderten Standards sind regelmäßig höher183. Im Vergleich zum ICESCR haben in die ESC weniger Elemente von Freiheitsrechten Eingang gefunden184. Cohen-Jonathan, Pluralité, S. 639. In verschiedener Hinsicht geht die ESC allerdings über den ICESCR hinaus: ein Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste, ein Recht der Behinderten auf Ausbildung und Integration, ein Recht der Mütter und Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz, ein Recht auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Vertragsstaat und ein Recht der Wanderarbeitnehmer auf Schutz und Beistand ist darin nicht enthalten. Umgekehrt enthält die ESC kein Recht auf Teilnahme am Kulturleben. 183 Recht auf Arbeit: In der ESC wird in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der Einrichtung und Aufrechterhaltung unentgeltlicher Arbeitsvermittlungsdienste festgelegt; Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen: In der ESC wird eine fortschreitende Verkürzung der Arbeitszeit gefordert, im ICESCR dagegen nur eine angemessene Begrenzung der Arbeitszeit; die ESC legt 2 Wochen als Mindestmaß für den jährlichen Urlaub fest, im ICESCR findet sich dagegen keine Untergrenze; eine in der ESC enthaltene Forderung nach einer wöchentlichen Ruhezeit findet im ICESCR keine Entsprechung; Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen: Der ICESCR fordert nur sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, die ESC darüber hinaus eine Kompensation, falls sichere und gesunde Arbeitsbedingungen nicht gewährleistet werden können; zudem enthält die ESC die Pflicht, Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften zu erlassen, für Kontrollmaßnahmen zur Einhaltung dieser Vorschriften zu sorgen und die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter zu Beratungen über diese Thematik mit heranzuziehen; Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt: In der ESC sind zusätzlich zu den Vorgaben im ICESCR ein Recht auf Lohn für Überstunden, ein Recht auf eine angemessene Kündigungsfrist und eine Begrenzung der Zulässigkeit von Lohnabzügen enthalten; der ICESCR hält zusätzlich das Gebot der Gleichberechtigung im Hinblick auf Beförderungen fest; Vereinigungsfreiheit: Im ICESCR wird im Gegensatz zur ESC eine Einschränkungsmöglichkeit der Vereinigungsfreiheit nicht nur für Polizei und Militär, sondern auch für die öffentliche Verwaltung vorgesehen; ein Verweis auf den durch das IAO-Abkommen von 1948 garantierten Schutzstandard fehlt in der ESC; die ESC enthält dagegen ausführliche Regelungen zum Recht auf Kollektivverhandlungen; Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz: Eine Entsprechung zu Art. 7 ESC, der explizite Festlegungen zum Jugendarbeitsschutz mit Angabe von Altersgrenzen etc. enthält, findet sich im ICESCR nicht; hier werden lediglich allgemein der Schutz vor wirtschaftlicher und sozialer Ausbeutung und die Strafbarkeit von jugendgefährdender Arbeit genannt; Recht der Arbeitnehmerinnen auf Schutz: Eine Art. 8 ESC entsprechende Regelung fehlt im ICESCR; geregelt ist lediglich der bezahlte Mutterschutzurlaub; eine zeitliche Vorgabe wie in der ESC – 12 Wochen – fehlt aber ebenso wie sonstige Schutzregelungen im Hinblick auf Kündigungen während der Mutterschutzfrist, Stillzeit und Nacht- und Untertagearbeit; Recht auf Berufsberatung: Eine entsprechende Regelung fehlt im ICESCR; Recht auf berufliche Ausbildung: Während in der ESC ein Recht auf berufliche Ausbildung geregelt ist, enthält der ICESCR ein allgemeiner gefasstes Recht 181 182
I. Garantie eines Bürgerrechts auf sozialen Schutz
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Von besonderem Interesse sind hier die Unterschiede zwischen Art. 9 ICESCR und Art. 12 ESC, dem Recht auf soziale Sicherheit, und zwischen Art. 11 ICESCR und Art. 13 ESC, dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard bzw. dem Recht auf Fürsorge. Während Art. 9 ICESCR – unspezifiziert – das Recht auf soziale Sicherheit einschließlich der Sozialversicherung enthält, wird in Art. 12 ESC ausgeführt, was darunter im Einzelnen zu verstehen ist. Einerseits geht es darum, ein Sozialschutzsystem einzuführen oder beizubehalten, das zumindest dem von der IAO-Konvention Nr. 102 vorgesehenen Standard entspricht, das aber fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen ist. Zudem wird für erforderlich gehalten, Grundforderungen im Bereich des konkurrierenden Sozialrechts einzulösen. Das bedeutet, die Gleichbehandlung von Staatsangehörigen von anderen Vertragsstaaten unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsort zu sichern und erworbene Ansprüche durch Zusammenrechnung von Versicherungs- und Beschäftigungszeiten zu wahren. Während sich hier eine allgemeine und eine differenzierte Formulierung gegenüberstehen, konzeptuelle Unterschiede aber nicht auszumachen sind, unterscheiden sich Art. 11 ICESCR und Art. 13 ESC grundlegend. Im ersten Fall geht es um das Recht eines jeden Menschen auf Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse, damit auch um gesamtwirtschaftliche Programme, die dieses Ziel zu verwirklichen helfen. Die Regelung in der ESC dagegen befasst sich mit dem sozialen und auch politischen Schutz speziell der Bedürftigen und damit mit der konkreten Ausgestaltung eines Auffangnetzes, das Not auch dann verhindert, wenn keine Vorsorgesysteme eingreifen185. Die ESC erfährt in der Folge, wie auch die EMRK, inhaltliche Ergänzungen durch verschiedene Protokolle. Materiell-rechtlich von Bedeutung ist das Protokoll von 1988, das vier weitere soziale Gewährleistungen enthält186. Dies ist für die auf Bildung; Recht auf Schutz der Gesundheit: Hier werden im ICESCR als Spezialmaßnahmen die Senkung der Zahl der Totgeburten und der Kindersterblichkeit sowie allgemein die Verbesserung der Umwelt und Arbeitshygiene genannt; außerdem enthält der ICESCR im Gegensatz zur ESC die sich mit dem Recht auf soziale Sicherheit überschneidende Bestimmung, medizinische Einrichtungen und Gesundheitsversorgung sicherzustellen; Recht auf Schutz der Familie: Hier werden in der ESC im Gegensatz zum ICESCR eine Vielzahl von Beispielen von Sozialleistungen für Familien genannt; der ICESCR betont dagegen das Freiheitsrecht der einverständlichen Eheschließung. 184 Beispielsweise fehlen die Erziehungsfreiheit der Eltern und die Eheschließungsfreiheit; als spezielles Gleichheitsrecht fehlt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen bei der Beförderung. Allerdings ist in der ESC in das Recht auf Fürsorge auch die traditionsreiche Bestimmung integriert, jemand, der Fürsorge in Anspruch nehme, dürfe in seinen politischen und sozialen Rechten nicht beeinträchtigt werden. 185 Zur Auslegung und Konkretisierung dieser Rechte durch die Spruchpraxis der Kontrollkomitees vgl. S. 265 f. (allgemeiner Kommentar), S. 323 ff. (Anwendungsbeispiele). 186 Recht auf gleiche Möglichkeiten und gleiche Behandlung im Bezug auf den Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, Recht auf Information und Beratung, Recht, an der Bestimmung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsumfelds teilzunehmen, Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz.
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
Entwicklung internationaler Standards insofern ein wichtiger Schritt, als darin erstmals das Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz kodifiziert wird – ein Fortschritt im Vergleich zu den unverbindlichen Dokumenten der Vereinten Nationen. Wie beim Behindertenschutz wird der Aspekt der materiellen Absicherung mit dem Aspekt der Inklusion verbunden. Nicht die Technik der sozialrechtlichen Absicherung im Alter, wohl aber das zu erreichende Ergebnis wird normiert: alte Menschen sollen über angemessene Mittel verfügen, um ein normales Leben führen und aktiv am gesellschaftlichen Geschehen teilnehmen zu können. cc) Die revidierte Fassung der Europäischen Sozialcharta187 1996 wird eine revidierte Fassung der ESC zur Ratifikation aufgelegt; seit 1999 ist sie in Kraft. Nach der Präambel ist Ziel dieser Revision, den fundamentalen sozialen Veränderungen, die seit den 60er Jahren stattgefunden haben, Rechnung zu tragen. Die Änderungen und Ergänzungen in der RESC zeigen verschiedene sozialpolitische Entwicklungslinien auf: die Umorientierung vom allgemeinen Schutz berufstätiger Frauen zum zielgerichteten Schutz von Schwangerschaft und Mutterschaft, die Akzentsetzung auf die Verwirklichung gesunder Arbeitsbedingungen an Stelle der Gewähr von Kompensationsleistungen für ungesunde Arbeitsbedingungen, die Zusicherung eines – zumindest teilweisen – Rechts des Arbeitnehmers auf Information, die umfassende Berücksichtigung der Interessen besonders schutzwürdiger Gruppen der Bevölkerung wie der Kinder, der alten Leute und der Behinderten. Der dominant auf Arbeitnehmerrechte bezogene Ansatz der ESC von 1961 wird nicht aufgegeben, aber auch die aus der Arbeitnehmergesellschaft Ausgeschlossenen finden stärkere Berücksichtigung. Mit in die RESC aufgenommen werden die bereits in dem Protokoll von 1988 enthaltenen Rechte sowie eine Reihe weiterer Rechte, die mit wenigen Ausnahmen bereits in anderen völkerrechtlichen Abkommen bzw. Rechtsakten der EG enthalten sind. Zwischen RESC und IAO-Konventionen gibt es eine Vielzahl von inhaltlichen Überschneidungen188: 187 Vgl. dazu Lörcher, Revidierte Europäische Sozialcharta, S. 48 ff.; Birk, Arbeitsrechtliche Neuerungen, S. 137 ff.; Birk, Europäische Sozialcharta, S. 27 ff.; Hohnerlein, Internationaler Schutz, S. 17 ff.; Neubeck, Europäische Sozialcharta, S. 79 ff.; Dötsch, Europäische Sozialcharta, S. 27 ff. 188 Vgl. im Übrigen auch folgende Doppelungen: Recht auf Schutz bei Kündigung: IAOÜbereinkommen Nr. 158, Recht auf Schutz der Arbeitnehmerforderungen bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers: IAO-Übereinkommen Nr. 173, Richtlinie 80 / 987 / EWG, Recht auf Würde bei der Arbeit: Empfehlung der Kommission 92 / 131 / EWG, Recht von Arbeitnehmern mit Familienverpflichtungen auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung: IAO-Übereinkommen Nr. 156, Recht der Arbeitnehmervertreter auf Schutz im Betrieb und Erleichterungen, die ihnen zu gewähren sind: IAO-Übereinkommen Nr. 135, Recht auf Unterrichtung und Anhörung in den Verfahren bei Massenentlassungen: IAO-Übereinkommen Nr. 158,
I. Garantie eines Bürgerrechts auf sozialen Schutz Normierungen in der RESC Art. 1: Recht auf Arbeit189
Einzelaspekte
Ziel der Vollbeschäftigung Verbot der Zwangsarbeit190 Kostenlose Arbeitsvermittlung Berufliche Bildung, Weiterbildung, Rehabilitation191
Art. 7: Recht der Kinder und jungen Menschen auf Schutz Art. 8: Recht der berufstätigen Frauen auf Mutterschutz
Art. 15: Recht der Behinderten auf Unabhängigkeit, soziale Integration und Teilnahme in der Gesellschaft
IAO-Konventionen Konvention, Nr. 122, 168 Konvention Nr. 29, 105 Konvention Nr. 34, 88, 96, 181 Konvention Nr. 142 Konvention Nr. 5, 6, 10, 33, 59, 60, 79, 90, 123, 138
Mutterschutz (Freistellung von der Arbeit, Sozialleistungen, Kündigungsschutz, Stillzeit) Nachtarbeit Arbeit unter Tage
Art. 12: Recht auf soziale Sicherheit
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Sozialschutzsystem mit ausreichenden Garantien Gleichbehandlung der Staatsangehörigen aus anderen Vertragsstaaten
Konvention Nr. 3, 103, 183
Konvention Nr. 4, 41, 89 (+ Prot.), 171 Konvention Nr. 45 Konvention Nr. 102, 121, 128, 130 Konvention Nr. 48, 157
Konvention Nr. 159
RL 75 / 129 / EWG und 92 / 56 / EWG; vgl. dazu auch Lörcher, Revidierte Europäische Sozialcharta, S. 121 ff. 189 Zusätzliche Überschneidungen ergeben sich mit Konvention Nr. 111 der IAO aufgrund der konkreten Auslegung dieser Bestimmung durch den Sachverständigenausschuss, daer insbesondere auch den Aspekt überprüft, inwieweit besonders schützenswerte Gruppen Arbeit finden, und damit die Frage der Diskriminierung von älteren Arbeitnehmern, Frauen, Jugendlichen, Behinderten und Ausländern aufgreift. 190 Hier ergeben sich nach der Auslegung des Sachverständigenausschusses auch Überschneidungen zwischen dem Verbot der Zwangsarbeit und dem Recht auf Streik. Wird ein Streik unrechtmäßig verboten, so stellt dies zugleich einen Verstoß gegen Art. 1 und Art. 6 RESC dar; damit ergeben sich auch Überschneidungen zu den Konventionen Nr. 87 und 98 IAO. 191 Da der Sachverständigenausschuss auch hier speziell die Frage, inwieweit Diskriminierungen im Hinblick auf Berufsbildungsmaßnahmen bestehen, überprüft, ergeben sich auch hier Überschneidungen zu Konvention Nr. 111.
90
A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards Normierungen in der RESC
Einzelaspekte
IAO-Konventionen
Art. 16: Recht der Familie auf sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Schutz
Konvention Nr. 156
Art. 19: Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Hilfe
Konvention Nr. 97, 143
Art. 12 ESC wird nur in einem Punkt verändert: Der Bezug zur Konvention Nr. 102 der IAO wird durch den Verweis auf die Europäische Ordnung für soziale Sicherheit ersetzt. Damit wird das ursprünglich aufgrund der verspäteten Ausarbeitung der Europäischen Ordnung für soziale Sicherheit notwendige Provisorium beseitigt. Inhaltlich ist der Unterschied insofern relevant, als für die Ratifikation der EOSS die Vorschriften in sechs, für die Ratifikation der Konvention Nr. 102 der IAO dagegen nur in drei Teilbereichen anerkannt werden müssen. Eine „Modernisierung“ der RESC im Vergleich zur ESC erfolgt nicht. Weder wird die Fortschrittsklausel des Art. 12 Abs. 3 ESC, die Birk einerseits als „Sozialromantik“, andererseits als „apolitisch“ und „nur aus der Zeit ihrer Entstehung nachvollziehbar“ bezeichnet192, geändert, noch werden die auch im Übrigen vieldeutigen und vagen Formulierungen konkretisiert. Die neu aufgenommenen Rechte präzisieren und erweitern die staatlichen Leistungspflichten. Ergänzt wird insbesondere ein Recht auf Wohnraum (Art. 31), das über die in Art. 13 enthaltenen sozialen Unterstützungsleistungen hinausgeht, da es eine Pflicht zur Verschaffung von adäquatem Wohnraum statuiert und Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit sowie die Bereitstellung von kostengünstigem Wohnraum fordert. Allerdings lässt sich die in Art. 13 enthaltene Pflicht, „ausreichende Unterstützung“ zu gewähren, auch als Allgemeinklausel interpretieren, die diese Einzelleistungen mit umfasst; insofern ist eine Grenzziehung zwischen den beiden Gewährleistungen nicht eindeutig. Dies gilt in gleicher Weise für die Zusicherung von Hilfsleistungen für alte Menschen (Art. 23), da diese auch allgemein unter „Bedürftige“ zu subsumieren sind. Neu ist die Schwerpunktsetzung nicht nur auf Hilfe, sondern auch auf Teilhabe. In diesem Sinn wird auch Artikel 30 RESC, das Recht auf Schutz gegen Armut und sozialen Ausschluss, als Antwort auf ein rechtliches Vakuum193 verstanden; 192 193
Birk, Europäische Sozialcharta, S. 35. Benisichi, Reforms of the Charter, S. 43.
I. Garantie eines Bürgerrechts auf sozialen Schutz
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zwar ist die Unterstützung bei Bedürftigkeit in Art. 13 ESC noch in Art. 11 ICESCR bereits normiert; der Aspekt der Inklusion ist aber in diesen Rechtsvorschriften nicht enthalten. Für die hier untersuchte Thematik sind die in der RESC neu enthaltenen Rechtsgarantien von besonderer Bedeutung, stellen sie sich doch als Kristallisationspunkte des europäischen sozialen Acquis dar. Zu betonen ist auch, dass sich in der RESC – im Gegensatz zur ESC – ein allgemeines Diskriminierungsverbot findet194. Die Entwicklung von den 60er (ESC / ICESCR) zu den 90er Jahren (RESC) zeigt, dass der Umfang der als Grundrechte geschützten Rechte sich erweitert. Der Schwerpunkt liegt auf arbeitsrechtlichen Regelungen, da in weitem Umfang Bestimmungen zu der Frage, inwieweit der Staat in arbeitsrechtliche Beziehungen zum Schutz der Schwächeren eingreifen soll, aufgenommen werden. Aber auch die sozialrechtlichen Regelungen werden erweitert und im Hinblick auf bestimmte Personengruppen und bestimmte Leistungen differenziert.
dd) Rechtsentwicklung de lege ferenda Sieht man das System des Grundrechtsschutzes des Europarats in seiner Gesamtheit, so ist es im Hinblick auf den Schutz von Rechtspositionen im sozialen Bereich vor allem deshalb unausgewogen, weil dort die effektiven Kontrollmöglichkeiten, die dem EGMR bei der EMRK zustehen, nicht greifen. Die Rechtsprechung des EGMR schafft hier punktuell Abhilfe, indem sie Diskriminierungen bei der Gewährung sozialer Rechte dann in den Schutzbereich der EMRK mit einbezieht, wenn diese Rechte zugleich auch unter Art. 6, 8 EMRK oder Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls fallen195. Die Möglichkeit, Rechtspositionen, die soziale Rechte betreffen, auf der Grundlage der EMRK vor dem EGMR geltend zu machen, ist dennoch gegenwärtig als Ausnahme und nicht als Regel anzusehen, da das Diskriminierungsverbot, wie sich aus dem Wortlaut eindeutig ergibt, auf die in der EMRK selbst enthaltenen Rechte beschränkt ist. Das bedeutet, dass nur die Diskriminierung bei denjenigen sozialen Rechtspositionen, die unter die EMRK fallen, geprüft werden kann196. De lege ferenda ist hier in der Zukunft eine wichtige Änderung zu erwarten. Zwar ist das 12. Zusatzprotokoll, das am 4. 11. 2000 in Rom zur Unterzeichnung aufgelegt 194 Vgl. Art. E; zu beachten ist aber auch hier die im Anhang enthaltene Bestimmung zum personellen Geltungsumfang der genannten Rechte, nach der ausländische Staatsangehörige nur so weit eingeschlossen werden, als sie legal im Land wohnen oder regelmäßig arbeiten, wobei davon die Auslegung von Art. 12 Abs. 4 und 13 Abs. 4 nicht berührt werden soll. Zudem wird im Anhang explizit normiert, eine unterschiedliche Behandlung, die auf objektive und vernünftige Gründe gestützt werde, sei nicht als diskriminierend anzusehen. 195 Vgl. dazu ausführlich S. 351 ff. 196 Zu dieser Problematik vgl. auch Trechsel, Überlegungen, S. 125 ff.
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
wurde, bereits in Kraft getreten197, allerdings nur für wenige Vertragsstaaten. Ratifiziert es die Mehrzahl der großen europäischen Staaten, so ist ein starker Impuls für die Weiterentwicklung des case law des EGMR im Bereich der Diskriminierungsverbote zu erwarten198. Diskriminierungen bei sozialrechtlichen Ansprüchen könnten dann ohne weitere Voraussetzungen geltend gemacht werden, wobei allerdings die Entstehung neuer Ungleichheiten zu befürchten wäre, da das Protokoll an die in den Mitgliedstaaten bereits garantierten Rechte („set forth by law“) anknüpft und hier einen Ausgleichsmechanismus bietet, unterschiedliche soziale Standards zwischen den Mitgliedstaaten aber nicht erfasst. Dass das Protokoll dennoch sozialpolitische Sprengkraft haben kann, ist aber nicht zu leugnen. Betrachtet man die Rechtsentwicklung im nationalen Bereich, so wird evident, dass gerade der Gleichheitssatz eine Einfallstür für die richterrechtliche Determinierung der Entwicklung des Sozialsystems ist199. Die Überschneidungen und Verdoppelungen zeigen, dass eine schematische Abgrenzung zwischen politischen und sozialen Grundrechten, wie sie den Menschenrechtskonventionen auf universeller und regionaler Ebene unterlegt wird, nicht funktionieren kann200. Verschiedene Aspekte des Rechts auf sozialen Schutz werden im Rahmen der EMRK, verschiedene Aspekte im Rahmen der ESC geltend gemacht. De lege lata ist das Recht auf sozialen Schutz so teilweise als individuelle Rechtsposition auf internationaler Ebene in einem Gerichtsverfahren durchsetzbar, teilweise kann es dagegen nur in einem allgemeinen Berichtsverfahren zur Das Zusatzprotokoll ist am 1. 4. 2005 in Kraft getreten. Vgl. den Wortlaut von Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls: „The enjoyment of any right set forth by law shall be secured without discrimination on any ground such as sex, race, colour, language, religion, political or other opinion, national or social origin, association with a national minority, property, birth or other status“. 199 Beispielsweise stützen sich im deutschen Recht verfassungsrechtliche Entscheidungen zu sozialrechtlichen Rechtspositionen wesentlich auf Art. 3 Abs. 1 GG; vgl. z. B. BVerfG E 39, 169 (Gewähr von Hinterbliebenenrenten auch an Witwer ohne Prüfung der Frage, ob die Frau überwiegend am Erwerbseinkommen beteiligt war); BVerfG E 74, 163 (Rechtfertigung eines niedrigeren Rentenalters von Frauen im Vergleich zu Männern); BVerfG E 87, 1 und 94, 241 (Berücksichtigung der Kindererziehung bei der Rente), BVerfG E 96, 288 (Gleichstellung Behinderter), BVerfG E 97, 103 (Berücksichtigung der Kindererziehung bei der Sozialhilfe); vgl. dazu Schulin / Igl, Sozialrecht, Rdnr. 31 ff.; Papier, Einfluss des Verfassungsrechts, S. 81 ff. 200 Vgl. dazu auch die fast schon als „klassisch“ zu bezeichnende Darlegung des EGMR im Fall Airey v. Irland (1979), Serie A, Nr. 32: „The Court is aware that the further realisation of social and economic rights is largely dependent on the situation – notably financial – reigning in the State in question. On the other hand, the convention must be interpreted in the light of present-day conditions . . . and it is designed to safeguard the individual in a real and practical way as regards those areas with which it deals . . . Whilst the Convention sets forth what are essentially civil and political rights, many of them have implications of a social or economic nature. The Court therefore considers, like the Commission, that the mere fact that an interpretation of the Convention may extend into the sphere of social and economic rights should not be a decisive factor against such an interpretation; there is no water-tight division separating that sphere from the field covered by the Convention.“ 197 198
I. Garantie eines Bürgerrechts auf sozialen Schutz
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Sprache gebracht werden. Der dem Einzelnen gewährte Schutz ist unterschiedlich effektiv. Aufgrund dessen hat die Parlamentarische Versammlung in ihrer Empfehlung Nr. 1415 „Additional protocol to the European Convention on Human Rights concerning fundamental social rights“ aus dem Jahr 1999201 die Ausarbeitung eines Zusatzprotokolls zur EMRK gefordert: „A protocol to the European Convention on Human Rights would make it possible to remedy deficiencies and would constitute an instrument for strengthening social cohesion, in particular with a view to putting an end to inequalities and safeguarding the interest of the most vulnerable sectors of society. The elaboration of such a protocol is, for the Council of Europe, the challenge of the next millennium“.
Der Vorschlag geht dahin, aus den in den Verfassungen der Mitgliedstaaten sowie in der ESC und RESC enthaltenen sozialen Rechten diejenigen auszusuchen, die unmittelbar durchsetzbar sind und damit in gleicher Weise wie die in der EMRK garantierten Rechte geschützt werden können. Der Empfehlung selbst ist eine Liste der Rechte, die vorrangig zu berücksichtigen sind, angefügt. Darunter findet sich auch das Recht auf soziale und medizinische Fürsorge, das Recht auf eine regelmäßige Bezahlung von Löhnen, Renten und sonstigen Sozialleistungen (social allowances), das Recht selbständig oder abhängig beschäftigter Frauen auf Schutz bei Mutterschaft und Schwangerschaft sowie das Recht auf Integration Behinderter in die Arbeitswelt. Der Sachverständigenausschuss zur ESC steht allerdings einer derartigen Weiterentwicklung des normativen Schutzes skeptisch gegenüber. Insbesondere wendet er sich dagegen, die Lücken in der Sozialcharta durch Aufnahme der Rechte in die EMRK zu füllen. Als vorrangiges Ziel sieht er die Verwirklichung der Reformen der ESC an202. Diese Entwicklungen de lege ferenda zeigen, dass weder die Kodifizierung der materiell-rechtlichen Garantie noch der Prozess der Verankerung eines effektiven Rechtsschutzes des Rechts auf sozialen Schutz im Rahmen des Europarats abgeschlossen ist. Nötig erscheint aber eine intensive Abstimmung zwischen den einzelnen Verfahren sowie eine Abgleichung der materiellen Rechtsgarantien, um unnötige Verdoppelungen, vor allem aber konzeptionelle Widersprüche und Normkonflikte, zu vermeiden203.
Vgl. dazu auch Neubeck, Europäische Sozialcharta, S. 127. Vgl. European Committee of Social Rights. Conclusions XV-1 / 1, S. 24. 203 Vgl. dazu Kapitel D; im Ansatz wird diese Problematik auch in der genannten Empfehlung erkannt. Um nicht auch die sozialen Rechte, die bereits von der EMRK erfasst werden, noch zusätzlich in das geplante Protokoll aufzunehmen, wird dem Ministerkomitee empfohlen, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu befragen, um festzustellen, welche sozialen Rechte im Lichte des case law bereits als von der EMRK garantiert angesehen werden können; vgl. dazu auch die Analyse von Schmidt, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 33 ff. 201 202
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c) Entwicklung des Rechts auf sozialen Schutz im Rahmen der IAO Die Themen, die die IAO in der Zeit nach dem Krieg in ihren normativen Akten aufgreift, zeigen, dass der Menschenrechtsschutz zum zentralen Anliegen wird204. Eine Reihe von Konventionen, wie die Konvention zur Vereinigungsfreiheit 205, zum Diskriminierungsverbot206 und zum Verbot der Zwangsarbeit207 kodifizieren Rechte, die gleichermaßen von den Menschenrechtskonventionen erfasst werden208; die Regelungsansätze von Vereinten Nationen und IAO werden dabei institutionell aufeinander abgestimmt209. Dem sozialen Schutz werden Konvention Nr. 102, die neun soziale Risiken umfassend regelt210, sowie Konvention Nr. 103 zum Mutterschutz211 gewidmet. In den 60er Jahren folgen weitere Konventionen, die den Ansatz der Konvention Nr. 102 weiterführen212. Allerdings lösen diese Konventionen die von der Menschenrechtsidee inspirierten Postulate, wie sie in der Zwischenkriegszeit in der Deklaration von Philadelphia und in den beiden sozialrechtlichen Empfehlungen von 1944 formuliert worden waren, nicht ein. Der Ansatz, jeder Mensch müsse in Notfällen durch die Ge204 Vgl. auch Stellungnahmen der Repräsentanten der IAO wie etwa die Reden von Wilfred Jenks, The ILO Approach to Human Rights (1968), Human Rights and the Good Life for all Mankind (1968), Racial Equality (1969), abgedruckt in Jenks, Social Policy, S. 11 ff. 205 Vereinigungsfreiheit: Konventionen Nr. 87 Freedom of Association and Protection of the Right to Organise Convention (1948) und Konvention Nr. 98 Right to Organise and Collective Bargaining Convention (1949). 206 Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit: Konvention Nr. 100 Equal Remuneration Convention (1951), Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf: Konvention Nr. 111 Discrimination (Employment and Occupation) Convention (1958). 207 Abschaffung der Zwangsarbeit: Konvention Nr. 105 Abolition of Forced Labour Convention (1957). 208 Vgl. Comparative Analysis of the International Covenants on Human Rights and International Labour Conventions and Recommendations, 52 ILO OB 181 (1969). 209 Vgl. zum Einfluss des Wirtschafts- und Sozialrats der VN auf die Entstehungsgeschichte der Konventionen der IAO zur Vereinigungsfreiheit und zum Verbot der Zwangsarbeit Wolf, Interdépendance, S. 151 ff. 210 Vgl. Konvention Nr. 102 Social Security (Minimum Standards) Convention (1952). 211 Konvention Nr. 103 Maternity Protection Convention (Revised) (1952). 212 Konvention Nr. 121 Employment Injury Benefits Convention (1964), Konvention Nr. 128 Invalidity, Old-Age and Survivors’ Benfits Convention (1967), Konvention Nr. 130 Medical Care and Sickness Benefits Convention (1969); vgl. dazu ausführlich Kapitel A.II.5.b)bb). Zur Systematisierung unterscheidet Greber (Principes fondamentaux, S. 76 ff.) in diesem Zusammenhang eine „analytische Konzeption“ von einer „funktionellen Konzeption“: im ersteren Fall wird versucht, die einzelnen Sozialversicherungszweige, so wie sie sich historisch entwickelt haben, in einem kohärenten System zusammenzufassen; im letzteren Fall werden bestimmte Grundfunktionen sozialer Sicherung herausgegriffen und abgelöst vom Schutz der einzelnen Risiken zu verwirklichen gesucht. Als Grundfunktionen definiert Greber (S. 112): „la garantie des soins médicaux et la protection de la santé, la garantie d’un revenu social de compensation, la garantie d’un revenu social de substitution, la protection contre le chômage et l’aide à la formation“.
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meinschaft gesichert sein, wird nicht verfolgt; vielmehr geht es um die in der Tradition der Arbeiterschutzgesetzgebung stehende Sicherung der abhängigen Arbeitnehmer213. Nicht der Schutz jedes Einzelnen ist intendiert, sondern der Schutz eines Teils der Bevölkerung214; im Visier ist das Sozialschutzsystem als solches, nicht das Individuum. Insbesondere Selbständige werden ausgegrenzt. Diese Diskrepanz hat die IAO selbst in einer Analyse aus dem Jahr 2001 moniert: „In principle everyone has the right to be covered by a social security scheme, and international standards should reflect this right and facilitate its exercise. As noted earlier, however, most ILO social security standards focus on wage earners in the formal sector and do not readily fit the needs and circumstances of the self-employed and those who work on an irregular or flexible basis outside a conventional employer / employee relationship“215.
Dass die IAO hier hinter ihren eigenen Forderungen zurückbleibt, hängt auch mit den besonderen institutionellen Strukturen zusammen. Die IAO hat aufgrund ihrer triparitären Struktur, d. h. des Zusammenwirkens von Vertretern der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der Regierungen216, kein Mandat, gesamtgesellschaftlich relevante Fragen wie den sozialen Schutz Selbständiger oder auch die Fürsorgeleistungen für Bedürftige aufzugreifen. Soweit sie – wie 1944 – dazu in unverbindlichen Empfehlungen Stellung nahm, wurde dies nicht moniert; bei der Ausarbeitung der Konvention Nr. 102 war der Umfang der Sicherung ratione personae Anlass kontroverser Auseinandersetzungen. Allerdings hätten dann konsequenterweise auch Familienleistungen aus dem Spektrum sozialrechtlicher Regelungen ausgegrenzt werden müssen, was nicht geschehen ist. Die Tatsache, dass dem Recht auf sozialen Schutz im Rahmen der IAO keine grundrechtliche Qualität zuerkannt wird, manifestiert sich aber auch in der einstimmig angenommenen217 Deklaration der Internationalen Arbeitskonferenz „Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work“ aus dem Jahr 1998218. Darin wird nur die Vereinigungsfreiheit, das Verbot der Zwangsarbeit, das Diskriminierungsverbot und das Verbot der Kinderarbeit als „fundamental“ erachtet219, nicht aber das Recht auf sozialen Schutz. Die Unterscheidung zwischen fundamentalen und nicht-fundamentalen Konventionen hat rechtliche Konsequenzen. Bei fundamentalen Konventionen wird die Verpflichtung der Staaten, die festVgl. dazu Kapitel A.II. Greber (Principes fondamentaux, S. 76 ff.) differenziert in diesem Zusammenhang zwischen dem Ansatz der „universalisation“ und der „généralisation“; im ersteren Fall wird die Gesamtbevölkerung geschützt, im letzteren Fall werden dagegen diejenigen, die einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachgehen. 215 ILO, Social Security, S. 72. 216 Vgl. dazu Valticos, Droit international du travail, S. 194 ff.; Valticos / Podobsky, International Labour Law, S. 34 ff. 217 273 Jastimmen, 43 Enthaltungen, keine Neinstimme. 218 Vgl. dazu Bellace, Declaration, S. 269 ff.; Treblicock, Declaration, S. 15 ff. 219 Vgl. Konventionen Nr. 29, 87, 98, 100, 105, 111, 138, 182. 213 214
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gelegten Normierungen einzuhalten, allein aus der Mitgliedschaft in der IAO gefolgert; zur Durchsetzung der entsprechenden Normen wird ein Follow-up-Verfahren eingesetzt220. Damit wird eine weitere Absicherung für Grundrechte geschaffen wird, zu deren Schutz auf internationaler Ebene bereits eine Reihe von effektiven Verfahren zur Verfügung stehen221. Erreicht werden soll, dass auch diejenigen Staaten, die die grundrechtsrelevanten Konventionen noch nicht ratifiziert haben, diese Standards ratifizieren222. Zu diesem Zweck steht aber bereits das Verfahren nach Art. 19 Abs. 5 e der Verfassung der IAO zur Verfügung, da auch danach über den Fortschritt der Gesetzgebung im Hinblick auf nicht-ratifizierte Konventionen Bericht zu erstatten ist. Eine darüber hinausgehende automatische Bindung an mit einer bestimmten Mehrheit zustande gekommene Standards der IAO würde der Grundkonzeption der Konventionen widersprechen – bei der Gründung wurden derartige Vorschläge gerade nicht durchgesetzt223. – Für die hier behandelte Thematik des grundrechtlich abgesicherten Sozialschutzes impliziert die Deklaration eine Abwertung, da das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf soziale Fürsorge und auch das Recht auf Gesundheit aus dem Kernbereich von grundrechtlich relevanten Standards ausgeschlossen werden224. Dem versucht die im Jahr 2001 von der Internationalen Arbeitskonferenz verabschiedete Resolution225, in der die wesentlichen Positionen in „Conclusions concerning social security“ zusammengefasst werden, entgegenzusteuern. Explizit wird an die Erkenntnisse des Jahres 1944 angeknüpft und festgehalten, dass soziale Sicherheit ein grundlegendes Menschenrecht ist. Die Resolution definiert ein weltweit geltendes Programm für die Weiterentwicklung von sozialer Sicherheit. Festlegungen auf bestimmte Formen der sozialen Absicherung werden vermieden. 220 „The International Labour Conference . . . declares that all Members, even if they have not ratified the Conventions in question, have an obligation arising from the very fact of membership in the Organization, to respect, to promote and to realize, in good faith and in accordance with the Constitution, the principles concerning the fundamental rights which are subject to those Conventions, . . .“. 221 Vgl. dazu Kapitel C.II. 222 Vgl. zu den Zielen der Kontrolle den Annex zu der Deklaration: „The aim of the follow-up described below is to encourage the efforts made by Members of the Organization to promote the fundamental principles and rights enshrined in the Constitution of the ILO and the Declaration of Philadelphia and reaffirmed in this Declaration“. 223 Vgl. dazu S. 190 f. 224 Auch für die konkrete Durchsetzung arbeitsrechtlicher Standards kommt der Deklaration nicht nur politische, sondern auch rechtliche Bedeutung zu, da die EU mit der Verordnung Nr. 2501 / 2001 des Rates vom 10. 12. 2001 ihr allgemeines Präferenzsystem mit Sonderregelungen zum Schutz der Arbeitnehmerrechte an das System der IAO angebunden und dabei auf die Deklaration Bezug genommen hat; vgl. dazu Ölz, Kernarbeitsnormen, S. 319 ff. 225 Resolution Concerning Social Security, angenommen auf der 89. Internationalen Arbeitskonferenz im Jahr 2001 (ILC 89-PR16-312-En.Doc.); abgedruckt in ILO, A new consensus, S. 1 ff.
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Allerdings wird verlangt, dass das jeweilige Sicherungssystem bestimmten Grundprinzipien entspricht. Es muss sicher und darf nicht diskriminierend sein, muss transparent und vernünftig verwaltet werden und die Sozialpartner intensiv beteiligen. – Im Gegensatz zu der genannten Grundsatzdeklaration enthält dieses völkerrechtlich unverbindliche Dokument aber keinen Rechtsmechanismus, mit dem eine Umsetzung der normativen Festlegungen forciert werden könnte. d) Das Recht auf sozialen Schutz in den Rechtsakten sonstiger internationaler Organisationen aa) Das Recht auf sozialen Schutz im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft / Europäischen Gemeinschaft / Europäischen Union226 Die Europäische Gemeinschaft, die ursprünglich als reine Wirtschaftsgemeinschaft initiiert worden war, hat die Sicherung sozialer Grundrechtspositionen über Jahrzehnte als nicht in ihren Kompetenzbereich fallenden Regelungsgegenstand erachtet. Zwar waren grundrechtliche Elemente – insbesondere das Prinzip des gleichen Entgelts für Männer und Frauen – im Primärrecht227 enthalten und wurden in der Rechtsprechung des EuGH intensiv ausdifferenziert und auch auf systematische, in der Regel mittelbare Diskriminierungen im Rahmen sozialer Sicherungssysteme bezogen228. Dennoch war die soziale Verpflichtetheit des Staates bzw. der Gemeinschaft den Bürgern gegenüber nicht explizit und umfassend geregelt. Grundrechtliche Standards waren nur in verschiedenen nicht-verbindlichen Rechtsakten festgeschrieben: in der Grundrechtserklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 5. 4. 1977229, in der „Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten“ des Europäischen Parlaments vom 12. 4. 1989230 und in der Gemeinschafts-Charta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9. 12. 1989231. Ein weiterer Entwurf wurde vom Europäischen Parlament am 10. 2. 1994 als Teil der Entschließung „Über das Projekt einer Europäischen Verfassung“ vorgelegt232. 226 Das Europarecht im engeren Sinne ist nicht Gegenstand der vorliegenden Darstellung. Dennoch gilt es die relevanten Grundrechtsverbürgungen an dieser Stelle kurz zu erwähnen, um den darin enthaltenen sozialrechtlichen Acquis den völkerrechtlichen Übereinkommen kontrastierend gegenüberstellen zu können. 227 Art. 141 EGV (Art. 119 EGV a.F.). 228 Im Zusammenhang mit dem Entgeltbegriff wurde insbesondere auch die Frage unterschiedlicher Beiträge zum Rentenversicherungssystem, unterschiedlicher Leistungen beim Eintritt in den Ruhestand und unterschiedlicher Festlegungen des Rentenzugangsalters diskutiert; vgl. Lenz / Borchardt, Kommentar, Art. 141, Rdnr. 8 ff. 229 Abl. 1977 / C 103 / 1 abgedruckt: EuGRZ 1977, S. 157; vgl. dazu Hilf, Grundrechtserklärung, S. 158 ff.; Bothe, Soft Law, S. 768. 230 Abl. 1989 C 120, 51, abgedruckt EuGRZ 1989, S. 205 ff. 231 Vgl. dazu Addison / Siebert, Social Charter, S. 495 ff. 232 Abl. 1994 Nr. C 61 / 155.
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Während sich in der Erklärung von 1977 nur ein allgemeiner Verweis auf die Grundrechte findet, die in den Verfassungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten definiert sind, enthalten die anderen Dokumente explizite Regelungen zum Recht auf sozialen Schutz233. Die Formulierungen sind unterschiedlich differenziert, in der Sache aber im Wesentlichen kongruent. In der Erklärung des Europäischen Parlaments von 1989 werden in Art. 15 verschiedene Sozialschutzmaßnahmen zusammengefasst. Aufgenommen wird das Recht auf alle Maßnahmen, die den bestmöglichen Gesundheitszustand gewährleisten, und das Recht auf eine angemessene Wohnung wie auch allgemeine Normierungen zu sozialer Sicherheit und sozialer Fürsorge. Bemerkenswert ist, dass – im Gegensatz zu allen anderen internationalen Normierungen – den Arbeitern, Selbständigen und ihren Familienangehörigen „das Recht auf soziale Sicherheit oder eine gleichwertige Regelung“ garantiert wird, ohne dass klar würde, welches Alternativmodell damit gemeint ist. Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer aus dem Jahr 1989 ist, wie bereits der Titel zum Ausdruck bringt, in ihrem persönlichen Schutzumfang eingeschränkt, da es sich nicht um Jedermanns-, sondern nur um Arbeitnehmerrechte handelt234. Dementsprechend wird jedem Arbeitnehmer der Europäischen Gemeinschaft ein Anspruch auf angemessenen sozialen Schutz unabhängig von seiner Stellung und der Größe des Unternehmens, in dem er arbeitet, garantiert. Daneben werden aber auch denjenigen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, Zuwendungen, die ihrer persönlichen Lage angemessen sind, zugesichert. Auch wenn diese Bestimmung den auf Arbeitnehmer zentrierten Ansatz erweitert, wird kein allgemeines Schutzrecht daraus entwickelt. Erfasst sind nicht alle, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, sondern nur diejenigen, „die keinen Zugang dazu fanden oder sich nicht wieder eingliedern konnten“. – Aufgrund dieses engen Zuschnitts kommt diesem unverbindlichen Rechtsdokument bei der Entwicklung des Sozialschutzes auf internationaler Ebene keine weiterführende eigenständige Bedeutung zu. Die Europäische Grundrechte-Charta235, die als Teil der neuen europäischen Verfassung vorgesehen ist236, ändert den Befund, die EG / EU sei bei der Normie233 Vgl. Art. 15 der Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12. 4. 1989; vgl. zur Aufnahme auch sozialer und wirtschaftlicher Rechte in die Erklärung die Begründung des Hauptberichterstatters Karel de Gucht, Bericht, S. 209 ff.; allgemein zur Bedeutung Beutler, Erklärung, S. 185 ff.; vgl. auch Punkt 10 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. 234 Vgl. Titel I Abs. 4 der Erklärung. 235 Abl 2000 C 364, 1, abgedruckt EuGRZ 2000, S. 554 ff.; vgl. dazu Meyer / Englert, Europäische Grundrechtecharta, S. 368 ff.; Dröge, Marauhn, Soziale Grundrechte, S. 77 ff.; Pitschas, Europäische Grundrechte-Charta, S. 207 ff.; Bernsdorff, Soziale Grundrechte, S. 1 ff. 236 Vgl. den Entwurf des EU-Verfassungsvertrags, abgedruckt EuGRZ 2003, S. 357 ff.
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rung von Grundrechtspositionen im sozialen Bereich besonders zurückhaltend, grundlegend. Ausweislich ihrer Präambel fasst sie die Rechte zusammen, „die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus dem Vertrag über die Europäische Union und den Gemeinschaftsverträgen, aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Gemeinschaft und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.“ Das bedeutet, dass als Grundlage die wesentlichen Dokumente, die den europäischen Status quo im sozialen Bereich definieren, mit einbezogen werden. Bereits in der Erklärung des Europäischen Rats von Köln vom 4. 6. 1999 ist die Berücksichtigung der sozialen Komponente vorgegeben237. Auf dieser Grundlage werden sowohl mit dem dritten Kapitel der Charta, das mit „Gleichheit“ überschrieben ist, als auch mit dem unter dem Oberbegriff „Solidarität“ stehenden vierten Kapitel Rechtspositionen als Bestandteil eines umfassenden Grundrechtsschutzkonzepts anerkannt, mit denen die Handlungssphäre des Staates nicht eingegrenzt, sondern ein ausgleichendes und fürsorgendes Tätigwerden des Staates erforderlich gemacht wird. So werden die Rechte des Kindes, die Rechte älterer Menschen und die Rechte von Menschen mit Behinderung eingefordert, wird das mit den verschiedenen internationalen Grundrechtsnormierungen bereits vorbereitete Feld auch im Hinblick auf den Schutz von Arbeitnehmerinteressen bestellt. Auch in den übrigen Teilen der Charta finden sich verstreut Rechte, die in der Systematik der internationalen Menschenrechtsverträge dem sozialen Bereich zugeordnet werden238. Von besonderer Bedeutung im Kontext der Thematik der vorliegenden Arbeit ist die Aufnahme einer Bestimmung zu „sozialer Sicherheit und Unterstützung“ in Art. 34 der Charta. Damit wird eine Regelung festgehalten, die in exemplarischer Weise einen länderübergreifenden Konsens zu internationalen Sozialstandards zum Ausdruck bringt. Auf die Ausarbeitung von Art. 34 der Charta wurde beim Konvent besondere Sorgfalt verwendet, um einen für alle akzeptablen Kompromiss zu finden – dies gestaltete sich aufgrund der Befürchtungen der Mitgliedstaaten angesichts des Missverhältnisses zwischen der Unbestimmtheit einer rechtlichen Garantie und der wirtschaftlichen Bedeutung von Regelungen in diesem Bereich als besonders schwierig. Zudem galt es, einen Kompetenzverlust der Mitgliedstaaten auszuschließen, den Mitgliedstaaten keine neuen Leistungspflichten aufzuerlegen und auch nicht einer Harmonisierung der einzelstaatlichen Sozialsysteme vorzugrei237 Erklärung des Europäischen Rats in Köln vom 4. 6. 1999, EuGRZ 1999, S. 364. Danach sollten die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte, wie sie in der ESC und der Gemeinschaftscharta der Grundrechte der Arbeitnehmer enthalten sind, Berücksichtigung finden, „soweit sie nicht nur die Ziele für das Handeln der Union begründen“. 238 Riedel, Solidarität, Rdnr. 28.
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fen239. Insbesondere sollte kein eigenständiger Anspruch des Einzelnen gegen den Staat deduziert werden können. Grundsätzlich besteht keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bestimmte Sozialleistungen zu schaffen. Der Zweck der Normierung besteht vielmehr darin, Eingriffe des Unionsrechts in die einzelstaatlichen Sozialstandards zu verhindern240. In Absatz 1 wird eine Formulierung gewählt, die nur auf die Union, nicht aber auf die Mitgliedstaaten abzielt. Es wird keine Verpflichtung, positiv etwas zu tun, normiert, sondern nur festgelegt, die Union „anerkennt und achtet . . .“. Bemerkenswert ist, dass die Aufzählung der Risiken, in denen das Eingreifen sozialer Sicherungssysteme vorgesehen wird, von dem historisch entwickelten internationalen Kanon abweicht: Zum einen werden Familienleistungen und Leistungen bei Hinterbliebenenschaft ausgeklammert, zum anderen aber wird Pflegebedürftigkeit mit aufgenommen; Berufskrankheiten werden nicht explizit genannt. Allerdings wird der Katalog offen formuliert: „in Fällen wie . . .“. Damit wird die Sicherungsbedürftigkeit bei anderen Risiken nicht ausgeschlossen. Die Akzentverschiebung ist dennoch deutlich. Da es sich bei der Charta der Grundrechte der EU nicht um ein Instrument zur Harmonisierung des Sozialrechts handelt, wird auch statt eines Rechts auf Leistungen nur ein Recht auf Zugang zu den Leistungen festgelegt. Art. 34 Abs. 2 der Charta der Grundrechte erfasst das koordinierende Sozialrecht, das – mit Ausnahme des Diskriminierungsverbots – grundsätzlich nicht zum Grundrechtsschutz gerechnet wird. Art. 34 Abs. 3 der Charta der Grundrechte greift die Verpflichtung des Staates zur sozialen Unterstützung auf; auch diese Vorgabe ist aber nicht als individueller Anspruch ausgestaltet, so dass Streinz in seiner Kommentierung zur Grundrechtecharta Art. 34 insgesamt einen eigenständigen Regelungsgehalt abspricht und darin lediglich eine Betonung der sozialen Dimension der EG bzw. EU sieht241. Im Gegensatz zu Art. 34 wird das „Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung“ (Art. 35) als Rechtsgarantie formuliert, eingeschränkt allerdings wiederum durch die Präzisierung „nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“. Die Überschneidungen zwischen diesen Normen und insbesondere der RESC sind nicht zufällig und ungewollt, sondern aufgrund des konzeptionellen Ansatzes, der darauf abzielt, den menschenrechtlichen Acquis in einem Rechtsdokument zusammenzufassen, unvermeidbar; allerdings ist der Wirkungskreis auf die Organe und Einrichtungen der Union beschränkt (Art. 51 der Charta der Grundrechte).
Barriga, Entstehung, S. 126 ff. Ein Beispiel wäre etwa die Abschaffung von Wohnbeihilfen zur Entzerrung des Wettbewerbs; vgl. Braibant, Charte des droits fondamentaux, S. 74. 241 Streinz / Streinz, EUV / EGV, GR-Charta Art. 34 Rd. 5. 239 240
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bb) Das Recht auf sozialen Schutz in Rechtsakten weiterer internationaler Organisationen In unterschiedlichem Umfang figuriert das Recht auf sozialen Schutz noch in weiteren Dokumenten zum Menschenrechtsschutz. Für die Mitgliedstaaten des Europarats, die zugleich auch Mitgliedstaaten der GUS sind, findet sich ein Recht auf Arbeit und Schutz gegen Arbeitslosigkeit (Art. 14), ein Recht auf Gesundheit (Art. 15), ein Recht auf soziale Sicherheit (Art. 16) und ein Recht Behinderter auf berufliche Rehabilitation, Berufsausbildung und soziale Integration in der noch nicht in Kraft getretenen Konvention über Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 26. 5. 1995242. In der Schlussakte von Helsinki vom 1. 8. 1975 sowie in den Dokumenten der Folgekonferenzen243 haben sozialrechtsrelevante Normierungen nur einen vergleichsweise geringen Stellenwert244. In die Amerikanische Menschenrechtskonvention von 1969 hat das Recht auf soziale Sicherheit nicht Eingang gefunden, wohl aber in das in den 80er Jahren dazu ausgearbeitete Protokoll von San Salvador245. Die afrikanische Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker aus dem Jahr 1981 enthält ein Recht auf Gesundheit sowie ein Recht alter und behinderter Menschen auf besondere Schutzmaßnahmen gemäß ihren körperlichen und seelischen Bedürfnissen, nicht aber ein Recht auf soziale Sicherheit; in der Arabischen Charta der Menschenrechte aus dem Jahr 1994 wird dagegen ein Recht auf soziale Sicherheit im Zusammenhang mit dem Recht auf Arbeit, nicht aber ein Recht auf Gesundheit normiert. Das Grundrecht auf soziale Sicherheit und das Grundrecht auf soziale Fürsorge werden so universell grundsätzlich anerkannt als 242 Abgedruckt in Human Rights Law Journal 1996, S. 159 ff.; vgl. dazu Drzemczewski, CIS Convention on Human Rights, S. 157 ff.; Cancado Trindade, Legal Implications, S. 164 ff.; Frowein, Legal Implications, S. 181 ff. 243 Vgl. Schweisfurth / Oellers-Frahm, Dokumente der KSZE, 1993; zur Rechtsnatur vgl. Schweisfurth, KSZE-Schlussakte, S. 681 ff.; Schwarzenberger, Détente und Völkerrecht, S. 603 ff.; Schütz, Probleme der Anwendung, S. 155 ff.; Sapiro, OSCE, S. 631 ff. 244 Vgl. die Erwähnung auch der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in Punkt VII der Schlussakte von Helsinki, in den Prinzipien 12, 13, 14 und 15 des Wiener KSZE-Folgetreffens, in den Abschnitten „Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ und „Wirtschaftliche Freiheit und Verantwortung“ in der Charta von Paris. 245 Vgl. den differenzierten Wortlaut von Art. 9 des Protokolls: „(1) Everyone shall have the rigth to social security protecting him from the consequences of old age and of disability which prevents him, physically or mentally, from securing the means for a dignified and decent existence. In the event of the death of a beneficiary, social security benefits shall be applied to his dependents. (2) In the case of persons who are employed, the right to social security shall cover at least medical care and an allowance or retirement benefit in the case of work accidents or occupational diseases and, in the case of women, paid maternity leave before and after childbirth“ (1989) 28 ILM 156.
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„. . . a collection of socially and historically generated claims designed to recognize or secure deeply held values or perceived interests“246.
Zusammenfassung Nach 200 Jahren einer im Schatten der Grundrechtsdiskussion geführten Auseinandersetzung über die Anerkennung eines Rechts auf soziale Sicherheit und eines Rechts auf soziale Fürsorge folgt innerhalb von 50 Jahren eine dynamische Entwicklung: Postulate, die der Normierung auf internationaler Ebene nicht für zugänglich gehalten wurden, werden nicht nur einmal, sondern vielfach, in verschiedenen Formen und Kontexten in völkerrechtliche Verträge, Empfehlungen und Deklarationen aufgenommen. Ausgangspunkt ist nicht eine konkrete ungelöste Rechtsfrage im Verhältnis zwischen den Staaten, sondern ein als Defizit des klassischen Systems des Völkerrechts erkanntes Problem: das Fehlen von Standards, an denen das Verhalten der Staaten gegenüber ihren eigenen Bürgern zu messen ist, wenn es um den Aufbau adäquater Sozialschutzsysteme geht. In unverbindlicher Form wird in den Empfehlungen der IAO aus dem Jahr 1944, der „Recommendation Concerning Income Security“ und der „Medical Care Recommendation“, ein Modell eines alle umfassenden Sozialschutzsystems entworfen. In die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 findet sowohl das Recht auf sozialen Schutz als auch das Recht auf soziale Fürsorge explizit Aufnahme. Internationale Arbeitsorganisation, Vereinte Nationen und Europarat werden in der Folge bei der Normierung der Sozialstandards parallel tätig. Die Trennung in den grundlegenden Kodifikationen zwischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten einerseits und bürgerlichen und politischen Rechten andererseits leistet allerdings einer Abwertung der rechtlichen Bedeutung der Sozialstandards Vorschub. Zudem wird das Recht auf Fürsorge nicht auf universeller, sondern nur auf regionaler Ebene normiert. Die Nachkriegskonventionen der IAO, die Fragen der Sozialrechtsgestaltung gewidmet sind, weichen von der Konzeption der Empfehlungen der IAO aus dem Jahr 1944 ab, da es nicht mehr um die grundrechtliche Absicherung aller in potentiell existentiellen Notlagen, sondern nur mehr um allgemeine Eckdaten zur Gestaltung der Sozialschutzsysteme geht. Der Aspekt der Fürsorge wird ausgeklammert. Der Normenkorpus entsteht im Wesentlichen in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. In späteren Grundrechtsverträgen findet sich ergänzend ein besonderer Diskriminierungsschutz benachteiligter Gruppen. Dieser Aspekt wird auch, soweit erkennbar, de lege ferenda in den Vordergrund gestellt.
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Scott, Interdependence, S. 788.
II. Internationale Regelungen zur Harmonisierung von Sozialschutzsystemen
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II. Internationale Regelungen zur Harmonisierung von Sozialschutzsystemen Der zweite Ansatz zur Herausbildung international-sozialrechtlicher Regelungen steht in der Tradition des internationalen Arbeitsrechts, das zu Beginn nur Forderungen zur Verbesserung der Stellung der Arbeiter im Rahmen des Arbeitsverhältnisses umfasst, mit Einführung der Sozialversicherung in einer Mehrzahl europäischer Länder aber auch diesen Themenkomplex mit integriert. Die arbeitsrechtliche Denktradition postuliert aufgrund der negativen Entwicklungen im Bereich der Industriearbeit eine Arbeiterschutzgesetzgebung, deren Ziel es ist, die Rechte der einzelnen Arbeiter, konkret „den Schutz der Lohnarbeiter gegen Nachtheile, welche sie selber nicht abwenden können“247, abzusichern. Im Gegensatz zu dem menschenrechtlichen Ansatz geht es nicht um den Schutz des Menschen aufgrund seiner Würde, sondern vielmehr konkret um den Schutz des Arbeiters und damit um den Schutz eines bestimmten Teils der Gesellschaft. Die Forderung nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen ist ursprünglich auf den nationalen Rahmen beschränkt und damit nicht universalistisch. Aufgrund der Konkurrenzsituation auf dem Weltmarkt und der daraus resultierenden Interdependenz zwischen den nationalen Standards wird aber eine Harmonisierung der Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Staaten als Voraussetzung für nationale Reformen gesehen. Die Internationalität der Gestaltung des Arbeitsrechts wird zudem auch aufgrund der Arbeitsmigration ins Blickfeld gerückt248.
1. Entwicklung nationaler Schutzgesetze im Arbeits- und Sozialrecht des 19. Jahrhunderts a) Arbeitsrechtliche Schutzregelungen Die Forderung nach einer Arbeiterschutzgesetzgebung geht im Wesentlichen auf den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Sie ist eine konkrete Folge der technischen und industriellen Entwicklung, die eine Ablösung der überkommenen Lebens- und auch Arbeitsformen mit sich bringt249. Der zu Beginn auf die Arbeit in den Fabriken, insbesondere in den Textilfabriken, begrenzte Schutz weitet sich aus auf einen Schutz für jede Art von Lohnarbeit. Und auch innerhalb dieses Rahmens ändert sich die ursprünglich sehr enge Konzeption. Nicht mehr nur die Kinder, sondern auch die Frauen und die erwachsenen Männer werden als eines gesetzCohn, Internationale Fabrikgesetzgebung, S. 322. Vgl. Häfner, Motive; Mahaim, Droit international ouvrier; Follows, Antecedents; Shotwell, Origins; Ianouloff, Législation internationale, S. 487 ff.; Bauer, Internationaler Arbeiterschutz, S. 79 ff.; Cohn, Internationale Fabrikgesetzgebung, S. 313 ff.; Valticos, Droit international du travail, S. 3 ff.; Ghebali, L’Organisation Internationale du Travail, S. 21 ff. 249 Klippel, Lohnarbeitsvertrag , S. 161. 247 248
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lichen Schutzes bedürftig angesehen. Zudem wird aus einer bloß zeitlichen Eingrenzung der Arbeitszeit „eine umständliche Fürsorge, die sich nicht blos auf die Begrenzung und die Eintheilung der Tageszeit richtete, sondern auch auf die Art der Löhnung, auf Vorkehrungen gegen mechanische und chemische Gefahren der Arbeitsräume und Anderes dergleichen mehr“250.
Derartige Schutzregelungen haben aber große Widerstände zu überwinden, da sie aus verschiedenen Gründen als sehr problematisch angesehen werden – insbesondere werden die Einschränkung der Selbständigkeit der Arbeiter251, der Einschnitt in die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit und damit die internationale Konkurrenzfähigkeit der Betriebe252, aber auch die in konservativen Kreisen nicht erwünschten gesellschaftlichen Folgen einer mit einer arbeitsrechtlichen Entlastung verbundenen Emanzipierung der Arbeiterschaft253 kritisiert. Nichtsdestotrotz setzt sich die Schutzgesetzgebung durch – ein Faktum, das Habermas als Verrechtlichungsschub bezeichnet254.
Cohn, Internationale Fabrikgesetzgebung, S. 323. Vgl. dazu die Zusammenfassung der Argumentation bei Cohn, Internationale Fabrikgesetzgebung, S. 323: „Höchst problematisch dagegen sind solche Bestimmungen, welche Altersgrenze, Arbeitsdauer, Schulzwang vorschreiben, und die ganze bisherige Entwicklung beleuchtet dieses Problem. Denn solche Bestimmungen greifen unmittelbar in die Lebenshaltung der arbeitenden Klassen ein und treten mit ihrem Zwange der Entartung derselben entgegen, ohne doch mehr zu gewähren als eben diesen Zwang. Und der Widerspruch dieses Zwanges zu der Noth der Gezwungenen ist das Problem selber. Denn während die Lebensnothdurft sich eingerichtet hat auf eine Gestaltung der erwerbenden Arbeit, welche jetzt der Gesetzgeber verändern will, verschliesst die Reform die gewohnte Gelegenheit des Lebensunterhaltes; und was man im Allgemeinen preist, die Selbständigkeit durch Arbeit, was man auch hier als Ziel anstrebt, verkümmert man auf unbestimmte Zeit im Einzelnen.“ Anzumerken ist, dass die Argumentation zum Problem der Kinderarbeit in Entwicklungsländern Ende des 20. Jahrhunderts nicht wesentlich anders ist. Auch hier wird reflektiert, ob Kinderarbeit, die Existenzmittel sichert, nicht besser ist als die Alternative „Leben auf der Straße“. Denn das Verbot an sich beseitigt das Problem der Armut nicht. In den Worten Carl Roschers: „So lange man die Armut nicht aufheben kann, ist die Untersagung derjenigen Arbeiten, welche durch die Armut veranlasst werden, eine Ungereimtheit‘‘ (zitiert nach Cohn, Internationale Fabrikgesetzgebung, S. 373). 252 Bauer, Internationaler Arbeiterschutz, S. 79 ff. 253 Vgl. die bei Bauer, Internationaler Arbeiterschutz, S. 85 zitierte Antwort Friedrich von Gentz’ auf die sozialpolitischen Reformvorschläge Owens: „Wir wünschen gar nicht, dass die Massen wohlhabend und von uns unabhängig werden; wie könnten wir sie denn dann beherrschen?“. 254 „Der erste, für das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit konstitutive Schub der Verrechtlichung hatte seine Ambivalenz einem Widerspruch zwischen dem sozial emanzipativen Sinn der bürgerlichen Privatrechtsnormen einerseits, dessen sozial-repressiven Auswirkungen auf diejenigen, die genötigt waren, ihre Arbeitskraft als Ware anzubieten, andererseits verdankt“ (Habermas, Theorie S. 531). 250 251
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b) Sozialrechtliche Schutzregelungen Zu den arbeitsrechtlichen Regelungen werden verschiedentlich soziale Korrektivregelungen gefordert: So wird argumentiert, dass das Verbot, die Arbeitskraft in vollem Umfang auszunutzen, nur sinnvoll sein könne, wenn der Staat den Ausfall des Erwerbslohns durch Fürsorgemaßnahmen ersetze255. Die kontraproduktive Wirkung reiner Verbotsregelungen wird insbesondere bei der Einschränkung der Arbeit der Wöchnerinnen erkannt; dürfen sie eine bestimmte Zeit vor und nach der Niederkunft keiner Erwerbsarbeit nachgehen, sind sie unter Umständen ohne jede materielle Sicherung256. Ist Ziel der Arbeiterschutzgesetze, einen Rahmen vorzugeben, innerhalb dessen die Erwerbsarbeit so ausgestaltet werden kann, dass sie für den einzelnen Menschen die Sicherung des Lebensunterhalts ermöglicht, ohne seine Gesundheit und sein Familienleben zu zerstören, so geht es bei sozialrechtlichen Schutzgesetzen darum, das Einkommen aus Lohnarbeit in bestimmten Notfällen, insbesondere bei Krankheit, Alter und Tod des Ernährers, zu ersetzen. Beide Ansätze hängen eng miteinander zusammen. Nach dem sozialrechtlichen Regelungsansatz wird zwar vorausgesetzt, dass jeder Erwachsene seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen kann, aber in Notfällen eine materielle Unterstützung der Gemeinschaft für notwendig gehalten257. Sozialrechtliche Regelungen im Sinne von normativen Vorkehrungen gegen den Notfall des Verlusts der Erwerbseinkommens haben eine lange Tradition. Zu verweisen wäre etwa auf die Vorschriften zur genossenschaftlichen Fürsorge in den mittelalterlichen Zunft- und Gesellenordnungen oder, seit Ende des 18. Jahrhunderts, auf genossenschaftliche Hilfskassen, ebenso auf Sicherungen in besonders gefährdeten Berufszweigen wie der Seefahrt und des Bergbaus258. Den wesentlichen Einschnitt – und Beginn einer eigenständigen Sozialgesetzgebung – stellt aber die Einführung obligatorischer Sozialversicherungsgesetze in Deutschland in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts dar259. Innerhalb weniger Jahrzehnte, von 1885 – 1915, führen die Mehrzahl der europäischen Staaten vergleichbare Gesetze ein260. Die Zur Diskussion vgl. Cohn, Internationale Fabrikgesetzgebung, S. 371. Vgl. dazu die Auswertungen der Berichte der Fabrikinspektoren über die Wirkung des Verbots der Frauenarbeit vor und nach der Niederkunft bei Cohn, Internationale Fabrikgesetzgebung, S. 375 ff. 257 Köhler / Zacher, Pfade der Entwicklung, S. 15 sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen der Regel eigener Lebensverantwortung und der Ausnahme von ,Risiken‘“: „In Sonderheit die ,Arbeiterfrage‘, welche die ,soziale Frage‘ der Zeit war, nahm zwei Gestalten an: das Problem der Arbeit, der Arbeitsbedingungen und des Arbeitslohns und das Problem des Defizits an Arbeitskraft, Arbeit und Arbeitslohn“. 258 Alber, Wohlfahrtsstaat, S. 24 ff. 259 Vgl. die Beiträge in Köhler / Zacher, Ein Jahrhundert Sozialversicherung. 260 Vgl. den tabellarischen Überblick zur Einführung der Gesetze bei Alber, Wohlfahrtsstaat, S. 28. 255 256
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Ursachen für diese rasche Entwicklung sind vielfältiger Natur. Im Vordergrund steht die kapitalistische Industrialisierung mit ihren Nebenerscheinungen, dem Bevölkerungswachstum und der Urbanisierung, da aufgrund dessen die Sicherungsprobleme in Notfällen nicht mehr in einer traditionell miteinander lebenden und aufeinander bezogenen Gemeinschaft aufgefangen werden. Eine wichtige Rolle spielt aber auch die gewerkschaftliche und politische Mobilisierung der Arbeiter und ein neues Verständnis der Rolle des Arbeiters als Staatsbürger261. – Für die unterschiedliche nationale Entwicklung sind je spezifische wirtschaftliche, soziale und politische Konstellationen verantwortlich262. Überall setzt sich aber in der Sozialgesetzgebung die von der Arbeiterschutzgesetzgebung vorgezeichnete Linie fort: Der Einzelne wird als schutzbedürftig und schutzwürdig anerkannt; der Staat macht private zu öffentlichen Problemen und greift regelnd ein. Insgesamt ist eine sehr rasche Entwicklung der nationalen Gesetzgebung in diesem Bereich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts festzustellen. War so bei der von Wilhelm II einberufenen Konferenz 1890 Hintergrund internationaler Einigungsbemühung noch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Regelungen in den verschiedenen Ländern, stellt sich schon 1904, als der erste relevante, dem Arbeitsund Sozialrecht zuzuordnende völkerrechtliche Vertrag, das französisch-italienische Abkommen von 1904 abgeschlossen wird, die Situation vollkommen anders dar. Entstanden ist etwas, was bereits die Zeitgenossen als „droit commun europeen“ bezeichnen263.
2. Erkenntnis der internationalen Dimension der Problematik Arbeits- und Sozialrecht ist nicht a priori universell wie die Idee der Menschenrechte; Ansatzpunkt ist – wie die historische Entwicklung zeigt – vielmehr die Sicherung innerhalb überschaubarer Risikogemeinschaften. Allerdings wird der Schutz des Arbeitenden, sei es sozial-, sei es arbeitsrechtlich, als Kostenfaktor erkannt, der im internationalen Vergleich Wettbewerbsnachteile mit sich bringen kann. Ein ruinöser Wettbewerb auf Kosten der Gesundheit der arbeitenden Be261 Vgl. dazu Alber, Wohlfahrtsstaat, S. 29 ff.; Köhler, Entstehung von Sozialversicherung, S. 19 ff.; Fischer, Wirtschaftliche Bedingungen; Gruner, Soziale Bedingungen, S. 103 ff. 262 Vgl. zur Entwicklung in Deutschland: Stolleis, Sozialversicherung Bismarcks, S. 387 ff., zur Entwicklung in Frankreich: Saint-Jours, Frankreich, S. 187 ff., zur Entwicklung in Großbritannien: Ogus, Großbritannien, S. 269 ff., zur Entwicklung in Österreich: Hofmeister, Österreich, S. 445 ff., zur Entwicklung in der Schweiz: Maurer, Schweiz, S. 731 ff.; sowie die Beiträge in Zacher, Bedingungen. 263 Vgl. Pic, Convention, S. 523, der die Konvergenz der Entwicklung in den verschiedenen Gesetzgebungen auf soziologische Bedingungen – die Herausforderung durch identische Problemlagen –, aber auch auf gemeinsame Bemühungen und die Verwissenschaftlichung der Debatte zurückführt. In diesem Zusammenhang betont er den Fortschritt der rechtsvergleichenden juristischen Literatur sowie die Entwicklung der internationalen Kongresskultur.
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völkerung wird aber als Widerspruch zu den nationalen Interessen gesehen264. Die Internationalisierung des arbeits- und sozialrechtlichen Schutzanspruchs resultiert damit in erster Linie aus wirtschaftlichen Überlegungen zu internationaler Konkurrenz265, daneben aber auch aus humanitären Überlegungen266, christlichen Ideen267 oder dem „Streben nach Gerechtigkeit“268: „Die internationale Fabrikgesetzgebung will durch die Mittel völkerrechtlicher Verträge gewissen humanen Zielen dienen, angesichts der industriellen Arbeit der einzelnen Länder, welche die Kräfte von Kindern, Frauen, Männern ausbeutet; sie will aber auch, und wir glaubten es bereits als den praktisch wirksameren Anstoß bezeichnen zu bedürfen, die Konkurrenzfähigkeit derjenigen Industrieländer unterstützen, welche in ihren eigenen Fabrikgesetzgebungen besonders enge Schranken verglichen mit den fremden Ländern zu besitzen meinen“269.
a) Sicherung gegen die Konkurrenz ausländischer Waren Kerngedanke des so genannten „Warenkonkurrenzarguments“ ist, dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und damit auch die Entwicklung von Sozialschutzsystemen auf nationaler Ebene unmittelbare Auswirkungen auf die Produktionskosten und damit auf die internationale Konkurrenzfähigkeit der Produkte habe, somit Arbeits- und Sozialschutznormen nur dann ohne wirtschaftliche Nachteile möglich seien, wenn sie auf einem Konsens zwischen den konkurrierenden Industriestaaten beruhen. 264 Ein nationales Interesse in diesem Sinn ist die durch Kinderarbeit verminderte Wehrfähigkeit. So wird die Regelung zur Kinderarbeit in Preußen vom 9. 3. 1839 durch den Bericht eines Generalleutnants motiviert, der ausführt, dass aufgrund der Nachtarbeit der Kinder in den Fabriken nicht mehr genügend Soldaten eingezogen werden könnten (vgl. Anton, Fabrikgesetzgebung, S. 32). Als weiteres nationales gefährdetes Interesse wird das Fehlen eines nationalen Absatzmarktes für die erzeugten Produkte in der verarmten Arbeiterschaft sowie der Raubbau an den Ressourcen für die zukünftige Entwicklung des Landes angeführt – wenn Kinder frühzeitig bei der Arbeit in der Fabrik verbraucht werden und Erwachsene keine Möglichkeit haben, ihre Familien zu ernähren und ein normales Familienleben zu führen, kann keine gesunde junge Generation heranwachsen; Schlagwort in diesem Zusammenhang ist „dégénérescence“ (vgl. Ianouloff, Législation internationale, S. 488: théorie de la dégénérescence: diminution de forces physiques et intellectuelles d’une grande partie de la popolution). 265 Dies ergibt sich aus den von Häfner ausgewerteten Materialien über die Diskussion in verschiedenen, politisch relevanten Gremien; vgl. explizit Häfner, Motive, S. 45; Ianouloff, Législation internationale, S. 503; zu den verschiedenen Gründen für internationale Standards im Bereich des Arbeitsrechts vgl. Valticos / von Potobsky, International Labour Law, S. 20 ff. 266 Ianouloff, Législation internationale, S. 502. 267 Schnorr, Arbeitsrecht, S. 41 ff.; Turmann, Législation internationale du travail, S. 4 – 10; Christiaens, Religions, S. 13 – 31. 268 Ianouloff, Législation internationale, S. 505; allgemein zur Bedeutung von sozialen Bewegungen und der Ausarbeitung von Menschenrechten Stammers, Social Movements, S. 980 ff. 269 Cohn, Internationale Fabrikgesetzgebung, S. 321, 322.
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Dieses Begründungsmuster für einen internationalen Ansatz bei sozialpolitischen Maßnahmen wird exemplarisch bereits aus einer 1788 abgegebenen Stellungnahme von Jacques Necker, dem Finanzminister von Ludwig XVI, deutlich: „If it is true that the cost of labour would be lowered by increasing the number of working days, would not such an increase also tend to expand commerce and strengthen the nation politically? Undoubtedly such results might be achieved if labour costs were reduced. But political strength is calculable only by comparison with other states, and no alteration in circumstances affecting all states would increase or diminish the strength of any one of them. Were some rapacious nation to abolish the day of rest decreed by religious laws, it would enjoy a degree of superiority over the rest only as long as no other country followed its example. As soon as its neighbours likewise abandoned the weekly day of rest, the relative strength of each nation would be the same as before“270.
Aber analysiert Jacques Necker die Schwierigkeiten sozialpolitischer Maßnahmen, die auf den nationalen Raum beschränkt sind, auch deutlich und stellt die Lösung dazu – das aufeinander abgestimmte Handeln der Einzelstaaten – vor, so fordert er doch nicht, dieses Problem mit den Mitteln des Rechts zu lösen. Auch der Ansatz von Robert Owen271 zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist noch nicht als Vorform einer internationalen Sozialgesetzgebung im eigentlichen Sinn, bei der Staaten rechtliche Verpflichtungen im Hinblick auf bestimmte innenpolitisch durchzusetzende sozialpolitische Maßnahmen übernehmen, zu verstehen. Vielmehr baut Robert Owen auf die Vorbildfunktion gut funktionierender Systeme: er empfiehlt die Übernahme seines in New Lanark in England verwirklichten Sozialmodells auch für andere Staaten. In der Sache geht es dabei um rechtsvergleichend ermittelte Modelllösungen, die auf andere Rechtsordnungen übertragen werden sollen. Den entscheidenden Schritt hin zu einer rechtlichen Lösung geht Daniel LeGrand272, der bereits 1848 in seinem „Appel respectueux adressé aux gouvernements de la France, de l’Angleterre, de la Prusse, des autres Etats d’Allemagne et de la Suisse“ neben Einzelgesetzen ein „. . . loi internationale destinée(s) à protéger la classe ouvrière contre le travail précoce et excessif, cause première et principale de son dépérissement physique, de son abrutissement moral et de sa privation des bénédictions de la vie de famille“ fordert: „Une loi de fabriques internationale a un immense avantage sur les lois particulières de chaque pays. Par son seul moyen on peut dispenser à la classe ouvrière les bienfaits 270 Jacques Necker, De l’importance des opinions religieuses, Lyon, Regnault, Liège, Plomteux, 1788, zitiert nach Follows, Antecedents, S. V, VI; vgl. dazu Heyde, Internationale Sozialpolitik, S. 17; Valticos, Droit international du travail, S. 5. 271 Zu den sozialpolitischen Grundkonzeptionen Owens im Einzelnen vgl. Bauer, Internationaler Arbeiterschutz, S. 81 ff.; Mahaim, Historical and social importance, S. 4; Krawtschenko, Robert Owen, S. 257 – 261; Follows, Antecedents, S. 1 – 9. 272 Valticos, Droit international du travail, S. 8 ff., Follows; Antecedents, S. 28 ff.; Bauer, Internationaler Arbeiterschutz, S. 86 ff.; Häfner, Motive, S. 6 ff.; Ianouloff, Législation internationale, S. 489 ff.
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moraux et matériels désirables, sans que les industriels en souffrent et sans que la concurrence entre les industries de ces pays en reçoive la moindre atteinte. Une loi internationale conclue par les gouvernements des pays industriels est l’unique solution possible du grand problème social de procurer à la classe ouvrière la jouissance de la vie de famille et d’un jour de repos qui puisse être consacré à ses intérêts les plus précieux, en allégeant le fardeau de ses travaux et en étendant son action tutélaire sur toutes les périodes de la vie de l’ouvrier et de sa famille“273.
Die Idee ist, ein übergreifendes Gesetz zu schaffen, nicht aber einen völkerrechtlichen Vertrag zu schließen, der die Einzelstaaten zur Umsetzung verschiedener Maßnahmen im nationalen Bereich verpflichtet – ein utopischer Ansatz, der bis heute nicht verwirklicht worden ist. Für vergleichbare Ideen treten Charles Hindley, J.-A. Blanqui, Louis Réné Villermé, Ducpétiaux, Ch. U. Hahn, Armand Audiganne und Ludwig Wolowski ein274. Das Spektrum der Herkunftsländer – Frankreich, England, Deutschland, Belgien – zeigt, dass die Diskussion in den führenden mitteleuropäischen Industriestaaten mit gleicher Intensität geführt wird. Im Zusammenhang mit der sozialrechtlichen Thematik ist insbesondere der Ansatz von Ducpétiaux von Interesse, da er auch Fürsorge und soziale Vorsorge für kranke oder verletzte Arbeiter in den Themenkatalog für internationale Abkommen einbringt. Zur Regelung der Probleme fordert er einen völkerrechtlichen Vertrag, vergleichbar den Verträgen über die Abschaffung der Sklaverei: „Der Beginn einer Politik der Menschlichkeit und der Großzügigkeit, die die geteilten Völker von heute wieder vereinen kann . . . , würde sicher zur Annahme internationaler Abkommen führen, zur Emanzipierung der weißen Arbeiter . . . , wie einst zur Emanzipierung der Neger“275.
Der Möglichkeit, (länderübergreifendes) Recht und damit Normen, die entweder Staaten zur In-Kraft-Setzung bestimmter gesetzlicher Regelungen verpflichten oder aber unmittelbar in einer Mehrzahl von Ländern gelten, zu erlassen und als Mittel zur Durchsetzung einheitlicher sozialpolitischer Vorstellungen in den verschiedenen Nationalstaaten einzusetzen, wird mit einer Vielzahl von Gegenargumenten widersprochen. Im Vordergrund steht die Wahrung der nationalen Interessen und damit die Souveränität; der sozialpolitische Gestaltungsraum des nationalen Gesetzgebers wird als in keiner Weise einschränkbar gesehen276. Besonders die Kontrolle der VereinZitiert nach Perrin, Sécurité sociale, S. 8. Vgl. zu den verschiedenen Positionen im einzelnen Follows, Antecedents, S. 1 – 58; Valticos, Droit international du travail, S. 5 – 12; Ianouloff, Législation internationale, S. 489 ff.; Häfner, Motive. 275 Ducpétiaux, De la condition physique et morale des jeunes ouvriers et des moyens de l’améliorer, Buch 3 Band 2, S. 311; deutsche Übersetzung zitiert nach Häfner, Motive. 276 Vgl. z. B. die Reaktionen auf die Schweizer Vorschläge zu obligatorischen Vereinbarungen zwischen den Staaten und zur Kontrolle durch eine zentralisierte Instanz bei der Berliner Konferenz 1890; dazu im einzelnen Valticos, Droit international social, S. 23. 273 274
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barungen wird als unlösbares Problem gesehen – sie würde zu Konflikten führen und die nationale Unabhängigkeit beeinträchtigen 277. Auch wird befürchtet, die Spezifika der jeweiligen Länder würden bei einer internationalen Normierung, die notwendigerweise undifferenzierte Maßstäbe anlegen müsste, nicht genügend Berücksichtigung finden. Exemplarisch für diese Position ist die Antwort des preußischen Ministeriums auf die Initiative LeGrands 1853, „die Regierung suche ihre Aufgabe darin, den speziellen Bedürfnissen des Vaterlandes in zweckentsprechender Weise unter Berücksichtigung der mannigfachen hierbei zu beachtenden Interessen sowie der eigentümlichen Verhältnisse gerecht zu werden“278.
Weiter wird argumentiert, internationale Normen seien nicht zu realisieren, da die armen Völker gegenüber den reichen Völkern nur bestehen könnten, wenn sie ihre Unterlegenheit (wörtlich „infériorité“) in Bezug auf Kapital, physische Kraft und Ausbildung durch eine verlängerte Arbeitsdauer kompensierten. Dieses Argument zeigt, dass die Interessen der einzelnen Staaten an einer effektiven Sozialgesetzgebung nicht gleichgerichtet sind. Für Länder, die bereits ein höheres Niveau an nationalen Schutzbestimmungen erreicht haben, ist es von Interesse, andere Länder mit niedrigerem Schutzniveau zu verpflichten, ihre gesetzlichen Regelungen dem höheren Niveau anzupassen279. Der Staat, der niedrigere gesetzliche Sozialstandards an die anderen Staaten angleicht, wird so zum „Gebenden“, da er Konkurrenzvorteile aufgeben muss280. Diese Bereitschaft muss aber wiederum durch nationale Interessen gerechtfertigt sein: „Damit für die umsonst gebotene Leistung der einen Staatengruppe eine Gegenleistung seitens der anderen erfolge, müssen auch hier interne Faktoren, muß ein nationales Interesse wirksam sein. Bloß um die Industrie eines anderen Landes in ihrer Konkurrenzfähigkeit zu erhalten, wird kaum ein Staat die eigene Industrie belasten“281. 277 Vgl. etwa die damit verbundene Angst vor Wirtschaftsspionage, Häfner, Motive, S. 13; vgl. zu diesem Argument auch Rolin-Jaequemyns, Conférence de Berlin, S. 5 – 27. 278 Bauer, Internationaler Arbeiterschutz, S. 99; vgl. dazu auch Häfner, Motive, S. 18. 279 Vgl. die Stellungnahme von Posadowsky im deutschen Reichstag: „Ich glaube und ich habe das wiederholt hier betont, daß es unserem nationalen Egoismus entspricht, dahin zu wirken, daß die anderen Staaten gleichartige und gleichwertige Einrichtungen auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes und der Arbeiterfürsorge treffen wie Deutschland; denn diese gleichartige Fürsorge ist auch eine Frage der internationalen Handels- und Produktionskonkurrenz“ (Verhandlungen des Reichstags, Bd. 182, S. 3779, am 30. 1. 1902; zitiert nach Häfner, Motive, S. 11); vgl. auch die zeitlich nach der Gründung der IAO liegende Stellungnahme des australischen Außenministers von 1934 zum selben Thema: „Nos travailleurs jouissent d’un niveau de vie plus élevé que ceux de presque tous les autres pays. Autrement dit, les pays dont les travailleurs sont moins bien rémunérés et moins bien traités sont en meilleure posture pour concurrencer victorieusement l’Australie sur les marchés mondiaux. Il s’ensuit que toutes mesures prises pour améliorer le niveau de vie dans les pays concurrents de l’Australie ne peuvent que profiter à celle-ci“; zitiert nach Ianouloff, Législation internationale, S. 504, 505. 280 Vgl. den Verweis Italiens auf „l’effort plus considérable que devraient fournir les Etats les moins avancés“, Valticos, Législation internationale du travail, S. 22. 281 Wolf, Internationale Sozialpolitik (zitiert nach Häfner, Motive, S. 48, 49).
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Geht man von der These einer für die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Wirtschaft im internationalen Vergleich negativen Wirkung fortschrittlicher Sozialgesetzgebung aus, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass im Verhältnis zwischen den – potentiell – am Vertrag beteiligten Staaten eine auf dem Prinzip „do ut des“ aufbauende Interessenstruktur grundsätzlich fehlt. Dies ist neben dem Souveränitätskonzept als einer der wesentlichen Gründe zu sehen, warum im 19. Jahrhundert die Forderungen nach international-sozialrechtlichen Regelungen nicht umgesetzt werden. Allerdings wird die These, dass eine internationale Lösung für die nationale arbeits- und sozialrechtliche Problematik notwendig sei, nicht durchgehend vertreten. Sozialgesetzgebung wird nicht nur als Kostenfaktor für die nationale Wirtschaft interpretiert, der international ausgeglichen werden müsse, sondern auch als Konkurrenzvorteil, zumindest auf längere Sicht282: „Man kann fast sagen, das Interesse eines Landes an der Internationalität des Arbeiterschutzes steht im umgekehrten Verhältnis zur Ausbildung seiner eigenen Fabrikgesetzgebung“283.
Argumentiert wird, die Produktivität der Wirtschaft könne zwar durch Maßnahmen gesteigert werden, die die Grundbedürfnisse der Beschäftigten negierten, auf lange Sicht erwiesen sie sich jedoch als Nachteil. Insbesondere sei eine Industrie, die sich nur durch Kinderarbeit halten könne, dem Untergang geweiht. Gerade die Steigerung der Leistungsfähigkeit und der Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer sei Voraussetzung für langfristigen wirtschaftlichen Erfolg; damit sei die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit einer Volkswirtschaft von dem Grad ihres sozialen Fortschritts abzuleiten284, eine These, zu deren Beleg auf die Erfolge der deutschen Wirtschaft nach der Einführung der Sozialversicherungsgesetze durch Bismarck hingewiesen wird285. Weiteren Ansatzpunkt zur Kritik bietet die Prämisse einer monokausalen Beziehung zwischen Herstellungskosten und Wettbewerbsfähigkeit. Dem wird entgegengehalten, der Erfolg eines Produkts auf dem Weltmarkt hinge nicht nur – und je nach Branche auch nicht wesentlich – von den durch Arbeitslöhne verursachten Produktionskosten ab. Vielmehr spielten auch andere Faktoren, wie wirtschaftliche und technische Entwicklung, Transportwege, Marktanteile, politische und wirtschaftliche Bündnisse, eine entscheidende Rolle286. Außerdem wird, auch soweit Sozialdumping als Problem diagnostiziert wird, erkannt, dass eine international-rechtliche Bindung der einzelnen Nationalstaaten, in einer bestimmten Weise sozialpolitisch zu agieren, nicht die einzige mögliche Vgl. dazu ausführlich Häfner, Motive, S. 20 ff. Herkner, Die Arbeiterfrage, S. 381 ff. 284 Referat von Lujo Brentano beim Verein für Sozialpolitik 1872, vgl. dazu Häfner, Motive, S. 17; vgl. zu dieser Argumentation auch Herkner, Arbeiterfrage, S. 381 f. 285 Vgl. Häfner, Motive, S. 10. 286 Vgl. Ianouloff, Législation internationale, S. 504. 282 283
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Antwort ist. Neben dem Recht als Instrument zur Lösung dieser Probleme werden auch andere Ansätze diskutiert. Eine Möglichkeit wird in einem auf Rechtsvergleichung beruhenden Vorgehen gesehen. Das bedeutet, die Einführung sozialer Schutzgesetze nicht für rechtlich verbindlich zu erklären, sondern davon abhängig zu machen, ob auch in anderen Ländern ein entsprechendes Schutzniveau besteht. Problem bei diesem Weg ist die – bereits von Jacques Necker angesprochene – Gefahr einer „Angleichung nach unten“, eines „vicious cycle of social retrogression in all trading nations“287. Ganz in diesem Sinn sind die verschiedenen Aufrufe von Daniel LeGrand zu verstehen, die er an die Regierungen der verschiedenen mitteleuropäischen Industriestaaten richtet, um sie von der nutzbringenden Einführung des im jeweils anderen Land erlassenen Gesetzes zu überzeugen288 . Eine Lösung politischer Natur propagieren die sozialistischen Parteien, indem sie den Zusammenschluss derjenigen, die unabhängig von nationalen Grenzen die gleichen Interessen verfolgen, und damit die Internationalisierung der Arbeiterbewegung fordern289. Einer internationalen Sozialgesetzgebung stehen sie reserviert gegenüber, da für die Arbeitnehmer der Gesichtspunkt der internationalen Konkurrenz nur mittelbar von Interesse ist; Gewinne der Unternehmer bedeuten nicht unbedingt eine Verbesserung für ihre Situation, Verluste allerdings gefährden den Arbeitsplatz290.
b) Sicherung gegen die Konkurrenz ausländischer Arbeitnehmer Die wesentliche Prämisse der gegen das Warenkonkurrenzargument gerichteten These – die Überlegenheit einer zukunftsorientierten Arbeits- und Sozialpolitik, die auf den Erhalt und die Förderung der Leistungsbereitschaft und -fähigkeit der 287 Vgl. zur aktuellen Diskussion Ende des 20. Jahrhunderts, in der die gleichen Argumente wieder aufgegriffen werden: Sengenberger, International labour standards, S. 7. 288 Vgl. z. B. die Denkschrift vom 5. 12. 1840 (Projet de loi sur le travail et l’instruction des enfants employés dans les manufactures, usines et ateliers; en réponse à la circulaire de M. le Ministre Secrétaire d’État de l’agriculture et du commerce, du 1er juillet 1840; par un industriel des Vosges, éclairé sur les devoirs et les intérêts de l’industrie. Novembre 1840), die LeGrand an die Regierungen Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz richtet, „als ehrerbietige Aufforderung, nicht länger zu säumen, das preussische Fabrikgesetz einzuführen, welches mit so tiefer Einsicht und weiter Fürsorge abgefaßt ist“ (zitiert nach Bauer, Internationale Arbeitergesetzgebung, S. 92). 289 Häfner, Motive, S. 12. 290 Insofern ist es auch nicht überraschend, dass viele der „Vordenker“ einer internationalen Standardisierung des Sozial- und Arbeitsrechts zu den Arbeitgebern gehören: Owen und Hindley waren Baumwollfabrikanten im Süden Englands; LeGrand hatte eine Seidenmanufaktur im Elsass; Ducpétiaux dagegen war Generalinspektor für Gefängnisse und Fürsorgeanstalten, Hahn evangelischer Pastor, Blanqui Wirtschaftsprofessor; vgl. auch die Unterstützung der Argumentation durch die so genannten Kathedersozialisten (Adolph Wagner, Gustav v. Schönberg, Julius Baron, Lorenz v. Stein, Geßner, Georg Adler), vgl. Häfner, Motive, S. 16.
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Arbeiterschaft abstellt, gegenüber einer auf Kosten der Arbeitnehmerschaft nur auf den momentanen wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Politik – wird aufgrund der Entwicklungen der internationalen Migration in der Zeit vor, vor allem aber nach dem Ersten Weltkrieg in Frage gestellt: die auf dem nationalen Markt eingesetzte Arbeiterschaft ist aufgrund des internationalen Überangebots an Arbeit jederzeit ersetzbar. Auswanderungsländer291, die darauf angewiesen sind, dass Emigranten in anderen Ländern Kapital erwirtschaften und ins eigene Land zurückbringen, stehen Einwanderungsländern292 gegenüber, deren Industrie zusätzliche Arbeitskräfte aufnehmen kann293. Folge für die Arbeitnehmer in den Einwanderungsländern ist, dass ihnen auf dem nationalen Arbeitsmarkt Konkurrenten „von Orten höheren sozialen und wirtschaftlichen Druckes“ gegenüberstehen, die regelmäßig bereit sind, Arbeit auch zu ungünstigeren Konditionen zu übernehmen. Sind sie Zeitarbeiter, sind für sie auf langfristige Perspektive angelegte Verbesserungen der arbeitsrechtlichen Situation nicht von Belang. Auch bei den Lohnforderungen besteht für sie regelmäßig mehr Spielraum, da sie von der – regelmäßig höheren – Kaufkraft des verdienten Geldes im Herkunftsland ausgehen können294. Damit können sie inländische Arbeitnehmer vom Arbeitsmarkt verdrängen bzw. Forderungen nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen untergraben. Eine Lösungsmöglichkeit dieses Problems böte die Zugangsbeschränkung des nationalen Marktes für ausländische Arbeitskräfte. Derartige Regelungen werden in völkerrechtliche Verträge übernommen. Beispiele wären der amerikanischchinesische Vertrag vom 17. 11. 1886 oder die englisch-chinesischen Verträge von 1886 und 1904295. Derartigen Maßnahmen steht allerdings der Bedarf der Einwanderungsstaaten an zusätzlichen Arbeitskräften entgegen296. Damit bietet sich die Forderung nach einer Gleichbehandlung der ausländischen und der inländischen Arbeitnehmer als Lösungsmöglichkeit an, da auch dadurch eine Unterbietung von Sozialstandards ausgeschlossen würde. Allerdings ist eine derartige Maßnahme mit der Erwartungshaltung verbunden, auch der Auswanderungsstaat müsse entsprechende Regelungen schaffen. Auch diese Überlegungen führen folgerichtig zur Forderung nach internationaler Normierung. Träger der Argumentation ist hier die Arbeitnehmerschaft, insbesondere die Gewerkschaften. 291 Häfner, Motive, S. 68, zählt dazu schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts „die Staaten des südlichen und östlichen Europas sowie des südlichen und östlichen Asiens“. 292 Die Einwanderungsländer setzen sich nach Häfner, Motive, S. 69, „besonders aus Westeuropa, dem ganzen Amerika und den gemäßigten Breiten angehörigen Teilen des britischen Imperiums“ zusammen. 293 Vgl. dazu im einzelnen Häfner, Motive, S. 76 ff. 294 Vgl. Schätzel, Internationale Arbeiterwanderungen, S. 35 ff. 295 Vgl. dazu Häfner, Motive, S. 71. 296 Vgl. Sartorius von Waltershausen, Artikel „Einwanderung“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften 1909, III, S. 767 (zitiert nach Häfner, Motive, S. 69), der von einem „regelrechten Konkurrenzkampf um die internationale Ware ,Arbeit‘“ spricht.
8 Nußberger
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Damit ergeben sich zwei unterschiedlich motivierte und von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen getragene Ansatzpunkte für eine Internationalisierung der Normsetzung. Wichtig ist, dass aufgrund des Warenkonkurrenzarguments vor allem spezifisch arbeitsrechtliche Regelungen, d. h. Regelungen zur Arbeitszeit und zum Schutz bestimmter Gruppen von Arbeitnehmern, auf internationaler Ebene gefordert werden. Aufgrund des Wandererkonkurrenzarguments297 werden dagegen verstärkt auch sozialrechtliche Ansprüche wie die Sicherung von im Ausland erworbenen Rentenansprüchen, aber auch arbeitsmarktpolitische Aspekte, insbesondere die Verhinderung von Arbeitslosigkeit, thematisiert. Wie weit dieser Ansatz von dem grundrechtlichen Ansatz entfernt ist, zeigt nicht zuletzt die Gleichstellung von Arbeiter und Ware in der Präambel des ersten wichtigen völkerrechtlichen Vertrags zwischen Italien und Frankreich in diesem Bereich: „. . . désirant, par des accords internationaux, assurer à la personne du travailleur des garanties de réciprocité analogues à celles que les traités de commerce ont prévues pour les produits de travail . . .“298.
3. Abschluss bilateraler Verträge zur Harmonisierung der nationalen arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen Der Schritt von der Diskussion über die Notwendigkeit völkerrechtlicher Verträge zur Ausarbeitung völkerrechtlicher Verträge ist bei der Frage der Harmonisierung der nationalen arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen besonders weit, fürchten doch die Staaten einen Eingriff in ihr gesetzgeberisches Ermessen und damit in ihre nationale Souveränität. Erst 1904 finden sich erste greifbare, völkerrechtlich verbindliche vertragliche Regelungen. Nicht-rechtsverbindliche Abschlusserklärungen internationaler Konferenzen gibt es dagegen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. So wird etwa bei den Internationalen Wohlfahrtskongressen in Brüssel 1856 und in Frankfurt 1857 dazu aufgerufen, ein internationales Gesetz zur Industriearbeit vorzubereiten299. Auf der von Kaiser Wilhelm II.300 einberufenen Berliner Konferenz vom 15. bis zum 25. 3. 1890, an der 13 Staaten301 teilnehmen, wird die Ausarbeitung internationaler Konventionen angesprochen302, im Zum Begriff „Wandererkonkurrenzargument“ vgl. Häfner, Motive, S. 56. Zu dem Vertrag im Einzelnen vgl. S. 116 f. 299 Vgl. dazu Mahaim, Droit international ouvrier, S. 196 ff. 300 Vgl. den kaiserlichen Erlass vom 4. 2. 1890 „Die in der internationalen Konkurrenz begründeten Schwierigkeiten der Verbesserung der Lage Unserer Arbeiter lassen sich nur durch internationale Verständigung der an der Beherrschung des Weltmarktes beteiligten Länder, wenn nicht überwinden, so doch abschwächen.“ (zitiert nach Häfner, Motive, S. 10). 301 Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Schweden, Norwegen und die Schweiz. 302 Vgl. zu den entsprechenden Vorstößen der Schweiz Vögeli, Berufsverbote, S. 8. 297 298
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Hinblick auf die souveränen Entscheidungsmöglichkeiten der Einzelstaaten aber mehrheitlich abgelehnt, da sonst die nationalen Arbeitsgesetze der „Willkür einer ausländischen Macht unterstellt würden“303. Dementsprechend haben die verabschiedeten Empfehlungen zur Arbeit unter Tage, zur Sonntagsarbeit, zur Kinderarbeit, zur Arbeit Jugendlicher und zur Frauenarbeit304 keine normative Gültigkeit, sondern werden vielmehr als „Wünsche“ ausgewiesen305. Für die Entwicklung des internationalen Sozialrechts relevant ist die Feststellung, es sei wünschenswert, „dass die Institutionen der Vorsorge und der Hilfe, welche im Einklang mit den Gewohnheiten eines jeden Landes organisiert und dazu bestimmt sind, den Bergarbeiter und seine Familie gegen die Folgen von Krankheiten, Unfällen, vorzeitiger Arbeitsunfähigkeit, Alter und Tod zu sichern, Institutionen, welche geeignet sind, die Lage des Bergarbeiters zu verbessern und ihn an seinen Beruf anhänglich zu machen, mehr und mehr ausgebaut werden“306.
In der Folge wird die Behandlung der Frage in verschiedener Weise institutionalisiert. Ein entscheidender Schritt ist die Gründung der „Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz“ im Jahr 1900, deren Ziel es ist, das Programm der Konferenz von Berlin wieder aufzunehmen und weiter auszuarbeiten307. Bei ihrer dritten Generalversammlung im Jahr 1904 in Basel wird die Versicherung ausländischer Arbeiter in die Tagesordnung aufgenommen; es geht um die Realisierung des staatlichen Schutzanspruchs unabhängig von der Staatsangehörigkeit, wobei auch völkerrechtliche Verträge als Mittel zur praktischen Durchführung angedacht werden308. Die Tatsache, dass sich damit der Regelungsbereich 303 So die ablehnende Stellungnahme Großbritanniens zu den Vorschlägen der Schweiz, zitiert nach Valticos, Droit international du travail, S. 23; vgl. dazu den Kommentar von Benn Steil, der eine historische Parallele zwischen dem damaligen Vorstoß des deutschen Kaisers und der EG-Politik zieht: „The attempt to export social policy to neutralize a competitor’s advantage is not new. In 1890 Kaiser Wilhelm II., intent on maintaining Germany’s competitive position while addressing domestic demands for working-time restrictions, proposed an international agreement on a maximum eight-hour workday. While Britain had at that time rejected the idea of putting its industrial laws „at the discretion of a foreign power“, one hundred years later, its industrial sovereignty sufficiently eroded, it is forced to abide by working-time directives from Brussels“, (Steil, New Protectionism, S. 14, 15). 304 Abgedruckt bei Perrin, La sécurité sociale, S. 13 – 16. 305 Vgl. zum Ergebnis der Konferenz den Kommentar von Jaequemyus (Socialisme, S. 21): „Ce résultat aura rassuré par son caractère platonique, ceux qui croient que la question de la réglementation du travail est exclusivement du ressort de chaque législateur particulier, qu’elle est étrangère au domaine du droit international et qu’un système de conventions par lequel on chercherait à la faire entrer dans ce domaine en établissant une législation internationale du travail serait ou inefficace ou plein de dangers pour l’autonomie des États industriels que se lieraient de cette manière“. 306 Entschließung Punkt 3 d; abgedruckt bei Hein, Ausdehnung der deutschen Sozialgesetzgebung, S. 23. 307 Vgl. dazu Mahaim, Droit international ouvrier, S. 211 ff.; Perrin, Ursprünge, S. 32; Pic, Convention, S. 523 ff.; Hein, Ausdehnung der deutschen Sozialgesetzgebung, S. 29 ff. 308 Vgl. dazu Hein, Ausdehnung der deutschen Sozialgesetzgebung, S. 29 ff.
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des Völkerrechts grundsätzlich erweitert, wird bereits in den ersten Stellungnahmen gesehen309. a) Französisch-italienisches Abkommen von 1904 Der erste völkerrechtliche Vertrag, in dem die Idee einer staatenübergreifenden Harmonisierung der Arbeits- und Sozialgesetzgebung in Recht umgesetzt wird – eine absolute Neuigkeit im internationalen Bereich310 – ist das französisch-italienische Abkommen „Convention Franco-Italienne du Travail“ vom 15. 4. 1904311. Das Besondere an diesem Abkommen ist, dass Fragen der Koordinierung und der Harmonisierung der verschiedenen nationalen Sozialsysteme miteinander verbunden werden312. In erster Linie geht es um die Regelung der Integration der Arbeitsmigranten in das jeweilige nationale Sozialversicherungssystem313, daneben aber auch um die Vereinheitlichung der unterschiedlichen nationalen Systeme, um die Akzeptanz eines bestimmten sozialen Sicherungsmodells. Hintergrund der Kombination dieser unterschiedlichen Themenkomplexe ist, dass die Interessen der Vertragspartner Italien und Frankreich grundlegend verschieden sind. Während in Frankreich eine Vielzahl italienischer Arbeiter beschäftigt ist, arbeiten nur wenige Franzosen in Italien314. Damit ist das Interesse Italiens vorrangig auf Schutzbestimmungen zugunsten der italienischen Arbeiter in Frankreich und deren Versorgung im Fall des Eintritts eines Schadens gerichtet; für Frankreich dagegen ist die Angleichung der italienischen Arbeiterschutzgesetzgebung an französische Standards aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen wichtig. So verpflichtet sich Italien, einen Arbeitsinspektionsdienst analog zu dem in Frankreich Bestehenden einzurichten. Er muss unter staatlicher Aufsicht stehen und die Einhaltung der Arbeiterschutzgesetzgebung zugunsten von Frauen und Kindern überwachen315. Zudem erklärt Italien, sich für eine Verminderung der täglichen Arbeitszeit der Frauen in der Industrie einzusetzen316. – Das bedeutet, dass 309 Vgl. M. Millerand (Les traités de travail, la réunion de Bâle, Revue politique et parlementaire vom 10. 10. 1903, S. 33): „Les traités de travail méritent de devenir une branche du droit des gens, non moins que les traités d’arbitrage, dont la réalisation suscite en ce moment même un si heureux mouvement d’opinion“; zitiert bei Pic, Convention franco-italienne, S. 520, FN 1. 310 Vgl. den Kommentar von Pic, Convention, S. 521 aus dem Jahr 1904: „[une] absolue nouveauté dans le domaine international“. 311 Nouveau Recueil général de Traités, Continuation du grand Recueil von G.F. de Martens, Reihe 2, Band XXXII, Nr. 80; vgl. dazu auch Perrin, Ursprünge, S. 12 ff.; Pic, Convention, S. 515 ff. 312 Vgl. zu diesem Aspekt ausführlich Perrin, Ursprünge, S. 12 ff. 313 Vgl. zu diesem Aspekt S. 160 ff. 314 1901 wurden in Frankreich 330 465 Italiener, davon 206.715 Arbeiter, dagegen in Italien nur 5.033 Franzosen gezählt; zu den Angaben vgl. Perrin, Ursprünge, S. 12 ff. 315 Art. 4 Abs. 1 des Abkommens. 316 Art. 4 Abs. 4 des Abkommens.
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hier in einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Vertrag bereits eine Verpflichtung enthalten ist, die auf ein Bemühen bei der Regelung arbeitsrechtlicher Fragen abstellt, nicht aber auf ein Ergebnis gerichtet ist317. Weiter ist in dem Vertrag die Bestimmung enthalten, dass dann, wenn sich eine der Vertragsparteien an einer Sachregelung zu einem sozialrechtlichen Problem auf internationaler Ebene beteiligt, dies „im Prinzip“ zur Folge hat, dass sich auch die andere Vertragspartei beteiligen muss: „. . . l’adhésion de l’un des deux gouvernements au projet de la conférence entraînerait, de la part de l’autre gouvernement, une réponse favorable en principe“318.
Diese Formulierung impliziert, dass die Regelung nicht als Automatismus verstanden wird. Es handelt sich um eine besondere Form eines pactum de contrahendo. b) Nachfolgeverträge In den nachfolgenden detaillierten Abkommen zwischen Frankreich und Italien erfahren im Wesentlichen die koordinierenden, nicht aber die harmonisierenden Vorgaben eine weitere Ausgestaltung. An letztere knüpft aber das „Arrangement franco-italien du 15 juin 1910 pour la protection des jeunes ouvriers français travaillant en Italie et des jeunes ouvriers italiens travaillant en France“319 wieder an. Darin wird – ausgehend von den in der französischen und italienischen Schutzgesetzgebung in unterschiedlicher Höhe festgesetzten Altersgrenzen – die Bemühung beider Länder um eine einheitliche Regelung bzw. eine internationale Vereinbarung festgeschrieben320. Auch in dem Vertrag zwischen Frankreich und Großbritannien vom 3. 7. 1909321 wird mit der Einbeziehung der Angehörigen der Vertragsstaaten in das jeweilige nationale Arbeiterunfallversicherungssystem primär ein koordinationsrechtliches Problem geregelt. Allerdings wird in Art. 5 bestimmt, dass eine Ratifikation nur 317 Vgl. zu der im Vertrag gefundenen Kompromissformel auch den Kommentar von Pic, Convention, S. 526: „Les négociateurs ont manifesté leur mutuel désir de voir s’atténuer les différences . . . Mais, sur ce point, la diplomatie ne pouvait empiéter sur les prérogatives souveraines du Parlement, et la valeur des engagements pris par les deux gouvernements est subordonnée dans une large mesure aux résolutions futures des Chambres françaises ou italiennes“. 318 Art. 3 des Abkommens. 319 Abgedruckt bei Mahaim, Droit international ouvrier, S. 337 ff. 320 „Les deux gouvernements feront tous leurs efforts pour arriver, par voie de réglementation intérieure, à unifier ces âges dans les deux pays. A cet effet, ils provoqueront, s’il le faut, un accord international comme il est prévu à l’article 3 de la Convention du 15 avril 1904“. 321 Convention signée à Paris, le 3 juillet 1909, entre la France et la Grande-Bretagne, au sujet de la réparation des dommages résultant des accidents du travail, abgedruckt bei Mahaim, Droit international ouvrier, S. 356 ff.
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unter der Bedingung möglich ist, dass die Gesetzgebung im Vereinigten Königreich in bestimmten, im Einzelnen aufgezählten Punkten ergänzt wird. Grundsätzlich aber werden die Frage der Angleichung des Arbeits- und Sozialrechts und die Entwicklung allgemeiner Standards nicht im bilateralen Verhältnis bewältigbar gesehen. Vielmehr wird hier auf multilaterale Vereinbarungen hingearbeitet.
4. Abschluss multilateraler Verträge zur Harmonisierung der nationalen arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen vor dem Ersten Weltkrieg Vor dem Ersten Weltkrieg kommt es zum Abschluss zweier multilateraler Verträge, die wegweisend für die internationale Harmonisierung nationaler Arbeiterschutzgesetze sind. Allerdings betreffen sie im engeren Sinn arbeits- und nicht sozialrechtliche Fragestellungen.
a) Verbot der Verwendung von weißem (gelbem) Phosphor in der Industrie Die erste multilaterale vertragliche Vereinbarung, die auf der Vorarbeit der Internationalen Vereinigung für den gesetzlichen Arbeitnehmerschutz beruht322, betrifft das Verbot der Verwendung von weißem (gelbem) Phosphor in der Streichholzindustrie323. Die arbeitsschutzrechtliche Ausrichtung ist aus dem Wortlaut selbst nicht zu erkennen. Festgelegt wird ein generelles Verbot der Herstellung, der Einfuhr und des Verkaufs von Streichhölzern, die gelben oder weißen Phosphor enthalten. Grund dieser Regelung sind die Gesundheitsgefahren, die mit der Herstellung verbunden sind. Der Abschluss des Vertrags wird ursprünglich als Scheitern interpretiert, da gerade diejenigen Staaten, die auf der Grundlage ihrer eigenen Rechtsregelungen die gesundheitsschädliche Produktion zulassen und durch den Export profitieren – Japan, das Vereinigte Königreich, Schweden, Portugal, Norwegen, Österreich, Ungarn und Belgien – nicht Vertragspartner der Konvention werden324. Allerdings zeigt sich in der Folge, dass die moralische Wirkung des Vertrages größer ist als die juristische. England tritt der Konvention bei, als zu einem Zeitpunkt, zu dem die allgemeine Öffentlichkeit aufgrund des Vertragsschlusses auf internationaler Vgl. ausführlich zu der Konvention Mahaim, Droit international ouvrier, S. 251 ff. Convention internationale sur l’interdiction de l’emploi du phosphore blanc (jaune) dans l’industrie des allumettes, abgedruckt bei Mahaim, Droit international ouvrier, S. 366 ff. 324 Der Vertrag wird ursprünglich zwischen Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Italien geschlossen; vgl. zur Rechtssituation in diesen Ländern Mahaim, Droit international ouvrier, S. 252 ff. 322 323
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Ebene auf die Problematik aufmerksam geworden ist, Arbeiter bei der Produktion erkranken. Diesem Beispiel folgen in kurzer Zeit die wesentlichen Importländer so wie auch die Staaten, in denen Steichholzherstellung mit Phosphor noch einen wichtigen Industriezweig darstellt325. Die erste arbeitsschutzrechtliche Konvention wird zum Erfolg, das Verbot der Verwendung von Phosphor kann sich mehr oder weniger weltweit durchsetzen.
b) Verbot der Nachtarbeit von Frauen in der Industrie Auch der zweite multilaterale Vertrag, der vor dem Ersten Weltkrieg geschlossen wird, betrifft ausschließlich Arbeits- und nicht Sozialrecht, nämlich die Regelung der Nachtarbeit von Frauen in der Industrie. Hintergrund ist, dass zu diesem Zeitpunkt in der großen Mehrzahl von Staaten, die sich als „zivilisiert“ verstehen, eine entsprechende Schutzgesetzgebung in Kraft gesetzt worden ist326, allerdings mit im Detail unterschiedlichen Regelungen und Ausnahmemöglichkeiten. Begründet wird das Verbot im Wesentlichen mit der Notwendigkeit, die Stabilität der Familien zu sichern327. Dass sich die „Geschützten“ damit nicht unbedingt einverstanden erklären, zeigt das Beispiel Schwedens. Dort wird die Konvention von den Regierungsvertretern unterzeichnet; das Projekt scheitert aber im Jahr 1908 bei der Abstimmung im Parlament aufgrund der Initiative verschiedener Frauenorganisationen328. Die Ausführungen der damit befassten parlamentarischen Kommission zeigen eine radikale Kritik an der Sache; sie stellen die von den Regierungsvertretern bei der Ausarbeitung der Konvention vorausgesetzte Einigkeit über bestimmte im Arbeitsrecht auf internationaler Ebene zu verwirklichende Wertvorstellungen in Frage. Insbesondere wird darauf verwiesen, dass die tatsächlich zwischen Männern und Frauen bestehenden physischen Unterschiede für die Nachtarbeit ohne Bedeutung seien, dass auch die Arbeit am Tage die Familie zerstöre, die Frau durch das Verbot der Nachtarbeit auf dem Arbeitsmarkt in eine benachteiligte Position gebracht werde und schlechter bezahlte Heimarbeit leisten müsse329. 325 Vgl. zur Durchsetzung der Regelungen im Jahr 1912, sieben Jahre nach der Ratifikation, in der Mehrzahl der europäischen Länder sowie ihrer Kolonien Mahaim, Droit international ouvrier, S. 259. 326 In einer Studie der Internationalen Vereinigung für den gesetzlichen Arbeitsschutz zur Vorbereitung der Konvention wird ausgeführt, Nachtarbeit sei in Spanien, Japan, den Vereinigten Staaten und Australien nicht verboten; in Belgien, Portugal, Dänemark, Norwegen und Schweden, Ungarn und Luxemburg ab einem bestimmten Alter erlaubt. Insgesamt rechnete man damit, dass etwa 1,3 Millionen Frauen zur Nachtarbeit würden herangezogen werden können; vgl. Mahaim, Droit international ouvrier, S. 264 ff. 327 Vgl. dazu Kapitel A.II.1. 328 1909 stimmt das Parlament nach einer hitzigen Debatte der Ratifikation zu (63 gegen 62 Stimmen in der ersten, 166 gegen 24 Stimmen in der zweiten Kammer). Auf nationaler Ebene tritt das Verbot der Nachtarbeit am 20. 11. 1909 in Kraft. 329 Vgl. dazu im Einzelnen Mahaim, Droit international ouvrier, S. 283 ff.
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Bei dem Projekt geht es nicht um einen grundrechtlich umfassenden Schutz der Frau gegen Nachtarbeit, sondern vielmehr nur um das Verbot der Nachtarbeit in industriellen Betrieben mit mehr als 10 Arbeitern oder Arbeiterinnen. Nachtarbeit in kleineren Betrieben sowie in Familienunternehmen wird nicht untersagt330. Der Gang der Verhandlungen und der Abschluss der Konvention ist insofern von besonderem Interesse, als er zeigt, wie viel Bedeutung einer tatsächlich universellen rechtlichen Bindung in einer grundsätzlich das nationale Recht betreffenden Frage beigemessen wird. So werden besondere Übergangs- und Ausnahmeregelungen ausgehandelt, um auch Belgien, Ungarn und Österreich, die eine Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz bestimmter Industriezweige befürchten, einzubeziehen331. Auch bei der Frage, wann die Konvention in Kraft tritt, bemüht man sich um eine Regelung, die für alle gleichermaßen gilt332. Im Gegensatz zu der späteren, institutionalisierten „Sozialgesetzgebung“ machen bei diesem Vertrag die Partner ihre Zustimmung von der Zustimmung der anderen Staaten, die potentielle wirtschaftliche Konkurrenten sind, abhängig. c) Projekte Im engeren Sinne sozialrechtliche Konventionen werden vor dem Ersten Weltkrieg nicht abgeschlossen. Bei den internationalen Gewerkschaftskonferenzen von Leeds im Jahre 1916 und Bern im Jahre 1917 werden Entschließungen gefasst, die auch die Sozialversicherung einbeziehen. Die Charta von Bern, die auf der internationalen Gewerkschaftskonferenz 1919 verabschiedet wird, enthält eine Vielzahl sozialrechtlicher Forderungen, die die Gleichbehandlung ausländischer und einheimischer Arbeiter, die Wahrung von Ansprüchen auf Entschädigung bei Betriebsunfällen, die Krankenversicherung, die Betriebsunfallversicherung, die Arbeitslosenversicherung und den Schutz von Kindern und Mutterschaft betreffen. Als notwendig erachtet wird auch ein internationales Recht der sozialen Sicherheit der Seeleute333. 5. Systematisierung der Harmonisierungsregelungen im Rahmen der IAO Mit der Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation im Jahr 1919334 wird die Ausarbeitung internationaler Standards im Sozialbereich institutionalisiert. In Vgl. Art. 1 der Konvention. Vgl. die in Art. 8 der Konvention festgelegte Übergangsfrist von 10 Jahren für bestimmte Industriezweige. 332 Vgl. Mahaim, Droit international ouvrier, S. 285 ff. 333 Vgl. dazu Valticos, Droit international du travail, S. 30 ff.; Riegelman, War-Time TradeUnion and Socialist Proposals, S. 55 ff. 334 Vgl. dazu Valticos, Droit international du travail, S. 29 ff. 330 331
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rascher Folge entstehen arbeitsrechtliche Konventionen, die Fragen wie Arbeitszeit335, Mindestalter für die Aufnahme einer Beschäftigung336, Jugend- und Arbeitsschutz337 oder die Festlegung eines Mindestlohns338 regeln. Bereits in der ersten Dekade der Tätigkeit der IAO ist aber auch die Gestaltung von Sozialschutzsystemen Thema internationaler Konventionen. Die internationalen Regelungen übernehmen im Wesentlichen das Muster der nationalen Regelungen; diejenigen Ansätze, die sich in den europäischen Nationalstaaten als besonders effektiv erwiesen haben, werden auf die internationale Ebene transponiert339. Zum Teil sind die Normen aber auch innovativ im Vergleich zu nationalen Regelungen340. In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wird das Modell der Sozialversicherung den internationalen Regelungen zugrunde gelegt, nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund neuerer Ansätze, insbesondere aufgrund des Beveridge-Modells, ein umfassenderes Konzept ausgearbeitet.
335 Konventionen Nr. 1 Hours of Work (Industry) Convention 1919, Nr. 14 Weekly Rest (Industry) Convention 1921, Nr. 30 Hours of Work (Commerce and Offices) Convention 1930, Nr. 31 Hours of Work (Coal Mines) Convention 1931, Forty-Hour Week Convention 1935, Nr. 49 Reduction of Hours of Work (Glass-Bottle Works) Convention 1935, Nr. 51 Reduction of Hours of Work (Public Work) Convention 1936, Nr. 52 Holidays with Pay Convention 1936, Nr. 57 Hours of Work and Manning (Sea) Convention 1936, Nr. 61 Reduction of Hours of Work (Textiles) Convention 1937, Nr. 67 Hours of Work and Rest Periods (Road Transport) Convention 1939. 336 Konventionen Nr. 5 Minimum Age (Industry) Convention 1919, Nr. 7 Minimum Age (Sea) Convention 1920, Nr. 10 Minimum Age (Agriculture) Convention 1921, Nr. 15 Minimum Age (Trimmers and Stokers) Convention 1921, Nr. 33 Minimum Age (Non-Industrial Employment) Convention 1932. 337 Konventionen Nr. 6 Night Work of Young Persons (Industry) Convention 1919, Nr. 13 White Lead (Painting) Convention 1921, Nr. 16 Medical Examination of Young Persons (Sea)Convention 1921, Nr. 28 Protection against Accidents (Dockers) Convention 1929, Nr. 62 Safety Provisions (Building) Convention 1937. 338 Konvention Nr. 26 Minimum Wage-Fixing Machinery Convention 1928. 339 Vgl. Albert Thomas in ILO, First Decade, S. 154: „The regulation of social insurance in the international sphere . . . , based on those principles in national systems which have best stood the test of time, . . . is a synthesis of all the characteristic trends of the insurance movement. It stimulates States to fresh progress and prevents any tendency to slip back. It is the point round which the national movements are co-ordinating their progress slowly or occasionally with rapidity . . .“. 340 Beispielsweise sind nach Konvention Nr. 12 der IAO Schäden zu kompensieren, die bei Arbeitsunfällen entstehen, die sich aufgrund von oder bei der Beschäftigung ereignen („arising out of or in the course of their employment“). In den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen ist dagegen regelmäßig nur entweder letztere oder erstere Form von Arbeitsunfällen erfasst, nicht dagegen beide (vgl. Tamburi, Evolution des assurances sociales, S. 30). Auch die Regelung von Berufskrankheiten – 1925 mit Konvention Nr. 18 – ist innovativ – eine Absicherung im Fall von Berufskrankheiten wurde in Frankreich 1919, in Deutschland und Luxemburg 1925, in Belgien 1927, in den Niederlanden 1928 und in Italien 1929 eingeführt. In der die Konvention zur Krankenversicherung ergänzenden Empfehlung Nr. 29 wird bereits die Notwendigkeit der Prävention angesprochen.
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a) Ausarbeitung eines selektiven Sozialversicherungsansatzes zwischen den Weltkriegen341 Vorrangig wird in den ersten Konventionen der IAO das originär völkerrechtliche Problem der Einbeziehung ausländischer Arbeitnehmer in nationale Sicherungssysteme – ein Teilproblem des Fremdenrechts342 – geregelt343. Aber auch allgemeine Vorgaben zur Struktur von Sozialschutzsystemen werden gemacht. In den ersten Konventionen werden im Falle der Verwirklichung bestimmter Risiken Leistungsansprüche zuerkannt: Müttern während der Mutterschutzzeit 344, Seeleuten bei Arbeitslosigkeit aufgrund eines Schiffbruchs345, Arbeitern bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten346. Der Kreis der zu schützenden Personen wird eng eingegrenzt. Die Regelungen zum Mutterschutz betreffen nur Frauen, die in bestimmten, genau definierten Industriebetrieben arbeiten; bei dem Schutz gegen Arbeitsunfälle werden insbesondere Gelegenheitsarbeiter sowie diejenigen, die nicht körperlich arbeiten und deren Einkommen eine bestimmte Grenze übersteigt, ausgenommen. Fragen der konkreten Ausgestaltung der Systeme, insbesondere Fragen der Höhe der Leistungen und der Finanzierung, bleiben offen. Beispielsweise ist es nach der Konvention Nr. 17 im Fall von Arbeitsunfällen möglich, den Arbeitgeber oder eine Versicherung als Leistungsverpflichteten vorzusehen; allerdings wird vorgeschrieben, dass Regelungen für den Konkursfall zu treffen sind. Im Jahr 1925 erlässt die Internationale Arbeitskonferenz eine Resolution, in deren Präambel sie feststellt, dass die soziale Gerechtigkeit eines effektiven Schutzmechanismus gegen existenzbedrohende Risiken bedürfe und dass das beste Mittel zur Erreichung dieses Zweckes in der Einrichtung von Sozialversicherungen bestünde347. Als besonders vorteilhaft sieht man die Bildung solidarischer Gemeinschaften an, innerhalb derer jeder Einzelne in gleicher Weise für den Schutz vor dem Eintritt bestimmter Risiken verantwortlich ist, die Errichtung autonomer Versicherungsorganisationen, die sich ganz auf Prävention und Leistungen für den Fall des jeweiligen Risikos spezialisieren, die Entstehung konkret definierter 341 Vgl. dazu Otting, Social Security, S. 163 ff.; Tamburi, Evolution des assurances sociales, S. 24 ff. 342 Vgl. dazu Kapitel A.II.2. 343 Vgl. Art. 3 der Konvention Nr. 2 Unemployment Convention (1919) zur Gleichbehandlung ausländischer Arbeitnehmer in nationalen Sicherungssystemen gegen Arbeitslosigkeit, Art. 2 der Konvention Nr. 3 Maternity Protection Convention (1919) zur Gleichbehandlung ausländischer Arbeitnehmerinnen beim Mutterschutz, Art. 1 Konvention Nr. 19 Equality of Treatment (Accident Compensation) Convention (1925) zur Gleichbehandlung ausländischer Arbeitnehmer in Arbeiterunfallsystemen; vgl. dazu S. 168 ff. 344 Art. 3 (c) Konvention Nr. 2 der IAO. 345 Art. 2 Konvention Nr. 8 der IAO. 346 Konvention Nr. 17 und 18 der IAO. 347 Vgl. dazu Tamburi, Evolution des assurances sociales, S. 38, Perrin, Fifty Years of Social Security, S. 3 ff.
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Rechte, die unabhängig von behördlichem Ermessen durchgesetzt werden können, sowie die Finanzierung auf der Grundlage von nach aktuarischen Berechnungen eingezogenen Beiträgen. 1927 wird in den Konventionen Nr. 24 und 25 erstmals der Aufbau eines obligatorischen Versicherungssystems bei Krankheit für Industriearbeiter und Arbeiter in der Landwirtschaft normiert. Auch hier ist der Kreis der schutzbedürftigen Personen eng begrenzt. Zielgruppe sind diejenigen, die in einem gewöhnlichen Beschäftigungsverhältnis stehen. Es erfolgt eine Abgrenzung nach unten und nach oben, so dass weder die Gelegenheitsarbeiter und nichtständig Beschäftigten noch die Besserverdienenden eingeschlossen werden sollen. Es geht um den Schutz der Masse der Bevölkerung, nicht dagegen um Jedermann-Rechte. Die Vorgaben zur Definition des Risikos, zu den Leistungsvoraussetzungen, zu Umfang und Dauer der Leistungen, zu Verwaltung, Rechtsschutz und Finanzierung sind vergleichsweise konkret. Trotz der wirtschaftlichen Krise Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre und der Kritik an der Sozialschutzgesetzgebung von neoliberalen Wirtschaftstheoretikern verfolgt die IAO das Konzept weiter und arbeitet Mitte der 30er Jahre sechs Konventionen zu den Risiken Alter, Invalidität und Hinterbliebenenschaft aus, die auf dem Sozialversicherungskonzept aufbauen. Die Aufspaltung der drei Risiken und die Regulierung in verschiedenen Rechtsakten erscheint aufgrund der Besonderheiten der bestehenden nationalen Gesetzgebungen notwendig; konzeptionell werden die Versicherungen aber, wie die Empfehlung Nr. 43 (Invalidity, Old-Age and Survivors‘ Insurance Recommendation) zeigt, zusammengefasst. Die Konstruktion des in diesen internationalen Normen vorgegebenen Modells baut konsequent auf dem Versicherungsgedanken auf. Konvention Nr. 44, die das Risiko Arbeitslosigkeit betrifft, verfolgt dagegen ein offenes Konzept, indem obligatorische und freiwillige Versicherung, eine Kombination von beidem und eine Ergänzung durch ein System von Unterstützungsleistungen parallel nebeneinander vorgesehen werden. Im Gegensatz zu der von vielen Institutionen vorangetriebenen Rechtsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg ist es in den 20er und 30er Jahren ausschließlich die IAO, die weltweit geltende Sozialstandards kodifiziert; es gibt keine Überschneidungen mit parallel ausgearbeiteten Standards anderer internationaler Organisationen. Da die Konventionen zwischenzeitlich zwar revidiert, aber nicht aufgehoben worden sind, stehen sie nunmehr aber neben Konventionen aus jüngerer Zeit und materialisieren einen nicht mehr aktuellen Rechtsstand. Das auf eine versicherungsrechtliche Absicherung gegen bestimmte Risiken eines bestimmten Teils der Arbeiterschaft, die in bestimmten Teilen der Wirtschaft tätig ist, gerichtete Modell wird in seinen Begrenzungen ratione personae und ratione materiae, aber auch in seiner einseitigen Ausrichtung auf Versicherungslösungen als nicht mehr zeit-
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gemäß verstanden348. Dies wurde bei der Überarbeitung des Normenbestandes der IAO in den 90er Jahren zwar als Problem erkannt. Da die Internationale Arbeitskonferenz aber nicht die Kompetenz hat, Konventionen, die in Kraft getreten sind und in den Staaten, die sie ratifiziert haben, geltendes Recht darstellen, aufzuheben, und eine Verfassungsänderung, die der Internationalen Arbeitskonferenz diese Kompetenz übertragen würde, noch nicht von einer ausreichenden Zahl von Mitgliedstaaten ratifiziert worden ist349, hat der Verwaltungsrat die Entscheidung getroffen, die fraglichen Konventionen „auszurangieren“ (to shelve). Das bedeutet, dass die Ratifikation mittlerweile nicht mehr empfohlen und die Form der Publikation der Konventionen geändert wird. Ausführliche Berichte zu den Konventionen werden nicht mehr regelmäßig angefordert. Allerdings sind die Beschwerde- und Klageverfahren nach Art. 24 und 26 der Verfassung der IAO weiterhin möglich. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen können nach wie vor im Kontrollverfahren spezielle Bemerkungen machen. Auch hat das „shelving“ keinen Einfluss auf die Stellung der Konventionen in den Rechtssystemen der Staaten, die sie ratifiziert haben350. Somit haben diese sozialversicherungsrechtlichen Konventionen eine eingeschränkte rechtliche Geltung351. – Dieser halbe Schritt des Verwaltungsrats zu einer Bereinigung des Normenbestandes ist allerdings sehr problematisch, da Recht und Praxis der Staaten, die die Konventionen aus den 30er Jahren ratifiziert haben, nach wie vor an Normen gemessen werden, die im Widerspruch zu neueren Konzeptionen stehen352. Im Bereich des internationalen Rentenversicherungsrechts hat dieser Rechtszustand, den man als „hinkend“ bezeichnen könnte, eine besondere politische Bedeutung. Im Gegensatz zur IAO vertritt die Weltbank für die Rentenversicherung das so genannte Drei-Säulen-Konzept, das auf einer Kombination von obligatorischer Grundrente, betrieblicher Zusatzrente und – ergänzend – privaten Ersparnissen aufbaut; die Finanzierung beruht im Wesentlichen auf der Kapitalbildung und nur in eingeschränktem Umfang auf der Umverteilung353. Als erstes Land hat Chile dieses System im Jahr 1980 eingeführt354, eine Mehrzahl anderer lateinVgl. dazu Laroque, Sécurité Sociale, S. 131. Bisher haben die Verfassungsänderung 79 von 177 Mitgliedstaaten, davon sechs von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung (China, Frankreich. Indien, Italien, Japan und Großbritannien), ratifiziert (Stand Juni 2004). Erforderlich sind aber für das Inkrafttreten der Verfassungsänderung nach Art. 36 der Verfassung der IAO zwei Drittel der Mitgliedstaaten und dabei fünf der zehn Staaten von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung. 350 Vgl. GB.279 / LILS / WP / PRS / 5 279. Session, Genf 2000, S. 12, 13. 351 Gegenwärtig ist geplant, fünf der „ausrangierten“ Konventionen aufzuheben: die Konventionen Nr. 67 (Hours of work), Nr. 28 (Occupational Safety and Health), Nr. 15 und 60 (Mindestbeschäftigungsalter), Nr. 91 (Seefahrer). Das bedeutet, dass die sozialversicherungsrechtlichen Konventionen nicht darunter fallen. 352 Vgl. dazu S. 331 ff. 353 Vgl. das grundlegende Dokument der Weltbank, Averting the Old Age Crisis. Policies to Protect the Old and Promote Growth, Washington D.C., 1994. 354 Vgl. Legislative Decree No. 3500 von 1980. 348 349
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amerikanischer Länder ist dem Beispiel gefolgt. Da aber Chile keine der aktuellen Konventionen sozialer Sicherheit, wohl aber die Konventionen Nr. 35, 36, 37 und 38 ratifiziert hat, erfolgte eine Auseinandersetzung des Sachverständigenausschusses der IAO mit diesen Rechtspositionen in den Jahren von 1983 bis 1999 im Wesentlichen im Rahmen des Kontrollverfahrens zu den veralteten Konventionen355. Dieses Beispiel zeigt, wie auch noch bereits als veraltet angesehene Standards als Maßstäbe in aktuellen Auseinandersetzungen eingesetzt werden. Die Koexistenz von Normen aus verschiedenen Reformperioden kann im Einzelnen zu diffizilen Anwendungsproblemen führen356.
b) Ausarbeitung eines Ansatzes zur umfassenden Gewährleistung sozialer Sicherheit nach dem Zweiten Weltkrieg Wie dargestellt hat die IAO bereits während des Zweiten Weltkriegs, inspiriert durch den 1942 veröffentlichten Bericht „Social insurance and allied services“ von William Beveridge sowie auch durch die in der Atlantikcharta verankerte Forderung nach Freiheit von Furcht und Not, ein neues Konzept für eine internationale Sozialpolitik ausgearbeitet: Ziele sind Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und Anhebung des Lebensstandards357. Die Empfehlungen der IAO Nr. 67 (Income Security Recommendation) und Nr. 69 (Medical Care Recommendation) aus dem Jahr 1944358 propagieren – im Gegensatz zu den Konventionen aus den 30er Jahren – einen umfassenden, an den Grundrechten orientierten Ansatz zur existentiellen Absicherung jedes Einzelnen durch den Staat. Sozialversicherung und Sozialhilfe werden als Einheit gesehen, erfasst wird nicht ein Teil der Arbeiterschaft, sondern die gesamte arbeitende Bevölkerung. In der wissenschaftlichen Literatur hat sich eingebürgert, den „social insurance approach“ der Zwischenkriegszeit dem „social security approach“ der Nachkriegszeit gegenüberzustellen359; zugleich wird auch von Standards der ersten und zweiten Generation gesprochen360. Den Übergang markiert der „Inter-American Social Insurance Code“ auf der Grundlage der Deklarationen von Santiago und Havanna361. Allerdings wird der menschenrechtliche Ansatz, der in den Empfehlungen der Zwischenkriegszeit aufscheint, nach dem Krieg nicht in internationalen Vgl. dazu ausführlich S. 331 ff. Vgl. dazu Kapitel D.II.2. 357 Vgl. dazu auch die Empfehlungen der IAO an die Vereinten Nationen von 1944: ILO, Recommendations to the United Nations for Present and Post-War Social Policy, Montreal 1944. 358 Vgl. dazu S. 59 ff. 359 Vgl. Otting, Social Security, S. 163 ff.; Parrott, Social security, S. 367 ff.; Perrin, Fifty years of social security, S. 3 ff. 360 Vgl. Humblet / Silva, Social Security, S. 4. 361 Abgedruckt ILO, International Labour Code, S. 664 ff. 355 356
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
Konventionen kodifiziert. Vielmehr stehen die sozialrechtlichen Konventionen der 50er und 60er Jahre trotz aller Modifikationen in der Tradition der Arbeiterschutzgesetzgebung. Es geht um die Gestaltung des Gesamtsystems, nicht um die Rechte des Einzelnen. Neu ist, dass die IAO mit der normativen Umsetzung des Konzepts eines sozialen Schutzes nun nicht mehr allein ist, sondern dass ihre Normsetzungsaktivitäten parallel zur Entwicklung des Menschenrechtsschutzes verlaufen.
aa) Konvention Nr. 102 der IAO als Grundlagenregelung Grundlegend ist Konvention Nr. 102 aus dem Jahr 1952362, in die alle sozialen Risiken, die einer staatlichen Absicherung als bedürftig angesehen werden, aufgenommen sind: Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, Mutterschaft, Invalidität, Hinterbliebenenschaft; vorgesehen werden daneben auch Familienleistungen. Die Definitionen der Risiken differieren von den in der Empfehlung von 1944 enthaltenen Vorgaben. Beispielsweise wird das Risiko der Arbeitslosigkeit nicht erst dann als verwirklicht angesehen, wenn jemand überhaupt keine Beschäftigung, sondern bereits dann, wenn er keine für ihn passende Beschäftigung finden kann. Hinterbliebenenleistungen werden nicht geschlechtsneutral, sondern nur für Witwen und Kinder gewährt. Das Risiko „Alter“ stellt nicht eine typisierte Form der Invalidität dar. Vielmehr wird schematisch auf das Leben nach einer bestimmten Altersgrenze abgestellt. Die in der Empfehlung enthaltene Forderung nach einer Sicherung aller wird nicht eingelöst; Laroque spricht von einer „timidité relative“, auch wenn diese dennoch einen Neuanfang bedeutet363. Vorgesehen wird nur jeweils eine prozentuale Absicherung eines Teils der Bevölkerung, wobei, entsprechend der Vielfalt der nationalen Systeme, Bezugspunkt die Wohnbevölkerung, die abhängig Beschäftigten oder die Erwerbstätigen sein können. Die Prozentzahl der zu Sichernden schwankt zwischen 20 und 50%. Für die Berechnung der Höhe der Leistungen wird ein Modell-Leistungsempfänger konstruiert: ein gelernter Arbeiter, männlich, verheiratet, zwei Kinder. Die in den einzigen Risikofällen zu zahlenden Lohnersatzleistungen werden als Prozentsatz des vor Eintritt des Risikos erzielten Einkommens definiert364 oder als „flat-rate“ fest362 Vgl. dazu Perrin, Fifty years of social security, S. 22 ff.; Lörcher, Mindestnormen, S. 454; Valticos, Droit international de travail, S. 391 ff.; Humblet / Silva, Social security, S. 7 ff. 363 „La formule ainsi adoptée, malgré sa timidité relative, n’en consacre pas moins une transformation profonde dans la législation internationale de la sécurité sociale, en introduisant l’idée entièrement nouvelle d’un niveau général de sécurité sociale que doivent atteindre les États membres et qui exprime le degré de développement économique et social de ces États“ (Laroque, Sécurité Sociale, S. 131). 364 Vgl. Art. 66 der Konvention Nr. 102. Gefordert wird je nach Risiko eine Ersatzquote von 40 – 50 % des Lohnes inklusive der Familienzulagen („at least the percentage indicated
II. Internationale Regelungen zur Harmonisierung von Sozialschutzsystemen
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gelegt365. Ob die aufgrund dieser Bestimmungen gewährten Leistungen das Existenzminimum tatsächlich abdecken, bleibt dabei unberücksichtigt. Dies erscheint als besonders problematisch, da damit die Situation entstehen kann, dass ein Staat sich darauf berufen kann, die internationalen Standards einzuhalten, obwohl die Grundbedürfnisse der vom Sicherungssystem Erfassten nicht gedeckt werden. In Art. 69 der Konvention Nr. 102 wird bestimmt, unter welchen Voraussetzungen die Leistungen suspendiert werden können. Dabei geht es vor allem um verschiedene Formen des Mitverschuldens bei Schadensentstehung bzw. Schadensminderung und um die Vermeidung von Mehrfachsicherung. Von politisch großer Bedeutung ist Art. 69 (i) Konvention Nr. 102 zur Suspendierung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit als Folge von Arbeitsniederlegungen und Art. 69 (a) Konvention Nr. 102 zur Suspendierung von Leistungen bei Aufenthalt im Ausland. Insbesondere letztere Bestimmung steht allerdings im Widerspruch zu dem Verständnis sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche als Eigentum, das auf der Grundlage der EMRK als internationaler Standard durchgesetzt wird366.
bb) Spezialregelungen zu einzelnen Risiken Konvention Nr. 102 überschneidet sich teilweise mit Konvention Nr. 103 zum Mutterschutz367. Regelungenzu den Leistungen während des Arbeitsverbots aufgrund von Mutterschutz finden sich konkurrierend aber nicht nur in diesen beiden Konventionen, sondern auch noch in der Konvention Nr. 3 aus dem Jahr 1919368 und der Konvention Nr. 183 aus dem Jahr 2000369; diese ist als Revision von Konvention Nr. 103 gedacht370. Thematische Überschneidungen ergeben sich zusätzlich mit Konvention Nr. 156 (Workers with Family Responsibilities Convention) therein of the total wage of an ordinary adult male labourer and of the amount of any family allowances payable to a person protected with the same family responsibilities as the standard beneficiary“). Nach dem Wortlaut ist allerdings nicht klar, ob sich die Ersatzquote auf den Brutto- oder Nettolohn bezieht. 365 Vgl. Art. 67 Konvention Nr. 102. Die gezahlte Leistung muss ausreichend sein, um den Leistungsempfänger und seine Familie „in Gesundheit und Anstand zu erhalten“, wobei als Orientierungspunkt wiederum die Ersatzquote für den Standard-Leistungsempfänger herangezogen wird. 366 Vgl. dazu S. 356 ff. 367 Konvention Nr. 103: Convention concerning Maternity Protection (Revised 1952) vom 28. 8. 1952; zu der Überschneidung und zu dem unterschiedlichen Ansatz der beiden Konventionen vgl. Humblet / Silva, Social Security, S. 33 ff. 368 Konvention Nr. 3: Convention concerning the Employment of Women before and after Childbirth vom 28. 11. 1919. 369 Konvention Nr. 183: Convention concerning the revision of the Maternity Protection Convention (Revised) vom 15. 6. 2000, in Kraft seit 7. 2. 2002. 370 In der Literatur werden diese Spezialregelungen, die Konvention Nr. 102 nachfolgen, als „Standards der dritten Generation“ angesprochen, vgl. Humblet / Silva, Social Security, S. 4.
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aus dem Jahr 1981371 sowie mit mehreren Empfehlungen372. Diese Regelungen konkurrieren mit den Regelungen in den Menschenrechtspakten373. In den spezifisch sozialrechtlichen Konventionen wird allerdings nicht wie in den menschenrechtlichen Regelungen jede Frau, für die aufgrund der Mutterschutzfristen Einkommen entfällt, geschützt; vielmehr wird der Kreis der geschützten Frauen im Hinblick auf das Tätigkeitsfeld des Unternehmens eingegrenzt374. In Konvention Nr. 183 aus dem Jahr 2000 wird zwar ein umfassender Schutz zumindest der abhängig Beschäftigten, nicht aber der Selbständigen, anvisiert; Ausschlussmöglichkeiten sind aber auch hier möglich375. In all diesen Normen werden Lohnersatzleistungen für den Fall der Mutterschaft vorgesehen, die aufgrund einer obligatorischen Sozialversicherung376 oder aus öffentlichen Fonds, nicht aber vom Arbeitgeber gewährt werden sollen. Die Ausnahmen nach Art. 6 Nr. 8 Konvention Nr. 183 höhlen diese Regelung aber wiederum aus, da ein Konventionsstaat seine nationalen Gesetze nicht ändern muss, wenn vor der Ratifikation eine andere Lösung vorgesehen wird; auch nach der Ratifikation kann in Absprache mit den Sozialpartnern eine andere Lösung gefunden werden. Dieser Kompromiss ist bedauerlich, da alle vom Arbeitgeber finanzierten Systeme de facto die Gefahr einer Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt mit sich bringen377; insoweit ist die Regelung auch unstimmig, da im Übrigen dem Diskriminierungsaspekt ein besonderes Gewicht zukommt378. Nach Konvention Nr. 103 war eine Finanzierung der Lohnersatzleistun371 Konvention Nr. 156: Convention concerning Equal Opportunities and Equal Treatment for Men and Women Workers: Workers with Family Responsibilities vom 23. 6. 1981, in Kraft seit 11. 8. 1981. 372 Empfehlung Nr. 95: Maternity Protection Recommendation 1952, Empfehlung Nr. 191: Maternity Protection Recommendation 2000. 373 Vgl. dazu S. 66 ff. 374 Vgl. Art. 3 Konvention Nr. 3 (Schutz der Frauen in Industrie- und Handelsbetrieben); Art. 1 Konvention Nr. 103 (Schutz der Frauen in Industrieunternehmen und Nicht-Industrieunternehmen sowie in landwirtschaftlichen Betrieben einschließlich der Lohnarbeiterinnen, die zuhause arbeiten). 375 Vgl. Art. 2 der Konvention Nr. 103 (Schutz aller abhängig beschäftigten Frauen, einschließlich derer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen; Möglichkeit, einzelne Kategorien auszuschließen, wenn deren Sicherung zu substantiellen Problemen führen würde). 376 In diesem Punkt unterscheidet sich die frühe Konvention Nr. 3 von Konvention Nr. 102, Konvention Nr. 103 und Konvention Nr. 183 – in Konvention Nr. 3 ist eine allgemeine Versicherungs-, keine spezielle Sozialversicherungslösung vorgesehen. 377 Vgl. zu diesem Problem auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. 11. 2003, in der die Regelung, nach der die Ersatzleistung bei Mutterschaft zumindest teilweise vom Arbeitgeber zu zahlen ist, auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft und in der gegenwärtigen Ausgestaltung für verfassungswidrig befunden wurde (vgl. BVerfG E 109, 64 ff.). Das Bundesverfassungsgericht verweist in der Entscheidung auf Konvention Nr. 103 der IAO, nicht aber auf die neuere Konvention Nr. 183, obwohl die Bundesrepublik weder die eine noch die andere Konvention ratifiziert hat. 378 Vgl. die Präambel sowie Art. 9 der Konvention Nr. 183 (Erforderlichkeit von Maßnahmen gegen Diskriminierung; grundsätzliches Verbot von Schwangerschaftstests bei Einstellungen).
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gen durch den Arbeitgeber noch möglich gewesen; allerdings war vorgesehen, dass die entsprechenden Versicherungsbeiträge für männliche und weibliche Mitarbeiter gleichermaßen zu zahlen wären, um einer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt vorzubeugen379. Die neue Regelung ist insofern nicht als Fortschritt einzustufen. Im Übrigen variiert die Ausgestaltung zwischen den Regelungen aus den verschiedenen Epochen in Details. Wichtig ist, dass in der jüngsten Regelung aus dem Jahr 2000 den wirtschaftlich schwächeren Staaten mehr Wahlmöglichkeiten eingeräumt werden380 – wie in der Präambel betont, soll damit der unterschiedlichen Entwicklung der Mitgliedstaaten stärker Rechnung getragen werden. Den in der Konvention Nr. 102 zusammengefassten Regelungen zu Alter, Invalidität, Krankheit, Hinterbliebenenschaft und Arbeitsunfall werden in den 60er Jahren drei Konventionen gewidmet, die ein jeweils höheres Niveau des Sozialschutzes – im Hinblick auf den Kreis der von der Sicherung erfassten Personen381 sowie im Hinblick auf das Leistungsniveau382 – vorsehen: Konvention Nr. 121 (Employment Injury Benefits Convention) 1964, Konvention Nr. 128 (Invalidity, Old-Age and Survivors‘ Benefits Convention) 1969 und Konvention Nr. 130 (Medical Care and Sickness Benefits Convention) 1969. Die Grundkonzeption von sozialer Sicherheit ändert sich aber nicht. Noch immer wird ein auf dem Element der Versicherung und der Umverteilung im Rahmen bestimmter Gruppen der Gesellschaft, die als schutzbedürftig verstanden werden383, aufgebautes System vorausgesetzt; noch immer sind Prämissen die Erreichbarkeit von Vollbeschäftigung, ausgeglichene demographische Daten und die Dominanz der Industriearbeit wie im 19. Jahrhundert. Intendiert wird nicht eine Lebensstandard-, sondern eine Mindestsicherung, auch wenn die Höhe der Leistungen tendenziell bereits eine Lebensstandardsicherung bedeutet384.
Vgl. Art. 4 Abs. 7 der Konvention Nr. 183. Vgl. Art. 7 der Konvention Nr. 183, nach dem eine Ersatzquote von 2 / 3 des früheren Lohnes nicht in jedem Fall erreicht werden muss. 381 Der Regelungsansatz mit der Vorgabe von drei Modellen, um den Personenkreis abzugrenzen (Arbeitnehmer, erwerbstätige Bevölkerung, Einwohner), bleibt gleich. Es ändern sich nur die Prozentsätze derer, die erfasst werden sollen; vgl. die Zusammenstellung der einzelnen Änderungen zu den verschiedenen Risiken bei Humblet / Silva, Social Security, S. 17 ff. 382 Vgl. z. B. den Einschluss von zahnmedizinischen Leistungen und medizinischer Rehabilitation bei der Krankenversicherung, die Erhöhung des Krankengeldes von 45 auf 60 % des Referenzlohns, die Erhöhung der Lohnersatzleistungen bei Alter von 40 auf 45 %, bei Arbeitsunfällen von 50 auf 60 %, bei Invalidität von 40 auf 50 % und bei Hinterbliebenen von 40 auf 50 %; vgl. dazu im Einzelnen die tabellarische Zusammenstellung bei Humblet / Silva, Social Security, S. 48 ff. 383 Explizit wird die Möglichkeit des Ausschlusses der Besserverdienenden nur in den frühen Konventionen vorgesehen (vgl. S. 215 FN 142). Implizit wird der Aspekt, dass die Umverteilung nur die potentiell Bedürftigen erfassen soll, aber aus der Klausel zur Abgrenzung der in das System einzuschließenden Einwohner deutlich, da es hier heißt, es sollten alle Einwohner eingeschlossen werden, deren Mittel während des Notfalls bestimmte Grenzen nicht überschreiten. 379 380
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In dieser Zeit entfaltet die Kodifizierung von Standards eine gewisse Eigendynamik. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Standards unverzichtbar für eine Fortentwicklung sozialer Sicherungssysteme auf nationaler Ebene sind, wird nicht geführt; vielmehr wird dies als gegeben vorausgesetzt. Nach dieser Blütezeit des internationalen harmonisierenden Sozialrechts bilden dann sozialrechtliche Fragen385 mit Ausnahme von Spezialvorschriften für bestimmte Berufsgruppen386 über viele Jahre hinweg keinen Gegenstand internationaler Übereinkommen der IAO mehr387. Eine Ausnahme bildet lediglich das Risiko der Arbeitslosigkeit, zu dem 1988 mit der „Employment Promotion and Protection against Unemployment Convention“ (Konvention Nr. 168) eine neue Regelung ausgearbeitet wird. Diese weicht sowohl bei der Definition des Risikos388 als auch bei der Bestimmung des erfassten Personenkreises389 und der Leistungen390 von den in Konvention Nr. 102 enthaltenen Vorgaben ab. Neben den sozialversicherungsrechtlichen Regelungen werden hier auch Methoden zur Arbeitsförderung insbesondere benachteiligter Gruppen der Bevölkerung aufgelistet; der Ansatz ist somit umfassender als in Konvention Nr. 102. Im Jahr 2001 wird auf der Internationalen Arbeitskonferenz eine umfassende Diskussion über internationalen Sozialschutz geführt. Aber auch hier wird die Ausarbeitung neuer Konventionen gerade nicht in Aussicht gestellt. Obwohl soziale Sicherheit als grundlegendes Menschenrecht und bedeutendes Mittel, um sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu schaffen, angesehen wird, ist eine Skepsis gegenüber internationalen normativen Vorgaben evident, eine Skepsis, die in den 50er und 60er Jahren gerade nicht anzutreffen war. Diese Haltung wird auf die Einsicht gestützt, dass es nicht ein richtiges Modell von sozialer Sicherheit gebe, sondern sich derartige Systeme aufgrund der jeweiligen historischen Bedingungen in den verschiedenen Ländern unterschiedlich entwickelten. Selbstverständlich war man auch 1952 von einer Pluralität der Systeme – insbesondere im Hinblick auf die Unterschiede zwischen dem „Beveridge- und dem Bismarck-Modell“ – 384 Vgl. dazu auch Konvention Nr. 117 (Convention concerning Basic Aims and Social Policy) vom 22. 06. 1962, in Kraft seit 23. 04. 1964, die viele der in anderen Spezialkonventionen enthaltenen Regelungen wiederholt. 385 Dies gilt nicht für die sozialrechtliche Behandlung von Wanderarbeitern. 386 Vgl. Konvention Nr. 165 (Social Security (Seafarers) Convention (Revised)), 1987. 387 Zur zukünftigen Entwicklung vgl. von Maydell, Internationale Arbeitsorganisation, S. 611 ff.; von Maydell, Sozialrecht in der Normsetzung der IAO, S. 47 ff.; von Maydell, Perspectives, S. 501 ff. 388 Als zusätzliche Voraussetzung für Arbeitslosigkeit wird gefordert, dass der Betroffene tatsächlich Arbeit sucht. Außerdem wird Kurzarbeit („temporary reduction in the normal or statutory hours of work“) und vorübergehende Unterbrechung der Arbeit („suspension or reduction of earning due to a temporary suspension of work“) mit einbezogen. 389 Zu sichern sind 85 statt 50 % der Arbeitnehmer, wobei auch die Staatsbediensteten und die Lehrlinge mit einbezogen werden. 390 Abzudecken sind 50 statt 45 % des vorherigen Einkommens; allerdings können Eigenmittel bei der Berechnung der Leistungen berücksichtigt werden.
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ausgegangen, wie die verschiedenen Alternativen bei den einzelnen Bestimmungen in Konvention Nr. 102 der IAO zeigen. Allerdings ließ sich damals noch ein gemeinsamer Nenner finden. Zu Grundfragen wie Finanzierung und Organisation waren noch gemeinsame Antworten möglich. Hier ändern sich die Prämissen bei der Diskussion 2001, wohl vor allem deshalb, weil die wirtschaftliche Bedeutung des Sozialschutzsystems unterschiedlich gewichtet und daraus auch unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden. Die Formulierung von Grundprinzipien, die in allen Systemen Beachtung finden sollten, ist äußerst vage und vorsichtig: „All Systems should conform to certain basic principles. In particular, benefits should be secure and non-discriminatory; schemes should be managed in a sound and transparent manner, with administrative costs as low as practicable and a strong role for the social partners. Public confidence in social security systems is a key factor for their success. For confidence to exist, good governance is essential“391.
Dass sich hinter derart offenen Kompromissformeln, die mehr die Ziele als die Methode betreffen, grundlegende Meinungsverschiedenheiten über die Konzeption „soziale Sicherheit“ verbergen, ist offensichtlich. Die besonders strittigen Punkte, die Frage, ob eine Sicherung auf ein Umverteilungs- oder Kapitalbildungssystem gestützt werden soll, sowie die Rolle des Staates machen dies deutlich. So wird ausgeführt, dass in Umverteilungssystemen die Risiken kollektiv, in Kapitalbildungssystemen dagegen durch den Einzelnen getragen werden. Auch letzteres wird explizit als Option bezeichnet, die allerdings auf Solidarität basierende Systeme nicht schwächen dürfe. In diesem Zusammenhang wird auch zwischen Grundsicherungs- und Zusatzsystemen unterschieden. Sicherungssysteme, die auf die spezielle Leistungsfähigkeit einzelner Gruppen der Bevölkerung zugeschnitten sind, werden als mögliche Ergänzung, nicht aber als Ersatz für Systeme, die die ganze Bevölkerung erfassen, betrachtet. Die Rolle des Staates wird darin gesehen, ein effektives Regelwerk sowie Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismen zu schaffen. Im Übrigen wird betont, dass soziale Sicherungssysteme zwar ein wirtschaftlicher Kostenfaktor, zugleich aber auch eine Zukunftsinvestition sind – ein Gedanke, der in der Diskussion über Sozialschutzgesetzgebung seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert immer wieder hervorgehoben worden ist392. Ein neuer Aspekt in der Resolution ist, dass die Sicherung derer, die von den bestehenden Systemen nicht erfasst werden, nämlich der Arbeitnehmer in Kleinstunternehmen, der Selbstständigen, der Wanderarbeitnehmer und derjenigen, die im informellen Sektor der Wirtschaft tätig sind, angemahnt wird. Für sie werden Alternativmodelle wie etwa eine Mikroversicherung diskutiert. Der Tenor der Resolution, der als Dokument einer auf internationaler Ebene geführten Diskussion über die Zukunft sozialer Sicherungssysteme wegweisende Bedeutung für das 21. Jahrhundert zukommt, ist somit, die Zeit sei nicht (mehr) 391 Punkt 4 der Resolution Concerning Social Security (ILC89-PR16-312-En.Doc), abgedruckt ILO, New consensus, S. 1 ff. 392 Vgl. dazu Kapitel A.II.2.
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reif für internationale Normsetzung. Auf internationaler Ebene können nur Orientierungspunkte vorgegeben werden: „It is for each society to determine the appropriate mix of schemes, taking account of the conclusions of this general discussion and relevant ILO social security standards.“
Damit wird im Grunde die Unmöglichkeit der Festlegung neuer Sozialstandards auf internationaler Ebene eingestanden, zugleich aber an den bestehenden Standards festgehalten.
6. Übernahme und Erweiterung der Regelungen der IAO durch den Europarat393 Die von der IAO geschaffenen Normen zur Sozialen Sicherheit konkurrieren nicht nur mit dem menschenrechtlichen Ansatz. Wiederholungen, zum Teil wortgleich, finden sich zudem auch auf regionaler Ebene.
a) Die Europäische Ordnung für Soziale Sicherheit Im Jahr 1964 arbeitet der Europarat – unterstützt von der IAO – mit der Europäischen Ordnung für Soziale Sicherheit (European Code of Social Security) ein eigenes Set von Bestimmungen zur Sozialen Sicherheit aus, das, wie auch im Bereich des Menschenrechtsschutzes, den höheren Standard innerhalb einer homogenen Staatengemeinschaft reflektieren soll394. Aber wie auch der Vergleich regionaler und universeller Standards im Bereich des Menschenrechtsschutzes zeigt395, ist auch hier der Befund „höherer Standard“ nicht eindeutig. Zwar sind die Möglichkeiten der Staaten, die Geltung einzelner Teile der EOSS abzubedingen, eingeschränkt, so dass die Ratifikationen eine umfassendere Akzeptanz der Standards als rechtlich verbindliche Normen implizieren396. Andererseits enthält aber Konvention Nr. 102 der IAO eine – nicht abdingbare – Bestimmung, die die Ansprüche von ausländischen Arbeitnehmern festlegt und als Regelung eines genuin internationalen Problems von besonderer Bedeutung ist397; eine entsprechende Regelung fehlt in der EOSS. Im Übrigen sind die inhaltlichen Unterschiede zwischen Konvention Nr. 102 und EOSS minimal; einzelne Bestimmungen weichen im Wortlaut geringfügig voneinander ab. Allerdings gibt es verschiedene strukturelle Unterschiede. Beispielsweise ist die EOSS im Gegensatz zu Konvention Nr. 102 auch Vgl. dazu Villars, Social Security, S. 343 ff.; Greber, Principes fondamentaux, S. 66 ff. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der EOSS ausführlich Council of Europe, European Code of Social Security, S. 9 ff.; allgemein zur EOSS vgl. Berenstein, Instruments de sécurité sociale, S. 1 ff. 395 Vgl. S. 79 ff. (EMRK – ICCPR); S. 83 ff. (ESC – ICESCR). 396 Vgl. zur Problematik des Wahlrechts vgl. S. 204 ff. 397 Vgl. dazu S. 168 ff. 393 394
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auf Seeleute und Fischer anwendbar. Wichtiger noch ist, dass bei der Normüberwachung im Rahmen der IAO aufgrund des Tripartismus auch die Gewerkschaften398 in den politischen Teil des Kontrollverfahrens399 einbezogen sind. b) Protokoll zur Europäischen Ordnung für Soziale Sicherheit Die Notwendigkeit, auf regionaler Ebene wortgleiche Regelungen zu den Konventionen der IAO auszuarbeiten, ist nicht unmittelbar einsichtig. Die EOSS ist so nur im Zusammenhang mit dem zeitgleich ausgearbeiteten Protokoll zu verstehen, das im Einzelnen materiell-rechtlich höhere Standards definiert und damit das Postulat einer enger miteinander verbundenen Gemeinschaft auch im Sozialbereich normativ absichert. Protokoll und EOSS sind zusammen als ein Komplex von Mindeststandard und Orientierungspunkt zu verstehen, als Doppelmodell, an dem das jeweils gegenwärtige Sozialsystem zu messen und das zukünftige Sozialsystem auszurichten ist. Die Standards in dem Protokoll zur EOSS bezwecken eine umfassendere Sicherung als die Standards der Konvention Nr. 102 – von den Staaten wird gefordert, den personellen Geltungsbereich der einzelnen Schutzsysteme weiter auszudehnen und auch höhere Leistungen zu gewähren. Allerdings wird dieses Ergebnis, vergleicht man nun nicht die aus den 50er Jahren stammende Konvention Nr. 102, sondern die in den 60er Jahren ausgearbeiteten Konventionen Nr. 121, 128 und 130 der IAO mit dem Protokoll von 1964, wieder in Frage gestellt. Da regionale und universelle Standards uneinheitlich sind400, ist eine pauschale Wertung nach dem Kriterium der „Günstigkeit“ oder „Fortschrittlichkeit“ oder der „Höhe der Standards“ nicht möglich. c) Revidierte Europäische Ordnung für Soziale Sicherheit Die in der EOSS sowie in dem Zusatzprotokoll niedergelegten Standards werden denn auch im europäischen Kontext nicht für ausreichend eingeschätzt; zudem erachtet man eine Überarbeitung aufgrund der geänderten wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen für unvermeidbar401. Bereits 1973 stellt das Experten398 Nach dem Sachverständigenausschuss befasst sich der triparitär zusammengesetzte Konferenzausschuss über die Anwendung der Konventionen und Empfehlungen mit den Kritikpunkten und entscheidet über die Konsequenzen der Verstöße; vgl. zur Mitwirkung der Gewerkschaften beim Kontrollverfahren Wisskirchen, Normensetzende und normenüberwachende Tätigkeit, S. 691 ff., insbesondere S. 708 ff. und 717 ff. 399 Vgl. dazu Kapitel C.II.2. 400 Zwar werden in dem Protokoll zur Europäischen Ordnung für Soziale Sicherheit im Einzelnen ein weitergehender Schutzumfang und höhere Leistungen gefordert als in den IAO-Konventionen; allerdings wird es den Staaten auf der anderen Seite in weiterem Umfang ermöglicht, von den Vorgaben abzuweichen; vgl. dazu Laroque, Social security, S. 347. 401 Vgl. Berenstein, Code européen de sécurité sociale, S. 15 ff., der auf die wirtschaftlichen Krisen in den 70er Jahren, die Verringerung des wirtschaftlichen Wachstums, die hohe
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komitee des Europarats im Bereich der Sozialversicherung einen Regelungsbedarf fest; mit der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung Nr. 873 aus dem Jahr 1979 wird der Prozess der Revision eingeleitet und eine neue Konvention mit Hilfe der IAO in zehnjähriger Arbeit vorbereitet; im November 1990 wird sie zur Unterzeichnung aufgelegt. Die Konvention ist noch nicht in Kraft getreten402. Ziel der Überarbeitung der EOSS ist einerseits eine Verbesserung der Standards, andererseits eine Flexibilisierung, zugleich auch eine Beseitigung diskriminierender Vorschriften. Das Grundkonzept wird beibehalten. Es geht nicht um eine Vereinheitlichung der verschiedenen nationalen Modelle, sondern, wie auch bei allen anderen normativen Ansätzen, um die Ausarbeitung von allgemeinverbindlichen Standards, die auf verschiedenen Wegen erreicht werden können. Die Definition der Risiken wird zum Teil gegenüber früheren Bestimmungen ausgeweitet. Beispielsweise wird nicht nur ein aktueller Zustand, bei dem man medizinischer Hilfe bedarf, sondern auch die Notwendigkeit präventiver Leistungen mit erfasst. Invalidität bezieht sich nicht mehr nur auf die Unfähigkeit, Einkommen zu erwerben, sondern auch die „Unfähigkeit, den gewöhnlichen Beschäftigungen“ nachzugehen, sowie die Behinderung von Geburt an. Auch werden „moderne“ Risiken wie Kurzarbeit oder Teilzeitarbeitslosigkeit mit berücksichtigt. Bei der Definition von Arbeitslosigkeit wird der Begriff der „Geeignetheit der Arbeit“ in einer Weise konkretisiert, die die Relevanz der jeweiligen persönlichen Betroffenheit von dem Verlust des Arbeitsplatzes zeigt403. Vergleicht man diese Bestimmung mit der in der Empfehlung der IAO aus dem Jahr 1944 enthaltenen Definition, die ausschließlich auf den Verlust der existentiellen Sicherung abstellt404, so wird die Entwicklung von einer Sicherung gegen existentielle Gefährdungen hin zu einer Sicherung der konkreten, beruflich bestimmten Stellung des Einzelnen deutlich. Der personelle Schutzbereich der Sicherungssysteme wird nicht nur prozentual405, sondern auch im Hinblick auf einzelne Gruppen der Bevölkerung ausArbeitslosenrate und die Inflation sowie die Veränderungen in der Welt der Arbeit, insbesondere die Zunahme der Bedeutung des tertiären Sektors und die Zunahme des Anteils der Frauen an der Erwerbsbevölkerung verweist. 402 Vgl. zur Geschichte auch Council of Europe, European Code of Social Security, S. 19. 403 Vgl. Art. 19 Abs. 2 der Revidierten EOSS: „In assessing the suitability of employment, account shall be taken, under prescribed conditions and as far as appropriate, of the age of the unemployed person, the length of his service in his previous occupation, his experience, the duration of his unemployment, the state of the labour market and the employment’s impact on his personal and family circumstances“. 404 Vgl. dazu S. 59 ff. 405 In der Regel wird eine Deckung aller Arbeitnehmer bzw. von 80 % der Erwerbstätigen (70 % bei Arbeitslosigkeit), bei medizinischen Leistungen, Alter, Familienleistungen und Invalidität alternativ eine 100 %ige Deckung aller Einwohner gefordert; für einen bestimmten Prozentsatz von potentiell Betroffenen (in der Regel 10 %) werden aber Ausnahmemöglichkeiten eingeräumt.
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gedehnt406, das Niveau der Leistungen angehoben407, Dauer und Spektrum der Leistungen werden ausgeweitet408, die Voraussetzungen zum Leistungsbezug teilweise vereinfacht409. Insgesamt sind die Vorschriften wesentlich komplexer und versuchen neue Entwicklungen im Bereich der sozialen Sicherheit, etwa die rentenwirksame Berücksichtigung von beitragsfreien Zeiten410 zu berücksichtigen. Zugleich wird aber die Möglichkeit der Staaten, einzelne Vorschriften abzubedingen bzw. zwischen verschiedenen Alternativen auszuwählen, erweitert411. Nun dürfen Standards, sollen sie staatenübergreifend akzeptabel und relevant sein, einerseits nicht so ins Detail gehen, dass Widersprüche zwischen nationalen Regelungssystemen und internationalen Vorgaben trotz Übereinstimmung in den prinzipiellen Fragen auftreten. Andererseits läuft man bei der Formulierung von Generalklauseln Gefahr, dass auch noch Maßnahmen, die Grundkonzepten widersprechen, rechtfertigbar sind. Die Revidierte EOSS versucht, hier einen Mittelweg zu finden, erweist sich aber dennoch vielfach als nicht ausgewogen. Als Beispiel sei etwa die Regelung zur Frage der Selbstbeteiligung bei Eintritt eines Risikos erwähnt. Missbrauch soll vermieden, der Einzelne motiviert werden, die Entstehung von Einkommensausfällen zu verhindern oder, ist dies nicht möglich, zumindest die Höhe der Einkommensausfälle zu minimieren. Aufgrund dessen werden etwa im Bereich der medizinischen Versorgung Selbstbeteiligungen an der Höhe der Kosten vorgesehen, bei der Verwirklichung anderer Risiken wird nicht vom ersten Tag an, sondern erst nach Ablauf einer gewissen Wartezeit gezahlt. Die Selbstbeteiligung an medizinischen Kosten begrenzt die Revidierte EOSS mit einer Allgemeinklausel: „. . . the rules governing such cost-sharing shall be such as not to impose hardship or render medical and social protection less effective.“ (Art. 10 Abs. 2).
Die Wartezeiten dagegen werden konkret in Tagen festgelegt. Im ersten Fall ist das Problem, dass im Einzelfall schwer zu entscheiden ist, wann durch die staatlichen Regelungen Not entsteht oder der Schutz unwirksam wird. Im zweiten Fall 406 Vgl. z. B. die Regelung in Art. 20 Abs. 3 der Revidierten EOSS, nach der eine Reihe von Personengruppen wie junge Leute nach dem Studium und junge Leute nach Abschluss des Militärdienstes gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit geschützt werden sollen. 407 Beispielsweise wird bei Alter eine Ersatzquote von 50 % für Alleinstehende und von 65 % für Verheiratete mit Kindern gefordert (EOSS: 40 %; Protokoll zur EOSS: 45 %). 408 Bei medizinischen Leistungen wird beispielsweise Zahnersatz eingeschlossen (Art. 10 Abs. 1 e Revidierte EOSS); die Leistungen bei Arbeitslosigkeit umfassen auch berufsfördernde Maßnahmen (Art. 25 Abs. 1 Revidierte EOSS). 409 Vgl. z. B. die Voraussetzungen zum Bezug von Leistungen bei Arbeitslosigkeit: Gefordert werden darf eine „qualifying period“, die nicht länger sein darf als notwendig, um Missbrauch auszuschließen. 410 Vgl. Art. 29 Abs. 3 Revidierte EOSS. 411 Vgl. dazu Kapitel B II.
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müssen unter Umständen sachlich begründete Sparmaßnahmen als Verstoß gewertet werden412. Mit der Revidierten EOSS werden die bereits bestehenden internationalen Normierungen von Sozialstandards um eine weitere ergänzt. Es handelt sich um eine Art „Esperanto“ des Sozialrechts, von niemandem gesprochen, aber als Option zur Verfügung stehend – ein theoretisches Konstrukt, das versucht, Einzelelemente aus den verschiedenen Nationalsystemen in ein Kombinationsmodell zu integrieren.
d) Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Die Parlamentarische Versammlung des Europarats, bei der es sich um ein beratendes Organ handelt, das bestimmte Fragen erörtern und die Beschlüsse dem Ministerkomitee in Form von Empfehlungen übermitteln kann (Art. 22 Satzung des Europarats), hat ihrerseits eine Reihe von Empfehlungen erlassen, die soziale Fragen betreffen, so etwa zur sozialen Exklusion413, zur allgemeinen Entwicklung der Sozialpolitik414, zur Berücksichtigung sozialer Rechte im Rahmen der WTO415, zur Gesundheitspolitik416 und zur sozialen Sicherheit älterer Personen417. Diese Empfehlungen markieren aber nur Stufen bei der Entwicklung des Rechts; sie stellen keine eigenständigen Rechtsnormen dar418.
Zur konkreten Auslegung der Bestimmungen vgl. S. 326 ff. Vgl. Recommendation 1355 (1998)1 Fighting social exclusion and strengthening social cohesion in Europe; Recommendation 1196 (1992) On severe poverty and social exclusion: towards guaranteed minimum levels of resources. Armut wird hier als „inadequacy of inequality of material resources“ definiert, sozialer Ausschluss als „inadequacy, inequality, or total lack of participation in social, economic, political and cultural life“. 414 Recommendation 1304 (1996)1 on the future of social policy. Hier wird als primäres Ziel die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit genannt. 415 Recommendation 1308 (1996)1 on the World Trade Organisation and social rights. In der Empfehlung wird dem Bedauern Ausdruck verliehen, dass soziale Rechte im Rahmen der WTO keine Berücksichtigung finden, und eine Gegenposition zu dieser Auffassung vom Welthandel erläutert. 416 Recommendation 1445 (2000) Health safety for Europe’s population. In der Empfehlung wird vor allem auf ökologische und durch neue Technologien bedingte Gesundheitsrisiken abgestellt. 417 Resolution 1008 (1993)1 on social policies for elderly persons and their self-reliance. In diesem Dokument wird an den Sozialversicherungssystemen insofern Kritik geübt, als sie in der Regel nicht geeignet sind, die Unabhängigkeit der alten Menschen zu sichern. 418 Vgl. die allgemein übliche Formulierung „Accordingly, the Assembly recommends that the Committee of Ministers invite the governments of the member states to act and take the following measures: . . .“. 412 413
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e) Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats Zu berücksichtigen sind schließlich noch die Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats, die auf Art. 15 b der Satzung basieren und, wie auch die Empfehlungen der IAO, Normen im Einzelnen konkretisieren und differenzieren419. Beispiele von Empfehlungen, die für das Sozialrecht relevant sind, wären etwa die Empfehlung über die Flexibilität des Rentenalters420, zu einer kohärenten Politik gegenüber Menschen mit Behinderungen421, über die soziale Sicherheit für Arbeiter ohne professionellen Status422 und für entsandte Arbeitnehmer423 sowie die zu dem Recht auf Befriedigung der grundlegenden materiellen Bedürfnisse424. Im Gegensatz zu den multilateralen Verträgen, deren Ausarbeitung jeweils eine sehr lange Zeit in Anspruch nimmt, kann mit diesen Empfehlungen auf aktuelle Probleme schnell reagiert werden; allerdings ist der Bekanntheitsgrad und die Bedeutung für die Rechtsentwicklung insgesamt gering425, auch wenn sich Beispiele nachweisen lassen, bei denen der EGMR darauf Bezug nimmt426. Insgesamt lässt sich festhalten, dass internationale Harmonisierungsregelungen zur Ausgestaltung von Systemen sozialer Sicherheit zwar – historisch gesehen – von anderen Konzepten ausgehen als menschenrechtliche Regelungen, dass aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Konvergenz zwischen den verschiedenen Ansätzen stattfindet; Folge ist eine vielfache Überschneidung zwischen den einzelnen Normierungen. Ein Grundkonsens ist im Hinblick auf die menschen419 Eine Besonderheit ist hier, dass das Ministerkomitee die Regierungen auffordern kann, ihm über die auf Grund der Empfehlungen getroffenen Maßnahmen zu berichten (Art. 15 b S. 2 der Satzung des Europarats). 420 Recommendation No. R (8)3 of the Committee of Ministers to Member States on the flexibility of retirement age vom 6. 3. 1989. Im Gegensatz zu allen anderen sozialversicherungsrechtlichen Regelungen zum Alter wird hier gefordert, dass Leistungsansprüche aufgrund von Alter so flexibel sein sollen, dass die Menschen nicht gegen ihren Wunsch zur Pensionierung gezwungen werden. 421 Recommendation No R (92)6 of the Committee of Ministers to Member States on a coherent policy for people with disabilities vom 9. 4. 1992. Hier wird unter anderem auch eine materielle Mindestexistenzsicherung gefordert. 422 Recommendation No. R (91)2 of the Committee of Ministers to Member States on social security for workers without professional status (helpers, persons at home with family responsibilities and voluntary workers) vom 14. 2. 1991. Der hier verfolgte Ansatz, auch diejenigen, die nicht über eine Anstellung sozialversicherungsrechtlich abgesichert werden, nicht ohne Schutz zu lassen, ist als innovativ zu bezeichnen. 423 Recommendation No. R (91)3 of the Committee of Ministers to Member States on social security protection of seconded workers vom 14. 2. 1991. 424 Recommendation No. R (2000)3 of the Committee of Ministers to Member States on the Right to the Satisfaction of Basic Material Needs of Persons in Situations of Extreme Hardship vom 19. 1. 2000. 425 Zur Bestimmung der „relativen Normativität“ dieser Regelungen vgl. Kapitel E. 426 Vgl. Koua Poirrez . / . Frankreich (Nr. 40892 / 98 v. 30. 9. 2003).
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rechtliche Basis, die Sicherung eines würdevollen Lebens des Einzelnen, nicht aber im Hinblick auf die Anforderungen, die an das jeweilige System zu stellen sind, auszumachen.
7. Aufnahme von Regelungen zum sozialen Schutz in Zoll- und Handelsabkommen Internationale Sozialstandards müssen nicht unbedingt in ausschließlich sozialrechtlichen Fragen gewidmeten Verträgen enthalten sein. Seit Beginn der Internationalisierung der Arbeiterschutzgesetzgebung wird auch diskutiert, entsprechende Postulate in Zoll- und Handelsverträge aufzunehmen, Sozial- und Handelsstandards damit als einen Komplex zu betrachten, über den einheitlich zu verhandeln und zu entscheiden ist427. Dieser Ansatz ist allerdings insofern problematisch, als – wie die Diskussion Ende des 19. Jahrhunderts, unter anderen Vorzeichen aber auch die Diskussion um Sozialstandards Ende des 20. Jahrhunderts zeigt – „unter diesem Mantel ganz anders geartete Interessen, die ihrem Wesen nach den Unternehmern weit unmittelbareren Gewinn versprechen, willkommene Zuflucht bilden können“428. Die Gefahr ist, dass undifferenzierte Sozialstandards von wirtschaftlich reicheren Staaten ausgenutzt werden, um Druck auf wirtschaftlich ärmere Staaten auszuüben429. In der Praxis zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich Beispiele für Handelsabkommen, die – in Form von pacta de contrahendo – Regelungen zur Integration der ausländischen Arbeitnehmer in die inländische Sozialschutzgesetzgebung, nicht aber zur Einhaltung bestimmter Sozialstandards im Verhältnis des Staates zu seinen eigenen Bürgern enthalten430. 427 Vgl. die Aussage bei Lohren, Entwurf, S. 19: „Je mehr man die internationale Konkurrenz durch Zölle hemmt, um so mehr gewinnt man Mittel, die Arbeiterfrage nach nationalen Begriffen zu ordnen“; zur Entwicklung der Idee vgl. Häfner, Motive, S. 35 ff. 428 Häfner, Motive, S. 37. 429 Auch diese in der gegenwärtigen Debatte wichtige Argumentation greift Häfner (Motive, S. 37) in seiner Abhandlung bereits zu Beginn des Jahrhunderts auf: „Dabei könnte es außerdem nicht ohne Ungerechtigkeiten abgehen, da konsequenterweise gegen alle Staaten rein entsprechend ihrer nationalen Sozialgesetzgebung, also ohne Rücksicht auf deren innere Ursachen, vorgegangen werden müsste, was für diese aber eine sehr verschiedene Belastung zur Folge hätte. Große Staaten vermöchten ferner auf die Kleinen, gemäß deren politischer Schwäche und unbedingten Abhängigkeit vom Weltmarkt, einen unentrinnbaren Druck auszuüben, dem letztere im sozialpolitisch umgekehrten Falle weder politisch noch wirtschaftlich wirksame Machtmittel entgegenzusetzen hätten. Aber damit stoßen wir bereits auf die allgemeinen Grenzen dieser Maßregel, die immer nur soweit ausreicht, als der betreffende Staat Autarkie besitzt“. 430 Vgl. z. B. den Zusatzvertrag vom 3. 12. 1904 zum deutsch-italienischen Handelvertrag vom 6. 12. 1891 (Art. 2a), den deutsch-österreichischen Handelsvertrag vom 25. 1. 1905 (Art. 6), den Handelsvertrag zwischen der Schweiz und Italien vom 11. 2. 1906 (§ 4), den Vertrag zwischen Österreich-Ungarn und Italien vom 11. 2. 1906 (§ 4), den Vertrag zwischen
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Im GATT ist die Möglichkeit, ein für die jeweiligen Handelspartner verbindliches Mindestniveau von sozialer Sicherheit zu definieren, bisher nicht realisiert worden. – „Soziales Öl“ enthält das GATT von 1947431 ebenso wie das GATT von 1994432 überhaupt nur in sehr geringem Maße. In der Präambel des Übereinkommens zur WTO, unter deren Dach das GATT als eines von drei multilateralen Handelsabkommen steht, ist der Hinweis enthalten, dass die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen der Vertragsparteien auf die Erhöhung des Lebensstandards, auf die Sicherung der Vollbeschäftigung und eines hohen und ständig steigenden Umfangs des Realeinkommens ausgerichtet sein und das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung verfolgen sollen. Zudem findet sich im GATT eine Bestimmung, die den Vertragsparteien gestattet, in Strafvollzugsanstalten hergestellte Waren bei der Einfuhr zurückzuweisen, wenn dies keine willkürliche und ungerechtfertigte Diskriminierung eines Landes oder eine verschleierte Beschränkung des internationalen Handels bedeutet (Art. XX lit e GATT). Diese Vorschrift stellt die einzige Durchbrechung des Grundsatzes der Unbeachtlichkeit der Herstellungsweise einer Ware dar. Allerdings steht auch hier der Wettbewerbsaspekt im Vordergrund; ginge es um menschenrechtliche Fragen, hätte die Ausnahmeregelung von den tatsächlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Strafgefangenen abhängig gemacht werden müssen433. Die de lege ferenda geführte Diskussion um die Aufnahme von Sozialstandards in Handelsverträge434 konzentriert sich auf rein arbeitsrechtliche Schutznormen wie etwa Bestimmungen zur Arbeitszeit oder aber Grundrechte wie die Vereinigungsfreiheit, das Verbot der Zwangs- und Kinderarbeit und die allgemeinen Diskriminierungsverbote435. Der ehemalige Generaldirektor der IAO, Michel Handem Deutschen Reich und Schweden vom 8. 5. 1906 (Art. 2); vgl. dazu auch Hein, Ausdehnung der deutschen Sozialgesetzgebung, S. 38 ff. 431 Vgl. den Abdruck einer bereinigten Fassung des ursprünglichen Abkommens bei Senti, GATT – Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen als System der Welthandelsordnung 1986, S. 371 – 417. 432 Vgl. die Dokumentation Hummer / Weiss, Vom Gatt‘ 47 zur WTO 94. 433 Vgl. dazu auch Reuß, Handelssanktionen, S. 98; Weiss, Labour Standards and Trade, S. 174. 434 Der ehemalige Generaldirektor der IAO, Michel Hansenne, spricht in diesem Zusammenhang von „trade sanctions as a weapon for enforcing respect for a given level of labour standards“; vgl. Hansenne, Trade and labour standards, S. 230 ff.; vgl. dazu auch die Beiträge in Piepel, Sozialklauseln, S. 1 ff. 435 Vgl. Sengenberger, Arbeitsstandards, S. 59: „Im Kern ist die Situation gegenwärtig ähnlich wie in der Gründungsepoche der IAO, die sich an eine Phase intensiven internationalen Wettbewerbs anschloss. Damals ging es vor allem um die Verhinderung gesundheitsgefährdender und produktivitätsmindernder langer Arbeitszeiten und um die Verbesserung der Arbeitssicherheit. . . . Heute geht es z. B. darum, ob die neu am Welthandel teilnehmenden Länder in Ost- und Südostasien von überlangen Arbeitszeiten abrücken, sichere Werkhallen einrichten, von Kinderarbeit absehen und frei gewählte Gewerkschaften gewähren lassen“; vgl. dazu auch Adamy, Sozialstandards, S. 577 ff., sowie die Beiträge in Piepel, Sozialklauseln im Welthandel; vgl. dazu auch das von der Gesellschaft für Technische Zusammen-
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senne, hat explizit hervorgehoben, dass die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme zu den Standards zähle, die von der wirtschaftlichen Entwicklung und den jeweils von der Politik gesetzten Prioritäten abhingen und damit nicht zu den „grundlegenden“ Standards gehörten, die im Rahmen von Handelsvereinbarungen durchzusetzen wären436. Auch de lege ferenda steht hier so nicht zu erwarten, dass im Rahmen von Zoll- und Handelsabkommen neue Regelungen für die Gestaltung von Systemen sozialer Sicherheit vorgegeben werden437.
Zusammenfassung Die im 19. Jahrhundert geführte Diskussion über Pro und Contra einer Internationalisierung der Arbeiterschutzgesetzgebung ist auf die Frage der Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen nationalen Wirtschaft im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr, konkret die Verhinderung ruinöser Konkurrenz in Form eines „race to the bottom“ bei der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen zentriert. Der Schutz der Arbeitnehmer wird zwar reflektiert, ist aber nicht Movens der Reformbewegungen. Ins Völkerrecht finden arbeits- und sozialschutzrechtliche Postulate im 19. Jahrhundert nicht Eingang, da sie als unvereinbar mit dem Konzept der unbeschränkten nationalen Souveränität gesehen werden. Allerdings wird die Möglichkeit von Kompromissen bei der Abfassung unverbindlicher Erklärungen ausgelotet. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden verschiedene multilaterale Verträge geschlossen, die auch Pflichten der Staaten gegenüber ihren eigenen Bürgern statuieren. Mit der Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation 1919 wird internationale Arbeits- und Sozialgesetzgebung institutionalisiert; die Normsetzung verselbständigt sich, erfolgt nach einem bestimmten Plan, entwickelt sich zum System. Anders als bei Verträgen, die zwischen zukünftigen Vertragspartnern ausgehandelt werden, stimmen über die Konventionen der IAO alle Mitgliedstaaten unabhängig von ihrer Intention, der Konvention auch tatsächlich beizutreten, ab, so dass die Gefahr „abstrakter Problemlösungen“ entsteht. Die Konventionen, die in der Zwischenkriegszeit ausgearbeitet werden und die einen streng sozialversicherungsrechtlichen, ratione personae und ratione materiae begrenzten Ansatz verfolgen, stehen der neun Risiken einschließenden und einem umfassenderen Konzept sozialer Sicherheit verpflichteten Konvention Nr. 102 aus dem Jahr 1952 gegenüber. In den Folgekonventionen werden für einzelne Risiken über die Mindeststandards hinausgehende Anforderungen an Systeme sozialer Sicherheit definiert; der konzeptionelle Ansatz von Konvention Nr. 102 wird beibehalten. Der arbeit herausgegebene Gutachten (Kernarbeitsnormen in Verträgen der Entwicklungszusammenarbeit) aus dem Jahr 2004 (veröffentlicht als Broschüre ohne ISBN). 436 Hansenne, Trade and labour standards, S. 234. 437 Vgl. auch zur Problematik der Aufnahme entsprechender handelspolitischer Sozialklauseln in das Recht der EU Ölz, Kernarbeitsnormen, S. 319 ff.
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Europarat wird parallel zur IAO tätig; zum Teil übernimmt er die Normen fast wortgleich, zum Teil schreibt er die Standards weiter fort und passt sie neuen Entwicklungen an. – Diese in der Tradition der Arbeiterschutzgesetzgebung stehenden Normierungen enthalten im Gegensatz zu den Menschenrechtskonventionen in der Regel keine Allgemeinklauseln, sondern definieren die Anforderungen an die Ausgestaltung von Sozialschutzsystemen präzise und detailliert. Für eine internationale Kontrolle über die Sozialrechtsentwicklung in den einzelnen Staaten steht so ein Fundus von grundsätzlich verschiedenen Normen zur Verfügung.
III. Internationale Regelungen zur Integration Fremder in nationale Sozialschutzsysteme Internationale Sozialstandards, die das Verhältnis (Staats)Bürger – Staat betreffen, sind eine Sache. Etwas ganz anderes ist es, die Frage zu klären, ob und inwieweit auch Fremde an den im Rahmen der einzelnen Nationalstaaten entwickelten Sozialschutzsystemen teilhaben sollen. Während erstere Thematik dem Völkerrecht von seinem Regelungsansatz her fremd ist, ist der Schutz der Staatsangehörigen eines Staates bei Aufenthalt in einem anderen Staat originärer Gegenstand des Völkerrechts438. Im Einzelnen ist nach dem Grund für den Aufenthalt im Ausland zu differenzieren: neben den allgemeinen Regeln, die für Fremde als Bedürftige gelten, gibt es auch Sonderregelungen, die die Situation von Fremden als Arbeitnehmer berücksichtigen. 1. Fremde als Bedürftige a) Entwicklung des Rechts bis zum Zweiten Weltkrieg aa) Entwicklung des allgemeinen Fremdenrechts Die Idee, rechtliche Grundlagen für den Schutz von Fremden, d. h. für Personen, die aufgrund von Herkunft, Abstammung und Sprache nicht zu der Gemeinschaft gehören, in der sie leben oder in der sie sich vorübergehend aufhalten, im Verhältnis zwischen Heimatstaat und Aufenthaltsstaat zu schaffen, lässt sich in allen Epochen der Völkerrechtsgeschichte nachweisen439. Der Schutz bezieht sich zu438 Vgl. Hailbronner, Relevanz, S. 3, der den Ausländer als „sozusagen klassischen Gegenstand des Völkerrechts“ bezeichnet; Herdegen, Wandlungen, S. 13, spricht davon, dass im klassischen Völkerrecht das Individuum überhaupt nur als Fremder ins Blickfeld treten konnte. 439 Lillich, Aliens, S. 5 ff.; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 23, 38, 52, 74, 84, 104, 114, 159, 191, 232: Nachweise für Regelungen zum alt-orientalischen Recht, in der altgriechischpersischen Zeit, in der römisch-hellenistischen Zeit, im Völkerrecht in Rom und Byzanz und in der nachrömischen Zeit, im hohen Mittelalter und im Spätmittelalter, zur Weiterentwicklung im spanischen, französischen und englischen Zeitalter sowie auch in außereuropäischen Rechtskreisen.
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meist auf Kaufleute oder Personen, an deren Anwesenheit ein besonderes Interesse besteht440. Von Belang sind nicht die Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen, sondern vielmehr die „Ehre“ des jeweiligen Heimatstaats, die in der Person seiner Bürger verletzt werden könnte. In der Sache handelt es sich vor allem um den Schutz vor Gewaltmaßnahmen gegen Person oder Eigentum. Auf der Grundlage des Völkergewohnheitsrechts, das sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat441, wird ein Mindeststandard von Rechten für Fremde garantiert442: das Recht als Rechtssubjekt anerkannt zu werden, das Recht auf Teilnahme am Wirtschaftsleben, das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Sicherheit der Person, Gleichheit vor dem Gesetz und vor Gericht sowie das Recht auf ein geordnetes Verfahren443. – Als ein Aspekt des Rechts auf Leben kann auch das Recht zu arbeiten und durch Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen, angesehen werden – ein Recht, das der Staat nicht nur seinen Bürgern, sondern auch Fremden gewähren muss. Dies ist, so wird bereits in der Lehre des 19. Jahrhunderts vertreten, eine auf dem Völkerrecht basierende Pflicht des Staates444. Nicht zu diesem gewohnheitsrechtlichen Bestand gehört dagegen die Garantie von staatlichen Unterstützungsleistungen in Notfällen, etwa bei Krankheit oder Alter. Zwar wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts behauptet, das Fremdenrecht weise aufgrund der Internationalisierung der Sozialpolitik auch „positiv gewährende und schützende Tendenzen“ auf445; Hein spricht von einer „Aufschliessung des Landes für die Angehörigen der anderen Staaten und deren grundsätzliche Gleichstellung mit den eigenen Staatsangehörigen“446. 440 Vgl. z. B. den Schutz reisender Kaufleute durch den so genannten Gottesfrieden oder das kanonische Recht sowie ausdrücklich auch in Art. 41 der Magna Charta Libertatum (Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 105); der Schutz der Kaufleute ist auch in der byzantinischen Völkerrechtspraxis nachweisbar (Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 115); eine Vielzahl von Beispielen finden sich gleichermaßen im islamischen Recht (Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 119). 441 Arnold, Aliens, S. 104. 442 Vgl. dazu den Nachweis in der Judikatur bei Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 1212 ff. 443 Vgl. Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 1213, Hailbronner, Der Staat und der Einzelne, Rd. 258, Arnold, Aliens, S. 102 ff. 444 Vgl. Mahaim, Droit international ouvrier, S. 27: „C’est le droit des gens qui veut qu’un État moderne ne s’isole plus, ne ferme plus absolument ses frontières: l’isolement complet équivaut à la mise hors la Société des nations. C’est encore le droit des gens qui ne permet plus aux États modernes les pratiques de brigandage des seigneurs féodaux, pour qui les étrangers étaient sans droits. Or, dans le minimum des droits qu’il faut leur accorder, doit se trouver nécessairement le droit de travailler, parce que c’est le droit de vivre.“. 445 Hein, Ausdehnung der deutschen Sozialgesetzgebung, S. 9. 446 Hein, Ausdehnung der deutschen Sozialgesetzgebung, S. 10; im gleichen Sinne auch van Overbergh, L’assistance aux étrangers, S. 6: „La question de l’internationalisation de l’assistance aux étrangers correspond donc à un mouvement social général. Plus les sociétés se compénètrent et s’ouvrent aux étrangers, plus elles ,s’humanisent‘ si l’on peut dire, plus se
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Aber diese „neue Tendenz“ ist nicht im gewohnheitsrechtlichen Fremdenrecht, sondern allenfalls im Vertragsrecht nachzuweisen. bb) Bilaterale Verträge zum Schutz bedürftiger Fremder Ein für den internationalen Wohltätigkeitskongress in Kopenhagen im Jahr 1910 erstellter umfassender rechtsvergleichender Bericht447 zeigt, dass die Fürsorge für Bedürftige in den verschiedenen Rechtssystemen sehr unterschiedlich, zumeist auf lokaler Ebene geregelt ist. Geschützt werden primär besondere Gruppen von Bedürftigen, wie etwa ausgesetzte Kinder oder Geisteskranke; dieser nur begrenzte Schutz wird aber in der Mehrzahl der Systeme zunehmend erweitert. Staatsangehörigkeit ist, wie sich aus gesetzlichen Regelungen oder allgemeiner Übung ergibt, im Falle unverschuldeter Not grundsätzlich kein Differenzierungsgrund448. In der Mehrzahl der Systeme gilt das allgemeine Prinzip, dass im akuten Notfall allen gleichermaßen Hilfe zu leisten ist. Bei länger andauernder Bedürftigkeit werden die Betroffenen allerdings regelmäßig in ihre Heimatstaaten zurückgebracht. Diesen Regelungen entsprechen auch die Mehrzahl der zu Fragen der Versorgung ausländischer Bedürftiger abgeschlossenen bilateralen Abkommen. Ein frühes Beispiel für einen Fürsorgevertrag ist etwa die „Übereinkunft wegen Verpflegung der in den gegenseitigen Staaten erkrankenden oder verunglückenden unbemittelten Unterthanen“ zwischen Bayern und Sachsen vom 6. 1. 1833449. Vergleichbare Verträge betreffen zumeist besondere Gruppen von Bedürftigen, so den Schutz ausgesetzter Kinder450, bedürftiger Seeleute451, bedürftiger Geisteskranker452 und Prostituierter453. pose et se généralise le problème du secours aux indigent étrangers, plus celui-ci exige une solution générale, du moins dans ses tendances“. 447 Van Overbergh, L’assistance aux étrangers, La solution internationale, Bruxelles 1912. 448 Vgl. die Zusammenstellung der verschiedenen Regelungen in Deutschland, England, den Vereinigten Staaten, Dänemark, Italien, Russland, Schweden, Belgien, Frankreich und Norwegen bei Overbergh, L’assistance aux étrangers, S. 33 ff. Im deutschen Recht beispielsweise muss nach § 60 des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz vom 6. 6. 1870 jeder Ausländer von demjenigen Ortsarmenverband unterstützt werden, in dessen Bezirk er sich bei Eintritt der Hilfsbedürftigkeit befand. Die Regelung von Art und Ausmaß der Unterstützung wurde den 25 deutschen Bundesstaaten überlassen; 15 haben für Ausländer explizite Regelungen getroffen, davon 14 In- und Ausländer gleichgestellt. Ein Gegenbeispiel wäre Frankreich. Dort wurden etwa Hilfe für Alte und Invalide nach dem Gesetz vom 14. 7. 1905 und medizinische Hilfeleistung nach dem Gesetz vom 15. 7. 1893 nur französischen Staatsangehörigen gewährt. 449 Nouveau Recueil de Traités, von G. F. de Martens, Band XV, Nr. 4; vgl. dazu auch Zacher, Grundfragen, S. 481. 450 Notenaustausch vom 2. März und 22. Juli 1871 betreffend die gegenseitige kostenlose Behandlung von Findelkindern (Österreich-Ungarn und Italien), Nouveau Recueil général de Traités, Continuation du grand Recueil von G. F. de Martens, Reihe 2, Band I, Nr. 106. 451 Vereinbarung vom 27. Mai 1879 wegen der Unterstützung hülfsbedürftiger Seeleute beider Nationen (Deutschland und Großbritannien), Nouveau Recueil général de Traités,
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In der Regel wird die Verpflichtung festgelegt, die fürsorgebedürftigen Staatsangehörigen der jeweiligen Vertragsstaaten ebenso wie die eigenen fürsorgebedürftigen Staatsangehörigen zu behandeln, sie aber dann, wenn ein Transport möglich ist, in den jeweiligen Heimatstaat zu bringen. Ein Beispiel für eine derartige Regelung ist etwa der Vertrag zwischen Frankreich und der Schweiz vom 27. 9. 1882: „Chacun des gouvernements s’engage à pourvoir à ce que, sur son territoire, les enfants abandonnés de l’autre État soient assistés et traités à l’égard de ses propres ressortissants jusqu’à ce que leur rapatriement puisse s’effectuer sans danger“454.
Dabei ist, je nachdem, eine Rückführung obligatorisch oder fakultativ vorgesehen455. In der Regel wird vereinbart, dass auf Kostenersatz für die jeweils aufgebrachten Leistungen verzichtet wird. „Le remboursement des frais résultant de ces secours et de ces soins, ainsi que des rapatriements jusqu’à la frontière, ou de l’inhumation des personnes secourues ne pourra être réclamé des caisses de l’État auquel ces personnes appartiennent“456.
Ein besonderer Regelungsbereich, dem vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet wird, ist die Krankenfürsorge. Nach dem Vorbild der Eisenacher Übereinkunft von 1853457 werden eine Reihe von Staatsverträgen geschlossen, in denen die Behandlung der Erkrankten durch den Aufenthaltsstaat bis zur Transportfähigkeit vorgesehen wird; von einer Erstattung der Kosten wird auch hier regelmäßig abgesehen458. Continuation du grand Recueil von G. F. de Martens, Reihe 2, Band IV, Nr. 63; vgl. auch die entsprechende Vereinbarung zwischen Frankreich und Italien vom 1. 1. 1882, Nouveau Recueil général de Traités, Continuation du grand Recueil von G. F. de Martens, Reihe 2, Band VIII, Nr. 93. 452 Convention du 27 septembre 1882 tendant à établir la réciprocité d’assistance en ce qui concerne les enfants abandonnés et les aliénés indigents (France et Suisse), Nouveau Recueil général de Traités, Continuation du grand Recueil von G. F. de Martens, Reihe 2, Band IX, Nr. 81. 453 Déclaration du 18 décembre 1886 relative à la protection de certaines catégories de prostituées (Belgique et Pays Bas), Nouveau Recueil général de Traités, Continuation du grand Recueil von G. F. de Martens, Reihe 2, Band XIII, Nr. 63; vgl. dazu auch Perrin, Ursprünge, S. 6 ff.; Liszt, Völkerrecht, S. 260. 454 Abgedruckt in Mahaim, Droit international ouvrier, S. 176. 455 Obligatorisch ist die Regelung beispielsweise in dem Vertrag zwischen Frankreich und der Schweiz vom 27. 9. 1882 (FN 452), fakultativ in dem Vertrag zwischen Belgien und Italien vom 24. 1. 1880. 456 Vertrag zwischen Frankreich und der Schweiz vom 27. 9. 1882 (FN 453). 457 Vgl. § 1: „Jede der kontrahierenden Regierungen verpflichtet sich, dafür zu sorgen, dass in ihrem Gebiete denjenigen hilfsbedürftigen Angehörigen anderer Staaten, welche der Kur und Verpflegung benötigt sind, diese nach denselben Grundsätzen, wie bei eigenen Unterthanen, bis dahin zu teil werde, wo ihre Rückkehr in den zur Uebernahme verpflichteten Staat ohne Nachteil für ihre oder anderer Gesundheit geschehen kann“. Die Eisenacher Übereinkunft ist abgedruckt bei Scharpff / Haller, Handbuch des Armenrechts, S. 658 ff.; vgl. dazu auch Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht, Band 1, S. 82.
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Im allgemeinen wird aber bereits im Vorfeld versucht zu verhindern, dass das Problem der Versorgung ausländischer Bedürftiger überhaupt entstehen kann, indem man auf der einen Seite versucht, die Emigrationsbewegung zu kontrollieren und diejenigen, die voraussichtlich zurückgeschickt werden, zurückzuhalten459, auf der anderen Seite aber besondere Zuwanderungsvoraussetzungen wie Vermögensnachweise oder prohibitive Steuerregelungen schafft oder eine Rücknahmepflicht für „paupers“ vereinbart460. Der Gleichbehandlungsgrundsatz wird zudem dadurch eingeschränkt, dass „Bedürftigkeit“ mit „unverschuldeter Bedürftigkeit“ gleichgesetzt wird. Ausdrücklich ausgenommen werden die „unnormalen Bedürftigen“ (indigents anormeaux), die „Vagabunden“ und diejenigen, „die arbeiten könnten, aber nicht wollen“461. Jeder Staat habe hier das Recht zur Ausweisung; der jeweilige Heimatstaat habe im Gegenzug die Pflicht zur Zurücknahme seiner eigenen Staatsangehörigen: „Et si dans leur pays d’origine, le Pouvoir social doit s’en occuper spécialement, autant par mesure de police que par humanité, il n’est pas admissible, dans l’état actuel de nos moeurs, que cette population misérable, résidu social, réserve de l’armée du crime, – tombe d’une manière quelconque à la charge d’un pays voisin“462.
Die Regelung der Rücknahmepflicht bedürftiger Bürger begründet – so sei in Parenthese angemerkt – neben der Zuerkennung des Wahlrechts aufgrund der politischen Emanzipierung die Notwendigkeit, die Staatsangehörigkeit als Unterscheidungskriterium zu definieren463. Die Rücknahmepflicht wird zum Teil auch aufgrund völkerrechtlicher Verträge abgesichert.
458 Vgl. die auf dieser Grundlage geschlossenen Verträge Deutschland – Italien (1873), Deutschland – Dänemark (1873), Deutschland – Belgien (1877), Deutschland – Schweiz (1890), Deutschland – Niederlande (1904), Schweiz – Italien (1875), Schweiz – ÖsterreichUngarn (1875), Schweiz – Belgien (1896), Schweiz – Portugal (1898), Italien – Monaco (1871), Italien – San Marino (1872), Italien – Belgien (1880), Italien – Luxemburg (1881), Italien – Österreich-Ungarn (1896); Nachweise im Einzelnen bei Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht, Band 1, S. 82 FN 2. 459 Vgl. dazu Mahaim, Droit international ouvrier, S. 63 ff., der dies aber als Forderung formuliert: „Le refoulement justifié des véritables indésirables – aliénés, malades, incapables de gagner leur vie – devrait avoir sa contrepartie chez les États auxquels les émigrants appartiennent. Il est évidemment contraire à la courtoisie internationale, contraire aux égards que les États se doivent entre eux, qu’une nation fasse ou laisse sortir de chez elle des individus qui ne sont que des charges“. 460 Vgl. Häfner, Motive, S 73, der in diesem Zusammenhang auf den im britischen Aliens Act vom 11. 10. 1905 geforderten Vermögensnachweis, auf die Einwanderungsbesteuerung in Kanada und Australien mit prohibitiver Höhe und die Paupersgesetzgebung in den USA von 1882 bis 1907 verweist. 461 Overbergh, L’assistance aux étrangers, S. 89, 90. 462 Overbergh, L’assistance aux étrangers, S. 90; vgl. auch Mahaim, Droit international ouvrier, S. 34. 463 Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 135.
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cc) Projekte für multilaterale Verträge zum Schutz bedürftiger Fremder Während bilaterale Abkommen auf den Schutz der jeweiligen im Ausland in Not geratenen Staatsangehörigen abzielen, eignen sich multilaterale Verträge zur Lösung auch der Probleme der Koordinierung der Verteilung und Zuweisung von Heimatlosen. Prominentes Beispiel ist das Gothaer Übereinkommen von 1851 zwischen den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes, das vor allem ausländerrechtliche Regelungen, wie die Ausweisung und Übernahme von Heimatlosen, enthält464. Eine systematische Behandlung erfahren diese Probleme seit der Gründung des Internationalen Amtes für Informationen und Untersuchungen, betreffend die Unterstützung von Ausländern465. Bei einem Kongress in Genf am 9. 2. 1894 wird die Forderung aufgestellt, dass bedürftige Kranke, die an akuten Krankheiten leiden, in allen Ländern ohne jeglichen Vorbehalt zu versorgen sind. In der Folge wird auf dem Kongress von Paris im Jahr 1900 eine Erklärung abgegeben, wonach durch internationale Übereinkünfte oder Abkommen die Fürsorge für Ausländer sicherzustellen ist. Beim Wohltätigkeitskongress von Kopenhagen im Jahr 1910 wird der Grundsatz der Gleichbehandlung von bedürftigen Aus- und Inländern hinsichtlich der vorübergehenden Fürsorge aufgestellt; Erstattungen werden nicht vorgesehen466. Bei ständiger Fürsorge soll dagegen der Heimatstaat zahlungspflichtig und eine Repatriierung möglich sein467. Vertragliche Sonderregelungen auf Grundlage der Gegenseitigkeit werden für besondere Gruppen von Bedürftigen vorgesehen468. Zukunftsweisend ist insbesondere die Forderung, Personen, die sich langjährig in einem anderen Staat aufhalten, ebenso wie die Staatenlosen im Fall der Bedürftigkeit den Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaats vollkommen gleichzustellen: „Après une durée de séjour assez longue, l’étranger doit être, par la législation intérieure de l’État où il réside, complètement assimilé aux nationaux de cet État, sans rembourse464 Abgedruckt bei Scharpff / Haller, Handbuch des Armenrechts, S. 641 ff.; vgl. dazu Zacher, Grundfragen, S. 481 ff.; Schuler, Internationales Sozialrecht, S. 151. 465 Bureau international d’informations et d’études pour l’assistance aux étrangers; vgl. dazu Perrin, Ursprünge, S. 35. 466 Vgl. die dritte Resolution des Kongresses (abgedruckt bei Overbergh, L’assistance aux étrangers, S. 101): „Pour l’assistance temporaire, spécialement dans les cas urgents, il n’y aura pas de différence entre le traitement des indigents étrangers et des indigents nationaux; il n’y aura pas lieu à remboursement.“ 467 „Les catégories d’indigents définitifs ou permanents seront en principe à la charge de leur pays d’origine; ces indigents seront secourus, soit par le moyen de l’assistance privée (et notamment les sociétés nationales d’assistance établies à l’étranger), soit de toute autre manière; ils pourront être rapatriés“ (Overbergh, L’assistance aux étrangers, S. 103). 468 „Exceptionnellement, pour les cas d’assistance permanente ou quasi permanente (enfants abandonnés, aliénés, vieillards, etc.), il convient, dans l’état actuel des choses, de s’orienter vers les conventions ou les ententes internationales, basées sur la réciprocité, de les multiplier, de les préciser et de tendre vers l’unification“ (Overbergh, L’assistance aux étrangers, S. 103).
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ment par le pays d’origine. Seront aussi assimilés aux nationaux les indigents qui auront perdu leur nationalité sans en acquérir une autre, ou dont la nationalité serait l’objet d’une contestation fondée“469.
Die Idee, eine diplomatische Konferenz einzuberufen und „den internationalen Status der Bedürftigkeit“ festzulegen470, wird aber nicht verwirklicht. Der Ansatz, auf der Grundlage internationaler Regelungen bedürftig gewordenen Ausländern Hilfeleistungen zu garantieren, überschneidet sich mit dem menschenrechtlichen Ansatz, da ein bestimmter fürsorgerechtlicher Mindeststandard für alle bereits auch aufgrund menschenrechtlicher Erwägungen gefordert wird. Dies wird mit Ausarbeitung der internationalen Regelungen zum Menschenrechtsschutz evident, klingt aber auch schon bei Overbergh in seiner Studie von 1910 an471. Die Entwürfe und Ideen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon weit entwickelt, bleiben aufgrund der allgemeinen historischen Entwicklung für viele Jahre Utopie.
b) Entwicklung des Rechts in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Spezifikum des menschenrechtlichen Ansatzes, so wie er nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgt wird, ist, dass die Rechte unmittelbar aus der Würde des Einzelnen abgeleitet werden. Mit diesem Konzept wird implizit auch die Rechtsposition Fremder, die sich im Hoheitsbereich eines Vertragsstaats aufhalten, erfasst472. Allerdings wird die Gleichstellung ausländischer Staatsangehöriger mit den eigenen Staatsangehörigen, insbesondere in Bezug auf soziale Rechte, nicht widerspruchsfrei geregelt; viele Fragen sind offen. – Neben den in den allgemeinen menschenrechtlichen Abkommen enthaltenen impliziten Antworten auf die Frage nach Schutz und Fürsorge für im Ausland in Not geratene Menschen gibt es auch noch verschiedene multilaterale Abkommen, die explizit diesen Problemen gewidmet sind.
Overbergh, L’assistance aux étrangers, S. 107. Vgl. die Schlussrede des Präsidenten Loubet anlässlich des Kongresses von Kopenhagen: „Les parlements sont longs à voter les lois, la diplomatie est peut-être encore plus lente, mais j’ai l’espoir que nos efforts aboutiront à un acte international, à une législation internationale“; abgedruckt bei Overbergh, L’assistance aux étrangers, S. 228. 471 „La civilisation moderne n’admet plus que l’étranger puisse être considéré comme un ennemi ou comme un être d’essence inférieure au national: un homme dans le besoin, quelle que soit sa nationalité, mérite le soulagement que la société accorde à ses membres. La bienfaisance ne connaît pas de frontière. Les droits de l’homme s’unissent aux traditions chrétiennes pour préconiser cette solution qui doit être placée au frontispice du monument de voeux qu’édifiera ce Congrès“ (Overbergh, L’assistance aux étrangers, S. 150). 472 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 1212. 469 470
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aa) Die Anwendung grundrechtlicher Sozialschutznormen auf bedürftige Fremde Inwieweit die in den Menschenrechtspakten enthaltenen Vorschriften die Vertragsstaaten dazu verpflichten, auch Fremden – gleichberechtigt mit den eigenen Staatsangehörigen – einen vollumfänglichen Schutz im Sozialbereich, insbesondere Hilfeleistungen im Fall der Bedürftigkeit, zu gewährleisten, ist aus dem Wortlaut der Vorschriften sowie aus der Systematik der Verträge nicht zweifelsfrei zu klären. Das Recht der Staaten, bedürftige Fremde auszuweisen, ist, sofern sie nicht einen besonderen Status, etwa als Flüchtlinge, haben, grundsätzlich nicht beschränkt. In Art. 13 ICCPR ist lediglich eine verfahrensrechtliche Sicherung der Stellung der Ausländer vorgesehen, nicht aber ein Schutz gegen Ausweisung473. Nach dem 4. Zusatzprotokoll zur EMRK sind nur Kollektivausweisungen verboten. – Die Rechtsprechung des EGMR und die Spruchpraxis des Sozialrechtsausschusses474 haben weitere Barrieren für Ausweisungen aufgebaut, die aber aus dem Wortlaut der dafür herangezogenen Normen – Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) – nicht zu ersehen sind. Insoweit liegt zu diesen Fragen kein Kompromiss bei der Kodifizierung der Standards vor, sondern hat sich allenfalls aufgrund einer späteren allgemeinen Übung entwickelt. Die Vorschriften, die Ausländern potentiell ein Recht auf Fürsorge gewähren, sind so durch das Ausweisungsrecht der Staaten eingeschränkt zu lesen. Beim Recht auf Fürsorge für Fremde geht es damit einerseits um Hilfe in den Fällen, in denen eine Ausweisung nicht möglich ist, in akuten Notfällen sowie in Fällen, in denen die Betroffenen nicht transportfähig sind. Daneben sind aber auch die Fälle relevant, in denen den Betroffenen – aus welchen Gründen auch immer – ein Bleiberecht gewährt wird. Konkret ist zu fragen, ob die Garantie des Rechts auf Leben, die Garantie eines angemessenen Lebensstandards, die Garantie eines Rechts auf Fürsorge, wie sie sich in den verschiedenen Menschenrechtsverträgen findet, bedeutet, dass Ausländer, werden sie nicht ausgewiesen bzw. sind sie nicht ausweisbar, den Inländern gleichzustellen sind? Oder ist in diesen Fällen wenigstens eine Mindestversorgung als internationaler Standard anzusehen? (1) Schutzbereich der Menschenrechtsverträge Fraglich ist zum einen, inwieweit bedürftige Ausländer überhaupt von dem Schutzbereich der Menschenrechtsverträge erfasst werden. In ihrem personellen Anwendungsbereich explizit eingeschränkt ist die ESC / RESC. Nach den im Anhang enthaltenen Bestimmungen zum Geltungsbereich Lillich, Aliens, S. 47. Vgl. zur Rechtsprechung des EGMR S. 369 ff.; zur Spruchpraxis des Sozialausschusses S. 269 ff. 473 474
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werden Ausländer nur dann erfasst, wenn zwei Bedingungen kumulativ erfüllt sind. Sie müssen Staatsangehörige einer der anderen Vertragsparteien sein und ihren rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der betreffenden Vertragspartei haben oder dort ordnungsgemäß beschäftigt sein. Drittstaatsangehörige, auch wenn sie sich in einem der Vertragsstaaten befinden, sind damit grundsätzlich aus dem Schutzbereich ausgenommen. Das Gleiche gilt für Staatsangehörige von Vertragsstaaten, die sich nur auf der Durchreise befinden oder noch bzw. wieder in ihren Heimatländern sind. Auch wenn die Sonderbestimmungen des Art. 12 Abs. 4 a, Art. 13 Abs. 4 und Art. 19 ESC den Schutzbereich erweitern475, so bleiben doch Staatsangehörige von Nicht-Vertragsstaaten aufgrund des insoweit eindeutigen Wortlauts ausgeschlossen. Der Schutzbereich von EMRK und ICCPR erstreckt sich dagegen auf alle unter der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten stehenden Personen (Art. 1 EMRK; Art. 2 Abs. 1 ICCPR). Der bei den Beratungen zum ICCPR geäußerte Vorschlag, die Rechte nur „Bürgern“ zuzuerkennen, wurde verworfen476. – Problematisch kann aber die Einbeziehung ausländischer Staatsangehöriger unter den Schutz dieser Verträge dann sein, wenn sie eine Diskriminierung im Hinblick auf ein Recht auf eine Sozialleistung geltend machen, sich aber im Ausland und damit nicht mehr in der Hoheitsgewalt des die Leistung schuldenden Staates befinden – eine typische Konstellation etwa bei der Auszahlung von Renten im Ausland. Denn ein Staat hat Hoheitsgewalt („jurisdiction“) nur über die Personen, Vermögenswerte und Tätigkeiten im Inland sowie über die eigenen Staatsangehörigen, wo auch immer sie sich befinden477. Die Unzulässigkeit einer auf die EMRK oder den ICCPR gestützten Klage eines sich im Vertragsausland aufhaltenden Anspruchsberechtigten gegen die Reduktion seiner in einem Vertragsstaat erworbenen Rente wäre damit zu begründen, dass zwar das entsprechende inländische Recht den Sachverhalt regelt, dies aber eine nicht der Hoheitsgewalt des Vertragsstaats unterworfene Person betrifft. Die Regelung eines Sachverhalts allein bedeutet keine Ausübung von Hoheitsgewalt478. Allenfalls wäre mit der Nachwirkung der Hoheitsgewalt zu 475 Für die Sicherung der sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche ist nicht notwendig, dass die Betreffenden ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Vertragspartei haben; die Rechte werden auch beim Aufenthalt in einem anderen Vertragsstaat gewahrt. Art. 19 ESC schreibt vor, die Zusammenführung eines zur Niederlassung im Hoheitsgebiet berechtigten Wanderarbeitnehmers mit seiner Familie zu erleichtern, bezieht damit auch Familienangehörige mit ein, die sich noch im Heimatland befinden. 476 Indonesia, UN Docs. A / C.3 / SR.1100 para 4, A / C.3 / SR. 1102, para. 48 (1968); vgl. dazu auch Ramcharan, Equality and Nondiscrimination, S. 263. 477 Oxman, Jurisdiction, S. 56. 478 Die entgegengesetzte Argumentation, die, auf das Territorialitätsprinzip gestützt, das Sozialversicherungsrecht nur auf Sachverhalte anwendbar sah, die sich innerhalb der eigenen Staatsgrenzen ereigneten, da Hoheitsgewalt lediglich im eigenen Hoheitsgebiet ausgeübt werden dürfe, ist mittlerweile gerade im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt und der Regelung von Sachverhalten mit Auslandsberührung widerlegt worden; vgl. dazu Schuler, Internationales Sozialrecht, S. 204 ff., m. w. N. zur Diskussion der Problematik.
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argumentieren, um auch im Ausland befindliche Ausländer in den Schutzbereich der Pakte mit einzubeziehen. In der Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte wird das Problem gesehen, aber nicht umfassend erörtert479, die Europäische Menschenrechtskommission dagegen blendet es in den entsprechenden Fallkonstellationen aus480. Die anderen Menschenrechtspakte enthalten weder Art. 2 Abs. 1 ICCPR noch der Bestimmung in der ESC / RESC oder EMRK vergleichbare Regelungen, dürfen also als ratione personae nicht eingeschränkt angesehen werden. (2) Umfang des Diskriminierungsverbots Auch wenn in den Menschenrechtsverträgen die konkrete Formulierung regelmäßig lautet „die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf . . . an“, so ist doch zu sehen, dass Differenzierungen im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit in den jeweiligen Bestimmungen zum Diskriminierungsverbot nicht explizit ausgeschlossen sind481. Als diskriminierend verstanden werden Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politische oder sonstige Anschauung, nationale oder soziale Herkunft, Vermögen, Geburt, sonstiger Status, zum Teil darüber hinaus Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit482, Behinderung483 und Alter484. Ein Hinweis auf die Staatsangehörigkeit fehlt aber in allen Abkommen mit Ausnahme des Internationalen Übereinkommens über den Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienmitglieder von 1990 (MWC). Hier wird in Art. 1 und 7 MWC neben dem Kriterium „nationale, ethnische oder soziale Herkunft“ explizit auch die Staatsangehörigkeit genannt. Allerdings geht es dabei – im Gegensatz zu den anderen menschenrechtlichen Abkommen der Vereinten Nationen – nicht um die Gleichberechtigung von Staatsangehörigen und Nicht-Staatsangehörigen, sondern vielmehr um die Gleichberechtigung der Nicht-Staatsangehörigen untereinander. 479 Im Fall Ibrahima Gueye v. Frankreich etwa argumentiert der Ausschuss für Menschenrechte, dass es ausreiche, wenn die Antragsteller im Bezug auf ihre Rentenrechte der französischen Jurisdiktion unterfielen; eine Begründung, ob dies auch tatsächlich zutreffe, fehlt aber (Ibrahima Gueye v. Frankreich (3. 4. 1989), Communication Nr. 196 / 1985, Punkt 9.4); vgl. dazu S. 344 ff. 480 Der von der Kommission entschiedene Fall J. W. und E. W. . / . Vereinigtes Königreich vom 3. 10. 1983 betraf die Klage britischer Staatsangehöriger, die nach Australien emigriert waren, gegen die Nicht-Indexierung von Rentenleistungen. Der gleichfalls von der Kommission entschiedene Fall X. . / . Deutschland vom 4. 3. 1976 (DR 8 S. 76) betraf den Anspruch eines in Argentinien lebenden argentinischen Staatsangehörigen auf Auszahlung der in Deutschland erworbenen Rente. 481 Vgl. Art. 2 Abs. 2 ICESCR, Art. 2 Abs. 1, Art. 26 ICCPR, Art. 14 EMRK, Art. 2 Abs. 1 CRC. 482 Vgl. Art. 14 EMRK. 483 Vgl. Art. 2 Abs. 1 CRC. 484 Vgl. Art. 1 MWC.
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Das in den Katalogen von Diskriminierungsgründen genannte Kriterium der „nationalen Herkunft“ (national origin) ist grundsätzlich nicht mit Staatsangehörigkeit gleichzusetzen; gemeint wird damit vielmehr der ethnische Ursprung unabhängig von der aktuell bestehenden Staatsangehörigkeit bzw. eine ehemalige, aber nicht mehr bestehende Staatsangehörigkeit485. Für den CERD weist Schwelb anhand der Entstehungsgeschichte nach, dass die unterschiedliche Bedeutung von „nationality“ und „national origin“ bei der Ausarbeitung des Textes wohl bewusst war. So führte die amerikanische Vertreterin aus: „. . . national origin differed from nationality in that national origin related to the past – the previous nationality or geographical region of the individual or of his ancestors – while nationality related to the present status“486.
Um Missverständnisse auszuschließen, wurde so, nachdem das Kriterium „national origin“ in den Katalog aufgenommen worden war, Art. 1 Abs. 2 CERD eingefügt: „The Convention shall not apply to distinctions, exclusions, restrictions or preferences made by a State Party . . . between citizens and non-citizens“487.
Auch für Konvention Nr. 111 der IAO ist „national origin“ und „nationality“ nicht identisch488. Nun ist die Aufzählung von per se diskriminierenden Unterscheidungsmerkmalen freilich in keinem der Abkommen – mit Ausnahme von Konvention Nr. 111 der IAO – abschließend. Es handelt sich nur um Beispiele. Dennoch ist auffällig, dass gerade ein sehr bedeutendes Merkmal wie „Staatsangehörigkeit“ ausgeblendet wird489. Die Auslegung des Wortlauts legt so nahe, dass Staatsangehörigkeit nicht als grundsätzlich verbotenes Unterscheidungsmerkmal angesehen wird. Die kontextuelle Auslegung allerdings widerspricht diesem Ergebnis. So liefert der Sachzusammenhang im ICESCR ein wichtiges Argument, das Kriterium der Staatsangehörigkeit in den Katalog von Diskriminierungsverboten hineinzulesen490. In Art. 2 Abs. 3 ICESCR wird bestimmt, „dass Entwicklungs485 Vgl. dazu die Kommentierung zum ICESCR: Craven, International Covenant, S. 172; Kartashkin, Economic, Social and Cultural Rights, S. 131. 486 UN Doc. A / C.3 / SR.1304; zitiert nach Schwelb, Racial Discrimination, S. 1007. 487 Davy, Internationales Flüchtlingsrecht, S. 367 FN 430, geht trotzdem davon aus, dass Unterscheidungen nach Maßgabe der Staatsangehörigkeit und der nationalen Herkunft gleichbedeutend seien. 488 Vgl. Nielsen, Concept of Discrimination, S. 827 ff., S. 840 ff. 489 So lässt sich argumentieren, die Merkmale, die explizit genannt werden, begründen eine Beweislastumkehr: dient eines dieser Merkmale als Grundlage für eine unterschiedliche Behandlung, so ist von einem Verstoß auszugehen, der aber ausnahmsweise zu rechtfertigen ist. Wird eine Unterscheidung aufgrund eines nicht genannten Merkmals getroffen, so ist im Einzelnen nachzuweisen, dass die Unterscheidung willkürlich ist; vgl. Pettiti; Decaux; Imbert, Commentaire, Art. 14, S. 477.
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länder unter gebührender Berücksichtigung der Menschenrechte und der Erfordernisse ihrer Volkswirtschaft entscheiden können, inwieweit sie Personen, die nicht ihre Staatsangehörigkeit besitzen, die im Pakt garantierten Rechte gewährleisten wollen“. Daraus ist im Gegenschluss zu entnehmen, dass entwickelten Ländern eine derartige Differenzierungsmöglichkeit gerade nicht eingeräumt werden soll, und zwar weder in Bezug auf wirtschaftliche, noch in Bezug auf nicht-wirtschaftliche Rechte. Dieses Ergebnis wird auch von den „Limburg Principles“ bestätigt: „As a general rule the Covenant applies equally to nationals and non-nationals“491.
Dieses Verständnis wird zudem auch gestützt durch die zum ICESCR eingelegten Vorbehalte492. Bei der EMRK legt der Umkehrschluss aus Art. 16 EMRK, nach dem die politische Betätigung von Ausländern Beschränkungen unterworfen werden darf, nahe, dass sonstige Reduktionen des grundrechtlichen Schutzes von Ausländern nicht zulässig sind. Zudem spricht für den Ausschluss von Unterscheidungen auf der Grundlage der Staatsangehörigkeit der Wortlaut von Art. 1 EMRK, wonach die Vertragsparteien nicht den jeweiligen Staatsangehörigen, sondern „allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen“ die in der Konvention niedergeleg-ten Rechte und Freiheiten garantieren493. Dies gilt entsprechend auch für den ICCPR494. Das Auslegungsergebnis, dass die universellen Menschenrechtsverträge sowie die EMRK grundsätzlich eine Gleichstellung von In- und Ausländern erfordern, wird von der Spruchpraxis der verschiedenen Sachverständigenausschüsse und vom EGMR bestätigt495. Konkret bedeutet dies, dass Art. 11 ICESCR, Art. 27 CRC und Art. 5 e IV CERD auch auf Nicht-Staatsangehörige Anwendung finden, die Staaten also das
490 Vgl. auch Kokott, Staatsangehörigkeit, S. 42, die von einer „großen Affinität“ zwischen nationaler Herkunft und Staatsangehörigkeit spricht und aufgrund dessen einen strikten Kontrollmaßstab bei Differenzierungen fordert. 491 Prinzip Nr. 42, abgedruckt bei Hunt, Social Rights, S. 241 ff., anders Lillich, Human Rights of Aliens, S. 48: „On balance, though, one is led to the conclusion, no matter how reluctantly, that the Economic, Social and Cultural Covenant does not embody a general norm of non-discrimination against aliens, as does the Civil and Political Covenant“; zur Auslegung durch den Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vgl. S. 293. 492 Vgl. dazu S. 196 ff. 493 Vgl. in diesem Sinne auch Gomien / Harris / Zwaak, Convention, S. 383. 494 Vgl. Lillich, Aliens, S. 44 ff. 495 Entweder wird das Kriterium der Staatsangehörigkeit unter „anderer Status“ subsumiert oder ohne weitere Prüfung als grundsätzlich diskriminierend angesehen, es sei denn, es fänden sich für die Unterscheidung rechtfertigende Gründe. Anders ist nur das Verständnis von Konvention Nr. 111 der IAO, die im Gegensatz zu den anderen Pakten keine Öffnungsklausel enthält und auch nicht erweiternd ausgelegt wird; vgl. dazu ausführlich S. 308 ff. (Konvention Nr. 111) und S. 344 ff. (Menschenrechtspakte).
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Recht auf einen angemessenen Lebensstandard und das Recht auf Fürsorgeleistungen in Notfällen für Nicht-Staatsangehörige grundsätzlich anerkennen. Soweit Fürsorgemaßnahmen als Leistungspflichten auf der Grundlage von Freiheitsrechten, insbesondere dem Recht auf Leben und dem Verbot der unmenschlichen Behandlung, gefordert werden, ist gleichermaßen kein Unterschied im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit zu machen. Ausdrücklich geregelt ist ein Teilaspekt der Fürsorge für bedürftige Fremde von dem Internationalen Übereinkommen über den Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienmitglieder von 1990496. Zwar geht es, wie der Titel besagt, um den Schutz der Wanderarbeitnehmer, nicht aber um die Fürsorge für Bedürftige. Allerdings sind beide Fragen dann miteinander verbunden, wenn diejenigen, die zur Arbeitsaufnahme freiwillig ins Ausland gehen, in der Folge dort bedürftig werden, ohne von einem Sozialschutzsystem abgesichert zu sein. Ihnen wird ein Recht auf eine medizinische Behandlung in Notfällen, aber kein umfassendes Recht auf Gleichbehandlung garantiert497. Gleichermaßen eine explizite und, wie die Spruchpraxis des Sozialrechtsausschusses zeigt, auslegbare498 Bestimmung enthält die ESC / RESC. Nach dem Wortlaut findet der Grundsatz der Gleichbehandlung auf diejenigen bedürftigen Fremden aus Vertragsstaaten, die sich rechtmäßig im Inland befinden, in Übereinstimmung mit dem Europäischen Fürsorgeabkommen499 Anwendung; die gegen das EFA eingelegten Vorbehalte und die im EFA enthaltenen Beschränkungen kennzeichnen so die Grenzen des durch die ESC / RESC vermittelten Schutzes500; eine Gleichstellung wird nur mit Einschränkungen erreicht. Das Fehlen eindeutiger Bestimmungen zum Umfang des menschenrechtlichen Schutzes Fremder bei Bedürftigkeit hat bereits in den 70er Jahren zu Versuchen geführt, die Lücken zu schließen, so etwa mit der Resolution der Unterkommission zur Verhinderung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten, die allerdings tautologisch ist und in der Sache nicht weiterführt501. Mit der Resolution vom 13. 12. 1985 „Declaration on the Human Rights of Individuals Who are not Nationals of the Country in which They Live“502 wird eine Kompromissformel gefunden. Das Recht auf soziale Sicherheit, gesundheitlichen Schutz, medizinische Versorgung und soziale Dienstleistungen wird garantiert Vgl. dazu S. 75. Vgl. den Wortlaut der Bestimmung (Art. 28 MWC) oben abgedruckt auf S. 69. 498 Vgl. dazu S. 265 ff. 499 Dazu sogleich S. 154 ff. 500 Zur Auslegung der Bestimmung durch den Sozialrechtsausschuss vgl. S. 267 ff. 501 Vgl. den Wortlaut: „. . . restrictions [on human rights] on the grounds of a person’s nationality or citizenship, can be admissible only when they are not contrary to the relevant provisions of international law“; UN doc. E / CN.4 / CN.4 / 1160, E / CN.4 / Sub.2 / 354 (1974). 502 General Assembly Resolution 40 / 144; zur Entwicklungsgeschichte vgl. Lillich, Aliens, S. 51 ff. 496 497
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„. . . provided that they fulfil the requirements under the relevant regulations for participation and that undue strain is not placed on the resources of the State (Art. 8 Abs. 1 (c))“.
Die Beschränkungen sind evident: Ein Recht auf Fürsorgeleistungen wird nicht einbezogen; finanzielle Belastungen des Aufenthaltsstaates werden als Rechtfertigungsgrund für Ungleichbehandlungen anerkannt. Betrachtet man die Menschenrechtsverträge rechtsvergleichend, ist so keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Umfang staatlicher Fürsorgepflicht für Fremde zu entnehmen. bb) Multilaterale Fürsorgeverträge Eine explizite multilaterale vertragliche Regelung würde helfen, die Rechtslage im Einzelnen zu klären. Der auf dem Internationalen Wohltätigkeitskongress in Kopenhagen im Jahr 1910 ausgesprochene Wunsch nach einer eigenständigen multilateralen Regelung des Problems der Bedürftigkeit ist aber für viele Jahre ein unerfülltes Desiderat geblieben; bis zur Gegenwart gibt es nur Regelungen auf regionaler, nicht auf universeller Ebene. Einschlägig ist das 1953 abgeschlossene Europäische Fürsorgeabkommen503, dem mittlerweile 17 Mitgliedstaaten des Europarats beigetreten sind504. Zwar enthält es keinen allgemeinen Anspruch der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten auf Mindestansprüche zur Sicherung der Existenz in Notfällen. Allerdings ist darin die Verpflichtung normiert, diejenigen Angehörigen aus anderen Vertragsstaaten, die sich rechtmäßig im Lande befinden, im Falle der Bedürftigkeit den eigenen Staatsangehörigen gleichzustellen 505. Die Verklammerung der Thematik mit dem Ausweisungsrecht regelt Art. 6 EFA. Danach ist die Rückführung ausländischer Staatsangehöriger nur aufgrund von Bedürftigkeit ausgeschlossen. Allerdings gilt dieser Grundsatz nicht für diejenigen, die sich weniger als fünf bzw. zehn Jahre (je nach Alter) im Land aufhalten, sofern sie transportfähig sind und keine engen Bindungen an den Aufenthaltsstaat haben506. – Diese Vorschrift stellt den kleinsten 503 European Convention on Social and Medical Assistance vom 11. 12 1953, in Kraft getreten am 1. 7. 1954 (ETS 014). 504 Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Island, Irland, Italien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien, Schweden, Türkei, Großbritannien. 505 Vgl. den Wortlaut von Art. 1 des EFA: „Jeder der Vertragschließenden verpflichtet sich, den Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebiets, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge ( . . . ) zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind“. 506 Zu dem Abkommen vgl. Jansen, Europarat und soziale Integration, S. 16 ff.; Schuler, Internationales Sozialrecht, S. 779 ff.; Marquardt, Fürsorgeempfänger, S. 20 ff.
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gemeinsamen Nenner dar, den einzelne Staaten des Europarats zu dieser Frage erreicht haben507. Das Protokoll zum EFA508 dehnt diesen Schutz grundsätzlich auch auf Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention509 aus, obwohl in Art. 23 dieser Konvention eine Gleichstellung auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge bereits vorgesehen wird. Eine wortgleiche Regelung findet sich in Art. 23 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. 9. 1954510. Neben den Flüchtlingen und Heimatlosen werden im Recht des Europarats noch verschiedene weitere Gruppen von in besonderer Weise Bedürftigen berücksichtigt. Kriegsversehrte, gleich ob Militärangehörige oder Zivilisten, können nach einem Spezialabkommen bei Aufenthalten im Ausland eine besondere Hilfeleistung des Aufenthaltsstaates in Anspruch nehmen511. Sie haben einen Anspruch auf kostenlose Reparatur von Prothesen und sonstigen Hilfsmitteln – eine Regelung, die, wenn auch erst 17 Jahre nach dem Krieg ausgearbeitet, so doch als Unterstützung im Hinblick auf individuelle Kriegsfolgelasten zu verstehen ist. Als besondere Form eines Schutzes für Bedürftige ist auch die „European Convention on the Compensation of Victims of Violent Crimes“ aus dem Jahr 1983512 anzusehen, auch wenn sie dogmatisch dem Entschädigungs- und nicht dem Fürsorgerecht zuzuordnen ist. Hier geht es um Leistungen für Bürger aus anderen Staaten, die selbst Opfer eines Gewaltverbrechens geworden oder aber Hinterbliebene eines Opfers sind. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für Leistungen (Kompensation für den Verlust von Einkommen, Ersatz der Kosten für medizinische Versorgung und Unterbringung im Krankenhaus und für das Begräbnis sowie Unterhaltsleistungen für Hinterbliebene) sind grundsätzlich nicht bedürftigkeitsabhängig; allerdings ist der Aspekt der Fürsorge daraus ersichtlich, dass Leistungen abhängig von der finanziellen Situation reduziert oder verweigert werden können513. Die IAO ist sehr zurückhaltend, wenn es um den Schutz Bedürftiger geht, ist doch Ziel der Schutz der Arbeitnehmer, insbesondere auch der Wanderarbeitneh507 Zur Problematik der Einschränkung durch Vorbehalte S. 196 ff.; zur rechtsfortbildenden Auslegung von Art. 13 ESC / RESC vgl. S. 267 ff. 508 Protocol to the European Convention on Social and Medical Assistance vom 11. 12. 1953, in Kraft getreten am 1. 7. 1954 (ETS No. 014 A). 509 Convention relating to the Status of Refugees vom 28. 7. 1951, in Kraft getreten am 22. 4. 1954. 510 Convention relating to the Status of Stateless Persons vom 28. 9. 1954, in Kraft getreten am 6. 6. 1960. 511 Vgl. Agreement between the Member States of the Council of Europe on the issue to military and civilian war-disabled of an international book of vouchers for the repair of prosthetic and orthopaedic appliances vom 17. 12. 1962, in Kraft getreten am 27. 12. 1963 (ETS. Nr. 040). 512 ETS. Nr. 116, in Kraft getreten am 1. 2. 1988. 513 Vgl. Art. 7 des Abkommens.
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mer, nicht aber die Fürsorge für bedürftige Fremde. Vereinzelte Regelungen lassen sich finden, so etwa Art. 8 der Konvention Nr. 97 (Migration for Employment Convention (Revised)) aus dem Jahr 1949. Danach dürfen diejenigen Arbeitnehmer, die dauerhaft zur Beschäftigung zugelassen worden sind, grundsätzlich auch dann nicht in ihren Heimatstaat zurückgeschickt werden, wenn sie krank geworden sind oder einen Unfall erlitten haben. Anders dagegen, wenn sie bedürftig geworden ist. Der Arbeitnehmer sollte dann zwar nicht in sein Heimatland verbracht werden, allerdings werden Rückführungsabkommen, die bestimmte Bedingungen erfüllen, für zulässig gehalten514. Umgekehrt soll der Heimatstaat den bedürftigen Rückkehrern Unterstützungsleistungen nicht versagen515. Insgesamt sind explizite vertragliche Regelungen zum Schutz ausländischer Staatsangehöriger im Falle der Not selten.
2. Fremde als Arbeitnehmer Die auf völkerrechtlicher Ebene entstehenden sozialrechtlichen Probleme, wenn Migranten im Ausland eine bezahlte Tätigkeit aufnehmen und der Vorsorge für den Eintritt der allgemeinen Risiken bedürfen, sind gesondert zu betrachten. Freilich kann die jeweilige nationale Rechtsordnung die Frage von Art und Umfang der Einbeziehung in die sozialen Schutzsysteme regeln. Derartige Regelungen bleiben aber, sind sie nicht aufeinander abgestimmt, in vielfacher Hinsicht unbefriedigend. Es gilt, die verschiedenen Interessen von Aus- und Einwanderungsländern, aber auch von Ländern, zwischen denen ein Austausch von Arbeitskräften stattfindet, aufeinander abzustimmen. Im Bereich der Sozialversicherung hat der Aufenthaltsstaat ein Interesse daran, dass seine sozialrechtliche Schutzgesetzgebung auch für Nicht-Staatsangehörige gilt, um Verzerrungen der Wettbewerbssituation zu vermeiden. Aus der Sicht des Auswanderungsstaates ist entscheidend, dass diejenigen, die im Alter oder dann, wenn sich ein anderes soziales Risiko verwirklicht hat, zurückkehren, ebenso wie die Familienangehörigen, die im Heimatstaat zurückbleiben, nicht ohne Sicherung sind. Der Frage, wie die sozialrechtliche Stellung der Ausländer in den einzelnen nationalen Schutzsystemen zu regeln ist, geht logisch die Frage voraus, welches Recht auf sozialversicherungsrechtliche Probleme zur Anwendung kommt.
514 Die Regelung zu dieser Problematik findet sich nicht in der Konvention, sondern in der mit ihr im Zusammenhang stehenden Empfehlung Nr. 86 (Art. 18). 515 Vgl. Art. 20 Empfehlung Nr. 86.
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a) Regelungen zur Abgrenzung zwischen verschiedenen nationalen Rechtssystemen516 Bauen Nationalstaaten Systeme sozialer Sicherheit auf, so stehen diese nicht wie Monolithe nebeneinander. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Sachverhalten, die verschiedene nationale Systeme gleichermaßen berühren und die damit Koordinierungsregelungen erforderlich machen. Nun können die jeweiligen nationalen Rechtssysteme diese Frage unabhängig voneinander regeln; beispielsweise kann für Leistungen der Arbeiterunfallversicherung als Anknüpfungspunkt die Staatsangehörigkeit des Versicherten und seiner Angehörigen, der Ort des Abschlusses des Arbeitsvertrags, der Ort des Unternehmenssitzes, der Ort, an dem sich ein Unfall ereignet hat, oder der Ort, an dem die Arbeitsleistung gewöhnlich zu erbringen ist, genommen werden. Begrenzungen der Regelungen zum anwendbaren Recht sind allenfalls dem Territorialitätsprinzip 517 und dem Grundsatz der Nichteinmischung518 zu entnehmen. – Sind die verschiedenen nationalen Regelungen aber nicht aufeinander abgestimmt, kann es zu negativen Normenkonflikten – auf einen Sachverhalt findet überhaupt keine Rechtsregel Anwendung – ebenso wie zu positiven Normenkonflikten – ein Sachverhalt unterfällt zwei oder mehreren Rechtssystemen gleichermaßen – kommen. Beispielsweise zeigen die Regelungen in den ersten Arbeiterunfallgesetzen und – soweit explizite Regelungen nicht vorhanden sind – die Entscheidungen der verschiedenen nationalen Gerichte grundsätzlich unterschiedliche Konzeptionen zur Koordinierung. Während etwa die Schweiz, Frankreich, Italien und Belgien davon 516 Im Folgenden werden die Regelungen zur Abgrenzung zwischen verschiedenen nationalen Sozialrechtssystemen und zur Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer in den nationalen Sozialrechtssystemen getrennt dargestellt, um die verschiedenen Sachfragen transparent zu machen. In der Literatur zum sozialrechtlichen Koordinierungsrecht werden sie in der Regel zusammengefasst. Dass ein in diesem Sinn umfassend verstandenes „Internationales Sozialrecht“ über ein ausschließlich Normkonflikte regelndes Internationales Privatrecht hinausgeht, ist evident; vgl. Schuler, Internationales Sozialrecht, S. 842: „Im Vergleich zum Internationalen Privatrecht hat sich ergeben, dass dem freizügigkeitsspezifischen Sozialrecht eine weitergehende und wesentlich andere Aufgabe und Funktion zukommt. Die diesem obliegende umfassende Bewältigung der Internationalität von Sachverhalten kann sich nicht nur auf die kollisionsrechtliche Abgrenzung des Anwendungsbereichs des inländischen Sozialrechts beschränken, es hat vielmehr auch sachrechtlich über die nationale Begrenzung oder transnationale Öffnung sowie über Modifizierungen des (binnenstaatlichen) Sozialrechts zu befinden“. 517 Das Prinzip besagt grundsätzlich, dass sich die Regelungsmacht des Staates auf Sachverhalte beschränkt, die sich auf seinem Territorium ereignen. Ursprünglich wurde es als Grundlage des international-sozialrechtlichen Koordinierungsrechts herangezogen, erwies sich dafür aber als nicht geeignet; vgl. dazu im Einzelnen v. Maydell, Sach- und Kollisionsnormen, S. 63 ff.; Schuler, Internationales Sozialrecht, S. 204 ff. 518 Dabei geht es darum, dass ein Staat sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einmischen darf. Für das sozialrechtliche Koordinierungsrecht bedeutet dies, dass ein Staat nicht Sozialleistungsansprüche gegenüber Personen begründen kann, zu denen keinerlei Beziehung besteht; vgl. Eichenhofer, Internationales Sozialrecht, Rdnr. 142.
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ausgehen, dass der Arbeitsvertrag Grundlage der sozialversicherungsrechtlichen Rechtsbeziehung ist, betont man in Österreich und Deutschland die öffentlichrechtliche Rechtsnatur der Versicherungsgesetze519. Dies hat sehr früh schon zu der Erkenntnis geführt, dass völkerrechtliche Verträge zur Klärung der in diesem Bereich entstehenden Fragen notwendig sind520.
aa) Bilaterale Verträge zur Bestimmung des auf sozialrechtliche Fragen anwendbaren Rechts In den bilateralen, den Problemen der Sozialversicherung gewidmeten Verträgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich zu der Frage des jeweils anwendbaren Rechts keine expliziten Regelungen. In dem französisch-italienischen Abkommen von 1904 wird lediglich bestimmt, dass ausländische Arbeitnehmer bei Entschädigungsansprüchen aufgrund eines Unfalls, der sich im Inland ereignet hat, inländischen Arbeitnehmern gleichzustellen sind521; diese Regelung impliziert aber nicht unbedingt, dass auf Arbeitsunfälle das Recht des Ortes zur Anwendung kommt, an dem sich der Unfall ereignet hat522, auch wenn dies als Regelfall vorausgesetzt wird523. Gleiches gilt nach dem französisch-belgischen Abkommen von 1906; dabei sind allerdings Ausnahmen im Falle eines nur vorübergehenden Aufenthalts eines Arbeitnehmers sowie bei Transportunternehmen vorgesehen524. Dieser Regelungsansatz wird in einer Reihe weiterer Verträge, zum Teil fast wortgleich, kopiert525. Dennoch erscheint eine umfassendere, über bilaterale Vertragsbeziehungen hinausgehende explizite Klärung der Frage wünschenswert; erst, wenn universell ein einheitlicher Ansatzpunkt festgelegt wird, können Normenkonflikte vermieden werden526. 519 Vgl. zu den für das Recht der Arbeiterunfallversicherung im Einzelnen vertretenen Theorien Mahaim, Droit international ouvrier, S. 123 ff. 520 Vgl. den Leitsatz auf der dritten Delegiertenversammlung der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz am 28. 9. 1904: „Für die Rechte, welche dem Arbeiter und seinen Hinterbliebenen in den Versicherungs- und Haftpflichtgesetzen gewährt sind, ist maßgebend das Gesetz des Ortes, wo der Betrieb liegt, in welchem er beschäftigt wird“; vgl. Hein, Ausdehnung der deutschen Sozialgesetzgebung. 521 Vgl. Art. 1 d: „Les ouvriers et employés de nationalité italienne, victimes en France d’accidents par le fait ou à l’occasion du travail, ainsi que leurs représentants résidant en France auront droit aux mêmes indemnités que les Français et réciproquement.“ 522 Eichenhofer, Internationales Sozialrecht, Rdnr. 51, argumentiert, nach dem Abkommen von 1904 sei die lex loci laboris anwendbar. 523 Es wäre aber dennoch beispielsweise möglich, nach nationalem Recht auf Entsendungsfälle aus dem Ausland das Recht des Sitzes des entsendenden Unternehmens anzuwenden. 524 Vgl. Art. 1 und 2 des Arrangement franco-belge relatif à la réparation des accidents du travail vom 21. 2. 1906. 525 Vgl. im Einzelnen die Nachweise bei Mahaim, Droit international ouvrier, S. 141. 526 Vgl. v. Maydell, Sach- und Kollisionsnormen, S. 83.
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bb) Multilaterale Verträge zur Bestimmung des auf sozialrechtliche Fragen anwendbaren Rechts In den frühen Übereinkommen der IAO wird das Problem der Normenkonflikte gleichermaßen nur implizit erfasst. Nach Konvention Nr. 19 der IAO sind bei Arbeitsunfällen, die sich auf dem Staatsgebiet eines Staates ereignen, inländische und ausländische Arbeitnehmer gleichzustellen (Art. 1)527; in Entsendungsfällen dagegen sollen besondere Abkommen geschlossen werden, auf deren Grundlage das Recht des entsendenden Staates zur Anwendung gebracht wird (Art. 2). Ergänzend findet sich in der Empfehlung Nr. 25528, die wie auch die Konvention Nr. 19 aus dem Jahr 1925 stammt, die Regelung, dass dann, wenn in einem Land keine Arbeiterunfallversicherung existiert, auf die Gesetze des Heimatlandes zurückgegriffen werden soll. Konvention Nr. 35529 greift das Problem für die Rentenversicherung – und diesmal in aller Deutlichkeit – auf. Grundsätzlich soll die lex loci laboris anwendbar sein; Ausnahmen sind möglich, werden besondere Vereinbarungen getroffen (Art. 13); außerdem können für Grenzgänger Spezialvorschriften erlassen werden (Art. 14). Die Regelungen für die Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung in den Konventionen Nr. 37 und 39 sind identisch530. In den nachfolgenden sozialversicherungsrechtlichen Konventionen Nr. 102, 121, 128, 130 wird die Frage dagegen nicht explizit angesprochen. Da die Konventionen aus den 60er Jahren (Nr. 121, 128 und 130) aber die Konventionen aus den 30er Jahren (Nr. 37 und 39) revidieren, entsteht dann, wenn eine der neuen Konventionen an die Stelle einer der älteren Konventionen tritt, eine Regelungslücke531. Freilich wird diese Lücke, betrachtet man das gesamte von der IAO entwickelte Rechtssystem, wieder gefüllt, indem in Konvention Nr. 157532 Detailregelungen zur Vermeidung von Normenkonflikten aufgenommen werden. In Konvention Nr. 157 der IAO wird zwischen Angestellten, Selbständigen und nicht zum wirtschaftlich aktiven Teil der Bevölkerung gehörenden Personen unterschieden. Auf Angestellte ist das Recht des Staates anwendbar, in dem sie gewöhnlich beschäftigt sind; Entsendefälle werden nicht speziell geregelt. Bei Selbständigen gilt das Recht des Staates, in dem sie für gewöhnlich ihrer Tätigkeit nachgehen, auch wenn ihr Wohnsitz in einem anderen Staat liegt. Bei sonstigen Personen wird an den Wohnsitz angeknüpft. Diese Re527 Vgl. den Wortlaut „Each Member . . . undertakes to grant to the nationals of any other Member which shall have ratified the Convention, who suffer personal injury due to industrial accidents happening in its territory, or to their dependants, the same treatment in respect of workmen’s compensation as it grants to its own nationals“. 528 Recommendation concerning Equality of Treatment for National and Foreign Workers as regards Workmen’s Compensation for Accidents vom 5. 6. 1925. 529 Vgl. zum Umfeld der Entstehung von Konvention Nr. 35 oben S. 122 ff. 530 Vgl. Konvention Nr. 37 (Art. 14, 15) und Konvention Nr. 39 (Art. 16, 17). 531 Vgl. zu dieser Problematik S. 394 ff. 532 Convention concerning the Establishment of an International System for the Maintenance of Rights in Social Security) vom 21. 6. 1982, in Kraft seit 11. 9. 1986.
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geln sind aber nicht starr. Vielmehr können die Mitgliedstaaten in gegenseitigen Vereinbarungen „im Interesse der betroffenen Personen“ auch abweichende Regelungen treffen. Diese Ausnahmemöglichkeit ist problematisch, da damit der Grundsatz der Inklusion ausländischer Beschäftigter in die inländische Arbeitsgesellschaft unterminiert werden kann; insbesondere ist der Verweis auf die „Interessen der Betroffenen“ ein dehnbarer Begriff. Außerdem sind die Regeln von Konvention Nr. 19 und Konvention Nr. 157 der IAO nicht miteinander kompatibel533, so dass sich zu dieser Frage bereits im Recht der IAO ein in sich uneinheitliches Set von internationalen Regelungen ergibt. Die dem Koordinierungsrecht gewidmeten vorläufigen Übereinkommen des Europarats534 behandeln die Frage der Normenkonflikte nicht explizit. Es wird lediglich bestimmt, dass Regelungen, die zwischen zwei oder mehr Vertragsparteien gelten, zwischen allen Vertragspartnern Anwendung finden; nach Art. 3 a gilt dies auch für Bestimmungen zur Frage des anwendbaren Rechts. Ausführliche Vorgaben zur Regelung von Normenkonflikten enthält dagegen die Europäische Konvention über Soziale Sicherheit von 1972535. Der Frage sind fünf detaillierte Bestimmungen gewidmet, die im Grundsatz mit Konvention Nr. 157 der IAO übereinstimmen, allerdings eine Vielzahl zusätzlicher Ausnahmebestimmungen enthalten. Den multilateralen Menschenrechtsverträgen sind keine Anhaltspunkte zur Klärung von Normenkonflikten zu entnehmen. Dennoch könnte es sich auch hier um ein menschenrechtliches Problem handeln. Es könnte zu Friktionen mit dem Diskriminierungsverbot kommen, wenn die Anwendung eines ausländischen Rechts zu einer Schlechterstellung Einzelner führt, etwa bei Fällen der Einstrahlung, wenn ein Recht mit einem niedrigeren Schutzniveau einschlägig ist. Beruht die Anwendung eines anderen Rechts aber auf einem sachgerechten Anknüpfungspunkt, so wäre dennoch ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot zu verneinen. b) Regelungen zur Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer in nationalen Sozialschutzsystemen Mit der Einführung der Sozialversicherungsgesetze Ende des 19. Jahrhunderts gilt es, auch die Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer im jeweiligen System zu definieren. Die nationalen Regelungen in den verschiedenen Versicherungszweigen sind unterschiedlich. In den Schutz bei Arbeitsunfällen werden ausländi533 Konvention Nr. 19 (Spezialfall des Arbeitsunfalls): Recht des Staates, in dem sich der Unfall ereignet hat; Konvention Nr. 157 (allgemeine Regelung): Recht des Beschäftigungsortes; Problem: Unfall im Ausland bei vorübergehender Tätigkeit; Konvention Nr. 19: Notwendigkeit einer Spezialregelung, Recht des entsendenden Staates; Konvention Nr. 157: keine Regelung. 534 Vgl. dazu ausführlich S. 172 ff. 535 European Convention on Social Security vom 14. 12. 1972, in Kraft getreten am 1. 3. 1977 (ETS Nr. 78).
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sche Arbeitnehmer regelmäßig einbezogen; Leistungen werden aber bei einer Rückkehr in die Heimatstaaten nicht oder nicht vollständig erbracht536. Begründet wird dies damit, dass man die Ansprüche von Ausländern bei Arbeitsunfällen nicht ausschließen könne, da man sonst Arbeitgebern einen Anreiz gäbe, bevorzugt Ausländer einstellen, dass es aber auch keinen Grund gebe, Ausländer, die sich außerhalb des Landes befinden, zu unterstützen; zudem sei die Kontrolle schwierig537. In die Mehrzahl der Krankenversicherungssysteme538 sind ausländische Arbeitnehmer grundsätzlich gleichberechtigt mit einbezogen539, vereinzelt finden sich aber auch Beschränkungen, insbesondere im Hinblick auf staatliche Zuschüsse zu den Leistungen540. Im Bereich der Rentengesetzgebung ist zwischen steuerfinanzierten Systemen, Versicherungssystemen und Systemen, die freiwilliges Sparen fördern, zu differenzieren. Während Ausländer in steuerfinanzierten541 und Alterssparsystemen542 regelmäßig vollständig ausgeschlossen sind, werden sie in Versicherungssysteme einbezogen, aber gegenüber inländischen Arbeitnehmern schlechter gestellt543. 536 Im deutschen Arbeiterunfallgesetz vom 6. 7. 1884 wird eine Einbeziehung der ausländischen Arbeitnehmer zwar vorgesehen, allerdings schadet der ausländische Wohnsitz dem Leistungsanspruch des Berechtigten ebenso wie dem Anspruch der Hinterbliebenen; statt eines Rentenanspruchs wird die Möglichkeit einer einmaligen Entschädigungszahlung vorgesehen. Diese Regelung gilt auch für eine Reihe weiterer nationaler Arbeiterunfallversicherungsgesetze in Frankreich, Österreich, Norwegen, Finnland, Dänemark. Nach dem russischen Gesetz von 1903 wird Ausländern überhaupt kein Anspruch zugedacht; allerdings wird explizit die Möglichkeit zur Änderung dieser Bestimmung in bilateralen Abkommen vorgesehen. Im italienischen Gesetz vom 17. 3. 1898 dagegen findet sich die Bestimmung, dass nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung die Staatsangehörigen anderer Länder auch dann eingeschlossen werden können, wenn der Verunfallte selbst in seinen Heimatstaat zurückkehrt oder sich seine Hinterbliebenen dort aufhalten. Auch die Gesetze von Spanien und Belgien, den Niederlanden und der Schweiz machen keinen Unterschied zwischen aus- und inländischen Arbeitnehmern; vgl. dazu ausführlich die rechtsvergleichenden Studien bei Mahaim, Droit international ouvrier, S. 100 ff. 537 Vgl. Annalen des Deutschen Reichs Band XII S. 315 (Begründung zum zweiten Gesetzesentwurf vom 8. 5. 1882). 538 Vgl. z. B. Deutschland, Österreich, Ungarn. 539 Dies gilt nicht zu den Wahlen zu Vertretungsorganen; vgl. im Einzelnen Mahaim, Droit international ouvrier, S. 90 ff. 540 Vgl. das englische System. 541 Z. B. in Großbritannien, Neuseeland und Dänemark; vgl. Mahaim, Droit international ouvrier. S. 159 ff. 542 Z. B. in Belgien und Italien. 543 Das deutsche System einer Altersversicherung sieht auch für ausländische Arbeitnehmer Versicherungspflicht und Recht auf Leistungen vor, trifft aber verschiedene Sonderregelungen für den Fall der freiwilligen oder zwangsweisen Rückkehr in den Heimatstaat; die im Ausland lebenden Hinterbliebenen des Versicherten haben einen Anspruch nur auf die Hälfte der Rente unter Ausschluss der staatlichen Zuzahlungen. Besonders nachteilhaft ist die Stellung der ausländischen Arbeitnehmer im französischen System ausgestaltet. Sie müssen zwar wie die Staatsangehörigen Beiträge zahlen. Die Leistungen werden aber um die Zuzahlungen des Staates wie die Leistungen auf der Grundlage der Arbeitgeberbeiträge gekürzt;
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Derartige nationale Regelungen führen dazu, dass Arbeitnehmer unter Umständen trotz Beitragszahlung in ein ausländisches Sicherungssystem beim Eintritt eines Risikos ungesichert sein können, insbesondere dann, wenn sie in ihr Heimatland zurückkehren. Dies widerspricht dezidiert den Interessen der Auswanderungsstaaten, da ihre Fürsorgesysteme dadurch übermäßigen finanziellen Belastungen ausgesetzt sein können, kehren die bedürftig gewordenen Migranten zurück. Aber es passt, soweit soziale Sicherungssysteme zivilrechtliche Haftungssysteme ablösen wie etwa das deutsche Arbeiterunfallsystem, auch nicht zu Grundprinzipien des Zivilrechts – danach ist bei Schadensersatzleistungen eine Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit ausgeschlossen. Und im Übrigen steht einer Ungleichbehandlung bzw. faktischen Schlechterstellung der Anspruch, soziale Gerechtigkeit umfassend zu verwirklichen, entgegen544.
aa) Bilaterale Verträge zur Regelung der Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer in nationalen Sozialschutzsystemen Regelungen zu der Frage, ob Arbeitnehmer, die im Ausland arbeiten und im Alter in ihren Heimatstaat zurückkehren, ihre Ersparnisse mitnehmen oder transferieren können, insbesondere auch, ob Ansprüche, die sie in einem Alterssicherungssystem in einem Land erworben haben, in ein anderes Land übertragen werden können, finden sich bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in dem Abkommen über die Gewährung von Renten, das am 13. 8. 1827 zwischen Frankreich und dem Herzogtum Parma geschlossen wurde545. Darin wird vorgesehen, dass die geschuldeten Renten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und ohne Wohnortbedingungen auszuzahlen sind. „. . . die vollständige Zahlung von Renten, die der eine Staat den Untertanen des anderen Staates schuldet, ohne dass für die Anspruchsberechtigten die Verpflichtung besteht, im Gebiet der Staaten des Herrschers zu wohnen, der diese Leistung gewährt“.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts werden mit gleicher Zielrichtung Verträge zur Übertragbarkeit von Sparguthaben geschlossen546. Forderungen nach internationalen Regelungen der spezifischen, durch die Einführung von Sozialversicherungsgesetzen in einer Vielzahl von Ländern aufgeletztere sind in einen speziellen Fonds zu entrichten, um den Arbeitgebern keinen wirtschaftlichen Anreiz zu geben, bevorzugt Ausländer einzustellen. 544 Mahaim, Droit international ouvrier, S. 149, führt dazu aus, dass die Verantwortung des Staates für die Sicherung des Arbeitnehmers gerade keine „nationale Schuld“, sondern eine „soziale Schuld“ sei. 545 Nouveaux suppléments au Recueil de Traités von G. F. de Martens, Band I, Nr. 124 / / Reihe 2, Band XXXII, Nr. 80; vgl. dazu ausführlich Perrin, Ursprünge, S. 1 ff. 546 Vgl. z. B. Arrangement du 31 mai 1882 entre la France et la Belgique au sujet des caisses d’épargne; Convention du 4 mars 1897 entre la France et la Belgique au sujet des caisses d’épargne; abgedruckt bei Mahaim S. 311 ff.
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worfenen Fragen werden bereits auf den Arbeiterschutzkongressen Ende des 19. Jahrhunderts erhoben547. Klauseln in Handelsverträgen zeigen eine gewisse Sensibilität für einzelne Aspekte dieser Problematik, auch wenn sie noch keine rechtlichen Lösungen anbieten, sondern nur Offenheit und Verhandlungsbereitschaft signalisieren548. Pionierhaft im Hinblick auf die völkervertragliche Festlegung von Koordinierungsregelungen ist das Abkommen zwischen Italien und Frankreich aus dem Jahr 1904, das wegen seiner für die Harmonisierung von Systemen sozialer Sicherheit relevanten Bestimmungen bereits angesprochen wurde549. Es werden darin – sowie in den nachfolgenden Ausführungsbestimmungen550 – alle technischen Details der Übertragung von in dem einen System angesparten Ansprüchen auf das andere System geregelt551. Zentral ist die vollumfängliche Garantie von Ansprüchen aus der Arbeiterunfallversicherung; dabei werden die Grundsätze der Gleichbehandlung in den nationalen Rechtsvorschriften und der Wahrung erworbener Ansprüche verankert. Der Wohnort des Berechtigten soll keinen Einfluss auf das Bestehen der Ansprüche haben; insofern ist eine Änderung des französischen Gesetzes erforderlich. – In Bezug auf die Alters- und Invalidenversicherung greift der Vertrag den erst noch zu erlassenden Regelungen voraus. Vorgesehen ist, die Staatsangehörigen des jeweils anderen Vertragsstaats auch in das jeweils eigene nationale Sicherungssystem mit einzubeziehen 552. Vorausschauend wird auch die Einbindung in die 547 So lautet beispielsweise der Leitsatz auf der dritten Delegiertenversammlung der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz am 28. 9. 1904 im Hinblick auf die Rechte, die dem Arbeiter und seinen Hinterbliebenen in den Versicherungs- und Haftpflichtgesetzen zu gewähren sind: „. . . Eine verschiedene Behandlung mit Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit, den Wohnort oder den Aufenthaltsort des Berechtigten soll nicht stattfinden“. 548 Vgl. Art. 2 a des Zusatzvertrages vom 3. 12. 1904 zum deutsch-italienischen Handelsvertrag vom 6. 12. 1891: „Die vertragsschliessenden Teile verpflichten sich, in freundschaftlichem Einvernehmen die Behandlung der italienischen Arbeiter in Deutschland und der deutschen Arbeiter in Italien hinsichtlich der Arbeiterversicherung zu dem Zweck zu prüfen, um durch geeignete Vereinbarungen den Arbeitern des einen Landes im anderen Lande eine Behandlung zu sichern, die ihnen möglichst gleichwertige Vorteile bietet“; abgedruckt bei Hein, Ausdehnung der deutschen Sozialgesetzgebung, S. 43. 549 Vgl. dazu S. 116 f. 550 Arrangement franco-italien du 20 janvier 1906 relatif au transfer des dépôts des caisses d’épargne ordinaires des deux pays; Arrangements du 9 août 1910 entre la France et l’Italie relatif aux versements aux caisses nationales de retraites; Arrangement franco-italien du 9 juin 1906 au sujet de la réparation des accidents du travail; abgedruckt bei Mahaim, Droit international ouvrier, S. 325 ff. 551 Vgl. zu den koordinierungsrechtlichen Regelungen des Abkommens Eichenhofer, Internationales Sozialrecht, S. 22 ff. 552 „L’admission des ouvriers et employés de nationalité italienne à la constitution de retraites de vieillesse et peut-être d’invalidité, dans le régime général des retraites ouvrières, actuellement élaboré par le Parlement français, ainsi que la participation des ouvriers et em-
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Arbeitslosenversicherung geregelt; ein Projekt, das zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch in keinem der beiden Länder realisiert ist553. Diese Regelung betritt Neuland, dient sie doch primär dem Schutz ausländischer Arbeitnehmer, wenn auch im Hintergrund manifeste wirtschaftliche Interessen der Staaten stehen. Sie stellt ein Modell dar, das in der Folge in unterschiedlicher Form imitiert wird. Von den bis zum Ersten Weltkrieg abgeschlossenen Abkommen erfasst ein Teil nur die Gleichbehandlung der Angehörigen der jeweiligen Vertragsstaaten und die Koordinierung der Rechtsvorschriften über die Entschädigung bei Betriebsunfällen554, ein Teil geht darüber hinaus und zieht auch noch weitere Versicherungszweige mit ein555. Als Regelungsschwerpunkte von Sozialversicherungsabkommen kristallisieren sich mit der weiteren Ausdifferenzierung der nationalen Schutzsysteme heraus: die Gleichstellung in- und ausländischer Arbeitnehmer, die Sicherung der im jeweiligen System entstandenen Ansprüche, die Auszahlung der Ansprüche auch bei Aufenthalten des Berechtigten im Ausland, die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten556. Unzulänglichkeiten bilateraler Regelungen werden darin gesehen, dass sie, wie nationale Regelungen auch, nur einen bestimmten Ausschnitt der Gesamtproblematik erfassen; insbesondere können internationale Versicherungsläufe, die mehr als einen Aufenthaltsstaat einbeziehen, nicht effektiv geregelt werden. Auch entstehen zusätzliche Probleme, wenn sich die von einem Staat auf die verschiedenen ausländischen Arbeitnehmer anzuwendenden Regelungen nicht nur in Details, sondern auch in der prinzipiellen Ausgestaltung unterscheiden. Deshalb wird es für notwendig erachtet, auf internationaler Ebene allgemeine Grundsätze aufzustellen, die die Einzelbestimmungen in bilateralen Abkommen – die deshalb nicht für verzichtbar gehalten werden557 – determinieren. ployés de nationalité française au régime des retraites ouvrières en Italie, seront réglées aussitôt après le vote de dispositions législatives dans les pays contractants“. 553 In Frankreich wird dazu im Jahr 1905 eine staatlich subventionierte, aber freiwillige Versicherung eingeführt, in Italien im Jahr 1919 eine obligatorische Versicherung (vgl. Alber, Wohlfahrtsstaat, S. 28). 554 Für Deutschland vgl. das Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und Luxemburg über die Unfallversicherung vom 2. 9. 1905, das Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und den Niederlanden über die Unfallversicherung vom 6. 7. 1912, das Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und Belgien über die Unfallversicherung vom 27. 8. 1907; vgl. des Weiteren die Aufzählung der einzelnen bilateralen Sozialversicherungsabkommen bei Perrin, Ursprünge, S. 25 ff. 555 Vgl. für Deutschland als ersten Vertrag das Abkommen über Arbeiterversicherung mit Italien vom 31. 7. 1912, das neben der Unfallversicherung die Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung umfasst. 556 Vgl. Gobbers, Gestaltungsgrundsätze; Wickenhagen / Aulmann, Internationales Sozialversicherungsrecht.
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bb) Multilaterale Verträge zur Regelung der Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer in nationalen Sozialschutzsystemen Die Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer in den jeweiligen nationalen Sozialversicherungssystemen wird in einer Reihe von multilateralen Abkommen näher bestimmt. Zum Teil kommen diese Verträge zwischen benachbarten Staaten zustande558, zum Teil ist Anknüpfungspunkt der Schutz einer bestimmten Gruppe von Arbeitnehmern559. Eine Reihe von Verträgen werden aber auch im Rahmen der Internationalen Organisationen ausgearbeitet; in diesem Fall ist der Kreis der Vertragsstaaten grundsätzlich offen. Auch hier wieder überschneidet sich die Tätigkeit von Vereinten Nationen, IAO und Europarat, überlagern sich allgemeinmenschenrechtliche und spezifisch sozialrechtliche Normen. Regelungsansatz ist die Gleichberechtigung von In- und Ausländern. Nun ist für die Sicherung von Wanderarbeitnehmern aber zusätzlich relevant, dass ihre besondere Situation in Rechnung gestellt wird, insbesondere in verschiedenen Systemen zurückgelegte Versicherungszeiten zusammengerechnet und Anwartschaften berücksichtigt werden. Während der erstere Themenkomplex in den frühen Sozialversicherungskonventionen und auch in den Menschenrechtsverträgen aufgegriffen wird, finden sich zu letzterem Problem Regelungen nur in den späteren Sozialversicherungskonventionen, zumeist aber nur als Rahmenvorgaben, die wegen der Technizität der Materie in Detailbestimmungen auszufüllen sind. Im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz besteht in verschiedenen Punkten Dissens. Zum einen ist strittig, ob das Kriterium der Gegenseitigkeit bei 557 Die Mehrzahl der multilateralen Abkommen verweist auf die Notwendigkeit, ergänzend bilaterale Abkommen abzuschließen; vgl. Art. 3 Konvention Nr. 2 der IAO, Art. 1 Abs. 2 Konvention Nr. 19 der IAO. 558 Abkommen zwischen Dänemark, Norwegen und Schweden vom 12. 12. 1919, Abkommen zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden vom 3. 3. 1937, Abkommen zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden vom 27. 8. 1949 über die gegenseitige Zahlung von Altersrenten; Übereinkommen zur Erweiterung und koordinierten Anwendung der Gesetzgebungen über soziale Sicherheit auf die Staatsangehörigen der vertragsschließenden Teile des Vertrages von Brüssel zwischen Belgien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich vom 7. 11. 1949; Übereinkommen zur Koordinierung der Sozialen Sicherheit der Gemeinsamen afrikanisch–madagassisch-mauritischen Organisation vom 29. 1. 1971; Allgemeines Abkommen zur Sozialen Sicherheit der Wirtschaftsgemeinschaft der Anliegerländer der großen Seen vom 10. 9. 1978; Multilaterales Abkommen über Soziale Sicherheit der Organisation der Zentralamerikanischen Staaten vom 14. 10. 1967; Andenübereinkunft vom 17. 2. 1977; Vierseitiges Abkommen zwischen der BRD, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz vom 9. 12. 1977. 559 Vgl. Abkommen über die Soziale Sicherheit der Rheinschiffer vom 30. 11. 1979 nebst Verwaltungsvereinbarung, in Kraft getreten am 1. 12. 1987 (Vorgängerabkommen: Abkommen vom 27. 7. 1950, Abkommen vom 13. 2. 1961); Vertragsstaaten: Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Schweiz; das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, das Vertragspartner des Abkommens von 1961 war, ist dem Abkommen von 1987 nicht beigetreten; vgl. Europäisches Abkommen vom 9. 7. 1956 über die Soziale Sicherheit der Arbeitnehmer im Internationalen Verkehrswesen.
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den Einzelregelungen zu den sozialrechtlichen Ansprüchen Berücksichtigung finden darf. Die Argumentation beruht hier darauf, dass Angehörigen anderer Staaten nur dann Rechte eingeräumt werden sollen, wenn dies im umgekehrten Fall auch für die eigenen Staatsangehörigen im Verhältnis zum anderen Staat gilt – eine Anwendung des Grundsatzes „do ut des“ im Verhältnis zwischen Staaten, obwohl davon individuelle Rechtspositionen betroffen sind, die in keiner Weise im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. Nach Meinung etwa des Bundesverfassungsgerichts in einer Entscheidung aus dem Jahr 1971 ist es sachgerecht, auf Gegenseitigkeit abzustellen, da es zu den traditionellen Aufgaben eines Staates gehöre, auch außerhalb seiner Grenzen den Schutz seiner Staatsbürger zu gewährleisten560; die Ansprüche der Ausländer werden damit als „Faustpfand“ verwendet. Dieser Argumentation widerspricht das Gericht aber selbst in einer späteren Entscheidung561. Weiter wird unterschiedlich geregelt, inwieweit mit öffentlichen Geldern finanzierte Leistungen Ausländern vorenthalten werden dürfen. Hier ist die Argumentation, dass „Außenstehende“ nicht von einem Umverteilungssystem begünstigt werden sollen, zu dem sie nicht gleichberechtigt beigetragen haben. Schließlich ist fraglich, in welchem Umfang der Export von Leistungen ins Ausland zu garantieren ist. Das betrifft allerdings nur langfristige Leistungen, insbesondere Rentenzahlungen; kurzfristige Leistungen wie Arbeitslosengeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld etc. werden als grundsätzlich nicht exportierbar angesehen. (1) Regelungen im Rahmen der Vereinten Nationen Als Spezialregelung auf universeller Ebene sind die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. 7. 1951 und das Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. 9. 1954 relevant; darin sind Sonderregelungen für Flüchtlinge, die im Zufluchtsstaat Arbeit aufnehmen, enthalten. Die im Wesentlichen wortgleichen Art. 24 der Übereinkommen legen den Grundsatz der Gleichbehandlung auch in Bezug auf Leistungen der sozialen Sicherheit fest, vorbehaltlich einerseits geeigneter Abmachungen über die Aufrechterhaltung der erworbenen Rechte und Anwartschaften, andererseits besonderer Bestimmungen, die nach dem im Aufenthaltsland geltenden Recht vorgeschrieben sind und die Leistungen oder Teilleistungen betreffen, die ausschließlich aus öffentlichen Mitteln bestritten werden, sowie Zuwendungen an Personen, die nicht die für die Gewährung einer normalen Rente geforderten Bedingungen der Beitragsleistung erfüllen. Damit wird nur ein sehr weiter Rahmen festgelegt. Der Aspekt der Gegenseitigkeit ist naturgemäß unbeachtlich. Ungeklärt ist, ob neben diesen Sonderregelungen für Flüchtlinge auch die Verträge Anwendung finden, die die Heimatstaaten der Flüchtlinge mit den Aufenthaltsstaaten geschlossen haben, eine Frage, die etwa im Verhältnis Deutschland – 560 561
Vgl. BVerfG E 30, 406, 414. Vgl. BVerfG E 51, 1 ff.; vgl. dazu auch Köbl, Soziale Rechte von Ausländern, S. 369 ff.
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Türkei von großer Aktualität ist562. Intention der Vertragsparteien von Sozialversicherungsabkommen ist es sicherlich nicht, die Rechtsstellung derer zu regeln, die potentiell aus dem eigenen Land aufgrund von politischer Verfolgung fliehen. Andererseits ist aber zu berücksichtigen, dass die Nicht-Anwendung der bilateralen Verträge, beinhalten sie für die Betroffenen günstigere Regelungen, bedeuten würde, dass die politische Verfolgung gewissermaßen auch auf diesem Bereich fortwirkt563; dies würde dafür sprechen, grundsätzlich das Günstigkeitsprinzip anzuwenden. Wollte man den Normenkonflikt mit Hilfe des Lex-specialis-Grundsatzes lösen, so lässt sich nicht zweifelsfrei bestimmen, welche Regelung spezieller ist564. Das Problem der sozialversicherungsrechtlichen Behandlung von Migranten ist zu speziell, als dass es in den allgemeinen Menschenrechtsverträgen aufscheinen würde. Auch wenn das „Recht auf soziale Sicherheit“ ausländischen Arbeitnehmern grundsätzlich zu gewähren ist565, sind dennoch Einschränkungen möglich, sofern es dafür sachliche Gründe gibt. Ob der Wohnsitz Leistungsberechtigter im Ausland, die Finanzierung von Leistungen mit öffentlichen Mitteln, die fehlende Reziprozität bei der Gewähr von Leistungen als sachliche Gründe für Unterscheidungen anzusehen sind, ist dem Wortlaut der Verträge nicht zu entnehmen. Da für jede Unterscheidung zu prüfen ist, ob es einen rechtfertigenden Grund gibt, ist in diesen Vorschriften ein Potential für Normenkollisionen zu sehen566. Da es aber eine Thematik ist, die für Wanderarbeitnehmer von größter Bedeutung ist, findet sich in der MWC der Vereinten Nationen die Vorschrift, dass grundsätzlich eine Gleichstellung zwischen in- und ausländischen Arbeitnehmern im Bereich der sozialen Sicherheit zu sichern ist. Wie weit die Gleichstellungspflicht geht, wird aber auch hier nicht bestimmt567. Können die ausländischen Arbeitnehmer die Voraussetzungen zum Bezug von Leistungen nicht erfüllen, sind ihnen nach der MWC ihre Beiträge, wenn möglich, zurückzuerstatten – auch hier handelt es sich allerdings nicht um eine strikte Verpflichtung.
562 Vgl. Hänlein, Sozialversicherungsrechtliche Probleme, S. 23 ff.; Nußberger, Wirkungsweise, S. 43 ff. 563 Hänlein, Sozialversicherungsrechtliche Probleme, S. 23. 564 Zu Normenkonflikten und potentiellen Lösungsansätzen vgl. Kapitel D. 565 Zu der Frage der Einbeziehung von Ausländern in den Schutzbereich der Normen und zur Geltung des Diskriminierungsverbots vgl. dazu S. 165 ff. 566 Zur Interpretation durch die verschiedenen internationalen Kontrollkomitees vgl. S. 344 ff. 567 Sind die jeweils geforderten Voraussetzungen typischerweise für ausländische Arbeitnehmer schwerer zu erfüllen (mittelbare Diskriminierung) oder knüpfen sie an der Staatsangehörigkeit an (unmittelbare Diskriminierung), läge kein Verstoß gegen die Konvention vor.
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(2) Regelungen im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation In den Konventionen der IAO wird das Problem der Integration von Ausländern in Sozialversicherungssysteme an verschiedenen Stellen aufgegriffen; die Einzellösungen sind nicht in sich kohärent. Relevant sind die Konvention Nr. 19 aus dem Jahr 1925 (Equality of Treatment (Accident Compensation) Convention)568, die Konvention Nr. 48 aus dem Jahr 1935 (Maintenance of Migrants‘ Pension Rights Convention)569, die Konvention Nr. 118 aus dem Jahr 1962 (Equality of Treatment (Social Security) Convention)570 und schließlich die Konvention Nr. 157 aus dem Jahr 1982 (Maintenance of Social Security Rights Convention)571. Aber auch in anderen Konventionen finden sich zu den Koordinierungsproblemen Regelungen, so etwa in Art. 3 Konvention Nr. 2 (Unemployment Convention)572, Art. 2 Konvention Nr. 3 (Maternity Protection Convention)573, Art. 21 Konvention Nr. 35574, Art. 13 Konvention 568 Kern der Regelung ist die Normierung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für die Arbeiterunfallversicherung; der Wohnort der Beschäftigten soll für die Leistungserbringung ohne Einfluss sein. Vorgesehen ist auch eine Spezialregelung für Entsendungen; vgl. dazu Valticos, Droit international de travail, S. 407; Eichenhofer, Internationales Sozialrecht, S. 25 ff.; Wickenhagen / Aulmann, Internationales Sozialversicherungsrecht, S. 107 ff. 569 Diese Konvention geht über die Regelungen in der Konvention Nr. 19 wesentlich hinaus. Sie erfasst die Risiken Alter, Invalidität und Hinterbliebenenschaft und sieht die Bildung internationaler Versicherungsverläufe vor; Anwartschaften sollen auch bei Wechsel des Beschäftigungslandes erhalten bleiben, die Leistungsberechnung findet nach dem Grundsatz pro rata temporis statt; vgl. dazu Jenks, Convention, S. 215 ff.; Valticos, Droit international du travail, S. 411 ff.; Creutz, Social Security, S. 351 ff.; Eichenhofer, Internationales Sozialversicherungsrecht, S. 26 ff. 570 Die Konvention Nr. 118 sieht die Gleichstellung von In- und Ausländern im Bezug auf Leistungen der sozialen Sicherheit grundsätzlich nur bei Gegenseitigkeit vor; Forderungen, einseitige, nationale Regelungen zu dieser Frage zu treffen, wurden ebenso abgelehnt wie die Gleichstellung von In- und Ausländern beim Bezug von Sozialhilfe (vgl. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz, Gleichbehandlung von In- und Ausländern in der sozialen Sicherheit, 1962, Bericht V). Mit einbezogen werden aber auch Staatenlose und Flüchtlinge. Außer den Regelungen zur Gleichstellung enthält das Abkommen auch Regelungen zur Sicherung von Anwartschaften und bereits erworbenen Rechten. 571 Konvention Nr. 157 hat den umfassendsten Ansatz. Geregelt wird ein universelles System zur Sicherung erworbener Ansprüche und Anwartschaften und zur Bestimmung des anwendbaren Rechts. Wichtig ist, dass auch Regelungen getroffen werden für die Personen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten gearbeitet haben; vgl. Eichenhofer, Internationales Sozialversicherungsrecht, S. 28 ff. 572 In Art. 3 der Konvention Nr. 2 der IAO wird bestimmt, dass die Vertragsstaaten untereinander Vereinbarungen treffen sollen, aufgrund derer die jeweiligen Staatsangehörigen die gleichen Versicherungsleistungen im Fall der Arbeitslosigkeit bekommen. 573 Die Relevanz der Konvention Nr. 3 für das Sozialrecht besteht darin, dass für den Fall der Mutterschaft die Garantie ausreichender Leistungen aus öffentlichen Fonds oder auf der Grundlage einer Versicherung sowie einer kostenlosen Behandlung durch einen Arzt oder eine Hebamme gefordert wird. Im vorliegenden Zusammenhang bedeutend ist, dass diese Rechte unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Mutter gewährt werden („,woman‘ signifies any femal person, irrespective of age or nationality . . .“ (Art. 2)).
III. Integration Fremder in nationale Sozialschutzsysteme
169
Nr. 37575, Abschnitt XII der Konvention Nr. 102 über die Gleichbehandlung von Einwohnern, die nicht die Staatsangehörigkeit des Wohnsitzlandes besitzen576, in Art. 6 Nr. 1 b Konvention Nr. 97577, in Art. 27 Konvention Nr. 121578 und Art. 32 Konvention Nr. 130579. Im Überblick lassen sich die wesentlichsten Regelungen der IAO folgendermaßen darstellen: Konvention
SozialversicherungsAusgestaltung des zweige Gleichbehandlungsgrundsatzes
Nr. 19 IAO Arbeitsunfall in der Industrie
Gleichbehandlung in- und ausländischer Arbeiter, wenn Gegenseitigkeit garantiert wird
Nr. 35 IAO Alter
Gleichbehandlung in Bezug auf Versicherungspflicht, Beitragszahlung und Leistungen, die auf Beiträgen beruhen, unabhängig von Gegenseitigkeit. Gleichbehandlung in Bezug auf öffentliche Zuzahlungen, wenn Gegenseitigkeit garantiert wird. Gleichbehandlung bei nichtbeitragsfinanzierten Renten, wenn Gegenseitigkeit garantiert wird.
Nr. 37 IAO Invalidität
Regelung wie Konvention Nr. 35.
Ausnahmen
Ausnahme für Leistungen aus öffentlichen Fonds, die Personen ab einem bestimmten Alter gezahlt werden; als Voraussetzung darf ein um 5 Jahre längerer Wohnsitz von Ausländern gefordert werden.
574 Danach wird für die Rentenversicherung grundsätzlich die Gleichbehandlung von Inund Ausländern auf der Grundlage der Gegenseitigkeit vorgesehen. Möglich ist aber, die Ansprüche von Ausländern davon abhängig zu machen, dass der potentiell Anspruchberechtigte eine bestimmte Zeit im Land gewohnt hat. Die Anforderungen an Ausländer dürfen hier strenger sein; ein Unterschied von mehr als 5 Jahren im Hinblick auf die Wohnsitzzeit von In- und Ausländern ist aber nicht zulässig. 575 In dieser Vorschrift werden die Ansprüche von Ausländern in der Invaliditätsversicherung geregelt. Vorgesehen ist, dass Ausländer im Hinblick auf Versicherungsverpflichtung und Beitragszahlung ebenso wie im Hinblick auf die auf Beiträgen beruhenden Leistungen gleichzubehandeln sind – dies gilt unabhängig vom Erfordernis der Gegenseitigkeit. Werden die Leistungen allerdings durch staatliche Subventionen aufgestockt, so sollen diese Ausländern nur zugute kommen, wenn insoweit Gegenseitigkeit garantiert wird. Daneben werden noch Sonderregelungen zur Leistungserbringung ins Ausland getroffen. 576 Hier wird grundsätzlich Gleichbehandlung gewährleistet, für Beitragssysteme allerdings nur bei Gegenseitigkeit. 577 Der Grundsatz der Gleichbehandlung kann im Fall der Zahlung von Leistungen aus öffentlichen Fonds für Immigrationsländer aufgrund besonderer Regeln durchbrochen werden. 578 Hier wird – unabhängig von der Gegenseitigkeit – allen Nicht-Staatsangehörigen, die normalerweise im Territorium eines Staates wohnen oder arbeiten, die Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen im Bezug auf Leistungen aufgrund von Arbeitsunfällen gewährt. 579 Die Klausel ist wortgleich wie die in Konvention Nr. 121 enthaltene, nur auf medizinische Leistungen und Krankengeld bezogen.
170 Konvention
A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards SozialversicherungsAusgestaltung des zweige Gleichbehandlungsgrundsatzes
Nr. 44 IAO Arbeitslosigkeit
Ausnahmen
Gleichbehandlung; außer bei der Finanzierung aus Mitteln, zu deren Aufbringung der Bewerber nicht beigetragen hat.
Nr. 48
Invalidität, Alter, Hinterbliebenenschaft
Gleichbehandlung in- und ausländischer Arbeiter in Bezug auf Leistungen aus einer Versicherung (unabhängig von der Staatsangehörigkeit, wenn im Land wohnhaft; unabhängig vom Wohnsitz, wenn Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaates). Gleichbehandlung in Bezug auf Leistungen aus öffentlichen Mitteln, wenn Gegenseitigkeit garantiert wird.
Leistungen aus öffentlichen Mitteln können Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten vorbehalten werden. Leistungen aus öffentlichen Mitteln können Inländern ab einem bestimmten Alter vorbehalten werden.
Nr. 97
Arbeitsunfall, Mutterschaft, Krankheit, Invalidität, Alter, Tod, Arbeitslosigkeit, Familienleistungen, sonstige Risiken, die über soziale Sicherheit abgesichert sind.
Gleichbehandlung in- und ausländischer Arbeiter ohne Rücksicht auf Gegenseitigkeit („undertakes to apply treatment no less favorable“).
Möglichkeit für Einwanderungsländer, im Hinblick auf Leistungen aus öffentlichen Mitteln Sonderregelungen vorzusehen.
Nr. 102
Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Arbeitsunfall, Familienleistungen, Mutterschaft, Invalidität, Hinterbliebenenschaft.
Gleichbehandlung von in- und ausländischen Arbeitnehmern, bei Beitragsleistungen dann, wenn Gegenseitigkeit garantiert wird.
Möglichkeit, im Hinblick auf Leistungen aus öffentlichen Mitteln Spezialregelungen für diejenigen, die nicht im Land geboren sind, vorzusehen.
Nr. 103
Mutterschaft
Gleichbehandlung
Nr. 118
Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Arbeitsunfall, Familienleistungen, Mutterschaft, Invalidität, Hinterbliebenenschaft. Möglichkeit der Wahl.
Gleichbehandlung von in- und ausländischen Arbeitnehmern, wenn Gegenseitigkeit garantiert wird.
Wohnsitzbedingungen möglich
Weitere Regelungen finden sich in Konventionen, die sich mit der Problematik von Wanderarbeitnehmern befassen. In Konvention Nr. 97 (Migration for Employ-
III. Integration Fremder in nationale Sozialschutzsysteme
171
ment Convention (Revised)) aus dem Jahr 1949 wird grundsätzlich Gleichberechtigung vorgesehen; Sonderregelungen zur Sicherung erworbener Rechte und Anwartschaften sowie zu Ansprüchen auf Leistungen, die ganz oder teilweise aus öffentlichen Fonds finanziert werden, und Ansprüchen, die auf Beitragsleistungen beruhen, sind möglich. Zurückhaltender formuliert ist Konvention Nr. 143 (Migrant Workers (Supplementary Provisions) Convention, aus dem Jahr 1975580. Hier wird nur gefordert, eine Politik mit einer entsprechenden Zielrichtung zu verfolgen; die Methoden können nationalen Gegebenheiten angepasst werden581. Von besonderer Bedeutung ist allerdings Art. 9 dieser Konvention, da darin auch für illegale Wanderarbeitnehmer Gleichbehandlung in Bezug auf Rechte, die sich aus einer in der Vergangenheit ausgeübten Beschäftigung ableiten, gefordert wird; das Recht auf Leistungen sozialer Sicherheit wird dabei explizit genannt582. Regelungen zu diesen Fragen enthalten nicht nur die völkerrechtlich verbindlichen Übereinkommen der IAO, sondern auch die Empfehlungen. Ein frühes Beispiel ist die Empfehlung Nr. 2 der IAO aus dem Jahr 1919. Danach sollen auch ausländische Arbeitnehmer der jeweiligen nationalen Sozialgesetzgebung unterstellt werden. Gleichbehandlung mit den inländischen Arbeitnehmern bzw. Berücksichtigung der besonderen Situation der ausländischen Arbeitnehmer wird nicht explizit gefordert; Gegenseitigkeit wird als ein grundlegendes Prinzip internationaler Regulierung in diesem Bereich erachtet583. Empfehlung Nr. 25 ergänzt die Bestimmungen zur Gleichbehandlung der in- und ausländischen Arbeitnehmer in der Unfallversicherung; geregelt werden Erleichterungen beim Zahlungstransfer, bei Streitigkeiten über das Bestehen von Ansprüchen sowie bei der steuerrechtlichen Behandlung. Die Empfehlung Nr. 167 (Maintenance of Social Security Rights Recommendation) aus dem Jahr 1983 entwirft ein Modell für den Abschluss bi- oder multilateraler Sozialversicherungsabkommen. 580 „Each Member . . . undertakes to declare and pursue a national policy designed to promote and to guarantee, by methods appropriate to national conditions and practice, equality of opportunity and treatment in respect of employment and occupation, of social security, . . . , for persons who as migrant workers or as members of their families are lawfully within its territory“ (Art. 10). 581 Am Rande erwähnt werden Fragen der sozialrechtlichen Absicherung von Wanderarbeitnehmern auch in Konvention Nr. 82 (Social Policy (Non-Metropolitan Territories) Convention) aus dem Jahr 1947 (Teil IV), Konvention Nr. 117 (Social Policy (Basic Aims and Standards) Convention) aus dem Jahr 1962 (Teil III) und Konvention Nr. 110 (Plantations Convention) aus dem Jahr 1958. In letzterer sind als Sozialleistungen lediglich Leistungen bei Arbeitsunfällen und bei Mutterschaft vorgesehen. Die Bereitstellung von Leistungen bei Krankheit soll gefördert werden. 582 Vgl. zur Auslegung dieser Bestimmung durch das IAA S. 256 ff. 583 Vgl. den Wortlaut: „The General Conference recommends that each Member of the International Labour Organisation shall, on condition of reciprocity and upon terms to be agreed between the countries concerned, admit the foreign workers (together with their families) employed within its territory, to the benefit of its laws and regulations for the protection of its own workers, as well as to the right of lawful organisation as enjoyed by its own workers“.
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
Einen absoluten Mindeststandard für Wanderarbeitnehmer markiert die Empfehlung Nr. 100 der IAO, die nur für „unterentwickelte“ Länder und Gebiete gilt (Protection of Migrant Workers (Underdeveloped Countries) Recommendation aus dem Jahr 1955). Als erster Schritt werden nicht-diskriminierende Regelungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, medizinischer Versorgung und Arbeitshygiene gefordert. Bei anderen Risiken wird die Möglichkeit der Ungleichbehandlung zugestanden; hier soll über gemeinnützige Vereine auf Gegenseitigkeit Abhilfe geschaffen werden. Mit dieser Empfehlung wird so ein differenzierter Ansatz im Hinblick auf Entwicklungs- und Industrieländer verfolgt, ein Ansatz, den die IAO im Übrigen gerade ablehnt. Die Empfehlung Nr. 151 (Migrant Workers Recommendation) aus dem Jahr 1975 verfolgt dagegen wieder ein einheitliches Konzept und fordert Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit für alle. Aufgrund des Potpourris unterschiedlicher Regelungen ist eine einheitliche Definition der Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer in den jeweiligen sozialen Sicherungssystemen nicht möglich. Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist internationaler Standard; über mögliche Ausnahmen besteht keine Einigkeit. (3) Regelungen im Rahmen des Europarats Der Europarat hat mit den beiden Vorläufigen Abkommen zur Sozialen Sicherheit584 aus dem Jahr 1953 ein eigenes Normensystem geschaffen. Der Anstoß dazu kommt bereits bei der ersten Sitzung der Beratenden Versammlung am 6. 9. 1949585. Da eine Übernahme des Brüsseler Vertrags vom 7. 11. 1949586 nicht möglich erscheint, entschließt man sich, ein neues Vertragswerk auszuarbeiten. Zentral ist zum einen die Regelung der Gleichbehandlung aller Staatsangehörigen aus Vertragsstaaten, zum anderen die Übertragung der in bi- oder multilateralen Vereinbarungen zwischen mindestens zwei Vertragsstaaten enthaltenen Vorteile auf alle Vertragspartner. Die Gewähr der Leistungen kann von – vergleichsweise langen – Wohnsitzzeiten abhängig gemacht werden587. Die vorläufigen Abkommen werden überarbeitet und 1972 durch die Konvention über soziale Sicherheit588, ergänzt durch eine Zusatzvereinbarung589 revidiert. 584 European Interim Agreement on Social Security Schemes Relating to Old Age, Invalidity and Survivors (ETS Nr. 12); European Interim Agreement on Social Security other than Schemes Relating to Old Age, Invalidity and Survivors (ETS Nr. 13); in den Abkommen geht es um Gleichbehandlung auf der Grundlage von Gegenseitigkeit, wobei vergleichsweise umfangreiche Ausnahmen zugelassen werden, sowie um die Einbeziehung Drittstaatsangehöriger in bi- und multilaterale Abkommen. 585 Vgl. 1st Session 1949 Doc. 79, in dem der Aufruf an die Mitgliedstaaten enthalten ist „to be guided by action already taken through bilateral or regional agreements in order to prepare one multilateral agreement legislation completely applicable to the nationals of other parties“. 586 Vgl. oben FN 558. 587 Vgl. jeweils Art. 2 der Abkommen. 588 Vgl. oben FN 535.
III. Integration Fremder in nationale Sozialschutzsysteme
173
Hievon werden alle traditionellen Zweige der sozialen Sicherheit umfasst. Zentral sind auch hier Gleichbehandlungsgrundsatz und Koordinierungsregelungen. Im Hinblick auf den Bezug von Nicht-Beitragsleistungen werden als Voraussetzung Wohnsitzzeiten im Inland festgelegt590. Ein Teil der Bestimmungen des Abkommens (insbesondere der Gleichbehandlungsgrundsatz, die Regeln zur Bestimmung des anwendbaren Rechts) sind unmittelbar anwendbar; im Übrigen ist der Abschluss weiterer bi- oder multilateraler Abkommen erforderlich. Auch in diesem Regelungsbereich werden die genannten Spezialregelungen aber von allgemeinen Regelungen überformt, da den menschenrechtlichen Normen auf regionaler Ebene auch zu diesen Fragen konkrete Antworten zu entnehmen sind. Art. 12 Abs. 4 ESC / RESC ist unmittelbar einschlägig. Auch darin werden der Gleichbehandlungsgrundsatz und das Prinzip der Wahrung der nach den jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften entstandenen Ansprüche sowie das Prinzip der Zusammenrechnung von Sozialversicherungszeiten zur Gewährung, Erhaltung und zum Wiederaufleben der Ansprüche genannt. Nach dem Wortlaut der Vorschrift handelt es sich um eine Verpflichtung, mit bestimmten Mitteln (Abschluss geeigneter zwei- und mehrseitiger Übereinkommen) ein bestimmtes Ziel (Gleichbehandlung, Anspruchssicherung) zu erreichen, nicht aber um die Garantie bestimmter Rechte. Der Sozialrechtsausschuss hat diese Vorgaben allerdings im Wege der Rechtsfortbildung wesentlich erweitert591. Art. 12 Abs. 4 ESC / RESC steht so aufgrund der Detailliertheit der Vorgaben zwischen dem allgemein menschenrechtlichen und dem spezifisch sozialrechtlichen Regelungsansatz. In der EMRK ist ein Recht auf soziale Sicherheit, auf das sich ausländische Staatsangehörige beziehen könnten, nicht normiert. Dennoch hat das case law des EGMR die Rechtsentwicklung auch in diesem Bereich vorangetrieben592. Bei der Beurteilung von Fällen aus der menschenrechtlichen Perspektive werden Spezialnormen grundsätzlich nur unzureichend berücksichtigt; umgekehrt werden spezifisch sozialrechtliche Vorschriften nicht im Hinblick auf die menschenrechtliche Dimension hinterfragt. Das bedeutet, dass die einzelnen Regelungen nicht als einheitlicher Komplex verstanden werden; schon aufgrund der verfahrensrechtlichen Regelungen in den verschiedenen Kontrollverfahren, die den jeweils anwendbaren Kontrollmaßstab einengen, wird das gesamte Rechtsgebiet atomisiert.
589 Supplementary Agreement for the Application of the European Convention on Social Security vom 14. 12. 1972, in Kraft getreten am 1. 3. 1977 (ETS Nr. 78 A). 590 Die Anforderungen sind differenzierter als in den Vorläufigen Abkommen; z. T. sind die Anforderungen geringer; vgl. im Einzelnen Art. 8 Abs. 2 der Konvention. 591 Vgl. zur Interpretation dieser Bestimmungen im Einzelnen S. 261 ff. 592 Vgl. im Einzelnen insbesondere S. 364 ff.
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
Zusammenfassung Die dritte Entwicklungslinie, die zur Ausbildung völkerrechtlicher Sozialstandards führt, ist das völkerrechtliche Fremdenrecht, das im Zuge der Internationalisierung der Sozialpolitik auch „positiv gewährende und schützende Tendenzen“ aufweist. Über die Grundfragen der Versorgung bedürftiger Fremder besteht bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie ein Vergleich der nationalen Regelungen und bilateralen Verträge zeigt, im Wesentlichen Einigkeit. Geht es um die vorübergehende Versorgung unverschuldet notleidender Fremder, spielt das Kriterium der Staatsangehörigkeit grundsätzlich keine Rolle. Anders ist dies dagegen, wenn langfristig Fürsorge nötig ist. In diesen Fällen soll der Heimatstaat zahlungspflichtig und eine Repatriierung möglich sein. Ausnahmen werden für Staatenlose und diejenigen, die sich bereits längere Zeit im Ausland aufhalten, vorgesehen. Trotz dieser Konvergenzen der nationalen Regelungen wird erst 1953 ein multilateraler Vertrag, das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA), geschlossen, in dem die Gleichbehandlung von eigenen und ausländischen Staatsangehörigen und ein grundsätzliches Ausweisungsverbot aufgrund von Bedürftigkeit festgelegt werden. Die Menschenrechtsverträge – mit Ausnahme der ESC und der MWC – enthalten keine expliziten Vorschriften zu dem Problem. Subsumiert man Staatsangehörigkeit aber als „anderer Status“ unter das in den Menschenrechtsverträgen enthaltene Diskriminierungsverbot, sind die Vorschriften, die Fürsorge implizit regeln, auch auf ausländische Staatsangehörige anwendbar, wobei der Schutz allerdings teilweise auf Staatsangehörige aus Vertragsstaaten eingegrenzt wird. Auch auf die Frage der Einbeziehung ausländischer Arbeitnehmer in nationale Schutzsysteme findet der Grundsatz der Gleichbehandlung Anwendung; dieses Problem wird vor allem in den Konventionen der IAO, aber auch in der ESC und in der MWC berücksichtigt. Allerdings ergibt sich keine einheitliche Lösung, welche Ausnahmen zum Gleichbehandlungsgrundsatz zuzulassen sind, ob Gegenseitigkeit als Voraussetzung gefordert werden darf, ob bei aus öffentlichen Geldern finanzierten Leistungen eine unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen ist, ob und in welchem Umfang der Export von Leistungen bei Aufenthalt des Leistungsberechtigten im Ausland erforderlich ist. Hier sind keine einheitlichen Standards erkennbar.
IV. Einbindung der verschiedenen Regelungsansätze ins Völkerrecht Wie eingangs erläutert, sind Sozialstandards dem klassischen Völkerrecht fremd. Die dargestellte Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards wäre nicht möglich gewesen, hätten sich nicht auch die Strukturen des Völkerrechts verändert und für neue Inhalte geöffnet, wäre nicht neben die Aufgabe des Völker-
IV. Einbindung der verschiedenen Regelungsansätze ins Völkerrecht
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rechts, die Koexistenz der Staaten zu sichern, auch die Aufgabe, eine Grundlage für Kooperation zu schaffen und Integration zu ermöglichen, getreten593.
1. Koexistenzrecht Wird als Aufgabe des Völkerrechts die Sicherung der friedlichen Koexistenz angesehen, so stellt sich Völkerrecht, in den Worten Allotts, dar als „. . . the minimal law necessary to enable state-societies to act as closed systems internally and to act as territory-owners in relation to each other“594.
Funktion des Völkerrechts ist, das Zusammenleben zwischen den Staaten zu regeln und Lösungen für Konfliktfälle bereitzustellen. Eine Diskussion über die den verschiedenen Staatssystemen zugrunde liegenden Wertanschauungen zu politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen ist für das Funktionieren des Rechts nicht erforderlich. Es geht um das Nebeneinander von Verschiedenem – um sich berührende Kreise, die sich aber nicht schneiden595. Instrument dieses – klassischen – Völkerrechts sind im Wesentlichen Verträge, die die gegenseitigen Beziehungen der Parteien regeln, die auf Reziprozität aufbauen596. Zentrale Fragestellungen sind etwa Fragen der Anerkennung von Staaten, territoriale Jurisdiktionsgewalt, Grenzregelungen, Immunitätsregelungen und Neutralitätsrecht. Eine Vielzahl der Regelungen stellt sich als Verbote dar, so das Verbot der Verletzung fremder Gebietshoheit, das Verbot der Verletzung fremder Personalhoheit oder das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staa593 Vgl. Friedmann, Changing Structures, der zwischen diesen drei Funktionen des Völkerrechts (Koexistenz, Kooperation und Integration) unterscheidet; vgl. dazu auch die Differenzierungen von Schwarzenberger: international law of power vs. law of reciprocity vs. law of coordination (Schwarzenberger, Power Politics); Geiger: Recht der Koexistenz, Recht der Kooperation und Recht der Legitimation (Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht). Möglich ist auch eine auf zwei Pole aufbauende Systematisierung: Vgl. z. B. Simma: Bilateralismus vs. Gemeinschaftsinteresse (Simma, Community Interest), Bleckmann: Kompetenzvs. Kooperationsvölkerrecht (Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre), Schnorr: politisches vs. unpolitisch-technisches Völkerrecht (Schnorr, Arbeitsrecht); Weil: coexistence vs. cooperation (Weil sieht diesen Dualismus bereits in der Lotus-Entscheidung des StIGH angelegt: „Le droit international régit les rapports entre des Etats indépendants . . . en vue de régler la coexistence des ces communautés indépendantes ou en vue de la poursuite de buts communs“ (vgl. Weil, Droit international, S. 34). Auch die Beweggründe zur Schaffung von Rechtsregelungen sind unterschiedlich. Koskenniemi (Utopia, S. 4 FN 6) spricht einerseits von „State interests and purposes“, andererseits von „communitarian morality“. 594 Allott, Eunomia, S. 324. 595 Vgl. auch Simma, Community Interest, S. 233, der von „value-poverty of bilateralist international law“ spricht; vgl. Henkin, Politics and Values, S. 104: „Traditionally, the international system has been a ,liberal‘ system. Like the liberal state, the international system – when it became a system of essentially secular states – did not have its own vision of The Good, but was designed to allow, help, every state to realize its own notion of The Good, its own value system“. 596 Coplin, Assumptions, S. 619 ff.
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
tes597. Da es im Wesentlichen um eine Abgrenzung von Machtbereichen geht, sind Konflikte häufig. Recht dient als Grundlage für Entscheidungen, bei denen sich die Interessen der Betroffenen unmittelbar gegenüberstehen598. Grundsätzlich kein Raum besteht für die Aufnahme von Sozialstandards, da diese darauf angelegt sind, in den „Innenraum“ der Staaten hineinzuwirken. Die Argumentationen, mit denen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht wurde599, die Notwendigkeit internationaler sozial- und arbeitsrechtlicher Regelungen zu rechtfertigen, zeigen aber, dass man bemüht war, auch diese Regelungen in das zu jener Zeit ausschließlich auf Koexistenz angelegte Recht einzupassen. So versuchte man darzulegen, dass ausgeglichene wirtschaftliche und soziale Bedingungen in den verschiedenen Staaten eine conditio sine qua non für ein friedliches Zusammenleben der Völker seien, eine Überlegung, die in die Präambel der Verfassung der IAO an prominenter Stelle Eingang gefunden hat: „Der Weltfriede kann auf Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden“.
Eine vergleichbare Argumentation ist neuerdings auch in Resolutionen des Sicherheitsrates zu erkennen, wenn er die Not in einem Land als Bedrohung für den Frieden interpretiert600. 2. Kooperationsrecht Geht es nicht nur um Koexistenz, sondern um Kooperation und damit um ein Miteinander, nicht nur ein Nebeneinander der Staaten, so bedeutet auch dies noch nicht, dass das Recht in den Innenraum der Staaten eindringen müsse: auch Staaten, deren Systeme sich grundlegend unterscheiden, können miteinander kooperieren601. Da allerdings eine Basis für die jeweilige Form der Zusammenarbeit geschaffen werden muss, muss auf die innerstaatlichen Strukturen insoweit eingewirkt werden, als dies für eine effektive Zusammenarbeit erforderlich ist. Ausdruck der Kooperationsidee ist die Gründung einer Vielzahl von internationalen Organisationen, die die Zusammenarbeit in verschiedenen Fachgebieten auf eine systematische Grundlage stellen. Dabei geht es um übergreifende Fragen und Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 9; Henkin, Politics and Values, S. 102 ff. Zu den Funktionen des Rechts im Zusammenhang mit Streitentscheidung im internationalen Bereich vgl. Lauterpacht, Function. 599 Vgl. dazu ausführlich Kapitel A.II.2. 600 Vgl. die Erklärung des Sicherheitsrats, auch Probleme wirtschaftlicher und sozialer Art könnten eine Bedrohung des internationalen Friedens darstellen: Security Council Res. 794 vom 3. 12. 1992 (Somalia): „Determining that the magnitude of the human tragedy caused by the conflict in Somalia, further exacerbated by the obstacles being created to the distribution of humanitarian assistance constitutes a threat to international peace and security“ . 601 Vgl. die Umschreibung der Kooperationsfunktion bei Friedmann, Changing Structure, S. 61, 62: „need for positive cooperation which has to be implemented by international treaties and in many cases permanent international organisations“. 597 598
IV. Einbindung der verschiedenen Regelungsansätze ins Völkerrecht
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Probleme, die sich territorial nicht eingrenzen lassen oder die leichter Lösungen zugeführt werden können, wenn man auf internationaler Ebene zusammenarbeitet602. Regelungen internationalen Ursprungs, die innerstaatliche Angelegenheiten betreffen, werden nur dann für rechtfertigbar gehalten, wenn sie Voraussetzung für die konkrete Zusammenarbeit sind; sie sind kein Selbstzweck. Blickt man zurück auf die Diskussion über die Notwendigkeit einer internationalen Arbeits- und Sozialrechtsgesetzgebung, so zeigt sich, dass Argumente auf der Ebene nicht nur der Koexistenz, sondern auch der Kooperation angeführt werden: so werden internationale Sozialstandards als Voraussetzung für einen wirtschaftlich „gesunden“, auf einem fairen Wettbewerb basierenden Handel zwischen den Staaten proklamiert, eine Idee, die wiederum in der Präambel zur Verfassung der IAO explizit angesprochen wird603.
3. Integrationsrecht Ist Integration, sei es auf der Grundlage von regionalen, sei es auf der Grundlage von universellen Zusammenschlüssen604, das Ziel, wird vom Völkerrecht verlangt, Werte zu definieren, eine Wertegemeinschaft, die über den staatlichen Rahmen hinausgreift, zu schaffen605. Diese Wertsetzungen sind nicht mehr im Einzelnen im Hinblick auf ein Kooperationsziel zu rechtfertigen, sondern sie werden als Selbstzweck anerkannt. Die Integrationsidee ist an regionalen Zusammenschlüssen zwischen einzelnen Staaten zu beobachten, soweit sie mit ihren rechtlichen Regelungen über das für eine Kooperation in einem bestimmten Bereich Erforderliche hinausgreifen. Sie zeitigt aber auch auf der universellen Ebene ihre Wirkungen: Mit dem Instrument des Rechts wird die „black box“, wie Simma den Staat im Koexistenzvölkerrecht 602 Vgl. die Charakteristik bei Friedmann, Changing Structures, S. 367: „The universal international law of co-operation, i.e., the body of legal rules regulating universal human concerns, the range of which is constantly extending, extends from matters of international security to questions of international communication, health and welfare“. 603 „Auch würde die Nicht-Einführung wirklich menschenwürdiger Arbeitsbedingungen durch eine Nation die Bemühungen anderer Nationen um Verbesserung des Loses der Arbeitnehmer in ihren Ländern hemmen“. 604 Friedmann, Changing Structures, S. 367, sieht in seiner 1964 veröffentlichten Abhandlung die Integrationsfunktion nur im Bezug auf regionale Zusammenschlüsse als möglich an: „Closely-knit regional groupings can proceed further with the common regulation of their affairs because they are linked by a greater degree of community of interests and values, and usually also of regional proximity, than mankind at large. They can therefore act as pioneers in the transition from international to community law“. 605 Vgl. Khan / Paulus, Völkerrechtsgemeinschaft, S. 217 ff., S. 230: „Ohne die Herstellung eines Wertekonsenses drohen in einer immer interdependenteren Welt sowohl die klassischen zwischenstaatlichen Beziehungen immer labiler zu werden als auch die von der organisierten Staatengemeinschaft eingesetzten Institutionen ihre Funktionsfähigkeit zu verlieren“.
12 Nußberger
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A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
nennt606, geöffnet. Kulturelle, politische und wirtschaftliche Unterschiede zwischen den Staaten sind nicht mehr irrelevant. Vielmehr wird ein Satz an Mindeststandards aufgestellt, über den die Zugehörigkeit zur internationalen Gemeinschaft definiert wird. Werte der Gemeinschaft („community interests“) lassen sich mit Simma definieren als „a consensus according to which respect for certain fundamental values is not to be left to the free disposition of States individually or inter se but is recognized and sanctioned by international law as a matter of concern to all States“607.
Damit wird eine neue Weltinnenpolitik entwickelt608; die staatliche Souveränität wird nicht mehr umfassend anerkannt609, die Innenseite der Staaten wird nach außen gewendet610. Baut das Koexistenz- und das Kooperationsvölkerrecht auf Verträgen auf, die auf dem Reziprozitätsprinzip beruhen, so sind Stütze des Intergrationsvölkerrechts Verträge, deren Erfüllung nicht im Verhältnis ihrer Parteien untereinander realisiert wird611. Das Völkerrecht regelt damit auch das Verhältnis zwischen den Staaten und ihren eigenen Bürgern. Dabei handelt es sich allerdings oftmals weniger um allgemein akzeptierte Verhaltensstandards als um „universelle Referenzstandards“612. So ist gerade hier ein zentrales Operationsfeld des „soft law“. Den Zusammenhang zwischen der Funktion des Völkerrechts, Werte festzusetzen, und der Notwendigkeit innovativer Rechtsstrukturen bringt in besonders deutlicher Form die Stellungnahme der Bevollmächtigten der USA und Vorsitzenden der Menschenrechtskonvention zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck: „In giving our approval to the Declaration today, it is of primary importance that we keep clearly in mind the basic character of the document. It is not a treaty; it is not an international agreement. . . .. It is a declaration of basic principles of human rights and freedoms, to be stamped with approval of the General Assembly by a formal vote of its members, and to serve as a common standard of achievement for all peoples of all nations“613. Simma, International Human Rights, S. 171. Simma, Community Interest, S. 233. 608 Zum Begriff der Weltinnenpolitik vgl. Khan / Paulus, Völkerrechtsgemeinschaft, S. 217 ff. m. w. N. 609 Vgl. Friedmann, Changing Structures, S. 365: “ While the national state continues to be the overwhelmingly important form of political organisation in international society, and the principal repository of legal power, the national state, and its symbol, national sovereignty, are becoming increasingly inadequate to meet the needs of our time. The outward triumph of nationalism, symbolised by the emergence of a host of new sovereign states from colonial status, contrasts with the stark realities of military and economic viability which make the national state an anachronism“. 610 Vgl. das bei Simma, International Human Rights, S. 167, für die Wirkung von internationalen Menschenrechten verwendete Bild: „. . . international human rights law is turning the States‘ insides out in an almost literal sense“. 611 Vgl. dazu ausführlich Simma, Reziprozitätselement, S. 161 ff. 612 Friedmann, Changing Structures, S. 163. 606 607
IV. Einbindung der verschiedenen Regelungsansätze ins Völkerrecht
179
Internationale Vorgaben zur Verwirklichung von sozialem Schutz dienen in der Regel weder der Koexistenz der Staaten, noch sind sie unabdingbare Voraussetzung für Kooperation, auch wenn dies im Bereich des internationalen Handels im Einzelnen strittig ist. Sie sind vielmehr Ausdruck des Bemühens, die – materielle – Grundsicherung des Einzelnen in seinem Staat auch aus internationaler Warte zur Aufgabe jeden Staates zu erklären614 und damit die Definition des Staates als – in der deutschen Terminologie ausgedrückt – „Sozialstaat“ zu festigen615. Die Ansätze zur Standardisierung im Bereich des Sozialschutzes sind so nicht mehr nur reaktiv, sondern proaktiv. Es wird nicht nur auf aktuell bestehende Probleme reagiert – wie etwa mit den Konventionen aus dem Jahr 1906 zum Verbot der Nachtarbeit von Frauen und der Verwendung von gelbem Phosphor in der Streichholzproduktion. Vielmehr wird innerhalb der einzelnen internationalen Organisationen versucht, ein je in sich konsistentes und vollständiges Bild eines Sozialschutzsystems aufzubauen, wobei Standards auch dann für nötig gehalten werden, wenn sie bereits in anderem Kontext existieren; Überschneidungen und Widersprüche sind damit unvermeidbar. Das Spannungsgefüge, in dem sich internationale Sozialstandards bewegen – Koexistenz, Kooperation, Integration –, exemplifiziert in beispielhafter Weise die „Declaration on Social Progress and Development“. So zeigt Art. 3 (e) das Verständnis sozialpolitischer Belange auf der Grundlage eines Verständnisses von Völkerrecht als Koexistenzrecht616, Art. 9 reflektiert eine auf Kooperation617 und Art. 11 (a) eine auf Integration basierende Auffassung618.
613 Stellungnahme von Mrs. Franklin D. Roosevelt, 19 Dept. of State Bulletin 751 (1948), zitiert nach Bleicher, Re-citation, S. 460. 614 Damit wurde, wie Bourquin (Pouvoir Scientifique et Droit International, S. 360) beobachtet, die Philosophie des Laissez-faire des frühen 19. Jahrhunderts, die bei Problemen der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und der sozialen Wohlfahrt verfolgt wurde, verwandelt in eine Philosophie der aktiven staatlichen Intervention und von dort in eine internationalrechtliche Anteilnahme und Organisation. 615 Vgl. dazu Schuler, Internationales Sozialrecht, S. 841: „In dem Maße, in dem sich [die Staaten] als Sozial- oder Wohlfahrtsstaaten definierten, entwickelte und entwickelt sich die Völkergesellschaft zu einer Gesellschaft von Wohlfahrtsstaaten, und je bedeutsamer die soziale Sicherung als Staatsfunktion und Staatsaufgabe wurde und wird, desto selbstverständlicher und umfassender rechnete diese auch zu den Integrationszielen der internationalen Staatenverbindungen“. 616 „The right and responsibility of each State and, as far as they are concerned, each nation and people to determine freely its own objectives of social development, to set its own priorities and to decide in conformity with the principles of the Charter of the United Nations the means and methods of their achievement without any external interference“. 617 „Social progress and development are the common concerns of the international community, which shall supplement, by concerted international action, national efforts to raise the living standards of peoples“. 618 „Social progress and development shall aim equally at the progressive attainment of the following main goals . . .“.
12*
180
A. Entwicklung und Kodifizierung internationaler Sozialstandards
Zusammenfassung Die abstrakten sozialpolitischen Forderungen, die sich einerseits in Traktaten des 17. und 18. Jahrhunderts, andererseits in den Schriften zur Arbeiterfrage im 19. Jahrhundert finden, sind „Recht“ geworden, im Einzelnen kodifiziert nicht nur in den Einzelgesetzen der nationalen Wohlfahrtsstaaten, sondern auch in völkerrechtlichen Verträgen mit mehr oder weniger detaillierten Einzelregelungen. Dabei verläuft die Verrechtlichung nicht gleichmäßig Schritt für Schritt, sondern in Schüben; markante Einschnitte bilden insbesondere die beiden Weltkriege; Quantensprünge in der Entwicklung sind in der Zeit nach 1919 mit der Institutionalisierung der Ausarbeitung völkerrechtlicher Normen im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation und nach 1945 mit der Erklärung des Menschenrechtsschutzes zur Aufgabe sowohl der Vereinten Nationen als auch des Europarats auszumachen. Auf die entscheidenden Fragen gibt es aber so nicht eine, sondern eine Vielzahl von „internationalen“ Antworten. Entspricht ein Staat im sozialen Bereich internationalen Standards, wenn er ein soziales Vorsorgesystem einrichtet, das zumindest einen bestimmten Teil der Bevölkerung gegen bestimmte Grundrisiken unverschuldeter Einkommensausfälle absichert, oder ist es erforderlich, dass die Vorsorgesysteme jeden Einzelnen erfassen? Sind dem Einzelnen gerichtlich durchsetzbare Ansprüche einzuräumen oder genügt es, das System administrativ abzusichern? Sind Fürsorgemaßnahmen auch dann notwendig, wenn keine ausreichende Vorsorge besteht oder die Not verschuldet ist? Sind Fremde in sozialen Fürsorgesystemen gleichberechtigt zu behandeln? Ist das Recht zur Ausweisung bei Bedürftigkeit beschränkt? Kann bei der Inklusion ausländischer Staatsangehöriger in nationale Vorsorgesysteme differenziert werden im Hinblick auf den Wohnsitz des potentiell Berechtigten und die Art der Finanzierung der Leistung? Inwieweit ist zu berücksichtigen, ob sich auch die jeweiligen Heimatstaaten zu Leistungen gegenüber den Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaats verpflichten? Die historische Entwicklung der Ausdifferenzierung von Sozialstandards auf internationaler Ebene zeichnet die Entwicklung von einem Koexistenz- zu einem Kooperations- und schließlich zu einem Integrationsvölkerrecht nach.
B. Umfang der Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen „It is of paramount importance for the promotion of human rights and fundamental freedoms that member States undertake specific obligations through accession to or ratification of international instruments in this field“. Resolution of the General Assembly of the United Nations (1977)
I. Überblick über den Ratifikationsstand sozialrechtsrelevanter Konventionen Nun ist die Ausarbeitung internationaler Standards im Bereich des Sozialrechts – wie dargestellt, handelt es sich um einen sehr vielschichtigen Corpus von Normen – eine Sache, eine völlig andere dagegen die Akzeptanz der Standards durch die einzelnen Staaten als rechtsverbindliche Normen. Gerade bei den Normsetzungsverfahren der Internationalen Arbeitsorganisation ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass Standards mit überwältigender Mehrheit oder gar einstimmig angenommen, dennoch aber nur von einer verschwindend kleinen Zahl von Staaten in der Folge auch ratifiziert werden. Das bedeutet nicht, dass die Standards keine Wirkung hätten – sie mögen als Modelle, Beispiele, Orientierungspunkte für nationale Gesetzgebung dienen1. Dennoch sind sie nicht völkerrechtlich verbindlich. Betrachtet man nun die allgemein-menschenrechtlichen Standards, die auch Vorgaben zur Sozialrechtsgestaltung enthalten, so läßt sich festhalten, dass sie in der Regel von einer großen Mehrheit der Staaten, die Mitglieder in den jeweiligen internationalen Organisationen sind, ratifiziert werden.
1 Vgl. dazu Mc Mahon, Legislative Techniques, S. 17, der ausführt, nicht ratifizierte Konventionen seien Empfehlungen vergleichbar, die Wirkung von Konventionen beruhe wesentlich darauf, Standards zu definieren und nicht, Verpflichtungen festzulegen. Insbesondere bei Konvention Nr. 102 der IAO wird behauptet, sie habe, unabhängig von der niedrigen Zahl an Ratifikationen, eine große Bedeutung für die Rechtsentwicklung; vgl. Blenk-Knocke, Entwicklungsländer, S. 9 ff., sowie die Einzelbeiträge in der Diskussion „Is There a Need for the Further Development of Existing Protection Standards in the Field of Social Security?“ in v. Maydell / Nußberger, Social Protection, S. 187 ff.
182
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
Dies gilt etwa für die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen2: Pakte
ICCPR
ICESCR
CAT
CERD
CEDAW
CRC
MWC
Vertragsparteien
154
151
139
170
180
192
27
Eine Ausnahme bildet lediglich die Migrant Workers Convention, die bisher im Wesentlichen von Drittweltländern, nicht aber von den Industriestaaten ratifiziert worden ist. Die überwiegende Mehrzahl der 46 Mitgliedstaaten des Europarats haben die menschenrechtsrelevanten Konventionen ratifiziert: Pakte
European European Framework European European Convention on Social Charter Social Charter Convention for Convention for Human Rights 1961 Revised the Prevention the Protection and 1996 of Torture and of National Fundamental Minorities Inhuman and Freedoms 1995 Degrading 1950 Treatment or Punishment 1987
Vertragsparteien
45
27
21
45
37
Unterschiede im Ratifikationsverhalten der Staaten in Bezug auf die politischen bzw. sozialen Rechten gewidmeten Übereinkommen sind signifikanter auf der regionalen als auf der universellen Ebene: annähernd gleich viele Staaten haben den ICCPR und den ICESCR ratifiziert, bei EMRK und ESC / RESC weicht die Quote deutlich voneinander ab. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: die Ratifikation der EMRK ist Voraussetzung für die Aufnahme in den Europarat; die Ratifikation der ESC / RESC wird nur empfohlen. Betrachtet man die zentralen Menschenrechtskonventionen der IAO, so wird der Befund, dass diese Standards umfassend angenommen werden, im Wesentlichen bestätigt: Konventionen
Vertragsparteien
2
Forced Labour Convention (Nr. 29) 1930
Freedom Right to Equal of Association Organise and Remuneration Convention Collective Convention (Nr. 87) Bargaining (Nr. 100) 1948 Convention 1951 (Nr. 98) 1949
168
Stand August 2005.
144
154
162
Abolition of Forced Labour Convention (Nr. 105) 1957
165
Discrimination Worst Forms (Employment of Child and Labour Occupation) Convention Convention (Nr. 182) (Nr. 111) 1999 1958 163
156
I. Überblick über den Ratifikationsstand
183
Ein ganz anderes Bild zeigt sich bei den Standards, die explizit sozialrechtlichen Fragen gewidmet sind. Hier ratifiziert regelmäßig – eine Ausnahme gilt für die Konventionen Nr. 19 und Nr. 122 – nur eine Minderheit, bei der es sich dominant um europäische Staaten, zum Teil auch um südamerikanische Staaten handelt; dagegen haben nur sehr wenige der Entwicklungsländer in Afrika und Asien Konventionen ratifiziert3 (siehe folgende Übersicht). KonMaternity Equality of ventionen Protection Treatment Convention (Accident (Nr. 3) Compen1919 sation) Convention (Nr. 19) 1925
Vertragsparteien4
Konventionen
Vertragsparteien
Sickness Insurance Conventions (Nr. 24, 25) 1927
Old Age Insurance Conventions (Nr. 35, 36) 1933
Invalidity Insurance Conventions (Nr. 37, 38) 1933
Survivors Insurance Conventions (Nr. 39, 40) 1933
8/7
33
120
28 / 20
11 / 10
11 / 10
Social Security (Minimum Standards) Convention (Nr. 102) 1952
Equality of Treatment (Social Security) Convention (Nr. 118) 1962
Employment Injury Benefits Convention (Nr. 121) 1964
Convention Concerning Employment Policy (Nr. 122) 1964
Invalidity, Old-Age and Survivors‘ Benefits Convention (Nr. 128) 1967
41
38
23
95
16
Workmen’s Unemploy- MainteCompenment nance of sation Provision Migrants’ (Occupa- Convention Pension tional (Nr. 44) Rights Diseases) 1934 Convention Convention (Nr. 48) (Revised) 1935 (Nr. 42) 1934 53
14
Medical MainteEmployCare and nance of ment Sickness Social Promotion Benefits Security and Convention Rights Protection (Nr. 130) (Nr. 157) against 1969 1982 Unemployment Convention (Nr. 168) 1988 14
3
6
11
Maternity Protection Convention (Revised) (Nr. 183) 2000
11
Auch im Rahmen des Europarats liegt die Quote der Ratifikationen von Übereinkommen zur Koordinierung und Harmonisierung der Systeme sozialer Sicherheit immer unter 50 %; die überarbeiteten Versionen der Europäischen Konvention für Soziale Sicherheit und der Europäischen Ordnung für Soziale Sicherheit hat noch kein Staat ratifiziert:
3 Vgl. zum Ratifikationsverhalten der Entwicklungsländer im Hinblick auf Konvention Nr. 102 der IAO Blenk-Knocke, Entwicklungsländer, S. 8 ff. 4 Die Staaten, die die Konventionen zwischenzeitlich wieder gekündigt haben, werden nicht eingerechnet. In der Regel sind die Kündigungen Einzelfälle. Eine Ausnahme bildet etwa Konvention Nr. 42, die zwischenzeitlich von 12 Staaten gekündigt wurde.
184
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
Übereinkommen
Vertragsparteien
Koordinierungsregelungen
Harmonisierungsregelungen
European European European Protocol European European European Interim Interim Convention on to the Code of Social Code of Social Convention Agreement on Agreement on Social Security Convention on Security Security on the Social Social Security Social Security (+ Supple- Social Security 1964 Revised Protection of Schemes (1) + Schemes (2) + mentary 1994 1990 Farmers Protocol Protocol Agreement) 1974 1953 1953 1972 21
21
8
1
20
0
9
Eine niedrige Ratifikationsrate ist auch bei den speziellen Fürsorge- und Entschädigungsregelungen zu beobachten: Übereinkommen
European Convention on Social and Medical Assistance 1953
European Convention on the Compensation of Victims of Violent Crimes 1983
18
18
Vertragsparteien
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Standards, die die Situation der Wanderarbeitnehmer umfassend regeln und dabei auch Fragen der sozialen Sicherheit thematisieren: Übereinkommen
MWC 1990
Vertragsparteien
27
Migration Migrant Workers European for Employment (Supplementary Convention on the Convention Provisions) Con- Legal Status of (Revised) Nr. 97 vention Nr. 143 Migrant Workers 1949 1975 1977 43
18
8
Auffällig ist, dass sich hier bei den universell geltenden Konventionen das Zahlenverhältnis umkehrt. Die europäischen Länder, die die Konventionen ratifiziert haben, sind im Vergleich zu den Entwicklungsländern in der Minderheit. Die MWC wurde bisher mit Ausnahme von Bosnien-Herzegowina noch von keinem europäischen Staat ratifiziert. Wie läßt sich aber nun dieses unterschiedliche Ratifikationsverhalten erklären? Die signifikant höhere Anzahl von Ratifikationen der grundlegenden Übereinkommen im Bereich des Menschenrechtsschutzes im Vergleich zu den Spezialregelungen zu Problemen sozialer Sicherheit überrascht in keiner Weise. Sie ist auf den Druck der internationalen Gemeinschaft zurückzuführen, die großen Wert auf die Anerkennung der allgemeinen Menschenrechtsstandards de iure legt5. Sie führt 5 Dies lässt sich beispielhaft an der offiziellen Politik der IAO, die eigentlich auf Fragen des Arbeits- und des Sozialrechts spezialisiert ist, nachweisen. Nicht nur hat sie in der „De-
I. Überblick über den Ratifikationsstand
185
aber zu einem im Grunde paradoxen Ergebnis: 151 Staaten erkennen mit der Ratifikation des ICESCR als rechtlich bindende Verpflichtung an, Maßnahmen zu ergreifen, um unter Ausschöpfung aller ihrer Möglichkeiten nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, das Recht eines jeden auf soziale Sicherheit einschließlich der Sozialversicherung zu realisieren; nur 41 Staaten bekennen sich aber dazu, die in Konvention Nr. 102 niedergelegten, an ein System sozialer Sicherheit zu stellenden Mindestanforderungen einzuhalten, und dies, obwohl Konvention Nr. 102 kein vollständiges Sicherungssystem, sondern lediglich die Einhaltung bestimmter Vorgaben in einzelnen Teilbereichen voraussetzt6. In der Diskussion um die Menschenrechtsstandards wird wiederholt die These vertreten, diese Standards spiegelten ein in Westeuropa entwickeltes Gesellschaftsmodell wider, das den Wertsetzungen in anderen Kulturen nicht ausreichend Rechnung trage7. Diese Kritik gilt aber in wesentlich deutlicherem Umfang für die spezifischen Sozialstandards8. Wie dargestellt, greifen die internationalen Standards aus den 20er und 30er Jahren das Bismarck’sche Sozialversicherungsmodell auf, während die Standards der Nachkriegszeit unter dem Begriff „Social Security“ zusätzlich die Überlegungen und Ansätze von Beveridge mit einbeziehen; beide Entwürfe sind Antworten auf die spezifischen Probleme in westeuropäischen Industriegesellschaften mit in der Regel formalisierten Strukturen des Arbeitsprozesses9. Die Entwicklungsländer werden mit Standards konfrontiert, deren Gros ausgearbeitet worden ist, bevor sie die Möglichkeit hatten, ihre spezifischen Vorstellungen mit einzubringen. Auf die für sie drängenden und aktuellen Fragen wie die Absicherung der Arbeitnehmer im informellen Sektor oder die Finanzierung der insbesondere aufgrund von AIDS entstehenden Kosten im Gesundheitswesen finden
claration on Fundamental Principles and Rights at Work“ im Jahr 1998 die grundrechtsrelevanten Konventionen aus dem allgemeinen Normenkomplex herausgefiltert – und dabei Sozialstandards im engeren Sinn nicht einbezogen –, sondern darüber hinaus bemüht sie sich, nicht nur, aber doch insbesondere die Zahl der Ratifikationen gerade dieser als grundlegend erachteten Konventionen gezielt zu erhöhen; vgl. die Ratifizierungskampagne, die von 1998 bis 2001 zu einer Erhöhung der Zahl der Ratifikationen der grundlegenden Konventionen von 879 auf 1109 geführt hat. 6 Zum Wahlrecht vgl. S. 204 ff. 7 Vgl. dazu Cerna, Universality of Human Rights and Cultural Diversity, S. 740 ff.; Stammers, Critique, S. 488 ff.; vgl. auch die Beiträge in den Sammelbänden von Schmale, Human rights and cultural diversity, und Mey, Universalisierungsanspruch. 8 Vgl. dazu ausführlich Blenk-Knocke, Entwicklungsländer, S. 2 ff. 9 Als weitere unausgesprochene politische, ökonomische, soziale und rechtliche Prämissen, auf denen insbesondere Konvention Nr. 102 aufbaut, führt Blenk-Knocke, Entwicklungsländer, S. 6 ff., unter anderem auf: die Existenz eines funktions- und durchsetzungsfähigen Staates mit einer leistungsstarken Administration, Vorherrschen geregelter und unselbständiger Erwerbstätigkeit, stetige Arbeitsverhältnisse, individualisierte Gesellschaften, die auf dem Modell der Kleinfamilie aufbauen, sowie die Akzeptanz des positiven Rechts als Mittel der Implementierung sozialer Sicherheit.
186
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
sie keine Antworten10. Die Annahme der IAO, die soziale Entwicklung in den Industriestaaten würde sich in diesen Ländern wiederholen und Arbeit würde formalisiert werden, hat sich nicht als richtig erwiesen11. Alternative Ansätze, um den spezifischen strukturellen Problemen der Entwicklungsländer zu begegnen, wie etwa Arbeitsbeschaffungsprogramme oder die Bildung von Selbsthilfegruppen, werden in die spezifischen Sozialstandards nicht mit aufgenommen12; für die Entwicklungsländer besteht allenfalls die Möglichkeit, bei einzelnen Bestimmungen von Ausnahmeregelungen Gebrauch zu machen13. Dass die internationalen Standards mit den Bedingungen in nicht-europäischen Ländern nicht nur marginal, sondern strukturell und grundsätzlich unvereinbar sind, zeigt auch eine Auswertung der Kommentare des Sachverständigenausschusses der IAO zu den Berichten aus diesen Ländern14. Die Einführung der von der Weltbank propagierten Modelle sozialer Sicherung in einer Reihe südamerikanischer Staaten hat die Problematik nicht entschärft15. Nicht zuletzt zeigt die Frontenbildung in der Diskussion um die Aufnahme von sogenannten Sozialklauseln in Handelsverträge16, dass Entwicklungsländer die Bindung an derartige Mindeststandards für ihre wirtschaftliche Entwicklung als kontraproduktiv erachten17. Vgl. dazu die Ausführungen und Statistiken in ILO, Social Security, S. 5 ff. Vgl. dazu die Ausführungen der IAO selbst: „In most of its standard-setting and technical cooperation activities on social security, the ILO has expected that an increasing proportion of the labour force in developing countries would end up in formal sector employment or self-employment covered by social security. It implicitly assumed that past economic and social development patterns of the industrialized countries would replicate themselves in other regions. However, experience in developing countries – and more recently in the industrialized countries – has shown that this proportion is in many cases now stagnating or declining“ (ILO, Social Security, S. 3). 12 ILO, Social Security, ebenda. 13 Vgl. dazu S. 211 ff. 14 Detailprobleme, die gerügt werden, sind etwa Verstöße gegen Wartezeiten beim Bezug von Leistungen (z. B. Niger: Wartezeit von sechs statt drei Monaten beim Bezug von Familienleistungen (Art. 43 Konvention Nr. 102)) oder die Gewährung von Leistungen über eine begrenzte Zeitspanne statt, wie vorgeschrieben, unbegrenzt (z. B. Costa Rica: zeitliche Begrenzung der Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten). Viel weitergehend ist es, wenn Leistungen in bestimmten Sozialversicherungszweigen überhaupt nicht gewährt werden (vgl. z. B. Bolivien, Libyen: Fehlen von Familienleistungen, Bericht 1997; Libyen: Fehlen eines sozialen Schutzsystems im Falle der Arbeitslosigkeit, Bericht 2000). Die tatsächlich wichtigen Grundprobleme können dagegen aufgrund des Fehlens statistischer Daten nicht diskutiert werden. Zumeist werden Berichte mangels Verwaltungskapazität überhaupt nicht erstellt. 15 Vgl. dazu S. 299 ff. 16 Wie oben ausgeführt betreffen die „Sozialklauseln“ allerdings nicht „Sozialstandards“, so wie der Begriff in der vorliegenden Untersuchung gebraucht wird, sondern Arbeits- und Grundrechtsnormen; vgl. dazu Kapitel A.II.7. 17 Während sich die USA, Frankreich, Kanada, Japan, Schweden und Australien in der Uruguay-Runde für die Einführung von Sozialklauseln einsetzten, lehnten sie die wirtschaft10 11
I. Überblick über den Ratifikationsstand
187
Anders dagegen stellt sich das Ratifikationsverhalten bei Normen dar, die die Stellung ausländischer Arbeitnehmer in den Sozialschutzsystemen betreffen. Naturgemäß haben Auswanderungsländer ein besonderes Interesse daran, dass ihre in anderen Staaten arbeitenden Staatsbürger von den in den Aufenthaltsstaaten geltenden sozialen Sicherungssystemen erfasst werden. Bei Übereinkommen, die die Gleichstellung ausländischer mit inländischen Arbeitnehmern von der Ratifikation des Übereinkommens durch den Heimatstaat abhängig machen, bedeutet für sie die Ratifikation in der Regel per Saldo einen wirtschaftlichen Vorteil. Vor diesem Hintergrund ist es etwa nicht verwunderlich, dass 76 % der Staaten, die Abkommen Nr. 118 ratifiziert haben, nicht-europäische Länder sind; gleichermaßen deutlich ist das Verhältnis beim Abkommen Nr. 19: Hier sind es 73 % der Staaten. Diese Beobachtung trifft auch für die Schutzstandards für Wanderarbeitnehmer zu. Nimmt man nun speziell das Ratifikationsverhalten der europäischen Staaten in den Blick, so stellt sich zum einen die Frage, inwieweit universelle und regionale Standards, die parallele Regelungen enthalten, auch in gleicher Weise ratifiziert werden. Es lässt sich feststellen, dass von den sozialrechtskoordinierenden Konventionen die im europäischen Rahmen ausgearbeiteten Konventionen eine weit größere Akzeptanz als die auf der universellen Ebene geltenden Standards erfahren18. Das bedeutet, dass die Staaten eher bereit sind, ausländische Arbeitnehmer aus anderen europäischen Staaten in ihren Sozialrechtssystemen gleichberechtigt zu berücksichtigen als Arbeitnehmer, die aus anderen Kontinenten zuwandern19. Bei den europäischen Standards ist allerdings das Problem der Konkurrenz mit dem auf Verordnung 1408 / 71 beruhenden Sozialrechts-Koordinierungssystem der EU zu bedenken; nach Art. 7 der Verordnung 1408 / 71 sind beide Systeme nebeneinander gültig. Besonders überraschend ist aber, dass auch dann, wenn die Standards „nach innen“ gerichtet sind und eine Anpassung des jeweiligen nationalen Systems sozialer Sicherheit erfordern, Unterschiede im Ratifikationsverhalten auszumachen sind. Eine Reihe von Staaten, die die Konvention Nr. 102 der IAO ratifiziert haben, haben die inhaltlich nahezu identische EOSS nicht als rechtsverbindlich anerkannt20. Dies mag sich durch historische Gründe – beispielsweise die Regelung lich aufstrebenden asiatischen Staaten sowie die meisten Entwicklungsländer ab; vgl. dazu Pitschas, Internationale Sozialverfassung, S. 469. 18 Zypern, Tschechien, Griechenland, Island, Litauen, Luxemburg, Portugal, Großbritannien, Österreich, Belgien haben zwar die vorläufigen Abkommen zur Sozialen Sicherheit des Europarats ratifiziert, nicht aber Konvention Nr. 118 der IAO. 19 So haben nur 10 europäische Staaten die Konvention Nr. 118 der IAO ratifiziert, dagegen 21 Staaten die inhaltlich im Wesentlichen damit übereinstimmenden vorläufigen Abkommen zur sozialen Sicherheit des Europarats. Bei beiden Übereinkommen sind jeweils die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten gleichberechtigt in die Systeme mit einzubeziehen. 20 Dies gilt für Österreich, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, die Slowakei, Slowenien, Mazedonien, Island und Polen, die nur Konvention Nr. 102 der IAO, nicht aber die EOSS ratifiziert haben. Umgekehrt hat Estland nur die EOSS ratifiziert.
188
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
zur Rechtsnachfolge in internationale Verträge – oder diplomatische Erwägungen erklären; von der Sache her ist es nicht plausibel.
II. Umfang der Rechtsgeltung Ganz gleich, ob die Standards soziale Aspekte eines gemeinsamen Menschenrechtsverständnisses festlegen, der Verhinderung unlauterer Konkurrenz oder dem Schutz Fremder dienen, in jedem Fall ist Ziel, dass die Standards in vollem Umfang und für alle oder zumindest die überwiegende Mehrheit der Staaten der jeweiligen internationalen Organisation rechtlich verbindlich sind21. Drei verschiedene Wege können zu diesem Ziel führen: Es wird so lange verhandelt, bis ein Kompromiss gefunden ist, den alle Staaten vollumfänglich annehmen können. Es wird ein Modell internationaler Gesetzgebung entwickelt, so dass alle Staaten automatisch an die Standards gebunden sind. Es werden Mechanismen entwickelt, die den einzelnen Staaten auch dann eine Ratifikation ermöglichen, wenn sie die vorgegebenen Standards nicht in toto akzeptieren können. Alle drei Möglichkeiten wurden im Bereich des internationalen Sozialrechts getestet; die letzte Alternative hat sich als die einzig realisierbare herausgestellt.
1. Maximalistischer Ansatz Ziel des maximalistischen Ansatzes ist, völkerrechtliche Regelungen zu schaffen, die zum einen für alle Staaten gelten – zumindest für alle Staaten, für die die vertragliche Regelung rechtlich relevant ist oder sein kann –, zum anderen, dass sie alle gleichermaßen binden und keine Ausnahmen zulassen. Dies gestaltet sich, ganz gleich, um welche völkerrechtliche Regelungsmaterie es sich handelt, grundsätzlich als äußerst schwierig – nicht zufällig entbehren besonders wichtige, aber auch strittige Probleme nach wie vor einer rechtlichen Regelung22. Ted Stein erklärt dies anschaulich als „. . . the fundamental mismatch of ends and means in the contemporary international legal order: the multilateral treaty-making process is legislative in objective but contractual in method“23. 21 Vgl. die einleitend zu Kapitel B zitierte GA Resolution 32 / 130 (1977); zu politischen Maßnahmen im Rahmen der Vereinten Nationen, die die Ratifikation der Menschenrechtsverträge vorantreiben sollen, vgl. Weissbrodt, Ratification, S. 418 ff. 22 Vgl. Vitzthum, Begriff, Rd. 48. 23 Stein, Persistent Objector, S. 465.
II. Umfang der Rechtsgeltung
189
Bei arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen, insbesondere wenn sie eine Harmonisierung des Rechts bewirken sollen, ist es besonders problematisch, Lösungen zu finden, die für die Nationalstaaten mit ihren sehr verschiedenen, historisch gewachsenen Arbeits- und Sozialrechtssystemen ohne Abstriche akzeptabel sind. Dennoch verfolgt man zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bei den ersten Bemühungen, internationale Regelungen auszuarbeiten, den maximalistischen Ansatz, indem man einerseits versucht, Fragen „bis zu Ende zu verhandeln“ und so lange nach Kompromissen zu suchen, bis alle potentiellen Vertragspartner bereit sind, die Standards zu akzeptieren und andererseits erwägt, ein Modell internationaler Gesetzgebung einzuführen. a) Suche nach abschließenden Verhandlungskompromissen Die Ausarbeitung der multilateralen Konvention zum Verbot der Nachtarbeit der Frauen aus dem Jahr 1906 zeigt, wie Kompromisse gesucht werden, um es all denjenigen Staaten, die wirtschaftlich miteinander in Konkurrenz stehen, zu ermöglichen, der Konvention zum gleichen Zeitpunkt beizutreten. Zwar gilt das Prinzip do-ut-des nur eingeschränkt – die Vertragsparteien übernehmen Pflichten gegenüber denjenigen, die ihrer eigenen Staatsgewalt unterworfen sind. Dafür wird das Prinzip „ich-akzeptiere-wenn-du-akzeptierst“ durchgesetzt. Es geht darum, für alle Vertragsstaaten identische Regelungen zum gleichen Zeitpunkt in Kraft zu setzen24. Um trotz der zu Beginn divergierenden Vorstellungen eine für alle akzeptable Lösung zu finden, die auch den jeweiligen Besonderheiten in den einzelnen Ländern Rechnung trägt, wird so lange verhandelt und werden so viele Übergangsbestimmungen und Detailregelungen aufgenommen25, dass schließlich alle Vertragspartner den Übereinkommen in vollem Umfang zustimmen26. Erreicht werden einheitliche Standards, die für alle gleichermaßen gelten. Ein gewisser Grad an Homogenität zwischen den Vertragspartnern erweist sich dabei als conditio sine qua non, um überhaupt zu einem Ergebnis zu kommen; die Gefahr eines Scheiterns ist sehr groß, wie die zeitgleich verabschiedete Konvention zum Verbot der Verwendung von weißem (gelbem) Phosphor in der Streichholzindustrie zeigt. Hier gelingt es gerade nicht, die in diesem Bereich tatsächlich wirtschaftlich tätigen Länder einzubeziehen27. 24 Vgl. zur Bedeutung dieses Prinzips den Notenwechsel zum Inkrafttreten der Konvention über das Nachtarbeitsverbot der Frauen Mahaim, Droit international ouvrier, S. 287; aufschlussreich ist beispielsweise die deutsche Note vom 10. 3. 1910: „En effet . . . les situations ne seraient plus égales si des États signataires, dont l’acquiescement a été une cause déterminante de celui des autres pays, jouissaient, par suite du fait qu’ils n’ont pu déposer à temps leurs ratifications, d’une prolongation de délai qui ne serait pas étendue aux autres parties contractantes“. 25 Vgl. die in Art. 8 der Konvention festgelegte Übergangsfrist von 10 Jahren für bestimmte Industriezweige, die spezifischen Problemen in Belgien, Ungarn und Österreich Rechnung trägt. 26 Vgl. Mahaim, Droit international ouvrier, S. 264 ff.
190
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
Die Konvention von 1906 über das Verbot der Nachtarbeit ist ein Ausnahmebeispiel. Wäre das Ziel, derart umfassende, in allen Staaten zur gleichen Zeit und in gleichem Umfang geltende Standards auszuarbeiten, im Sozialbereich weiter verfolgt worden, würden sich die Regelungen gegenwärtig kaum überschneiden und überlagern; nur zu wenigen grundlegenden Fragen hätten sich für alle als rechtsverbindlich akzeptable Lösungen, die die jeweiligen Sonderprobleme in den einzelnen Staaten mit berücksichtigen, finden lassen. Bei der ersten Konvention der IAO über die Arbeitszeit in der Industrie ratifizieren Österreich, Frankreich und Italien noch unter der Bedingung, dass eine Reihe von anderen Staaten ebenfalls ratifizieren28. Dass bei späteren Konventionen keine derart bedingten Ratifikationen mehr abgegeben werden, macht deutlich, wie von der Erwartungshaltung abgegangen wird, dass sich auch die anderen Staaten in gleicher Weise zu einer Regulierung der nationalen Gesetzgebung verpflichten. Abschließende Verhandlungskompromisse zu erreichen wird als nicht realisierbar angesehen. b) Ansätze zu einer internationalen Gesetzgebung Erkennt man die Notwendigkeit an, völkerrechtlich bindende Regelungen zu Fragen des Arbeits- und Sozialrechts zu schaffen, sieht aber zugleich auch die Unzulänglichkeit der Ausarbeitung umfassender Regelungen auf Vertragsbasis, so ist es nur konsequent, eine grundsätzliche Änderung der Strukturen der Rechtsetzung im zwischenstaatlichen Bereich zu fordern. So wird versucht, für als notwendig empfundene Regelungen im Bereich des internationalen Arbeits- und Sozialrechts ein Verfahren internationaler Gesetzgebung im engeren Sinn zu schaffen – die Regelungen scheitern allerdings allesamt an der fehlenden Bereitschaft der Nationalstaaten, sich im zwischenstaatlichen Bereich gefundenen Lösungen zu unterwerfen. Noch während des Krieges 1917 sowie kurz danach 1919 wird auf zwei Konferenzen in Bern vorgeschlagen, eine internationale Sozialgesetzgebung zu entwickeln und internationale Konventionen, werden sie durch eine internationale Arbeitskonferenz verabschiedet, für allgemein verpflichtend zu erklären29. Vergleichbar ist der Vorschlag der deutschen Gesellschaft für Sozialreform, die in den Friedensvertrag eine Regelung über den Arbeitsschutz und die Sozialversicherung aufnehmen will, die die unterzeichnenden Staaten dazu verpflichtete, ähnliche oder gleichwertige Regelungen zu verabschieden. Vgl. dazu S. 118 f. Da diese Bedingung nicht eingetreten ist, gilt die Konvention in diesen Ländern nicht; vgl. dazu Valticos, Droit international du travail, S. 342 FN 33. 29 Vgl. die Postulate auf der Konferenz von Bern 1917, abgedruckt bei Shotwell, Origins, Band 2, Dokument 7, S. 44 – 49, sowie die Deklaration auf der internationalen Konferenz der Arbeiterorganisationen und sozialistischen Bewegungen der Alliierten im Februar 1919, abgedruckt bei Shotwell, Origins, Band 2, Dokument 39, S. 336 – 340. 27 28
II. Umfang der Rechtsgeltung
191
Auch in den zur Vorbereitung des Friedensvertrags ausgearbeiteten Entwürfen der italienischen 30, französischen31 und deutschen32 Regierung ist eine unmittelbare Rechtsetzungsbefugnis der Internationalen Arbeitskonferenz vorgesehen33. Die von der Friedenskonferenz 1919 beauftragte „Commission on International Labour Legislation“ verabschiedete zwar eine Resolution zu diesem Punkt, in der sie der Hoffnung Ausdruck verlieh, dass Resolutionen Gesetzeskraft hätten: „. . . that, as soon as it may be possible, an agreement will be arrived at between the High Contracting Parties with a view to endowing the International Labour Conference under the auspices of the League of Nations with power to take, under conditions to be determined, resolutions possessing the force of international law“34.
Allerdings wird der in puncto Rechtsetzungskompetenz gemäßigte britische Entwurf vom 2. 2. 1919 als Grundlage für die Arbeit der Kommission herangezogen. In dem britischen Entwurf ist die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorgesehen, die von der Konferenz angenommenen Konventionen innerhalb eines Jahres zu ratifizieren, wenn sich nicht das nationale Gesetzgebungsorgan dem widersetzt – damit eine besondere Form des „opting out“. Dass auch diese Idee nicht umgesetzt wird, zeigt den Mangel an Bereitschaft, die nationale Souveränität zugunsten internationaler Regelungen einzuschränken. Ergebnis der Beratungen ist die Regelung, Konventionen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit zu verabschieden und den Mitgliedstaaten zur Ratifikation vorzulegen. Eine Pflicht zur Ratifikation besteht aber nicht35. 30 Nach dem italienischen Vorschlag sollten die mit Zweidrittelmehrheit verabschiedeten Konventionen von allen Mitgliedstaaten vollzogen werden. Die Regierungen sollten ein Beschwerderecht bei der Konferenz und beim Exekutivrat des Völkerbundes haben, der der Konferenz eine neue Untersuchung der Frage aufgeben könnte. Die zweite Entscheidung wäre nicht mehr mit Rechtsmitteln angreifbar; Bulletin Officiel I (1923), S. 46, 52. 31 Auch die französische Regierung ging davon aus, dass die Entscheidungen der Konferenz von den Staaten zu vollziehen seien. Die damit verbundene Einschränkung der Souveränität wurde für notwendig befunden, um die Bemühungen um eine Vereinheitlichung des Rechts nicht von vornherein zum Scheitern zu verurteilen; vgl. Valticos, Droit international du travail, S. 54, 55. 32 Der Vorschlag Deutschlands (abgedruckt in: Bulletin Officiel 1 (1923), S. 314 – 331) sah vor, dass die Internationale Arbeitskonferenz mit 4 / 5-Mehrheit für alle Mitgliedstaaten verbindliche Regelungen erlassen kann; er wurde aber bei den Verhandlungen nicht weiter berücksichtigt; vgl. Kuttig, German Preparations and Proposals, S. 221 ff. 33 Zu den weitergehenden Vorschlägen, die der Konferenz eine echte Rechtsetzungsbefugnis zuerkennen, siehe auch Mahaim, Les conventions internationales du travail, S. 718 ff. 34 Shotwell, Origins, Band 2, S. 341. 35 Allerdings fand die Diskussion eine Fortsetzung in der insbesondere in der Anfangsphase der Tätigkeit der IAO, aber auch später noch mit Verve geführten Auseinandersetzung um die rechtliche Natur der Konventionen (vgl. die Zusammenstellung und Analyse bei Leary, International Labour Conventions, S. 11 – 12; Valticos, International Labour Law, S. 50 ff.; Morhard, Rechtsnatur, S. 97 ff.). Das Spektrum der vertretenen Meinungen reichte von der Beschreibung der Rechtsetzung durch die IAO als „internationale Gesetzgebung“ über die Bestimmung als „völkerrechtliche Verträge“ bis zur Einordnung als „Modellgesetzgebung für die jeweilige nationale Legislative“. Trotz der Unterschiede bestand aber Kon-
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B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
Derartige Vorstöße zur Umsetzung eines Modells internationaler Gesetzgebung auf universeller Ebene sind seither in dieser Form nicht mehr aufgegriffen worden, auch wenn es einerseits bei rein technischen Materien sowie andererseits auf regionaler Ebene Besonderheiten bei der Rechtsetzung gibt, die einer Gesetzgebung vergleichbar sind36. 2. Minimalistischer Ansatz Nun hat sich der maximalistische Ansatz auf internationaler Ebene im Bereich des Sozialrechts, aber nicht nur da, als nicht realistisch erwiesen. So argumentiert etwa Lauterpacht, das Prinzip der Einstimmigkeit sei „not adapted to the requirements of a growing volume of international regulation by way of multilateral treaties“37.
Ist es utopisch, Sozialstandards auszuarbeiten, die alle Staaten oder auch nur all diejenigen Staaten, die sich in einer wirtschaftlich vergleichbaren Situation befinden, als rechtsverbindlich akzeptieren, so bleibt es dennoch Ziel, in die vertraglichen Vereinbarungen so viele Staaten wie möglich einzubeziehen 38. Aufgrund dessen wurde eine Vielzahl von Techniken entwickelt, die es auch dann, wenn es keine umfassende Einigung in allen Punkten gibt, ermöglichen, Verträge zu bestimmten Regelungsproblemen abzuschließen. So können bei Übereinkommen Vorbehalte geltend gemacht, den Vertragspartnern Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf die verbindlichen Bestimmungen eingeräumt oder die einzelnen Bestimmungen so offen formuliert werden, dass eine Bandbreite unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten bestehen bleibt. Schließlich kann man auch Standards entwickeln, die ihre Autorität aus einer demokratischen Mehrheitsabstimmung beziehen, die aber nicht rechtsverbindlich sind. sens, dass die Konventionen der IAO nicht unmittelbar für die Mitgliedstaaten verbindlich seien. Soweit die Vergleichspunkte zu dem Modell der nationalen Gesetzgebung gesucht wurden, wurde die Abweichung mit Begriffen wie „quasi législatif“ bzw. „prélégislatif“ oder „optionnel“ gekennzeichnet. Der These von einer echten Gesetzgebungsbefugnis wurde vom StIGH auch explizit widersprochen: „The Organization has no legislative power. Each member is free to adopt or to reject any proposals of the Organization either for a national law or for an international convention“ (P.C.I.J. Ser. B., No. 13, S. 1, 17 (1926): Competence of the International Labour Organization to Regulate, incidentally, the Personal work of the Employer). 36 Dies gilt insbesondere für die Rechtsetzung der EG. Soweit Einstimmigkeit erforderlich ist, ist von einem maximalistischen Ansatz im dargestellten Sinn auszugehen. 37 Lauterpacht, International Court, S. 187. 38 Eine Parallele dazu wäre im Konzept der „abgestuften Integration“ oder „differenzierten Integration“ im Bereich des Rechts der EU zu sehen. Auch dabei geht es darum, bei Fragen, bei denen sich kein allgemeiner Konsens erreichen lässt, zumindest einen Teilkonsens zu finden, dem, wenn auch nicht alle, so doch ein großer Teil der Staaten zustimmen können. Dieser Ansatz wurde etwa mit dem Sozialprotokoll von 1993 realisiert; vgl. dazu den Sammelband von Grabitz, Abgestufte Integration sowie speziell zum Sozialrecht Becker, Differenzierte Integration.
II. Umfang der Rechtsgeltung
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a) Einräumung von Vorbehalten aa) Änderung des Verständnisses von Vorbehalten im Völkerrecht Werden Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen ursprünglich restriktiv gehandhabt, so hat sich diese Haltung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geändert. Diese Entwicklung hat nicht unmaßgeblich dazu beigetragen, den Kreis der Staaten, die Sozialstandards als verbindlich anzuerkennen bereit sind, zu erweitern. Ursprünglich wird – auch bei multilateralen Verträgen – ein Vorbehalt als neues Angebot zum Abschluss eines Vertrages gewertet. Das bedeutet, dass ein Vorbehalt nur dann gültig ist, wenn ihm alle Vertragspartner explizit zustimmen – eine Auffassung, die deutlich die umfassende Geltung des Konsensprinzips erkennen läßt: Auch wenn, soweit Vorbehalte möglich sind, ein inhaltlicher Kompromiss nicht zu allen Bestimmungen des Vertrags gefordert wird, so wird zumindest der Kompromiss darüber, für wen welche Ausnahmebestimmung gilt, als unerlässlich angesehen. Bahnbrechend für die neue Konzeption ist die Entscheidung des IGH Genocide Convention39. Danach kommt ein multilateraler Vertrag, auch wenn die Ratifikation von einem oder mehreren Vertragspartnern unter einem Vorbehalt steht, grundsätzlich zustande, auch wenn dem Vorbehalt nicht alle Vertragspartner explizit zustimmen. Eine Ausnahme gilt nur für das Verhältnis zwischen dem den Vorbehalt einlegenden Staat und den Vertragspartnern, die dem Vorbehalt widersprechen, weil sie der Meinung sind, der Vorbehalt sei mit Ziel und Zweck des Vertrags nicht vereinbar40. Damit werden die Vertragsbeziehungen relativiert: Beispielsweise kann ein Vertrag zwischen A und B vollumfänglich gelten, zwischen A und C dagegen nur eingeschränkt. Eine Vertragsbestimmung muss nicht mehr für alle in gleicher Weise gültig sein41. Rosalyn Higgins spricht in diesem Zusammenhang anschaulich von einem „flexible State response system“42. – Das vom IGH initiierte Verständnis von Vorbehalten wurde 1969 in das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (Art. 19 ff.) aufgenommen und ist damit geltendes Recht. Für die Entwicklung des Völkerrechts bedeutet dies einerseits eine Erleichterung der Kompromissfindung und damit der Rechtsentstehung auf der Grundlage von Verträgen. Die Bereitschaft, einen Vertrag zu schließen, ist eher gegeben, wenn 39 ICJ Reports 1951, S. 15 (Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Advisory Opinion). 40 „. . . that it is the compatibility of a reservation with the object and purpose of the Convention that must furnish the criterion for the attitude of a State in making the reservation on accession as well as for the appraisal by a State in objecting to the reservation. Such is the rule of conduct which must guide every State in the appraisal which it must make, individually and from its own standpoint, of the admissibility of any reservation“ (ICJ Reports 1951, S. 23). 41 ICJ Reports 1951, S. 15 (Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Advisory Opinion). 42 Higgins, Introduction, S. XIX.
13 Nußberger
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B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
man, ohne dass dem alle Vertragspartner explizit zustimmen müßten, bei Einzelregelungen, die mit dem nationalen Recht unvereinbar sind, einen entsprechenden Vorbehalt anbringen darf. Andererseits wird aber die Bestimmung dessen, was tatsächlich zwischen den Vertragspartnern als Recht gilt, erschwert43. Im Rahmen von multilateralen Verträgen ist von den verschiedenen Vertragspartnern ein unterschiedliches Verhalten zu erwarten, je nachdem, welche Vorbehalte sie eingelegt haben und wer ihnen jeweils widersprochen hat. Zudem ist ungeklärt, wann ein Vorbehalt gegen Ziel und Zweck eines Vertrages verstößt, insbesondere auch, wer darüber zu befinden hat und welche Rechtsfolgen damit verbunden sind44. Die Problematik ist insbesondere bei Menschenrechtsverträgen virulent45, zum einen, da in der Praxis Vorbehalten selten explizit widersprochen wird, zum anderen, da es eine Vielzahl von Vorbehalten gibt, deren Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck des Vertrages äußerst fragwürdig scheint46. Die Erkenntnis, dass infolge einer Vorbehalte zu Verträgen nahezu unbeschränkt zulassenden Praxis nicht nur der tatsächlich mit einem Vertrag erreichte Kompromiss schwer feststellbar, sondern auch inhaltlich beschränkt wird, hat zu verschiedenen Ansätzen geführt, die Zulässigkeit von Vorbehalten wieder zu begrenzen. So haben der EGMR einerseits47, der Ausschuss für Menschenrechte andererseits48 im Hinblick auf die EMRK bzw. den ICCPR beansprucht, die Vereinbarkeit von Vorbehalten mit Ziel und Zweck des jeweiligen Vertrages prüfen zu können49. Nach der „severability-doctrine“ soll 43 Vgl. dazu den Kommentar des Menschenrechtsausschusses zu der Praxis betreffend den ICCPR: Human Rights Committee’s General Comment No. 24: Issues relating to reservations made upon ratification or accession to the Covenant or the Optional Protocols thereto, or in relation to declarations under article 41 of the Covenant (1994), abgedruckt bei Gardner, Human Rights as General Norms, S. 185: „The number of reservations, their content and their scope may undermine the effective implementation of the Covenant and tend to weaken the respect for the obligations of States Parties“. 44 Zu den verschiedenen zu dieser Frage vertretenen Meinungen (opposability theory vs. admissibility theory) vgl. Simma, Reservations, S. 659 ff. 45 Vgl. dazu ausführlich Gardner, Human Rights as General Norms, Pellet, Second Report, S. 45 ff., Simma; Reservations S. 659, Cohen-Jonathan, Réserves, S. 915 ff.; Frowein, Reservations, S. 403 ff. 46 Vgl. etwa den Vorbehalt der Malediven gegen das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau: „The Government of the Republic of Maldives will comply with the provisions of the Convention, except those which the Government may consider contradictory to the principles of the Islamic Sharia upon which the laws and traditions of the Maldives are founded. Furthermore, the Republic of Maldives does not see itself bound by any provision of the Convention which obliges to change its Constitution and laws in any manner“; vgl. auch die ähnlich weitgehenden Vorbehalte zu diesem Übereinkommen von Malaysia, Marokko, Tunesien, Libyen und Pakistan. 47 Demeltasch (1982), Human Rights Reports 5, S. 417 ff., 1987 Belilos . / . Schweiz (1988), Serie A, Nr. 132, Chrysostomos, (1995), Human Rights Law Journal 12 (1991), S. 113 ff., Loizidou . / . Türkei (1995), Serie A, Nr. 310. 48 Human Rights Committee’s General Comment No. 24 (FN 43), S. 185 ff. 49 Vgl. dazu die Ausführungen des Ausschusses für Menschenrechte (FN 43 S. 191): „It necessarily falls within the Committee to determine whether a specific reservation is compa-
II. Umfang der Rechtsgeltung
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aber dann, wenn ein Vorbehalt nichtig ist, der Staat in vollem Umfang und damit so, als hätte er den Vorbehalt nicht geltend gemacht, gebunden sein50 – eine Theorie, die aber zumindest, soweit sie sich der Ausschuss für Menschenrechte zu eigen macht, vehement bestritten wird51. Hinter der Auseinandersetzung um den Umgang mit Vorbehalten stehen letztlich verschiedene Auffassungen zum Fortgang der Rechtsentwicklung im internationalen Bereich. Die Änderung der Beurteilung von Vorbehalten, die die Rechtsprechung des IGH eingeleitet hat, zeigt deutlich das Interesse an einer Universalisierung vertraglicher Bindungen: Rechtsnormen sollen umfassend gelten. Damit wird in Kauf genommen, dass die vertraglichen Verpflichtungen – was den Inhalt betrifft – unscharf werden; sie werden nicht mehr unbedingt als eine Einheit gesehen, die Akzeptanz eines Ausschnittes des ursprünglich im Vertrag festzuschreibenden Kompromisses wird als besser angesehen als die Ablehnung des Vertrags, und dies auch dann, wenn der Umfang der Bereitschaft der einzelnen Vertragspartner, sich vertraglich zu binden, nicht deckungsgleich ist. Wichtig ist dabei aber zu berücksichtigen, dass diese Rechtsprechung am Beispiel der Völkermord-Konvention entwickelt wurde, d. h. an einer Norm, die für das geltende Völkerrecht als grundlegend eingestuft wurde52. – Die Gegenposition stellt dagegen darauf ab, dass die inhaltliche Einheit und Integrität von Verträgen das entscheidende Moment ist; kann ein Kompromiss zu einer Frage nicht erreicht werden, ist dies auch nicht mit einem Scheinkompromiss zu überbrücken, da sonst statt Rechtssicherheit Rechtsunsicherheit geschaffen würde. Anders als bei Vorbehalten, die in Art. 2 Abs. 2 d WVK definiert werden, werden bei zu Verträgen abgegebenen Erklärungen (declarations) die Rechtswirkungen einzelner Vertragsbestimmungen auf diesen Staat nicht ausgeschlossen oder geändert, sondern lediglich die Auslegung wird in bestimmter Weise vorbestimmt. Aber auch dies kann das Zustandekommen von völkerrechtlichen Verträgen unter Umständen erleichtern. tible with the object and purpose of the Covenant. This is in part because, as indicated above, it is an inappropriate task for States parties in relation to human rights treaties, and in part because it is a task that the Committee cannot avoid in the performance of its functions“. 50 Vgl. oben FN 43: „The normal consequence of an unacceptable reservation is not that the Covenant will not be in effect at all for a reserving party. Rather, such a reservation will generally be severable, in the sense that the Covenant will be operative for the reserving party without benefit of the reservation“. 51 Vgl. die „observations“ der USA, Frankreichs und Großbritanniens, abgedruckt bei Gardner, Human Rights as General Norms, S. 193 ff.; vgl. auch die „Preliminary conclusions of the International Law Commission on reservations to normative multilateral treaties including human rights treaties“, abgedruckt bei Simma, Reservations, S. 681 f. 52 Vgl. die Ausführungen des IGH: „The object and purpose of the Genocide Convention imply that it was the intention of the General Assembly and of the States which adopted it that as many States as possible should participate. The complete exclusion from the Convention of one or more States would not only restrict the scope of its application, but would detract from the authority of the moral and humanitarian principles which are its basis“ (ICJ Reports 1951, 15, 23 ff.). 13*
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B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
bb) Vorbehalte zu Sozialschutzbestimmungen in Menschenrechtsverträgen Die Bedeutung von Vorbehalten und Erklärungen für die Kompromissfindung in Verträgen lässt sich konkret sowohl an Menschenrechtsverträgen, die sozialrechtliche Rechtspositionen betreffen, als auch an spezifisch sozialrechtlichen Verträgen zeigen. Teils werden Vorbehalte explizit zugelassen (z. B. Art. 28 CEDAW, Art. 91 MWC, Art. 16 b EFA), teils findet sich in den Verträgen dazu keine Vorschrift (ICCPR, ICESCR53), so dass auf die allgemeine Vorschrift des Art. 19 c WVK zurückzugreifen ist. Von den 151 Staaten, die den ICESCR ratifiziert haben, haben 23 Staaten Vorbehalte geltend gemacht, 5 Staaten haben interpretatorische Erklärungen zu einzelnen Bestimmungen des Vertrags abgegeben54; daneben gibt es eine Reihe von allgemeinen, den Inhalt des Vertrags selbst nicht berührenden „Feststellungen“55. Beispielsweise verwahrt sich Kuwait mit einem Vorbehalt gegen die Bestimmung des Art. 9 ICESCR, wonach das Recht „eines jeden“ auf soziale Sicherheit anzuerkennen ist: „The Government of Kuwait declares that while Kuwaiti legislation safeguards the rights of all Kuwaiti and non-Kuwaiti workers, social security provisions apply only to Kuwaitis“.
Diesem Vorbehalt widersprechen mehrere Mitgliedstaaten56, da sie ihn trotz der nach Art. 2 Abs. 3 ICESCR bestehenden Möglichkeit für Entwicklungsländer, Ausländern wirtschaftliche Rechte „unter gebührender Berücksichtigung der Menschenrechte und der Erfordernisse ihrer Volkswirtschaft“ nur eingeschränkt zu gewährleisten, für mit dem Ziel und Zweck des Vertrags unvereinbar halten. Belgien legt zwar keinen Vorbehalt zu Art. 9 ICESCR ein, erklärt aber, dass es das Diskriminierungsverbot als Willkürverbot verstehe: „With respect to article 2, paragraph 2, the Belgian Government interprets non-discrimination as to national origin as not necessarily implying an obligation on States automatically to guarantee to foreigners the same rights as to their nationals. The term should be understood to refer to the elimination of any arbitrary behaviour but not of differences in treat53 Vgl. zur Diskussion um die Einfügung einer derartigen Bestimmung bei der Ausarbeitung der Verträge Schmidt, Reservations, S. 20 ff. 54 Diese Statistik folgt nicht immer den Benennungen, die die Vertragsparteien selbst gewählt haben, da zum Teil Vorbehalte als „declarations“ bezeichnet werden (z. B. die „Erklärung“ von Ägypten: „Taking into consideration the provisions of the Islamic Sharia and the fact that they do not conflict with the text annexed to the instrument, we accept, support and ratify it“). 55 Vgl. z. B. die Erklärungen der zum Zeitpunkt der Ratifikation zum Ostblock gehörenden Staaten, dass Art. 26 des Vertrages, der die Möglichkeit der Ratifikation auf Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, Mitglieder einer ihrer Sonderorganisationen, Vertragsstaaten der Satzung des IGH und jeden anderen von der Generalversammlung der VN eingeladenen Staat beschränkt, diskriminierend sei. 56 Finnland, Deutschland, Italien, Niederlande, Norwegen und Schweden.
II. Umfang der Rechtsgeltung
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ment based on objective and reasonable considerations, in conformity with the principles prevailing in democratic societies“.
Diese Interpretation wird auch von Monaco bestätigt: „The Princely Government declares that it interprets the principle of non-discrimination on the grounds of national origin, embodied in article 2, as not necessarily implying an automatic obligation on the part of States to guarantee foreigners the same rights as their nationals“.
In Bezug auf Sozialleistungen legt Monaco zudem fest, dass es Bestimmungen, die die Arbeitszulassung von Ausländern betreffen oder Wohnsitzerfordernisse als Voraussetzung für Sozialleistungen regeln, als nicht im Widerspruch zu Art. 6, 9, 11 und 13 des Paktes erachtet. Eine ähnliche Stoßrichtung hat die Erklärung von Frankreich, dass Art. 9 ICESCR nicht Bestimmungen, die Sozialleistungen an eine bestimmte Aufenthaltsdauer (residence requirements) knüpfen, entgegenstehe. Großbritannien bedingt sich eine Ungleichbehandlung in besonderen überseeischen Gebieten aus57. Indien stellt Art. 9 insgesamt unter den Vorbehalt einer Vereinbarkeit mit der indischen Verfassung. Im Übrigen provoziert die allgemeine Festlegung „Recht auf soziale Sicherheit“ aber wenig Widerspruch. Vorbehalte finden sich dagegen bei Art. 7 und 10 ICESCR, soweit die Staaten aufgefordert werden, konkrete Leistungen wie bezahlten Mutterschutz58 oder Vergütung gesetzlicher Feiertage59 zu gewähren. Erstaunlich ist, dass Art. 11 ICESCR, der die Vertragsstaaten zur Anerkennung des „Rechts eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie“ verpflichtet und gleichermaßen im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 ICESCR zu lesen ist, nur Frankreich zu der Erklärung bringt, dass dem „residence requirements“ bei der Gewährung von Sozialleistungen nicht widersprächen. Wie dargestellt60, ist es möglich, aus Art. 11 i.V. m. Art. 2 Abs. 2 ICESCR ein Gleichbehandlungsgebot von In- und Ausländern auch in Bezug auf Leistungen im Notfall herauszulesen; hiergegen verwahrt sich kein Staat ausdrücklich61, obwohl die Vorbehalte zu dem Europäischen Fürsorgeabkommen sowie zu den beiden vorläufigen Abkommen zur sozialen Sicherheit – zumindest für die europäischen Staaten – zeigen, wie wenig Einigkeit es bei diesen Fragen gibt62. 57 „The Government of the United Kingdom while recognising the right of everyone to social security in accordance with article 9 reserve the right to postpone implementation of the right in the Cayman Islands and the Falkland Islands because of shortage of resources in these territories“. 58 Vorbehalte von Bangladesch, Barbados, Kenia, Neuseeland und Großbritannien (für Bermuda und Falklandinseln). 59 Vorbehalte von Dänemark und Japan. 60 Vgl. dazu S. 152 f. 61 Allerdings sind die interpretatorischen Erklärungen von Belgien und Monaco implizit auch auf dieses Problem zu beziehen. 62 Vgl. dazu S. 200 ff.
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B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
Vergleicht man den ICESCR mit seinem Zwilling, dem ICCPR, so fällt auf, dass es zu letzterem weit mehr Vorbehalte gibt. Dies ist im Zusammenhang mit dem Grundverständnis sozialer Rechte zu sehen. Denn wenn nur eine „progressive Verwirklichung“63 gefordert wird, verbleibt den Staaten ein wesentlich weiterer Handlungsspielraum als bei für die Gegenwart in vollem Umfang geltenden Rechten. Und auch wenn soziale Rechte, wie der Sachverständigenausschuss in seinem General Comment No. 3 ausführt, einen harten Kern haben64, werden doch Rügen von Verstößen gegen die Konventionsbestimmungen in geringerem Umfang befürchtet65. Das CEDAW ist nach dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes das am häufigsten ratifizierte Menschenrechtsübereinkommen. Zu keinem anderen Vertrag sind allerdings so viele Erklärungen und Vorbehalte abgegeben worden. Dabei stellen eine Vielzahl von Vorbehalten die Bestimmungen des Abkommens unter den generellen Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der nationalen Verfassung und Gesetzen, insbesondere der Sharia, so dass insoweit ein das Übereinkommen tragender Kompromiss nicht ersichtlich ist66. Dies betrifft nicht nur, aber auch die sozialrechtsrelevanten Regelungen insbesondere in Art. 11 Abs. 1 e (soziale Sicherheit) und Art. 11 Abs. 2 b (bezahlter Mutterschutzurlaub), andererseits in Art. 12 (Gesundheitswesen). Vorbehalte zu diesen Bestimmungen betreffen die Frage, inwieweit dem Diskriminierungsverbot Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Frauen, etwa das Verbot, unter schädlichen Bedingungen zu arbeiten67, oder Maßnahmen, die eine Bevorzugung von Frauen vorsehen, um geschlechtsspezifische Nachteile auszugleichen68, widersprechen69. Mexiko macht einen allgemeinen Vorbehalt im Hinblick auf Finanzierungsmöglichkeiten der Leistungen. Im Übrigen betreffen die Vorbehalte Einzelheiten wie den bezahlten Mutterschaftsurlaub (Australien, Neuseeland) und die Zahlung von Leistungen an den Ehemann als Hausvorstand (Malta). Besonders hervorzuheben ist der Vorbehalt von Großbritannien zu Art. 11 des Übereinkommens, mit dem die Geltung des Übereinkommens für die Sozialleistungen im Fall von Alter und Tod für die Gegenwart und Zukunft abbedungen wird. Ebenso wird die Möglichkeit, nicht-diskriminierende Beschäftigungs- oder Versicherungszeiten als Voraus63 Vgl. Art. 2 Abs. 1 ICESCR; vgl dazu auch Kommentar Nr. 3 des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; vgl. dazu ausführlich S. 240 f. 64 Vgl. Comment No. 3. 65 Vgl. dazu auch Schmidt, Reservations, S. 20 ff. 66 Vgl. auch die zu den Vorbehalten von Österreich, Kanada, Dänemark, Finnland, Deutschland, den Niederlanden, Norwegen, Portugal und Schweden eingelegten Widersprüche; vgl. dazu allgemein, Simma, Reservations, S. 659 ff. 67 Vgl. die Vorbehalte von Österreich, Malta und Singapur. 68 Vgl. den Vorbehalt von Großbritannien. 69 Vgl. dazu auch die als Vorbehalt bezeichnete Erklärung von Malaysia: „In relation to article 11 Malaysia interprets the provisions of this article as a reference to the prohibition of discrimination on the basis of equality between men and women only“.
II. Umfang der Rechtsgeltung
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setzungen für die Gewährung von Sozialleistungen zu verlangen, explizit festgehalten70. Interessant ist, dass die Staaten zu inhaltlich (fast) übereinstimmenden Vorschriften in verschiedenen Pakten in unterschiedlichem Umfang Vorbehalte einlegen. So ist die im ICESCR und im CEDAW enthaltene Bestimmung, dass Frauen bezahlter Mutterschutzurlaub zu gewähren sei, fast identisch71. Dennoch haben zum ICESCR fünf Staaten – Bangladesch, Barbados, Kenia, Neuseeland und GB –, zum CEDAW dagegen nur zwei Staaten – Australien und Neuseeland – Vorbehalte eingelegt, obwohl all diese Staaten Vertragspartner beider Abkommen sind. Als drittes Beispiel für Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen bietet sich die MWC an. Interessant ist die Vielzahl der Vorbehalte und interpretatorischen Erklärungen. Von den 27 Staaten, die den Vertrag bisher ratifiziert haben, hat fast eine Vielzahl die Geltung einzelner Bestimmungen ausgeschlossen oder modifiziert. Die Kernbestimmungen zur sozialen Sicherheit (Art. 27) und zur Gesundheit (Art. 28) sind dabei nicht betroffen72, wohl aber Bestimmungen zur Gewerkschaftsfreiheit73, zur Schulbildung von Kindern von Wanderarbeitnehmern74 und zur Gleichbehandlung im Hinblick auf Kündigungsschutz, Höhe des Arbeitslohns und Beschäftigung75. Obwohl der Vertrag bisher von einer eher homogenen Gruppe von Staaten, zumeist von Entwicklungsländern, ratifiziert wurde, zeigt die Vielzahl der Vorbehalte und Erklärungen, dass der Vertragstext in den Details nicht den Vorstellungen der Vertragspartner entspricht. cc) Vorbehalte zu spezifisch sozialrechtlichen Konventionen In der Literatur weniger beachtet, in der Praxis allerdings von großer Bedeutung sind die Vorbehalte zu sozialrechtsrelevanten Abkommen, die die Einzelstaaten zu 70 Im Übrigen hat das Vereinigte Königreich 1995 eine Vielzahl von Vorbehalten gegen das Übereinkommen, die auch Art. 11 betrafen, zurückgezogen. 71 Art. 10 Abs. 2 CESCR: „Die Vertragsstaaten erkennen an, . . . dass Mütter während einer angemessenen Zeit vor und nach der Niederkunft besonderen Schutz genießen sollen. Während dieser Zeit sollen berufstätige Mütter bezahlten Urlaub oder Urlaub mit angemessenen Leistungen aus der sozialen Sicherheit erhalten“; Art. 11 Abs. 2 b CEDAW: „Um eine Diskriminierung der Frau wegen Eheschließung oder Mutterschaft zu verhindern und ihr ein wirksames Recht auf Arbeit zu gewährleisten, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen . . . zur Einführung des bezahlten oder mit vergleichbaren sozialen Vorteilen verbundenen Mutterschaftsurlaubs ohne Verlust des bisherigen Arbeitsplatzes, des Dienstalters oder sozialer Zulagen“. 72 Zu den inhaltlichen Unterschieden im Vergleich zu den Bestimmungen in den anderen Menschenrechtspakten vgl. S. 167. 73 Vgl. den Vorbehalt der Türkei, die Bildung von Gewerkschaften nur türkischen Bürgern zu gestatten. 74 Vgl. den Vorbehalt der Türkei zu Art. 45 des Übereinkommens. 75 Vgl. den Vorbehalt von Sri Lanka.
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B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
konkreten Leistungen gegenüber den Staatsangehörigen der Vertragsstaaten verpflichten, wie das Europäische Fürsorgeübereinkommen von 195376. In Anhang I haben die Vertragsparteien die in Kraft befindlichen Gesetze und Regelungen, auf die die Konvention anwendbar ist, anzugeben. Vorbehalte sind zugelassen (Art. 16); von dieser Möglichkeit haben bisher 6 Staaten Gebrauch gemacht. Dabei ist eine Besonderheit, dass Vorbehalte nicht nur zum Zeitpunkt der Ratifikation, sondern auch dann zugelassen sind, wenn Reformgesetze in Kraft treten – die Vertragspartner können den Einbezug dieser neuen Regelungen in den Anwendungsbereich des Abkommens unter einen Vorbehalt stellen (Art. 16 b). Das EFA garantiert die Gleichbehandlung von In- und Ausländern bei Fürsorgeleistungen unter der Voraussetzung, dass sich die Ausländer erlaubtermaßen im Inland aufhalten. Die Rückschaffung von Hilfsbedürftigen läßt es nur in begrenzten Ausnahmefällen zu77. Betrachtet man den Inhalt der Vorbehalte im Verhältnis zu den Vertragsbestimmungen, so liegt die Annahme nahe, dass es zumindest teilweise eine Fiktion ist, dass ein bei Vertragsschluss bestehender Kompromiss über die Behandlung hilfebedürftiger Staatsangehöriger aus anderen Vertragsstaaten weiterhin aufrechterhalten wird. So schließt Belgien 25 Jahre nach der Ratifikation, im Jahr 1981, Leistungen, die ein Mindestmaß an Mitteln zur Existenz garantieren sollen78, und damit zentrale Regelungen zum belgischen Fürsorgerecht, aus dem Anwendungsbereich des Übereinkommens aus. Allerdings gibt es noch eine Reihe anderer Leistungen, die Ausländern gleichberechtigt mit Inländern zu gewähren sind79. Anders dagegen bei Deutschland. Deutschland hatte den Vorbehalt mehrfach neu gefaßt80. Seit 1983 hatte es eine Gleichbehandlung bei Leistungen zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage, zur Ausbildungshilfe und zur Hilfe für Gefährdete ausgeschlossen81. Diese Neuregelung betraf einzelne, unter spezifischen Voraussetzungen gewährte Leistungen nach dem BSHG in der damaligen Fassung. 199082 legte Deutschland einen Vorbehalt mit folgendem Wortlaut ein: Vgl. dazu S. 154 ff. Vgl. ebenda. 78 Leistungen nach dem Gesetz vom 7. 8. 1974 „Establishing the right to a minimum level of means of subsistence“. 79 Vgl. die in Annex I zu dem Europäischen Fürsorgeabkommen zitierten Gesetze und Verordnungen. 80 Vgl. 11. 12. 1953 (BGBl. 1956 II S. 564); die Anhänge wurden neu gefasst gem. der Bekanntmachung vom 8. 1. 1958 (BGBl. II S. 337), am 1. 12. 1970 gem. der Bekanntmachung vom 8. 3. 1972 (BGBl. II 1972, S. 175, 209); vgl. zum Inkrafttreten und Geltungsbereich die Bekanntmachung vom 8. 1. 1958 BGBl. II S. 18. 81 Vgl. den Wortlaut des Vorbehalts, abgedruckt bei Zacher, Internationales und Europäisches Sozialrecht, S. 560. 82 Problematisch ist, dass dieser 34 Jahre nach der Ratifikation eingelegte erweiterte Vorbehalt von Art. 16 b des Übereinkommens nicht gedeckt ist, da es sich bei dem in vollem Umfang ausgeschlossenen BSHG nicht um ein neues Gesetz handelt. 76 77
II. Umfang der Rechtsgeltung
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„The Government of the Federal Republic of Germany does not undertake to grant to the nationals of the other Contracting Parties, equally and under the same conditions as to its own nationals, assistance designed to enable the beneficiary to make a living, or assistance to overcome particular social difficulties, under the Federal Social Assistance Act for the time being in force. Notwithstanding the above, such assistance may be granted in appropriate cases“.
Misst man diesen Vorbehalt an Art. 19 c WVK, so zeigt sich, dass er mit Ziel und Zweck des Vertrags unvereinbar ist. Denn mit dem Vorbehalt wird die zentrale Regelung von Fürsorgeleistungen nahezu in ihrer Gesamtheit und nicht mehr nur in einzelnen Aspekten ausgeschlossen83. Die internationale Verpflichtung zu einer fürsorgerechtlichen Gleichstellung von In- und Ausländern, die das Fürsorgeabkommen vorsieht, läuft damit leer, da sie in das Ermessen eines Vertragspartners gestellt wird. Ob der Vorbehalt wirksam ist, ist zweifelhaft: Nach der „admissibility theory“84 kommen Art. 20 ff. WVK nicht zur Anwendung, wenn eine Bestimmung mit Ziel und Zweck eines Vertrages unvereinbar ist; die Rechtsfolgen bestimmen sich damit nach Gewohnheitsrecht. Nach der „opposability theory“ klären Art. 20 ff. WVK dagegen auch die Fragen, die mit derartigen Vorbehalten verbunden sind. Danach wäre davon auszugehen, dass der Vorbehalt wirksam ist, da kein Staat explizit widersprochen hat85. Auch die erweiterten Vorbehalte anderer Vertragsstaaten wie Großbritannien (Ratifikation 1954) und Luxemburg (Ratifikation 1958) datieren aus den 80er bzw. 90er Jahren und machen tiefe Einschnitte in das ursprüngliche Konzept des Vertrages. Großbritannien erklärt, gegenüber Personen, die grundsätzlich in ihren Heimatstaat zurückgeführt werden können, keine Fürsorgeverpflichtungen mehr zu haben; Luxemburg modifiziert die Voraussetzungen für die Repatriierung und erklärt, dass der Anspruch von Staatsangehörigen aus Vertragsstaaten auf Leistungen aus dem nationalen Solidaritätsfonds de iure nicht mehr besteht, de facto aber aufgrund der gegenwärtigen Gesetzeslage noch gewährt wird. Die Vorbehalte zum EFA sind so ein Beispiel, das zeigt, wie – nicht bei Vertragsschluss, wohl aber zu einem späteren Zeitpunkt – fingiert wird, dass ein tatsächlicher Kompromiss zu einer Sachfrage noch besteht, obwohl er im Grunde ausgehöhlt worden ist. Die Vertragsstaaten ziehen aber umfassende Vorbehalte einer Kündigung vor.
83 Vgl. § 1 BSHG: „Die Sozialhilfe umfasst Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen“ (seit 1. 1. 2005 § 1 SGB XII). 84 Vgl. Simma, Reservations, S. 664 ff. 85 Vgl. Art. 20 Abs. 4 a, c i.V. m. Art. 20 Abs. 5 WVK. Aufgrund der Änderungen des BSHG hat die Bundesrepublik 1999 und 2001 die anzuwendenden Gesetze neu angegeben, den Vorbehalt aber nicht geändert. Mit dem Inkrafttreten des neuen SGB XII zum 1. 1. 2005 wird wieder eine Änderung der Erklärung zum EFA erforderlich.
202
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
Hatte das EFA in den 50er Jahren einen bis dahin noch nicht von zwischenstaatlichen Regelungen erfassten Bereich abgedeckt, so bedeuten die Erweiterungen der Vorbehalte in den 80er und 90er Jahre eine Gegenbewegung, einen Rückzug des Rechts. Die Staaten schränken die rechtlichen Bindungen, denen sie bei der Gewährung von Fürsorgeleistungen an Ausländer unterliegen, wieder ein, soweit dies möglich ist. Das EFA ist im Zusammenhang mit den beiden vorläufigen Übereinkommen über die Soziale Sicherheit aus dem Jahr 1953 zu sehen86. Auch darin werden in den nach Art. 9 Abs. 2 zugelassenen Vorbehalten beitragsfreie Leistungen von verschiedenen Staaten87 ausgenommen oder vom Erfordernis der Gegenseitigkeit abhängig gemacht88. Auch Familienleistungen werden eingeschränkt89. Im Gegensatz zu den Menschenrechts- und Sozialrechtsabkommen sind zu den Abkommen der IAO keine Vorbehalte möglich. Obwohl sie nach dem Wortlaut der Verfassung der IAO nicht ausgeschlossen sind, ist die Praxis des Internationalen Arbeitsamtes seit 1920, Vorbehalte mit dem Hinweis, dieses Verfahren würde dem Geist des Gründungsvertrages widersprechen, nicht zuzulassen90. Diese im allgemeinen Völkerrecht ungewöhnliche Praxis begründet das Internationale Arbeitsamt 1920 bei einer Anfrage Polens zu einer Ratifikation unter Vorbehalt folgendermaßen: Modifikationen von Konventionen, wären sie denn nötig, müssten von der Internationalen Arbeitskonferenz selbst erörtert und in den Vertrag integriert werden. Da Ratifikationen zwischen den Staaten, die einem Abkommen beitreten, nicht ausgetauscht, sondern nur dem Generalsekretär mitgeteilt werden, hätten die anderen Staaten auch keine Gelegenheit, ihre Zustimmung oder Ablehnung zu den Vorbehalten zum Ausdruck zu bringen. Zudem dürften, da Konventionen der IAO nicht allein von den Regierungen, sondern von Regierungen, Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam ausgearbeitet werden, auch nicht die Regierungen allein über Vorbehalte bestimmen91. In einem Memorandum an das Sachverständigenkomitee des Völkerbundes für die Kodifizierung des Völkerrechts aus dem Jahr 1927 verteidigt der Generaldirektor der IAO diese Praxis und betont, dass die Zulassung von Vorbehalten dem Ziel der Organisation und der Funktion der internationalen Vgl. dazu S. 172 ff. Z. B. Belgien: beitragsfreie Leistungen im Alter bei Bedürftigkeit nur bei Gegenseitigkeit gewährt; Frankreich: bedürftigkeitsabhängige Leistungen nur bei Gegenseitigkeit gewährt; Italien: rein vom Staat finanzierte Leistungen im Alter nicht einbezogen. 88 Zu internationalen Verpflichtungen im Bereich von Sozialhilfeleistungen allgemein vgl. dazu S. 147 ff. 89 Vgl. z. B. den Vorbehalt von Luxemburg im Hinblick auf Leistungen bei der Geburt sowie den Vorbehalt von Frankreich zu Familienleistungen allgemein. 90 Vgl. McMahon, Legislative Techniques, S. 78. 91 Diese Argumentation wird in einem an den IGH gerichteten Memorandum des Internationalen Arbeitsamts zu der „Advisory Opinion“ des IGH „Concerning Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide“ dargelegt, vgl. I.C.J. Pleadings 1951, S. 216 – 282. 86 87
II. Umfang der Rechtsgeltung
203
Arbeitskonventionen entgegenwirke, ein Geflecht von gegenseitigen Verpflichtungen der Staaten untereinander zu schaffen, wobei es essentiell sei, „to preserve exact reciprocity in these obligations“92.
Diese Praxis der IAO hat zur Folge, dass Staaten, die bereit sind, Konventionen unter Vorbehalt zu ratifizieren, von einer Ratifikation Abstand nehmen93. Innerhalb der IAO fehlt es nicht an innovativen Ideen, Staaten, deren Gesetzgebung nur in einzelnen Punkten nicht mit den internationalen Vorgaben übereinstimmt, eine Ratifikation unter Vorbehalt zu ermöglichen94. Insbesondere die Idee von McNair, Vorbehalte dann zuzulassen, wenn sie aufgrund von nur minimalen Diskrepanzen notwendig sind, von einem „Reservation Committee“ mit Zwei-Drittel-Mehrheit für akzeptabel befunden werden und ihnen auch die Internationale Arbeitskonferenz nicht widerspricht95, berücksichtigt alle Probleme inhaltlicher wie auch verfahrens- und kompetenzrechtlicher Art, die im allgemeinen Völkerrecht mit der Einlegung von Vorbehalten verbunden sind96. Nicht als Vorbehalte betrachtet und damit auch nicht ausgeschlossen werden dagegen interpretatorische Erklärungen zu IAO-Konventionen97. Zur Bedeutung von Vorbehalten lassen sich somit folgende Thesen aufstellen: Bei multilateralen Verträgen werden in der Regel nur von einer Minderheit der Vertragspartner Vorbehalte eingelegt. Das bedeutet, dass die Möglichkeit, Vorbehalte einzulegen, nicht das Zustandekommen der Verträge überhaupt erst ermöglicht, sondern vielmehr zu einer Universalisierung der vertraglichen Bindungen beiträgt. Die Vorbehalte und interpretatorischen Erklärungen, so wie sie gegenwärtig in der Praxis gehandhabt werden, können einen Dissens zwischen den Vertragspartnern zu Detail- oder zu Grundfragen aufzeigen. Interpretatorische Erklärungen und Vorbehalte, soweit sie Detailfragen betreffen, können ein Gradmesser sein für die ernsthafte Auseinandersetzung nicht nur mit dem Wortlaut, sondern auch mit möglichen Interpretationen von Verträgen. Je konkreter die sich aus dem Vertrag ergebenden Verpflichtungen sind, um so häufiger sind Vorbehalte und interpretatorische Erklärungen zu erwarten. Die Tatsache, dass zu in der Sache deckungsgleichen Bestimmungen in verschiedenen Verträgen nicht unbedingt in gleicher Weise Vorbehalte geltend 92 I.C.J. Pleadings 1951, S. 231, League of Nations Doc. C. 212, 1927, V, League of Nations, Official Journal (1927), S. 882 – 884. 93 Ein Überblick zu den Einzelfällen findet sich bei McMahon, Legislative Techniques, S. 78 ff. 94 Vgl. im einzelnen McMahon, Legislative Techniques, S. 80 ff. 95 Vgl. I.C.J. Pleadings 1951, S. 259. 96 Vgl. dazu S. 193 ff. 97 Vgl. I.C.J. Pleadings 1951, S. 272 f.
204
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
gemacht werden, macht eine Inkonsistenz im Umgang mit internationalen Verpflichtungen deutlich.
b) Einräumung von Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Regelungskomplexen Werden, wie bei der IAO, Vorbehalte ausgeschlossen, so bedeutet dies noch keineswegs, dass die in den Konventionen enthaltenen Regelungen für alle Vertragsstaaten tatsächlich gleichermaßen gelten würden. Im Gegenteil: Wenn in einem Vertrag Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Regelungskomplexen eingeräumt werden – und dies ist gerade bei Konventionen der IAO sehr verbreitet –, so kann der zwischen den Staaten tatsächlich erreichte Konsens minimal sein. Die Staaten müssen der Ratifikation eine Erklärung beifügen, in der sie spezifizieren, welche Bestimmungen für sie gelten und welche nicht. Wahlmöglichkeiten können dabei ohne weitere Begründung für alle potentiellen Vertragspartner zur Verfügung stehen oder aber auf bestimmte Vertragspartner begrenzt oder an bestimmte Voraussetzungen gebunden sein98. Es finden sich auch Fälle, in denen diese verschiedenen Techniken kombiniert werden99. Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Regelungskomplexen bestehen etwa bei der für Fragen des sozialen Schutzes zentralen Konvention Nr. 102 der IAO. Darin werden neun verschiedene soziale Risiken – ärztliche Betreuung (II), Krankengeld (III), Leistungen bei Arbeitslosigkeit (IV), Leistungen bei Alter (V), Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten (VI), Familienleistungen (VII), Leistungen bei Mutterschaft (VIII), Leistungen bei Invalidität (IX) und Leistungen an Hinterbliebene (X) – geregelt. Nach Art. 2 der Konvention steht es den Staaten offen, davon die Bestimmungen auszuwählen, die sie für verbindlich erachten wollen; es müssen mindestens drei der neun Risiken und davon eines der fünf Kernrisiken100 erfasst werden. Aufgrund dieser Vorgaben ist es möglich, dass die konkreten sozialrechtsrelevanten Verpflichtungen, die die Staaten mit der Ratifikation übernehmen, sich in keinem Punkt überschneiden. Beispielsweise haben zwar Italien, Irland und Spanien jeweils die Konvention ratifiziert. Allerdings ist Italien durch keine einzige der materiell relevanten Be98 Vgl. z. B. die bei Konvention Nr. 24 und 25 (Sickness Insurance Industry / Agriculture) vorgesehenen Ausnahmemöglichkeiten bei besonders dünn besiedelten Territorien: Auf europäischem Gebiet, so wird vorgesehen, kann nur Finnland von dieser Bestimmung Gebrauch machen. 99 Vgl. z. B. Konvention Nr. 128: Nach Art. 2 kann ein Teil von drei Teilen ausgewählt werden; nach Art. 4 besteht zudem die Möglichkeit für Mitgliedstaaten, deren Wirtschaft nicht genügend entwickelt ist, von bestimmten zeitlich begrenzten Ausnahmeregelungen Gebrauch zu machen. 100 Arbeitslosigkeit, Alter, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, Invalidität und Tod des Ernährers.
II. Umfang der Rechtsgeltung
205
stimmungen der Teile II – X der Konvention gebunden, die auch für Irland oder Spanien gelten würden101. Bei Konvention Nr. 118 (Equality of Treatment (Social Security) Convention) genügt es, die Bestimmungen der Konvention auf eines von neun Risiken anzuwenden102. Das bedeutet, dass nur in diesem eingeschränkten Umfang jeweils die Gleichbehandlung der Angehörigen der anderen Vertragsstaaten und der eigenen Staatsangehörigen zu garantieren ist. Beispielsweise gewährt Surinam Gleichbehandlung nur bei Leistungen im Fall von Arbeitsunfällen, Guatemala nur bei Mutterschaft, während Italien, die Niederlande und Libyen Gleichbehandlung bei allen Leistungen garantieren. Die von der IAO geforderte „exact reciprocity in these obligations“ ist damit gerade nicht gewährleistet. Wahlmöglichkeiten haben gegenüber Vorbehalten, betrachtet man den Aspekt der Rechtssicherheit, lediglich den Vorteil, dass die Geltung von Rahmenbestimmungen gesichert werden kann und die Variationsmöglichkeiten im Hinblick auf die jeweils intendierte Bindung an den Vertrag im Vertrag selbst vorgegeben sind103. Die Technik, den Vertragsstaaten die Ratifikation von Verträgen zu erleichtern, indem sie zwischen verschiedenen Bestimmungen auswählen können, wendet auch der Europarat bei sozialrechtlichen Übereinkommen wie der EOSS104 (mit Protokoll105) und auch bei der Europäischen Sozialcharta106 an; bei den jeweiligen 101 Italien verpflichtet sich, die Bestimmungen zu Alter, Familie und Mutterschaft einzuhalten, Irland die Bestimmungen zu Krankengeld, Arbeitslosigkeit und Leistungen an Hinterbliebene, Spanien zu ärztlicher Versorgung, Krankengeld, Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. 102 Vgl. Art. 2 der Konvention. 103 Vgl. die Argumentation der IAO: „In all of these cases the qualifications of the obligations assumed by ratification which are permissible and the procedure to be followed by a Member wishing to qualify its obligations are defined by the convention itself; they are therefore a part of the terms of the convention as approved by the Conference when adopting the convention and both from a legal and from a practical point of view are in no way comparable to reservations“ (ICJ Pleading 1951, S. 233 – 234). 104 Nach Art. 2 Abs. 1 EOSS müssen die Vertragsparteien von den Teilen II bis X mindestens sechs einhalten, wobei verschiedene Bestimmungen mehrfach gewertet werden (medizinische Versorgung zweifach und Leistungen bei Alter dreifach). In Art. 2 Abs. 2 wird näher ausgeführt, dass den Anforderungen nach Abs. 1 dann entsprochen wird, wenn mindestens drei der Teile II bis X und davon wiederum mindestens einem der Teile IV, V, VI, IX und X entsprochen wird, zudem noch die Nicht-Einhaltung von einzelnen Standards durch die Übererfüllung anderer Standards kompensiert wird. Dies ist im Einzelnen von dem Kontrollausschuss zu überprüfen. 105 Der höhere Standard, den das Protokoll festlegt, zeigt sich im wesentlichen darin, dass statt nur sechs acht der Teile II bis X akzeptiert werden müssen; nach Art. 2 Abs. 2 werden statt drei Entsprechungen sechs Entsprechungen gefordert. 106 Nach Art. 20 Abs. 1 ESC sind von sieben Kernbestimmungen (Recht auf Arbeit, Vereinigungsfreiheit, Recht auf Kollektivverhandlungen, Recht auf soziale Sicherheit, Recht auf Fürsorge, Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz und Recht
206
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
revidierten Fassungen – der revidierten EOSS und der revidierten ESC – mit teilweise höheren Standards gilt dies in noch erweitertem Umfang107. Die Auswahltechniken beruhen dabei in der Regel auf einer Kombination quantitativer und qualitativer Kriterien – zum Teil wird auch in einer Gesamtschau berücksichtigt, welche sozialrechtlichen Verpflichtungen ein Staat in anderem Zusammenhang übernommen hat108. Dass derartige Übereinkommen in toto ratifiziert werden, ist eine seltene Ausnahme109; nicht die Analyse der Vertragsbestimmungen an sich, sondern vielmehr der Umfang, in dem sie von den verschiedenen Staaten akzeptiert werden, ergibt ein klares Bild von den tatsächlich bestehenden sozialrechtlichen Verpflichtungen im internationalen Bereich110. Überblick über den Ratifikationsstand der wichtigsten sozialrechtlichen Übereinkommen von IAO und Europarat, bei denen Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Regelungskomplexen bestehen Übereinkommen
Anzahl der Vertragsstaaten
Ratifikation des Übereinkommens in toto
Konvention Nr. 102 der IAO (Soziale Sicherheit)
41
6 Belgien, Portugal, Deutschland, Libyen, Luxemburg, Niederlande
Konvention Nr. 118 der IAO
38
3 Italien, Libyen, Niederlande
Prozentsatz 15 %
7%
der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand) fünf auszuwählen. Zudem müssen entweder 10 Artikel oder 45 numerierte Absätze der Charta als bindend anerkannt werden. 107 Nach Art. 2 der Revidierten EOSS (Art. 2) genügt die Annahme von einem der Teile II bis X, wenn der Staat entweder bereits an die Bestimmungen des Art. 12 ESC gebunden ist oder die EOSS ratifiziert hat. Ansonsten ist es notwendig, drei Teile von Teil II bis X auszuwählen. Nach Teil III Art. A § 1 RESC sind von neun Kernbestimmungen sechs auszuwählen; neu einbezogen in diesen Kernbereich werden auch das Recht von Kindern und jungen Menschen auf Schutz sowie das Recht auf gleiche Möglichkeiten und gleiche Behandlung in Fragen von Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Im Übrigen sind statt zehn 16 Artikel bzw. statt 45 nunmehr 63 numerierte Paragraphen auszuwählen. 108 Vgl. Art. 2 der Revidierten EOSS, wonach die Bindung an Art. 12 ESC (Recht auf soziale Sicherheit) berücksichtigt wird. 109 ESC: Niederlande (vgl. aber die Erklärungen zu dem territorialen Geltungsbereich, abgedruckt: Council of Europe, European Social Charter, S. 108 f.), Belgien, Portugal (vgl. aber die interpretatorische Erklärung, dass Portugal Aussperrungen nicht als mit der ESC inkompatibel ansieht); RESC: Frankreich; EOSS in der durch das Protokoll modifizierten Form: Deutschland, Belgien, Luxemburg, Niederlande; Revidierte EOSS: Frankreich. 110 Ausnahmsweise können bei derartigen sozialrechtlichen Konventionen des Europarats auch Vorbehalte eingelegt werden; diese sind dann aber entweder inhaltlich (vgl. Art. 19 Abs. 1 European Convention on the Social Protection of Farmers) oder quantitativ (vgl. Art. 36 European Convention on the Legal Status of Migrant Workers) beschränkt.
II. Umfang der Rechtsgeltung
207
Konvention Nr. 128 der IAO
16
8 Finnland, Deutschland, Libyen, Niederlande, Norwegen, Schweden, Schweiz, Uruguay
50 %
Europäische Ordnung für Soziale Sicherheit
20
4 Belgien, Deutschland, Luxemburg, Niederlande
22 %
Protokoll zur Europäischen Ordnung für Soziale Sicherheit
7
4 Belgien, Deutschland, Luxemburg, Niederlande
54 %
Revidierte Fassung der Europäischen Ordnung für Soziale Sicherheit
0
0
–
Europäische Sozialcharta
27
2
8%
Revidierte Fassung der Europäischen Sozialcharta
21
1 Frankreich
5,5 %
Daraus ist ein sehr wichtiger Befund abzuleiten: Erst die Technik, bestimmte internationale Standards in Verträgen als Einheit zusammenzufassen, dann aber à la carte zur Disposition zu stellen, ermöglicht in der Regel überhaupt, dass Verträge zu sozialrechtlichen Fragen zwischen einer Mehrzahl von Staaten zustande kommen. Die Anforderungen an das Inkrafttreten sind bei dieser Art von Verträgen regelmäßig sehr gering – zumeist genügen schon zwei oder drei Ratifikationen. Um aber dem Anspruch zu genügen, eine tatsächlich internationale, d. h. für eine Mehrzahl von Staaten geltende Regelung zu schaffen, ist die Auswahltechnik eine conditio sine qua non111. Aber – wird damit nicht ein neuer Typus von Rechtsetzung geschaffen, der mit sonstigen völkerrechtlichen Verträgen nur den Namen gemeinsam hat? Anerkanntermaßen gibt es im Völkerrecht zwei grundlegend verschiedene Arten von Verträgen: Verträge, die Rechte und Pflichten festlegen, die im Verhältnis zwischen den Vertragsparteien zu erfüllen sind, und Verträge, die den Staaten Vorgaben machen, wie sie die ihrer Gewalt unterworfenen Bürger zu behandeln 111 Betrachtet man die absolute Anzahl der Vertragspartner in Relation zu der Gesamtzahl der Staaten, die den jeweiligen Abkommen potentiell beitreten können, so zeigt sich, dass es sich um eine kleine Minderheit handelt: von den 178 Mitgliedstaaten der IAO haben weniger als ein Viertel die wichtigste allgemeine sozialrechtliche Konvention (Nr. 102) ratifiziert, nur 6 von 178 in vollem Umfang; von den 46 Mitgliedstaaten des Europarats haben über 50 % die ESC, die soziale Grundrechte betrifft, ratifiziert, nur 2 in vollem Umfang; die im engeren Sinn sozialrechtlichen Abkommen wurden in der Regel von weniger als 20 % der Mitgliedstaaten ratifiziert; nimmt man die Anzahl der Staaten, die die Übereinkommen in ihrer Gesamtheit akzeptiert haben, sind es zumeist weniger als 10 %.
208
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
haben112. Nicht nur im ersteren, sondern auch im letzteren Fall ist Voraussetzung für den Vertragsschluss, dass Einigkeit über den Regelungsgegenstand als solchen besteht. Das Geflecht von Rechten und Pflichten wird grundsätzlich als Einheit betrachtet, auch wenn Einzelheiten abbedungen werden können. So führt der Ausschuss für Menschenrechte zum ICCPR aus: „In an instrument which articulates very many civil and political rights, each of the many articles, and indeed their interplay, secures the objectives of the Covenant. The object and purpose of the Covenant is to create legally binding standards for human rights by defining certain civil and political rights and placing them in a framework of obligations which are legally binding for those States which ratify; and to provide an efficacious supervisory machinery for the obligations undertaken“113.
Diese Prämissen gelten nicht für Verträge, die lediglich einen Rahmen darstellen, innerhalb dessen ganz verschiedene Regelungsgegenstände für die Vertragspartner in ganz unterschiedlicher Weise für jeweils verbindlich erklärt werden. Verpflichtet sich etwa Italien auf der Grundlage von Konvention Nr. 102 der IAO, die Bestimmungen zu Alter, Familie und Mutterschaft einzuhalten, Irland -dagegen, die Bestimmungen zu Krankengeld, Arbeitslosigkeit und Leistungen an Hinterbliebene zu implementieren, ist im Verhältnis zwischen diesen Staaten nicht zu bestimmen, was der gemeinsame Regelungsgegenstand des Vertrages ist, es sei denn, man rekurriert auf einen sehr unbestimmten kleinsten gemeinsamen Nenner wie „bestimmte soziale Rechte“. Im Grunde handelt es sich um eine Form der Modellgesetzgebung, deren Teile unabhängig voneinander für bindend erklärt werden können. Problematisch ist, dass sich aus nur in eingeschränktem Umfang übernommenen Pflichten volle Rechte ergeben können. Formal werden den Vertragspartnern, auch soweit sie nur Teile der Verträge ratifiziert haben, gewisse Rechte eingeräumt, die Nicht-Vertragspartner nicht wahrnehmen können. Sie können bei Verletzung von Vertragspflichten Beschwerde erheben114, in politischen Gremien, die über Maßnahmen gegenüber Vertragspflichten verletzende Staaten entscheiden, mitbestimmen 115 oder die Mitglieder des für 112 Vgl. Simma, Reziprozitätselement, S. 80 ff., S. 161 ff., der einerseits von „Verträgen, die die gegenseitigen Beziehungen der Parteien regeln“, andererseits von „Verträgen, deren Erfüllung nicht im Verhältnis ihrer Parteien untereinander realisiert wird“ spricht. Sozialrechtsrelevante Verträge können dem ersten oder dem zweiten Vertragstypus zuzuordnen sein: Handelt es sich um Fragen der Gleichbehandlung von Inländern und Angehörigen von Vertragsstaaten, bestehen die Rechte und Pflichten in der Regel zwischen den Vertragsparteien. Geht es dagegen um sozialen Schutz, der allgemein auf einem bestimmten Niveau gewährt werden soll, so sind die Staaten zu einem bestimmten Verhalten ihren Bürgern gegenüber verpflichtet. 113 Vgl. Gardner, Human Rights as General Norms, S. 187. 114 Vgl. Art. 26 Abs. 1 IAO Verfassung: Voraussetzung ist nur „ein von beiden Teilen nach den vorstehenden Regeln ratifiziertes Übereinkommen“; auf den Umfang der im Einzelnen übernommenen Rechte und Pflichten wird nicht abgestellt.
II. Umfang der Rechtsgeltung
209
den Vertrag verantwortlichen Kontrollkomitees auswählen116. Diese Rechte sind grundsätzlich unabhängig von dem Umfang, in dem sich die Vertragspartner verpflichtet haben. Ein tatsächliches Ungleichgewicht entsteht, wenn Rechte und Pflichten in Verträgen, bei denen die Vertragspartner zwischen den für sie bindenden Bestimmungen auswählen dürfen, inhaltlich im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. Dieses Problem erfährt nur zum Teil eine explizite Regelung wie etwa in Konvention Nr. 118 der IAO, nach der sich die Vertragspartner verpflichten, den Angehörigen der anderen Vertragsstaaten „. . . equality of treatment under its legislation with its own nationals, both as regards coverage and as regards the right to benefits, in respect of every branch of social security for which it has accepted the obligations of the Convention“.
zu gewährleisten117. Möglich ist aber auch, dass sich die Verpflichtung zur Gleichbehandlung der eigenen Staatsangehörigen und der Staatsangehörigen aus anderen Vertragsstaaten an versteckter Stelle findet wie im Anhang zur ESC: „. . . the persons covered by Articles 1 to 17 include foreigners only in so far as they are nationals of other Contracting Parties lawfully resident or working regularly within the territory of the Contracting Party concerned . . .“.
Das bedeutet, dass diejenigen Staaten, die die jeweiligen Konventionen in vollem Umfang akzeptiert haben, auch allen Vertragspartnern gegenüber in vollem Umfang Gleichbehandlung garantieren. Für ihre eigenen Staatsangehörigen können sie Gleichbehandlung aber unter Umständen nur in eingeschränktem Umfang einfordern, wenn andere Vertragspartner Teile der Übereinkommen ausgeschlossen haben. Für die Staaten besteht nach dieser Konstruktion der bestehenden sozialrechtlichen Abkommen keine Möglichkeit, dies vertraglich anders zu gestalten. Nun wird diese neue Form der Modellgesetzgebung in Vertragsform mit dem Ziel gerechtfertigt, einer möglichst großen Zahl von Staaten eine Ratifikation zu ermöglichen118. Eine Ratifikation von einzelnen Teilen wird dabei als erster Schritt 115 Nach Art. 29 ESC etwa war ursprünglich vorgesehen, dass alle Mitglieder des Ministerkomitees, d. h. auch diejenigen, die Vertreter von Staaten sind, die die ESC nicht ratifiziert haben, über Empfehlungen an die Vertragsstaaten abstimmen dürfen. Im Protokoll von Turin vom 21. 10. 1991 wird diese Bestimmung geändert: Nach Art. 5 des Protokolls ist das Recht zur Abstimmung auf die Vertreter von Staaten, die Vertragsparteien sind, beschränkt. Obwohl das Protokoll noch nicht in Kraft getreten ist, wird die Regelung seit 1994 angewandt. Allerdings können Staaten trotzdem über die Nicht-Einhaltung von Einzelbestimmungen abstimmen, die sie selbst nicht als für sich verpflichtend anerkannt haben. 116 Vgl. z. B. Art. 25 Abs. 1 ESC. 117 Vgl. auch Art. 68 Abs. 2 Konvention Nr. 102. 118 Vgl. die Rechtfertigung der Einführung größerer Flexibilitat im „Explanatory Report“ zur Revidierten EOSS: . . .offering member States a variety of ways in which to fulfil their undertakings, having regard to their social security conception and machinery and to their level of development“ (Council of Europe, Explanatory Report on the European Code of Social Security (Revised), S. 9).
14 Nußberger
210
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
angesehen, der in der Folge zu einer Annahme aller Teile führen soll119, nicht aber als endgültiger Zustand. Allerdings scheint auch hier nichts so dauerhaft zu sein wie provisorische Regelungen – wird bei den genannten Konventionen eine Auswahl von Regelungskomplexen getroffen, so nehmen die Staaten nur in seltenen Ausnahmefällen120 zu einem späteren Zeitpunkt diese ursprünglichen Einschränkungen zurück. In der Regel bleibt die ursprüngliche Auswahlentscheidung bestehen, auch wenn sie schon ein knappes halbes Jahrhundert zurückliegt und sich die nationale Sozialgesetzgebung in der Zwischenzeit grundlegend gewandelt hat. Die Praxis steht damit in diametralem Gegensatz zu dem mit der Konvention Intendierten, da die Auswahl nur einzelner Regelungskomplexe bei der Ratifikation als „Beweis für die ernstliche Absicht, ein umfassendes System einzurichten“121, als Zwischenschritt, nicht aber als endgültiger Zustand gedacht war. Ziel war, dass die Mitgliedstaaten die Bestimmungen aller verschiedenen Regelungskomplexe annehmen. Da dieses Konzept nicht aufgegangen ist, ist es um so erstaunlicher, dass die ursprünglich von der IAO angewandte Methode, eine Auswahl aus verschiedenen Regelungskomplexen zuzulassen, Schule gemacht hat und vom Europarat übernommen wurde: Wird der Übergangszustand zum Endzustand, läßt sich ein strukturelles Ungleichgewicht nicht vermeiden. – Dieser Geburtsfehler hat auch auf die Normierungen im Bereich der sozialen Menschenrechte Einfluss. Soweit sie, wie die ESC (Art. 12 Abs. 2)122, auf die Konvention Nr. 102 der IAO verweisen, genügt es, „das System der sozialen Sicherheit auf einem befriedigenden Stand zu halten, der zumindest dem entspricht, der für die Ratifikation des Übereinkommens (Nr. 102) der Internationalen Arbeitsorganisation über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit erforderlich ist“.
Das bedeutet aber, dass es ausreicht, eine Absicherung nur in ausgewählten Teilbereichen zu garantieren. Das für eine Übergangsphase Geduldete wird damit zum Standard gemacht. 119 Vgl. die mit der Ratifikation unter Umständen vorgesehene Verpflichtung zur Berichterstattung im Hinblick auf noch ausgeschlossene Teile: Art. 22 ESC; vgl. die Bestimmungen zur nachträglichen Annahme weiterer Teile des Vertrags: Art. 4 Konvention Nr. 102 der IAO, Art. 2 Abs. 4 Konvention Nr. 118 der IAO, Art. 3 Konvention Nr. 128 der IAO, Art. 4 EOSS, Art. 4 Revidierte EOSS, Art. 20 Abs. 3 ESC, Teil III Art. A Nr. 3 Revidierte ESC. 120 In der gesamten Praxis der IAO finden sich nur vier Beispiele dafür, dass Staaten nachträglich, d. h. nach der Ratifikation eines Teils einer Konvention, noch weitere Verpflichtungen übernommen haben: Österreich: Ratifikation der Konvention Nr. 102 im Jahr 1969 (Teil II, V, VII und VIII), zusätzliche Anerkennung von Teil IV im Jahr 1978; Frankreich: Ratifikation von Konvention Nr. 102 im Jahr 1974 (Teil II, IV, V, VI, VIII und IX), zusätzliche Anerkennung von Teil VII im Jahr 1976; Irland: Ratifikation von Konvention Nr. 118 im Jahr 1964 (Teile a), b), h) und i)), zusätzliche Anerkennung von Teil d), e) und f) im Jahr 1976; Tunesien: Ratifikation von Konvention Nr. 118 (Teil a), b), c), g) und i)) im Jahr 1965; zusätzliche Anerkennung von Teil d), e) und f) im Jahr 1976. 121 Stack, Entwurf einer internationalen Konvention, S. 61. 122 Dies gilt auch für die Revidierte Fassung der ESC, die allerdings nicht auf die Konvention Nr. 102 der IAO, sondern die EOSS verweist.
II. Umfang der Rechtsgeltung
211
Im Übrigen fällt auf, dass die Auswahl von einzelnen Bestimmungen durch die Staaten nicht immer eine in sich konsistente internationale Handhabung zeigt. So gibt es Staaten, die Art. 12 Abs. 2 ESC akzeptiert und damit die Verpflichtung übernommen haben, ihr System der sozialen Sicherheit mindestens auf dem Stand zu halten, der für die Ratifikation der Konvention Nr. 102 der IAO erforderlich ist, die aber dennoch die Konvention Nr. 102 selbst nicht ratifiziert haben123. Allgemein ist festzuhalten, dass Vertragsschlüsse auf internationaler Ebene erleichtert werden, wenn die Möglichkeit bereitgestellt wird, bei der Ratifikation von Konventionen zwischen verschiedenen Regelungskomplexen auszuwählen, dass mit diesen innovativen Formen der Rechtsetzung aber Störungen im Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten der Vertragsparteien entstehen können, die, werden sie von den potentiellen Vertragspartnern als Problem erkannt, auch zur Ablehnung der internationalen Vorgaben insgesamt führen können.
c) Einräumung von Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Einzelbestimmungen Um Verträge als Instrument internationaler Rechtsetzung im sozialen Bereich operabel zu machen und trotz der großen Systemvielfalt Kompromisse zu Mindeststandards zu finden, ist es auch möglich, innerhalb der einzelnen Regelungskomplexe Alternativen vorzugeben. Diese können entweder als gleichwertig eingestuft werden oder aber unterschiedliche Entwicklungsstufen markieren. Während letzteres Modell auch bei der Normierung sozialer Grundrechte anzutreffen ist, ist die Auswahl zwischen gleichberechtigten Varianten zur Erreichung eines vorgegebenen Ziels ein Charakteristikum von sozialrechtlichen Regelungen im engeren Sinn.
aa) Auswahl zwischen Standards auf unterschiedlichem Niveau Eines der Grundprobleme der Normierungen von Sozialstandards im zwischenstaatlichen Bereich ist, Standards zu definieren, deren Verwirklichung nicht ein weltweit nur von wenigen Staaten erreichtes Niveau der wirtschaftlichen Prosperität voraussetzt, sondern auch für wirtschaftlich weniger weit entwickelte Staaten realisierbar ist. Ein Lösungsansatz ist, Staaten mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten bei definierten Sachproblemen eine Auswahloption einzuräumen. Entweder können sie die Geltung einzelner Bestimmungen abbedingen oder aber Standards auswählen, die geringere Anforderungen stellen. 123 Dies gilt etwa für Finnland und Polen. Rumänien und Slowenien haben Art. 12 Abs. 2 der Revidierten ESC akzeptiert und sich damit verpflichtet, den Standard der EOSS einzuhalten, haben aber ihrerseits die EOSS nicht ratifiziert, Rumänien noch nicht einmal die Konvention Nr. 102 der IAO.
14*
212
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
In den sozialrechtlichen Konventionen der IAO sind derartige Auswahlmöglichkeiten regelmäßig vorgegeben124. Problematisch ist allerdings, welchen Staaten sie unter welchen Voraussetzungen tatsächlich eingeräumt werden sollen. Während es zu Beginn der Tätigkeit der IAO Praxis war, die Länder, die von den Ausnahmebestimmungen würden Gebrauch machen können, namentlich zu bestimmen125, ging man später zur Verwendung von Generalklauseln über. So lautet in Konvention Nr. 102, 121, 128126 und 130 die Standardformel: „Ein Mitglied, dessen Wirtschaft und medizinische Einrichtungen unzureichend entwickelt sind. . .“.
In den neueren sozialrechtlichen Konventionen wird auch auf die Entwicklung des sozialen Sicherungssystems abgestellt127. Inhaltlich steht der Kreis derer, die von dem sozialen Schutzsystem erfasst werden sollen128, die Leistungsdauer129 und der Leistungsumfang130 zur Disposition. Zum Teil wird für jede Abweichung von den als allgemeingültig festgelegten Standards eine Begründung gefordert131. Von der Möglichkeit, Einzelbestimmungen vorübergehend von der Anwendung auf das nationale Recht auszuschließen, haben im Hinblick auf Konvention Nr. 102 Bolivien, Peru und die Türkei, im Hinblick auf die Konvention Nr. 121, 128 und 130 Bolivien und Ecuador Gebrauch gemacht. Problematisch ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Begriffes „temporary“, da für Peru diese Ausnahme seit 40, für die anderen Staaten jeweils seit mehr als 20 Jahren gilt. Auch hier stellt 124 Art. 3 Abs. 1 Konvention Nr. 102, Art. 2 Abs. 1 Konvention Nr. 121, Art. 4 Abs. 1 Konvention Nr. 128, Art. 2 Abs. 1 Konvention Nr. 130; Art. 5 Abs. 2 Konvention Nr. 168. 125 Vgl. z. B. Konvention Nr. 1 (Hours of Work (Industry) Convention): Darin werden in Art. 9 – 13 Ausnahmemöglichkeiten für Japan, British India, China, Persien, Siam, Griechenland und Rumänien festgelegt; zu weiteren Beispielen vgl. Mc Mahon, Legislative Techniques, S. 50 ff. 126 In Konvention Nr. 128 fehlt der Verweis auf den Entwicklungsstand der medizinischen Einrichtungen. 127 Vgl. Art. 5 Abs. 2 Konvention Nr. 168: „where it is justified by the extent of protection of its social security system“ oder in Konvention Nr. 183: „a member whose economy and social security system are insufficiently developed“. 128 Beispielsweise ist es für Staaten, die von der Wahlmöglichkeit Gebrauch machen können, möglich, dann, wenn ein bestimmter Prozentsatz von Arbeitnehmern von einem sozialen Schutzsystem zu erfassen ist, nur die Arbeitnehmer zu berücksichtigen, die in industriellen Unternehmen mit mehr als 20 Personen arbeiten; vgl. die entsprechenden Regelungen in Art. 9 d, 15 d, 21 c, 33 b 41 d, 48 c 55 d, 61 d Konvention Nr. 102. 129 Vgl. z. B. Art. 12 Abs. 2, 18 Abs. 2 Konvention Nr. 102: Leistungsdauer der medizinischen Versorgung bzw. des Krankengeldes statt 26 Wochen nur 13 Wochen. 130 Beispielsweise kann auf die Gewähr folgender Leistungen bei Arbeitsunfällen verzichtet werden: zahnmedizinische Behandlung, Pflege zu Hause, im Krankenhaus oder in anderen medizinischen Institutionen, Unterhalt im Krankenhaus, Erholungsheime, Sanatorien und anderen medizinischen Institutionen etc. (vgl. Art. 34 Abs. 3 Konvention Nr. 102, Art. 12 Konvention Nr. 121). 131 Vgl. Art. 2 Nr. 1 Konvention Nr. 130.
II. Umfang der Rechtsgeltung
213
sich die Frage, ob eine als vorübergehend gedachte Zwischenlösung sich nicht zu einer Dauerlösung entwickelt hat. Im ICESCR werden die Länder, für die Ausnahmebestimmungen gelten (Art. 2 Abs. 3), als „Entwicklungsländer“ zusammengefasst; für sie besteht die Möglichkeit, die Geltung der Standards für ausländische Staatsangehörige einzuschränken132. Diese Ausnahmemöglichkeit ist mit dem Wunsch der Entwicklungsländer zu erklären, den zu Zeiten der Kolonialherrschaft übermäßigen wirtschaftlichen Einfluss von Ausländern zu unterbinden. Nach den „Limburg Principles“ ist diese Bestimmung sowohl im Hinblick auf den Begriff „wirtschaftliche Rechte“ als auch im Hinblick auf den Begriff „Entwicklungsländer“ eng auszulegen133. Unter „Entwicklungsländer“ fallen diejenigen Länder, die unabhängig geworden sind und von den Vereinten Nationen als „Entwicklungsländer“ klassifiziert werden134. Derartige Ausnahmemöglichkeiten sind, will man eine Geltung der Sozialstandards für eine möglichst große Zahl von Staaten erreichen, hilfreich, da sich so die unterschiedlich entwickelten Systeme leichter unter eine gemeinsame Klammer ziehen lassen135. Problematisch ist allerdings, dass damit Vertragspartner erster und zweiter Klasse geschaffen werden, da die einen die vorgegebenen Standards akzeptieren müssen, den anderen aber Wahlmöglichkeiten eingeräumt werden. Das Regelungsziel, einheitliche, weltweit geltende Standards festzulegen, bleibt zwar bestehen, wird allerdings zurückgestellt136. 132 Vgl. den Wortlaut: „Entwicklungsländer können unter gebührender Berücksichtigung der Menschenrechte und der Erfordernisse ihrer Volkswirtschaft entscheiden, inwieweit sie Personen, die nicht ihre Staatsangehörigkeit besitzen, die in diesem Pakt anerkannten wirtschaftlichen Rechte gewährleisten wollen“; Beispiel für eine nicht von dieser Klausel gedeckte Ausnahmeregelung ist der Vorbehalt von Kuwait, nur Inländern die Rechte nach Art. 11 ICESCR zu gewähren; vgl. Kapitel B.II.2.c)aa). 133 Vgl. Limburg Principles (Nr. 43): „The purpose of article 2 (3) was to end the domination of certain economic groups of non-nationals during colonial times. In the light of this the exception in article 2 (3) should be interpreted narrowly.“, abgedruckt bei Hunt, Social Rights, S. 241 ff.; vgl. auch Kartashkin, Economic, Social, and Cultural Rights, S. 130. 134 Vgl. Limburg Principles (Nr. 44), abgedruckt bei Hunt, Social Rights, S. 241 ff. 135 Vgl. den Kommentar des „Designers“ der Konvention Nr. 102 Stack, Entwurf einer internationalen Konvention, S. 62: „Die Konferenz war sich bewusst, dass es für einige Länder viel leichter ist, diese Norm zu erreichen, als für andere, deren Wirtschaft und medizinische Einrichtungen ungenügend entwickelt sind. Die in diesen Ländern bei der Einführung eines auch nur beschränkten Systems der sozialen Sicherheit erforderlichen Anstrengungen wurden berücksichtigt. . . . unterentwickelte Länder sollen auf diese Art zur Einführung von Systemen der sozialen Sicherheit veranlasst werden“. Vgl. zu den Problemen der Entwicklungsländer mit den Sozialstandards der IAO im allgemeinen Blenk-Knocke, Entwicklungsländer, S. 2 ff. 136 Vgl. auch die Formulierung in der „Declaration of Philadelphia“: „. . . that the principles set forth in this Declaration are fully applicable to all peoples everywhere and that, while the manner of their application must be determined with due regard to the stage of social and economic development reached by each people, their progressive application to peoples who are still dependent, as well as to those who have already achieved self-government, is a matter of concern to the whole civilised world“.
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B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
Auf regionaler Ebene ist die Vorgabe unterschiedlicher Standards grundsätzlich nicht notwendig, ist doch Grundlage regionaler Zusammenschlüsse gerade die Vergleichbarkeit der Lebens- und Wirtschaftsbedingungen137. Dementsprechend wird in der EOSS aus dem Jahr 1964 – im Gegensatz zur Konvention Nr. 102 der IAO, deren Spiegelbild die EOSS im übrigen ist – von der Einfügung einer Ausnahmebestimmung für Länder, die weniger weit entwickelt sind, abgesehen. Allerdings gibt es zu der EOSS ein Protokoll, das durchwegs höhere Standards enthält. EOSS und Protokoll repräsentieren so Mindest- und Wunschstandard138, während die Entwicklungsländerklausel in den IAO-Konventionen mögliche Abweichungen vom Mindeststandard nach unten vorgibt. In der Revidierten EOSS aus dem Jahr 1990 wird zwar eine Vorschrift aufgenommen, die die Möglichkeit einräumt, zu einzelnen Sachfragen Regelungen abzubedingen. Dies wird aber nicht an die Voraussetzung geknüpft, dass in dem entsprechenden Staat das Niveau der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung niedriger sein müsse. Vielmehr heißt es allgemein: „Any Party may by a declaration addressed to the Secretary General of the Council of Europe derogate from the provisions of . . ..“ (Art. 7).
Hier werden im Grunde gleichberechtigte Alternativlösungen vorgegeben139; bei schwierigen Einzelfragen, insbesondere bei Problemen, deren Lösung sich in einem Übergangsstadium befindet – so etwa bei der Frage der Diskriminierung der Männer bei Hinterbliebenenrenten – werden aber auch Lösungen auf niedrigerem Niveau angeboten140. Auf Dauer soll aber ein Nebeneinander verschiedener Standards vermieden werden.
137 Im Hinblick auf den Europarat ist diese These allerdings nur mehr eingeschränkt gültig, seit er sich für die Länder Mittel- und Osteuropas sowie die GUS-Staaten Moldawien, Georgien, Armenien und Aserbeidschan geöffnet hat. 138 Vgl. den Kommentar in dem Explanatory Report von 1998 (S. 10): „. . . the European Code of Social Security was intended to define a minimum standard that social security in Europe should reach, whereas the Protocol contained the desirable standards“. 139 Vgl. Council of Europe, Explanatory Report, S. 23: „This Article is new and has been introduced in the interests of the flexibility sought. The latitude it allows does not lower the level of standards since the derogations imply either compensations or the existence of equivalent provisions“. Im Einzelnen geht es um die Möglichkeit, den Kreis der im Hinblick auf medizinische Versorgung geschützten Personen einzuengen (Art. 9), die Möglichkeit, die Vorschrift, dass die Wartezeit, bis Krankengeld gezahlt wird, drei Tage nicht überschreiten darf, abzubedingen (Art. 17), um alternative Gestaltungsformen im Hinblick auf die Festsetzung der Altersgrenze (Art. 27) und die Voraussetzungen für eine Altersrente (Art. 28), um die Möglichkeit einer Reduzierung des Kreises der zu Mutterschaftsleistungen Berechtigten (Art. 52) und die Möglichkeit, Hinterbliebenenrenten vorübergehend nur Witwen und nicht Witwern zu gewähren (Art. 70). 140 Vgl. Art. 70 Abs. 1: „A Party may derogate temporarily from the provisions of this part concerning the granting of benefits to surviving spouses without distinction as to sex if its legislation, at the time when the Party accepts the obligations embodied in this part, provides that only widows are entitled to such benefit“.
II. Umfang der Rechtsgeltung
215
bb) Ausnahmebestimmungen für bestimmte Personengruppen Ziel sozialrechtlicher Standardisierungen ist grundsätzlich, den Kreis der in den Schutz einbezogenen Personen so umfassend wie möglich zu gestalten. Aber auch hier werden Ausnahmebestimmungen für bestimmte Personengruppen zugelassen, sei es aufgrund der besonderen arbeitsrechtlichen Stellung der Betroffenen141, aufgrund fehlender Schutzbedürftigkeit142 oder aufgrund anderweitig bestehender besonderer Schutzsysteme143. Dabei fällt auf, dass in den frühen sozialversicherungsrechtlichen Konventionen aus den 20er und 30er Jahren der Kreis derer, die in den Schutzbereich der Regelungen fallen144, ebenso wie die Ausnahmebestimmungen145 vergleichsweise konkret bestimmt werden. In den nach dem Krieg ausgearbeiteten Konventionen, deren Ziel ein umfassender sozialer Schutz ist, wird die Zahl derer, die in den Schutz der Regelungen einbezogen werden sollen, in der Regel prozentual zur Zahl der Arbeitnehmer, der wirtschaftlich tätigen Bevölkerung oder der Einwohner festgelegt146. Ausnahmen sind nur teilweise explizit vorgesehen. In der Regel ist der nationale Gesetzgeber frei, solange er sich innerhalb der statistischen Vorgaben hält, diejenigen Gruppen vom Schutzbereich auszunehmen, bei denen er dies für angebracht hält147. Die internationalen Vorgaben sind damit nur quantitativ, nicht qualitativ. Prozentuale Bestimmungen verhindern nicht, dass gerade diejenigen, die eines Schutzes am meisten bedürfen, ausgenommen werden. Die Welt der Arbeit in den Industriestaaten, deren Situation bei der Ausarbeitung der Konventionen im Vordergrund stand, hat sich seit der Verabschiedung dieser Instrumente, die in der Mehrzahl aus den 50er und 60er Jahren datieren, deut141 Gelegenheitsarbeiter, Heimarbeiter, Mitglieder der Familie des Arbeitgebers, (Art. 2 Konvention Nr. 17, Art. 2 Abs. 2 Konvention Nr. 24, Art. 2 Abs. 2 Konvention Nr. 25, Art. 4 Abs. 2 Konvention Nr. 121, Art. 5 Konvention Nr. 130). 142 Vgl. z. B. die Ausnahmeregelung für nicht-manuelle Arbeiter mit einer überdurchschnittlichen Entlohnung (Art. 2 Abs. 2 d Konvention Nr. 17, Art. 2 Abs. 2 b Konvention Nr. 24 Art. 2 Abs. 2 b Konvention Nr. 25). 143 Z. B. Seeleute und Seefischer (vgl. Art. 77 Konvention Nr. 102, Art. 3 Abs. 1 a Konvention Nr. 121) und Beamte (vgl. Art. 3 Abs. 1 b Konvention Nr. 121, Art. 7 Abs. 3 Revidierte EOSS). 144 Vgl. z. B. Art. 2 Abs. 1 Konvention Nr. 17: „The laws and regulations as to workmen’s compensation shall apply to workmen, employees and apprentices employed by any enterprise, undertaking or establishment of whatsoever nature, whether public or private“; vgl. auch Art. 2 Abs. 1 Konvention Nr. 24, Art. 2 Abs. 1 Konvention Nr. 35, Art. 2 Abs. 1 Konvention Nr. 37, Art. 2 Abs. 1 Konvention Nr. 39; in eigenständigen Konventionen wird auch der Schutz der in der Landwirtschaft Beschäftigten geregelt (vgl. Konvention 12, 25, 36, 38, 40). 145 Vgl. z. B. Art. 2 Abs. 2 Konvention Nr. 17, Art. 2 Abs. 2 Konvention Nr. 24, Art. 2 Abs. 2 Konvention Nr. 35, Art. 2 Abs. 2 Konvention Nr. 37, Art. 2 Abs. 2 Konvention Nr. 39. 146 Vgl. zu diesem Modell Konvention Nr. 102 der IAO und die EOSS. 147 Konkrete Ausnahmebestimmungen im Hinblick auf Seeleute und Beamten finden sich aber in Art. 3 Konvention Nr. 121.
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B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
lich gewandelt148. Ein Sicherungsmodell, das von einem schutzbedürftigen Vollzeit-Beschäftigten ausgeht und andere Gruppen – in unterschiedlichem – Umfang ausgrenzt, wird als nicht mehr adäquat angesehen. Der Arbeitsmarkt wird von einer neuen Flexibilität der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses geprägt; schutzbedürftig sind oftmals weniger diejenigen, die in festen Arbeitsverhältnissen stehen, als vielmehr diejenigen, die auf der Grundlage von atypischen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Eine mögliche Antwort auf diese Entwicklung zeigt die Konvention Nr. 183 der IAO aus dem Jahr 2000, die einerseits den Kreis der Schutzbedürftigen sehr umfassend definiert, andererseits aber auch Ausnahmeregelungen flexibel handhabt: „This convention applies to all employed women, including those in atypical forms of dependent work. However, each Member which ratifies this Convention may, after consulting the representative organizations of employers and workers concerned, exclude wholly or partly from the scope of the Convention limited categories of workers when its application to them would raise special problems of a substantial nature“ (Art. 2).
Diese Ausnahmebestimmung ist inhaltlich so wenig konkret („limited categories of workers“, „special problems of a substantial nature“), dass sie letztlich auf eine Verfahrensvorschrift reduziert wird. Werden die entsprechenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen befragt, sind beliebige Gruppen von Arbeitnehmerinnen aus dem Schutzbereich auszunehmen; prozentuale Vorgaben werden durch Generalklauseln ersetzt; die Ausnahmemöglichkeit bleibt. Ein ähnliches Modell liegt der Revidierten EOSS zugrunde. Der in den Schutz der Regelungen einzubeziehende Personenkreis wird umfassend bestimmt149; die Ausnahmen werden mit Prozentsätzen, nicht in Form von Generalklauseln festgelegt150. Das bedeutet aber, dass auch hier grundsätzlich ein quantitativer Ansatz verfolgt wird; es gibt keine qualitative Sicherungsklausel, die verhindert, dass die 5 bzw. 10 % Ausgeschlossenen nicht gerade diejenigen sind, die eines Schutzes am meisten bedürften. Innovativ ist aber die Bestimmung des Art. 20 der Revidierten EOSS. Auch dort gibt es zwar eine prozentuale Vorgabe zur Zahl der maximal aus dem Sicherungssystem gegen Arbeitslosigkeit Ausgeschlossenen. Allerdings wird diese Regelung ergänzt durch die Bestimmung, dass von acht besonders schutzbedürfigen Gruppen mindestens zwei zusätzlich abzusichern sind. Analysiert man die Entwicklung der Rechtstechnik in diesen Übereinkommen, so zeigt sich, dass konkrete materiell-rechtliche Festlegungen zu dem Kreis der 148 Vgl. statt vieler Zacher, Aktuelle Herausforderungen, S. 75 ff., Zacher; Wandel der Arbeit, S. 1 ff. 149 Vgl. z. B. Art. 9 Revidierte EOSS: „The persons protected shall comprise: (a) all employees, including apprentices, together with their dependent spouses and their children; or (b) all economically active persons together with their dependent spouses and their children; or (c) all residents“. 150 Vgl. Art. 9 Abs. 2 Revidierte EOSS.
II. Umfang der Rechtsgeltung
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eines Schutzes bedürftigen Personen Regelungen weichen, die für die Nationalstaaten zwar die Richtung der sozialpolitischen Gestaltung festlegen – umfassender Schutzbereich, Einbeziehung auch neuer, von den historischen Modellen nicht erfasster Problemfälle –, dass dabei aber ein größerer Gestaltungsspielraum bleibt als in den frühen sozialversicherungsrechtlichen Konventionen, in denen die Ausnahmen nach der Art des Beschäftigungsverhältnisses konkret festgelegt waren. Ziel dieser neuen Regelungstechnik ist, trotz der hohen Standards und trotz der großen Diversität der verschiedenen nationalen Systeme einer möglichst großen Zahl von Staaten eine Ratifikation zu ermöglichen. All diese Ansätze, die anerkennen, dass die Staaten bei der Festlegung des personellen Schutzbereichs sozialrechtlicher Regelungen – in welcher Form auch immer – Ausnahmen machen können, stehen aber im Widerspruch zu der Vorgabe in Art. 9 ICESCR. Darin wird das Recht eines jeden auf soziale Sicherheit festgelegt; Ausnahmebestimmungen, und sei es auch für einzelne, konkret bestimmte oder prozentual abgegrenzte Gruppen von Beschäftigten, sind damit nicht kompatibel. cc) Vorgabe gleichberechtigter Varianten Eine weitere Möglichkeit, das Instrument des multilateralen völkerrechtlichen Vertrages zur Lösung im sozialen Bereich bestehender Probleme verfügbar zu machen und die Ratifikation einer Vielzahl von Staaten zu erreichen, ist, nur die Ziele vorzugeben, die Methoden zur Erreichung der Ziele aber zur Disposition zu stellen. Von einer rechtlichen Fixierung der Methoden kann dann abgesehen werden – ein Ansatz, der in der Regel in Verträgen zum Schutz von Menschenrechten im sozialen Bereich verwendet wird151. Oder die Methoden werden zur Auswahl gestellt. Dies geschieht bei den sozialrechtlichen Konventionen nach dem Zweiten Weltkrieg, die nicht mehr einen engen sozialversicherungsrechtlichen Ansatz verfolgen (social insurance era), sondern ein umfassendes Konzept zur sozialen Sicherheit (social security era)152: „Nach der Konvention wird die soziale Sicherheit als ein Ziel angesehen, zu dessen Erreichung, nämlich der Gewährleistung angemessener Leistungen unter Bedingungen, die die persönliche Würde des einzelnen nicht verletzen, alle zweckdienlichen Mittel gutzuheißen sind“153.
Bei den Konventionen der IAO aus den 20er und 30er Jahren wird die Technik, den Vertragsstaaten alternative Gestaltungsmöglichkeiten zur Erfüllung der Vorgaben der Verträge zur Verfügung zu stellen, nur ausnahmsweise eingesetzt154. 151 Vgl. z. B. Art. 9 ICESCR: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf soziale Sicherheit an; diese schließt die Sozialversicherung ein“. 152 Vgl. dazu S. 125 ff. 153 Stack, Entwurf einer internationalen Konvention, S. 61 ff. 154 Z. B. Festschreibung der Möglichkeit, Leistungen zusätzlich zu gewähren (z. B. Art. 5 Konvention Nr. 24: Leistungen im Krankheitsfall auch für Familienangehörige); Festschrei-
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In den internationalen Konventionen nach dem Krieg werden dagegen Alternativen zu einer Vielzahl wichtiger Fragen angeboten. Ziel ist, die Vorgaben für die Staaten annehmbar zu machen, gleich auf welchem Modell die nationale Sozialgesetzgebung beruht – zu dieser Zeit konkurriert bereits das Bismarck’sche mit dem Beveridge’schen Modell155. Das bedeutet, dass bei der Rechtsetzung im zwischenstaatlichen Bereich die zunehmende Diversität nationaler Lösungsansätze mit der Ausarbeitung flexibler Vorgaben beantwortet wird156. – Wichtig ist, dass, im Gegensatz zu den oben besprochenen „Entwicklungsländerklauseln“, die hier vorgeschlagenen Alternativen für grundsätzlich gleichwertig angesehen werden157. Die Sicherung eines gleichwertigen Standards wird auch dann verfolgt, wenn zugestanden wird, vorübergehend von der Einhaltung einzelner Bestimmungen unter der Voraussetzung absehen zu können, dass im übrigen ein höherer als der von der Konvention geforderte Standard erreicht wird158. Bei Wahlmöglichkeiten zwischen gleichberechtigten Gestaltungsmöglichkeiten ist ein Hinweis bei der Ratifikation in der Regel nicht nötig. bung besonderer Leistungen des Staates (z. B. Art. 7 Konvention Nr. 24: Möglichkeit von Zuzahlungen durch die öffentliche Hand). 155 Vgl. zum Einfluss der nationalen Entwicklungen auf die Ausarbeitung der internationalen Standards Otting, International Labour Standards, S. 165 ff.; Tamburi, Entwurf einer internationalen Konvention, S. 61 ff. 156 Im Einzelnen wird vorgegeben, nach welchen verschiedenen Methoden der Bereich derer, die in den Schutz der Konvention einbezogen werden sollen, abzugrenzen ist und nach welchen Methoden die Leistungen zu berechnen sind. Die vorgeschlagenen Optionen bauen entweder auf einem System auf, das an der Arbeitnehmereigenschaft anknüpft oder aber das die Einwohner bei Bedürftigkeit umfassend sichert. Diese unterschiedlichen Grundstrukturen fordern auch bei Nebenbestimmungen die Bereitstellung von Alternativlösungen, so beispielsweise bei der Frage der Absicherung derer, die zwar ein bestimmtes Alter erreicht haben, dennoch aber weiterarbeiten. In Systemen, die an der Arbeitnehmereigenschaft anknüpfen und Beitragsleistungen voraussetzen, ist die Leistung zu reduzieren, wenn das Einkommen des Betroffenen einen bestimmten Betrag überschreitet; in steuerfinanzierten Systemen ist nicht nur auf das erzielte Einkommen, sondern auch auf andere vorhandene Mittel des Betroffenen abzustellen. 157 Vgl. dazu den Kommentar von Stack, Entwurf einer internationalen Konvention, S. 63: „Gegen die Konvention kann eingewendet werden, dass die drei Grundsätze [zur Berechnung der Leistungen; d. Verfasserin] auch bei rigoroser Anwendung nicht gleichwertig sind. Das trifft wohl zu, doch hat jeder Grundsatz vom Standpunkt der sozialen Sicherheit aus seine besonderen Vorzüge und Mängel; man kann unmöglich behaupten, daß einer oder der andere zu jeder Zeit und in allen Ländern den übrigen vorzuziehen ist“. 158 Vgl. „. . . may make temporary derogations from particular provisions of Parts II and III of this Convention on condition that such derogation shall neither fundamentally reduce nor impair the essential guarantees of this convention“. Im Zusammenhang mit dieser Bestimmung ist allerdings eine Berichtspflicht vorgesehen, nach der der jeweils gemachte Fortschritt darzulegen ist; vgl. auch Art. 7 Abs. 2 Revidierte EOSS: „provided that the Party’s legislation guarantees at least equivalent protection, in the whole of the part considered, to that laid down in this (revised) Code“. Hier erfolgt eine verfahrensmäßige Absicherung der Gleichwertigkeit, da eine Bestätigung der Ausnahme durch das Ministerkomitee des Europarats notwendig ist.
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dd) Optionsklauseln Wird die Einhaltung eines bestimmten Standards zwar für wünschenswert erachtet, soll aber eine Ratifikation trotzdem nicht daran scheitern, dass das nationale Recht mit der internationalen Vorgabe nicht vereinbar ist, so gibt es auch zur Regelung dieser Fälle verschiedene vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten. Verbreitet sind die „may“-Bestimmungen, die im Gegensatz zu den „shall“oder „should“-Bestimmungen bei Nicht-Einhaltung nicht zu kritischen Kommentaren von seiten der jeweiligen Kontrollkomitees führen159. Möglich ist auch die Formulierung „under prescribed conditions“, da hier dem Staat selbst überlassen wird festzulegen, unter welchen Bedingungen eine bestimmte Leistung gewährt werden soll160. Die Formulierung impliziert aber ein Rückschrittverbot, da sich der Staat damit selbst bindet, den von ihm vorgegebenen Standard in Zukunft nicht zu unterschreiten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die innovative Regelung in Konvention Nr. 183 der IAO. Darin wird ein Mindeststandard für den Mutterschaftsurlaub festgelegt (14 Wochen), zugleich aber gefordert, dass die Staaten zusammen mit der Ratifikation eine Deklaration über die nach der nationalen Gesetzgebung tatsächlich gewährte Dauer abgeben sollen. Änderungen sollen dem Generaldirektor der IAO in der Folge mitgeteilt werden (Art. 4 Abs. 3 Konvention Nr. 183). Damit wird versucht, im Rahmen der Implementierung der Konvention eine Rückkoppelung mit der tatsächlichen Praxis in den einzelnen Mitgliedstaaten zu erreichen. ee) Verwendung offener Begriffe Wahlmöglichkeiten reichen nicht aus, um eine Starrheit der internationalen Vorgaben zu vermeiden und Standards zu definieren, deren Implementierung für die Staaten auch bei unterschiedlichem wirtschaftlichem Niveau möglich ist. Deshalb ist ein Charakteristikum all dieser Normierungen, dass Begriffe verwendet werden, deren Bedeutung nicht konkret definiert wird. Ein anschauliches Beispiel ist Art. 1 Abs. 3 Konvention Nr. 122 der IAO: „The said policy shall take due account of the stage and level of economic development and the mutual relationships between employment objectives and other economic and social objectives, and shall be pursued by methods that are appropriate to national conditions and practices“.
Drei verschiedene Arten von Formulierungen lassen sich hier unterscheiden. Es gibt Begriffe, die eine relative, keine absolute Bedeutung haben, Begriffe, die die Notwendigkeit des Sich-Bemühens zum Ausdruck bringen, und Begriffe, die nach dem Wortlaut eine Vielzahl unterschiedlicher Auslegungen zulassen. Vgl. z. B. Art. 12 EOSS oder Art. 26 EOSS. Vgl. die Definition in Art. 1 d EOSS: „the term „prescribed“ means determined by or in virtue of national laws or regulations“. 159 160
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Begriffe wie „adequate“, „suitable“ „appropriate“, „necessary“ etc.161 setzen – im Gegensatz zu konkreten, insbesondere zahlenmäßig bestimmten Vorgaben wie etwa Zeit- oder Prozentangaben – keinen absoluten Standard, sondern definieren Erwartungen relativ. So ist nicht ein in bestimmter Weise geeichter Maßstab anzulegen, mit dem von einem Punkt Null aus gemessen wird. Vielmehr sind Abstände jeweils im Verhältnis zu etwas Bestehendem, Vorgegebenem zu bestimmen. Das bedeutet aber auch, dass für jedes Land der jeweilige allgemeine wirtschaftliche und soziale Entwicklungsstand als Bezugspunkt genommen werden kann. So heißt es etwa in Art. 2 ICESCR „Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich . . . mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen“.
„Geeignet“ ist auf die spezifische Situation im Lande zu beziehen; was für ein Land „geeignet“ sein kann, muß es nicht für ein anderes162. Unter Umständen kann aber durch die Verwendung derartiger Begriffe, werden sie nicht näher definiert, eine Regelung zu einer Leerformel werden. Ein Beispiel: In internationalen Konventionen, die sich mit der Frage befassen, wie das Risiko der Arbeitslosigkeit abzusichern ist, wird der potentiell Berechtigte in der Regel vor Leistungserhalt darauf verwiesen, eine „geeignete Arbeit“ („suitable employment“) anzunehmen163. Darin besteht Einigkeit; strittig ist dagegen, welche Arbeit als „geeignet“ anzusehen ist. Dies auf internationaler Ebene zu bestimmen, ist Kernpunkt der Regelung164. Wird auf diese Frage aber, wie etwa in Art. 19 ff. Konvention Nr. 102 der IAO oder Art. 19 ff. EOSS, keine Antwort gegeben, so ist die Regelung wenig hilfreich165. 161 Vgl. z. B. Art. 10 Abs. 4 EOSS: „by such means as may be deemed appropriate“, Art. 11 EOSS: „necessary to preclude abuse“, Art. 1 Abs. 3 Konvention Nr. 122 der IAO: „appropriate to national conditions and practices“. 162 Vgl. dazu General Comment 3 des Sachverständigenausschusses, Punkt 4: „. . . each State party must decide for itself which means are the most appropriate under the circumstances with respect to each of the rights. . .“.; zur Interpretation von Art. 2 Abs. 1 ICESCR vgl. allgemein Klee, Progressive Verwirklichung. 163 Zumeist findet dieses Kriterium in die Definition des Risikos „Arbeitslosigkeit“ selbst Eingang; vgl. Konvention Nr. 102 „suspension of earning, as defined by national laws or regulations, due to inability to obtain suitable employment in the case of a person protected who is capable of, and available for, work“ (Art. 20), Konvention Nr. 168 „loss of earnings due to inability to obtain suitable employment“ (Art. 10); vgl. auch Konvention Nr. 44 der IAO (Art. 10), EOSS (Art. 20), Revidierte EOSS (Art. 19). 164 Vgl. die Definitionen bzw. Auflistungen von Kriterien, die bei der Beurteilung zu berücksichtigen sind, in Art. 10 Abs. 1 Konvention Nr. 44, Art. 21 Konvention Nr. 168, Punkt 14 Empfehlung Nr. 176 der IAO, Art. 19 Abs. 2 Revidierte EOSS. 165 Vgl. dazu auch Council of Europe, Explanatory Report, S. 39: „The concept of „suitable employment“ is fundamental, as its interpretation determines the extent to which a recipient of unemployment benefit is required to accept the jobs offered to him. . . .. The concept of
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Insbesondere für soziale Grundrechte ist es typisch, dass nicht ein bestimmter Weg, sondern vielmehr ein Ziel vorgegeben und so eine „obligation of conduct“ definiert wird („promotional conventions“). Paradebeispiel ist die Formulierung in Art. 2 ICESCR166. Aber auch in konkreten Einzelbestimmungen finden sich entsprechende Formulierungen. So wird etwa in der ESC im Zusammenhang mit dem Recht auf Arbeit gefordert, einen hohen und stabilen Beschäftigungsstand „zu einer der wichtigsten Zielsetzungen und Aufgaben“ zu machen oder zum Schutz der Behinderten, Kinder, Mütter und Familien „alle geeigneten Maßnahmen“ zu ergreifen. Derartige „obligations of conduct“ sind leichter als rechtlich bindend anzuerkennen als „Obligations of result“. Dennoch sind auch aus diesen offenen Formulierungen konkrete Rechtspflichten zu entnehmen, wie der Sachverständigenausschuss zum ICESCR ausführt: „The concept of progressive realization constitutes a recognition of the fact that full realization of all economic, social and cultural rights will generally not be able to be achieved in a short period of time. . . . Nevertheless, the fact that realization over time, or in other words progressively, is foreseen under the Covenant should not be misinterpreted as depriving the obligation of all meaningful content. It is on the one hand a necessary flexibility device, reflecting the realities of the real world and the difficulties involved for any country in ensuring full realization of economic, social and cultural rights. On the other hand, the phrase must be read in the light of the overall objective, indeed the raison d’être of the Covenant which is to establish clear obligations for State parties in respect of the full realization of the rights in question. It thus imposes an obligation to move as expeditiously and effectively as possible towards that goal“167.
Flexibilität wird schließlich auch dadurch erreicht, dass Begriffe, über deren exakte Bedeutung keine Einigkeit erzielt werden kann, nicht definiert werden. Nirgendwo wird näher bestimmt, was unter „social security“ zu verstehen ist. Aus dem Text des ICESCR ist lediglich zu entnehmen, dass das Konzept „social security“ weiter ist als „social insurance“, da ersteres letzteres mit einschließt. Definitionen enthalten auch die anderen Menschenrechtspakte wie CEDAW und CERD nicht. In der ESC (Art. 12) wird auf die Konvention Nr. 102 der IAO, in der RESC (Art. 12) auf die EOSS verwiesen. Daraus ist zu entnehmen, dass eine Absicherung der Risiken Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Arbeitsunfall, Invalidität und Tod des Ernährers sowie Familienleistungen und Leistungen bei Mutterschaft zur „sozialen Sicherheit“ zu zählen sind. Ob diese Konkretisierungen aber auf den ICESCR rückübertragbar sind, ist dogmatisch fraglich168. „suitable employment“ . . . was adopted because it has the merit of being very flexible, and offers national legislation a wide choice of criteria. Despite this flexibility, the criteria enumerated in this provision shall in every case be taken into consideration by the Parties . . .“. 166 Vgl. dazu allgemein Klee, Progressive Verwirklichung. 167 General Comment No. 3, Punkt 9. 168 Damit würde vom Verständnis einer Norm eines regionalen Vertrags auf das Verständnis einer Norm eines universellen Vertrags geschlossen; zu den Unterschieden zwischen den Verträgen vgl. S. 83 ff.
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B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
Ein anderes grundlegendes Problem entsteht dadurch, dass der Begriff „employee“, der für die Sozialrechtskonventionen der IAO sowie auch des Europarats von entscheidender Bedeutung ist – insbesondere wird regelmäßig der Prozentsatz der gegen ein bestimmtes Risiko Abzusichernden im Hinblick auf die Gesamtzahl der Beschäftigten bestimmt – an keiner Stelle in einer Legaldefinition geklärt wird169. Lediglich anhand einzelner in den Konventionen enthaltener Sonderbestimmungen ist ex negativo zu bestimmen, wer im Einzelnen nicht oder nur eingeschränkt dazugehören soll170. Im Übrigen gibt es eine große Menge von Generalklauseln, die es ermöglichen, die rechtlichen Festlegungen flexibel zu handhaben. Zum Teil werden sogar bei Revisionen zahlenmäßig bestimmte Angaben durch Generalklauseln ersetzt, um zu rigide Festsetzungen zu vermeiden171. Führen nun Rechtsetzungstechniken wie die Einräumung von Vorbehalten, Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Regelungskomplexen bzw. zwischen verschiedenen Einzelbestimmungen sowie die Verwendung offener Begriffe dazu, dass Staaten die Konventionen ratifizieren können, obwohl ihre nationale Gesetzgebung den internationalen Vorgaben zumindest teilweise widerspricht, so ist dieser Befund als ambivalent zu werten. Denn sind Standards zu flexibel, verlieren sie ihren Wert als „Standards“. Einen internationalen Kompromiss über das „Sollen“ im sozialrechtlichen Bereich bringen sie dann gerade nicht mehr zum Ausdruck172. Der Balanceakt zwischen Flexibilität und Einheitlichkeit bei der Ausarbeitung von Konventionen, die trotz des unterschiedlichen Entwicklungsstandes und der 169 Für die noch nicht in Kraft getretene Revidierte EOSS wird im Kommentar – allerdings ohne jede weitere Begründung – ausgeführt: „The term „employees“ covers all employed persons, including part-time workers, civil servants etc., except for the latter in cases where Article 7, paragraph 3 applies“. 170 Beispielsweise sind nach Art. 77 Konvention Nr. 102 Sonderbestimmungen für Seeleute und Fischer vorgesehen. 171 So heißt es in der EOSS zu Zuzahlungen von Patienten zu den Kosten medizinischer Leistungen, Regeln zur Kostentragung sollten „Not vermeiden“. In dem Protokoll zur EOSS wird diese Generalklausel ersetzt durch genaue Angaben, bei welchen medizinischen Leistungen welche Zuzahlungen akzeptabel seien. In der Revidierten EOSS dagegen wird wiederum die ursprüngliche Formel, wenn auch leicht verändert, aufgegriffen: „. . . the rules governing such cost-sharing shall be such as not to impose hardship or render medical and social protection less effective“. In der Begründung zu dieser Änderung heißt es: „No precise figures for the degree of cost-sharing appear in the (revised) Code since the sharing of cost may vary for example according to whether it is calculated as a flat rate or as a proportion of the cost of the products and services. Cost-sharing may be higher than mentioned in the Protocol“ (Council of Europe, Explanatory Report, S. 30). 172 Vgl. dazu auch die treffende Analyse von Mc Mahon, Legislative Techniques, S. 68: „. . . one must bear in mind, and balance against the need for flexibility, the desirability of uniformity, mutuality and reciprocity in international obligations. In certain cases it may be more important to have an effective convention giving rise to uniform obligations rather than a convention with numerous flexibility devices which are likely to attract a large number of ratifications“.
II. Umfang der Rechtsgeltung
223
unterschiedlichen gesellschaftlichen Probleme für eine Mehrzahl von Ländern weltweit gleichermaßen Bedeutung haben sollen, bleibt schwierig: „The formulation of international standards by the International Labour Organization involves a real dilemma. Conditions in different parts of the world differ so widely that it is hardly possible to arrive at a common denominator. Standards which are good for the advanced countries would be out of line with conditions in the developing regions. The International Labour Organization has been trying to meet this situation by introducing elements of flexibility in the texts of its conventions. But an instrument riddled with too many exemptions ceases to be an effective international instrument. On the other hand, adoption of standards on a regional basis might promote a particularism and affect the universality of the International Labour Organization. The wise course would perhaps be to have more recommendations rather than more conventions“173.
d) Einschränkung der unmittelbaren Anwendbarkeit der Vertragsbestimmungen Sozialstandards betreffen die Rechtsposition des Einzelnen, da es um Rechte wie das Recht auf finanzielle Absicherung bei Eintritt eines sozialen Risikos, das Recht auf Unterstützung im Bedürftigkeitsfall geht. Diese Rechte können in völkerrechtlichen Verträgen in unterschiedlicher Form festgelegt werden. Entscheidend ist, ob die Formulierungen so sind, dass die Normen nach der Transformation bzw. Inkorporierung in nationales Recht unmittelbar angewendet werden können oder nicht, d. h. ob sie, ohne durch Landesrecht weiter konkretisiert zu werden, in Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen über Rechtsverhältnisse von Privatpersonen herangezogen werden können174, sei es, indem sie überhaupt als entscheidungserheblich erachtet werden, sei es, – darüber hinausgehend – indem sie Einzelpersonen einen Anspruch gegen den Staat oder Dritte einräumen175. Voraussetzung dafür ist, dass sich aus Wortlaut und Sachzusammenhang ergibt, dass die Bestimmungen einer unmittelbaren Anwendung zugänglich sein sollen, wobei insbesondere die Konkretheit der Formulierung entscheidend ist176. Dem steht Proceedings of the International Labour Conference, 47th Session (1963), S. 30. 174 Nach der amerikanischen Diktion geht es hier um die Frage, ob die Normen self-executing sind oder nicht; vgl. Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 864; Wildhaber, Treaty-Making Power, S. 226 ff. 175 Zu dieser Differenzierung vgl. Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 864, die sich bei ihren Ausführungen insbesondere auf den Botschaftskonten-Fall (BVerfG E 46, 362 ff.) beziehen. 176 Vgl. dazu für das deutsche Recht die Ausführungen des BVerfG: „Nur solche völkerrechtliche Vertragsbestimmungen können durch das Zustimmungsgesetz in innerstaatlich anwendbares Recht umgesetzt werden, die alle Eigenschaften besitzen, welche ein Gesetz nach innerstaatlichem Recht haben muss, um berechtigen oder verpflichten zu können; die Vertragsbestimmung muss nach Wortlaut, Zweck und Inhalt wie eine innerstaatliche Gesetzesvorschrift rechtliche Wirkung auszulösen geeignet sein. Nur unter diesen Voraussetzungen entstehen für den Staatsbürger verbindliche Rechtsnormen“ (BVerfG E 29, S. 348 ff., 360). 173
224
B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
nicht nur die Verwendung offener Formulierungen entgegen177. Auch bei den als Staatenverpflichtungen formulierten völkerrechtlichen Sozialstandards ist typischerweise unmittelbare Anwendbarkeit zu verneinen, da Wortlaut, Zweck und Inhalt gerade nicht so ausgestaltet sind, dass sich Einzelne unmittelbar darauf berufen oder auch nur Ermessensspielräume der Verwaltung ausgefüllt oder Generalklauseln konkretisiert werden könnten178. Während bei der Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages, der keine unmittelbar anwendbaren Normen enthält, dem innerstaatlichen Gesetzgeber die Konkretisierung der internationalen Vorgaben überlassen bleibt, kann die Ratifikation eines Vertrages mit unmittelbar anwendbaren Normen insbesondere dann im Einzelnen nicht vorhersehbare Folgen haben, wenn die Gerichte die Normen dynamisch auslegen. Insofern erleichtert die Beschränkung auf die Festlegung von nicht unmittelbar anwendbaren Normen die Ratifikation internationaler Verträge. Allerdings zeigt sich, dass, auch wenn Bestimmungen in Verträgen ursprünglich nicht als unmittelbar anwendbar verstanden und deshalb ratifiziert werden, diese Einschätzung in der Folge falsifiziert werden kann. Die ESC ist ein Beispiel dafür, dass die Verneinung der unmittelbaren Anwendbarkeit etwa für die Bundesrepublik Deutschland eine conditio sine qua non für die Ratifizierung war. So wurde auf Drängen der deutschen Seite in Teil III die Bestimmung aufgenommen, nach der die Durchführung der rechtlichen Verpflichtungen ausschließlich der Überwachung durch die in der ESC vorgesehenen internationalen Kontrollgremien unterliegt, eine Kontrolle durch nationale Gerichte damit aber ausgeschlossen ist179. Allerdings wurde dennoch in der Folge, wenn auch nicht für alle Bestimmungen, so doch zumindest für Art. 6 Abs. 4 ESC (Recht der Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf Kollektivmaßnahmen einschließlich des Streikrechts) und Art. 18 Abs. 4 ESC (Recht, den Heimatstaat zu verlassen und in einem anderen Staat eine bezahlte Beschäftigung aufzunehmen) die Möglichkeit der unmittelbaren Anwendbarkeit postuliert180. Soweit von der Rechtsprechung im Übrigen die unmittelbare Anwendbarkeit ausgeschlossen wurde181, blieb dies von Seiten des Sozialrechtsausschusses nicht ohne Widerspruch182. Vgl. S. 217 ff. Vgl. Betten, International Labour Law, S. 385 ff. 179 Vgl. BT-Drucksache IV / 2117, S. 1 ff.; Wengler, Unanwendbarkeit, S. 11. 180 Vgl. Zuleeg, Innerstaatliche Anwendbarkeit, S. 341 ff. 181 Vgl. BVerwG E 91, 327 ff., S. 330: „Bei der Europäischen Sozialcharta handelt es sich nämlich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der – von etwaigen hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen ( . . . ) – keine unmittelbaren Rechte einzelner Bürger begründet, sondern lediglich rechtspolitische Zielsetzungen beinhaltet, deren Umsetzung in einklagbares nationales Recht sich die Vertragsparteien ausdrücklich vorbehalten haben ( . . . )“. Im konkreten Fall ging es um vom Land Baden-Württemberg gewährtes Landeserziehungsgeld, das einer türkischen Staatsangehörigen versagt wurde. 182 Vgl. die Stellungnahme des Sozialrechtsausschusses, Conclusions XIII-2, S. 361: „The Committee, recalling that the existing regulation was not in conformity with the principle of 177 178
II. Umfang der Rechtsgeltung
225
Soweit es aber um einen Anspruch auf soziale Sicherheit und Fürsorge geht, sind die ESC und auch sonstige Normen in Menschenrechtsübereinkommen in der Regel so gefasst, dass eine unmittelbare Anwendbarkeit ausscheidet. Zumindest vermitteln die Normen internationalen Ursprungs keine gerichtlich einklagbaren Ansprüche von Einzelnen gegen den Staat183. Dies gilt für die Formulierung der Gewährleistungen von sozialer Sicherheit, Sozialhilfe und Schutz im Fall von Krankheit im ICESCR184 sowie im CEDAW185, CRC186 und MWC187; allenfalls die Formulierung des Diskriminierungsverbots bei Leistungen sozialer Sicherheit nach dem CERD188 und das Recht auf medizinische Notfallmaßnahmen für Wanderarbeitnehmer189 könnte als unmittelbar anwendbar interpretiert werden. Grundsätzlich anders ist die Rechtslage zu beurteilen, wenn das Recht auf soziale Sicherheit bzw. das Recht auf soziale Fürsorge über bürgerliche und politische Rechte mit abgesichert wird190: Sowohl die im ICCPR als auch die in der EMRK enthaltenen Rechte gelten als unmittelbar anwendbar. Die Konventionen der IAO und des Europarats, die die Harmonisierung sozialrechtlicher Regelungen bezwecken, enthalten allenfalls teilweise unmittelbar anwendbare Normen. Nicht unmittelbar anwendbar sind die Normen, die in allgemeiner Form die Gewährung von Leistungen erfordern, ohne dies aber im Einzelnen zu spezifizieren191. Das Gleiche gilt für die Normen, die vorschreiben, ein beequality of treatment between Contracting Parties granted by the Charter, was concerned by the content of the judgement, which by refusing direct effects to the European Social Charter denied the rights established by Article 16“. 183 In diesem Sinne differenziert auch Simma, Ausschuss, S. 192: Einerseits hält er subjektive Rechtsansprüche aufgrund der Bestimmungen des ICESCR für ausgeschlossen, hält aber den Pakt dennoch für zumindest partiell justitiabel. 184 Vgl. die Formulierung in Art. 9, 11, 12 i.V. m Art. 2 Abs. 1 ICESCR. 185 Vgl. die Formulierung in Art. 11 CEDAW: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen . . .“. 186 Vgl. die Formulierung in Art. 26: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Kindes . . . an und treffen die erforderlichen Maßnahmen . . .“. 187 Vgl. die Formulierung in Art. 27: „Die kompetenten Stellen . . . können jederzeit die notwendigen Vereinbarungen schließen, um die Art der Anwendung dieser Norm zu bestimmen“. 188 Vgl. die Formulierung in Art. 5: „. . . werden die Vertragsstaaten die Rassendiskriminierung in jeder Form verbieten und beseitigen und das Recht jedes einzelnen, ohne Unterschied der Rasse, der Hautfarbe, des nationalen Ursprungs oder des Volkstums, auf Gleichheit vor dem Gesetz gewährleisten“. 189 Vgl. die Formulierung in Art. 28: „Wanderarbeiter und ihre Familienmitglieder haben das Recht, jede medizinische Leistung zu bekommen, die dringend nötig ist . . . auf der Basis der Gleichbehandlung mit den Angehörigen des betroffenen Staates“. 190 Vgl. die Interpretation zum Recht auf Eigentum, Verbot der unmenschlichen Behandlung, Recht auf Schutz der Familie, Garantie von gerichtlichem Schutz; vgl. dazu S. 351 ff. 191 Vgl. z. B. Art. 3 c Konvention Nr. 3 der IAO: Danach sind die Leistungen bei Mutterschaft unbestimmt („sufficient for the full and healthy maintenance of herself and her child, provided either out of public funds or by means of a system of ins. rance, the exact amount of 15 Nußberger
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B. Rechtsgeltung internationaler Sozialstandards in nationalen Rechtsordnungen
stimmter Prozentsatz der Bevölkerung bzw. der Arbeitnehmerschaft sei gegen bestimmte Risiken abzusichern. Ein Anspruch des Einzelnen könnte sich nur dann konkretisieren, wenn der Prozentsatz 100 % betrüge192. Dennoch gibt es aber auch in diesen Konventionen verschiedene Regelungen, die unmittelbar anwendbar sind, so die Normen, die die Möglichkeit eines Leistungsausschlusses betreffen, wie Art. 69 der Konvention Nr. 102 der IAO193. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis kehrt sich aber um bei Normen, die eine Gleichstellung von In- und Ausländern zum Gegenstand haben. Diese werden von der Rechtsprechung grundsätzlich unmittelbar angewandt und begründen Ansprüche ausländischer Staatsbürger auf Leistungen des Aufenthaltsstaates: dies auch dann, wenn die Bestimmungen als Staatenverpflichtungen gefasst sind, wie etwa Art. 1 Abs. 1 der Konvention Nr. 19 der IAO: „Each Member . . . undertakes to grant to the nationals of any other Member . . . the same treatment in respect of workmen’s compensation as it grants to its own nationals“.
Für das Verständnis dieser Normen als unmittelbar anwendbar spricht, dass die Vorgabe, ausländische Staatsbürger wie die eigenen Staatsangehörigen zu behandeln, nicht weiter auslegungsbedürftig194 ist. Statistisch erfassbar ist somit nicht, inwieweit die Formulierung der Sozialstandards als im Einzelnen erst von den Staaten zu konkretisierende allgemeine Vorgaben, die im innerstaatlichen Bereich nicht unmittelbar anwendbar sind, die Anzahl der Ratifikationen erhöht. Dennoch ist davon auszugehen, dass auch hier die quantitativ an der Zahl der Ratifikationen zu messende Zustimmung zu internationalen Abkommen umgekehrt reziprok ist zur Zahl und Bedeutung der darin enthaltenen Normen, die eindeutig self-executing sind.
which shall be determined by the competent authority in each country“); der Anspruch auf kostenlose Behandlung durch einen Arzt oder eine Hebamme dagegen nicht („shall be entitled to free attendance by a doctor or certified midwife“). 192 Vgl. z. B. Art. 9 Revidierte EOSS, der für den Schutz gegen das Risiko Krankheit die Einbeziehung aller Arbeitnehmer, der gesamten wirtschaftlich aktiven Bevölkerung oder der gesamten Wohnbevölkerung fordert; allerdings werden nach Art. 9 Abs. 2 Ausnahmen für zwischen 5 – 10 % der genannten Gruppen der Bevölkerung zugelassen. 193 Vgl. dazu z. B. die Entscheidung BSG E 1995, 97, die die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 69 i IAO-Übereinkommen Nr. 102 zwar nicht explizit feststellt, aber voraussetzt; vgl. allgemein zu Beispielen für die unmittelbare Anwendbarkeit von Bestimmungen in Konventionen der IAO in der Rechtsprechung verschiedener Länder Leary, International Labour Conventions, S. 77 – 92. 194 Vgl. dazu BSG E 1961, S. 206 ff., BSG E 1969, S. 226 ff. Die unmittelbare Anwendbarkeit wird – allerdings nicht explizit, sondern lediglich implizit – bejaht. In ersterer Entscheidung wird zugleich auch die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 4 des European Interim Agreement on Social Security other than Schemes for Old Age, Invaliditiy and Survivors vorausgesetzt.
II. Umfang der Rechtsgeltung
227
Zusammenfassung Das Dilemma bei der Ausarbeitung völkerrechtlicher Sozialstandards ist, dass sich die verschiedenen Vorstellungen von den an nationale Systeme sozialer Sicherheit zu stellenden Mindestanforderungen aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Situationen in den einzelnen Ländern nicht zur Deckung bringen lassen. Wird dennoch versucht, allgemeingültige Normen auszuarbeiten, so sind Wahlmöglichkeiten und Vorbehalte zuzulassen oder Begriffe zu verwenden, die verschiedenen Interpretationen zugänglich sind. Zudem sind die Normen in der Regel nicht unmittelbar anwendbar, so dass den Staaten ein Spielraum bei der Umsetzung bleibt. Allerdings lässt sich aufgrund dessen oftmals nur mehr schwer erkennen, worüber tatsächlich ein auch als rechtsverbindlich anerkannter Kompromiss erzielt wurde. Die Zahl der Ratifikationen einer Konvention ist für sich allein nicht aussagekräftig; erst aufgrund der Analyse der Vorbehalte und der konkreten Auswahl der jeweils geltenden Bestimmungen läßt sich erkennen, was tatsächlich als „internationaler Standard“ anerkannt wird. Nur bei weniger als 5 % der Mitgliedstaaten von Europarat und IAO ist ein vollinhaltlicher Konsens über den gesamten Inhalt der sozialrechtlich relevanten Konventionen festzustellen, auch wenn die allgemein gehaltenen Bestimmungen zur sozialen Sicherheit und Fürsorge in den entsprechenden Menschenrechtsverträgen in der Regel von einer überwiegenden Mehrheit von Staaten als rechtsverbindlich anerkannt werden. Anders dagegen bei Regelungen, die die Stellung von Staatsangehörigen aus Vertragsstaaten als Arbeitnehmer in den jeweiligen Systemen sozialer Sicherheit in anderen Vertragsstaaten betreffen: Die Verpflichtung zur Gleichbehandlung wird in der Regel von der Mehrheit der Staaten als rechtsverbindlich und auch im jeweiligen nationalen Recht unmittelbar anwendbar anerkannt; darüber hinausgehende Verpflichtungen, der besonderen Situation ausländischer Arbeitnehmer mit speziellen Regelungen Rechnung zu tragen und auch mittelbare Diskriminierungen zu vermeiden, sind dagegen – außerhalb des engen, von Konvention 1408 / 71 für die Mitgliedstaaten der EU abgesteckten Rahmens – Desiderat, Recht dagegen nur in Ausnahmefällen.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards „Homo sapiens is cautiously stepping down this ladder: having started from the rarefied top of abstract concepts, he strives to climb down to earth, to concrete and specific legal rules. He is now somewhere in mid-descent, still suffering from vertigo and lack of oxygen, but gravitational pull mounts and there appears to be a momentum for progress.“ Yoram Dinstein 1971
Seit Beginn der Diskussion über den Abschluss von internationalen Verträgen im Bereich des Sozialrechts ist unbestritten, dass die Übereinkunft der Staaten, bestimmte Grundregeln bei der Gestaltung des nationalen Sozialrechts als bindend anzuerkennen, nur ein halber Schritt ist; erst die Implementierung eines effektiven Kontrollmechanismus, der es erlaubt, auch im Einzelfall zu überprüfen, ob sich die Staaten an die Vorgaben halten, macht aus internationalem Wunschdenken eine Rechtsreform. Die Berliner Konferenz von 1890 scheitert nicht deshalb, weil es nicht gelingt, materiell-rechtliche Standards zu definieren, sondern weil die Standards nur unverbindliche Vorgaben darstellen, die von keiner nationalen oder internationalen Instanz als Kontrollmaßstab herangezogen werden. Dagegen zeigt sich die Fortschrittlichkeit des italienisch-französischen Vertrages von 1904 darin, dass, wenn auch mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, ein Kontrollmechanismus eingebaut wird1. Und auch der „Biss“ der multilateralen sozialrechtlichen Konventionen der IAO besteht gerade in dem Kontrollverfahren. Nun setzt Kontrolltätigkeit am Maßstab des Rechts notwendigerweise voraus, dass Recht ausgelegt und auf den Einzelfall angewandt wird, dass abstrakte Rechtsnormen in „operational standards“2 übersetzt werden. Die entgegengesetzte Theorie, die davon ausgeht, eine Anwendung von Normen sei ohne eine Auslegung möglich, beruht auf der Vorstellung, ein Rechtssatz habe einen festgelegten normativen Inhalt, der nur „entnommen“ werden müsse – die Funktion des Richters oder, allgemeiner, des Rechtsanwenders würde sich dann tatsächlich darauf reduzieren, „la bouche de la loi“ im Sinne Montesquieus zu sein3. Diese Vorstellung würde aber zum einen abgeschlossene Sprachverwendungsregeln voraussetzen, zum an1 Vgl. Art. 9 des Arrangement Franco-Italien vom 15. 6. 1910, abgedruckt bei Mahaim, Droit international ouvrier, S. 337 ff. 2 Chapman, Violations Approach, S. 24. 3 Vgl. zu der Problematik Fastenrath, Relative Normativity, S. 309.
I. Interpretationsverfahren
229
deren Interpretationsregeln, die zu einer eindeutigen Festlegung des normativen Gebrauchs führen – Prämissen, die mittlerweile als falsifiziert gelten können4. Vielmehr sind Rechtssätze „open-textured“, „half-products“, die erst durch Interpretation und Anwendung zu „finished products“ werden5. Setzt die Anwendung die Interpretation voraus, so gilt dies aber nicht umgekehrt. Eine Institutionalisierung der Interpretation von Normen ist auch vorstellbar, ohne dass zugleich die Einhaltung der Normen kontrolliert werden müsste; in diesem Fall handelt es sich um abstrakte Norminterpretationsverfahren. Das bedeutet, dass Interpretations- und Kontrollverfahren voneinander abzugrenzen sind, auch wenn sie zueinander in einer Wechselbeziehung stehen. Interpretationsverfahren geben einen Rahmen vor, Kontrollverfahren füllen diesen aus. Beide Verfahren wirken in je unterschiedlicher Weise auf die Entwicklung der internationalen Sozialstandards ein. Einzelprobleme wie etwa die Diskriminierung von ausländischen Staatsangehörigen in Sozialschutzsystemen oder Abweichungen von Grundschemata wie der paritätischen Finanzierung von Beitragsleistungen im Sozialversicherungsrecht werden so unter Umständen mehrfach auf internationaler Ebene thematisiert: einerseits als Beispielsfälle in abstrakten Interpretationsverfahren, andererseits als Anwendungsprobleme in Kontrollverfahren. Und dies kann im Hinblick auf Grundrechtsnormen sowie Sozialschutznormen im engeren Sinn geschehen – hier fällt ins Gewicht, dass sich die Schutzbereiche der Normen, wie dargestellt, vielfach überschneiden. Doppelungen und Widersprüche in der Entwicklung der Normen sind aufgrund der Parallelität der verschiedenen Systeme vorgezeichnet 6.
I. Interpretationsverfahren Die Interpretation von Verträgen wird im Völkerrecht regelmäßig von den Vertragsparteien selbst geleistet. Wer einen Vertrag geschlossen hat, ist in der Folge auch berechtigt, im Konsens zu bestimmen, was die Bestimmungen konkret zu bedeuten haben (authentische Interpretation)7. Bei multilateralen Verträgen ist dieses Vorgehen allerdings nur schwer zu realisieren. Aufgrund dessen sind für die Vgl. Fasterath, Lücken, S. 85 m. w. N. Bos, Methodology, S. 22 ff. 6 Von Interesse ist hier nur die Interpretation internationaler Normen durch internationale Gremien, nicht durch den nationalen Richter; zu dieser Thematik vgl. allgemein Frowein, The Implementation and Promotion of International Law through National Courts, S. 85 ff.; speziell zur Auslegung sozialrechtlicher Konventionen vgl. Spira, Application, S. 471 ff. Der nationale Richter legt die Normen grundsätzlich auf der Grundlage der auf internationaler Ebene gegebenen Interpretationen aus; problematisch ist, wenn er mit unterschiedlichen und in sich widersprüchlichen Auslegungen der verschiedenen Normen konfrontiert wird; vgl. dazu Sciotti, Concurrence des traités, S. 34 ff.; vgl. dazu Kapitel D.V. 7 Vgl. Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 775. 4 5
230
C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
verschiedenen multilateralen Konventionen spezifische Verfahren zur Interpretation der Rechtsbestimmungen entweder a priori vorgesehen gewesen oder aber im Laufe der Zeit entwickelt worden. Es hat sich der Usus gebildet, zuerst gezielt zu Inhalt und Umfang der Berichtspflichten, in der Folge auch zu den einzelnen Bestimmungen abstrakte interpretatorische Erklärungen abzugeben. Bei der Ausarbeitung derartiger „Allgemeiner Kommentare“ war der Sachverständigenausschuss zum CERD Vorreiter8. Seinem Beispiel folgte 1981 der Ausschuss für Menschenrechte, 1986 das Sachverständigengremium zum CEDAW, 1987 der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; der erste Kommentar zum CRC datiert aus dem Jahr 2001. Verschiedene Formen von abstrakter Auslegung lassen sich auch bei den Sachverständigenausschüssen der IAO und des Europarats nachweisen. Nach Simma handelt es sich bei diesen Stellungnahmen um „eine der jüngsten Spielarten des völkerrechtlichen ,soft law‘“9, um Expertenmeinungen zum Verständnis der Normen. Auch wenn die Kommentare nicht rechtsverbindlich sind, so haben sie dennoch aufgrund der Autorität der jeweiligen Expertengremien10 für das Verständnis und die Anwendung der Bestimmungen großes Gewicht11. Hier ein Überblick:
Der erste „allgemeine Kommentar“ wurde auf der 5. Sitzung 1972 angenommen. Simma, Ausschuß, S. 195. 10 Vgl. die Bestimmungen zur Zusammensetzung der Kontrollorgane; Ausschuss für Menschenrechte: „Persönlichkeiten von hohem sittlichen Ansehen und anerkannter Sachkenntnis auf dem Gebiet der Menschenrechte“ (Art. 28 Abs. 2 ICCPR), Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte: „Sachverständige von anerkanntem Ruf auf dem Gebiet der Menschenrechte“ (Resolution 1985 / 17 vom 28. Mai 1985 Punkt (b)), Ausschuss für die Rechte des Kindes: „Sachverständige von hohem sittlichem Ansehen und anerkannter Sachkenntnis auf dem von diesem Übereinkommen erfassten Gebiet“ (Art. 43 Abs. 2 CRC), Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau: „Sachverständige von hohem sittlichem Rang und Sachkenntnis auf dem von dem Übereinkommen erfassten Gebiet“ (Art. 17 CEDAW), Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung: „Sachverständige von hohem sittlichem Rang und anerkannter Unparteilichkeit“ (Art. 8 Abs. 1 CERD). 11 Vgl. dazu etwa den Kommentar Großbritanniens zu Kommentar Nr. 24 des Ausschusses für Menschenrechte: „The United Kingdom is, of course, aware that the General Comments adopted by the Committee are not legally binding. They, nevertheless, command great respect, given the eminence of the Committee and the status of the International Covenant on Civil and Political Rights“. (Observations by the United Kingdom on General Comment No.24, abgedruckt bei Gardner, Human Rights as General Norms, S. 193 ff.). 8 9
I. Interpretationsverfahren
231
Internationale Organisation
Internationales Übereinkommen
Abstrakte Norminterpretationen
Vereinte Nationen
ICCPR
Allgemeine Kommentare (General Comments) seit 1981
Ausschuss für Menschenrechte (Human Rights Committee)
Art. 40 IV ICCPR: „Der Ausschuss prüft die von den Vertragsstaaten eingereichten Berichte. Er übersendet den Vertragsstaaten seine eigenen Berichte sowie ihm geeignet erscheinende allgemeine Bemerkungen“; vgl. auch Art. 71 der Verfahrensregeln
ICESCR
Allgemeine Kommentare (General Comments) seit 1987
Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Committee on Economic, Social and Cultural Rights)
Art. 21 ICESCR: „Der Wirtschafts- und Sozialrat kann der Generalversammlung von Zeit zu Zeit Berichte mit Empfehlungen allgemeiner Art und einer Zusammenfassung der Angaben vorlegen, die er von den Vertragsstaaten und den Sonderorganisationen über Maßnahmen und Fortschritte hinsichtlich der allgemeinen Beachtung der in diesem Pakt anerkannten Rechte erhalten hat“; Resolution 1985 / 17 des Wirtschafts- und Sozialrates
CEDAW
Allgemeine Empfehlungen (General Recommendations) seit 1986
Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (Committee on the Elimination of Discrimination against Women)
Art. 21 CEDAW: „Der Ausschuss . . . kann aufgrund der Prüfung der von den Vertragsstaaten eingegangenen Berichte und Auskünfte Vorschläge machen und allgemeine Empfehlungen abgeben“.
CERD
Allgemeine Kommentare (General Comments) seit 1972
Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (Committee on the Elimination of Racial Discrimination)
Art. 9 II CERD: „Der Ausschuss . . . kann auf Grund der Prüfung der von den Vertragsstaaten eingegangenen Berichte und Auskünfte Vorschläge machen und allgemeine Empfehlungen abgeben“.
CRC
Allgemeine Kommentare (General Comments) seit 2001
Ausschuss für die Rechte des Kindes (Committee on the Rights of the Child)
Art. 45 (c): „Um die wirksame Durchführung dieses Übereinkommens und die internationale Zusammenarbeit auf dem von dem Übereinkommen erfassten Gebiet zu fördern, kann der Ausschuss aufgrund der Angaben, die er nach den Artikeln 44 und 45 erhalten hat, Vorschläge und allgemeine Empfehlungen unterbreiten“.
Organ
Rechtsgrundlage
232 Internationale Organisation
C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards InterAbstrakte nationales NorminterÜberein- pretationen kommen
Inter184 Konnationale ventionen Arbeitsorganisation
Europarat
Organ
Rechtsgrundlage
Beratende Stellungnahmen (Advisory Opinions)
StIGH / IGH
Allgemeine Überblicke (General Surveys)
– Sachverständigenausschuss für die Anwendung der Konventionen und Empfehlungen (Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations)
Interpretation der Entscheidungen der Internationalen Arbeitskonferenz
Internationales Arbeitsamt
ESC
Allgemeine Betrachtungen (General Considerations)
Sozialrechtsausschuss – (Committee of Social Rights)
EOSS
Allgemeine Beobachtungen (General Observations)
Sachverständigenaussc huss für die Anwendung der Konventionen und Empfehlungen (Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations)
Art. 37 Abs. 1 der Verfassung der IAO: „Alle Fragen oder Schwierigkeiten in der Auslegung dieser Verfassung oder der später von den Mitgliedern nach dieser Verfassung abgeschlossenen Übereinkommen werden dem Internationalen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt“.
–
Art. 74 Abs. 4 EOSS: „Der Generalsekretär übersendet die Berichte und die weiteren nach Absatz 1 oder 2 erteilten Auskünfte dem Generaldirektor des IAA mit der Bitte, das zuständige Organ der IAO zu konsultieren und ihm dessen Stellungnahme mitzuteilen“.
I. Interpretationsverfahren
233
Die abstrakten Interpretationsverfahren haben – entsprechend den normativen Vorgaben – grundsätzlich unterschiedliche Ausrichtungen. Die Bedeutung der Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen wird Schritt für Schritt konkretisiert, indem die jeweiligen Sachverständigengremien zu einzelnen übergreifenden Themen Stellung nehmen. Die Konventionen der IAO werden dagegen nicht systematisch erläutert; vielmehr setzt sich ein Bild vom Verständnis der Normen mosaikartig aus Antworten auf einzelne konkrete Anfragen zusammen. Soweit der Sachverständigenausschuss zur IAO thematische Überblicke gibt, bezieht er sich auf die Rechtslage in den einzelnen Mitgliedstaaten. Die Berichte der Sachverständigenausschüsse zu den Konventionen des Europarats fassen im Wesentlichen die eigene „Rechtsprechung“ zusammen; sie gehen nur in Teilaspekten über die im Rahmen der Kontrollverfahren abgegebenen Kommentare hinaus12. Die Aufgaben der verschiedenen Sachverständigenausschüsse stellen unterschiedliche Anforderungen. Geht es um die Auslegung politischer und bürgerlicher Rechte, so sind dazu in der westeuropäischen und amerikanischen Tradition von Rechtsstaatlichkeit bzw. rule of law Wege vorgegeben. Der Ausschuss für Menschenrechte geht mit seinen Interpretationsansätzen auf vorgezeichneten Wegen; erst mit der Ableitung positiver Verpflichtungen der Staaten aus diesen Rechten betritt es Neuland. Die Auslegung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Normen, die sowohl dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als auch dem Sozialrechtsausschuss obliegt, ist dagegen ein grundsätzlich innovativer Ansatz13. Dabei sind auch für diese beiden Ausschüsse die Ausgangspunkte nicht gleich. Während der ICESCR sehr offene Formulierungen enthält, sind die Einzelbestimmungen in der ESC präziser gefasst14. Geht es also im ersteren Fall um eine Konkretisierung und Einengung abstrakter Konzepte, ist im letzteren Fall der Spielraum möglicher Interpretationen von vornherein enger begrenzt. Noch detaillierter sind die Formulierungen der spezifischen Sozialschutzkonventionen der IAO und des Europarats. Da dem Sachverständigenausschuss der IAO und dem Internationalen Arbeitsamt im Gegensatz zu den anderen Sachverständigengremien das Recht zur Interpretation der Bestimmungen explizit abgesprochen wird, halten sie sich bei ihren Interpretationen nahe am Wortlaut und rekurrieren häufig auf historische Begründungen. Bei der Interpretation der Bestimmungen der EOSS ist ein weiterer Spielraum gegeben. Das bedeutet, dass nicht nur das in den Normen internationalen Ursprungs liegende Potential unterschiedlich ist, sondern auch ihre Weiterentwicklung auf der Basis abstrakter Interpretationen unterschiedlich forciert werden kann. 12 Vgl. die Selbstdarstellung der Rolle des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte: „The Committee has based itself mainly on the reports submitted during the present cycle and the conclusions adopted, although it has also given a general presentation of the meaning and scope of its case law“ (Conclusions XIII-4, S. 35 ff.). 13 Vgl. dazu Alston, Out of the Abyss, S. 332 ff., S. 351. 14 Vgl. S. 66 ff., S. 83 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Die völkerrechtliche Bedeutung der abstrakten Auslegungen ist an Art. 31 Abs. 3 (b) WVK festzumachen, der über Art. 5 WVK auch auf im Rahmen internationaler Organisationen angenommene Verträge anwendbar ist. Nach Art. 31 Abs. 3 (b) WVK ist bei der Auslegung eines Vertrages auch „jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“, zu berücksichtigen. Die Nicht-Reaktion der Vertragsparteien auf abstrakte Auslegungen wäre in diesem Sinn als Zustimmung zu werten, ein Ansatz, der sich argumentativ darauf stützen könnte, dass es in der Staatenpraxis auch Beispiele für explizite Widersprüche gegen die in den Stellungnahmen der Sachverständigenausschüsse enthaltenen Aussagen gibt15. 1. Interpretation der Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen a) Allgemeine Kommentare zum ICCPR aa) Rechtsgrundlage Im Gegensatz zum Recht der IAO (Art. 37 Abs. 1 der Verfassung) findet sich weder in der Charta der Vereinten Nationen noch in den Menschenrechtskonventionen eine explizite Bestimmung, die ein bestimmtes Verfahren zu einer abstraktverbindlichen Interpretation der einzelnen Vorschriften vorgeben und ein dafür zuständiges Organ bestimmen würde. Als Rechtsgrundlage für die allgemeinen Kommentare zum ICCPR wird Art. 40 Abs. 4 ICCPR herangezogen16. Da Ziel der Kommentare ist, die im Rahmen des Berichtsverfahrens von dem Sachverständigenausschuss gesammelten Erfahrungen an die Vertragsstaaten weiterzugeben und die Implementierung der Verträge zu fördern, steht nicht die abstrakte Auslegung der einzelnen Bestimmungen im Vordergrund, sondern die Information über Schwerpunkte und Probleme des Kontrollverfahrens. Dabei werden aber auch Auslegungsfragen zur Sprache Um Probleme des internationalen Sozialrechts geht es – dem Schwerpunkt des ICCPR, dem Schutz der bürgerlichen und politischen Rechte, entsprechend – nur in Ausnahmefällen, zum einen im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot (Art. 3, 26 ICCPR), zum anderen bei Bestimmungen, die positive Leistungen des Staates erforderlich machen (Art. 6, 10, 23, 24 ICCPR). – Im Folgenden soll ausgelotet werden, inwieweit sich aus diesen allgemeinen Kommentaren Interpretationsansätze zu den internationalen Sozialstandards ergeben und mit welchen Auslegungsmethoden dabei operiert wird. Vgl. dazu S. 195 FN 51. Vgl. den Wortlaut der Bestimmung, abgedruckt in der Tabelle in Kapitel C.I; vgl. auch Art. 71 der Verfahrensregeln: „The Committee shall, through the Secretary-General, communicate to the States parties for their observations the general comments it has made under article 40, paragraph 4, of the Covenant on the basis of its examination of the reports and information furnished by States parties“; vgl. zur Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung Boerefijn, Supervision, S. 785 ff. 15 16
I. Interpretationsverfahren
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bb) Charakteristik der allgemeinen Vertragspflichten Von entscheidender Bedeutung für alle vom ICCPR garantierten Rechte ist die in dem allgemeinen Kommentar Nr. 3 erstmals gegebene17, in Kommentar Nr. 31 revidierte18 Charakteristik der Verpflichtungen der Staaten zur Implementierung der Rechte auf der nationalen Ebene. Nach dem Wortlaut (Art. 2 ICCPR) sind die Vertragsstaaten frei zu bestimmen, wie sie die Rechte umsetzen; es muss nur gewährleistet werden, dass ihnen auf nationaler Ebene Wirksamkeit verliehen wird. Eine Übernahme in die nationale Verfassung bzw. Gesetzgebung ist, so der Ausschuss für Menschenrechte, dafür noch nicht unbedingt eine Garantie. Notwendig sind Maßnahmen des Staates, um zu ermöglichen, dass der Einzelne die Rechte tatsächlich ausüben kann. Damit wird allerdings nicht gefordert, dass die Rechte des Paktes unmittelbar vor nationalen Gerichten eingeklagt werden können. Wird in anderer Weise ausreichender Schutz gewährleistet, ist auch dies in Einklang mit dem Pakt. – Besonders hervorgehoben wird der Aspekt der Publizität der Normen: Erst eine weite Verbreitung könne eine effektive Durchsetzung gewährleisten. In der revidierten Version aus dem Jahr 2004 werden neben den aus dem Vertrag resultierenden negativen Pflichten („refrain from violation“) auch die positiven Pflichten („to adopt legislative, judicial, administrative, educative and other appropriate measures“) betont – hier wird die Ähnlichkeit zu den sozialen Rechten besonders deutlich19.
cc) Auslegung des Diskriminierungsverbots (1) Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 26 ICCPR) Die Möglichkeit, mit den Kontrollverfahren zum ICCPR auch soziale Rechte geltend zu machen, beruht insbesondere auf der Auslegung von Art. 26 ICCPR, dem allgemeinen Diskriminierungsverbot. Im Kommentar Nr. 18 wird explizit erläutert, dass Art. 26 ICCPR20 – im Gegensatz zu Art. 2 ICCPR21 – nicht nur auf die im Pakt selbst festgelegten, sondern auf alle Rechte bezogen wird. General Comment No. 3: Article 2 (Implementation at the national level) (1981). General Comment No. 31: The Nature of the General Legal Obligation Imposed on States Parties to the Covenant (2004). 19 Vgl. General Comment No. 31: The Nature of the General Legal Obligation Imposed on States Parties to the Covenant (2004) para. 6 ff. 20 Vgl. den Wortlaut: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, . . . , gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten“. 21 Vgl. den Wortlaut: „Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen ohne Unterschied . . . zu gewährleisten“. (Hervorhebung von der Verfasserin). 17 18
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
„It [Art. 26] prohibits discrimination in law or in fact in any field regulated and protected by public authorities. Article 26 is therefore concerned with the obligations imposed on States parties in regard to their legislation and the application thereof. Thus, when legislation is adopted by a State party, it must comply with the requirement of article 26 that its content should not be discriminatory“22.
Damit wird ein Einfallstor für die Behandlung von im Zusammenhang mit sozialen Rechten stehenden Diskriminierungsfällen, die insbesondere Rentenansprüche betreffen, geschaffen. Dies ist für die Geltendmachung von Individualansprüchen in diesem Bereich von größter Bedeutung, da auf dem ICESCR beruhende Ansprüche nicht über ein Beschwerdeverfahren geltend gemacht werden können23. (2) Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 ICCPR) Ein besonderer Aspekt des Diskriminierungsverbots ist die in Art. 3 ICCPR verankerte, auch durch positive Gewährleistungsmaßnahmen zu verwirklichende24 Rechtsgleichheit von Männern und Frauen, der Kommentar Nr. 28 gewidmet ist25. Im Gegensatz zu Art. 26 ICCPR ist Art. 3 ICCPR26 nach dem Wortlaut auf die im Pakt garantierten Rechte begrenzt. Dennoch wird in dem „Allgemeinen Kommentar“ die Rolle der Frau im Vergleich zur Rolle des Mannes in der Gesellschaft allgemein thematisiert; dabei wird auch die Gleichbehandlung in Bezug auf soziale Rechte angesprochen27. Diese Interpretation ist aus dem Wortlaut nicht zu begrünGeneral Comment No. 18: Non-discrimination (1989). Vgl. zu der Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte, die sich zu diesem Punkt entwickelt hat, Kapitel C.II.5. 24 Vgl. Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 26 Rd. 29. 25 Wie schnell gerade in dieser Frage nicht nur die Rechtsentwicklung voranschreitet, sondern sich vor allem das gesellschaftliche Bewusstsein verändert, zeigt sich daran, dass dieser Kommentar aus dem Jahr 2000 den Kommentar Nr. 4 aus dem Jahr 1981 (General Comment No. 4: Article 3 (Equal right of men and women to the enjoyment of all civil and political rights)) revidiert: „The Committee has decided to update its General Comment on Article 3 of this Covenant and to replace General Comment 4 (thirteenth session 1981), in the light of the experience it has gathered in its activities over the last 20 years. This revision seeks to take account of the important impact of this article on the enjoyment by women of the human rights protected under the Covenant“ (General Comment No. 28: Article 3 (The equality of rights between men and women) (2000)). 26 Vgl. den Wortlaut: „Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Ausübung aller in diesem Pakt festgelegten bürgerlichen und politischen Rechte sicherzustellen“ (Hervorhebung von der Verfasserin). 27 Die Vertragsstaaten werden aufgerufen, statistische Daten über Geburtenraten, Todesfälle von Frauen, die mit Schwangerschaft und Geburt zu tun haben, und Kindersterblichkeit, aufgegliedert nach Mädchen und Jungen, beizubringen und auch zur Auswirkung von Armut und Entbehrungen auf Frauen, zur medizinischen Versorgung schwangerer Frauen im Gefängnis und zur Versorgung von Mutter und Kind nach der Geburt Stellung zu nehmen. Fokus ist darüber hinaus die soziale Stellung der Einelternfamilien, die Stellung von Mädchen und Frauen im Gesundheitssystem und die soziale Sicherheit und die Rechtsstellung im Arbeitsleben. 22 23
I. Interpretationsverfahren
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den. Sie führt zu Doppelungen bei den Berichtspflichten der Staaten, da die angeforderten Informationen auch im Rahmen des ICESCR und des CEDAW überprüft werden. dd) Konkretisierung von Verpflichtungen zu positivem Tun (1) Anspruch der Familie auf Schutz (Art. 23 ICCPR) Kommentar Nr. 1928 befasst sich mit Art. 23 ICPCR, mit dem Schutzanspruch der Familie29. Die Möglichkeit, den Begriff „Familie“ auf internationaler Ebene zu definieren, wird verneint30. Von den Vertragsstaaten wird aber erwartet, das dem Recht zugrunde liegende Konzept von „Familie“ zu charakterisieren, insbesondere auch anzugeben, inwieweit unverheiratete Paare und Einelternfamilien mit einbezogen werden. In jedem Fall hat sich der von Art. 23 ICPCR geforderte „Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat“ auf alle vom Recht anerkannten Formen von Familien zu erstrecken. Diese Aussage kann insbesondere dann von Belang sein, wenn die Gewährung von Familienleistungen an einen bestimmten Typus von Familie anknüpft, bei anderen, vom Recht gleichermaßen anerkannten Formen des Zusammenlebens aber ausgeschlossen ist. Der aus der Sicht von Art. 23 ICCPR erforderliche Standard der Schutzmaßnahmen wird nicht weiter konkretisiert. Allerdings werden die Vertragsparteien dazu aufgerufen, die familienpolitisch relevanten Maßnahmen zu benennen, eine Pflicht, die den Vertragsstaaten der ESC gleichermaßen auch nach Art. 16 ESC obliegt. Da der Zwillingspakt zum ICCPR, der ICESCR, aber eine entsprechende Bestimmung nicht enthält, wird hier ein auf universeller Ebene bestehendes Defizit ausgeglichen. (2) Achtung der Menschenwürde beim Strafvollzug (Art. 10 ICCPR) Im Gegensatz zur Interpretation von Art. 3 EMRK, dem Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, durch den EGMR31 wird Art. 7 ICCPR, obwohl er nahezu wortgleich mit Art. 3 EMRK ist, nicht so weit ausgelegt, dass auch der Entzug von Mindestleistungen zur Existenzsicherung einen Verstoß darstellen könnte32. Allerdings wird Art. 7 ICCPR im Zusammenhang mit Art. 10 ICCPR gesehen. In dieser Vorschrift wird die Wahrung der Würde von Menschen in Gefangenschaft General Comment No. 19: Article 23 (The family) (1990). Vgl. den Wortlaut: „Die Familie ist die natürliche Kernzelle der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat“. 30 Zu dem grundsätzlich umfassenden Familienbegriff vgl. auch Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 23, Rd. 8. 31 Vgl. S. 369 ff. 32 General Comment No. 20: Article 7 (Prohibition of torture, or other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment) (1992). 28 29
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
angesprochen; eine Parallelvorschrift in der EMRK gibt es nicht. Nach Kommentar Nr. 2133 impliziert Artikel 7 eine positive Verpflichtung des Staates – den Gefangenen ist die Sicherstellung existentieller Bedürfnisse zu garantieren34. Dies ist insofern bedeutungsvoll, als hier ein absolutes Mindestmaß positiver Leistungen des Staates definiert wird, die nicht – wie sonst bei der Gewährung sozialer Leistungen vielfach möglich – von den vorhandenen Möglichkeiten abhängig gemacht werden dürfen35. Das bedeutet, dass hier eine Verpflichtung eines Staates zu einem bestimmten Tun, nicht Unterlassen eingefordert und auch nicht unter den Vorbehalt der vorhandenen Ressourcen gestellt wird. Erwähnt wird auch der Zugang der Gefangenen zu ärztlicher Versorgung. (3) Recht auf Leben (Art. 6 ICCPR) Positive Verpflichtungen der Vertragsstaaten werden weiter nach Kommentar Nr. 636 und Nr. 1437 im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben gefordert: „Moreover, the Committee has noted that the right to life has been too often narrowly interpreted. The expression „inherent right to life“ cannot properly be understood in a restrictive manner, and the protection of this right requires that States adopt positive measures. In this connection, the Committee considers that it would be desirable for states parties to take all possible measures to reduce infant mortality and to increase life expectancy, especially in adopting measures to eliminate malnutrition and epidemics“38.
Eine Begründung für die erweiternde Auslegung des Rechts auf Leben nicht nur als Abwehrrecht, sondern auch als positive Verpflichtung des Staates wird nicht gegeben. Kindersterblichkeit, niedrige Lebenserwartung, Unterernährung und Epi33 General Comment No. 21: Art. 10 (Humane treatment of persons deprived of their liberty) (1992). 34 „Thus not only may persons deprived of their liberty not be subjected to treatment that is contrary to article 7. . . but neither may they be subjected to any hardship or constraint other than that resulting from the deprivation of liberty . . . Treating all persons deprived of their liberty with humanity and with respect for their dignity is a fundamental and universally applicable rule. Consequently, the application of this rule, as a minimum, cannot be dependent on the material resources available in the State party“. 35 Diese Forderung stammt aus dem Jahr 1992; im Kommentar Nr. 9 aus dem Jahr 1982 war die entsprechende Formulierung noch wesentlich zurückhaltender: „The humane treatment and the respect for the dignity of all persons deprived of their liberty is a basic standard of universal application which cannot depend entirely on material resources. While the committee is aware that in other respects the modalities and conditions of detention may vary with the available resources, they must always be applied without discrimination, as required by article 2 (1)“ (General Comment No. 9: Article 10 (Humane treatment of persons deprived of their liberty) (1982)); Hervorhebung von der Verfasserin. 36 General Comment No. 6: Art. 6 (The right to life) (1982). 37 General Comment No. 14: Art. 6 (Nuclear weapons and the right to life) (1984). 38 General Comment No. 6: Art. 6 (The right to life) (1982).
I. Interpretationsverfahren
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demien, die zugleich im Rahmen von Art. 11 und 12 ICESCR thematisiert werden, finden auf diese Weise als Grundrechtsprobleme Eingang in den ICCPR. (4) Recht des Kindes auf Schutzmaßnahmen (Art. 24 ICCPR) Schließlich enthält auch Kommentar Nr. 17 über Maßnahmen zum Schutz von Kindern39 Elemente und Fragestellungen, die für gewöhnlich nur im Zusammenhang mit sozialen Rechten diskutiert werden. Art. 24 ICCPR kodifiziert ein Recht des Kindes „auf diejenigen Schutzmaßnahmen durch seine Familie, die Gesellschaft und den Staat, die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert“. Diese Maßnahmen werden sehr umfassend bestimmt; auch hier werden wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte explizit mit einbezogen40, wobei die Anforderungen an die staatliche Politik im Einzelnen sehr weit gehen41. Diese Beispiele machen nicht nur deutlich, dass die in der Theorie diskutierte Abgrenzung zwischen politischen und sozialen Rechten in der Praxis nicht nachweisbar ist, sondern zeigen auch die Konturen der sozialen Dimension verschiedener „politischer“ Rechte. Auch wenn die Auswertung der allgemeinen Kommentare des Ausschusses für Menschenrechte noch kein ausreichendes Material für eine detaillierte juristische Auslegung der Bestimmungen des ICCPR liefert, so werden doch Strukturen rechtlichen Argumentierens auf der internationalen Ebene transparent. Generelle Tendenz ist, von den Staaten nicht mehr nur eine passive Haltung, ein Nicht-Verletzen rechtlich geschützter Positionen zu verlangen, sondern vielmehr auch aktiv die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Rechte zu schaffen. b) Allgemeine Kommentare zum ICESCR aa) Rechtsgrundlage Rechtsgrundlage ist Art. 21 ICESCR; danach kann der Wirtschafts- und Sozialrat der Generalversammlung „Empfehlungen allgemeiner Art“ vorlegen. In der Resolution des Wirtschafts- und Sozialrates 1985 / 17 wird dem Ausschuss für General Comment No. 17: Article 24 (Rights of the child) (1989). „The Committee notes in this regard that such measures, although intended primarily to ensure that children fully enjoy the other rights enunciated in the Covenant, may also be economic, social and cultural. For example, every possible economic and social measure should be taken to reduce infant mortality and to eradicate malnutrition among children . . .“. (General Comment No. 17: Article 24 (Rights of the child) (1989)). 41 Vgl. z. B. die Ausführungen des Ausschusses zur Versorgung der Kinder berufstätiger Eltern: „However, since it is quite common for the father and mother to be gainfully employed outside the home, reports by States parties should indicate how society, social institutions and the State are discharging their responsibility to assist the family in ensuring the protection of the child.“ (General Comment No. 17: Article 24 (Rights of the child) (1989)). 39 40
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wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als Hilfsorgan des Wirtschafts- und Sozialrats das Recht eingeräumt, derartige Empfehlungen allgemeiner Art auf der Grundlage der Prüfung der Staatenberichte zu machen. Sinn der Kommentare ist – wie bei den Kommentaren des Ausschusses für Menschenrechte – nicht, eine abstrakte Rechtsauslegung, die die konkrete Bedeutung des Textes nach den Auslegungsregeln der WVK erschließen würde, vorzulegen. Die Kommentare sind vielmehr auf das Berichtsverfahren bezogen; sie stellen eine Auswertung der Erfahrungen dar und enthalten vielfach aus der Sicht der Praxis erforderliche Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten42. So legt der Ausschuss zuerst Kommentare zu eher technischen Fragen der Umsetzung der im Übereinkommen enthaltenen Bestimmungen vor43. Daneben kommentiert der Ausschuss aber auch einzelne Bestimmungen wie das Recht auf Unterbringung (Art. 11 Abs. 1), das Recht auf Grundschulausbildung (Art. 14), das Recht auf ausreichende Ernährung (Art. 11), das Recht auf Bildung (Art. 13) und das Recht auf Gesundheit (Art. 12). In übergreifenden, nicht auf eine bestimmte Vorschrift des Paktes bezogenen Kommentaren geht der Ausschuss auf die Rechte der Behinderten und älterer Menschen ein.
bb) Charakteristik der allgemeinen Vertragspflichten Bahnbrechend für das Verständnis sozialer Rechte ist der Kommentar Nr. 3 des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte44. Danach ist, auch wenn im Übrigen nur eine progressive Realisierung der Rechte geschuldet wird, in jedem Fall ein Kernbestand zu sichern:
42 Ziel ist „. . . to make the experience gained so far through the examination of these reports available for the benefit of all States parties in order to assist and promote their further implementation of the Covenant; to draw the attention of the States parties to insufficiencies disclosed by a large number of reports: to suggest improvements in the reporting procedures and to stimulate the activities of the States parties, the international organizations and the specialized agencies concerned in achieving progressively and effectively the full realization of the rights recognized in the Covenant“; vgl. Committee on Economic, Social and Cultural Rights, Report on the third Session (6 – 24 Februar 1989), E / C.12 / 1989 / 5, E / 1989 / 22, E.S.C.O.R. 1989, Suppl. No. 4, Annex IV. 43 Folgende Gesichtspunkte werden aufgegriffen: Berichterstattung (Allgemeiner Kommentar Nr. 1), Fragen der internationalen technischen Hilfe (Allgemeiner Kommentar Nr. 2), Natur der Staatenverpflichtungen (Allgemeiner Kommentar Nr. 3), Möglichkeit von Wirtschaftssanktionen (Allgemeiner Kommentar Nr. 8), Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens im Inland (Allgemeiner Kommentar Nr. 9), Probleme bei der Implementierung (Allgemeiner Kommentar Nr. 10). 44 General Comment No. 3: Article 2 (Implementation at the national level) (1981); vgl. dazu auch Simma, Implementation, S. 75 ff.; Simma, Internationale Kontrolle, S. 579 ff.; Simma, Die vergessenen Rechte, S. 867 ff.; Simma, Examination, S. 31 ff.; Simma, Ausschuß, S. 191 ff.; Simma, Soziale Grundrechte, S. 83 ff.
I. Interpretationsverfahren
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„. . . the Committee is of the view that a minimum core obligation to ensure the satisfaction of, at the very least, minimum essential levels of each of the rights is incumbent upon every State party“45.
Die Verpflichtung der Staaten besteht konkret darin, zu prüfen, welche juristisch-administrativen Maßnahmen im Einzelfall besonders effektiv und damit zur Anwendung zu bringen sind46. Aufgrund dieser Annahme können – trotz der Bestimmung des Art. 2 ICESCR – einzelne der im Pakt enthaltenen Rechte unmittelbar anwendbar sein. Der Ausschuss beruft sich in Kommentar Nr. 9 darauf, dass eine Klausel, die eine Selfexecuting-Wirkung der Bestimmungen des Sozialpakts ausschließt, zwar diskutiert, aber nicht aufgenommen worden sei. Daraus wird gefolgert: „It is especially important to avoid any a priori assumption that the norms should be considered to be non-self-executing. In fact, many of them are stated in terms which are at least as clear and specific as those in other human rights treaties, the provisions of which are regularly deemed by courts to be self-executing“47.
Damit wird eine pauschale Wertung, wie sie sich in der Denkschrift zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 196648 findet, der Vertragsinhalt begründe für niemand unmittelbar Rechte oder Ansprüche, die gerichtlich einklagbar wären, falsifiziert. Allerdings werden die sozialrechtsrelevanten Artikel des Paktes, Art. 9, 11 und 12 ICESCR, nicht explizit als self-executing gewertet49. Dennoch können auch hier Teilaspekte, wie etwa eine Sicherung gegen das Rückgängigmachen oder Reduzieren bereits eingeräumter Rechte, unmittelbar anwendbar sein50.
cc) Kommentare zu Einzelthemen (1) Schutz Behinderter Weder der Schutz Behinderter noch der Schutz älterer Menschen wird im ICESCR erwähnt. Beide Fragestellungen werden so unter Art. 2 Abs. 2 ICESCR, unter das Diskriminierungsverbot hinsichtlich des „sonstigen Status“ subsumiert. Das bedeutet, dass diese offene Formulierung für eine dynamische Auslegung des Paktes fruchtbar gemacht wird. Dies wird aufgrund neu entstandener gesellschaftVgl. General Comment No. 3: Article 2 (Implementation at the national level) (1981). Vgl. Simma, Soziale Grundrechte, S. 86. 47 General Comment No. 9: Article 10 (Humane treatment of persons deprived of their liberty) (1982). 48 BT Drucksache 7 / 658. 49 Vgl. General Comment No. 3: The nature of States parties obligations (Art. 2, para. 1 of the Covenant) (1990). 50 So etwa Simma, Ausschuß, S. 193; Simma, Die vergessenen Rechte, S. 873. 45 46
16 Nußberger
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
licher Probleme bzw. aufgrund eines dafür neu geschärften Bewusstseins für notwendig befunden. Um einen effektiven Schutz Behinderter, der insbesondere bei wirtschaftlicher Rezession notwendig ist, sicherzustellen, wird eine Reihe von Forderungen gegen die Nationalstaaten erhoben. Vorzugsbehandlung wird nicht als diskriminierend, sondern als notwendig zum Ausgleich der Benachteiligungen gesehen51. Sozialer Schutz wird unter Bezugnahme auf die „Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities“52 ausdrücklich eingefordert, und zwar nicht nur bei Einkommensverlust aufgrund von Invalidität, die die Fortführung einer Beschäftigung verwehrt, sondern auch bei Behinderungen, die dazu führen, überhaupt keiner Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Finanzielle Unterstützung wird auch für diejenigen gefordert, die Pflegeleistungen erbringen. Mit diesen im Kommentar Nr. 553 enthaltenen Vorgaben geht der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wesentlich über den Ansatz in den Konventionen der IAO hinaus, da darin nur die Ersetzung von Einkommensverlust für diejenigen, die zuvor erwerbstätig waren, gefordert wird54. (2) Schutz älterer Menschen Auch eine unterschiedliche Behandlung aufgrund von Alter ist nach dem Wortlaut des ICESCR nicht per se ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot; Alter wird in Art. 2 Abs. 2 des Paktes nicht als Diskriminierungsgrund erwähnt. Der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erklärt diese Auslassung als zeitbedingt55 – normiert wird ein Anspruch älterer Menschen auf Schutz erst in den Protokollen zur ESC und in der RESC56 – und nimmt auch zu den wirtschaft51 „The obligation in the case of such a vulnerable and disadvantaged group is to take positive action to reduce structural disadvantages and to give appropriate preferential treatment to people with disabilities in order to achieve the objectives of full participation and equality within society for all persons with disabilities“. 52 UN GA Resolution 48 / 96 „Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities“ (20. 12. 1993 (Introduction para. 17)); vgl. S. 76. 53 General Comment No. 5: Persons with disabilities (1994). 54 Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus der Definition von Invalidität in Art. 54 der Konvention Nr. 102: „The contingency covered, shall include inability to engage in any gainful activity, to an extent prescribed, which inability is likely to be permanent or persists after the exhaustion of sickness benefits“, wohl aber aus dem Kontext, da nach Art. 57 eine bestimmte Beschäftigungsdauer oder eine bestimmte Zahl von Beiträgen als Voraussetzung für den Leistungsbezug festgelegt werden können. 55 „Rather than being seen as an intentional exclusion, this omission is probably best explained by the fact that, when these instruments were adopted, the problem of demographic aging was not as evident or as pressing as it is now“ (General Comment No. 6: The economic, social and cultural rights of older persons (1995)). 56 Vgl. dazu S. 83 ff und 88 ff.
I. Interpretationsverfahren
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lichen, sozialen und kulturellen Rechten älterer Menschen im Rahmen des Diskriminierungsverbots Stellung. Dabei greift er aber das Problem der Benachteiligung älterer Menschen in einer Art und Weise auf, die mit den Ansätzen in einer Reihe von anderen völkerrechtlichen Dokumenten nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Denn während insbesondere in IAO-Konventionen regelmäßig die Absenkung des Rentenalters gefordert und die Einführung obligatorischer Altersgrenzen als nicht zu beanstanden angesehen wird57, wird dies in dem allgemeinen Kommentar des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gerade als diskriminierende Praxis verstanden58. Und während die IAO-Konventionen, die grundsätzlich von dem traditionellen Modell ausgehen, dass die Männer als Arbeitnehmer tätig sind und die soziale Sicherung der Frauen auf der Grundlage von abgeleiteten Ansprüchen gewährleistet wird, die spezifischen Probleme von Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit nicht in den Blick nehmen59, wird gerade dieser Aspekt von dem Ausschuss als primär von den Staaten zu regelnde Aufgabe verstanden60. Mit der Subsumtion auch von Sozialhilfeleistungen unter Art. 9 ICESCR weicht der Ausschuss von der Abgrenzung zwischen „sozialer Sicherheit“ und „sozialer Fürsorge“, so wie sie sich in anderen Dokumenten findet, ab. Das „Recht auf soziale Sicherheit“ wird auch nicht – wie in Konvention Nr. 102 – beschränkt auf neun soziale Risiken, sondern grundsätzlich offen gesehen61. Diese extensive Auslegung einerseits des Begriffes „soziale Sicherheit“ in Art. 9 ICESCR, andererseits des Begriffes „anderer Status“ in Art. 2 Abs. 2 ICESCR 57 Zu den verschiedenen Definitionen des Risikos „Alter“ vgl. oben S. 61 (Empfehlung der IAO Nr. 67) und S. 126 f. (Konvention Nr. 102 der IAO). Die Festsetzung von Altersgrenzen, die zum Leistungsbezug berechtigen, ist zwar nicht mit einem Zwang zur Verrentung gleichzusetzen, indirekt hat aber die Suspendierung bzw. Reduzierung von Leistungen bei Fortführung der Erwerbstätigkeit diese Wirkung (vgl. etwa Art. 26 Abs. 3 der Konvention Nr. 102). Ein insoweit innovativer Standpunkt wird lediglich in der Recommendation No. R (8)3 of the Committee of Ministers to Member States on the flexibility of retirement age vom 6. 3. 1989 vertreten; vgl. dazu auch Nußberger, Altersgrenzen, S. 524 ff. 58 „In the few areas in which discrimination continues to be tolerated, such as in relation to mandatory retirement ages or access to tertiary education, there is a clear trend towards the elimination of such barriers. The Committee is of the view that States parties should seek to expedite this trend to the greatest extent possible“ (Allgemeiner Kommentar Nr. 6 ICESCR). 59 Vgl. die Kritik des Internationalen Arbeitsamtes selbst zu diesem Punkt ILO, Social Security, S. 38. 60 „To deal with such situations and comply fully with article 9 of the Covenant and paragraph 2 (h) of the Proclamation on Ageing, States parties should institute non-contributory old-age benefits or other assistance for all persons, regardless of their sex, who find themselves without resources on attaining an age specified in national legislation. Given their greater life expectancy and the fact that it is more often they who have no contributory pensions, women would be the principal beneficiaries“ (General Comment No. 6: The economic, social and cultural rights of older persons (1995)). 61 „However, the term „social security“ implicitly covers all risks involved in the loss of means of subsistence for reasons beyond a person’s control“ (General Comment No. 6: The economic, social and cultural rights of older persons (1995)).
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zeigt, dass der Sachverständigenausschuss den Pakt dynamisch an neue gesellschaftliche Gegebenheiten und Erkenntnisse anzupassen versucht. (3) Realisierung des Rechts auf Gesundheit Mit dem Kommentar Nr. 14 aus dem Jahr 200062 erläutert der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erstmals ausführlich, was das „Recht auf Gesundheit“ im System der ICESCR bedeutet63. Die kurz gefasste Definition lautet: „. . . the right to health must be understood as a right to the enjoyment of a variety of facilities, goods, services and conditions necessary for the realization of the highest attainable standard of health“64.
Der Ansatz ist enger als das WHO-Konzept, nach dem Gesundheit bedeutet: „a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“65.
Dennoch bezieht auch das Recht auf Gesundheit nach der Definition des Ausschusses eine Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Faktoren wie Ernährung, Wohnverhältnisse und eine gesunde Umwelt mit ein66; dadurch entstehen wiederum Überschneidungen mit Art. 11 ICESCR, dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard. Essentialia des Rechts auf Gesundheit sind Verfügbarkeit (availability), Zugänglichkeit (accessibility)67, Adäquanz (acceptability) und Qualität (quality) von medizinischen Leistungen; die Ausfüllung dieser Kriterien im Einzelnen hängt allerdings von der jeweiligen Situation im Staat ab. Vorrangig ist die Gesundheitsversorgung der schwächeren und potentiell marginalisierten Gruppen der Gesellschaft auf der Grundlage von zielgerichteten, nicht kostenintensiven Programmen sicherzustellen. Im Einzelnen werden die konkreten Verpflichtungen der Staaten anhand des Dreischritts respect-protect-fulfill erläutert68. Im Zusammenhang mit der Dimen62 General Comment No. 14: The right to the highest attainable standard of health (Art. 12 of the Covenant) (2000). 63 Allgemein zum Recht auf Gesundheit vgl. Tomas ˇevski, Health Rights, S. 125 ff.; Toebes, International Human Right to Health, S. 661 ff.; Leary, Right to Health, S. 481 ff. 64 General Comment No. 14: The right to the highest attainable standard of health (Art. 12 of the Covenant) (2000), para. 9. 65 Constitution of the World Health Organization, 14 U.N.T.S. 186, 22. 7. 1946 (in Kraft getreten am 7. 4. 1948), abgedruckt in Basic Documents of the WHO, 32. Auflage, Genf 1981, S. 186. 66 General Comment No. 14: The right to the highest attainable standard of health (Art. 12 of the Covenant) (2000), para. 4. 67 Dieser Aspekt wird noch näher bestimmt durch „non-discrimination“, „physical accessibility“, „economic accessibility“ und „information accessibility“. 68 Vgl. unten S. 438 ff.
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sion „respect“ wird den Staaten verboten, den gleichen Zugang aller zum Gesundheitssystem in irgendeiner Weise einzuschränken. Dies gilt, wie explizit ausgeführt wird, auch für Gefangene, Angehörige von Minderheiten, Asylsuchende und illegale Immigranten; auch ihnen ist präventive und palliative ebenso wie Heilbehandlung zu gewähren: „In particular, States are under the obligation to respect the right to health by, inter alia, refraining from denying or limiting equal access for all persons, including prisoners or detainees, minorities, asylum seekers and illegal immigrants, to preventive, curative and palliative health services; . . .“69.
Hier ist fraglich, was mit „equal access“ gemeint ist. Grundsätzlich ist darunter zu verstehen, dass jeder unter den gleichen Voraussetzungen Anspruch auf die gleichen Leistungen hat. Nun gibt es aber zwei Arten des Zugangs zu medizinischen Leistungen – über Vorleistungen, z. B. über eine Versicherung, oder aber über im Wege der Fürsorge. Für die genannten Gruppen wie illegale Immigranten und Asylsuchende kommt nur Letzteres in Betracht, da Vorleistungen in der Regel nicht möglich sind. Somit ist der Kommentar des Sachverständigenausschusses dahin zu verstehen, dass auch den genannten Gruppen medizinische Fürsorgeleistungen in gleichem Umfang wie allen sonstigen Leistungsberechtigten zu gewähren ist. Damit geht der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hier mit seiner Interpretation des Rechts auf Gesundheit weit über das hinaus, was von den Staaten nach den IAO-Konventionen verlangt wird; danach wird im Wesentlichen nur die Gewährung von Krankengeld und medizinischer Versorgung für einen prozentual abgegrenzten Teil der Bevölkerung erwartet. Nach dem Modell der IAO wäre – im Gegensatz zu dem Verständnis von Art. 12 ICESCR durch den Sachverständigenausschuss – insbesondere der Ausschluss marginalisierter Gruppen der Bevölkerung aus der Gesundheitsversorgung möglich. Nötig ist nur, überhaupt einen bestimmten Prozentsatz der Bevölkerung zu sichern70. Die Zuerkennung eines gleichberechtigten Anspruches auf Gesundheitsleistungen auch für Asylsuchende und illegale Immigranten wird aber nicht nur in den Konventionen und Empfehlungen der IAO, sondern auch in den sonstigen Übereinkommen der Vereinten Nationen oder des Europarats nicht anerkannt71. Im Zusammenhang mit der Dimension „protect“ ist nach Meinung des Sachverständigenausschusses sicherzustellen, dass alle den gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen haben, auch soweit diese von Dritten zur Verfügung gestellt wer69 General Comment No. 14: The right to the highest attainable standard of health (Art. 12 of the Covenant) (2000), para. 34. 70 Vgl. dagegen den Kommentar des Ausschusses für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte: „ . . .even in times of severe resource limitations, the vulnerable or marginalized members of society must be protected by the adoption of relatively low-cost targeted programmes“ (Allgemeiner Kommentar Nr. 14 § 18). 71 Vgl. dazu S. 147 ff. 72 General Comment No. 15: The right to water (Art. 11 and 12 of the Covenant) (2003).
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
den. Wird ein Gesundheitssystem privatisiert, so müssen die Leistungen dennoch für alle verfügbar, zugänglich, adäquat und qualitativ hochwertig sein. Das Marketing von Gesundheitsleistungen ist zu kontrollieren. Außerdem ist sicherstellen, dass die medizinischen Leistungen einem bestimmten Standard entsprechen und der Einzelne über seine Rechte informiert wird. Schließlich ist, geht es um die Dimension „fulfil“, zu prüfen, ob Fragen der Gesundheit im politischen und rechtlichen System ausreichend Berücksichtigung finden. Der Staat hat die Infrastruktur für eine gute medizinische Versorgung bereitzustellen, nicht nur durch den Aufbau eines für alle zugänglichen öffentlichen, privaten oder gemischten Gesundheitssystems, die Sicherung einer fundierten medizinischen Ausbildung und die Bereitstellung von Gesundheitseinrichtungen in allen Teilen des Landes, sondern auch durch die Schaffung gesunder Lebensbedingungen, insbesondere einer gesunden Umwelt. Im Jahr 2003 widmet der Ausschuss dem Thema „Recht auf Wasser“ einen Kommentar72; auch hier wird die Rechtsbasis unter anderem in Art. 11 und 12 ICESCR gesehen; allerdings handelt es sich hier nicht um eine Fragestellung mit einem im engeren Sinn sozialrechtlichen Bezug. Für 2005 ist ein Kommentar zum Recht auf soziale Sicherheit geplant. c) Allgemeine Empfehlungen zum CEDAW Die allgemeinen Kommentare oder – so wörtlich – Empfehlungen des Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau beruhen auf Art. 21 CEDAW, in dem festgelegt wird, der Ausschuss könne aufgrund der Prüfung der von den Vertragsstaaten eingegangenen Berichte und Auskünfte Vorschläge machen und allgemeine Empfehlungen abgeben. Ab 1986 arbeitet der Ausschuss derartige Empfehlungen aus, in den ersten Jahren allerdings nur sehr kurze technische Stellungnahmen. Inhaltliche Fragen werden in der Folge in verschiedenen Empfehlungen73 angesprochen, die aber sehr allgemein gehalten sind. Eine juristische Subsumtion findet nicht statt. So heißt es beispielsweise in der Empfehlung Nr. 16: „The Committee on the Elimination of Discrimination against Women . . . Taking into consideration that a high percentage of women in the States parties work without payment, social security and social benefits in enterprises owned usually by a male member of the family. . . Affirming that unpaid work constitutes a form of women’s exploitation that is contrary to the Convention . . . 73 Themen: Gewalt gegen Frauen (1989), gleiche Bezahlung für Arbeit von gleichem Wert (1989), weibliche Beschneidung (1990), Diskriminierung aufgrund von Aids (1990), unbezahlte Arbeiterinnen in ländlichen und städtischen Familienunternehmen (1991), Messung und Quantifizierung der unbezahlten Hausarbeiten von Frauen und ihrer Berücksichtigung im Bruttosozialprodukt (1991), behinderte Frauen (1991).
I. Interpretationsverfahren
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Recommends that States parties . . . Take the necessary steps to guarantee payment, social security and social benefits for women who work without such benefits in enterprises owned by a family member“74.
Diese Vorgehensweise ändert sich ab 1992 mit dem Bericht zur Gewalt gegen Frauen. Hier werden spezifische Kommentare zu den einzelnen Artikeln der Konvention eingefügt, die Empfehlungen gehen konkret auf einzelne Probleme bei den Themen Gleichheit in Ehe und Familienbeziehungen (1994), Frauen im politischen und öffentlichen Leben (1997) und Frauen und Gesundheit (1999) ein. Dabei wird insbesondere auch erklärt, welche Informationen notwendigerweise in den Bericht aufzunehmen sind und worin konkret ein Verstoß gegen die Konvention besteht. Beispielsweise wird in folgenden Fällen ein Verstoß gegen das Recht auf Gesundheit gesehen: „Measures to eliminate discrimination against women are considered to be inappropriate if a health care system lacks services to prevent, detect and treat illnesses specific to women. It is discriminatory for a State party to refuse to legally provide for the performance of certain reproductive health services for women. For instance, if health service providers refuse to perform such services based on conscientious objection, measures should be introduced to ensure that women are referred to alternative health providers“75.
Die Formulierung dieser Passage ist bewusst unklar, indem mit dem Wort „certain“ auf ausgewählte Leistungen verwiesen wird, ohne aber klarzustellen, welche Leistungen damit gemeint sind. Aus dem Nachsatz ist zu schließen, dass unter anderem Leistungen erfasst werden, deren Erbringung aus Gewissensgründen verweigert werden kann. Dies trifft im Allgemeinen aber vor allem für die Vornahme von Abtreibungen und Verhütungsmaßnahmen zu. Wird vom Staat gefordert, derartige Möglichkeiten im jedem Fall bereitzustellen, wird über das Recht auf Gesundheit eine Aussage zu einem Bereich getroffen, in dem sich bisher kein Staaten übergreifender Konsens abzeichnet76. Allerdings nimmt der Ausschuss nicht dazu Stellung, unter welchen Voraussetzungen derartige Leistungen zu erbringen sind. Weiter führt der Sachverständigenausschuss aus, dass es grundsätzlich in der Verantwortung des Staates liegt, Maßnahmen zum gesundheitlichen Schutz von Frauen zu ergreifen. Überträgt er diese Funktionen auf private Institutionen, so wird er damit nicht von der Verantwortung befreit, dafür zu sorgen, dass das Gesundheitssystem den spezifischen Bedürfnissen von Frauen gerecht wird. Ins74 General recommendation No. 16: Unpaid women workers in rural and urban family enterprises (1991), Tenth session of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women (1991), Punkt 11. 75 General recommendation No. 24: Article 12 of the Convention (women and health) (1999), 20th session of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women (1999). 76 Vgl. zu Ausschnitten aus der Diskussion, die im Bereich der Menschenrechte im Hinblick auf das Recht auf Leben geführt wird, Weber, Menschenrechte, S. 68 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
besondere hat er auch Sorge für die Gesundheit alter und behinderter Frauen zu tragen. d) Allgemeine Empfehlungen zum CERD Zum CERD gibt es zwar mittlerweile schon eine Vielzahl von allgemeinen Kommentaren. Fragen der Diskriminierung im Hinblick auf Leistungen sozialer Sicherheit werden allerdings allenfalls implizit angesprochen. In Kommentar Nr. 14 wird der Begriff der Diskriminierung definiert77. Dabei wird darauf hingewiesen, dass eine Ungleichbehandlung dann keine Diskriminierung darstellt, wenn sie auf legitimen Gründen beruht oder mit Art. 1 Abs. 4 der Konvention kompatibel ist. Dies gilt etwa dann, wenn sie eine Sondermaßnahme darstellt, um eine angemessene Entwicklung bestimmter Rassengruppen, Volksgruppen oder Personen zu gewährleisten. Im Übrigen bleibt aber zu prüfen, ob die Ungleichbehandlung eine nicht zu rechtfertigende unterschiedliche Wirkung für bestimmte Gruppen der Bevölkerung hat. Kommentar Nr. 20 spricht die in Art. 5 CERD enthaltenen Rechte78, damit auch das Recht auf soziale Sicherheit, an. Klargestellt wird, dass Art. 5 keine sozialen Rechte schafft, sondern lediglich die Staaten dazu verpflichtet, eine Diskriminierung bei der Ausübung dieser Rechte zu untersagen oder zu beseitigen. e) Allgemeine Kommentare zum CRC Allgemeine Kommentare zum CRC sind bisher für Fragen des internationalen Sozialrechts noch nicht relevant geworden; lediglich der Gesundheitsschutz wurde mehrfach angesprochen79. Die allgemeinen Kommentare zu den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen zeigen, dass das Thema „sozialer Schutz“, insbesondere der Aspekt der Gleichbehandlung bei der Gewährung sozialer Leistungen, Beachtung findet. Die sehr allgemein gehaltenen Bestimmungen in den Verträgen werden aber nicht nach allgemeiner juristischer Methodik interpretiert; vielmehr werden „moderne“ gesellschaftliche Diskussionen in die Vertragstexte hineingelegt – und dies in der Regel nicht abgestimmt mit den Rechtsstandards in anderen völkerrechtlichen Verträgen.
77 General recommendation XIV on article 1, of the Convention, UN Doc. HRI / GEN / 1 / Rev.a at 67 (1994). 78 General recommendation XX on article 5 of the Convention, UN Doc. CERD /48 / Misc. 6 / Rev. 2 (1996). 79 General comment No. 3: HIV / AIDS and the rights of the child, General comment No. 4: Adolescent health and development in the context of the Convention on the Rights of the Child.
I. Interpretationsverfahren
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2. Interpretation des Rechts der IAO a) Beantwortung von Auslegungsfragen zur Verfassung und zu den Konventionen der IAO durch den StIGH / IGH Im Gegensatz zu den nicht-verbindlichen Interpretationsverfahren zu den Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen ist in Art. 37 Abs. 1 der Verfassung der IAO ein Verfahren institutionalisiert, mit dessen Hilfe Auslegungsfragen oder -zweifel verbindlich geklärt werden können: „Any question or dispute relating to the interpretation of the Constitution or of any subsequent Convention concluded by the Members in pursuance of the provisions of this Constitution shall be referred for decision to the International Court of Justice“.
Dieses Interpretationsverfahren hat allerdings trotz der damit verbundenen großen Erwartungen80 bisher in der Praxis der IAO keine große Bedeutung erlangt. Ein erstes Gutachten81 des StIGH betraf die Frage, ob die IAO die Kompetenz hat, in Konventionen und Empfehlungen nicht nur für Industriearbeiter, sondern auch für Arbeiter in der Landwirtschaft arbeits- und sozialrechtliche Fragen zu regeln82. Der StIGH bejaht dies, wobei er das Argument, die Verfassung der IAO sei einschränkend auszulegen, da in die nationale Souveränität eingegriffen werde, nicht zum Zuge kommen lässt. Vielmehr sieht der Gerichtshof den Text der Verfassung als einheitliches Ganzes an und stützt seine Auffassung, die Kompetenz der IAO gelte umfassend für alle Bereiche des Arbeitslebens, darauf, dass die Bedeutung der Begriffe „industriel“ und „industrie“ alle Formen der Arbeit gleichermaßen umfasse. Im zweiten „Gutachten“83 geht es um eine ähnliche Fragestellung, um die Kompetenz der IAO, mit der Regelung sozialer Fragen auch auf die wirtschaftliche Produktionsweise in der Landwirtschaft Einfluss zu nehmen. Einigkeit besteht darin, dass die IAO nicht befugt ist, Fragen der Produktion unmittelbar zu regeln. Allerdings, so erkennt der StIGH, haben die Auswirkungen sozialer Maßnahmen auf wirtschaftliche Entwicklungen nicht a priori außerhalb des Blickfeldes der IAO zu bleiben. Der Organisation kann, soll sie ihren Auftrag erfüllen, nicht verboten wer80 Vgl. zur Bedeutung, die die IAO Interpretationsverfahren von Anfang an zuweist: Report of the Director-General, proceedings of the International Labour Conference, 3rd session (1921), S. 117 (zitiert nach Jenks, Legislative Techniques, S. 85 FN 5): „The whole of the International Labour Organisation therefore is interested in and may be affected by the interpretations which are given to the instrument which it has created. The intentions of the Conference might be entirely falsified if each country were obliged to interpret the Articles of the convention for itself because there was no authority whose advice it could seek“. 81 PCIJ Series B Nos 2, 3 (1922) S. 4 – 43, Série C No. 1, S. 19 – 27, 32 – 33, 36 – 38, 153 – 295, 461 – 534, 461 – 534, 540 – 567. 82 Vgl. dazu ausführlich Jenks, Examen, S. 156 ff., 586 ff. 83 PCJI Series B Nos 2, 3, S. 44 – 61, Série C No. 1, S. 29 – 33, 296 – 360, 537 – 604.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
den, auch bestimmte Produktionsweisen sowie die Auswirkung bestimmter Produktionsweisen auf die Arbeitsbedingungen zu untersuchen. Die Tendenz des StIGH, die Kompetenz der IAO ratione personae und ratione materiae umfassend zu bestimmen, bestätigt auch das dritte „Gutachten“84 zur Frage, ob Regelungen der IAO, konkret das in Konvention Nr. 20 enthaltene Nachtbackverbot, auch Arbeitgeber einschließen darf, wenn dies Voraussetzung für eine effektive Durchsetzung ist. Auch hier befindet der StIGH, dass die IAO ihre Kompetenz nicht überschritten hat, insbesondere, da die Konventionen keine für die Mitgliedstaaten bindenden Regeln enthalten und damit die Souveränität nicht einschränken, sondern lediglich eine Hilfestellung bei der Ausübung der souveränen Rechte darstellen85. Lediglich einmal wird dem StIGH eine Frage zur Auslegung nicht der Verfassung, sondern einer Konvention vorgelegt86. In diesem Fall ist strittig, ob die Regelung zum Nachtarbeitsverbot für Frauen in Konvention Nr. 4 (Night Work (Women) Convention) aus dem Jahr 1919 nur auf Arbeiterinnen (manual workers) oder auch auf Frauen, die Kontroll- und Verwaltungsaufgaben erfüllen, anwendbar ist87. Der Gerichtshof entscheidet, dass, wie der Wortlaut der Konvention klar vorgibt, das Nachtarbeitsverbot unterschiedslos auf alle Frauen anwendbar sei. Eine einschränkende Auslegung aufgrund des nur begrenzten Regelungsauftrags der IAO komme nicht in Betracht. Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Auslegung internationaler Sozialstandards werden von diesen verbindlichen Interpretationen nicht unmittelbar tangiert88. Mittelbar sind die in den Gutachten des StIGH enthaltenen Stellungnahmen allerdings von großer Bedeutung, wird damit doch der Weg freigemacht für eine auch im Bereich des Sozialrechts umfassende Regelung der sozialen Sicherung nicht nur der Industriearbeiterschaft – so wie es in den ersten nationalen Sozial84 PCIJ, Series B No. 13 (1926): Competence of the ILO to Regulate Incidentally the Personal Work of the Employer. 85 Vgl. den Wortlaut der Entscheidung: „. . . les Hautes Parties contractantes ont délibérément prévu, avec son caractère strictement limité, l’assistance de l’Organisation Internationale du Travail dans l’exercice de leurs pouvoirs souverains à l’égard des mesures nationales et internationales visant le travail“. 86 PCIJ Series A / B No. 50, Serie C No. 60 (1932): Interpretation of the Convention of 1919 Concerning the Employment of Women during the Night. 87 Wörtlich lautet die Auslegungsfrage: „Does the Convention concerning employment of women during the night, adopted in 1919 by the International Labour Conference, apply in the industrial undertakings covered by the said Convention, to women who hold positions of supervision or management and are not ordinarily engaged in manual work?“. 88 Hintergrund des von Frankreich initiierten Streits über die Kompetenz der IAO zur Regelung von Fragen, die die Arbeiter in der Landwirtschaft betreffen, war allerdings die Ausarbeitung einer Reihe von Rechtsakten unter anderem auch zu Fragen der sozialen Sicherung, die Gegenstände folgender Konventionen betrafen: die Workmen’s Compensation (Agriculture) Convention 1921, die Unemployment (Agriculture) Recommendation 1921 und die Social Insurance (Agriculture) Recommendation.
I. Interpretationsverfahren
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versicherungsgesetzen Usus ist – sondern auch anderer Gruppen der Bevölkerung89. So definieren bereits die Sozialversicherungsabkommen aus den 20er und 30er Jahren den persönlichen Anwendungsbereich der Bestimmungen umfassend. In Konvention Nr. 24 heißt es: „The compulsory sickness insurance system shall apply to manual and non-manual workers, including apprentices, employed by industrial undertakings and commercial undertakings, out-workers and domestic servants“ (Art. 2)90.
Das bedeutet, dass in der Anfangszeit der IAO auf der Grundlage des Interpretationsverfahrens nach Art. 37 der Verfassung der IAO eine auch für die Behandlung sozialrechtlicher Fragestellungen relevante grundsätzliche Weichenstellung zum Umfang der Rechtsetzungstätigkeit der IAO erfolgt. Für die Auslegung der Konventionen hat dieses Verfahren allerdings keine praktische Bedeutung91. b) Beantwortung von Auslegungsfragen durch das Internationale Arbeitsamt Konnte sich das Verfahren nach Art. 37 der Verfassung der IAO zur Klärung strittiger Einzelfragen bei der Auslegung der Konventionen aufgrund seiner Aufwendigkeit nicht durchsetzen, so hat sich in der Praxis ein leichter handhabbares Verfahren herausgebildet: Das Internationale Arbeitsamt beantwortet Anfragen einzelner Mitgliedstaaten zum Verständnis der Bestimmungen der Konventionen. Dabei nimmt es nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch auf die Entstehungsgeschichte der Bestimmungen und Stellungnahmen der Kontrollorgane Bezug92. 89 Inwieweit auch Selbständige und Nicht-Erwerbstätige in die Regelungen einbezogen werden können, wird damit allerdings nicht geklärt; vgl. dazu auch die kritische Stellungnahme der Arbeitgeberseite bei der Ausarbeitung von Konvention Nr. 102 der IAO; bemängelt wurde, dass die Regelungen auch Selbständige und Nicht-Erwerbstätige mit umfassten, obwohl diese in der triparitären Struktur der IAO gerade nicht vertreten seien. Diese Einwände wurden allerdings überstimmt; vgl. dazu International Labour Office, International Labour Code, S. 510 FN 43 ff. 90 Die Formulierung in den Konventionen Nr. 35 bis 40 ist nahezu identisch; nur werden hier zusätzlich auch noch Lehrlinge, die in den freien Berufen eingestellt sind, einbezogen. In Konvention Nr. 25 ist eine Parallellösung für in landwirtschaftlichen Betrieben Beschäftigte enthalten. Allerdings sind Ausnahmemöglichkeiten für Besserverdienende (vgl. Art. 2 Abs. 2 b Konvention Nr. 25, Art. 2 Abs. 2 b Konvention Nr. 26, Art. 2 a Konvention Nr. 35, Art. 2 Abs. 2 a Konvention Nr. 36, Art. 2 Abs. 2 a Konvention Nr. 37, Art. 2 Abs. 2 a Konvention Nr. 38, Art. 2 Abs. 2 a Konvention Nr. 39, Art. 2 Abs. 2 a Konvention Nr. 40) und zum Teil auch für die in den freien Berufen Beschäftigten (vgl. Art. 2 a Konvention Nr. 35, Art. 2 Abs. 2 a Konvention Nr. 36, Art. 2 Abs. 2 a Konvention Nr. 37, Art. 2 Abs. 2 a Konvention Nr. 38, Art. 2 Abs. 2 a Konvention Nr. 39, Art. 2 Abs. 2 a Konvention Nr. 40) vorgesehen. 91 Art. 37 der Verfassung der IAO wurde im Jahr 1946 durch einen Absatz 2 ergänzt, nach dem zur Beantwortung von Fragen der Interpretation von Konventionen ein besonderes Gericht errichtet werden kann. Ein derartiges Gericht wurde aber nie geschaffen. 92 Vgl. zum Selbstverständnis der Interpretationstätigkeit des IAA die in den Antworten an die Mitgliedstaaten regelmäßig wiederholte Bemerkung: „. . .the Office must, subject to
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Da diese Interpretationen des IAA veröffentlicht werden, kommt ihnen eine große Bedeutung für das Verständnis der internationalen Regelungen zu, auch wenn es sich dabei nicht um verbindliche Auslegungen handelt93. So heißt es in einem Memorandum des Internationalen Arbeitsamtes aus dem Jahr 1921: „. . . the tacit acceptance of an interpretation acted on by a Member and communicated through the Official Bulletin constitutes important authority which can always be invoked for that interpretation“94.
Das Internationale Arbeitsamt hat in einer Vielzahl von Stellungnahmen95 grundlegende Fragen, wie die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der Konventionen96 oder die Frage des Einschlusses von Beamten in die Regelungen der internationalen Arbeitskonventionen97, beantwortet, daneben aber auch Ausführungen zu Einzelproblemen bei der Auslegung spezifischer Konventionen gemacht. Dabei fällt allerdings auf, dass die Anzahl der Anfragen von Regierungen an das IAA zur Auslegung einzelner Bestimmungen von Konventionen rückläufig ist. Die Analyse der Stellungnahmen des IAA macht deutlich, welche Fragen aus der Sicht der Mitgliedstaaten der IAO abstrakt klärungsbedürftig sind und wo Anwendungsprobleme entstehen. Fragen nach der Anwendbarkeit der Konventionen ratione personae, etwa der Konvention Nr. 19 auf Seeleute und Fischer98, der Konvention Nr. 3 auf Frauen the usual reservation that the Constitution of the International Labour Organisation does not confer upon it any special competence to interpret Conventions, confine itself to providing governments with indications which may clarify the elements emerging from the preparatory work or from conclusions reached by the supervisory bodies of the ILO“ (vgl. z. B. Memorandum by the International Labour Office, O.B. 1977, S. 286). 93 Vgl. dazu Valticos, Droit international du travail, S. 133 ff.; Jenks, Interpretation, S. 132 ff.; zur Problematik der Auslegungen durch das IAA vgl. auch Osieke, International Labour Organisation, S. 206 ff. 94 Minutes of the Ninth Session of the Governing Body of the International Labour Office, S. 365 – 366, zitiert nach Jenks, Interpretation, S. 133. 95 Vgl. den Überblick der Interpretationen bis 1950: International Labour Office, International Labour Code, Band 2, S. 1187 ff.; Interpretationen seit 1950 werden jeweils im Official Bulletin unter der Rubrik „Interpretation of Decisions of the International Labour Conference“ veröffentlicht. 96 Nach Meinung des IAA hat das nationale Recht zu bestimmen, ob die Konventionen unmittelbar anwendbar sind oder nicht; entscheidend ist nur, ob sie tatsächlich effektiv sind: „From an international point of view, what is essential is that the provisions of a Convention should be fully applied; in regard to the manner of application, both the Constitution of the Organisation and the terms of the individual Conventions deliberately leave a wide measure of discretion to each country . . .“ (International Labour Office, International Labour Code, S. 864); vgl. zu dem Problem auch ausführlich Leary, International Labour Conventions. 97 Nach Meinung des IAA sind die Konventionen der IAO grundsätzlich auch auf Beamte anwendbar; vgl. International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 214, FN 229. 98 Das IAA hält Konvention Nr. 19 (Equality of Treatment (Accident Compensation) Convention) nicht auf Fischer und Seeleute anwendbar, da die Konvention nicht der Joint Mari-
I. Interpretationsverfahren
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mit hohem Einkommen99 oder der Konvention Nr. 18 auf Arbeiter in der Landwirtschaft100, liegen auf der Linie der Gutachten des StIGH. Hier wird zwar nicht die Kompetenz der IAO zur Regelung der Sachfragen bezweifelt, wohl aber vorausgesetzt, zu den allgemeinen Regelungen müssten Ausnahmebestimmungen für bestimmte Personengruppen zulässig sein. Weiter zeigt eine Reihe von Anfragen, dass die Rechtsstellung der Ausländer, so wie sie nach den verschiedenen Konventionen definiert wird, als klärungsbedürftig empfunden wird. Norwegen wirft bereits 1926 die Frage auf, inwieweit eine mittelbare Diskriminierung von Ausländern nach Konvention Nr. 19 zulässig ist. Das IAA wertet es nicht als Verstoß gegen die Konvention, wenn In- und Ausländern, verlegen sie ihren Wohnsitz ins Ausland, gleichermaßen eine geringere Rente bei Arbeitsunfällen gezahlt wird, auch wenn damit zwar nicht de lege, wohl aber de facto Ausländer diskriminiert werden101. Das Committee of Social Security Experts dagegen stellt im Jahr 1950 klar, dass telos der Bestimmung ist, Entschädigungszahlungen grundsätzlich unabhängig vom Wohnort in voller Höhe zu leisten; da diese Interpretation sich aber nicht eindeutig aus der Konvention ergebe, sei eine Revision erforderlich102. Auch bei Leistungen im Falle von Arbeitslosigkeit lässt das IAA trotz des Gleichbehandlungsgrundsatzes Differenzierungen zu; so legt es Art. 3 der Konvention Nr. 2 dahingehend aus, dass die Mitgliedstaaten aufgrund der Formulierung „upon terms being agreed“ ein Ermessen bei der Gewährung von Leistungen an Ausländer haben:
time Commission of the International Labour Office vorgelegt worden war; vgl. Stellungnahme des IAA vom 20. 2. 1926, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 627, FN 416 (Anfrage von Norwegen). 99 Konkret geht es um die Frage, ob die Regeln der Maternity Convention auch auf Frauen mit hohem Einkommen anwendbar sind oder ob, soweit Mutterschaftsgeld auf der Grundlage einer Versicherung gezahlt wird, auch hier wie in anderen Sozialversicherungszweigen eine Einkommensgrenze bestimmt werden kann, jenseits derer ein sozialversicherungsrechtlicher Schutz nicht mehr gewährt wird. Nach Ansicht des IAA ist die Konvention grundsätzlich auf alle Frauen, gleich welches Einkommen sie erzielen, anwendbar. Die Festlegung einer – nicht zu niedrig bemessenen – Einkommensgrenze wird allerdings als zulässig angesehen; vgl. Stellungnahme des IAA vom 14. 5. 1930, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 547, FN 170 (Anfrage von Italien). 100 Strittig ist, ob die Anerkennung der „Anthrax Infection“ als Berufskrankheit notwendigerweise auch für Arbeiter in der Landwirtschaft gelten muss. Das IAA folgert aus dem Wortlaut der Konvention, dass die Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Festlegung des versicherten Personenkreises haben und damit Arbeiter in der Landwirtschaft ausschließen können; vgl. Stellungnahme des IAA vom 23. 2. 1928, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 648, FN 440 (Anfrage von Südafrika). 101 Stellungnahme des IAA, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 627, FN 417 (Anfrage von Norwegen). 102 Stellungnahme des Committee of Social Security Experts auf seiner ersten Sitzung im Februar 1950; vgl. International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 628.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
„That under this Article workers belonging to another country need only be admitted to the same rates of benefit as nationals ,upon terms being agreed‘ with the other country in question, but that it would seem most desirable and in accordance with the spirit of the Article that any condition of payment of subventions which required discrimination between national and foreign workers should be abolished“103.
In der Gestaltung der vertraglichen Regelungen sind die Vertragsstaaten frei; so ist es nach Ansicht des IAA auch möglich, Ausgleichszahlungen für den Fall, die Leistungen an die Angehörigen eines anderen Staates wären höher als dessen Zahlungen an die eigenen Staatsangehörigen, zu vereinbaren104. Eine Anfrage Schwedens aus dem Jahr 1977 betrifft die Situation illegaler Wanderarbeitnehmer. Nach Art. 9 der Konvention Nr. 143 sind sie in Bezug auf Ansprüche, die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergeben, den eigenen Staatsangehörigen des Vertragsstaates gleichzustellen. Diese Vorgabe lässt sich, so die Position Schwedens, in der Praxis nicht realisieren, da Voraussetzung für medizinische Leistungen die Registrierung des Wohnsitzes in Schweden, Voraussetzung für Leistungen im Bereich der Alterssicherung der Nachweis von Einkünften aufgrund der Steuererklärung ist. Typischerweise lassen illegale Wanderarbeitnehmer aber weder ihren Wohnsitz registrieren noch geben sie eine Steuererklärung ab. Das IAA sieht diese Situation nicht im Widerspruch zu Konvention Nr. 143 an, da auch Staatsangehörige, würden sie den entsprechenden Pflichten nicht nachkommen, in gleicher Weise behandelt würden105. Diese Auslegung bedeutet allerdings, dass die Vorschrift in der Praxis in der Regel leer läuft. Eine nationale gesetzliche Regelung, nach der ausländische Arbeitnehmer, verlieren sie ihren Arbeitsplatz vor Ablauf eines bestimmten Zeitraums, eine neue Arbeitserlaubnis beantragen müssen, diese aber nur dann, wenn es die Situation auf dem Arbeitsmarkt erlaubt, bekommen, sieht das IAA als im Widerspruch zu Art. 8 Konvention Nr. 143106 an107. Außer bei Fragen zur Rechtsposition von Ausländern in den jeweiligen Systemen sozialer Sicherheit betreffen die Stellungnahmen des IAA zu sozialrechtsrelevanten Konventionen im Wesentlichen Detailfragen108. 103 Stellungnahme des IAA vom 2. 12. 1920, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 610, FN 366 (Anfrage von Norwegen). 104 Stellungnahme des IAA vom 2. 12. 1920, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 610, FN 366 (Anfrage von Norwegen). 105 Stellungnahme des IAA vom 27. 7. 1976, O.B. 1977, S. 288 ff. (Anfrage von Schweden). 106 Vgl. den Wortlaut der Bestimmung: „On condition that he has resided legally in the territory for the purpose of employment, the migrant worker shall not be regarded as in an illegal or irregular situation by the mere fact of the loss of his employment, which shall not in itself imply the withdrawal of his authorisation of residence or, as the case may be, work permit“. 107 Stellungnahme des IAA, O.B. 1979 S. 156 (Anfrage von Deutschland). 108 Die Bestimmung in Konvention Nr. 3 (Maternity Convention), nach der jede Frau bei der Geburt eines Kindes Anspruch auf kostenlose medizinische Behandlung durch einen Arzt
I. Interpretationsverfahren
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Besonderer Erwähnung bedarf aber noch folgender Kommentar zur Hinterbliebenenversicherung. Legt man den Maßstab des EGMR oder des Ausschusses für Menschenrechte an, so ist Art. 18 der Konvention Nr. 121 eindeutig diskriminierend. Denn während Witwen, stirbt der Ernährer, eine Rente bekommen, gilt dies für Witwer nur, wenn sie erwerbsunfähig oder unterhaltsberechtigt sind109. Das IAA geht in seiner Interpretation der Bestimmung auf diese Problematik aber nicht ein, sondern prüft auf die Anfrage Norwegens, ob Witwen einen unbedingten Anspruch haben oder dann, wenn sie keine Kinder haben und in der Lage sind, sich selbst zu ernähren, eine Reduktion der Leistung möglich ist. Nach Meinung des IAA bedeutet der Zusatz in Art. 18 „as prescribed“, dass der nationale Gesetzgeber im Einzelnen die Voraussetzungen für den Anspruch einer Witwe festlegen kann, eine Auslegung, die von der Entstehungsgeschichte der Norm bestätigt wird110. Nahegelegen hätte eine der Diskriminierung entgegenwirkende Auslegung im Sinne einer Angleichung der Voraussetzungen für Witwer- und Witwenrenten. Dieses Beispiel macht nicht nur deutlich, wie eingeschränkt das IAA bei seinen Interpretationen zu den Bestimmungen der einzelnen Konventionen ist, sondern auch, wie dann, wenn eine dynamische Interpretation von Regelungen internationalen Ursprungs nicht möglich ist oder nicht geleistet wird, eine gewisse Erstarrung und in der Folge eine rechtliche Irrelevanz der Regelungen zu besorgen ist. Die dominant auf historisches Material gestützte Auslegung der Konventionen durch das IAA steht im Übrigen auch im Widerspruch zu Art. 32 WVK, der der oder eine Hebamme hat, schließt nach Meinung des IAA jede Form der Zuzahlung aus; vgl. Stellungnahme des IAA vom 26. 6. 1931, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 548, FN 170 (Anfrage von Frankreich). Ist nicht die Anwendung eines bestimmten Rechts vereinbart, so ist das Recht des Landes zur Regelung der Rechtsfolgen eines Arbeitsunfalls anwendbar, in dem sich der Unfall ereignet hat; vgl. Stellungnahme des IAA, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 638, FN 420 (Anfrage von Japan). Bei der Berechnung der Wartezeit bis zum Erhalt von Entschädigungszahlungen bei Arbeitsunfällen ist der Tag, an dem sich der Unfall ereignet hat, einzurechnen; vgl. Stellungnahme des IAA, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 615, FN 387 (Anfrage von Schweden). Die Sicherung gegen Arbeitsunfälle in der Landwirtschaft und in der Industrie hat nicht notwendigerweise identisch zu sein; vgl. Stellungnahme des IAA, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 622, FN 412 (Anfrage von Italien). Bei der Beantwortung von Fragen, die allgemeines Völkerrecht betreffen, macht das IAA nicht nur den üblichen Vorbehalt, dass es zu autoritativen Interpretationen nicht befugt sei, sondern betont zusätzlich, dass es Fragen des allgemeinen Völkerrechts nicht beantworten könne. Dennoch führt es aus, dass ein Schiff nicht als Teil des Territoriums des Landes zu betrachten sei, unter dessen Flagge es segelt. Somit seien auch die Rechtsfolgen von Arbeitsunfällen, die nicht die Schiffsbesatzung betreffen, nach den Gesetzen des Landes, in dessen territorialem Gewässer das Schiff sich befindet, zu beurteilen; vgl. Stellungnahme des IAA, International Labour Office, International Labour Code, Band I S. 627, FN 416 (Anfrage von Japan). 109 Vgl. dazu die Entscheidungen des EGMR (S. 351 ff.) und des Ausschusses für Menschenrechte (S. 339 ff.). 110 Ursprünglich sollte nur an Witwen, die ein minderjähriges Kind von dem Verstorbenen haben, erwerbsunfähig sind oder ein bestimmtes Alter erreicht haben, gezahlt werden; vgl. Stellungnahme des IAA vom 26. 7. 76, O.B. 1977, S. 286 (Anfrage von Norwegen).
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
historischen Auslegungsmethode nur den Stellenwert eines „ergänzenden Auslegungsmittels“ zuweist. Nur aus der Entstehungszeit erklärbare Bedeutungsschichten sollen danach gerade nicht zementiert werden111. – Die historische Auslegung passt aber am besten zum Selbstverständnis des IAA als „Verwaltungsbehörde“ ohne inhaltliche Entscheidungskompentenzen.
c) Allgemeine Überblicke zu den Konventionen und Empfehlungen der IAO Wie das IAA so ist auch der von der Internationalen Arbeitskonferenz 1929 eingesetzte Sachverständigenausschuss für die Anwendung der Konventionen und Empfehlungen (Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations112) nicht zuständig, die Bestimmungen der Konventionen der IAO auszulegen. Er sollte nach den Vorstellungen der Abgeordneten, die in ihrer 8. Tagung am 4. 6. 1926 eine entsprechende Resolution verabschiedet haben113, einen ausschließlich technischen und beratenden Charakter haben114; zur Interpretation des Rechts sollte er gerade nicht befugt sein115. Dennoch wird die über 70-jährige Tätigkeit des Ausschusses einer „Rechtsprechung“ gleichgestellt: „The Committee’s work has been of tremendous importance. Its general reports as well as its detailed observations on the implementation of ratified Conventions by member States form an impressive body of case law, shaping the contents of international labour norms which have had considerable influence on the creation of higher standards of protection of workers in this century“116. 111 Die Position von Kittner (Däubler / Kittner / Lörcher, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, S. 158), die Interpretationsergebnisse seien „meistens doch recht ähnlich“, kann angesichts der Unterschiede zwischen einer dynamischen Interpretation völkerrechtlicher Sozialstandards und der dominant auf die Entstehungsgeschichte abstellenden Auslegung durch das IAA nicht geteilt werden. 112 Ursprüngliche Bezeichnung „Committee of Experts appointed to examine the annual reports made under article 408“; von 1936 bis 1949: „Committee of Experts on the Application of Conventions“. 113 ILC, 8th Session 1926, Final Record, Appendix V, S. 395. 114 Vgl. Bureau International du Travail (Hg.), Rapport du Directeur-Général à la Conférence, 10. Session 1927, S. 6: „En invitant la Commission d’experts à examiner les rapports annuels présentés au Bureau en exécution de l’article 408 du Traité de Versailles, le Bureau international du Travail s’est efforcé avant tout de préciser que le caractère de la commission est uniquement consultatif et technique“; zitiert nach Wagner, Internationaler Schutz, S. 61 FN 150; vgl. zu der Problematik Wisskirchen, Normensetzende und normenüberwachende Tätigkeit, S. 711 mwN. 115 Vgl. ausführlich zur Entstehungsgeschichte Wagner, Internationaler Schutz, S. 54 ff.; Zarras, Contrôle de l’application, S. 161 ff.; Gravel / Charbonneau-Jobin, Committee of Experts, S. 7 ff.; zur Entwicklung der Spruchpraxis vgl. auch Nußberger, Spruchpraxis, S. 481 ff. 116 Betten, International Labour Law, S. 399; vgl. auch Landy, Effectiveness.
I. Interpretationsverfahren
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Dass die Überprüfung der Anwendung der Konventionen in den verschiedenen Nationalstaaten eine Auslegung der Bestimmungen voraussetzt, ist, dem Wunschdenken der Konferenzabgeordneten, die Kompetenzen des neuen Ausschusses zu beschneiden, zum Trotz, nicht zu vermeiden. Denn erst wenn man sich über die Bedeutung einer Rechtsregel Klarheit verschafft hat, kann man sie auch als Kontrollmaßstab anwenden. Allerdings ist noch immer Konsens, dass die Auslegungen der einzelnen Bestimmungen der Abkommen durch den Sachverständigenausschuss nicht verbindlich sind, auch wenn es über diesen Punkt zwischendurch eine intensive Auseinandersetzung gegeben hat. So stellte der Sachverständigenausschuss in seinem Bericht im Jahr 1990117 fest, solange der Internationale Gerichtshof noch nicht gesprochen habe, seien seine Auslegungen verbindlich, nahm diese Behauptung aber nach massiver Kritik im Jahr 1991118 wieder zurück119. Mittlerweile kontrolliert der Sachverständigenausschuss aber nicht nur die nationalen Staatenberichte und interpretiert dabei die Einzelbestimmungen implizit120, sondern er arbeitet zusätzlich auch eine Vielzahl von „General Surveys“ zu einzelnen nach thematischen Blöcken zusammengefassten Konventionen oder Empfehlungen aus121. Grundlage dafür ist die Entscheidung des Verwaltungsrats nach Art. 19 Abs. 5 (e) Verfassung der IAO, von den Regierungen aller Mitgliedstaaten, nicht nur der Vertragsstaaten der jeweiligen Konventionen, Berichte über Recht und Praxis im Hinblick auf bestimmte, in internationalen Konventionen oder Empfehlungen enthaltene Regelungen anzufordern. Ziel der „General Surveys“ ist so nicht eigentlich, die Bestimmungen der Konventionen zu interpretieren, sondern vielmehr, die Bandbreite der Rechtsentwicklung in den einzelnen Staaten – und zwar gerade auch derer, die die Abkommen nicht ratifiziert haben – vor dem Hintergrund der internationalen Regelungen darzustellen; die Regelungen der IAO werden dabei auch im Kontext anderer internationaler und supranationaler Regelungen gesehen. So ist in den Berichten im Allgemeinen bei der Auslegung der einzelnen Bestimmungen eine besondere Zurückhaltung zu beobachten. Die in den Konventionen enthaltenen normativen Bestimmungen werden umschrieben; die nationalen Sachverständigenbericht, 77. ILC 1990, Abs. 7. Sachverständigenbericht, 78. ILC 1991, Abs. 11 – 13. 119 Vgl. dazu auch Wisskirchen, Normensetzende und normenüberwachende Tätigkeit, S. 713. 120 Vgl. dazu S. 298 ff. 121 Vgl. z. B. dreigliedrige Beratung (2000), Festlegung des Mindestlohns (1992), bezahlter Erziehungsurlaub (1991), Gleichheit in Beschäftigung und Beruf (1988), Arbeitsumwelt (1987), Gleiche Entlohnung (1986 / 1975), Arbeitsinspektion (1985), Verminderung der Arbeitszeit (1984), Vereinigungsfreiheit (1983 / 1973), Mindestbeschäftigungsalter (1981), Zwangsarbeit (1979), Beschäftigung von Frauen mit Familienpflichten (1978), Beendigung des Arbeitsverhältnisses (1974), Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit (1973). 117 118
17 Nußberger
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Rechtssysteme, die entsprechende Regelungen enthalten, werden enumeriert, ohne auf Einzelheiten weiter einzugehen. Dennoch enthalten die Surveys punktuell auch konkrete Vorgaben zur Auslegung von Einzelbestimmungen 122. Beispielsweise ist weder aus dem Wortlaut von Konvention Nr. 102 noch aus dem Wortlaut der Konvention Nr. 128 zu entnehmen, ob, soweit der Schutz „residents“ erfasst, nur legal oder auch illegal im Land befindliche Ausländer zu berücksichtigen sind. Der Sachverständigenausschuss bezieht sich bei der Beantwortung der Frage auf Art. 6 der Migration for Employment Convention (Revised) aus dem Jahr 1949 und die Migrant Workers (Supplementary provisions) Convention aus dem Jahr 1975. Daraus folgert er: „The Committee therefore considers that the term „resident“ is intended by Conventions Nos. 102 and 128 to be read as including only those non-nationals who are lawfully resident in the country of immigration“123.
Im Rahmen des „General Survey“ zu Wanderarbeitnehmern wird es für notwendig befunden, sich mit dem in Art. 1 Konvention Nr. 143 enthaltenen Begriff „basic human rights“ auseinanderzusetzen: „Each Member for which this Convention is in force undertakes to respect the basic human rights of all migrant workers“.
Der Sachverständigenausschuss rekurriert auf die grammatikalische und systematische Auslegungsmethode und führt aus, dass unter „basic human rights“ nicht alle in den Pakten der Vereinten Nationen festgeschriebenen Menschenrechte zu verstehen seien, sondern nur grundlegende Rechte wie etwa das Recht auf Leben und das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person, ein Kernschutzbereich, der nicht nur für legale, sondern auch für illegale Immigranten gelte124. Der Sachverständigenausschuss ist bei seinen Interpretationen durchwegs sehr zurückhaltend. Allerdings nimmt er mehrfach zu Fragen de lege ferenda Stellung. So stellt er etwa fest, dass der in Konvention Nr. 102 der IAO enthaltene Grundsatz der Gleichbehandlung ausländischer Arbeitnehmer dadurch eingeschränkt ist, dass die Gewährung von Leistungen in Beitragssystemen von Reziprozität abhängig gemacht werden kann. Eine entsprechende Möglichkeit besteht nicht nach Konvention Nr. 118. In diesem Zusammenhang führt der Ausschuss aus: „It is to be hoped, in the interests of millions of non-national and migrant workers, that member States will continue to make every effort to extend application of the principle of 122 Von besonderer Bedeutung sind im vorliegenden Zusammenhang die „General Surveys“ zu folgenden Themen: Minimum Standards of Social Security 1961, Equality of Treatment (Social Security) Convention 1977, Social Security Protection in Old-Age 1989, Migrant Workers 1980 und Equality in Employment and Occupation 1988. Der Sachverständigenausschuss beantwortet dabei wie auch das Internationale Arbeitsamt strittige Einzelfragen. 123 ILO, Old-Age, S. 23. 124 ILO, Migrant Workers, S. 68 ff.
I. Interpretationsverfahren
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equality of treatment as regards social security in accordance with the provisions of Convention No. 118“125.
Die Tatsache, dass es im Recht der IAO keinen Grundsatz zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen gibt, wertet der Ausschuss als „serious flaw in social security matters“, dem durch die Ausarbeitung eines neuen Rechtsinstruments abzuhelfen sei126. Auch sind nur mittelbar auf die Rechtsnormen gestützte Wertungen, etwa zur Bedeutung freiwilliger Sicherungssysteme127 oder zur Rolle des Staates im Bereich der sozialen Sicherheit128, erkennbar. Dass die Definition von Grundbegriffen wie „employee“ problematisch sein kann, wird gesehen; allerdings liefert der Ausschuss dazu weder eigenständige Definitionen, noch gibt er Rahmenvorgaben für die Interpretation durch die nationalen Instanzen vor129. Regelmäßig enthalten die allgemeinen Überblicke allgemeine Schlussfolgerungen, die einerseits Charakteristika und Perspektiven der nationalen Rechtsentwicklungen aufzeigen und andererseits Funktion und Bedeutung der Standards werten. Dabei fällt, vergleicht man etwa die unmittelbar Fragen der sozialen Sicherheit betreffenden Kommentare von 1961 und 1989, auf, dass sich der optimistische Ton verliert und einer allgemeinen Skepsis Raum gibt130. Trotz der ILO, Old-Age, S. 106. ILO, Old-Age, S. 107. 127 „There is no denying that the objectives of Conventions Nos. 102 and 128 are adhered to more closely in the case of compulsory social insurance schemes; however, the role of voluntary schemes, which are extremely widespread in some countries, has not been overlooked – far from it – provided, of course, that they afford equivalent protection to that offered under statutory schemes“ (ILO, Old-Age, S. 19). 128 „. . . the Committee wishes to point out that the problems facing social security today, and national pension schemes in particular, are by no means due to the nature of the institution itself but are mainly caused by external economic factors, which also affect the other sectors. Furthermore, it considers that the disengagement by the State advocated by some would only shift the problems without solving them. In fact, the State’s role seems even more vital in this field of social policy than anywhere else because it is necessary to forecast in the long term the balance between resources and expenditure in order to guarantee, despite difficult economic conditions, the institutions‘ ability to meet their pension commitments“ (ILO, Old-Age, S. 126). 129 Vgl. die Ausführungen zur personellen Reichweite der Konventionen Nr. 102 und 128: „It should be noted that even if the legislation does not provide expressly for the exclusion of certain categories of workers, difficulties stemming from the definition of the term „employees“ may arise in practice.“ (ILO, Old-Age, S. 28). 130 Vgl. den Kommentar von 1961 (bezogen auf alle Sozialversicherungszweige): „It is encouraging to see that these standards are already reached or exceeded in certain, if not in all types of protection and that the movement seems destined to pursue its course rapidly“ (ILO, Minimum Standards, S. 229); vgl. den Kommentar von 1989: „In many countries, this is a social achievement already considered as inalienable by the population as a whole. Admittedly, the principles laid down in Conventions Nos. 102 and 128 concerning old-age benefits have not yet been implemented in every country. The Committee therefore feels bound to 125 126
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
immer betonten Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Sachverständigenausschusses zeigt sich, dass er keine neutrale Instanz ist oder sein will, sondern sich vielmehr der Aufgabe, die Implementierung der Standards zu fördern, verpflichtet fühlt. Dennoch hält sich der Ausschuss eng an die in den Konventionen festgelegten Vorgaben. Der Unterschied zwischen lex lata und lex ferenda wird – im Gegensatz zu den Kommentaren zu den allgemeinen Menschenrechtspakten – nicht verwischt.
3. Interpretation der Menschen- und Sozialrechtskonventionen des Europarats a) Kompetenz des EGMR zur Auslegung der EMRK Nach Protokoll Nr. 2 zur EMRK von 1963131, in Kraft getreten am 21. 9. 1970, hat der EGMR die Befugnis, zu Fragen, die die Interpretation der EMRK und der hierzu ergangenen Protokolle betreffen, gutachterlich Stellung zu nehmen. Allerdings wird darin die abstrakte Interpretation der in der Konvention enthaltenen Rechte explizit ausgenommen: „Such opinions shall not deal with any question relating to the content or scope of the rights or freedoms defined in Section 1 of the Convention and in the Protocols thereto, or with any other question which the Commission, the Court or the Committee of Ministers might have to consider in consequence of any such proceedings as could be instituted in accordance with the Convention“ (Art. 1 Abs. 2 des Protokolls).
Protokoll Nr. 2 ist durch Protokoll Nr. 11, das das gesamte Kontrollsystem auf eine neue Grundlage stellt132, ersetzt worden. Die Befugnis zur gutachterlichen Beantwortung von Auslegungsfragen steht dem EGMR danach weiter zu; aber auch die Einschränkungen sind geblieben. Das bedeutet, dass ausschließlich in Individual- und Staatenbeschwerdeverfahren ein case law zur EMRK entwickelt werden soll; abstrakte Stellungnahmen zur Bedeutung der einzelnen Bestimmungen sollen damit nicht interferieren133. Im Rahmen der streitigen Verfahren gibt es zwar nach Art. 72 der Verfahrensordnung des EGMR die Möglichkeit, bei besonders schwierigen Fragen der Auslegung der Konvention oder bei Änderungen in der Rechtsprechung die Große stress the need for governments to do everything in their power to overcome their difficulties . . .“ (ILO, Old-Age, S. 126, 127). 131 Protocol No. 2 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, conferring upon the European Court of Human Rights competence to give advisory opinions vom 6. 5. 1963 (ETS No. 44). 132 Protocol No. 11 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, restructuring the control machinery established thereby 11. 5. 1994 / 1. 11. 1998 (ETS No. 155). 133 Vgl. dazu auch Pettiti / Decaux / Imbert, Commentaire, S. 1027 ff.
I. Interpretationsverfahren
261
Kammer anzurufen; aber dieses Verfahren ist nicht mit einem abstrakten Interpretationsverfahren zu vergleichen.
b) Allgemeine Betrachtungen zur ESC Der Sozialrechtsausschuss134 wertet seine eigene Rechtsprechung – er spricht in diesem Zusammenhang explizit von „case law“135 – in „allgemeinen Betrachtungen“ aus. Diese lesen sich wie wissenschaftliche Kommentare, bei denen allerdings eine Diskussion kontroverser Meinungen fehlt. – Im Folgenden sollen als Einzelaspekte die Abgrenzung zwischen sozialer Sicherheit und sozialer Fürsorge, die Interpretation der Pflicht zur fortschreitenden Verbesserung der Sozialschutzsysteme, die Interpretation des Rechts auf soziale Fürsorge und die Bestimmung des Umfangs der Rechte von Ausländern herausgegriffen werden, um einerseits die Argumentationsweise des Sozialrechtsausschusses kritisch zu beleuchten, andererseits aber auch die inhaltlich wichtigen Aspekte bei der Weiterentwicklung des völkerrechtlichen Schutzes von Rechtspositionen im sozialen Bereich aufzuzeigen136.
aa) Auslegung des Rechts auf soziale Sicherheit (Art. 12) und soziale Fürsorge (Art. 13) (1) Abgrenzung zwischen sozialer Sicherheit und sozialer Fürsorge Ein Schwerpunkt der Darlegungen betrifft die Abgrenzung zwischen sozialer Sicherheit („social security“) und sozialer Fürsorge („social assistance“)137. Diese Abgrenzung liegt der Systematik der ESC zugrunde. Soziale Sicherheit wird in Art. 12, soziale Fürsorge in Art. 13 behandelt; die Unterscheidung wird auch in der RESC beibehalten. Die Zuordnung nationaler Maßnahmen zu den verschiedenen Konzepten ist vor allem deshalb bedeutungsvoll, weil eine Kontrolle nur dann möglich ist, wenn die entsprechende Bestimmung von dem Staat auch akzeptiert worden ist138. Nun enthält aber, wie der Sachverständigenausschuss feststellt, der Wortlaut der Bestimmungen keine Anhaltspunkte für eine Abgrenzung. Dementsprechend sind die Ausführungen des Sachverständigenausschusses abstrakt und auf den Text in keiner Weise bezogen; inwieweit aus der Rechtsvergleichung Ursprünglicher Name: Committee of Independent Experts. Vgl. Conclusions XIII-4, S. 36. 136 Von Bedeutung sind insbesondere die allgemeinen Betrachtungen über Sozialen Schutz von 1996 (Conclusions XIII-4, S. 35 ff.) und über die Familie von 1995 (Conclusions XIII-2, S. 25 ff.). 137 Zur Komplexität der Abgrenzung zwischen diesen Begriffen vgl. die Studie von Schmid, Begriffsbildung. 138 Vgl. dazu Kapitel B. 134 135
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
gewonnene Erkenntnisse berücksichtigt werden, ist nicht ersichtlich139. – Entscheidend seien, so der Ausschuss, die Zweckrichtung der Leistungen und die Bedingungen, unter denen sie zuerkannt werden. Für Leistungen der sozialen Fürsorge sei dementsprechend die individuelle Bedürftigkeit ausschlaggebend, die Tatsache, dass die Leistungsberechtigten keiner Institution der sozialen Sicherheit angegliedert seien und keine berufliche Tätigkeit ausgeübt oder Beiträge einbezahlt hätten; zudem seien Leistungen der sozialen Fürsorge regelmäßig subsidiär. Soziale Sicherheit dagegen umfasse universelle Systeme ebenso wie Berufssysteme, Beitragsleistungen ebenso wie nicht auf Beiträgen basierende und gemischte Leistungen. Entscheidend sei, dass diese Leistungen an das Auftreten bestimmter Risiken geknüpft seien140. – Diese Unterscheidung, die der Sachverständigenausschuss selbst als „äußerst kontrovers“ einstuft, gibt auch in der Spruchpraxis vielfach Anlass zu Meinungsverschiedenheiten141. (2) Progressive Verwirklichung des Rechts auf soziale Sicherheit Der Sozialrechtsausschuss greift auch die sehr abstrakte Formulierung des Art. 12 Abs. 3 ESC auf, deren Auslegung sich insbesondere seit den 90er Jahren als problematisch gestaltet. Nach der Bestimmung wird eine dauernde Verbesserung des Sozialsystems gefordert, während Faktum ist, dass Sozialleistungen in der Mehrzahl der Staaten gekürzt werden142. Der Ausschuss steht somit vor dem Dilemma, aufgrund der wörtlichen Auslegung einer 40 Jahre alten Bestimmung etwas fordern zu müssen, was nach der teleologischen Auslegung als nicht mehr adäquat erscheint. Der Ausschuss versucht, eine salomonische Lösung zu finden. Nach seiner Meinung bedeuten leistungsreduzierende Sparmaßnahmen, die getroffen werden, um Mängel des Systems auszugleichen, nicht automatisch einen Vertragsverstoß: „. . . it has clearly made allowances for alterations in social security systems to the extent that these are necessary in order to ensure the maintenance of the system in question ( . . . ) and where any restrictions do not interfere with the effective protection of all members of society against the occurrence of social and economic risks and do not tend to gradually reduce the social security system to a system of minimum assistance“143.
Damit wird nicht die Entwicklung „nach oben“ definiert, sondern bei der Entwicklung „nach unten“ eine Grenzlinie gezogen. Insbesondere werden einzelne 139 Birk (Arbeitsrecht und Rechtsvergleichung, S. 49), der selbst Mitglied des Sozialrechtsausschusses ist, bejaht die Notwendigkeit rechtsvergleichender Arbeit zur Auslegung der ESC, räumt aber ein, dass dies in den Entscheidungen der Sachverständigengremien kaum sichtbar würde. 140 Conclusions XIII-4, S. 35 ff. 141 Vgl. dazu S. 321 ff. 142 Zur Frage, welche Sicherungen das nationale Verfassungsrecht und das internationale Recht allgemein bereitstellen, um einer Reduzierung von Leistungsansprüchen entgegenzuwirken, vgl. Eichenhofer, Reform der sozialen Sicherheit, S. 1029 ff. 143 Conclusions XIV-1, S. 47.
I. Interpretationsverfahren
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Grundprinzipien wie etwa das Prinzip der Solidarität als unverzichtbar herausgestellt; wobei es nicht nur um Leistungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern der Gemeinschaft als ganzen („community as a whole“) geht144. Der Ausschuss vermeidet es so, den in der Vorschrift enthaltenen Begriff „höherer Stand“, auf den das System sozialer Sicherheit fortschreitend zu bringen sei, zu definieren. Die Spruchpraxis im Einzelnen erscheint vor diesem Hintergrund aber als problematisch145. (3) Konkrete Ausgestaltung des Rechts auf soziale Fürsorge Die Auslegung des Ausschusses zum Recht auf soziale Fürsorge ist als rechtsfortbildend anzusehen. Nach dem Wortlaut der Bestimmung wird lediglich gefordert, dass die Vertragsstaaten sicherstellen sollten, dass Bedürftigen eine angemessene Unterstützung gewährt werde. Der Ausschuss interpretiert dies nicht nur als Zuerkennung eines subjektiven Rechts auf soziale Fürsorge, sondern sieht dieses Recht auch durch eine umfassende Rechtsmittelgarantie abgesichert. So müsse eine unabhängige Instanz Entscheidungen in der Sache nachprüfen können; die Einschätzung der Bedürftigkeit und die Festlegung der Höhe der Zahlungen dürfe nicht im vollständigen Ermessen der Behörden bleiben, vielmehr habe die Entscheidung auf der Grundlage zuvor festgelegter, effektiver Kriterien getroffen zu werden; außerdem sei Prozesskostenhilfe zu gewähren. Damit zeichnet der Ausschuss zwar die Entwicklung des modernen Sozialhilferechts nach; eine Begründung dieser über den Wortlaut des Art. 13 ESC weit hinausgehenden Auslegung auf der Grundlage der ESC fehlt aber. (4) Umfang der Rechte von Ausländern im Bereich sozialer Sicherheit Nach dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 4 ESC ist die Gleichbehandlung ausländischer Arbeitnehmer und die Wahrung ihrer Ansprüche als Ziel vorgegeben, das durch Abschluss von bi- und multilateralen Verträgen zu erreichen ist. Diese Vorgabe legt der Sachverständigenausschuss erweiternd aus. Zum einen untersucht er nicht, wie es der Wortlaut vorschreibt, Maßnahmen, die die Vertragsstaaten treffen, um den Gleichbehandlungsgrundsatz im Hinblick auf Leistungen sozialer Sicherheit zu realisieren, sondern prüft unmittelbar, ob es im Rechtssystem der Vertragsstaaten Diskriminierungsfälle auf der Grundlage der Staatsangehörigkeit gibt146. Der zweite Schritt ist, nicht nur unmittelbare, sondern auch mittelbare Diskriminierung anzugreifen147. Und schließlich subsumiert der Ausschuss unter den Begriff Conclusions XIV-1, S. 48. Vgl. dazu S. 316 ff. 146 Konkret wird ausgeführt, Gleichbehandlung bedeute, nicht nur den eigenen Staatsangehörigen und den Staatsangehörigen von bestimmten Vertragsstaaten Ansprüche auf Sozialleistungen einzuräumen und die Leistungen an Staatsangehörige anderer Vertragsparteien nicht an zusätzliche Voraussetzungen zu knüpfen, vgl. Conclusions XIII-4, S. 43. 144 145
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
„Ansprüche aus der sozialen Sicherheit“ auch Leistungen, die, je nach Kategorisierung, auch als Leistungen sozialer Fürsorge zu verstehen wären148. In Art. 12 Abs. 4 ESC überschneiden sich verschiedene Vertragssysteme. Indem gefordert wird, mit bi- und multilateralen Verträgen die in der ESC vorgegebenen Ziele zu erreichen, wird die ESC zu einem Maßstab für die Beurteilung ebendieser Verträge – konkret der sozialrechtskoordinierenden Regelungen von IAO und EG. Damit ergibt sich ein Problem der Kontrolle von Völkerrecht bzw. supranationalem Recht auf der Grundlage von Völkerrecht, ein Problem, das in ähnlicher Weise zwischen EMRK und supranationalem Recht besteht und zu Spannungen zwischen EuGH und EGMR führt149. – Der Sozialrechtsausschuss nimmt das Kontrollrecht über Rechtsakte der EG explizit in Anspruch und stellt fest, dass das Recht der EG im Wesentlichen („largely“) Art. 12 Abs. 4 ESC / RESC entspreche, behält sich aber dennoch ein Prüfungsrecht vor, da die Möglichkeit von Detailänderungen im Rahmen der Verordnung 1408 / 71 bestehe und auch nicht alle Gruppen von potentiell Berechtigten erfasst würden. Insbesondere kritisiert der Sozialausschuss die Rechtslage der türkischen Staatsangehörigen aufgrund des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 3150. – Dieser Kritik wurde allerdings inzwischen der Boden entzogen, da der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit des Assoziationsratsbeschlusses auf in Mitgliedstaaten der EU erworbene Sozialversicherungsansprüche weitgehend geklärt hat151. Im Übrigen betrachtet der Sachverständigenausschuss auch die sozialrechtskoordinierenden Konventionen des Europarats, die beiden vorläufigen Abkommen und die Konvention über soziale Sicherheit152 als die Vorgaben von Art. 12 Abs. 4 ESC nicht vollständig einlösend und fordert, soweit bilaterale Abkommen fehlen, einseitige Maßnahmen der Vertragsparteien153. Dieser Interpretationsansatz wird noch weiter ausgereizt, indem „Gleichbehandlung“ nicht nur als Verbot der unmittelbaren, sondern auch der mittelbaren Diskriminierung verstanden wird; dadurch entstehen Inkonsistenzen und Verwerfungen zwischen den verschiedenen internationalen Normen, insbesondere zwischen verschiedenen Konventionen des Europarats selbst154, die sich insbesondere bei der Gewähr von Familienleistungen wie etwa dem Kindergeld zeigen. Da derartige Leistungen einerseits dem Bereich der sozialen Sicherheit, andererseits dem Bereich der Familie zuzurechnen sind155, der 147 Conclusions XIII-4, S. 44: „Furthermore the Committee is concerned that the Contracting Parties should avoid indirect discrimination, for instance conditions which are imposed on both their own nationals and those of other Contracting Parties but are more difficult for the latter to meet and which therefore represent a greater obstacle for them“. 148 Vgl. S. 261 ff. 149 Vgl. Matthews . / . Großbritannien (No. 24833 / 94 v. 18. 2. 1999). 150 Conclusions XIII-4, S. 51. 151 Vgl. Nußberger, Wirkungsweise, S. 43 ff. 152 Vgl. dazu S. 172 ff. 153 Conclusions XIII-4, S. 54. 154 Vgl. einerseits die European Convention on Social Security, andererseits die ESC. 155 Vgl. zur Abgrenzung S. 267 ff.
I. Interpretationsverfahren
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Ausschuss aber im Zusammenhang mit den allgemeinen Betrachtungen zur Familie dazu ausführlich Stellung nimmt, sollen sie auch hier in diesem Kontext erörtert werden. Aber auch die sonstigen Gesichtspunkte der in der allgemeinen Betrachtung enthaltenen Auslegung zu Art. 12 Abs. 4 ESC / RESC sind nicht vom Wortlaut gedeckt; insbesondere werden gerade einseitige Maßnahmen nicht gefordert. Diese Form von Rechtsfortbildung bestätigt den allgemein akzeptierten Trend der Grundrechtsrechtsprechung, den Schutz des Einzelnen zu erweitern. Ob das Schweigen der Vertragsstaaten zu den Interpretationen zur ESC aber – in gleicher Weise wie etwa die Umsetzung der Urteile des EGMR – als Zustimmung zu werten ist, ist aufgrund des nur sehr eingeschränkten Bekanntheitsgrades der Spruchpraxis des Sozialrechtsausschusses grundsätzlich fraglich. (5) Umfang der Rechte von Ausländern im Bereich sozialer Fürsorge Die auf den schutzbedürftigen Einzelnen orientierte Grundrechtsauslegung ist auch bei Art. 13 Abs. 4 ESC / RESC zu bestätigen. Hier ändert der Sozialrechtsausschuss seine Spruchpraxis ausdrücklich, um den Schutz ausländischer Staatsangehöriger zu verbessern. Die Frage, inwieweit auch ausländischen Staatsangehörigen ein Recht auf Fürsorge zusteht, ist bei einer Zusammenschau der verschiedenen internationalen Regelungen nicht eindeutig zu beantworten156. Die ESC / RESC ist derjenige völkerrechtliche Vertrag, in dem das Recht auf Fürsorge an sich am klarsten und umfassendsten formuliert ist. Inwieweit es allerdings auch für ausländische Staatsangehörige gilt, ist strittig. Eindeutig ist nur, dass Angehörige von Nicht-Vertragsstaaten aus dem Schutzbereich ausgeschlossen sind157. In Artikel 13 werden in den Absätzen 1 bis 3 allgemeine Grundsätze der Ausgestaltung des Sozialhilferechts festgelegt. Absatz 4 befasst sich explizit mit der Rechtsstellung ausländischer Staatsangehöriger und gibt vor, dass die Absätze 1 – 3 gleichermaßen auf Staatsangehörige anderer Vertragsparteien zur Anwendung kommen, die sich rechtmäßig im Gebiet der Vertragsparteien aufhalten, wobei dies in Übereinstimmung mit den Verpflichtungen nach dem Europäischen Fürsorgeabkommen zu geschehen habe. Diese Vorschrift steht nun in Konflikt mit dem Anhang zur ESC, der einen integralen Teil des Vertrags bildet. Darin heißt es wörtlich: „Without prejudice to Article 12, paragraph 4, and Article 13, paragraph 4, the persons covered by Articles 1 to 17 and 20 to 31 include foreigners only in so far as they are nationals of other Parties lawfully resident or working regularly within the territory of the Party concerned . . .“.
156 157
Vgl. dazu S. 147 f. Vgl. dazu S. 150 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Ursprünglich legt der Sachverständigenausschuss das Ineinandergreifen dieser beiden Vorschriften so aus, dass die Rechtsstellung der Ausländer nur nach Art. 13 Abs. 4 ESC geprüft wird, d. h. dann nicht, wenn ein Staat – wie dies etwa für Polen, die Slowakei und Zypern gilt – Art. 13 Abs. 4 ESC nicht akzeptiert hat. Diese Rechtsprechung gibt der Sachverständigenausschuss 1996 auf und prüft die Rechtsstellung der Ausländer im Zusammenhang mit Art. 13 Abs. 1 – 3; begründet wird dies damit, dass der Anhang nur Art. 13 Abs. 4 ESC explizit ausnehme, im Übrigen aber die allgemeine Regelung der Gleichbehandlung der Ausländer aus Vertragsstaaten gelte158. Der Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 4 ESC engt sich damit auf Ausländer ein, die sich rechtmäßig, aber nur vorübergehend im Land aufhalten, dort aber keinen Wohnsitz und keine Arbeit haben, somit vor allem auf Touristen und Studenten. Problematisch ist, dass durch diese Modifizierung der Rechtsprechung die Verpflichtungen der Vertragsstaaten, die die Geltung von Art. 13 Abs. 4 ESC explizit ausgeschlossen haben, geändert werden. Auch ist die neue Auslegung nicht überzeugend, da sich Art. 13 Abs. 4 ESC nach dem Wortlaut eindeutig als lex specialis für die Frage der Rechtsstellung der Ausländer darstellt; dies wird in der Bestimmung im Anhang lediglich bestätigt. Auf dieser Folie werden Art. 13 Abs. 1 – 3 ESC dahingehend verstanden, dass für Leistungen der sozialen Fürsorge eine bestimmte Wohndauer nicht vorausgesetzt werden darf159, dass politische Rechte, soweit sie Ausländern zuerkannt werden, aufgrund von Sozialhilfebezug nicht eingeschränkt werden dürfen und dass eine Rückführung ausländischer Staatsbürger in ihr Heimatland nur wegen eines Antrags auf soziale Fürsorge nicht zulässig ist, solange sie weiter arbeiten oder rechtmäßig im Land wohnen160. Mit letzterem Punkt wird die Ausweisung Bedürftiger nicht für grundsätzlich im Widerspruch zur ESC / RESC stehend gesehen. Allerdings ist eine Ausweisung nur noch in eingeschränktem Umfang möglich, nämlich dann, wenn der Schutz der ESC / RESC nicht mehr greift: wenn die Betreffenden nicht mehr arbeiten und sie keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel mehr haben. Anders formuliert: Ein individuell einklagbarer Anspruch auf soziale Fürsorge besteht dann, wenn das Einkommen zur Sicherung der Existenz nicht ausreicht oder wenn der Betreffende seine Arbeit verliert, nicht durch ein Vorsorgesystem gesichert und deshalb in Not ist, der Aufenthaltstitel aber noch nicht erloschen ist. Ein Recht auf eine Erneuerung des Aufenthaltstitels würde aber auch in diesem Fall nicht bestehen. – Der Schutz, der den Staatsangehörigen aus Vertragsstaaten allein auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 4 ESC gewährt wird, geht so teilweise über den Schutz auf der Grundlage des EFA hinaus161 – insbesondere ist es nicht durch Vorbehalte einschränkbar – teilweise bleibt er aber auch im VerConclusions XIII-4, S. 60 ff. Conclusions XIII-4, S. 61. 160 Conclusions XIII-4, S. 61: „This implies . . . that repatriation on the sole ground that those nationals are asking for social or medical assistance is excluded as long as their regular work or lawful residence on the territory of the Contracting Party concerned lasts“. 161 Vgl. dazu S. 263 ff. 158 159
I. Interpretationsverfahren
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gleich dazu zurück, da die speziellen Schutzbestimmungen gegen Repatriierung nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer nicht eingreifen. Aus Art. 13 Abs. 4 ESC wird die Notwendigkeit einer Notfallhilfe für diejenigen, die sich vorübergehend im Inland aufhalten, abgeleitet. Geeignete Hilfeleistungen sind bis zur Repatriierung erforderlich, wenn eine Repatriierung nach den Einschränkungen des Europäischen Fürsorgeübereinkommens überhaupt in Frage kommt. Nach dieser Auslegung gelten die Vorbehalte, die die Staaten zum Europäischen Fürsorgeabkommen eingelegt haben162, nur mehr für diejenigen Ausländer, die sich vorübergehend im Inland aufhalten, d. h. für die nach Art. 13 Abs. 4 ESC behandelte Sondergruppe, nicht aber für alle ausländischen Staatsangehörigen. Damit vermittelt die ESC / RESC aufgrund der Auslegung durch den Sozialrechtsausschuss Fremden den umfassendsten fürsorgerechtlichen Schutz auf internationaler Ebene. bb) Recht der Familie auf sozialen Schutz Das Recht der Familie auf sozialen Schutz wird von einer Mehrzahl von Bestimmungen der ESC / RESC erfasst; der Ausschuss muss so die Schutzbereiche von Art. 7 (Schutz der Jugendlichen), Art. 12 (Recht auf soziale Sicherheit), Art. 13 (Recht auf soziale Fürsorge) und Art. 16 (Schutz der Familie) voneinander abgrenzen. In dem Bericht über die Familie wird „sozialer Schutz“ („social protection“) definiert als „. . . a combination of measures enabling the family to live together in society“163
und damit neben „sozialer Sicherheit“ und „soziale Fürsorge“ als dritter Begriff eingeführt. Familienleistungen werden nicht begrenzt auf Leistungen für Bedürftige. Vielmehr wird die Notwendigkeit einer umfassenden Familienpolitik betont, die die Voraussetzungen für die freie Entfaltung des Einzelnen schafft164. (1) Abgrenzung zwischen Familienleistungen und Leistungen sozialer Sicherheit Da finanzielle Unterstützungsleistungen für die Familie zugleich auch Leistungen der sozialen Sicherheit sind, stellt sich die Frage, ob derartige Leistungen unter Art. 12 oder unter Art. 16 ESC oder unter beide Vorschriften gleichermaßen fallen. Vgl. dazu S. 199 ff. Conclusions XIII-2, S. 41. 164 „In the Committee’s opinion a family policy of this sort must take the form of diversified action planned in harmony with and as a supplement to existing arrangements for assistance and social security“ (Conclusions, XIII-2, S. 41; Zitat von Conclusions I, S. 75). 162 163
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Nach Meinung des Sachverständigenausschusses sind beide Vorschriften anwendbar, wobei Art. 16 ESC lex specialis ist, da nach Art. 12 ESC aufgrund des Verweises auf Konvention Nr. 102 der IAO und des darin enthaltenen Wahlrechts nicht unbedingt Familienleistungen gewährt werden müssen165. Diese Auslegung ist entscheidend für Staaten, die in der Annahme, Familienleistungen unterfielen nicht Art. 16 ESC, soweit sie zum System sozialer Sicherheit gehören, nur die Anwendbarkeit von Art. 12 ESC, nicht aber von Art. 16 ESC ausgeschlossen haben166. Nach der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses bewirkt aber der Ausschluss von Art. 12 Abs. 4 ESC nicht, dass Familienleistungen nicht doch gleichberechtigt an ausländische Staatsbürger gezahlt werden müssten167. Wendet man Art. 12 und Art. 16 ESC nebeneinander an, sind aber noch weitere Unstimmigkeiten zu klären. Während nach Art. 16 ESC die Gewährung von Familienleistungen für ausländische Staatsbürger nicht von der Erfüllung besonderer Voraussetzungen wie einer bestimmten Dauer des Wohnsitzes im Inland abhängig gemacht werden kann, ist dies nach dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 4 ESC i.V. m dem Anhang ausdrücklich möglich168. Auch hier hat der Sachverständigenausschuss seine Rechtsprechung geändert. Während es ursprünglich jede derartige Bedingung für den Bezug einer Leistung als konventionswidrig eingestuft hat169, stimmt es in den Conclusions XI-1 die eigene Auslegung mit den Bestimmungen anderer im Rahmen des Europarats ausgearbeiteter Übereinkommen ab, eine Interpretation, die es in den „General Considerations“ übernimmt: „Nevertheless, family allowances are a „social security“ benefit and as such can be viewed in the context of Council of Europe instruments (specifically the 1953 Interim Agreements and the 1964 European Code of Social Security), which allow for a qualifying residence period of up to six months to be imposed in respect of non-contributory (family) allowances in order to prevent abuse“170.
Vgl. dazu S. 204 ff. Vgl. zu diesem Punkt die Auseinandersetzung zwischen Dänemark und dem Sachverständigenausschuss; Conclusions XI-1, S. 143. 167 Vgl. den Kommentar des Sachverständigenausschusses: „. . . the non-acceptance of Article 12 para. 4 does not exempt the latter [Contracting Party] from applying certain requirements of Article 16 (social and family benefits) to these nationals“ (Conclusions XIII-2, S. 66). 168 Vgl. die Bestimmung im Anhang „The words ,and subject to the conditions laid down in such agreements‘ in the introduction to this paragraph are taken to imply inter alia that with regard to benefits which are available independently of any insurance contribution a Contracting Party may require the completion of a prescribed period of residence before granting such benefits to nationals of other Contracting Parties“. 169 Conclusions XI-1, S. 99. 170 Conclusions XIII-2, S. 64. 165 166
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(2) Umfang des Diskriminierungsverbots Wie der EuGH171 ist auch der Sozialrechtsausschuss der Ansicht, nicht nur die unmittelbare, sondern auch die mittelbare Diskriminierung von ausländischen Staatsbürgern bei der Gewähr von Familienleistungen verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, obwohl das Recht des Europarats – anders als das Recht der Europäischen Union – nicht auf dem Grundkonzept der Freizügigkeit beruht. Diskriminierungen liegen nach Ansicht des Ausschusses damit immer dann vor, wenn Familienleistungen oder auch im Zusammenhang damit stehende Steuervorteile nur beim Inlandsaufenthalt der Kinder gewährt werden. Auch bei gleichen Voraussetzungen für die Gewähr von Leistungen für Aus- und Inländer ist zu prüfen, ob sich faktische Unterschiede ergeben172. Der Sachverständigenausschuss hält zwar eine Reduktion insbesondere des Kindergeldes im Hinblick auf im Aufenthaltsstaat der Kinder geringere Lebenshaltungskosten für möglich; diese Reduktion muss aber verhältnismäßig sein; der Sachverständigenausschuss nimmt insofern eine Prüfungskompetenz in Anspruch. Die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses erscheint in diesem Zusammenhang in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig. Mit der Annahme einer mittelbaren Diskriminierung für den Fall, dass bestimmte Leistungen nur bei Inlandsaufenthalt gezahlt werden, wird die allgemein den international-rechtlichen Regelungen zugrunde liegende Unterscheidung zwischen exportierbaren und nicht exportierbaren Leistungen untergraben. Sind Leistungen „erdient“, so sollen sie auch dann gezahlt werden, wenn sich der Berechtigte im Ausland aufhält. Sind sie dagegen der von der Allgemeinheit finanzierte Ausgleich besonderer, im konkreten gesellschaftlichen Rahmen bestehender Belastungen, so sind sie auch grundsätzlich an den Aufenthalt des Berechtigten im Inland gebunden. Bei Familienleistungen ist nun allerdings fraglich, wer in diesem Sinn als „berechtigt“ anzusehen ist: die Kinder, die Eltern oder diejenige Person, die sich um die Kinder kümmert. Sachgerecht wäre es, darauf abzustellen, wer de facto die Kinder versorgt173. Damit würde die Zahlung von Kindergeld für im Ausland lebende Kinder den Export einer Leistung darstellen, die als solche nicht zum Export bestimmt ist, wobei allerdings die konkrete rechtliche Ausgestaltung zu berücksichtigen ist174. Dass dies den Interessen Vgl. insbesondere die Entscheidung vom 15. 1. 1986 – Rs C-41 / 84 (Pinna). Vgl. dazu den in den General Considerations zitierten Bericht zu Deutschland: „. . . account should be taken of the objective differences between the situation of foreign workers and their families and that of German citizens, as it was much more likely for migrant workers‘ children to be abroad than for children of German workers, in particular because German law permitted family reunion only in respect of children aged sixteen or under“ (Conclusions XIII-2, S. 70). 173 Vgl. die abweichende Meinung von M. Mikkola zu Art. 12 Abs. 4 und Art. 16 ESC; Conclusions XIII-4, S. 453 ff.; bestätigt Conclusions XV-1, S. 665. 174 Zu unterscheiden sind Leistungen, die für alle Angestellten bzw. alle Einwohner gezahlt werden, um besondere Belastungen auszugleichen, Zusatzleistungen zum Lohn, bedürftigkeitsabhängige Leistungen für abhängig Beschäftigte und bedürftigkeitsabhängige Leistungen für alle Bewohner eines Landes. 171 172
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der betroffenen Wanderarbeitnehmer widerspricht – oftmals gehen sie nur deshalb ins Ausland, um für die Familie eine ausreichende wirtschaftliche Grundlage zu erwirtschaften, und sind aufgrund ausländerrechtlicher Vorschriften daran gehindert, die Kinder mitzunehmen – ist evident. Soweit, wie hier, die Regeln eines multilateralen Vertrags aber keinen Kompromiss zu diesen Fragen erkennen lassen, ist davon auszugehen, dass freie Rechtsfortbildung dem Interesse eines konsolidierten, allgemein beachteten Völkerrechts eher schadet als nützt. (3) Umfang des Schutzes von Kindern und Jugendlichen In Art. 7 Abs. 1 – 9 ESC geht es um den arbeitsrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen, in Absatz 10 um den Schutz gegen „physische und moralische Gefahren, denen Kinder und junge Menschen ausgesetzt sind“, wobei allerdings auch hier der Zusatz erfolgt, dass es sich insbesondere um die Gefahren handele, die unmittelbar oder mittelbar aus der Arbeit resultieren. Art. 16 ESC dagegen garantiert den Schutz der Kinder und Jugendlichen im Rahmen der Familie, nicht aber den Schutz gegen Missbrauch in der Familie. Obwohl sich mit Art. 17 ESC diese Lücke sehr viel leichter schließen ließe, legt der Ausschuss Art. 7 Abs. 10 ESC erweiternd aus: „However, the protection of children and adolescents applies both at work and outside work, and in the latter case the Committee has extended protection to young persons within the framework of the family“175.
Trotz des Bekenntnisses zur dynamischen Auslegung der ESC erkennt der Sachverständigenausschuss, dass er Unzulänglichkeiten des Maßstabes, den er anzuwenden hat, nicht in jeder Hinsicht ausgleichen kann. Ist beispielsweise kein Erziehungsgeld vorgesehen, ist der Ausschuss darauf beschränkt, Informationen aus den einzelnen Staaten zu sammeln, kann aufgrund der Gewährung oder Nicht-Gewährung aber keine positiven oder negativen Stellungnahmen abgeben. Daraus erklärt sich die stellenweise harsche Kritik des Sachverständigenausschusses an der ESC: „. . . the text of the Charter sets certain limits respected by the Committee and, as a consequence, the norms of the Charter are rather removed from social developments on certain points“176.
Vergleicht man die allgemeinen Kommentare zu den Konventionen der IAO, zu den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen und zur ESC, so zeigt sich ein breites Spektrum von Möglichkeiten, methodisch mit inhaltlich ähnlichen Normen internationalen Ursprungs umzugehen. Der Sozialrechtsausschuss nimmt die Normen nicht nur als „Rohmaterial“ für allgemein-sozialpolitische Betrachtungen, bleibt aber auch nicht bei der Auseinandersetzung mit in den Texten enthaltenen Details stehen. Vielmehr setzt er sich mit der Bedeutung des Wortlauts ausein175 176
Conclusions XIII-2, S. 39. Conclusions XIII-2, S. 72.
I. Interpretationsverfahren
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ander, ohne ihn als enge Grenze anzusehen; Rechtsfortbildung ist auch hier nicht die Ausnahme, sondern die Regel177.
c) Allgemeine Beobachtungen zur EOSS Die Kontrolle der Einhaltung der Bestimmungen der EOSS ist insofern atypisch, als verantwortlich dafür nicht ein im Rahmen des Europarats tätiges Sachverständigenkomitee ist, sondern diese Aufgabe vielmehr der Sachverständigenausschuss für die Anwendung der Konventionen und Empfehlungen übernimmt, so dass sich hier die Tätigkeitsfelder von IAO und Europarat organisatorisch überschneiden. Diese Konstruktion liegt aber nahe, da die Bestimmungen der Konvention Nr. 102 der IAO und der EOSS nahezu deckungsgleich sind178. Tritt die revidierte Fassung der EOSS in Kraft, so wird zur Kontrolle ein neu zu gründendes Komitee (European Commission of Independent Experts; Art. 79 Abs. 4 Revidierte EOSS) tätig werden179. Für den Sachverständigenausschuss für die Anwendung der Konventionen und Empfehlungen gibt es keine Kompetenzgrundlage, sich abgelöst von den konkreten Staatenberichten zu den Bestimmungen der EOSS zu äußern180. In den unveröffentlichten Berichten181 finden sich dennoch allgemeine Kommentare, die allerdings nicht Interpretationen zu den einzelnen Vorschriften vorgeben, sondern die Bedeutung der Normen der EOSS lediglich einer allgemeinen Bewertung unterwerfen182. Rückschlüsse auf das konkrete Verständnis der einzelnen Bestimmun177 Zur Arbeitsmethode des Sachverständigenausschusses vgl. auch Birk, Arbeitsrecht und Rechtsvergleichung, S. 48 ff. 178 Vgl. dazu S. 132 f. 179 Council of Europe, Short Guide, S. 45 ff. 180 Möglich wäre allerdings, den Begriff „conclusions“ in Art. 74 Abs. 2 EOSS so auszulegen, dass davon Stellungnahmen zu den jeweiligen Staatenberichten und gleichermaßen allgemeine Stellungnahmen erfasst sind. 181 Offizieller Titel: „Report and Conclusions of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations of the International Labour Organisation on the Annual Reports Submitted to the Secretary General of the Council of Europe on the Application of the European Code of Social Security and the Protocol to the Code“. 182 Vgl. Report and Conclusions of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations of the ILO on the annual reports submitted to the secretary general of the Council of Europe on the application of the European Code of Social Security and the Protocol to the Code September 2000, S. 7 (unveröffentlichtes Manuskript): „These developments give clear signs that, while the social security reform process is still dominated by financial and structural issues, the values of solidarity and care, which lie at the heart of social security, have not been forgotten and are slowly returning to the fore. The diversity of technical approaches put aside, it is in safeguarding these fundamental values of social cohesion, through turbulence of structural change, that the system of international obligations binding member States under the European Code of Social Security and the relevant ILO social security Conventions, of which this Committee forms an integral part, has proved its full worth“.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
gen werden nur in seltenen Ausnahmefällen gezogen; ein Beispiel wäre etwa die Auslegung des Begriffes „suitable employment“ (Art. 20 EOSS)183; grundsätzliche Aussagen zur Methode sind damit nicht möglich.
4. Problematik von allgemeinen Interpretationsverfahren Thomas Buergenthal hat in einem Aufsatz zu den Gutachten des interamerikanischen Gerichtshofs die Forderungen, die an die Interpretation der Bestimmungen von Menschenrechtsverträgen allgemein zu stellen sind, auf die Formel gebracht, es müsse sich um „. . . legally sound judicial rulings conceived in an atmosphere that inspires trust in the deliberative and interpretative processes“
handeln184. Mit Ausnahme der Interpretationsverfahren des IGH zu Bestimmungen der Verfassung und der Konventionen der IAO handelt es sich bei den dargestellten abstrakten Interpretationsverfahren nicht um „judicial rulings“. Vielmehr übernehmen sie eine Funktion, die im nationalen Bereich Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik spielen, indem sie die Entscheidungstätigkeit systematisieren, zu problematischen Einzelfällen Stellung nehmen und zu einzelnen Begriffen Interpretationen liefern. Wie rechtswissenschaftliche Stellungnahmen sind auch die allgemeinen Kommentare der internationalen Kontrollgremien, mögen sie nun „general comments“, „general recommendations“, „general surveys“ oder „general considerations“ heißen, nicht verbindlich, bestimmen aber dennoch das Verständnis der einzelnen Vorschriften, handelt es sich doch um authentische Stellungnahmen derjenigen Organe, die mit der Kompetenz zur Beurteilung der nationalen Staatenberichte betraut sind. Aufgrund dessen drängen sich Fragen zur Adäquanz, Rechtsstaatlichkeit und Legitimation dieser Verfahren auf, vor allem, da bei der Erstellung der allgemeinen Berichte – anders als bei offiziell eingerichteten Interpretationsverfahren – die Positionen derer, die davon betroffen sind, d. h. der Staaten, nur in Ausnahmefällen gehört werden185.
183 „. . . the concept of suitable employment . . . which aims to ensure that unemployed persons are initially directed towards employment where their skills and qualifications are used in the most productive and effective way for their own benefit and that of society as a whole“ (S. 6 des Berichts FN 182); eine Begründung für diese Auslegung wird nicht gegeben. 184 Buergenthal, Advisory Practice, S. 25. 185 Die Möglichkeit einer Stellungnahme der Vertragsstaaten zu den Kommentaren der Sachverständigenausschusses ist nur nach Art. 40 Abs. 5 ICCPR vorgesehen.
I. Interpretationsverfahren
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a) Kompetenz zu abstrakten interpretatorischen Vorgaben Grundproblem ist, wie die Frage zu beurteilen ist, dass die Kontrollgremien entweder überhaupt keine Kompetenz zur Ausarbeitung allgemeiner Stellungnahmen haben oder aber zumindest nicht berechtigt sind, die Bestimmungen der Verträge mit Wirkung für und gegen die Vertragspartner auszulegen oder gar rechtsfortbildend tätig zu werden; dem Sachverständigenausschuss zur IAO ist eine juristische Interpretation der Bestimmungen explizit verboten. Nun kann man in der Tätigkeit der Kontrollausschüsse eine vom Standpunkt des Rechts aus zu vernachlässigende Form einer unverbindlichen kollektiven Meinungsäußerung sehen, die kompetenzrechtlich nicht zu beanstanden ist. Allerdings hieße dies die Wirklichkeit verkennen, denn de facto legen die Stellungnahmen die Grundlage für die Kontrolltätigkeit und damit letzten Endes für die Einschätzung des Verhaltens der Staaten als vertragskonform oder vertragswidrig. Überzeugender ist, eine Kompetenz zur abstrakten Interpretation und auch zur Rechtsfortbildung von Vertragsbestimmungen aufgrund einer für viele Jahre nwidersprochenen Übung zu bejahen. Der Widerspruch Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und Frankreichs gegen den Allgemeinen Kommentar Nr. 24 des Ausschusses für Menschenrechte zu Vorbehalten gegen Vertragsbestimmungen zeigt, dass die Staaten, sind sie der Meinung, zulässige Grenzen werden überschritten, sich durchaus zur Wehr setzen186. b) Auslegungsmethoden aa) Anwendbarkeit der Auslegungsregeln des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (1) Problem der Nicht-Rückwirkung des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge Nach Art. 31 WVK sind Verträge grundsätzlich nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihren Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte ihres Zieles und Zweckes auszulegen. Nun ist die WVK aber erst am 27. 1. 1980 in Kraft getreten. Und da sie nach Art. 4 WVK grundsätzlich nur auf Verträge Anwendung findet, die von Staaten geschlossen werden, nachdem das Übereinkommen für sie in Kraft getreten ist, kommt sie bei der Mehrzahl der hier thematisierten Übereinkommen grundsätzlich nicht zum Zug187. 186 Vgl. die Bemerkungen Großbritanniens, der USA und Frankreichs zu „Allgemeiner Kommentar Nr. 24“ des Ausschusses für Menschenrechte, abgedruckt Gardner, Human Rights as General Norms, S. 185 ff. Reagieren die Staaten allerdings nicht auf die das Recht fortbildenden Kommentare, so ist offen, ob dies signalisiert, dass sie ihnen zustimmen oder aber dass sie es aufgrund der Unverbindlichkeit der Kommentare nicht für nötig halten, explizit zu widersprechen. 187 Vgl. die Daten des Inkrafttretens: EMRK: 1953, ESC: 1965, Sozialrechtskonventionen der IAO (Konvention Nr. 102: 1955, Konvention Nr. 118: 1964, Konvention Nr. 121: 1967,
18 Nußberger
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Kodifizieren aber die Regeln der WVK Völkergewohnheitsrecht, sind sie dennoch anwendbar, wie der EGMR in der Entscheidung „Golder“ explizit ausführt188. Ratione temporis ist die Anwendung der WVK bei den allgemeinen Kommentaren so nicht problematisch. (2) Anwendbarkeit des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge bei abstrakten Interpretationsentscheidungen Soweit ersichtlich nehmen die verschiedenen Sachverständigenausschüsse aber bei Fragen materiell-rechtlicher Auslegung von Einzelbestimmungen – im Gegensatz zur Rechtsprechung des EGMR189 oder des Ausschusses für Menschenrechte bei Einzelbeschwerdeverfahren190, aber auch zur Praxis des interamerikanischen Gerichtshofs bei Gutachtenverfahren191 – nicht explizit auf die Auslegungsregeln der WVK Bezug192. Konvention Nr. 128: 1969, Konvention Nr. 130: 1972, Konvention Nr. 157: 1986, Konvention Nr. 168: 1991, Konvention Nr. 183: 2002), ICESCR: 1976, ICCPR: 1976, CERD: 1969, CEDAW: 1981, CRC: 1989, MWC: 2003. 188 „The Court is prepared to consider, as do the Government and the Commission, that it should be guided by Articles 31 to 33 of the Vienna Convention of 23 May 1969 on the Law of the Treaties. That Convention has not yet entered into force and it specifies, at Article 4, that it will not be retroactive, but its Articles 31 to 33 enunciate in essence generally accepted principles of international law to which the Court has already referred on occasion. In this respect, for the interpretation of the European Convention account is to be taken of those Articles subject, where appropriate, to ‘any relevant rules of the organization’ – the Council of Europe – within which it has been adopted (Article 5 of the Vienna Convention)“ (Golder . / . das Vereinigte Königreich (1975), Serie A Nr. 18; § 29). 189 Vgl. die expliziten Bezugnahmen auf die WVK z. B. in den Entscheidungen des EGMR Golder v. Vereinigtes Königreich (1975), Series A Nr. 18, § 29; Luedicke, Belkacem and Koc . / . Deutschland (1978), Series A Nr. 29, § 39; Johnston and Others . / . Irland (1986), Series A Nr. 112, § 51 ff.; Alberta Union of Provincial Employees . / . Kanada (Nr. 118 / 1982 v. 18. 7. 1986), § 6.3, in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 14 (1987), S. 47 ff.; Loizidou. / . Türkei (1995), Series A No. 310, § 67; Lithgow . / . Vereinigtes Königreich (1986), Series A Nr. 102, § 114 in fine, § 117. 190 Vgl. z. B. Fanali v. Italy, Communication 31. 3. 1983 (No. 75 / 1980), Übersetzung in EuGRZ 1983, S. 407 ff. (Auslegung eines Vorbehalts nach seinem Wortlaut, wobei Ziel und Zweck des Vertrags zu berücksichtigen sind). 191 Vgl. I.A. Court H.R., Advisory Opinions Nos. G 101 / 81 of 22 July 1981, Series A (1984), In the matter of Viviana Gallardo et al., § 20, abgedruckt in: HRLJ 2 (1981), S. 328 ff.; OC –1 / 82 of 24 September 1982, Series A No. 1 (1982), „Other Treaties“ Subject to the Consultative Jurisdiction of the Court (Art. 64 of the American Convention on Human Rights), § 33, abgedruckt in: HRLJ 3 (1982), S. 140 ff.; OC – 7 / 86 of 29 August 1986, Series A No. 7 (1986), Enforceability of the Right to Reply or Correction (Art. 14 (1), 1 (1) and 2 of the American Convention on Human Rights), § 21; OC – 3 / 83 of 8 September 1983, Series A No. 3 (1983), Restrictions on the Death Penalty (Arts. 4(2) and 4 (4) of the American Convention on Human Rights), § 48; vgl. dazu Buergenthal, Advisory Opinion, S. 1 ff. 192 Soweit auf die WVK Bezug genommen wird, betrifft dies andere Fragen, z. B. CCPR Allgemeiner Kommentar Nr. 26 (Continuity of obligations), Sixty-first session 1997, § 1: Frage der Vertragsbeendigung; CESCR General comment No. 9 (The domestic application of
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Das ist damit zu erklären, dass primär und explizit nicht Einzelbestimmungen der Übereinkommen interpretiert werden, sondern vielmehr eine Auswertung der Erfahrungen mit den Berichten der Vertragsstaaten stattfindet. Damit liegen diese allgemeinen Stellungnahmen in der Grauzone zwischen juristischer Interpretation und einer Art „Vertragspolitik“: In der Regel handelt es sich um Kommentare zu aktuell relevanten Problemen, die im Rahmen der Kontrolltätigkeit hervortreten; Interpretationen zu Einzelbestimmungen werden nur implizit gegeben. Dennoch handelt es sich auch bei implizit gegebenen Interpretationen einzelner Vertragsbestimmungen um eine grundsätzlich von den Regeln der WVK bestimmte Auslegungstätigkeit.
bb) Besonderheiten bei der Auslegung von Menschenrechtsverträgen Richtet sich die Interpretation der im Rahmen internationaler Organisation geschlossenen Übereinkommen damit grundsätzlich nach den Regeln des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (Art. 5 WVK), so sind dabei doch Modifikationen und Ergänzungen der allgemeinen Interpretationsregeln aufgrund der besonderen Zielsetzung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes dann zu erkennen, wenn es sich wie bei den Übereinkommen im Rahmen der Vereinten Nationen und des Europarats um Menschenrechtsstandards handelt193; dies gilt dagegen nicht oder nur in eingeschränktem Umfang, soweit es um spezifisch reziprok-verpflichtende Konventionen im Bereich des koordinierenden Sozialrechts geht. Diese Art von Konventionen sind in gewisser Weise Zwitter, da einerseits individuelle Grundrechtspositionen berührt werden, die Rechte zugleich aber auch im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. Die Menschenrechtskommission fasst die Unterschiede zwischen der Auslegung allgemeiner völkerrechtlicher Verträge und spezifischer Menschenrechtsverträge in ihrem Bericht zum Fall „Golder“ folgendermaßen zusammen: „The overriding function of the Convention is to protect the rights of individuals and not to lay down as between States mutual obligations which are to be restrictively interpreted having regard to the sovereignty of these States. On the contrary the role of the Convention and the function of its interpretation is to make protection of the individual effective“194.
Nun ist aber fraglich, ob dies im Verhältnis eins zu eins auch auf Sozialstandards zu übertragen ist. Beim Recht auf Fürsorge kann man zwar davon ausgehen, dass der Einzelne dem Staat in der grundrechtstypischen David-Goliath-Position gethe Covenant), § 3: Art. 27 WVK; zu ausnahmsweisen Bezugnahmen auf die WVK durch das Sachverständigenkomitee der IAO vgl. Wisskirchen, Normensetzende und normenüberwachende Tätigkeit, S. 717. 193 Vgl. dazu Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 782; Bernhardt, Interpretation, S. 65 ff.; Wiesböck, Menschenrechte, S. 1 ff. 194 Golder . / . das Vereinigte Königreich (1975), Serie A Nr. 18, § 57. 18*
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genübersteht und eines effektiven Schutzes bedarf. Zugleich ist aber nicht zu übersehen, dass der Umverteilungseffekt ein ausdifferenziertes Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen nötig macht. Bei der Ausgestaltung des Rechts auf soziale Sicherheit geht es im Kern um Zwangssparen und damit primär um Pflichten, die der Staat dem Einzelnen auferlegt. Schutz ist so gegen den Staat (der Zahlungen verlangt), aber auch durch den Staat (der die Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen schafft) zu verwirklichen. So ist im Einzelnen zu prüfen, inwieweit die mit der Auslegung von Sozialstandards betrauten Sachverständigenausschüsse die im Bereich der klassischen Grundrechte entwickelten Methode der extensiven, effektiven, dynamisch-evolutiven und autonomen Auslegung bei den allgemeinen Kommentaren berücksichtigen. (1) Extensive Auslegung Wie auch bei der Auslegung der Grundrechte im nationalen Bereich wird im Zweifelsfall diejenige Auslegung gewählt, „welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet“195 (extensive Auslegung). Im Bereich des Völkerrechts bedeutet dies, dass von dem Ansatz abgerückt wird, die von den Staaten eingegangenen Verpflichtungen im Zweifel zugunsten der Souveränität restriktiv zu interpretieren, ein Ansatz, der in den Gutachten des StIGH zur Kompetenz der IAO noch ausführlich diskutiert, im Ergebnis aber bereits dort zumindest für nicht unbeschränkt anwendbar erklärt wird196. – Aufgrund des objektivrechtlichen Gehalts der Grundrechtsverträge wird vielmehr diejenige Auslegung gesucht, die individuelle Rechtspositionen gegen den Staat – sei es den Heimatstaat, sei es einen fremden Staat – am besten zur Geltung bringt197. Vgl. z. B. BVerfG E 39, 1 ff. (38), 32, 54 ff. (71), 6, 55 ff. (72). „Dans les discussions devant la Cour, on a soutenu avec beaucoup de force que l’établissement de l’Organisation internationale du Travail comporte une renonciation à certains droits qui dérivent de la souveraineté nationale et que, pour cette raison, la compétence de l’Organisation ne doit pas être étendue par voie d’interprétation. Cette thèse ne manque peutêtre pas de valeur: mais toujours est-il que dans chaque cas spécial la question se réduit forcément à celle de savoir quel est le sens exact des termes mêmes du Traité, c’est à ce point de vue que la Cour se propose d’aborder la question qui lui a été soumise“ (CPJI Série B Nos. 2 et 3, S. 4 – 43). 197 Vgl. dazu die Ausführungen des amerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs (I.A. Court H. R. Advisory Opinion No. OC-3 / 83 of 8 September 1983, Series A No. 3 (1983), Restrictions to the Death Penalty (Art. 4 (2) and 4 (4) of the American Convention on Human Rights, § 50): „In the case of human rights treaties, moreover, objective criteria of interpretation that look to the text itself are more appropriate than subjective criteria that seek to ascertain only the intent of the party. This is so, because human right treaties, ( . . . ), are not multilateral treaties of the traditional type concluded to accomplish the reciprocal exchange of rights for the mutual benefit of the contracting States; ,rather‘ their object and purpose is the protection of the basic rights of individual human beings, irrespective of their nationality, both against the State of their nationality and all other contracting States“; vgl. dazu auch 195 196
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Extensive Auslegung prägt die Spruchpraxis des Sozialrechtsausschusses, da er regelmäßig den Schutzumfang der Einzelbestimmungen erweiternd und die Ausnahmen restriktiv auslegt. Allerdings hat der Überblick über die „allgemeinen Betrachtungen“ gezeigt, dass es auch Ausnahmen zu dem Ansatz einer extensiven Interpretation gibt. So könnte Art. 12 Abs. 3 ESC, wonach die Staaten verpflichtet sind, sich zu bemühen, ihr System sozialer Sicherheit fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen, bei einer extensiven Auslegung als Einfallstor für immer weitergehende Anforderungen an die Absicherung des Einzelnen in staatlichen Sicherungssystemen gesehen werden. Zumindest aber wäre es als ein die individuellen Rechtspositionen im Sozialrecht sicherndes Rückschrittsverbot zu interpretieren. Der Sozialrechtsausschuss beschreitet diesen Weg nicht; die allgemeinen Bemerkungen198 wie auch das case law199 zeigen eine äußerst restriktive Auslegung dieser Bestimmung. Abgestellt wird gerade nicht auf die individuellen Rechtspositionen im Sozialrecht, sondern auf das System als Ganzes. Die Methode der extensiven Auslegung charakterisiert grundsätzlich die allgemeinen Kommentare zu den Menschenrechtsverträgen der Vereinten Nationen. Dies gilt beim ICCPR etwa für die Ausdehnung des Diskriminierungsschutzes auch auf wirtschaftliche und soziale Rechte oder für die Ableitung positiver Verpflichtungen des Staates aus dem Recht auf Leben und dem Recht auf Achtung der Menschenwürde im Strafvollzug. Für den ICESCR wäre die Interpretation des Rechts auf Gesundheit als Beispiel zu nennen. Im Gegensatz dazu ist in den allgemeinen Überblicken des Sachverständigenausschusses zu den Sozialrechtskonventionen der IAO die Methode extensiver Auslegung der Einzelbestimmungen nicht nachzuweisen; vielmehr übt sich der Ausschuss in großer Zurückhaltung. Dies ist damit zu erklären, dass die Sozialrechtskonventionen der IAO im Grunde keine objektiv-rechtlichen Menschenrechtsverträge sind, auch wenn sie mit diesen vieles gemeinsam haben. Vielmehr basieren sie auf der Vorstellung, die Staaten müssten sich zu gleichen Leistungen im Sozialbereich verpflichten, um den Wettbewerb nicht zu verzerren. Der Schutz des Einzelnen steht nicht im Vordergrund. Damit ist der Grundsatz, dass unter mehreren möglichen Interpretationen diejenige zu wählen ist, die die Souveränität am wenigsten einschränkt, nicht außer Kraft gesetzt, auch wenn der Ausschuss in seiner Spruchpraxis darauf nicht expressis verbis Bezug nimmt. Einer extensiven Interpretation steht im Übrigen auch das explizit beschränkte Mandat des Sachverständigenausschusses entgegen.
Nowak, CCPR-Kommentar, Einführung, Rdnr. 20; Kokott, Beweislastverteilung, S. 408 ff.; Matscher, Methods of Interpretation, S. 63 ff. 198 Vgl. S. 262 f. 199 Vgl. S. 316 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
(2) Effektive Auslegung Wie Henry Shue feststellt, ist die Proklamation eines Rechts noch nicht die Verwirklichung eines Rechts200. Aufgrund dessen ist die Interpretation von Menschenrechten grundsätzlich darauf gerichtet, zur tatsächlichen Durchsetzung der schriftlich fixierten Rechte beizutragen. Das bedeutet, dass diejenige Auslegung zu wählen ist, die dieses Ziel am besten fördert (effektive Auslegung). Das deutlichste Beispiel, das sich in den allgemeinen Kommentaren findet, ist die Stellungnahme des Sozialrechtsausschusses zu dem Recht auf Fürsorge. So wird die Fixierung eines Rechts auf Fürsorge für nicht ausreichend erachtet; nach Meinung des Sachverständigenausschusses wird das Recht erst dann effektiv garantiert, wenn es als subjektives Recht auch gerichtlich durchsetzbar ist. „Effektiv“ ist auch die Auslegung der progressiv zu verwirklichenden Menschenrechte als zum Teil unmittelbar geltend201. (3) Dynamisch-evolutive Auslegung Mit Hilfe des Instruments Recht werden einzelne Rechtspositionen fixiert, aber diese Rechtspositionen unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel. Das ist das Dilemma, dem sich die praktische Umsetzung insbesondere von auf internationaler Ebene festgelegten Sozialstandards gegenüber sieht, da sich nicht nur der Prozess der Ausarbeitung dieser Normen oftmals über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte erstreckt, sondern auch Änderungen und Aufhebungen gleichermaßen schwierig und zeitaufwendig sind. – Galt beispielsweise die Frau bei Ausarbeitung der ESC im Arbeitsleben als grundsätzlich schutzbedürftig, werden Schutzmaßnahmen, knüpfen sie nicht speziell an die Mutterschaft an, ein halbes Jahrhundert später als Diskriminierung verstanden. Auch im Rahmen der EMRK zeigt sich ein vergleichbarer gesellschaftlicher Wandel: Die Unterscheidung zwischen ehelichen und nicht ehelichen Kindern, die Bestrafung von homosexueller Betätigung Erwachsener, die Züchtigung von Kindern wurde in den 50er Jahren als unproblematisch angesehen, wenig später aber bereits als Verstoß gegen die in der EMRK kodifizierten Menschenrechte bewertet202. So bewegen sich die Kontrollausschüsse, die zur Auslegung und Anwendung der Standards berufen sind, zwischen Szylla und Charybdis. Szylla ist die Verfestigung von Werten, die von der gesellschaftlichen Meinung nicht mehr getragen werden, Charybdis die Weiterentwicklung der ursprünglich Shue, Basic Rights, S. 15 (vollständiges Zitat als Leitspruch der Arbeit zitiert). Vgl. dazu S. 263. 202 Unter Umständen kann die Weiterentwicklung gesellschaftlicher Auffassungen auch die Kündigung von Verträgen notwendig machen. Als Beispiel wäre die Kündigung des Adoptionsabkommens (European Convention on the Adoption of Children 24. 4. 1967 / 26. 4. 1968 (ETS No. 058)) des Europarats durch Schweden im Jahr 2002 zu nennen; damit zog Schweden die Konsequenz aus einer Öffnung der Adoption auch für gleichgeschlechtliche Paare, da diese nach dem Vertrag ausgeschlossen wird. 200 201
I. Interpretationsverfahren
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vorgegebenen Wertvorstellungen ohne Rückbindung auf die rechtlichen Vorgaben. Sereni hat die Gratwanderung der Interpreten auf eine markante Formel gebracht: „It cannot be the task of the interpreter to change the content of a norm; but if the content of a norm has undergone a change in social reality, the interpreter must take account of this“203.
Der Gefahr, dass die rechtliche Fixierung von Grundrechten zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Status quo zementieren und damit der Weiterentwicklung entgegenwirken könnte, wird damit begegnet, dass Menschenrechtsverträge nicht statisch, sondern dynamisch im Licht der jeweiligen gesellschaftlichen und sozialen Umstände interpretiert werden (dynamisch-evolutive Auslegung)204. Deutlich wie kein anderes der Sachverständigenkomitees bekennt sich der Sozialrechtsausschuss zu einer dynamischen Interpretation, die eine Anpassung des Textes an neue Gegebenheiten möglich macht, ohne den Wortlaut ändern zu müssen: „Most of the Charter’s provisions are formulated in general terms, which gives considerable importance to their interpretation and has the advantage of permitting social and economic developments to be followed without amendments to the actual text“205.
Beispiele aus der Spruchpraxis zum ICESCR wären etwa die Einbeziehung von Behinderten und alten Menschen in den Schutzbereich des Diskriminierungsverbots – hier hat sich, wie auch der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte explizit anerkennt, das gesellschaftliche Bewusstsein in den 60er Jahren im Vergleich zu den 90er Jahren gewandelt. Dynamisch-evolutive Auslegungen zu den Normen der IAO-Konventionen sind dagegen bei der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses für die Anwendung der Konventionen und Empfehlungen nicht nachzuweisen. Vielmehr wird der Rechtszustand de lege lata erklärt und die Option de lege ferenda entgegengestellt206. (4) Autonome Auslegung Die allgemeinen Kommentare der verschiedenen Sachverständigenkomitees liefern auch Belege dafür, dass die Auslegung der Rechtsbegriffe „autonom“ und 203 Sereni, Diritto internazionale I (1956), S. 182, zitiert bei Matscher, Methods of Interpretation, S. 70). 204 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 782, Bleckmann, Völkerrecht, Rdnr. 371; Bernhardt, Evolutive Treaty Interpretation, S. 11 ff.; Matscher, Methods of Interpretation, S. 68 ff.; Ganshof van der Meersch, Interprétation, S. 201 ff.; Buß, Grenzen der dynamischen Vertragsauslegung, S. 323 ff. 205 Conclusions XIII-2, S. 25. 206 Vgl. die Beispiele S. 256 ff. Dies gilt zwar für den Bereich der sozialen Sicherheit, nicht aber für andere Fragen wie etwa die Vereinigungsfreiheit, aus der rechtsfortbildend ein Streikrecht abgeleitet wird; vgl. dazu ausführlich von Maydell, Concept of Political Strikes, S. 107 ff.; Wagner, Internationaler Schutz, S. 213 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
damit abgelöst von der jeweiligen nationalen Rechtssystematik erfolgt. Handelt es sich um abstrakte Rechtskonzepte, die auch vom jeweiligen Vertragskontext nicht weiter präzisiert werden, ist es möglich, die Auslegung auf einen Rechtsvergleich zwischen verschiedenen nationalen Rechtsordnungen oder auch auf einen Rechtsvergleich verschiedener völkerrechtlicher Verträge zu stützen. Das Vorgehen der verschiedenen Sachverständigenkomitees zeigt, dass hier noch kein Konsens zur Anwendung einer bestimmten Methode besteht. Dies gilt etwa für die Auslegung von „social security“ und „social assistance“ durch den Sozialrechtsausschuss. Auf die Rechtsordnung des Mitgliedsstaats, dessen Recht auf Übereinstimmung mit der ESC überprüft wird, wird nur im Ansatz Rücksicht genommen; im Übrigen wird – gewissermaßen freischwebend – ein eigenständiges Konzept entwickelt207. Ein weiteres Beispiel wäre die Auslegung des Begriffes „ältere Menschen“. Zwar wird die Personengruppe der „Älteren“ im ICESCR nicht erwähnt. Da der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aber in seinem allgemeinen Kommentar Nr. 6 „Alter“ unter „anderen Status“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 ICESCR subsumiert, obliegt ihm auch, die zu schützende Personengruppe abzugrenzen. Der Ausschuss entwickelt den Begriff autonom, wobei es die Ergebnisse der statistischen Dienste der Vereinten Nationen bzw. des Europarats heranzieht, dabei allerdings ein uneinheitliches Vorgehen konstatiert: Der statistische Dienst der Vereinten Nationen geht von Personen älter als 60 Jahre, der statistische Dienst des Europarats von Personen älter als 65 Jahre aus. Der Ausschuss optiert für eine Auslegung im Einklang mit der sonstigen Praxis der Vereinten Nationen208. Bei der Bestimmung des Begriffes „disability“ nimmt der Ausschuss auf andere normative Texte internationalen Ursprungs Bezug209. „Recht auf Gesundheit“ definiert er abweichend vom sehr umfassenden Ansatz der WHO210, ohne dies aber im Einzelnen zu begründen211. Auch der Sachverständigenausschuss 207 „Whilst taking into consideration the views of the state concerned as to whether a particular benefit should be seen as social assistance or as social security, the Committee pays most attention to the purpose of and the conditions attached to the benefit in question“ (Conclusions XIII-4, S. 36); vgl. dazu im Einzelnen S. 262 f. 208 General Comment No. 6 The economic, social and cultural rights of older persons (1995) § 9. 209 „There is still no internationally accepted definition of the term ,disability‘. For present purposes, however, it is sufficient to rely on the approach adopted in the Standard Rules of 1993, which state: ‘The term ,disability‘ summarizes a great number of different functional limitations occurring in any population . . . People may be disabled by physical, intellectual or sensory impairment, medical conditions or mental illness. Such impairments, conditions or illnesses may be permanent or transitory in nature‘“ (General Comment No. 5 Persons with disabilities (1994) § 3). 210 „. . . a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“. 211 General Comment No. 14 The right to the highest attainable standard of health (Art. 12 of the Covenant) (2000) § 4.
I. Interpretationsverfahren
281
der IAO rekurriert auf rechtliche Regelungen in anderen internationalen Verträgen212. In der Spruchpraxis der Sachverständigenkomitees finden sich aber auch Gegenbeispiele zur autonomen Auslegung. So gibt etwa der Ausschuss für Menschenrechte an, der Begriff „Familie“ sei nicht in allgemeiner Form zu definieren. Deshalb solle jeder Staat in seinem Bericht angeben, wie der Begriff in der jeweiligen nationalen Gesetzgebung eingegrenzt werde213. cc) Sonstige Auslegungsmethoden (1) Historische Auslegung Die historische Auslegung ist der dynamisch-evolutiven Auslegung entgegengesetzt. Ermittelt werden soll die Bedeutung der Norm gerade im Zeitpunkt ihrer Entstehung. Für das Verständnis der Grundrechte ist dieser Ansatz nicht besonders hilfreich, da damit das Entwicklungspotential der Normen abgeschnitten wird. Bei den allgemeinen Kommentaren zu den Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen und des Europarats finden sich dementsprechend nur sehr vereinzelt Hinweise auf die Entstehungsgeschichte der Normen, etwa, wenn es darum geht, eine sehr weite Auslegung als nicht contra legem darzustellen214. Auf die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Normen greift aber der Sachverständigenausschuss der IAO zurück, um die Bedeutung der Normen im Einzelnen zu erschließen. Dies lässt sich daraus rechtfertigen, dass die Aufgabe des Sachverständigenkomitees explizit auf „technische“ Angaben beschränkt ist und wertende Auslegungen ausgeschlossen sein sollen – der Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte der Normen ist eine Möglichkeit, sich auf objektives Material bei der Auslegung zu stützen. Zudem ist das Verfahren der Normsetzung im Rahmen der IAO weitgehend formalisiert215. Die Mitgliedstaaten werden in den Vorbereitungsprozess einbezogen; aufgrund der Diskussion und Abstimmung über die Normen in den triparitär zusammengesetzten Gremien der IAO sind kontroverse Positionen und Entscheidungen aus den Materialien unschwer erkennbar. (2) Berücksichtigung der Folgen einer Entscheidung Nach der Rechtsprechung des EGMR ist es ein allgemeines Rechtsprinzip, die Folgen einer Entscheidung immer mit zu berücksichtigen: Vgl. z. B. die Interpretation des Begriffes „residents“ in Konvention Nr. 102; vgl. S. 212. Allgemeiner Kommentar Nr. 19 (ICCPR) § 2. 214 Vgl. den Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des im ICESCR enthaltenen Diskriminierungsverbots im Zusammenhang mit der Subsumtion von Behinderten unter die Bestimmung; vgl. S. 241 f. 215 Vgl. dazu Osieke, International Labour Organisation, S. 143 ff.; Valticos, Droit international du travail, S. 215 ff. 212 213
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
„,the practical consequences of any judicial decision must be carefully taken into account‘, but ,it would be impossible to go so far as to diminish the objectivity of the law and compromise its future application on the ground of the possible repercussions which might result, as regards the past, from such a judicial decision‘“216.
Besonderheit der abstrakten Interpretationsverfahren ist aber, wie dargestellt, dass die Sachverständigenkomitees nicht mit einer konkreten Fallgestaltung konfrontiert sind, sondern abgelöst von Einzelfragen räsonieren, wie eine bestimmte Norm zu verstehen sei. Potentielle Folgen von interpretatorischen Vorgaben werden so weder in einem kontradiktorischen Verfahren erörtert, noch sind sie aus einer bestimmten Sachverhaltskonstellation erkennbar. Aufgrund dessen ist zu beobachten, dass in den hier analysierten allgemeinen Kommentaren praktische Konsequenzen, die sich aus einem bestimmten (weiten) Verständnis der Normen ergeben, nicht zur Sprache gebracht werden. Das in der Entscheidung des EGMR angesprochene potentielle Spannungsverhältnis zwischen einer sich aus der Sicht des Rechts als „richtig“ darstellenden Entscheidung und möglichen, unter Umständen nicht gewollten oder nicht so gewollten Konsequenzen wird ausgeblendet. Interpretiert beispielsweise der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte das Recht auf Gesundheit in Art. 13 ICESCR so, dass alle Leistungen – unabhängig von den jeweils erbrachten Vorleistungen – allen gleichberechtigt zu gewähren seien, so ist eine praktische Konsequenz dieses Normverständnisses die Entwertung jeglicher Vorleistungen. Derartige potentielle Folgen werden aber nicht in Betracht gezogen.
dd) Problem des Begründungsdefizits abstrakter Interpretationsentscheidungen Der Stil der abstrakten Interpretationsentscheidungen der verschiedenen Sachverständigenkomitees ist als Dekretstil zu bezeichnen. Verschiedene mögliche Interpretationsweisen werden nicht erörtert und abgewogen, wie es beispielsweise in den Gutachten des StIGH geschieht217. Lediglich die Ergebnisse werden vorgestellt, wenn es etwa heißt „the interpretation has been too narrow“ oder „the right comprises. . . “. Dies ist vor allem dann problematisch, wenn die Interpretationen nicht explizit am Wortlaut des Normtexts festgemacht werden. Denn auch soweit eine extensive Auslegung als grundsätzlich anerkannte Interpretationsmethode gilt, ist der Text der konkreten Bestimmung notwendigerweise Ausgangspunkt jeder Interpretation218. Diese Regel wird aber in verschiedenen der allgemeinen Kommentare nicht beachtet. So wird etwa nicht erklärt, warum das im ICCPR enthaltene Gebot, die Marckx . / . Belgien (1979), Serie A, Nr. 31, para. 58. Vgl. etwa die Auseinandersetzungen um die Interpretation von Art. 3 der Konvention Nr. 4 der IAO, zu der der Richter Anzilotti eine „dissenting opinion“ verfasst hat. 218 Vgl. Matscher, Methods of Interpretation, S. 65: „But it is clear that the text of the treaty itself is given first priority and must be the starting point for any interpretation . . .“. 216 217
I. Interpretationsverfahren
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Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Ausübung der im Pakt festgelegten bürgerlichen und politischen Rechte sicherzustellen, auch auf wirtschaftliche und soziale Rechte zu beziehen ist. Weder der Kommentar zu Behinderten noch der Kommentar zu den Rechten älterer Menschen, den der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ausgearbeitet hat, kann an den Wortlaut des Übereinkommens anknüpfen219. Mit dem Begründungsdefizit, das als typisch für die abstrakten Kontrollentscheidungen anzusprechen ist, wird auch das Legitimationsdefizit im Hinblick auf die Interpretationstätigkeit der Sachverständigenkomitees vergrößert. Diese Fragestellung ist grundsätzlich im Zusammenhang mit dem Problem der Rechtsfortbildung durch die Judikative im internationalen Bereich zu sehen220, die Lauterpacht am Beispiel der Rechtsprechung des IGH folgendermaßen auf den Punkt bringt: „In the international sphere the problem is complicated, on the one hand, by the requirement of caution and restraint called for by the sovereignty of States and by the voluntary and, therefore, precarious nature of the jurisdiction of international tribunals. It is intensified, on the other hand, by the strong inducements to supplement and remedy the deficiencies and inconsistencies of an imperfect system of law“221.
Auch wenn sich bei Grund- und Menschenrechten, wie dargestellt, die Gewichte verschieben und der Grundsatz, im Zweifel sei die Auslegung zu wählen, die die Souveränität der Vertragsstaaten am wenigsten einschränkt, nicht zur Geltung kommt, so bleibt doch das Problem bestehen. Es ist nur scheinbar abgeschwächt, indem die allgemeinen Kommentare für niemanden unmittelbar bindend sind. Soweit die Komitees in der Folge die Verurteilung einzelner Vertragsstaaten wegen Verstößen gegen die Übereinkommen auf derart „freie“ Interpretationen stützen und durch Querverweise auf die eigene „Jurisprudenz“ ein in sich konsistentes System aufbauen, sind die konkreten Auslegungen doch unmittelbar für die Beteiligten relevant. Je mehr sie sich als Auslegungen des den Vertragstexten tatsächlich zukommenden normativen Sinnes darstellten, desto mehr Überzeugungskraft käme ihnen zu. Der Mangel an juristisch stichhaltigen Argumenten für ein bestimmtes Textverständnis und das Fehlen einer Auseinandersetzung mit kontroversen Rechtsmeinungen222 rückt die allgemeinen Kommentare dagegen in die Nähe eines juristisch nicht determinierten politischen Diskurses223. 219 Vgl. General Comment No. 5: Persons with disabilities (1994) § 5: „The Covenant does not refer explicitly to persons with disabilities“; General Comment No. 6 The economic, social and cultural rights of older persons (1995) § 11: „Neither the Covenant nor the Universal Declaration of Human Rights refers explicitly to age as one of the prohibited grounds“. 220 Lauterpacht, International Court, S. 434; Nawaz, Judicial Decisions of the International Court of Justice, S. 526 ff. 221 Lauterpacht, International Court, S. 434. 222 Ansätze für kontroverse Diskussionen ließen sich allenfalls in den abweichenden Stellungnahmen von einzelnen Mitgliedern der Sachverständigenausschusses sehen, die etwa bei den Kommentaren zur ESC mit abgedruckt werden. 223 Zur theoretischen Auseinandersetzung mit dieser Problematik vgl. Kapitel E.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Zusammenfassung Die allgemeinen, von konkreten Fällen abgelösten Kommentare der Sachverständigenkomitees, denen die Kontrolle der Implementierung der sozial- und menschenrechtlichen multilateralen Verträge obliegt, haben wesentlich zum Verständnis und auch zur Dynamisierung der internationalen Sozialstandards beigetragen. Dies ist als neue Entwicklung im Völkerrecht anzusprechen, auf internationaler Ebene ermöglicht durch einen mit dem Ende des Ost-West-Konflikts versachlichten Dialog, auf europäischer Ebene intensiviert aufgrund einer Neugewichtung sozialer Grundrechte. Das methodische Vorgehen bei der Abfassung der allgemeinen Kommentare ist noch nicht konsolidiert. Am einen Ende der Skala steht die Auslegung der Konventionen der IAO, die wesentlich auf den Wortlaut gestützt wird und die historische Bedeutung mit berücksichtigt. Nahe am Text, dennoch aber rechtsfortbildend ist die Auslegungsmethode des Sozialrechtsausschusses, der auf der Grundlage der ESC tätig wird. Die Auslegung der Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen ist ans andere Ende der Skala zu stellen. Die Normen werden nicht als einzelne Einheiten, sondern in ihrer Gesamtheit gesehen; Bedeutungen werden in den Vertragstext hineingelegt, nicht daraus abgeleitet; allgemein sozialpolitische Betrachtungen werden nur lose mit den einzelnen Bestimmungen in Beziehung gebracht. Da die Interpretationsverfahren nicht kontrovers sind und mögliche Gegenpositionen nicht artikuliert werden können, lässt sich allgemein von einem Dekretstil bei der Auslegung sprechen. Das unterschiedliche Vorgehen der einzelnen Sachverständigenkomitees entspricht dem zur Verfügung stehenden Normmaterial. Auch hier ist eine graduelle Abstufung zu erkennen. Die Konventionen der IAO sind wesentlich detaillierter und konkreter als die ESC; diese wiederum ist weiter spezifiziert als die Menschenrechtspakte. Die verschiedenen Auslegungsmethoden machen das Dilemma im Umgang mit internationalen Sozialstandards offenbar. Konkrete Vorgaben zementieren zeitgebundene Vorstellungen und engen den Entscheidungsspielraum bei der Gestaltung nationaler Sozialpolitik in ungewollter Weise ein. Offene Vorgaben dagegen sind in unterschiedlicher Weise und auch für unterschiedliche Zwecke instrumentalisierbar; sie vermitteln keine Rechtssicherheit.
II. Kontrollverfahren 1. Überblick über die einzelnen Verfahren Haben sich die Staaten rechtlich verbindlich verpflichtet, bestimmte internationale Sozialstandards einzuhalten, so findet eine konkrete Überprüfung nationaler Sozialgesetze an völkerrechtlichen Standards in einer Vielzahl von Formen statt; das Spektrum reicht von Berichtsverfahren über Staatenbeschwerdeverfahren, Kol-
II. Kontrollverfahren
285
lektivbeschwerdeverfahren bis zu Individualbeschwerdeverfahren und Klagen. Schwerpunkt der Darstellung im Folgenden ist die Frage, in welcher Weise völkerrechtliche Sozialstandards im Rahmen dieser Verfahren konkret ausgestaltet bzw. weiterentwickelt werden. Allgemeines IndividualKontrollKollektivStaatenbeschwerdeverfahren beschwerde- beschwerde- verfahren mit zu Staatenverfahren verfahren unverbinlicher berichten Stellungnahme ICCPR224
+
ICESCR225
+
CEDAW226
+
227
CERD
228
CRC
229
MWC
232
+ +
+
+
+
+
+
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+
EMRK ESC
+
+
230
231
+
+
EOSS
+
IAO-Konventionen233
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Individualbeschwerdeverfahren mit verbindlicher Entscheidung
+
+
+
+
224 Allgemeines Berichtsverfahren: Art. 40 ICCPR, Staatenbeschwerdeverfahren: Art. 41 (fakultativ), Individualbeschwerdeverfahren: 1. Fakultativprotokoll. 225 Allgemeines Berichtsverfahren: Art. 16 ICESCR, Resolution 1985 / 17 ECOSOC; Entwurf eines Individualbeschwerdeverfahrens. 226 Allgemeines Berichtsverfahren: Art. 17 CEDAW, Individualbeschwerdeverfahren: Fakultativprotokoll (zur Unterzeichnung aufgelegt am 10. 12. 1999). 227 Allgemeines Berichtsverfahren: Art. 9 CERD, Staatenbeschwerdeverfahren: Art. 11 CERD, Individualbeschwerdeverfahren: Art. 14 CERD (fakultativ), Art. 80 ff. Verfahrensordnung des Ausschusses zur Beseitigung der Rassendiskriminierung. 228 Allgemeines Berichtsverfahren: Art. 44 CRC. 229 Allgemeines Berichtsverfahren: Art. 74 MWC, Staatenbeschwerdeverfahren: Art. 76 MWC (fakultativ; noch nicht in Kraft getreten, da noch kein Staat eine entsprechende Erklärung abgegeben hat), Individualbeschwerdeverfahren: Art. 77 (fakultativ, noch nicht in Kraft getreten, da noch kein Staat eine entsprechende Erklärung abgegeben hat). 230 Staatenbeschwerdeverfahren: Art. 33 EMRK, Art. 46 der Verfahrensordnung des EGMR, Individualklagen: Art. 34 EMRK, Art. 49 der Verfahrensordnung des EGMR. 231 Allgemeines Berichtsverfahren: Art. 21 ESC, Kollektivbeschwerdeverfahren: Kollektivbeschwerdeprotokoll (Additional Protocol to the European Social Charter Providing for a System of Collective Complaints 9. 11. 1995 / 1. 7. 1998 (ETS No. 158)). 232 Allgemeines Berichtsverfahren: Art. 74 EOSS.
286
C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
2. Weiterentwicklung internationaler Sozialstandards in allgemeinen Kontrollverfahren zu Staatenberichten Es ist ein Charakteristikum der Normen internationalen Ursprungs, die Rahmenvorgaben zur Regelung von Fragen im Verhältnis Bürger – Staat enthalten, dass von den Vertragsstaaten in verschiedenen Abständen Berichte über die Entwicklung von Recht und Praxis gefordert und der Kontrolle durch ein internationales unabhängiges Sachverständigengremium unterworfen werden. Grundproblem dieser Verfahren ist, dass dabei der Kontrollierte (der jeweilige Vertragsstaat) dem Kontrollierenden selbst das Material zur Verfügung stellt, anhand dessen die Überprüfung stattfinden soll: „Die Füchse sollen selbst angeben, wie viele Hühner sie gefressen haben“234. Dennoch hat sich diese Form des Berichtsverfahrens zur Kontrolle der Einhaltung der aufgrund internationaler Übereinkommen übernommenen Verpflichtungen insbesondere im Bereich der Menschenrechte allgemein durchgesetzt. Grundsätzlich werden Informationen mit Hilfe von Fragenkatalogen abgerufen. Eine Vergleichbarkeit der von den verschiedenen Mitgliedstaaten gelieferten Berichte ist dennoch nicht gegeben. Insbesondere wäre es ein Trugschluss anzunehmen, dass ein bestimmtes Problem nur in dem Land bestünde, in dem es erwähnt wird. Spricht beispielsweise nur der deutsche Bericht die fehlende soziale Sicherung Prostituierter als Problem an und greift dies auch der Sachverständigenausschuss in seiner Stellungnahme auf235, so bedeutet das Schweigen der anderen Staatenberichte zu diesem Thema in keiner Weise, dass das Problem dort befriedigend gelöst wäre. Deshalb verbietet es sich grundsätzlich, die Kommentare der Sachverständigenkomitees horizontal vergleichend zu lesen; vielmehr geht es jeweils nur um einen vertikal ausgerichteten Dialog zwischen internationaler Kontrollinstanz und Nationalstaat. Um die informationelle Basis zu erweitern, wurden gerade im sozialen Bereich in verschiedener Weise auch die Sozialpartner in den Dialog mit einbezogen236. In der Praxis hat man neben den institutionalisierten noch weitere Wege gefunden, um relevante Daten zu erlangen. So werden zunehmend auch von NGOs zur Verfügung gestellte Materialien sowie sonstige Erkenntnisse über die Entwicklungen in einem Land berücksichtigt, in den Berichten dann aber auch entsprechend nachgewiesen237. – Dies ist hilfreich: Kontroverse Fragen werden zumeist dann auf233 Allgemeines Berichtsverfahren: Art. 22 der Verfassung der IAO, Staatenbeschwerdeverfahren: Art. 26 der Verfassung der IAO, Kollektivbeschwerdeverfahren: Art. 24 der Verfassung der IAO. 234 Vgl. ausführlich zu dieser Grundproblematik des internationalen Menschenrechtsschutzes Simma, International Human Rights, S. 167 ff. 235 Concluding Observations of the Committee of the Elimination of Discrimination Against Women: Germany 02 / 02 / 2000.A / 55 / 38, paras. 287 – 333. 236 Vgl. z. B. die Regelung des Art. 23 ESC. 237 Vgl. z. B. die vermehrt ab 2000 in den Berichten des Sozialrechtsausschusses zur ESC auftauchenden Hinweise auf zusätzliche Quellen, unter anderem auch auf allgemein
II. Kontrollverfahren
287
gegriffen, wenn Informationen von dritter Seite eingehen238. Außerdem wurde das primär schriftliche Verfahren verschiedentlich durch unmittelbare mündliche Aussprachen ergänzt239. Das Grundproblem der mangelnden Kooperation der Staaten – oftmals werden Berichte nicht oder aber zu spät abgegeben oder die konkret gestellten Fragen nicht beantwortet – ist aber nach wie vor ungelöst240. In der Regel gibt es zu jedem Vertrag bzw. Vertragssystem ein eigenes Kontrollkomitee, wobei die Berichte zu den Menschenrechtsverträgen der Vereinten Nationen für sich stehen, während es im Rahmen der IAO und des Europarats ein mehrstufiges Verfahren gibt, da die auf Sachfragen beschränkten Berichte der jeweiligen Sachverständigenausschüsse auf politischer Ebene diskutiert werden und zu den Empfehlungen an die einzelnen Mitgliedstaaten in einem demokratischen Verfahren eine Abstimmung stattfindet. InterInternationale nationales Organi- Übereinsation kommen Vereinte Nationen
Erstellung eines Berichts durch ein Sachverständigenorgan
Überprüfung der Sachverständigen berichte
Abschließende Stellungnahmen zu den einzelnen Staatenberichten
ICCPR
Ausschuss für Menschenrechte
Abschließende Bemerkungen des Ausschusses241 (Concluding Observations)
ICESCR
Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Abschließende Bemerkungen des Ausschusses242 (Concluding Observations)
CEDAW
Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau
Abschließende Bemerkungen des Ausschusses243 (Concluding Observations)
zugängliche statistische Datensätze oder Kommentare von Gewerkschaften oder anderen NGO’s. 238 Vgl. etwa die Berichte des Sachverständigenausschusses für die Anwendung der Konventionen und Empfehlungen, der strittige Fragen in der Regel erst auf Anregung durch die Gewerkschaften aufgreift. 239 Vgl. zu den Veränderungen die Einzelberichte in Klein, Monitoring. 240 Vgl. dazu die Einzelberichte in Klein, Monitoring; vgl. auch Chapman, Violations Approach, S. 28. 241 Diese Möglichkeit wurde eingeführt nach dem Ende des Kalten Krieges: Report of the Human Rights Committee, UN Doc. A / 46 / 40 (10. 10. 1991), para. 45; CCPR / C / 79 (2. 9. 1992); übernommen in Art. 70 (3) der Verfahrensregeln; vgl. dazu Klein, Reporting System, S. 22; Joseph, New Procedures, S. 5 ff. 242 Vgl. Alston / Simma, First Session, S. 747 ff.; Alston / Simma, Second Session; S. 603 ff., Simma, State Reports, S. 37 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
InterInternationale nationales Organi- Übereinsation kommen Vereinte Nationen
IAO
Erstellung eines Berichts durch ein Sachverständigenorgan
Überprüfung der Sachverständigen berichte
Abschließende Stellungnahmen zu den einzelnen Staatenberichten
CERD
Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung
Abschließende Bemerkungen244 (Concluding Observations)
CRC
Ausschuss für die Rechte des Kindes
Abschließende Bemerkungen des Ausschusses (Concluding Observations)
MWC
Ausschuss für den Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien
Abschließende Bemerkungen (Concluding Observations)
Alle Konventionen
Sachverständigenausschuss zur Anwendung der Konventionen und Empfehlungen der IAO
Konferenzausschuss Allgemeiner Bericht über die Anwendung (General Report); Liste der Verstöße der Konventionen und Empfehlungen (Conference Committee on the Application of Conventions and Recommendations)
Sozialrechtsausschuss
Ministerrat
Abschließende Stellungnahmen (Conclusions) des Ministerrats mit 2 / 3-Mehrheit der Mitglieder der Vertragsstaaten
Sachverständigenausschuss zur Anwendung der Konventionen und Empfehlungen der IAO
Ausschuss der Sozialversicherungsexperten des Europarats (Committee of Experts on Social Security of the Council of Europe)
Abschließende Stellungnahmen (Conclusions) des Ministerrats mit 2 / 3-Mehrheit aller Mitglieder des Europarats
Europarat ESC
EOSS
Die Sachverständigenkomitees legen sich in ihren Stellungnahmen zu den Staatenberichten bei Interpretationen von Einzelbestimmungen selten fest. Sie zeigen 243 244
Vgl. Schöpp-Schilling, Convention, S. 71 ff. Vgl. dazu Wolfrum, International Convention, S. 49 ff., S. 61 ff.
II. Kontrollverfahren
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lediglich auf, welche Regelungen des jeweiligen nationalen Rechts potentiell inkompatibel mit den jeweiligen internationalen Vorgaben sind, und fordern weitere Informationen an, ohne eine abschließende Entscheidung zu treffen. Dennoch lässt sich die These aufstellen, dass die Normen im Rahmen der allgemeinen Berichtsverfahren konkretisiert und auch fortentwickelt werden; dieser Form der Materialisierung der oft abstrakten normativen Postulate ist im Folgenden im Einzelnen nachzugehen. a) Berichtsverfahren zu den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen aa) Berichtsverfahren zum ICESCR245 Wesentlicher Fokus einer juristisch fassbaren Konkretisierung der völkerrechtlichen Sozialstandards ist das Berichtsverfahren zum ICESCR246. Aus der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses ist zu entnehmen, was unter den im Übereinkommen enthaltenen, nur sehr allgemein formulierten Rechten, dem Recht auf soziale Sicherheit (Art. 9), dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 11) und dem Recht auf das jeweils erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit (Art. 12) im Einzelnen zu verstehen ist. Mit den einzelnen Feststellungen wird versucht, die abstrakten und sehr umfassenden, an die Einzelstaaten im ICESCR gestellten Forderungen in einer Weise auszulegen, die der Aufgabe des Paktes, einen gemeinsamen Standard aller Staaten im Sozialbereich zu definieren, gerecht wird. Ziel ist, einen Mittelweg zu finden zwischen einer allumfassenden wörtlichen Interpretation, der eine utopische Vorstellung von einem „idealen Staat“ zugrunde liegen würde, und einer eingeschränkten subjektiven Interpretation, die die Entscheidungsfreiheit des Staates nur unwesentlich einengen und den Umfang der Kontrolle auf ein Mindestmaß 245 Vgl. dazu Alston, Out of the Abyss, S. 332 ff., Simma, Vergessene Rechte, S. 867 – 882, Simma, Internationale Kontrolle, S. 579 – 594, Simma, Examination, S. 31 – 48, Simma, Ausschuss, S. 191 ff., Simma, Implementation, S. 75 ff., Alston / Simma, First Session, S. 747 ff., Alston / Simma, Second Session, S. 603 ff. 246 Als der Pakt im Jahr 1976 in Kraft trat, waren die Bestimmungen nur über ein sehr rudimentäres Kontrollverfahren abgesichert. Nach Art. 16 ICESCR verpflichteten sich die Vertragsstaaten, Berichte über die von ihnen getroffenen Maßnahmen und über die Fortschritte zu erstellen, die hinsichtlich der Beachtung der in dem Pakt anerkannten Rechte erzielt wurden. Die Berichte waren dem Generalsekretär der Vereinten Nationen vorzulegen, der sie dem Wirtschafts- und Sozialrat übermittelte. Dieser war aber wiederum aus Staatenvertretern zusammengesetzt, so dass eine unabhängige Kontrolle durch Dritte nicht stattfinden konnte. Simma (Internationale Kontrolle, S. 582) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Karikatur eines internationalen Kontrollverfahrens“; mit der Einsetzung eines unabhängigen, aus Sachverständigen zusammengesetzten Kontrollkomitees hat sich die Situation aber grundlegend geändert; vgl. dazu Alston, Out of the Abyss, S. 332 ff., Alston / Simma, First Session, S. 747 ff.; Alston / Simma, Second Session, S. 603 ff.; Hunt, Social Rights, S. 18 ff.
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reduzieren würde247. Das Grundproblem bei der Auslegung ist, dass von den Staaten nicht gefordert wird, bestimmte Rechte zu garantieren, sondern bestimmte Rechte fortschreitend zu verwirklichen248. Eine Möglichkeit ist, den erreichten status quo im jeweiligen Vertragsstaat im Verhältnis zu einem bestimmten Ziel zu messen. Voraussetzung dafür wäre, das Ziel der „sozialen Sicherheit“, des „angemessenen Lebensstandards“ etc. konkret zu bestimmen. Der andere Ansatz ist, von einem Kernbestand der Rechte auszugehen und dafür eine Garantie einzufordern. In diesem Fall gilt es, nicht das Ziel, sondern den Kern normativ fassbar zu machen. Auf dieser Grundlage lassen sich Abweichungen als Verletzungen rügen249. Mit Hilfe des Diskriminierungsverbotes lassen sich allerdings bei beiden Ansätzen Verstöße gegen den Pakt monieren, ohne Ziel oder Kern der Vorschriften zu definieren. Es genügt nämlich festzustellen, dass eine Gruppe von potentiell Berechtigten im Vergleich zu einer anderen Gruppe von potentiell Berechtigten benachteiligt wird, ohne dass dafür ein rechtfertigender Grund ersichtlich ist. – Die Spruchpraxis des Ausschusses für soziale und wirtschaftliche Rechte zeigt, betrachtet man die bisherige Praxis, dass diese Art der Untersuchung von Diskriminierungen bei der Gewährung sozialer Leistungen im Vordergrund steht. Im Übrigen finden sich sowohl Stellungnahmen, die den Status quo im Verhältnis zum Ziel untersuchen, als auch solche, die Verletzungen des Kernbestands monieren. Bei der ersteren Methode ist ein innovativer Ansatz das so genannte „benchmarking“. Das bedeutet, dass ein Vertragsstaat selbst ein Ziel in Form von Sozialindikatoren oder „benchmarks“ vorgibt, das er bis zu der nächsten Berichtabgabe zu erreichen gedenkt. Die Fortschritte werden dann daran gemessen. Idealerweise erfolgt die Zielfestsetzung aufgrund eines gesellschaftlichen Dialogs, an dem die betroffenen Gruppen beteiligt werden. – Voraussetzung für diese Vorgehensweise ist, dass sich die Vertragsstaaten darauf einlassen und Zielvorgaben formulieren. In einer Vielzahl von Staatenberichten finden sich entsprechende Aufforderungen des Sachverständigenausschusses250. Der Sachverständigenausschuss nimmt in seinen „Concluding Observations“ in der Regel nicht auf die konkreten Normen des Übereinkommens Bezug; das Verfahren lässt sich vielmehr als „Gesamtsubsumtion“ bezeichnen. Damit ist es nicht möglich, die einzelnen Bestimmungen des Übereinkommens klar voneinander abzugrenzen. So lässt sich beispielsweise nicht klären, ob die Frage des Aufbaus eines funktionierenden Gesundheitssystems unter Art. 12 (Recht auf Gesundheit) oder Art. 9 (Recht auf soziale Sicherheit) zu fassen ist. Unterernährung ist einer247 Vgl. zu dem für den Ausschuss in diesem Zusammenhang bestehenden Dilemma Alston, Out of the Abyss, S. 352. 248 Vgl. dazu den General comment No. 3: Article 2 (Implementation at the national level) (1981), S. 240 f. 249 Vgl. zu diesem „violations approach“ im Gegensatz zu dem Versuch, die progressive Verwirklichung der Rechte zu messen, Chapman, Violations Approach, S. 23 ff. 250 Vgl. z. B. Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Germany.04 / 12 / 98.E / C.12 / 1 / Add.29 para. 27.
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seits als Gesundheitsproblem (Art. 12), andererseits auch als Problem der NichtZusicherung eines angemessenen Lebensstandards (Art. 11) zu verstehen. Das Recht auf Mindestsicherung kann als Element des Rechts auf soziale Sicherheit (Art. 9) oder auch als Element der Garantie eines angemessenen Lebensstandards (Art. 11) angesehen werden. Wie bei den anderen Sachverständigenkomitees ist auch die Sprache des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte diplomatisch; Probleme bei der Umsetzung des Vertrags werden in der Regel „mit Bedauern“ festgestellt. Nur in seltenen Fällen spricht der Sachverständigenausschuss von einem „Vertragsbruch“, wie etwa bei diskriminierenden Regelungen zum Grundeigentum (Israel)251, beim Fehlen einer gesetzlichen Garantie des Streikrechts (Großbritannien)252, beim Fehlen eines Zugangs zu frischem Trinkwasser für einen Teil der Landbevölkerung (Irak)253, bei der Verweisung ausländischer Arbeitskräfte außer Landes mit der Begründung, sie würden die sozialen Probleme im Land vergrößern (Libyen)254, bei der Deportation HIV-infizierter Wanderarbeitnehmer (Libyen)255 ebenso wie bei der rechtlichen und faktischen Diskriminierung von Frauen in Bezug auf Eigentum (Kamerun)256. – Die Tatsache, dass bei der Mehrzahl dieser Rügen eine diskriminierende Praxis angegriffen wird, zeigt ein Leitmotiv bei der Auslegung des ICESCR, das für die anderen Pakte im Übrigen gleichermaßen bedeutsam ist: in dubio contra discriminationem. Dies ist, wie dargestellt, ein pragmatischer Ansatz: Während sich die Frage, ob notwendige sozialpolitische Maßnahmen ergriffen werden oder nicht, einer juristischen Beurteilung „von außen“ weitgehend entzieht, lassen sich bei der Subsumtion von Einzelsachverhalten unter konkrete Normen Ungleichbehandlungen objektiv erkennen257. Der Sachverständigenausschuss nimmt bei seinen Ausführungen vor allem auf statistische Daten (z. B. Prozentsatz der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, Zahl der Arbeitsunfälle, Anteil des Einkommens an der Mietzahlung, Auftreten bestimmter Krankheiten, insbesondere von AIDS, Alkoholismus, Niveau der 251 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Israel. 04 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add. 27 para. 11. 252 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland. 04 / 12 / 97. E / C.12 / 1 / Add.19, para. 11. 253 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Iraq. 16 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.17, para. 21. 254 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Libyan Arab Jamahiriya. 16 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.15, para. 17. 255 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Libyan Arab Jamahiriya. 16 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.15, para. 18. 256 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Cameroon 8 / 12 / 99. E / C.12 / 1 / Add.40, para. 13. 257 Zur historischen und ideengeschichtlichen Entwicklung des Gleichheitsgedankens im Bereich der Menschenrechte allgemein Stolleis, Entwicklung des Gleichheitssatzes, S. 7 ff.
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Ernährung, etc.) Bezug; die Analyse rechtlicher Regelungen tritt dagegen in den Hintergrund. Problem bei der Bewertung der statistischen Daten ist, dass es keine absoluten Standards gibt. Aufgrund dessen arbeitet der Ausschuss in der Regel mit Vergleichsstatistiken, mit denen er die Situation verschiedener gesellschaftlicher Gruppen innerhalb eines Landes einander gegenüberstellt (z. B. Müttersterblichkeit bei Analphabetinnen bzw. bei Frauen mit einer Grundausbildung) bzw. die aktuell bestehende Situation mit einer früheren vergleicht (z. B. im Hinblick auf Reduktionen der Sozialhilfeleistungen in Kanada258). Häufig werden Daten auch auf regionaler Ebene miteinander verglichen (z. B. die Feststellung, dass Kindersterblichkeit in Kolumbien am höchsten in Südamerika ist259). Ein wichtiger Bezugspunkt ist das jeweils für das Land bestimmte Existenzminimum im Vergleich zum Mindesteinkommen sowie die Verteilung des Vermögens unter der Gesamtbevölkerung. Problematisch sind allerdings Wertungen, die keinen Vergleichspunkt enthalten (z. B. die Kritik an einer „hohen“ AIDS-Rate in Deutschland260). In Bezug auf das Recht auf soziale Sicherheit wird nur die Absicherung gegen die „klassischen“ Risiken analysiert, d. h. die Risiken, die auch von Konvention Nr. 102 erfasst werden; neue Entwicklungen wie etwa die Absicherung gegen Pflegebedürftigkeit oder finanzielle Unterstützung während eines Erziehungsurlaubs werden nicht angesprochen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Beantwortung der Frage, ob ein Staat seine Verpflichtungen nach Art. 9 ICESCR erfüllt hat, ist, ob für alle „klassischen“ Risiken Leistungen vorgesehen sind261. Auch die Frage, welcher Teil der Bevölkerung von dem jeweiligen Sicherungssystem erfasst wird, ist von Bedeutung. Gerügt wird, wenn bestimmte Berufsgruppen (z. B. Hausangestellte oder Heimarbeiter) ausgeschlossen sind. Ein zentrales Problem ist, inwieweit die Sicherungssysteme auch diejenigen erfassen, die im informellen Sektor beschäftigt sind; dies können im Einzelfall bis zu 30 % der Bevölkerung sein262. Eine nur freiwillige Sicherung wird für nicht ausreichend 258 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Canada 10 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add.31, para. 27. 259 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Colombia. 06 / 12 / 95. E / C.12 / 1995 / 18, para. 181. 260 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Germany. 04 / 12 / 98.E / C.12 / 1 / Add.29, para. 23. 261 Vgl. z. B. die Kritik am australischen System, das keine Leistungen bei Mutterschaft kennt (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Australia 01 / 09 / 2000. E / C.12 / 1 / Add.50), oder am System von Saint Vincent and the Grenadines, das außer bei Mutterschaft auch bei Arbeitsunfällen und Arbeitslosigkeit keine Leistungen vorsieht (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Saint Vincent and the Grenadines 02 / 12 / 97. E / C.12 / 1 / Add.21). 262 Vgl. z. B. die Stellungnahmen zu Peru (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Peru 16 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.14), Argentinien (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Argentinia 8 / 12 / 99. E / C.12 / 1 / Add.38) und Guatemala (Concluding Observations of the
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erachtet263. Berücksichtigt werden auch rein faktische Probleme wie die NichtAuszahlung von Renten264. Mit diesen Interpretationen weicht der Sachverständigenausschuss in mehrfacher Hinsicht von den Vorgaben in den Konventionen der IAO ab. Danach ist, selbst wenn ein Staat alle sozialrechtlichen Konventionen ratifiziert hat, nicht erforderlich, dass tatsächlich alle Risiken vom jeweiligen Schutzsystem erfasst sind – wie dargestellt, bestehen insoweit vielfach Ausschlussmöglichkeiten. Auch ist der in den einzelnen Konventionen geforderte Deckungsgrad regelmäßig vergleichsweise niedrig265; der Ausschluss einzelner – auch schutzbedürftiger – Gruppen von Arbeitnehmern würde keinen Verstoß darstellen; die im informellen Sektor Beschäftigten werden grundsätzlich nicht erfasst. Ein wesentliches Kriterium bei der Beurteilung der in den Vertragsstaaten bestehenden Systeme sozialer Sicherheit ist, inwieweit die einzelnen Regelungen Ausländer diskriminieren. So wird es etwa gerügt, wenn die Rentenzahlungen an Ausländer niedriger sind oder ausländische Arbeitnehmer nicht an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen können. Eine besondere Problematik ist die Zahlung von Leistungen an Ausländer ins Ausland – diese wird aber nur in Einzelfällen untersucht266. Nach ähnlichen Kriterien werden auch die verschiedenen nationalen Gesundheitssysteme auf ihre Kompatibilität mit dem ICESCR geprüft. Zentral ist die Frage, welcher Teil der Bevölkerung Zugang zu Gesundheitsleistungen hat und wer de facto (z. B. aufgrund von hohen Zuzahlungen) oder de iure (z. B. Beschränkung der Gesundheitsversorgung von Asylbewerbern auf Notfallhilfe) ausgeschlossen ist. Als Sonderproblem wird mehrfach die Familienplanung und die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen thematisiert. Auch Wartelisten für chirurgische Eingriffe, wie sie in England, Australien und Irland bestehen, sind nach Meinung des Ausschusses eine Einschränkung des Rechts auf Gesundheit bzw. des Rechts auf soziale Sicherheit. Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Guatemala 28 / 05 / 96. E / C.12 / 1 / Add.3). 263 Vgl. z. B. die Stellungnahmen zu Nigeria (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Nigeria 13 / 05 / 98. E / C.12 / 1 / Add.23). 264 Vgl. z. B. die Stellungnahmen zu Russland (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Russian Federation 20 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.13), Kirgisien (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Kyrgyzstan 01 / 09 / 2000. E / C.12 / 1 / Add.49) und Peru (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Peru 16 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.14). 265 Nach Konvention Nr. 102 sind in der Regel 50 % der Arbeitnehmer (einschließlich Frauen und Kinder), 20 % der erwerbstätigen Bevölkerung (einschließlich Frauen und Kinder) oder 50 % der gesamten Wohnbevölkerung, deren Einkommen unter einem bestimmten Niveau liegt, gegen die verschiedenen Risiken abzusichern. 266 Vgl. z. B. Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Iraq 12 / 12 / 97. E / C.12 / 1 / Add.17.
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Im Hinblick auf das Risiko Arbeitslosigkeit werden vor allem die aktive Arbeitsmarktpolitik, aber auch die Kompensationssysteme untersucht. Ist der prozentuale Anteil der von Leistungen bei Arbeitslosigkeit Erfassten im Vergleich zur gesamten Zahl der Arbeitslosen besonders gering, so kann darin ein Verstoß gegen den Pakt liegen. Dies gilt auch, wenn bestimmte Kategorien von Arbeitnehmern (z. B. Landarbeiter, Hausangestellte, Bauarbeiter und Staatsbedienstete) ausge-schlossen sind. Geprüft wird zudem auch der Anteil von Frauen, Ausländern, Immigranten und Flüchtlingen an den Arbeitslosen; das Augenmerk liegt auf aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für diese so genannten „vulnerable groups“. Die weiteren Zweige der sozialen Sicherheit kommen im Vergleich zu Alter, Gesundheit und Arbeitslosigkeit nur selten zur Sprache. Beispielsweise werden die Maßnahmen Italiens zur Verminderung der hohen Zahl von Arbeitsunfällen als nicht ausreichend kritisiert267; bei Irland wird angemerkt, die Familienleistungen deckten die Kosten für Kindererziehung nicht ab268 – eine erstaunliche Einzelkritik, da dies wohl grundsätzlich weder erreicht noch auch überhaupt angestrebt wird. Für die Bekämpfung von Armut ist allgemeiner Maßstab der prozentuale Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Einzelprobleme bei der Gewährung von Sozialhilfe werden gesehen, wenn das Existenzminimum nicht adäquat definiert wird, so dass nicht alle Bedürftigen tatsächlich vom System erfasst werden. Als nicht vertragskonform werden auch Praktiken angesehen, die diskriminierend sind, wie etwa die „workfare“-Programme oder die Zahlungen für Wohnraum unmittelbar an den Vermieter (Kanada)269. Zu der von der IAO als problematisch angesehenen Privatisierung der Rentenversicherung in verschiedenen südamerikanischen Ländern finden sich nur vage Stellungnahmen: „The Committee is concerned about the privatization of the social security system, which may exclude from certain benefits those not in a position to contribute to an individual pension account, such as the unemployed, underemployed, lower-paid workers and those employed in the informal sector“270.
Explizit kritisiert wird lediglich die Regelung in Argentinien, dass Rentenzahlungen bei wirtschaftlichen Engpässen des Staates reduziert werden können271. 267 Concluding Observations of the Committee on Italy 23 / 05 / 2000. E / C.12 / 1 / Add.43, para. 12. 268 Concluding Observations of the Committee on Ireland 14 / 05 / 99. E / C.12 / 1 / Add.35, para. 13. 269 Concluding Observations of the Committee on Canada 10 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add.31, para. 30. 270 Concluding Observations of the Committee on Mexico 8 / 12 / 99. E / C.12 / 1 / Add.41, para. 19. 271 Concluding Observations of the Committee on Argentinia 8 / 12 / 99. E / C.12 / 1 / Add.38, para. 15.
Economic, Social and Cultural Rights: Economic, Social and Cultural Rights: Economic, Social and Cultural Rights: Economic, Social and Cultural Rights: Economic, Social and Cultural Rights:
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Bei Ecuador wird die Unterfinanzierung des Systems der sozialen Sicherheit und die niedrige Quote der vom System Erfassten als negativ gewertet272. Auch die Umstrukturierungs- und Sparmaßnahmen in den europäischen Ländern unterwirft der Sachverständigenausschuss keiner detaillierten Prüfung: „The Committee expresses its concern that the ongoing reform of the social security system may have adverse consequences for the underprivileged sectors of society“273.
Die Frage, wie die Bestimmungen des Übereinkommens ins innerstaatliche Recht umgesetzt werden, ist grundsätzlich von den jeweiligen Vertragsparteien zu entscheiden. Der Sachverständigenausschuss hat dazu aber in seinem allgemeinen Kommentar Nr. 3 konkrete Vorgaben gemacht274, deren Einhaltung er auch im Einzelnen überprüft. Grundsätzlich wird es als nicht ausreichend angesehen, die Normierungen in dem Pakt nur als unverbindliche Orientierungsrichtlinien zu verstehen. Zumindest teilweise handelt es sich nach Ansicht des Ausschusses um unmittelbar anwendbare Bestimmungen; aufgrund dessen verlangt der Ausschuss im Einzelnen den Nachweis von Gerichtsentscheidungen, die unmittelbar auf die Normen des Paktes verweisen275. Unklar ist, inwieweit die im Pakt garantierten Rechte in die Verfassung aufzunehmen und auch auf einfachgesetzlicher Ebene abzusichern sind. Die fehlende Garantie sozialer Rechte in der Verfassung wird etwa bei Israel276 und Peru277 kritisiert, die verfassungsmäßige Garantie bei der Schweiz278 für nicht ausreichend gehalten; in den abschließenden Bemerkungen zu den anderen Vertragsstaaten wird auf diese Frage aber nicht eingegangen. Zum Teil wird das Auseinanderfallen von Verfassungsrecht und Praxis kritisiert. Inkonsistent ist die Praxis des Sachverständigenausschusses, die Nicht-Ratifikation von IAO-Übereinkommen zu monieren; als allgemeinen Grundsatz lässt sich die Forderung nach einer Ratifikation der jeweils einschlägigen Konventionen nicht nachweisen279. 272 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Ecuador 07 / 06 / 2004. E / C.12 / 1 / Add.100, para. 20, 21. 273 Vgl. Schweiz (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Switzerland 07 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add.30, para. 23), Niederlande (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: the Netherlands 16 / 06 / 98. E / C.12 / 1 / Add.25, para. 16), Spanien (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Spain 28 / 05 / 96. E / C.12 / 1 / Add.2, para. 7), Schweden (Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Sweden 07 / 06 / 95. E / C.12 / 5 / Add.40, para. 9). 274 Vgl. S. 240 f. 275 Vgl. Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Dominican Republic 05 / 12 / 96.E / C.12 / 1 / Add.6 para. 12. 276 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Israel. 04 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add. 27. 277 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Peru 16 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.14. 278 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Switzerland 07 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add.30.
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Die Auslegung, die so zum Teil einzelne Verletzungen aufgreift, zum Teil den Status quo einer progressiven Verwirklichung der Menschenrechte misst, ist aleatorisch; sie entwickelt sich in Art eines Frage-Antwort-Spiels. Begründungen für die implizit gegebenen Auslegungen werden nicht geliefert: Warum sind Familienplanung und Schwangerschaftsabbrüche Bestandteil des Rechts auf Gesundheit? Warum werden Zahlungen für Wohnraum direkt an die Vermieter als diskriminierend eingestuft? – Die Standards haben keine allgemein und abstrakt definierbare Bedeutung; sie nehmen erst in der Auseinandersetzung mit den Problemen, die in den Staatenberichten aufscheinen, Form an. Zudem haben sie eine relative Bedeutung im Vergleich zu dem wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstand des jeweils überprüften Staates. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Normen des ICESCR Grundfunktionen von „Recht“ erfüllen oder aber ein „Aliud“ im Vergleich zum Recht darstellen280.
bb) Berichtsverfahren zu den anderen Menschenrechtspakten In den Berichtsverfahren zu CEDAW, CERD und CRC werden Fragen der sozialen Sicherheit nur am Rande berührt. In den Kontrollverfahren zur Einhaltung der Bestimmungen des CEDAW findet das Recht auf soziale Sicherheit grundsätzlich nur dann Berücksichtigung, wenn Einzelregelungen Frauen diskriminieren. Dies gilt etwa für die fehlende sozialrechtliche Absicherung von Prostituierten in Deutschland281 oder die Nachteile von nicht-verheirateten oder geschiedenen älteren Frauen bei Altersrenten und Leistungen sozialer Sicherheit in Österreich, Spanien und Großbritannien282. Wie bereits erwähnt dürfen diese Einzelkommentare aber nicht horizontal gelesen und für einen Vergleich der Situation in den verschiedenen Ländern ausgewertet werden; relevant ist allein die vertikale Perspektive Sachverständigenausschuss – Einzelstaat. Viele der Probleme wie Kindersterblichkeit, gesundheitliche Versorgung von Kindern, Unterernährung, die in den Kontrollverfahren zum ICESCR angespro279 Beispielsweise werden Schweden und Australien wegen der Nicht-Ratifikation des Übereinkommens Nr. 103 gerügt; bei anderen Vertragsstaaten, die gleichermaßen das Übereinkommen nicht ratifiziert haben, fehlt aber ein entsprechender Hinweis. Warum im sozialrechtlichen Bereich überhaupt nur Übereinkommen Nr. 103, nicht aber andere grundlegende Übereinkommen wie insbesondere Übereinkommen Nr. 102 zur Sprache kommen, ist nicht ersichtlich. 280 Vgl. dazu ausführlich Kapitel E. 281 Concluding Observations of the Committee of the Elimination of Discrimination Against Women: Germany 02 / 02 / 2000.A / 55 / 38, paras. 287 – 333. 282 Vgl. z. B. den Kommentar zu Österreich Concluding Observations of the Committee of the Elimination of Discrimination Against Women: Austria 15 / 06 / 2000.CEDAW / C /2000 / II / Add.1: „The Committee is concerned about the situation of single women and, in particular, the disadvantages suffered by never-married and divorced elderly women in terms of retirement pensions and social security benefits“.
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chen werden, treten gleichermaßen bei der Beurteilung der Erfüllung der Verpflichtungen der Staaten zum CRC hervor. Die Praxis des Sachverständigenausschusses zeigt, dass vor allem die Verpflichtung der Vertragsstaaten nach Art. 4 CRC, unter Ausschöpfung der verfügbaren Mittel Maßnahmen zur Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu treffen283, ebenso wie die Pflicht, eine ausreichende Gesundheitsversorgung der Kinder284 zu gewährleisten, regelmäßig thematisiert werden. Eine Konkretisierung des Verständnisses von sozialem Schutz im Sinne einer Abgrenzung zwischen Kernbereich und ergänzendem Gestaltungsspielraum und eines Herausfilterns potentieller Verstöße leisten die „abschließenden Bemerkungen“ zum CRC aber nicht. Auch Stellungnahmen zu den Staatenberichten zum CERD betreffen das Thema des sozialen Schutzes, dies aber nur in Ausnahmefällen285. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Konzepte „Recht auf soziale Sicherheit“, „Recht auf einen angemessenen Lebensstandard“, „Recht auf Gesundheit“, die über die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen Eingang ins Völkerrecht gefunden haben, im Rahmen der verschiedenen Kontrollverfahren zwar als Maßstab für die Beurteilung der sozialrechtlichen Gestaltung in den einzelnen Mitgliedstaaten dienen, dass sie aber, geht es um die Beurteilung konkreter Einzelmaßnahmen (z. B. der verschiedenen Ansätze zur Privatisierung sozialer Sicherheit), nicht differenziert genug sind, um eine juristisch fundierte Bewertung zu tragen. Die bisherige Spruchpraxis der Sachverständigenkomitees in den „abschließenden Bemerkungen“ ist eher als ein tastender Versuch zu werten, normativ abgestützte Kommentare zur sozialen Situation in den verschiedenen Vertragsstaaten abzugeben. Dies überrascht aber nicht, betrachtet man die vergleichsweise kurze Zeitspanne, innerhalb derer die Sachverständigenkomitees unter sehr schwierigen Umständen286 gezwungen waren, als nicht justitiabel verstandene Bestimmungen auf kon283 Beispielhaft etwa der Kommentar zur Situation in Österreich: „The Committee notes that recent budgetary austerity measures have had an impact on children and may, in particular, affect the more vulnerable and disadvantaged groups. While noting the recent decision to undertake a comprehensive reform of family assistance measures, which should lead to improvements in financial help to families through increased allowances and tax deductions, the Committee remains concerned that other budgetary austerity measures introduced in recent years have not been reversed. While the welfare system can be considered generous, article 4 of the Convention still imposes an obligation to seek further improvements, particularly given the comparative high level of available resources.“ (CRC / C / 15 / Add.98). 284 So wird insbesondere die Kinder- und Säuglingssterblichkeit, die Unterernährung von Kindern, der Zugang zum Gesundheitssystem und der Missbrauch von Drogen, aber auch die Selbstmordrate thematisiert. 285 Vgl. z. B. die Stellungnahme zu Großbritannien und Nordirland (United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, Communication 28. 03. 1996, CERD / C / 304 / Add.9): „Special concern is also expressed for the Irish Traveller community, whose situation affects their right to public health care and social services under article 5 (e)“. 286 Erschwert wird die Arbeit der Sachverständigen insbesondere durch die fehlende Mitarbeit einer Vielzahl von Staaten; vgl. dazu bereits die Beiträge in Klein, Monitoring.
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krete Sachverhalte anzuwenden und so in „operational standards“ zu übersetzen. Denn erst zu Beginn der 90er Jahre, mit dem Ende des Kalten Krieges, waren überhaupt weiterführende einzelne Kommentare zu den Staatenberichten möglich. Und während es zum Verständnis der bürgerlichen und politischen Rechte schon einen Fundus von nationaler und internationaler Praxis gab, musste für die Auslegung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte ein eigenes Rad neu erfunden werden. b) Berichtsverfahren zu den sozialrechtsrelevanten Konventionen der IAO Im Gegensatz zu der Spruchpraxis des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die erst in den letzten Jahren Gestalt angenommen hat, ist der Sachverständigenausschuss der IAO bereits seit knapp 75 Jahren mit der Aufgabe betraut, die Staatenberichte im Hinblick auf mögliche Verstöße gegen die IAO-Konventionen zu überprüfen287. Eine Besonderheit ist dabei der institutionelle Unterbau zu dieser Tätigkeit – die Stellungnahmen des Sachverständigenausschusses werden vom Internationalen Arbeitsamt vorbereitet. Aufgrund dessen sind ein detailliertes Studium der nationalen Gesetze und die Subsumtion der Regelungen unter die einzelnen Bestimmungen der Konventionen möglich. Wertet man die Spruchpraxis allerdings im Einzelnen aus, so zeigt sich, dass nur selten definitive Aussagen über die Kompatibilität der nationalen Regelungen mit den internationalen Konventionen getroffen werden. Für den Ausschuss ist es vor allem wichtig, den allgemeinen öffentlichen Dialog zwischen IAO und Nationalstaaten über die Entwicklung von Recht und Praxis im Bereich von Arbeits- und Sozialrecht aufrechtzuerhalten. Zwar dienen die Berichte des Sachverständigenausschusses als Grundlage für den zweiten Teil des Kontrollverfahrens, der in den Händen des Konferenzausschusses (Conference Committee on the Application of Conventions and Recommendations) ruht – dieses greift besonders deutliche Fälle von Verstößen gegen die Konventionen auf und erstellt eine Liste288. Allerdings sind diese Vorgaben für auf politischer Ebene zu treffende Entscheidungen weit weniger eindeutig als etwa die „Conclusions“ des Sozialrechtsausschusses, der zu jeder Einzelfrage entweder eine positive oder eine negative Entscheidung trifft oder die Entscheidung vertagt289. Im Übrigen ist die Öffentlichkeit des Dialogs dadurch eingeschränkt, dass nur ein Teil des Befundes, die „general observations“, in den Bericht des Ausschusses aufgenommen werden. Kommentare zur Rechtslage in Mitgliedstaaten können aber auch in Form von so genannten „direct requests“ unmittelbar an die Mitgliedstaaten gerichtet werden; in diesem Fall werden sie nicht veröffentlicht. Kriterien für die Unterscheidung dieser in der Wirkung sehr verschiedenen Formen von Kontrolltätigkeit – intern vs. der breiten Öffentlichkeit zugänglich – sind nicht ersichtlich290. 287 288 289
Vgl. dazu ausführlich Landy, Effectiveness. Vgl. zum Verfahren im einzelnen Valticos, International Labour Law, Rdnr. 663 ff. Vgl. dazu S. 313.
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Die Haltung des Sachverständigenausschusses der IAO ist grundsätzlich als „judicial self-restraint“ zu bezeichnen, da der Ausschuss, wie auch bei den allgemeinen Kommentaren, sehr zurückhaltend bei der Interpretation der Normen ist. Soweit Auslegungen zu Einzelbestimmungen notwendig sind, stellt der Ausschuss im Wesentlichen auf den Wortlaut ab, bezieht sich zum Teil auch auf historische Entwicklungen oder rechtsvergleichend auf die Praxis in den Mitgliedstaaten291. Im Folgenden sollen einzelne Probleme herausgegriffen werden, um das Vorgehen des Ausschusses anschaulich zu machen und wichtige Aussagen zur Gestaltung von Sozialschutzsystemen herauszukristallisieren.
aa) Bewertung der Privatisierung der Rentensysteme in Südamerika Im sozialrechtlichen Bereich ist eine besondere Herausforderung die Neukonzeptionierung der Rentensysteme in Südamerika292, die auf Zwangssparen, privater Verwaltung der Vermögenswerte, Wahlfreiheit der Versicherten und dem Kapitalbildungsverfahren beruhen293. Streit besteht darüber, ob die hinter diesem Modell stehende Konzeption von Sozialer Sicherheit überhaupt an den Vorgaben der sozialrechtlichen Konventionen der IAO messbar ist. Nach Ansicht Perus ist es notwendig, Konvention Nr. 102 zu revidieren und den neuen Entwicklungen in einer Reihe von Ländern anzupassen294. Diesem Ansatz stellt sich der Sachverständigenausschuss entgegen und argumentiert, Konvention Nr. 102 sei flexibel genug, um auch andere als nur öffentlichrechtliche Sicherungssysteme zu erfassen295. Dennoch favorisiert der Ausschuss, 290 Vgl. zu diesem Kritikpunkt auch Wisskirchen, Normensetzende und normenüberwachende Tätigkeit, S. 715. 291 Die Vorgehensweise entspricht dem oben (S. 256 ff.) dargestellten methodischen Vorgehen bei der Abfassung allgemeiner Überblicke. 292 Ein Modellversuch zur Neugestaltung des Rentensystems wurde ursprünglich in Chile eingeführt; dieses Modell wurde von einer Reihe anderer südamerikanischer Staaten übernommen. Der Dialog über die Vereinbarkeit dieser Reformen mit den Standards der IAO findet vor allem mit Bolivien (Konvention Nr. 128), Mexiko (Konvention Nr. 102), Peru (Konventionen Nr. 35, Nr. 102), Ecuador (Konvention Nr. 128), Costa Rica (Konvention Nr. 102) sowie mit Chile und Argentinien (Konvention Nr. 35) statt. 293 Vgl. zur Problematik Mesa-Lago, Renten in Lateinamerika, S. 222 ff.; Mesa-Lago, Reforma de la seguridad social; zu den Hintergründen vgl. auch Queisser, Einfluss Internationaler Organisationen, S. 243 ff. 294 ILO, Report of the Committee of Experts 1997, S. 269. 295 „The Committee recalls that, . . . Convention No. 102 was conceived in a highly flexible manner. It is possible to achieve the same level of social security through various approaches. The Conference deliberately refused to adopt a rigid terminology which would have been ill-suited to the particularly wide range of national solutions, still less to the rapid and constant developments in systems of protection ( . . . ). Nevertheless, the Convention sets forth a number of practical criteria of general applicability for the organization and functioning of social security systems“ (ILO, Report of the Committee of Experts 1997, S. 269).
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
existieren privates und öffentliches Sicherungssystem nebeneinander, öffentlichrechtlich organisierte Sicherungssysteme: „. . . the Committee trusts that the Government will be able to indicate in its next report the measures adopted or envisaged to revitalize the public social security system, particularly with regard to pensions, in order to provide a real alternative to private schemes and to guarantee workers and their families protection against the risks of life in accordance with their needs, in conformity with the international standards ratified by Peru“296.
Konkret sieht der Sachverständigenausschuss in den Reformsystemen Südamerikas eine Reihe von Bestimmungen, die nicht im Einklang mit den Standards der IAO stehen. Kritisiert wird die Regelung, nach der in verschiedenen Systemen297 dann, wenn das Kapitalkonto des Versicherten erschöpft ist, keine Zahlungen mehr geleistet werden – damit ist eine Absicherung während der gesamten Dauer des Risikos Alter (Art. 30 Konvention Nr. 102) bzw. Invalidität (Art. 57 Konvention Nr. 102) nicht gewährleistet298. Geht jemand vorzeitig in Rente, erfüllt aber noch nicht die Mindestvoraussetzungen zum Bezug einer Vollrente, bekommt er nicht, wie vorgeschrieben (Art. 29 Abs. 2, Art. 57 Abs. 2 Konvention Nr. 102), eine Teilrente299. Die Interessen der Arbeitnehmer werden bei einem privaten Management der Fonds nicht ausreichend wahrgenommen (Art. 72 Abs. 1 Konvention Nr. 102)300. Als Verstoß wird im Übrigen auch gesehen, dass die Beiträge nicht paritätisch (Art. 71 Abs. 1 der Konvention Nr. 102), sondern nur von den Arbeitnehmern zu tragen sind301. Die Verwaltungskosten, die bei den privaten Versicherungsunternehmen anfallen, werden für zu hoch erachtet; dies verstoße gegen Art. 71 Abs. 1302. Im Gegensatz zu Konvention Nr. 102 fordert Konvention Nr. 35 einen staatlichen Beitrag zur Finanzierung des Versicherungsschutzes abhängig Beschäftigter (Art. 9 Abs. 4). Die Regelung zu vom Staat übernommenen Garantien in Chile genügt dem nach Ansicht des Sachverständigenausschusses ILO, Report of the Committee of Experts 1997, S. 271 (Peru). Vgl. z. B. das so genannte „programmed retirement“ in Peru oder den „variable monthly annuity contract“ in Bolivien. 298 Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1997, S. 270 (Peru); diese Systemgestaltung wird auch als ein Widerspruch zu Konvention Nr. 37 und Nr. 35 angesehen. 299 Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1997, S. 271 (Peru), 2001, S. 413 ff. (Mexiko). 300 Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1997, S. 271 (Peru), 2001, S. 411 (Costa Rica). In gleicher Weise wird die private Verwaltung der Fonds in Chile als Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 und 2 Konvention Nr. 35 angesehen. 301 Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1997, S. 270 (Peru). Eine in Peru zur Kompensation bei der Einführung des neuen Rentensystems vorgesehene einmalige Lohnerhöhung in Höhe von 13,54 % lässt der Ausschuss nicht als den Anforderungen der Konvention Nr. 102 entsprechend gelten. Eine Auseinandersetzung mit der Thematik findet sich beispielsweise in dem Report of the Committee of Experts 1990, S. 130; der Sachverständigenausschuss verweist in diesem Zusammenhang auf den Solidaritätsaspekt, der nur bei einer unmittelbaren Mitfinanzierung durch den Arbeitgeber gewährleistet sei. 302 Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1995, S. 265 (Peru). 296 297
II. Kontrollverfahren
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nicht303. – Die gesamte Problematik wird ausführlich auch in verschiedenen Beschwerdeverfahren aufgegriffen304. Trotz dieser Kommentare zu Einzelheiten des Systems bleibt eine Reihe von rechtlichen Grundsatzproblemen offen. So ist ein wesentliches Charakteristikum der privatisierten Systeme, dass die Höhe der tatsächlich bei Eintritt des Risikos ausgezahlten Leistungen von der finanziellen Entwicklung der Kapitalanlagen abhängig und damit variabel ist. Von Konvention Nr. 102 wird gefordert, die Leistungen bei Alter müssten mindestens 40 % des Bezugslohns eines bestimmten Standard-Leistungsempfängers betragen. Diese Vorgabe ist in zweierlei Art auszulegen. Entweder man lässt es ausreichen, dass der Prozentsatz de facto erreicht wird, misst die statistischen Daten jedes Jahr und kommt aufgrund dessen zu einem positiven oder negativen Ergebnis. Oder aber man verlangt eine Garantie der Ersatzquote de iure. In letzterem Fall wäre ein Verstoß bereits aufgrund der Konstruktion des Systems unabhängig von den konkreten statistischen Daten zu bejahen, es sei denn, der Staat würde eine ausreichende Mindestrente garantieren. Der Sachverständigenausschuss entscheidet sich, ohne dies zu begründen, für erstere Auslegung305. Im Hinblick auf Ziel und Zweck der Konvention Nr. 102 erscheint dies aber schwerlich als rechtfertigbar, da telos der Norm gerade ist, eine rechtlich geschützte Position, einen Anspruch auf eine bestimmte Mindestsicherung zu schaffen, diese aber bei nicht garantierten Leistungen nicht gegeben wird. Anders wäre die Frage allerdings dann zu bewerten, wenn ein System nur teilprivatisiert wäre und bereits mit einer staatlichen Grundsicherung die geforderte Ersatzquote erreicht würde. Ist nur die Höhe einer zusätzlichen Sicherung variabel, so wird davon die Erfüllung der Vorgaben der Konvention Nr. 102 nicht tangiert. Koexistieren ein staatliches und ein privates System und haben die Arbeitnehmer ein Wahlrecht, so wäre weiter zu fragen, ob die Vorgaben der Konvention Nr. 102 bereits dann eingehalten werden, wenn im Rahmen des staatlichen Systems die nach Art. 27 Konvention Nr. 102 geforderte Anzahl von Arbeitnehmern gesichert wird. In diesem Fall wären die Leistungen in dem privaten System nicht zu prüfen306. Ein etwas anders gelagertes Problem, das aber gleichermaßen zu einer Unsicherheit im Hinblick auf die zu erreichende Rente führt, ist die Berücksichtigung der jeweiligen Lebenserwartung bei der Höhe der Rente als Berechnungsfaktor. Auch Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1995, S. 117 (Chile). Vgl. dazu S. 331 ff. 305 Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1995, S. 265 (Peru), 1997, S. 270 (Peru): Ausführungen des Ausschusses, dass anhand statistischer Angaben überprüft werden soll, ob die 40 %-Quote eingehalten wird; ILO, Report of the Committee of Experts 2001, S. 413 ff. (Mexiko): Bestätigung, dass die Vorgaben der Konvention eingehalten werden, da sich dies so aus den von Mexiko vorgelegten statistischen Angaben ergebe. 306 Dies ist nur deshalb möglich, weil der geforderte Deckungsgrad (50 % der Arbeitnehmer, 20 % der erwerbstätigen Bevölkerung, alle Einwohner, deren Einkommen eine bestimmte Grenze nicht überschreitet) vergleichsweise gering ist. 303 304
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dies ist ein nicht vorherbestimmter Faktor, der die Höhe der Rente variabel macht. Besondere Probleme, die zu Diskriminierungen führen können, können insbesondere aufgrund der statistisch unterschiedlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen entstehen; eine Differenzierung bei der Höhe der Rente ließe sich aufgrund der längeren Lebenserwartung zwar aufgrund eines sachlichen Gesichtspunkts rechtfertigen, würde aber den Versuch, biologisch bedingte Unterschiede sozialversicherungsrechtlich auszugleichen, konterkarieren. Bei der Bewertung der Kompatibilität eines demographischen Faktors mit den Standards der sozialrechtlichen Konventionen der IAO wäre im Einzelnen zu prüfen, welche Bandbreite an unterschiedlichen Ergebnissen zu erwarten ist, d. h., ob ein Absinken der Rente auf unter 40 % des Vergleichslohns möglich ist. Der Sachverständigenausschuss geht auf diese Problematik nicht ein, verlangt aber Statistiken zur Berechnung der Lebenserwartung, da unterschiedliche Ansätze zu stark voneinander abweichenden Ergebnissen im Einzelfall führen könnten307. Grundproblem bei allen derartigen Berechnungen ist aber die Inflation. Je nachdem, wie die ursprünglichen Löhne indexiert werden, ist die Prozentvorgabe erreicht oder nicht erreicht. Der Sachverständigenausschuss kann die Schwachstellen der in Südamerika entwickelten neuen Formen der sozialen Sicherung nur punktuell an den Sozialrechtskonventionen der IAO nachweisen; die Grundproblematik, dass es sich dabei um eine völlig andere Konzeption von sozialer Sicherheit handelt, die im Wesentlichen der Ankurbelung der Wirtschaft durch Investitionen zu dienen bestimmt ist und die Absicherung des Einzelnen nicht ausschließlich zum Ziel hat, wird nicht transparent. Der Dialog über diese Gestaltung des Alterssicherungssystems ist aber auch insofern eingeschränkt, als die betroffenen Länder die ihnen gestellten Fragen in der Regel nicht beantworten.
bb) Bewertung der Einschränkungen der Sozialsysteme in Industrieländern Für die westeuropäischen Industriestaaten mit hoch entwickelten Sozialsystemen markieren die in den IAO-Konventionen enthaltenen Sozialstandards regelmäßig nur Mindeststandards, deren Einhaltung nicht gefährdet ist. Beispielsweise wird in der Regel die gesamte Arbeitnehmerschaft von den Sozialsystemen erfasst, soweit sie an das Beschäftigungsverhältnis anknüpfen, während Konvention Nr. 102 nur einen Deckungsgrad von 50 % vorgibt. Dennoch haben die Sparmaßnahmen zur finanziellen Konsolidierung der Systeme insbesondere in den 90er Jahren verschiedentlich Anlass zu kritischen Auseinandersetzungen zwischen dem Sachverständigenausschuss und einzelnen Mitgliedstaaten gegeben.
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Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 2001, S. 414 (Mexiko).
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Beispielsweise hat Spanien die Verantwortung für Leistungen bei Krankheit vom 4. bis zum 15. Abwesenheitstag auf die Arbeitgeber übertragen, ohne eine staatliche Garantie dafür einzurichten. Der Sachverständigenausschuss hält zwar eine Suspendierung der Leistungen nach Art. 69 c der Konvention Nr. 102 unter der Voraussetzung, dass Dritte die Leistung erbringen, für möglich, sieht es aber als erforderlich an, diese Bestimmung im Zusammenhang mit Art. 71 III zu lesen. Danach hat der Staat die Gesamtverantwortung für das Sozialsystem zu übernehmen. Mit der Eröffnung des Rechtswegs für diejenigen, deren Arbeitgeber nicht oder nicht ausreichend leistet, genügt der Staat nach Ansicht des Sachverständigenausschusses seiner Verantwortung gegenüber dem Einzelnen nicht308. Am schwedischen System wird die Änderung des Arbeitsunfallrechts, insbesondere die Verschiebung der Beweislast und die Einführung eines Karenztags gerügt309, ein Problem, das auch in einem Beschwerdeverfahren eine ausführliche Behandlung erfährt310. In Finnland wirft die Reform der Krankenversicherung Probleme aufgrund der hohen Zuzahlungen der Patienten auf. Im Übrigen moniert der Ausschuss aufgrund der vorgelegten statistischen Daten eine Verschlechterung des Gesamtsystems. Aufgrund der nach Art. 30 der Konvention Nr. 130 der IAO bestehenden generellen Verantwortung des Staates für das Sozialsystem fordert der Sachverständigenausschuss konkrete Maßnahmen gegen die negativen Entwicklungen, die Notwendigkeit langfristiger Planung, wiederholter aktuarischer Studien und detaillierter Berechnungen zur Finanzierung311. Bei England erscheint die Regelung zur Absicherung des Risikos „Arbeitslosigkeit“ problematisch. Werden keine Zusatzleistungen aufgrund von Bedürftigkeit erbracht, so erreicht die Ersatzquote nur 41 % anstelle der geforderten 45 %. Leistungen aufgrund von Bedürftigkeit können aber aufgrund der Einkünfte von Familienangehörigen reduziert werden. Auch wenn der Sachverständigenausschuss dies aufgrund von Art. 67 iVm Art. 22 Abs. 2 der Konvention Nr. 102 grundsätzlich für möglich hält312, ist doch Voraussetzung, dass die Einkünfte der Familienangehörigen substantiell sind; dies bezweifelt der Sachverständigenausschuss bei der Regelung in Großbritannien, ohne allerdings den Begriff „substantiell“ zu definieren oder Kriterien zu einer möglichen Abgrenzung zur Verfügung zu stellen313. Das portugiesische System wird gerügt im Hinblick auf eine zu lange Vorversicherungszeit im Falle der Arbeitslosigkeit (540 Arbeitstage innerhalb der letzten ILO, Report of the Committee of Experts 2001, S. 424. ILO, Report of the Committee of Experts 2001, S. 422 ff. (Schweden). 310 Vgl. S. 334 f. 311 ILO, Report of the Committee of Experts 2000, S. 401 ff. (Finnland). 312 Vgl. den Wortlaut von Art. 67 (b): „. . . such rate may be reduced only to the extent by which the other means of the family of the beneficiary exceed prescribed substantial amounts fixed by the competent public authority in conformity with prescribed rules“. 313 ILO, Report of the Committee of Experts 1999, S. 392 ff. (Großbritannien). 308 309
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zwei Jahre). Dies stehe im Widerspruch zu Art. 23 der Konvention, da danach der Zweck einer Vorversicherungszeit nur sein dürfe, Missbrauch auszuschließen. Die Argumentation wird rechtsvergleichend abgestützt: Die Vorversicherungszeit in Portugal sei länger als in allen anderen Vertragsstaaten. Diese Beispiele machen deutlich, dass sich der Sachverständigenausschuss, gezwungen durch die konkreten und detaillierten Vorgaben in den Konventionen, vorrangig mit Einzelheiten auseinanderzusetzen hat und, im Gegensatz zum auf der Grundlage der ESC operierenden Sozialrechtsausschuss, die Entwicklung der Sozialsysteme nicht als Ganzes bewerten kann. Ein Gegenbeispiel wäre allerdings die Auseinandersetzung mit den Reformen des Krankengeldes und der Sicherung bei Invalidität in den Niederlanden, die grundsätzlich privatisiert worden sind, dennoch aber auch Elemente einer auf Solidarität beruhenden Sicherung beinhalten. Der Sachverständigenausschuss bemüht sich hier auf der Grundlage von Art. 71 Abs. 1 und 2 der Konvention Nr. 102, die dem Staat verbleibende Rolle im Rahmen eines Privatisierungsprozesses auszuloten, und gesteht ein, dass hier innovative Ansätze zur Aufgabenverteilung möglich sind314. In der Stellungnahme des Sachverständigenausschusses werden Teile der „Resolution Concerning Social Security“ aus dem Jahr 2001315 wörtlich zitiert – dies mag als Anhaltspunkt genommen werden, dass hier die Spruchpraxis in Änderung befindlich ist. cc) Entwicklung des Diskriminierungsverbots im Bereich der sozialen Sicherheit316 Die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist in Konvention Nr. 111 von 1958 ähnlich wie im ICESCR als Politikziel formuliert: „Each Member for which this Convention is in force undertakes to declare and pursue a national policy designed to promote, by methods appropriate to national conditions and practice, equality of opportunity and treatment in respect of employment and occupation, with a view to eliminating any discrimination in respect thereof“ (Art. 2).
Welche Pflicht die Vertragsstaaten damit konkret übernehmen, wird aus einer Stellungnahme des Sachverständigenausschusses zum Irak deutlich: „. . . the affirmation of the principle of equality before the law may be an element of such a national policy, but it cannot in itself constitute a policy within the meaning of Article 2. Such a policy must: (1) be clearly stated, which implies the establishment of programmes set up for the purpose of promoting the policy; and (2) be applied, which implies the Government’s implementation of appropriate measures pursuant to Article 3 of the Convention ( . . . )“317. ILO, Report of the Committee of Experts 2003, S. 417 ff. (Niederlande). Vgl. dazu S. 96 f. 316 Vgl. allgemein zu Konvention Nr. 111 der IAO Nielsen, Concept of Discrimination, S. 827 ff. 317 ILO, Report of the Committee of Experts 2000, S. 335 (Irak). 314 315
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Das bedeutet, dass die Aufnahme des Diskriminierungsverbots und die Enumeration aller in Konvention Nr. 111 enthaltener Diskriminierungsgründe im nationalen Recht eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung ist, um die Verpflichtungen aus Konvention Nr. 111 zu erfüllen318. Aufgrund dessen nimmt der Sachverständigenausschuss zur IAO auf rechtliche Regelungen und statistische Informationen gleichermaßen Bezug (z. B. die Anzahl der Frauen im öffentlichen Dienst, die Anzahl der Frauen in höheren Positionen). Aus der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses, die sich über mehrere Jahrzehnte entwickelt hat, sollen im Folgenden die Kommentare herausgenommen werden, die sich mit der Bedeutung des Diskriminierungsverbots für die Entwicklung von Sozialschutzsystemen befassen. Nach Art. 1 Abs. 3 der Konvention Nr. 111 umfasst der Schutzbereich des Diskriminierungsverbots die Ausbildung, den Zugang zu einer Beschäftigung allgemein sowie zu bestimmten Beschäftigungen und auch die Bedingungen der Beschäftigung319. Soziale Sicherheit wird nicht explizit genannt, ist aber unter „Beschäftigungsbedingungen“ zu subsumieren, soweit aufgrund von einer Beschäftigung Beiträge zu einem System sozialer Sicherheit gezahlt werden müssen und diesen Zahlungen dann auch entsprechende Leistungen gegenüberstehen. Nicht erfasst werden dagegen Regelungen sozialer Sicherheit, die an das Kriterium des Wohnsitzes anknüpfen. (1) Diskriminierung aufgrund der politischen Meinung Das Verbot einer Diskriminierung im Bereich von Beschäftigung und Beruf ist der zentrale Aspekt der Konvention Nr. 111. Diese Vorschrift wird in einer Vielzahl von Fällen als Hebel benutzt, um die Isolierung Andersdenkender im gesellschaftlichen System anzugreifen; die Spruchpraxis des Sachverständigenkomitees ist insofern Spiegel der politischen Zeitgeschichte 320. Nach Meinung des Ausschusses 318 So wird in den Berichten des Sachverständigenausschusses verschiedentlich kritisiert, dass ein bestimmter Diskriminierungsgrund im Gesetz nicht aufscheint, so z. B. Religion in Algerien (ILO, Report of the Committee of Experts 1995, S. 292 (Algerien)) oder politische Meinung in Angola (ILO, Report of the Committee of Experts 1995, S. 292 (Angola)). 319 Angemerkt sei, dass sich der Sachverständigenausschuss selbst nicht immer eng an diese Abgrenzung hält. So werden im Rahmen der Konvention Nr. 111 auch Einzelaspekte, die zu Beschäftigung und Beruf keine Beziehung haben, geprüft; z. B. im Kommentar zu Pakistan die Todesstrafe für die Lästerung des Propheten Mohammed und die Passregeln für Mohammedaner; im Kommentar zu Rumänien die Frage der Wiederherstellung des Eigentums von Minderheiten, das systematisch zerstört worden ist. 320 Vgl. z. B. die Kritik an politischer Diskriminierung in der Tschechoslowakei aufgrund der Entlassungen derjenigen, die die Charta 1977 unterzeichnet hatten; die Kritik an der Überprüfung der Verfassungstreue als Voraussetzung für die Einstellung in den öffentlichen Dienst in Argentinien, am Ausschluss von bestimmten öffentlichen Ämtern aufgrund der Mitarbeit in Organisationen, die das Verfassungsgericht als gegen die Verfassung gerichtet ansieht in Chile und Kolumbien, die Kritik an den Berufsverboten in Deutschland etc.
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sind auch Meinungen, die gegen die grundlegenden Strukturen des Staates gerichtet sind, geschützt, soweit sie nicht mit Gewalt oder verfassungswidrigen Methoden verbreitet werden321. Die Rechtfertigungsgründe für diskriminierende Maßnahmen nach Art. 4 der Konvention Nr. 111 sind restriktiv zu interpretieren322. In der Regel spielt Diskriminierung aufgrund der politischen Meinung im Bereich des sozialen Schutzes keine Rolle. Allenfalls wäre in diesem Zusammenhang der Streit, inwieweit aufgrund von politischen Tätigkeiten erworbene Rentenrechte nachträglich aberkannt werden können, zu nennen. Relevant geworden ist dies in zwei Entscheidungen des bulgarischen Verfassungsgerichts, die die Wertung der Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei und verschiedenen damit verbundenen Unterorganisationen sowie auch im Geheimdienst als Rentenbeitragszeiten als rechtmäßig und eine nachträgliche Aberkennung als Verstoß gegen das „Recht auf soziale Sicherheit“ bezeichnen. Der Sachverständigenausschuss nimmt zu dieser Problematik nicht Stellung, sondern beschränkt sich auf den Kommentar „notes with interest“323. Das Problem der auf politischen Privilegien beruhenden Renten früherer Funktionäre der kommunistischen Parteien, dessen Beurteilung für viele der Transformationsstaaten überaus strittig ist, wird so nicht an Konvention Nr. 111 gemessen. Dabei wäre nicht nur in der Aberkennung bereits erworbener Rechte, sondern auch in der Zuerkennung privilegierter Renten eine Diskriminierung zu sehen, in ersterem Fall zum Nachteil der privilegierten Rentner, in letzterem Fall zum Nachteil Dritter324. (2) Diskriminierung aufgrund des Geschlechts In dem Bericht von 1975 wird den Ausführungen zu Konvention Nr. 111 erstmals eine allgemeine Bemerkung vorangestellt, in der die besondere Bedeutung des Problems der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts betont wird. Bis zu diesem Zeitpunkt moniert der Sachverständigenausschuss Verstöße in diesem Zusammenhang nur in seltenen Ausnahmefällen, so etwa im Hinblick auf die Gesetzeslage in der Schweiz, in der für Frauen mit der Heirat die Beschäftigung in der Bundesverwaltung automatisch endet325. Etwa seit Mitte der 80er Jahre dominiert ILO, Report of the Committee of Experts 1983, S. 216 ff. „. . . the measures authorised by the Convention in connection with the security of the State or the requirements of certain jobs should not be applied in such a way as to conflict with the basic protection provided by the Convention against discrimination in respect of employment on the grounds of political opinion“ (ILO, Report of the Committee of Experts 1980, S. 170 ff.). 323 ILO, Report of the Committee of Experts 1995, S. 296 f. (Bulgarien). 324 Vgl. dazu im deutschen Recht die Regelung im Einigungsvertrag (§ 6 AAÜG), Arbeitsentgelte, deren Höhe in erster Linie nicht durch die geleistete Arbeit, sondern durch die Systemtreue der Betreffenden bestimmt wird, nicht im vollen Umfang in die Rentenversicherung zu übernehmen; vgl. dazu BVerfG E 100, 59 ff. 325 ILO, Report of the Committee of Experts 1971, S. 182 (Schweiz). 321 322
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das Thema – neben der Diskriminierung aufgrund politischer Meinungen – die Kommentare des Sachverständigenausschusses zu Konvention Nr. 111. Hauptprobleme sind dabei obligatorische Schwangerschaftstests bei Einstellung, Fehlen eines Schutzes gegen „sexuell harassment“, niedrigerer Lohn von Frauen im Vergleich zu Männern und die statistisch fassbare Unterrepräsentanz von Frauen in höheren Positionen. Der Regelungskomplex „Soziale Sicherheit“ wirft eine Vielzahl von sehr grundsätzlichen Diskriminierungsproblemen auf. Theoretisch wäre es bereits als mittelbare Diskriminierung anzusehen, für die Erbringung von Leistungen eine abhängige Beschäftigung vorauszusetzen, da Frauen prozentual häufiger zu Hause arbeiten und damit der Anteil derer, die nicht beschäftigt sind und damit keine eigenen, sondern allenfalls abgeleitete Ansprüche haben, höher ist. Dieser die Grundstruktur der Systeme sozialer Sicherheit betreffende Aspekt wird aber nicht aufgegriffen, gleichermaßen auch nicht die verschiedenen Ansätze zur Kompensation dieses Ungleichgewichts (z. B. Anrechnung von Kindererziehungszeiten auf die Rente). Mittelbare Diskriminierung ist auch dann ein Thema, wenn bestimmte, für Frauen typische Formen der Beschäftigung aus dem sozialen Schutz ausgenommen werden (z. B. geringfügige Beschäftigungen, Heimarbeit etc.). Auch in diesem Zusammenhang findet keine umfassende Problemdiskussion vor dem Sachverständigenausschuss statt. Umgekehrt wird allerdings erörtert, ob neue Rechtsregelungen zu Heim- und Teilzeitarbeit, deren Ziel es ist, Frauen zu ermöglichen, an Sozialversicherungssystemen teilzunehmen und ein Anrecht auf Sozialversicherungsleistungen zu erwerben, nicht im Hinblick auf Einkommen und Sicherheit am Arbeitsplatz eine diskriminierende Wirkung haben können326. Leichter fassbar sind unmittelbare Diskriminierungen im Bereich des Sozialrechts, wenn der Bezug von Leistungen an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft wird. Eine häufig wiederkehrende Fallkonstellation ist, dass nur derjenige einen Anspruch auf Lohnersatzleistungen geltend machen kann, der die Familie ernährt. Aufgrund einer typisierenden Vorstellung von der Rollenverteilung in der Gesellschaft wird dies bei Männern vorausgesetzt, bei Frauen aber als Anspruchsvoraussetzung geprüft. Diese Fälle haben in der Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte Bedeutung erlangt, nicht dagegen in der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses der IAO. Aufgegriffen worden ist dagegen die Frage, inwieweit Privilegien von Frauen im Bereich des Sozialrechts – insbesondere das niedrigere Rentenalter – zu rechtfertigen sind. Einerseits könnte eine derartige Regelung eine Diskriminierung von Männern darstellen, andererseits im Ergebnis auch nachteilig für Frauen sein, insbesondere wenn ein Zwang zur Verrentung ab einem bestimmten Alter besteht327. ILO, Report of the Committee of Experts 2000, S. 315. „. . . the imposition of a different retirement age on women, particularly where this distinction is used to force women into retirement earlier than the compulsory legal retirement age for their profession, would, if such a practice were verified, constitute discriminatory 326 327
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Von Bedeutung ist weiter das Problem, dass sich bei Frauen bestimmte Risiken mit statistisch höherer Wahrscheinlichkeit verwirklichen als bei Männern. Dies gilt insbesondere bei Arbeitslosigkeit328. Zu der Frage, inwieweit positive Diskriminierungen, d. h. Maßnahmen, die Frauen als benachteiligte Gruppe im Erwerbsleben besonders fördern, zulässig sind, ohne ihrerseits wieder in Diskriminierungen umzuschlagen, nimmt der Sachverständigenausschuss nicht Stellung; die Entscheidung des EuGH Kalanke329 ebenso wie Maßnahmen zur „affirmative action“ in Italien werden referiert, aber nicht kommentiert. (3) Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit Unterscheidungen aufgrund der Staatsangehörigkeit können im Zusammenhang mit Konvention Nr. 111 thematisiert werden; unmittelbar einschlägig sind daneben auch Konvention Nr. 118 und 102 der IAO. In dem in Konvention Nr. 111 enthaltenen Katalog von Gründen, die als Kriterien zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Sachverhalten als per se diskriminierend verstanden werden, figuriert das Kriterium „Staatsangehörigkeit“ nicht330. Bevorzugungen oder Benachteiligungen in Beschäftigung und Beruf, die daran anknüpfen, sind damit nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Im Gegensatz zu den entsprechenden Bestimmungen in den anderen Menschenrechtsverträgen enthält die Konvention Nr. 111 auch keine Öffnungsklausel, die auf Diskriminierungen aufgrund eines „sonstigen Status“ verweisen würde331. Aufgrund dessen hat der Ausschuss bei der Entwicklung der Spruchpraxis zu Diskriminierungsproblemen nur einen engen Spielraum; er kann nur Auswirkungen der entsprechenden Regelungen untersuchen und dabei fragen, ob eines der explizit geregelten Diskriminierungsverbote umgangen wird332. Beispielsweise prüft der Ausschuss bei Disconduct that has a negative impact on women’s access to employment and denies them equality of opportunity and treatment in employment and occupation“ (ILO, Report of the Committee of Experts 2000, S. 111 (Ungarn)). 328 Vgl. z. B. den Kommentar des Sachverständigenausschusses zur Zahl der arbeitslosen Frauen in Spanien im Vergleich zu den arbeitslosen Männern, ILO, Report of the Committee of Experts 1990, S. 357. 329 Entscheidung vom 17. 10. 1995 – Rs C-450 / 93 (Kalanke). 330 Vgl. dazu S. 150 ff. 331 Vgl. die explizite Stellungnahme des Sachverständigenaussschusses zu der Ungleichbehandlung von dänischen Seeleuten und Seeleuten aus den Philippinen und Singapore in dem dänischen „International Ships Register“: „The Committee observes that to the extent that the distinctions made . . . are based on criteria of residence and of nationality, which are not among the explicit grounds set out in the Convention, such distinctions are not covered by the Convention“ (ILO, Report of the Committee of Experts 1991, S. 371(Dänemark)). 332 „. . . the Committee observes that while the Convention applies to all persons, whether or not they are citizens or residents of the ratifying country, distinctions made in employment and occupation on the basis of citizenship or residence are not necessarily relevant to one of
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kriminierungen aufgrund von Wohnsitz oder Staatsangehörigkeit, inwieweit sich daraus auch Konsequenzen für ungerechtfertigte Unterscheidungen aufgrund der nationalen Herkunft ergeben333. Allerdings finden sich in den Sachverständigenberichten Hinweise darauf, die restriktive Auslegung aufzugeben und weitere Kriterien im Zusammenhang mit Konvention Nr. 111 zu prüfen. So werden etwa Diskriminierungen aufgrund des Alters334, aufgrund von Invalidität und von AIDS diskutiert335. Anders als in Konvention Nr. 111 spielt das Kriterium der Staatsangehörigkeit in den spezifisch sozialrechtlichen Konventionen eine große Rolle336. Sedes materiae sind insbesondere Konvention Nr. 48 und Konvention Nr. 118, aber auch Konvention Nr. 102 und die frühen sozialversicherungsrechtlichen Konventionen aus den 30er Jahren. Darin werden Ungleichbehandlungen im Bereich sozialer Sicherheit aufgrund von Staatsangehörigkeit zwar grundsätzlich ausgeschlossen, dazu im Einzelnen aber auch verschiedene Ausnahmen normiert337. Streitigkeiten ergeben sich vor allem im Hinblick auf Leistungen, die zwar bedürftigkeitsabhängig, zugleich aber an Sozialversicherungsleistungen angekoppelt sind, von den Staaten aber nur für eigene Staatsangehörige bzw. für solche, mit deren Heimatstaaten sie ein besonderes Abkommen geschlossen haben, vorgesehen sind338. Dissens bestand in diesem Zusammenhang über mehr als ein Vierteljahrhundert sowohl zwischen Frankreich und dem Sachverständigenausschuss als the seven grounds of discrimination referred to in Article 1, paragraph 1 (a), of the Convention. The relevance of such distinctions to the prohibited grounds of discrimination must be examined in the light of their concrete consequences“ (ILO, Report of the Committee of Experts 1989, S. 381(Dänemark)). 333 Im Gegensatz zu dem Bericht von 1991 (vgl. FN 331) sieht der Ausschuss in dem Bericht von 1989 einen Verstoß gegen die Konvention als gegeben an: „These differences in treatment are not based on differences regarding Danish citizenship or residence; they establish a discrimination among non-resident non-citizens on the basis of their national origin and are therefore incompatible with the Convention“; vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1989, S. 381 (Dänemark). 334 Hier stellt sich beispielsweise das Problem der Zwangspensionierung im Alter; im Kommentar zu Neuseeland wird die Nachricht, dass Zwangspensionierung und Diskriminierung aufgrund des Alters abgeschafft worden sind, allerdings nicht weiter diskutiert; vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 2000, S. 342. 335 Entsprechende Hinweise finden sich in dem Kommentar des Sachverständigenausschusses zu Spanien (ILO, Report of the Committee of Experts 1993, S. 367, 1996, S. 308 (Spanien)). Im Hinblick auf eine potentielle Diskriminierung aufgrund von Behinderung weist der Ausschuss auf eine Prüfung der Sachlage nach Konvention Nr. 159 (Vocational Rehabilitation and Employment (Disabled Persons)) hin; eine Diskriminierung aufgrund von AIDS hält er für an Art. 1 (b) der Konvention Nr. 111 überprüfbar. 336 Vgl. S. 162 ff. 337 Vgl. die Übersicht in S. 168 ff. 338 Zum Einbeziehung Fremder in soziale Fürsorgeleistungen vgl. Kapitel A.III.1., zur Stellung Fremder in Systemen sozialer Sicherheit vgl. Kapitel A.III.2., zu Ansätzen zur Abgrenzung zwischen beidem vgl. S. 261 f.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
auch zwischen Italien und dem Sachverständigenausschuss; in Frankreich ging es um Sozialleistungen aus dem Fonds National de Solidarité339, in Italien um den „assegno sociale“340. In beiden Ländern wurden die Schwierigkeiten durch Reformen Ende der 90er Jahre ausgeräumt341. Im Zusammenhang mit Konvention Nr. 118 werden verschiedene Formen der Ungleichbehandlung von Ausländern gerügt, wie etwa die nur freiwillige, nicht obligatorische Einbindung in Sozialversicherungssysteme, die Umwandlung von Rentenansprüchen in Einmalzahlungen, die Einführung zusätzlicher Vorversicherungszeiten342 oder der Ausschluss von ausländischen Selbständigen aus dem Sozialversicherungssystem343. In der Regel beruhen aber Verstöße gegen Konvention Nr. 118 darauf, dass Rentenzahlungen ins Ausland nicht garantiert oder verfahrensmäßig erschwert werden344. Gilt dies nur für ausländische Staatsangehörige, so handelt es sich um eine direkte Diskriminierung, sind auch Inländer davon betroffen, wäre es dagegen eine indirekte Diskriminierung, die aber gleichermaßen an Konvention Nr. 118 zu messen ist345. Ein besonderes Problem ist dabei, inwieweit die Zahlungen ins Aus339 Die Zusatzleistungen des Fonds National de Solidarité im Fall von Alter und bei Behinderung im Erwachsenenalter werden nur Franzosen und Angehörigen von Staaten, mit denen Frankreich ein Reziprozitätsabkommen abgeschlossen hat, gewährt. Frankreich qualifiziert diese Leistungen als Sozialhilfe und argumentiert, sie unterfielen nicht den Konventionen Nr. 102 bzw. 118. Nach Ansicht des Ausschusses dagegen handelt es sich um Sozialversicherungsleistungen, da sie nicht auf Ermessen beruhen und einklagbar sind. So stellt er im Kommentar zu Konvention Nr. 102 fest: „The complementary allowance, as its name indicates constitutes the complement of a principal benefit, that is to say, an increase payable at present out of public funds, and therefore comes under this provision of the Convention“ (ILO, Report of the Committee of Experts 1990 S. 132 f. (Frankreich)). Im Kommentar zu Konvention Nr. 118 führt der Ausschuss aus: „. . . in accordance with Article 1, paragraph (b) of the Convention, the term ,benefits‘ refers to ,all benefits, grants and pensions, including any supplements’. As confirmed by the preparatory work for the Convention, this term must therefore be taken in its broadest meaning “ (ILO, Report of the Committee of Experts 1991, S. 406 (Frankreich)). 340 In Italien geht es um die 1969 eingeführte Sozialrente, deren Beschränkung auf Inländer strittig ist; vgl. zu der Argumentation ILO, Report of the Committee of Experts 1974, S. 197 f. (Italien); geändert wurde die Regelung im Jahr 1998. 341 Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1999, S. 159 (Frankreich); ILO, Report of the Committee of Experts 2001, S. 511 f. (Italien). 342 Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1996, S. 322 (Libyen). 343 ILO, Report of the Committee of Experts 2000, S. 368 (Türkei). 344 Vgl. z. B. die Regelung in Barbados, nach der diejenigen, die außerhalb des Landes wohnen, die Renten nicht direkt, sondern über eine im Land lebende Vermittlungsperson bekommen; vgl. auch die Regelung in Brasilien; dort muss bei einer ähnlichen Regelung die Berechtigung alle sechs Monate erneuert werden; beide Regelungen werden als im Widerspruch zu Konvention Nr. 118 angesehen (vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1993, S. 381 (Barbados); ILO, Report of the Committee of Experts 1993, S. 382 (Brasilien)). 345 Vgl. ILO, Report of the Committee of Experts 1993, (Irak); ILO, Report of the Committee of Experts 1993, S. 386 (Mauretanien); ILO, Report of the Committee of Experts
II. Kontrollverfahren
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land von Reziprozität abhängig gemacht werden dürfen346. Die französische Regelung, die Reziprozität zur Regel und einseitige Leistungserbringung zur Ausnahme macht, wird vom Sachverständigenausschuss als Verstoß gegen die Konvention kritisiert347. Insgesamt zeigt sich somit, dass die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses Diskriminierungen im Bereich der sozialen Sicherheit nur punktuell erfasst, zum einen auf der Grundlage von Konvention Nr. 111, zum anderen, insbesondere im Hinblick auf die Diskriminierung von ausländischen Staatsangehörigen, aber auch auf der Grundlage der speziellen sozialrechtlichen Konventionen. Nimmt man – wie in der Deklaration der IAO aus dem Jahr 1998348 – nur Konvention Nr. 111 zum Kernbestand des internationalen Sozial- und Arbeitsrechts349, so wird ein wichtiger Teil der Rechtsentwicklung in diesem Bereich abgeschnitten. – Eine eigenständige Doktrin zur Diskriminierung im Bereich sozialer Sicherheit, vergleichbar der Doktrin des EuGH oder des EGMR, entwickelt der Sachverständigenausschuss aber nicht. (4) Interpretation des Zusammenspiels von sozialer Sicherheit und Vereinigungsfreiheit Während die bisher dargestellte Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zeigt, dass es – seiner ursprünglichen Mission entsprechend – Einzelprobleme bei der Anwendung der Standards aufdeckt und sich dabei streng an den Wortlaut der Konventionen hält, lassen sich zugleich auch Beispiele für eine rechtsfortbildende Tätigkeit finden. In besonderer Weise ist dies für die Entwicklung des Streikrechts auf der Grundlage der in Konvention Nr. 87 und 98 festgelegten Vereinigungsfreiheit nachzuweisen. In den beiden Konventionen wird garantiert, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber das Recht haben, ohne vorherige Genehmigung Organisationen nach eigener Wahl zu bilden und solchen Organisationen beizutreten (Art. 2 Konvention Nr. 87). Die Organisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber haben das Recht, sich Satzungen und Geschäftsordnungen zu geben, ihre Vertreter frei zu wählen, ihre 1996, S. 320 (Israel: Suspendierung der Zahlungen bei einem über 6-monatigen Auslandsaufenthalt). 346 Vgl. zu der Problematik allgemein S. 162 ff. 347 „This exception is not a general one and its application must be examined in each individual case and for each branch of social security in the light of the Member’s legislation thereon. The fact that such an exception is possible cannot justify maintaining in French legislation a general rule which makes the grant of benefits to foreign nationals conditional upon residence, even if it is restricted to residence at the time when application is made for liquidation of the pension“ (ILO, Report of the Committee of Experts 1993, S. 385). 348 Vgl. dazu S. 94 ff. 349 Vgl. dazu S. 94 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Geschäftsführung und Tätigkeit zu regeln und ihr Programm aufzustellen. Die Behörden haben sich jedes Eingriffes zu enthalten, der geeignet wäre, dieses Recht zu beschränken oder dessen rechtmäßige Ausübung zu behindern (Art. 3 Konvention Nr. 87). In Konvention Nr. 98 wird darüber hinaus jede Einmischung in die Bildung, Tätigkeit und Verwaltung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen untersagt. Ein Streikrecht wird, anders als in der ESC, weder explizit festgelegt, noch ist eine Formulierung erkennbar, aus der ein Streikrecht implizit ableitbar wäre. Bei der Ausarbeitung der Konventionen bestand kein Konsens zu der Frage, so dass eine entsprechende Regelung bewusst nicht aufgenommen wurde350. Dennoch geht der Sachverständigenausschuss ebenso wie der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit von einer internationalen Garantie des Streikrechts auf der Grundlage von Konventionen Nr. 87 und 98 aus351. Begründet wird dies mit dem Verweis darauf, dass Art. 3 der Konvention Nr. 87 das Streikrecht jedenfalls nicht ausschlösse352. Im Übrigen sei die Vereinigungsfreiheit, werde nicht auch das Streikrecht garantiert, wirkungslos; dies bestätige auch ein Rechtsvergleich der nationalen Regelungen zu dieser Frage353. Und nicht nur ein Kernbereich des Streikrechts wird garantiert; vielmehr wird der Umfang des Rechts sehr umfassend bestimmt: „Nach Auffassung des Ausschusses ist das Streikrecht ein wesentliches Mittel der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen, um ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu fördern und zu verteidigen. Diese Rechte beziehen sich nicht nur darauf, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen oder kollektive, berufsbezogene Forderungen zu erheben; sie umfassen vielmehr gleichermaßen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik und Probleme auf der Unternehmensebene, die die Arbeitnehmer direkt betreffen“354.
Das bedeutet, dass abweichend von Wortlaut, Kontext und Entstehungsgeschichte der Norm eine „effektive“ Auslegung gewählt wird355. Im sozialrechtlichen Bereich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Suspendierung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Fall von Streiks. Wagner, Internationaler Schutz, S. 213 ff. Vgl. für das Committee on Freedom of Association: Second Report 1952, Thesis no. 28 (Jamaica), para. 68; für das Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations: General Survey 1959, para. 68, 1973, para. 197, 1983, paras. 200, 205, 1994, paras. 147 – 151; zur Problematik im Einzelnen von Maydell, Political Strikes, S. 115 ff., Verdier, Droit de grève, S. 968 ff. 352 „Under Article 3 (1) of Convention No. 87, the right to organize activities and to formulate programmes is recognized for workers‘ and employers‘ organizations. In the view of the Committee, strike action is part of these activities under the provisions of Article 3; it is a collective right exercised, in the case of workers, by a group of persons who decide not to work in order to have their demands met. The right to strike is therefore considered as an activity of workers‘ organizations within the meaning of Article 3“, General Survey 1994, para. 149. 353 „. . . the right to strike is an intrinsic corollary of the right to organize protected by Convention No. 87“, General Survey 1994, para. 151. 354 General Survey (Konvention Nr. 87, 98, 141) 1983, deutsche Übersetzung zitiert nach Däubner / Kittner / Lörcher, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, S. 235. 355 Vgl. dazu S. 278. 350 351
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Die positiv-rechtliche Regelung dazu findet sich in Art. 69 i der Konvention Nr. 102: „A benefit . . . may be suspended . . . in the case of unemployment benefit, where the person concerned has lost his employment as a direct result of a stoppage of work due to a trade dispute . . .“.
Problematisch ist, was unter „direct result“ zu verstehen ist: Ist – wie es der Wortlaut nahe legen würde – jede Form der Kausalität zwischen Streik und Verlust der Beschäftigung ausreichend, oder muss der Streik den Interessen desjenigen, der seine Arbeit verliert, dienen? Der Sachverständigenausschuss sieht es dem Sinn der Regelung entsprechend als notwendig an, zwischen Arbeitnehmern, die kein oder wenig Interesse an dem Ausgang eines Streiks haben, und Arbeitnehmern, die daran ein substantielles Interesse haben, zu unterscheiden. Vernünftigerweise könne man nur von letzteren erwarten, dass sie die Last zusammen mit den streikenden Arbeitern tragen; eine Suspendierung der Leistungen sei damit nur in diesem begrenzten Fall zulässig. – Das bedeutet, dass in diesem besonderen Fall das Sachverständigenausschuss die technischen Regelungen der Konvention Nr. 102 im Gegensatz zu seiner allgemeinen Übung erweiternd auslegt. Er beruft sich dabei unter anderem auf die Tatsache, dass die Praxis der Mitgliedstaaten der IAO, die Konvention Nr. 102 ratifiziert haben, in diesem Punkt im Wesentlichen übereinstimme356 – eine methodisch problematische Schlussfolgerung vom Sein auf das Sollen.
c) Kontrollverfahren zu den Staatenberichten über die Einhaltung der sozialrechtsrelevanten Konventionen des Europarats Im Rahmen des Europarats stehen im Wesentlichen zwei Normenkomplexe zur Überprüfung der Gestaltung der Sozialsysteme zur Verfügung: die ESC und die EOSS.
aa) Bewertung der Entwicklung der Sozialrechtssysteme nach der ESC / RESC Die ESC / RESC gibt für die Bewertung der Entwicklung der Sozialrechtssysteme in Art. 12 ESC vier Aspekte vor. Zum einen geht es darum, überhaupt zu prüfen, ob ein System sozialer Sicherheit besteht. Zum anderen ist zu klären, ob dieses System auf einem befriedigenden Stand gehalten wird – hier erfolgt ein Brückenschlag zu Konvention Nr. 102 der IAO bzw. zur EOSS. Aber auch dies wird noch nicht für ausreichend erachtet; nach Art. 12 Abs. 3 ESC haben die Staaten sich zu bemühen, das System sozialer Sicherheit fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen. Und schließlich ist nach Art. 12 Abs. 4 ESC die Rechtsstellung 356
Report of the Committee of Experts 1965, S. 116 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
der Staatsangehörigen aus anderen Vertragsstaaten zu überprüfen357. – Aus der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses werden die Konturen dieser einzelnen Bestimmungen deutlich. Das von den Formulierungen der Bestimmungen vorgegebene Gerüst ist dabei wesentlich konkreter als beim ICESCR. Dadurch wird zwar einerseits die Interpretationsaufgabe leichter, andererseits gilt es aber auch, „veraltete“ Konzeptionen mit einem neuen Bedeutungsgehalt anzureichern. (1) Allgemeine Anforderungen an Systeme sozialer Sicherheit Die Schwierigkeit bei der Auslegung von Art. 12 Abs. 1 ESC ist, zu bestimmen, was unter einem „System“ sozialer Sicherheit zu verstehen ist, d. h. eine Grenzlinie zu ziehen zwischen Einzelmaßnahmen, die diesen Anforderungen noch nicht genügen, und einem umfassenden System. Kriterien, die zur Bewertung herangezogen werden, sind erfasster Personenkreis, gedeckte Risiken, Höhe der Leistungen und Art der Finanzierung358, wobei auch statistische Daten etwa zum Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt berücksichtigt werden. Ist der sozialversicherungsrechtliche Schutz besonders lückenhaft, wird nur eine sehr begrenzte Gruppe von potentiell Bedürftigen einbezogen359 oder sind die einzelnen Leistungsansprüche sehr niedrig, so hat der Ausschuss Zweifel, ob tatsächlich ein „System“ sozialer Sicherheit vorliegt360. In den frühen Kontrollzyklen ist er bei der Überprüfung aber zurückhaltend und stellt keine Verletzungen fest. Anders ist dies ab dem Zeitpunkt, als die Überprüfung der Staatenberichte einer Reihe von ehemals sozialistischen Staaten ansteht. Nunmehr verschafft sich der Ausschuss bereits bei der Prüfung von Art. 12 Abs. 1 ESC / RESC einen Überblick über das jeweilige nationale Sozialsystem in seiner Gesamtheit und spricht erstmals ab 2004 auch Verurteilungen aus. Gerügt werden Bulgarien, Estland und Rumänien, da die Leistungen in einzelnen Sicherungszweigen361 im Verhältnis zum Existenzminimum als zu niedrig befunden werden362. Geprüft wird im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 ESC zudem das Verhältnis Recht – Wirklichkeit, insbesondere inwieweit der Umfang der Schwarzarbeit im jeweiligen 357 Vgl. zur abstrakten Interpretation der Bestimmung durch den Sozialrechtsausschuss S. 265 ff. 358 Vgl. Conclusions XV-1 / 2, S. 84. 359 Kritisiert werden hier beispielsweise Familienleistungen, die nur an einen sehr engen Kreis von Bedürftigen gezahlt werden (Conclusions XVI-2, S. 782). 360 Vgl. Conclusions III, S. 62 (Cyprus); vgl. auch die Zweifel im Hinblick auf die Türkei, in der zwar 88,4 % der Bevölkerung, nimmt man alle Versicherungszweige zusammen, von dem System sozialer Sicherheit erfasst werden, allerdings nur 32 % der Bevölkerung krankenversichert sind. Aber auch hier hat der Ausschuss keinen Verstoß festgestellt (vgl. Conclusions XV-2, S. 595 ff. (Turkey)). 361 Bulgarien: insbesondere Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Alter; Estland: Leistungen bei Arbeitslosigkeit; Rumänien: bei den hauptsächlichen Zweigen der Sozialversicherung. 362 Conclusions XVII-1 (Bulgaria, Romania, Estonia – Zitat aus dem Internet ohne Seitenangaben).
II. Kontrollverfahren
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Staat das System sozialer Sicherheit in Frage stellt, welche Maßnahmen ergriffen werden, um säumige Arbeitgeber zur Zahlung von Beiträgen zu veranlassen363, und wie hoch der Anteil der im informellen Sektor Beschäftigten ist364. Auch potentielle Diskriminierungen werden auf der Grundlage von Art. 12 Abs. 1 ESC untersucht. Dies gilt beispielsweise für Maßnahmen, die offen aufgrund des Geschlechts diskriminieren, wie höhere Hinterbliebenenrenten für Frauen oder unterschiedliche Krankengeldzahlungen für verheiratete Frauen und verheiratete Männer365. Diese Interpretation von Art. 12 Abs. 1 ESC ist äußerst problematisch, da sich nicht argumentieren lässt, aufgrund derartiger Regelungen würde die Existenz eines Sozialschutzsystems an sich in Frage gestellt. Die weit über den Wortlaut hinausgreifende Auslegung entspringt einem Unbehagen: Im Gegensatz zu den anderen menschenrechtlichen Abkommen enthält die ESC von 1961 kein allgemeines Diskriminierungsverbot. Lediglich in Einzelvorschriften finden sich Ansätze366. Dieser Rechtszustand passt aber nicht zur Weiterentwicklung des Menschenrechtsschutzes Ende des 20. Jahrhunderts, er wird als Defizit empfunden367. Nicht nur in Art. 12 Abs. 1 ESC, sondern etwa auch in Art. 1 (Recht auf Arbeit)368 wird zur Kompensation dieses Mangels ein Diskriminierungsverbot hineingelesen, um auch in der Charta einen Hebel zur Überprüfung und Kritik an Ungleichbehandlungen im sozialen Bereich zu finden. Art. 12 Abs. 2 ESC / RESC verweist auf Konvention Nr. 102 der IAO bzw. die EOSS. Deshalb greift der Sachverständigenausschuss die im Rahmen des Kontrollverfahrens zu Konvention Nr. 102 bzw. zur EOSS gerügten Punkte auf, gibt aber bei einzelnen Verstößen bereits dann eine positive Stellungnahme ab, wenn das nationale Sozialsystem bei mindestens drei bzw. sechs Risiken den Vorgaben der Konvention Nr. 102 bzw. der EOSS entspricht. – Problematisch ist, wenn der Sachverständigenausschuss – vom Wortlaut der Vorschrift abweichend – auch auf weitere Sozialrechtskonventionen der IAO Bezug nimmt, die über die genannten Standards hinausgehen369.
Diese Fragen werden im Rahmen des XV. Kontrollzyklus aufgeworfen. Conclusions XVII-1 (Turkey – Zitat aus dem Internet ohne Seitenangaben). 365 Vgl. den Kommentar zur Abschaffung dieser Regelungen in Conclusions XV-1, S. 409 (Malta). 366 Vgl. Art. 4 Abs. 3 ESC (gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit). 367 Erst in die revidierte Fassung wird ein Diskriminierungsverbot aufgenommen; vgl. dazu S. 88 ff. 368 Konkret wird die Frage nach der Einbeziehung in den Arbeitsmarkt im Hinblick auf besonders schützenswerte Gruppen, insbesondere von Frauen, Behinderten, Ausländern und bestimmten ethnischen Gruppen, untersucht. 369 Vgl. z. B. Conclusions XIV-1 / 2, S. 303 (Deutschland) – hier wird auf Konvention Nr. 130 Bezug genommen. 363 364
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
(2) Weiterentwicklung von Systemen sozialer Sicherheit Die eigentlich spannende Frage ist aber, wie der Sachverständigenausschuss die „Fortschrittsklausel“ des Art. 12 Abs. 3 ESC interpretiert, die historisch aus der Situation Anfang der 60er Jahre zu verstehen ist. Damals war im Bereich des Sozialrechts in den europäischen Ländern vieles in Bewegung; eine immer weiter fortschreitende Verbesserung des sozialen Schutzes, insbesondere der abhängig Beschäftigten, wurde für möglich gehalten. Die Situation Ende des 20. Jahrhunderts steht unter einem anderen Vorzeichen. Es geht – zumindest für die westeuropäischen Staaten mit hoch entwickelten Sozialversicherungssystemen – nicht mehr darum, die Systeme sozialer Sicherheit „fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen“, sondern durch Sparmaßnahmen finanziell zu konsolidieren. Würde der Ausschuss Leistungseinschränkungen per se als Verstoß gegen Art. 12 Abs. 3 ESC sehen, könnte er bei keinem dieser Mitgliedstaaten zu einer positiven Stellungnahme kommen. Vor diesem Hintergrund bezieht der Ausschuss, wie auch im Allgemeinen Kommentar370, die Auffassung, dass Änderungen des Sozialversicherungssystems, die der Aufrechterhaltung des Systems dienten, grundsätzlich akzeptabel seien, es sei denn, sie würden für Einzelne den Verlust einer effektiven sozialen Sicherung bedeuten oder den Schutz auf eine „Mindestunterstützung“ reduzieren. Eine wirtschaftliche Zwecksetzung von Sozialreformen, insbesondere die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen zur Vermeidung einer Erhöhung des Defizits des Staatshaushalts und der Schulden, wird explizit als Mittel zum Schutz des Sozialsystems verstanden371. Wie lassen sich aber vor diesem Hintergrund mit dem Maßstab des Art. 12 Abs. 3 ESC die verschiedenen Sparmaßnahmen in den einzelnen Nationalstaaten beurteilen, wie lässt sich die Grenzlinie zwischen wirtschaftlich motivierten, das System konsolidierenden Maßnahmen und solchen, die es aushöhlen, bestimmen – eine Grenzlinie, die für die Abfassung einer positiven bzw. negativen Schlussfolgerung vonnöten ist? Bis zum 13. Kontrollzyklus (1989 / 1990) moniert der Sachverständigenausschuss keine Verstöße gegen Art. 12 Abs. 3 ESC. Die erste negative Schlussfolgerung im 14. Kontrollzyklus betrifft die Niederlande, deren Reform des Sozialschutzes im Fall von Krankheit und Invalidität als im Widerspruch zur Charta angesehen wird372. Im 15. Kontrollzyklus wird schließlich auch die Reform der Vgl. dazu S. 262 f. Diese Argumentation wird vielfach, nahezu wortgleich, als Grundlage zu den Stellungnahmen zu den Veränderungen in den einzelnen Sozialsystemen zitiert; vgl. z. B. Conclusions XIV-1 / 2, Austria, S. 80, Belgien, S. 115. 372 In der Sache geht es darum, dass die Leistung des Krankengeldes wie auch die Leistung bei Invalidität einseitig dem Arbeitgeber auferlegt wird, der dieses Risiko wiederum privat absichern kann. Das Problem aus der Sicht des Sachverständigenausschusses besteht vor allem darin, dass eine soziale Negativauslese der Arbeitgeber bei der Einstellung befürchtet 370 371
II. Kontrollverfahren
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Arbeitslosenversicherung in Norwegen als Verstoß gegen Art. 12 Abs. 3 ESC gewertet373. Verschiedene andere Maßnahmen werden äußerst kritisch diskutiert, so etwa die Festlegung von Zuzahlungen von bis zu 40 % zu medizinischen Leistungen in Belgien. Während der Sachverständigenausschuss zur IAO hierin einen Verstoß gegen die EOSS sieht374, betont der Sozialrechtsausschuss, dass aufgrund von Einzelmaßnahmen, die zu einer Verbesserung des Schutzes der besonders schwachen Gesellschaftsgruppen führten375, ein Verstoß gegen die ESC nicht zu gewärtigen sei. Bei der belgischen Rentenreform, mit der Vergünstigungen von Frauen abgebaut werden, werden Kompensationsmaßnahmen, wie die Anrechnung von Kindererziehungszeiten und die Festlegung von Mindestrenten, als positiv berücksichtigt. Die neue Versicherung gegen Berufskrankheiten in Dänemark, die von einer privaten, nicht profitorientierten Organisation getragen wird, wird für vereinbar mit der ESC gehalten, soweit die Arbeitgeber dafür verantwortlich sind und es für den Fall, dass die Arbeitgeber keine Beiträge zahlen, einen Garantiefonds gibt. Die in den verschiedenen Versicherungszweigen sehr weitgehenden Sparmaßnahmen in Finnland376 werden im Hinblick auf das insgesamt hohe Niveau des finnischen Sozialversicherungsschutzes gerechtfertigt. Alle anderen Sparmaßnahmen, wie die Heraufsetzung des Rentenalters, die Erhöhung von Vorversicherungszeiten, die Erhöhung des Versicherungsbeitrags von Rentnern zur Krankenversicherung, die Einführung von Zuzahlungen zu Rehabilitationsmaßnahmen, die Kürzungen von Leistungen für Langzeitarbeitslose, die Reduktion von Familienleistungen und Kindergeld377 sowie grundsätzliche Ändewird. Die Abkehr von der gemeinsamen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird als Verstoß gegen das Solidaritätsprinzip gesehen, obwohl verschiedene soziale Netze für die nicht durch die Arbeitgeber ausreichend Gesicherten geschaffen werden (Conclusions XIV-1 / 2, S. 565). 373 Vgl. den Wortlaut der „Conclusion“: „The committee concludes that the development of the situation in Norway during the reference period was not in conformity with Article 12 para. 3 of the Charter“ (Conclusions XV-2 / 2, S. 442). 374 Vgl. dazu S. 326 ff. 375 Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass der Kreis derer, die als besonders schutzbedürftig angesehen und deshalb von den Zuzahlungen ausgenommen worden sind, über die ursprünglichen Gruppen der Witwen, Witwer, Invaliden, Rentner und Waisen, deren Einkommen unter einer bestimmten Grenze liegt, hinaus erweitert wurde und mithin auch andere wirtschaftlich schwache Personen einschließt. 376 Statt Grund- und Aufbaurente gibt es nur mehr eine staatliche Rente. Die Zusatzrente wird fortschreitend auf 0 reduziert. Im Ausland erworbene Renten werden bei der Berechnung der Rente in Betracht gezogen und, wenn ein bestimmter Betrag überschritten ist, wird kein Anspruch auf eine finnische Rente mehr gewährt. Bei Arbeitslosigkeit sind für Lohnersatzleistungen 10 anstelle von 6 Monaten Arbeit Voraussetzung. Die Wartezeit beträgt statt 5 Tagen 7 Tage. In der Regel werden Zahlungen für maximal 500 Tage geleistet; danach gibt es eine Arbeitsmarktunterstützung. Junge Leute zwischen 17 und 23 Jahren bekommen statt der Arbeitsmarktunterstützung ein Angebot, an einem Trainingskurs teilzunehmen.
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rungen der Finanzierungsstruktur378, werden als wirtschaftliche Konsolidierungsmaßnahmen akzeptiert, wenn damit im Saldo die Situation der tatsächlich Bedürftigen verbessert wird. Für die mittel- und osteuropäischen Staaten, die erst in den 90er Jahren der ESC oder RESC beigetreten sind, stellt sich die Situation anders dar, da sie nach der sozialistischen Zeit und den Problemen in der Phase der Umstellung auf ein marktwirtschaftliches System in der zweiten Hälfte der 90er Jahre eine grundsätzliche Verbesserung des Systems der sozialen Sicherheit vorweisen können, auch wenn es im Ergebnis immer noch einen niedrigen Stand aufweist. Das bedeutet im Ergebnis, dass der Sachverständigenausschuss Verstöße gegen Art. 12 Abs. 1, nicht aber gegen Art. 12 Abs. 3 ESC / RESC feststellen kann. Wie nun lässt sich das case law des Sachverständigenausschusses in diesem Zusammenhang systematisieren? Welche strukturellen Kriterien lassen sich erkennen? Zum einen ist deutlich, dass der Maßstab nur ein relativer ist. Gewertet wird nicht das de facto in den einzelnen Sozialrechtssystemen erreichte Niveau, sondern nur die jeweilige Veränderung des Systems – ein Ansatz, der sich auf den Wortlaut des Art. 12 Abs. 3 ESC stützen lässt, da der Begriff „höherer Stand“ gleichermaßen relativ ist. Des Weiteren wird, ähnlich wie bei der Prüfung von Grundrechtsverstößen durch das Bundesverfassungsgericht379, in einem ersten Schritt nach der Zweckbestimmung der Maßnahme und ihrer Vereinbarkeit mit der Charta gefragt. Bei der niederländischen Reform der Kranken- und Invaliditätsversicherung etwa wird Kostensenkung und Verminderung der Abwesenheit von der Arbeit, bei der norwegischen Reform der Arbeitslosenversicherung die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Reintegration Arbeitsloser ins Erwerbsleben als Zweck identifiziert. In einem zweiten Schritt wird die Geeignetheit des Mittels zur Erreichung des Zwecks geprüft. Dabei wird nicht nur a priori beurteilt, ob die Maßnahmen objektiv geeignet sein können, sondern auch ex post, ob sie sich tatsächlich als geeignet erwiesen haben: „To assess whether the means are suited to the ends being pursued, the Committee takes account among other things, of the results achieved“380. 377 Vgl. den Kommentar zur Reform in Frankreich, bei der eine Bedürftigkeitsprüfung für die Gewähr von Leistungen für kleine Kinder eingeführt und die Zuzahlungen für die Beschäftigung von Haushaltshilfen für Familien mit Kindern halbiert wurden: „Noting that these measures are prompted by the Government’s concern to make financial transfers in favour of families more equitable, while at the same time restoring the financial equilibrium of the family benefits branch and that they correspond to this aim, the Committee finds that these developments do not contravene Article 12 para. 3“ (Conclusions XV-1 / 2, S. 260). 378 Vgl. z. B. die Bewertung der Änderung der Finanzierung der Sozialleistungen in Frankreich und der Einführung einer Arbeits- und Kapitaleinkommen umfassenden „contribution sociale généralisée“ als „fair“ (Conclusions XV-1 / 2, S. 259). 379 Stichwort „verfassungslegitimer Zweck“. 380 Vgl. Conclusions XIV-1 / 2, S. 308 (Deutschland).
II. Kontrollverfahren
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Dies erscheint, geht es um eine Rechtskontrolle gesetzgeberischer Maßnahmen anhand völkerrechtlicher Normen, überaus weitgehend. Denn die Kontrollinstanz nimmt nicht die Perspektive des Gesetzgebers ein und berücksichtigt – wie dieser – nur den Erkenntnisstand bei Erlass der Maßnahme, sondern beurteilt Maßnahmen auch auf der Grundlage neuer, zu dem Zeitpunkt noch nicht vorhandener Informationen. Damit wird im Grunde der Boden einer rechtlichen Kontrolle verlassen und anstatt dessen eine wirtschaftliche Prüfung angestellt. Die Relation Mittel – Zweck wird mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitssatzes untersucht, wie etwa die Analyse der Gesundheitsreform in Deutschland zeigt: „However, it takes the view that the means used so far have not been manifestly disproportionate to the end being pursued, primarily because Germany has sought to preserve a compulsory health insurance system based on solidarity, spreading the burden of the risks among the members of the community“381.
Der Ausschuss geht dabei so weit, auch die Grundlage finanzieller Erwägungen im Einzelnen nachzuvollziehen: „. . . needs information, in particular as to whether the cost containment measures are appropriate to the underlying financial situation“382.
Im Hinblick auf die Reform des Sozialschutzes bei Krankheit und Invalidität in den Niederlanden sieht der Ausschuss die Mittel383 zur Erreichung des Ziels als ungeeignet an: „In its view, the goal of effective social protection for all members of society, which all states that have accepted Article 12 para. 3 must pursue, presupposes that the Contracting Parties maintain social security systems based on solidarity, as this constitutes a fundamental guarantee against discriminatory treatment in this area. The collective nature of social security funding, through contributions and / or taxation, is a key factor in this guarantee, ensuring an apportionment of the cost of the risks between the members of the group. Another important factor is the participation of the persons protected in the management and supervision of the system“384.
Ein wesentliches Gewicht bei der Frage, was der Kern eines Sozialschutzsystems sei, der nicht ausgehöhlt werden dürfe, räumt der Sachverständigenausschuss somit den allgemeinen Prinzipien der Solidarität und der Mitentscheidung der Betroffenen bei der Verwaltung des Sicherungssystems ein, Prinzipien, die in Konvention Nr. 102 der IAO enthalten und nach Ansicht des Ausschusses bei der Auslegung von Art. 12 Abs. 3 ESC zu berücksichtigen sind. Damit geht es aber, trotz der Formulierungen in der „Conclusion“, nicht um eine Überprüfung der VerhältConclusions XIV-1 / 2, S. 308 (Deutschland). Conclusions XIV-1 / 2, S. 310 (Deutschland). 383 Das Risiko der Krankheit und Invalidität ist grundsätzlich vom Arbeitgeber – entweder unmittelbar oder mit einer privaten Versicherung – zu tragen. Dabei sind 70 % des vorherigen Lohnes bis zu maximal 52 Wochen zu leisten. 384 Conclusions XIV-1 / 2, S. 562 f. 381 382
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
nismäßigkeit der Maßnahmen. Wäre dies gewollt gewesen, hätten die für die Betroffenen geänderte Rechtssituation – der de iure und de facto garantierte soziale Schutz – zu den anvisierten Zielen in Beziehung gesetzt werden müssen. Die Argumentation des Ausschusses baut aber auf der Prämisse auf, bestimmte tradierte Organisationsmuster sozialer Sicherheit müssten als Kernbestand, gleich welche Zielrichtung Reformmaßnahmen auch haben, gewahrt werden. Problematisch ist, dass damit letztlich die Gründe, die die Argumentation tragen, nicht offen gelegt und diskutiert werden. Zudem ergibt sich ein Widerspruch, wenn einerseits festgestellt wird, das niederländische System entspreche den Vorgaben des Art. 12 Abs. 2 ESC, verstoße damit nicht gegen Konvention Nr. 102 der IAO bzw. die EOSS, andererseits aber der Verstoß gegen Art. 12 Abs. 3 ESC damit begründet wird, die Reformen würden die in Konvention Nr. 102 bzw. der EOSS festgelegten Grundlagen sozialer Sicherheit angreifen. Auch die Kritik an der Reform der Arbeitslosenversicherung in Norwegen385 wird darauf gestützt, die Methoden seien dem Ziel nicht angemessen. Dabei wird vor allem darauf abgestellt, die rechtlichen Vorgaben seien sehr strikt, da der Arbeitslose gezwungen werde, jede Arbeit unabhängig von Fähigkeiten, Qualifikation, Berufserfahrung und persönlicher und sozialer Situation anzunehmen. Auch in diesem Zusammenhang stellt der Ausschuss explizit auf die Verhältnismäßigkeit ab: „The Committee considers that in a situation close to full employment and of economic growth ( . . . ) the adoption of measures which are so restrictive is not proportionate to the objectives pursued and does not come within the range of adaptations of the social security systems permissible under Article 12 para 3“386.
Die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zu dem delikaten Problem einer Messung aktueller Sozialrechtsreformen an einer aus den 60er Jahren stammenden Fortschrittsklausel ist, vergleicht man sie mit der Weiterentwicklung anderer Regelungen, dennoch eher zurückhaltend. Im Mittelpunkt steht die Ziel-MittelPrüfung anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie die – nicht weiter hinterfragte – Annahme, es gebe strukturelle Kernelemente sozialer Sicherheit, die nicht angetastet werden dürften. 385 Im Wesentlichen geht es um die Neudefinition der Voraussetzungen für die Leistungsberechtigung. Notwendig ist, dass der Versicherte bona fide ist, d. h. arbeitsfähig ist, willig, eine angebotene Arbeit zu normalen Konditionen anzunehmen, verfügbar für jede Arbeit in ganz Norwegen, gleichermaßen verfügbar für eine Ganz- und Halbtagsbeschäftigung, fähig, Einkommen auf der Grundlage selbständiger Tätigkeit zu erzielen und bereit, an Arbeitsmarktintegrationsprogrammen teilzunehmen. Rechtsfolge der Ablehnung einer angebotenen Arbeit oder einer Teilnahmemöglichkeit an einem Arbeitsmarktprogramm „ohne vernünftigen Grund“ ist die Suspendierung der Leistungen für acht Wochen beim ersten Mal und für einen längeren Zeitraum bei weiteren Malen. – Für 1998 wird angegeben, 8.488 Leistungsempfänger wären von dieser Maßnahme betroffen gewesen. 386 Conclusions XV-1 / 2, S. 441.
II. Kontrollverfahren
321
(3) Einschluss ausländischer Staatsbürger in Systeme sozialer Sicherheit Verstöße gegen Art. 12 Abs. 4 ESC sind aufgrund der mehrfach erweiternden Auslegung dieser Bestimmung durch den Sozialrechtsausschuss387 die Regel und nicht die Ausnahme388. Unmittelbare Diskriminierung wird gerügt bei einer Reihe von EU-Staaten, die bestimmte Leistungen nur an eigene Staatsangehörige, Staatsangehörige anderer EU-Staaten und Staatsangehörige von Drittstaaten, zu denen Sozialversicherungsabkommen bestehen, gewähren, denn damit werden regelmäßig Staatsangehörige aus Staaten, die die ESC / RESC ratifiziert haben, nicht aber Mitgliedstaaten in der EU sind, benachteiligt 389. Als konventionswidrig erachtet es der Sachverständigenausschuss beispielsweise, wenn für eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung zur Bedingung gemacht wird, dass der Antragsteller erklärt, keine sozialrechtlichen Leistungen in Anspruch zu nehmen390. Entscheidend ist aber die mittelbare Diskriminierung, die der Sozialrechtsausschuss dann rügt, wenn als Voraussetzung für den Leistungsbezug ein Wohnsitz im Inland gefordert wird. Dies gilt bei nahezu allen Staaten für die Gewährung von Kindergeld391. Werden aufgrund bilateraler Abkommen in diesem Fall Leistungen vorgesehen, so wird in der Regel mit dem Argument der niedrigeren Lebenshaltungskosten die Höhe reduziert oder der Kreis der Anspruchsberechtigten eingegrenzt. Der Sachverständigenausschuss behält sich bei diesen Maßnahmen die Prüfung der Verhältnismäßigkeit vor und entwickelt ein eigenes case law392. Er hält etwa die Regelung in dem französisch-türkischen bilateralen Abkommen, wonach nur für maximal vier Kinder Leistungen gezahlt werden, für mit der ESC kompatibel, nicht dagegen die Regelung, die Altersgrenze für die Gewährung von Kindergeld von 20 auf 15 Jahre herabzusetzen; dafür gäbe es keinen vernünftigen sachlichen Grund393. Vgl. dazu S. 263 ff. Vgl. das Ergebnis des XV. Kontrollzyklus: negative Stellungnahmen zu folgenden Vertragsstaaten: Österreich, Belgien, Zypern, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Norwegen, Spanien, Türkei; positive Stellungnahmen nur zu den Niederlanden; Schweden, Großbritannien und Malta haben die Vorschrift nicht akzeptiert. 389 Dies gilt beispielsweise für Staatsangehörige aus Albanien, Andorra, Armenien, Aserbeidschan, Bulgarien, Georgien, Moldawien, Norwegen, Kroatien und die Türkei (Stand 2005). 390 Conclusions XVI-2, S. 785 (Slowakei). 391 Aufgrund dessen werden im XV. Kontrollzyklus Verstöße angenommen bei Österreich, Belgien (trotz Ausnahmemöglichkeit nach Ermessen), Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Norwegen, Spanien. Bei Deutschland wird die Entscheidung zurückgestellt, da erst der Ausgleich im Steuerrecht zu prüfen sei. 392 Conclusions XV-1 / 2, S. 261: „The Committee acknowledges in this regard that a lower level of benefit is admissible provided that living costs are significantly lower in the child’s country of residence and that the discrepancy in benefit is proportional to the difference in these costs“. 393 Conclusions XV-1 / 2, S. 261 f. 387 388
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Die Kritik an der Diskriminierung bei der Gewährung von Familienleistungen wird im Zusammenhang mit Art. 16 wiederholt; die negativen Stellungnahmen verdoppeln sich für die Staaten, die beide Bestimmungen angenommen haben. Grundsätzlich akzeptabel ist nach Meinung des Ausschusses die Festlegung einer bestimmten Wohnzeit im Inland als Leistungsvoraussetzung; allerdings dürfe sie nicht exzessiv sein wie etwa die zypriotische Regelung einer 20- bzw. 35-jährigen Wohnzeit als Voraussetzungen für Sozialrenten im Alter oder die 5-jährige Wohnzeit für zusätzliche Familienleistungen in Belgien394. Geprüft wird neben unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung im Rahmen von Art. 12 Abs. 4 ESC / RESC zusätzlich auch, ob sozialversicherungsrechtliche Anwartschaften zusammengerechnet und erhalten werden. Fehlen entsprechende multi- oder bilaterale Verträge und verpflichtet sich der Staat auch nicht ohne vertragliche Grundlage zu entsprechenden Leistungen, so führt auch dies nach der Ansicht des Sozialrechtsausschusses zu einer Vertragsverletzung395. Den Berichten des Sachverständigenausschusses ist keine eindeutige Stellungnahme zu der Frage zu entnehmen, inwieweit Art. 12 Abs. 4 und Art. 16 ESC unmittelbar anwendbar sind und sich so potentiell Berechtigte bei Klagen vor nationalen Gerichten unmittelbar auf diese Bestimmungen stützen können. Dies beurteilt sich danach, ob die konkrete Bestimmung unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkung nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängt. Wie bereits dargestellt396, ist die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der ESC, insbesondere inwieweit sie konkrete Ansprüche Einzelner begründet, überaus strittig, auch wenn die Extrempositionen – ESC nur als Programmsatz bzw. unmittelbare Anwendbarkeit aller Bestimmungen – als falsifiziert gelten dürfen. Im Gegensatz zu den Sachverständigenausschüssen zu den UN-Pakten397 hat der Sozialrechtsausschuss bisher keinen allgemeinen Kommentar zu den sich für die Vertragsstaaten aus der ESC ergebenden Verpflichtungen erlassen. Aber auch im Rahmen der einzelnen Kontrollverfahren nimmt er dazu nicht explizit Stellung. Für Art. 12 Abs. 1 bis 3 ESC dürfte zweifelsfrei sein, dass diese Bestimmungen nicht unmittelbar anwendbar sind; aus Anforderungen an das Niveau eines Sozialversicherungssystems lassen sich keine Ansprüche Einzelner ableiten. Anders könnte dies bei Art. 12 Abs. 4 und 16 ESC i.V. m dem Anhang sein. Nach dem Wortlaut wäre eine unmittelbare Anwendbarkeit zwar zu verneinen, da nur gefordert wird, Gleichbehandlung „durch den Abschluss geeigneter zwei- und mehr394 Bei der Beurteilung dieser Fristen zieht der Sachverständigenausschuss auch die jeweils 6-monatige Vorwohnzeit in Konvention Nr. 118 und im Interim Agreement als Vergleichspunkt heran. 395 Vgl. z. B. Conclusions XVI-1, S. 784 ff. 396 Vgl. dazu S. 223 ff. 397 Vgl. dazu S. 235 (ICCPR) und S. 240 f. (ICESCR).
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seitiger Übereinkünfte oder durch andere Mittel“ zu gewährleisten398. Diese Auslegung wird auch nahe gelegt durch die aufgrund des Wunsches der deutschen Regierung aufgenommene Bestimmung im Anhang zur ESC, in der darauf verwiesen wird, dass die Charta „nur rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters enthält und ausschließlich der Überwachung durch den Kontrollausschuss unterliegt“. Allerdings weist die Auslegung durch den Sachverständigenausschuss in eine andere Richtung, ohne dass die Frage als abschließend geklärt betrachtet werden könnte. In Bezug auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Landeserziehungsgeld bringt der Sachverständigenausschuss seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass mit der Weigerung, der ESC eine unmittelbare Wirkung (wörtlich: „direct effect“) zuzuerkennen, die von Art. 16 ESC gewährten Rechte geleugnet worden seien. Ob daraus allerdings im Umkehrschluss zu folgern ist, dass Ausländer über Art. 12 Abs. 4 und 16 ESC gleichberechtigt sozialrechtliche Ansprüche in vollem Umfang vor nationalen Gerichten geltend machen können, ist vor allem insofern zweifelhaft, als der Sachverständigenausschuss eine Reduktion des Kindergelds bei Aufenthalt der Kinder im Ausland anerkannt hat. Ist aber die Höhe eines Anspruchs nicht eindeutig festzustellen, scheidet eine unmittelbare Anwendbarkeit der Norm aus. (4) Gewährleistung eines Rechts auf soziale Fürsorge Auch Art. 13 Abs. 1 ESC ist eine Vorschrift, deren Anforderungen die nationalen Rechtsordnungen nach Ansicht des Sachverständigenausschusses vielfach nicht entsprechen. Auch hier werden zum Teil Verstöße moniert, die auf einer rechtsfortbildenden Auslegung der Bestimmung beruhen399. Wird nach dem Wortlaut von den Vertragsstaaten verlangt sicherzustellen, dass jedem, der nicht über ausreichende Mittel verfügt, ausreichende Unterstützung gewährt wird, so konkretisiert der Sachverständigenausschuss diese Pflicht dahingehend, dass dem Einzelnen ein vor einem unabhängigen Organ geltend zu machendes subjektives Recht auf Fürsorge einzuräumen ist: Die Rechtslage in einer Vielzahl von Vertragsstaaten400 wird dazu im Widerspruch gesehen. In Italien kann ein individuelles Recht nicht für alle Regionen nachgewiesen werden401; in Spanien werden Leistungen zum Teil vom Budget abhängig gemacht402. 398 Diese Position wird etwa auch von der deutschen Rechtsprechung vertreten; vgl. BVerwG E 91, 327 ff. (330): „Bei der Europäischen Sozialcharta handelt es sich nämlich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der – von etwaigen, hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen ( . . . ) – keine unmittelbaren Rechte einzelner Bürger begründet, sondern lediglich rechtspolitische Zielsetzungen beinhaltet, deren Umsetzung in einklagbares nationales Recht sich die Vertragsparteien ausdrücklich vorbehalten haben ( . . . )“; vgl. auch Bayerisches Landessozialgericht vom 29. 3. 2001 (Az L 9 EG 18 / 97). 399 Vgl. dazu S. 263 ff. 400 Vgl. z. B. im XV. Kontrollzyklus die Situation in Italien, Portugal, Spanien und der Türkei; vgl. die Einzelberichte in den Conclusions XV-1. 401 Conclusions XV-1 / 2, S. 377 (Italy).
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
In Art. 13 Abs. 1 ESC wird zweimal der Begriff „ausreichend“ verwendet. Zum einen ist zu definieren, wer nicht über „ausreichende Mittel“ verfügt, zum anderen, ob eine „ausreichende Unterstützung“ gewährleistet wird. Der Sachverständigenausschuss stellt in diesem Zusammenhang Vergleiche zwischen den Sozialhilfeleistungen und den Mindest- und Durchschnittslöhnen an, prüft das Verfahren, in dem bestimmt wird, was als ausreichend zur Erfüllung der Bedürfnisse anzusehen ist, und untersucht auch die Anpassung an die Steigerung der Lebenshaltungskosten. Ein Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 ESC wird in diesem Zusammenhang etwa bei der Türkei moniert, da die Leistungen im Einzelnen weniger als 10 % des Mindestlohns betragen403 bzw. auch nicht allen Bedürftigen gewährt werden404. Ein weiterer Schwerpunkt der Überprüfung ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen und inwieweit Fürsorgeleistungen, z. B. bei Ablehnung eines Arbeitsoder sonstigen Integrationsangebots, gekürzt werden können, insbesondere ob auch in diesen Fällen eine Mindestversorgung noch sichergestellt ist. Trotz der zum Teil sehr weitgehenden Regelungen – in Finnland etwa können Leistungen um bis zu 40 % gekürzt werden – wurde in diesem Zusammenhang noch kein Verstoß gegen die Charta festgestellt. Ein Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 ESC wird auch dann angenommen, wenn eine bestimmte Personengruppe vollständig von den Leistungen ausgeschlossen wird. Dies gilt etwa in Frankreich für die jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren. Der Sachverständigenausschuss erkennt zwar die Argumentation Frankreichs, diese Beschränkung helfe, eine Abhängigkeit von staatlichen Leistungen zu vermeiden, grundsätzlich an, hält einen vollständigen Ausschluss aber doch für zu weit gehend, insbesondere nicht durch die Unterschiede zwischen dieser Altersgruppe und anderen Erwachsenen gerechtfertigt405. Die Mehrzahl der Verstöße betrifft die Rechtsstellung von sich rechtmäßig in Land befindenden Ausländern, denen nach der Änderung der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses406 nach Art. 13 Abs. 1 ESC eine gleichberechtigte Stellung mit den jeweiligen Staatsangehörigen einzuräumen ist407. Wie bei der Kritik an der Staatenpraxis auf der Grundlage von Art. 12 Abs. 4 ESC ist insbesondere die Rechtsstellung derer, die nicht aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union kommen, problematisch408. Und wie dort ist Stein des Anstoßes in der ReConclusions XV-1 / 2, S. 531 ff. (Spain). Conclusions XV-1 / 2, S. 601 ff. (Turkey). 404 Conclusions XVII-1 (Turkey – Zitat aus dem Internet ohne Seitenangaben). 405 Conclusions XV-1 / 2, S. 270 f., ebenso Conclusions XVII-1 (Zitat aus dem Internet ohne Seitenangaben). 406 Vgl. dazu S. 321 ff. 407 Allerdings ist zu bedenken, dass die Gewähr von Sozialleistungen ein Danaergeschenk sein kann, wenn dies aufenthaltsbeendende Maßnahmen nach sich ziehen kann. 408 Indem Art. 7 Abs. 2 VO 1612 / 68 in Art. 7 Abs. 2 für Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen einen Anspruch auf „die gleichen sozialen und 402 403
II. Kontrollverfahren
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gel das Erfordernis einer Vorwohnzeit, das für Nicht-Staatsangehörige eher Ansprüche ausschließt als für Staatsangehörige409. Zum Teil werden Ansprüche aber auch explizit nur Inländern zuerkannt410. Ende der 90er Jahre ist hier in den verschiedenen Mitgliedstaaten eine Tendenz zur Rechtsreform im Sinne der Vorgaben des Sozialrechtsausschusses zu beobachten. Das Kriterium der Staatsangehörigkeit bzw. einer reziproken Leistungserbringung des Heimatstaats des Betroffenen wird als Voraussetzung für Fürsorgeleistungen gestrichen411. Interessant ist auch das Beispiel Belgien, das für In- und Ausländer unterschiedliche Leistungssysteme bereithält. Die Existenz eines unterschiedlichen Leistungsschemas als solches sieht der Ausschuss nicht als Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 ESC an, solange das Prinzip der Gleichberechtigung im Hinblick auf den Hauptanspruch wie auch auf komplementäre Leistungen berücksichtigt werde. Dies gilt auch dann, wenn bei der Gewährung von Ansprüchen an Ausländer ein größerer Ermessensspielraum besteht, dieser bei der Rechtsanwendung aber nicht zum Tragen kommt412. Art. 13 Abs. 2 ESC bestimmt, dass politische und soziale Rechte aufgrund von Fürsorgebedürftigkeit nicht eingeschränkt werden dürfen, eine Vorschrift, die nur mehr von historischer Bedeutung ist. Nur Irland wurde 1972 wegen eines Verstoßes gerügt, da aufgrund eines aus dem Jahr 1898 stammenden Rechtsaktes Leistungsempfänger nicht in Organen der lokalen Verwaltung vertreten sein durften413. Art. 13 Abs. 4 ESC bezieht sich nach dem neuen Verständnis nur mehr auf die ausländischen Staatsangehörigen, die sich vorübergehend rechtmäßig im Inland aufhalten. Geprüft werden in diesem Zusammenhang vor allem Notstandsmaßnahmen, wobei der Ausschuss die Grenzen der Vorschrift erweitert, indem er auch Informationen zur Behandlung derer, die sich illegal im Land aufhalten, einholt. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Sachverständigenausschuss zur ESC auf einer anderen Grundlage als der Sachverständigenausschuss zum ICESCR steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer“ einräumt, schreibt er auch eine Gleichbehandlung bei der Gewährung von Mindesteinkommen und Sozialhilfe vor, so dass insofern eine Diskriminierung schon aufgrund von EG-Recht weitgehend ausgeschlossen wird; vgl. dazu Becker, Unionsbürgerschaft, S. 8 ff. 409 Vgl. die Regelung in Frankreich, wo eine Vorwohnzeit von 3 Jahren als Voraussetzung für ein Revenue Minimum d’Insertion verlangt wird (Conclusions XV-1 / 2, S. 271); in Dänemark müssen so genannte new residents sechs Monate warten, bevor sie Gesundheitsleistungen bekommen; in Spanien hängen die Sozialhilfeleistungen vom Wohnsitz im Land ab; Conclusions XV-1, S. 531 ff. 410 Z. B. in Malta und der Türkei (Leistungen bei Invalidität und Alter); in Dänemark besteht ein über ein Jahr hinausgehender Anspruch auf Sozialhilfe nur für Staatsangehörige; in all diesen Fällen werden Verstöße angenommen; Conclusions XV-1, S. 410 ff. (Malta), S. 605 ff. (Turkey), S. 164 ff. (Denmark). 411 Vgl. z. B. die Rechtsänderung in Frankreich durch den neuen Artikel L 816 – 1 Code de Securité Sociale; vgl. dazu auch die positive Stellungnahme des Sozialrechtsausschusses Conclusions XV-1 / 2, S. 277. 412 Conclusions XV-1 / 2, S. 91. 413 Vgl. Samuel, Fundamental Social Rights, S. 319.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
operiert und dies auch entscheidende Konsequenzen für die jeweilige Spruchpraxis hat. Zwar enthält auch die ESC sehr offene Formulierungen, allerdings erhellt die Bedeutung doch im Einzelnen aus dem Kontext. Bei der Auslegung der ESC besteht damit ein wesentlich geringerer Spielraum. Während es im Fall des ICESCR gilt, das Terrain möglicher Bedeutungen der Vorschriften überhaupt erst abzustecken, zeigt sich im Fall der ESC / RESC, dass die Festlegungen als für nicht ausreichend erachtet und so bei der Interpretation innovative Wege gesucht werden, um einen effektiven Menschenrechtsschutz im sozialen Bereich zu gewährleisten. Sucht der Ausschuss für wirtschaftliche und soziale Rechte Verletzungen des jeweiligen Kernbereichs der Normen deutlich zu machen und verfolgt damit einen minimalistischen Ansatz, geht der Ausschuss für soziale Rechte darüber hinaus und klagt die fortschreitend zu verwirklichenden Rechte unmittelbar ein. Dies zeigt sich insbesondere bei der Einbeziehung Fremder in den Schutzbereich. Im Übrigen wird aus der Auslegungspraxis deutlich, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung bei der Gewährung sozialer Rechte einen sehr hohen Stellenwert hat.
bb) Bewertung der Entwicklung der Sozialrechtssysteme nach der EOSS Die Entwicklung der nationalen Sozialrechtssysteme wird nicht nur auf der Grundlage der ESC mit einem Grundrechts-Maßstab („Recht auf soziale Sicherheit“) gemessen; mit der EOSS wird darüber hinaus auch eine für das Sozialrecht maßgeschneiderte Meßlatte angelegt. Für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen der EOSS lassen sich aus den allgemeinen Kommentaren wenig Anhaltspunkte gewinnen; die Bedeutung erschließt sich hier ausschließlich aus den Kommentaren zu den Staatenberichten. Wie bereits dargestellt, wiederholt die EOSS – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Bestimmungen des Übereinkommens Nr. 102 der IAO414. Daher läge es nahe, dass auch die Kontrollberichte zu beiden völkerrechtlichen Verträgen identisch sind415 und die Kontrollberichte zur ESC ergänzen. Diesen Erwartungen wird aber nicht entsprochen. Die Berichte zur EOSS gehen in Umfang und Detailgenauigkeit über die Berichte zur Konvention Nr. 102 der IAO wesentlich hinaus; zu den Berichten zur ESC stehen sie sogar teilweise im Widerspruch. Nimmt man etwa den Bericht zur Einhaltung der Bestimmungen der EOSS aus dem Jahr 2000416, der die Berichtsperiode vom 1. 7. 1998 bis zum 30. 6. 1999 umfasst, und Vgl. dazu S. 132 f. Mit Ausnahme von Estland haben alle Staaten, die die EOSS ratifiziert haben, auch die Konvention Nr. 102 der IAO ratifiziert; umgekehrt haben allerdings nicht alle Mitgliedstaaten des Europarats, die die Konvention Nr. 102 ratifiziert haben, auch die EOSS ratifiziert, vgl. Kapitel B.I. 416 Report and Conclusions of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations of the International Labour Organisation on the Annual Reports Submitted to the Secretary General of the Council of Europe on the Application of the Eur414 415
II. Kontrollverfahren
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stellt ihn dem Bericht zur Konvention Nr. 102 der IAO zum selben Zeitraum gegenüber, so zeigt sich, dass in letzterem nur die Praxis dreier außereuropäischer Staaten (Bolivien, Libyen, Mauretanien) zum Anlass für Kommentare genommen, die Rechtsentwicklung in den europäischen Staaten dagegen ausgeblendet wird, während in dem Bericht zur EOSS eine umfangreiche Stellungnahme zu jedem einzelnen Vertragsstaat erfolgt. In den Berichten aus dem Jahr 1999 finden sich Überschneidungen im Hinblick auf Portugal und das Vereinigte Königreich; die zu den einzelnen sozialrechtlichen Regelungen geäußerten Kommentare sind hier fast wortgleich. Dies zeigt einerseits, dass die optische Auflösung bei der Wahrnehmung aus europäischer bzw. internationaler Perspektive – bedingt auch durch die jeweiligen Fristen für die Vorlage von Berichten – eine Verschiedene ist, andererseits, dass die im Normensystem begründeten Verdoppelungen auch im Kontrollverfahren zu Redundanzen führen417. Für die Frage nach einer Beurteilung der sozialrechtlichen Reformen in den westeuropäischen Staaten anhand völkerrechtlicher Maßstäbe ist das Kontrollverfahren zur EOSS indes ergiebig, da Einzelprobleme der nationalen Rechtssysteme zur Sprache kommen, die im Rahmen des IAO-Berichtsverfahrens nicht thematisiert werden418. Bedenklich aber ist, wenn eine bestimmte Regelung im Rahmen des einen Überprüfungsverfahrens moniert, im Rahmen des anderen aber übergangen wird, da damit die Einheit des Gesamtsystems in Frage gestellt wird419 – die Vertragsstaaten können den jeweiligen Beanstandungen entgegenhalten, sie würden den inhaltlich vergleichbaren Regelungen im jeweils anderen Vertrag Genüge tun. Dies gilt beispielsweise für die Niederlande, deren Reformen aus dem Jahr 1996 im Bereich der Kranken- und Invaliditätsversicherung im Kontrollverfahren zur EOSS420 unter den gleichen Vorzeichen wie im Kontrollverfahren zur ESC421 opean Code of Social Security and the Protocol to the Code; nicht veröffentlicht (zitiert: Report CS-CO (Datum)); veröffentlicht werden dagegen die auf diesen Berichten beruhenden Resolutionen des Ministerrats. 417 Beispielsweise wird die bereits erwähnte Reform des niederländischen Sicherungssystems bei Krankheit und Invalidität im Rahmen der EOSS, der ESC und der Konvention Nr. 102 der IAO und somit dreimal auf internationaler Ebene diskutiert und begutachtet. 418 So gibt es aufgrund der unterschiedlichen Berichtszyklen von 1990 bis 2000 nur zu folgenden europäischen Staaten, die Mitglied beider Vertragssysteme sind, „observations“ nach der Konvention Nr. 102 der IAO: Dänemark (1990, 1993), Deutschland (1991, 1993, 1995, 1997), Griechenland (1991), Schweiz (1993, 1994, 1997), Spanien (1993, 1995, 1996, 1997, 1998), Vereinigtes Königreich (1995, 1996, 1997, 1998, 1999), Türkei (1998), Portugal (1999), während zur EOSS jedes Jahr zu allen 18 Vertragsstaaten ein eingehender Bericht erstellt wird. 419 Vgl. dazu Kapitel D.III. 420 Vgl. die entsprechende Resolution des Ministerrats aus dem Jahr 2000: Resolution CSS (2000) 12 on the application of the European Code of Social Security and its protocol by the Netherlands; zum Sachproblem vgl. S. 316 FN 372. 421 Vgl. die explizite negative Stellungnahme Conclusions XIV-1 / 2, 565; vgl. dazu S. 316 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
kritisiert, im Kontrollverfahren zur IAO dagegen bis zum Jahr 2003 nicht beanstandet worden sind422. Die Kritik auf der Grundlage der EOSS offenbart vielfach Unstimmigkeiten zwischen Staatenpraxis und internationalen Sozialstandards, die Details betreffen. So etwa die Ausklammerung des Ersatzes von Zahnprothesen und Brillen bei Arbeitsunfällen (Spanien) oder die Festlegung einer Wartezeit von acht anstelle von sieben Tagen bei Arbeitslosigkeitsleistungen (Frankreich). Dies ist eine Folge der jeweiligen gesetzestechnischen Form der Regelungen. Enthalten sie nicht unbestimmte Rechtsbegriffe, sondern konkrete Zahlen- und Detailvorgaben, so ist Kritik auch bei derartigen Einzelheiten vonnöten423. Konkrete Festlegungen im Rahmen der EOSS stellen der Sachverständigenausschuss aber auch in anderer Hinsicht vor Probleme. Die EOSS entspricht, wie auch die Konvention Nr. 102 der IAO, dem Entwicklungsstand sozialer Sicherheit in den 50er und 60er Jahren. Mittlerweile wurde das Repertoire der Sicherungstechniken in vielfacher Weise erweitert, die Methoden flexibilisiert. Subsumiert man neue Techniken sozialer Sicherung unter die alten Normen, so kann man zu ungerechtfertigten Ergebnissen kommen. Ein Beispiel für diese These mag der Sachverständigenbericht zu Deutschland aus dem Jahr 2000 liefern. Darin wird festgestellt, bei der Berechnung der Leistungshöhe müsse die „qualifying period“ vollständig zugrunde gelegt werden. Dies gelte auch, wenn bestimmte Zeiten angerechnet werden, obwohl dafür keine Beiträge erbracht werden, da es insofern keine differenzierende Bestimmung in der EOSS gebe und die flexiblere Revidierte EOSS nicht in Kraft getreten sei424. Damit zeigt sich, dass das Muster der EOSS in mancher Hinsicht zu grob gestrickt ist, um einen ausgewogenen Bewertungsmaßstab insbesondere für innovative Einzelreformen vorzugeben. Die Analyse der auf den sozialrechtlichen völkerrechtlichen Konventionen beruhenden Kontrollverfahren ergibt somit, dass sich insbesondere seit Mitte der 90er 422 Aufgrund eines längeren Dialogs zwischen der niederländischen Regierung und den verschiedenen Sachverständigenkomitees sowie aufgrund verschiedener Reformen im Rahmen des niederländischen Systems ist die Resolution aus dem Jahr 2003 erstmals nicht mehr explizit negativ, sondern differenziert und fordert weitere Informationen ein (Resolution CSS 2003 on the application of the European Code of Social Security and its protocol by the Netherlands). Für 2003 stimmen auch die Berichte zur EOSS und zu Konvention Nr. 102 der IAO überein (Report of the Committee of Experts 2003, S. 417). 423 Zu einer Kritik dieser Entwicklungen vgl. unten Kapitel F. 424 Vgl. die Stellungnahme des Ausschusses: „The Committee recalls in this respect that neither the Code nor the Protocol contain flexibility clauses similar to those appearing in the European Code of Social Security (Revised), which make it possible to increase the qualifying period taken into account for the calculation of benefits, in order to take into account a fictitious period between the occurrence of the contingency and a prescribed age“, vgl. Report CS-CO (2000), S. 10 (unveröffentlicht); vgl. dazu auch die Resolution CSS 2002 on the application of the European Code of Social Security and its protocol by Germany.
II. Kontrollverfahren
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Jahre mehr und mehr ein case law zur Auslegung der einzelnen Bestimmungen entwickelt, wobei allerdings die Kritik an Recht und Praxis der Vertragsstaaten zum Teil tatsächlich „wunde Punkte“ aufgreift, die auch aus der Innenperspektive als reformbedürftig angesehen werden, zum Teil aber auch auf unflexiblen Bestimmungen in den nicht in jeder Hinsicht aktuellen Konventionen oder auf rechtsfortbildenden Interpretationen beruht. Wird der Kreis der Vertragsstaaten regional enger gezogen, ist eine horizontale Vergleichbarkeit der Berichte eher gegeben als bei international geltenden Konventionen.
3. Weiterentwicklung von internationalen Sozialstandards in Staatenbeschwerdeverfahren Nun sind Berichtsverfahren, wenn auch ein sehr prägendes und wichtiges, so doch nicht das einzige Medium, um Verstöße von Einzelstaaten gegen als bindend anerkannte völkerrechtliche Sozialstandards zu monieren. Eine andere Möglichkeit sind die Staatenbeschwerdeverfahren, die im Recht der IAO sowie im Hinblick auf ICCPR, CERD und EMRK vorgesehen sind. Nach Art. 26 Abs. 1 der Verfassung der IAO kann jeder Mitgliedsstaat Klage gegen jeden anderen Mitgliedsstaat einreichen, wenn er der Meinung ist, die Durchführung eines von beiden Teilen ratifizierten Übereinkommens werde nicht in befriedigender Weise sichergestellt. Diese Möglichkeit besteht damit auch für die für Fragen des sozialen Schutzes relevanten Abkommen. Nach Art. 33 EMRK kann jede Vertragspartei den Gerichtshof wegen jeder behaupteten Verletzung der Konvention und der Protokolle durch eine andere Vertragspartei anrufen. Auch hier wäre theoretisch eine Beschwerde wegen eines ungerechtfertigten Eingriffs in geschützte Rechtspositionen im Bereich des Sozialschutzes, etwa eine Diskriminierung bei einer auf Beiträgen beruhenden und damit als Eigentum geschützten Sozialleistung425, möglich. Für den ICCPR ist eine entsprechende Möglichkeit fakultativ vorgesehen (Art. 41)426, bei den Verträgen, die dem Schutz sozialer Grundrechte gewidmet sind, dem ICESCR und der ESC, dagegen ausgeschlossen. Auch für die spezifisch sozialrechtlichen Koordinierungs- und Harmonisierungsabkommen scheidet ein Staatenbeschwerdeverfahren zur Überprüfung der Einhaltung der Verpflichtungen aus. Staatenbeschwerdeverfahren sind aber, auch soweit sie theoretisch möglich sind, bisher für die Weiterentwicklung internationaler Sozialstandards nicht praktisch geworden. Soweit bisher überhaupt Verfahren nach den genannten Bestimmungen Vgl. dazu S. 356. Vgl. auch Art. 21, 22 CAT, Art. 11 – 14 CERD, Art. 44, 45 American Convention on Human Rights, Art. 49, 55 African Charter on Human and Peoples‘ Rights. 425 426
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
stattgefunden haben427, haben sie noch nie den Schutz sozialer Rechte betroffen. Aufgrund der politischen Implikationen einer Staatenbeschwerde wurden die Verfahren bisher nur gewählt, wenn entweder ein Vertragsstaat ein unmittelbares Interesse an einer Entscheidung gegen einen anderen Vertragsstaat hatte oder aber der Bruch der Konvention so schwerwiegend schien, dass sich Vertragsstaaten in einem angenommenen international-öffentlichen Interesse verpflichtet fühlten, tätig zu werden. Bei der Verletzung sozialer Rechtspositionen wird dies regelmäßig nicht der Fall sein. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass Staatenbeschwerdeverfahren theoretisch ein wirkungsvolles Mittel zur Durchsetzung internationaler Sozialstandards sein könnten; dies insbesondere dann, wenn etwa wirtschaftliche Interessen wie der Schutz vor billiger Konkurrenz eine Rolle spielen428.
4. Weiterentwicklung von internationalen Sozialstandards in Kollektivbeschwerdeverfahren Im Gegensatz zu Staatenbeschwerdeverfahren sind es bei Kollektivbeschwerdeverfahren nicht Staaten, die sich gegenseitig verklagen, sondern gesellschaftliche Gruppen wie etwa Gewerkschaften oder NGO’s, die auf nationaler oder internationaler Ebene organisiert sind und sich gegen ihren eigenen oder einen fremden Staat wenden können. – Dies kann gerade für Fragen des Sozialschutzes ein wichtiges Ventil sein, um zu auf innerstaatlicher Ebene nicht befriedigend gelösten Problemen Entscheidungen zu finden. Zurzeit gibt es entsprechende Regelungen im Recht der IAO sowie des Europarats. Kollektivbeschwerden werden immer dann eingelegt, wenn ein Verstoß gegen eine internationale Regelung als besonders gravierend erscheint. Da dieselben Verstöße aber regelmäßig auch über das allgemeine Berichtsverfahren aufgegriffen werden, ist die mehrfache Behandlung identischer Themen schon nach der Grundkonzeption nicht vermeidbar.
427 Für die EMRK steht eine verschwindend geringe Zahl von Staatenbeschwerden einer ständig ansteigenden Zahl von Individualbeschwerden gegenüber. Wichtige Fälle im Rahmen des Staatenbeschwerdeverfahrens betrafen zumeist auch politisch brisante Fälle wie das britische Kolonialregime auf Zypern, den Pfunders-Fall in Südtirol, die Militärdiktatur in Griechenland, die Terrorismusbekämpfung in Nordirland, die Besetzung des Nordteils von Zypern durch die Türkei, die Militärregierung in der Türkei; vgl. die Einzelnachweise und Fundstellen bei Frowein / Peukert, Kommentar, Art. 24, Rd. 2; Prebensen, Inter-State Complaints, S. 449 ff. Auch im Hinblick auf die Konventionen der IAO sind Staatenbeschwerdeverfahren die Ausnahme: Ghana gegen Portugal wegen Verletzung der Konvention Nr. 105; Portugal gegen Liberien wegen Verletzung der Konvention Nr. 29; vgl. Valticos, International Labour Law, S. 290 ff. 428 Vgl. dazu Prebensen, Inter-State Complaints, S. 446 ff.; Leckie, Inter-State Complaints Procedure, S. 249 ff.
II. Kontrollverfahren
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a) Kollektivbeschwerdeverfahren nach Art. 24 Verfassung der IAO Die Kollektivbeschwerdeverfahren nach Art. 24 Verfassung der IAO betreffen schwerpunktmäßig die Konventionen zur Gewerkschaftsfreiheit, zur Zwangsarbeit und zum Kündigungsschutz. Vor allem im Zusammenhang mit der Privatisierung der Systeme sozialer Sicherheit in Südamerika werden aber auch für die sozialrechtliche Entwicklung relevante Konventionen aufgegriffen. Hier verdoppelt sich so die Kontrolle: Allgemeine Berichtsverfahren und Entscheidungen in Kollektivbeschwerdeverfahren stehen nebeneinander, wobei einerseits der Sachverständigenausschuss der IAO, andererseits ad hoc eingesetzte triparitäre Kontrollkomitees tätig werden.
aa) Beschwerden gegen Maßnahmen im Rahmen der Privatisierung von Rentenversicherungssystemen Von herausragender Bedeutung ist die Beschwerde gegen Chile, die im Jahr 1985 von dem National Trade Union Co-ordination Council eingereicht wurde429, da im Rahmen dieses Verfahrens eine Auseinandersetzung mit den chilenischen Reformen des Rentenversicherungssystems stattfindet430. Der Vorwurf der Gewerkschaften basiert im Wesentlichen darauf, dass in dem privatisierten Rentensystem die Geltung des Solidaritätsprinzips eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt sei und sich der Staat aus der Verantwortung zurückgezogen habe431. Das triparitäre, zur Untersuchung der Vorwürfe eingesetzte Komitee ist dabei mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, die neuen Entwicklungen an den von Chile ratifizierten Standards aus den 30er Jahren messen zu müssen, die, so der allgemeine Konsens, veraltet sind und deren Ratifikation von der Internationalen Arbeitsorganisation nicht mehr empfohlen wird432. Gerügt wird zum einen ein Verstoß gegen das Prinzip einer solidarischen Finanzierung433, da nach dem chilenischen Modell die Arbeitgeber keine Beiträge zu 429 Vgl. Report of the Committee set up to examine the representation submitted by the National Trade Union Co-ordination Council (CNS) of Chile under article 24 of the ILO Constitution, alleging non-observance by Chile of international labour Conventions Nos. 1, 2, 24, 29, 30, 35, 37, 38, and 111; Vol. LXXI, 1988, Series B, Supplement 1. 430 Vgl. dazu auch die Stellungnahmen des Sachverständigenausschusses zur IAO im Rahmen des allgemeinen Berichtsverfahrens; vgl. dazu S. 298 f. 431 Vgl. den Vortrag des National Trade Union Coordinating Council: „. . . the pensions system in force in Chile is not based on the principles of solidarity, sharing and tripartite responsibility, since the role of the State is reduced merely to guaranteeing a supplementary payment if the contributions by the insured person afford a pension lower than the minimum“ (Nr. 105 des Berichts). 432 Vgl. zum „shelving“ S. 124. 433 Art. 9 Abs. 1 Konvention Nr. 35, Art. 10 Abs. 1 Konvention Nr. 37 und Art. 10 Abs. 1 Konvention Nr. 38.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
zahlen haben434. Chile beruft sich aber auf die in der Konvention Nr. 35 enthaltene Ausnahmebestimmung, wonach dann, wenn das System nicht auf abhängig Beschäftigte begrenzt ist, die Arbeitgeber von der Mitfinanzierungspflicht befreit sind435. Nach Meinung des Komitees greift diese Ausnahme nicht, da sie, wie die Materialien zeigten, nur bei einer obligatorischen Versicherung für die ganze Bevölkerung gälte, nicht aber dann, wenn, wie in Chile, Einzelne lediglich auf freiwilliger Basis dem System beitreten können. Strittig ist auch die Auslegung von Art. 9 Abs. 4 der Konvention Nr. 35, der die Beteiligung der öffentlichen Hand an der Finanzierung des Versicherungssystems regelt. In Chile leistet der Staat nur dann Zahlungen, wenn die Rente weniger beträgt als die Mindestrente. Dies erkennt das Komitee aber nicht als die nach der Konvention geforderte „finanzielle Beteiligung“ an, sondern qualifiziert es als „staatliche Garantie“, da es nur unter bestimmten Bedingungen und damit ausnahmsweise geleistet werde. In diesen Beispielen sind die Widersprüche zwischen dem chilenischen System und den Konventionen der IAO nicht offensichtlich; sie beruhen lediglich auf bestimmten Interpretationen des Komitees, die nicht zwingend sind. Dilemma des Komitees ist, dass es gerade nicht auf Bestimmungen zur paritätischen Finanzierung und zur Gesamtverantwortung des Staates für die Erbringung von Leistungen, wie sie in Art. 71 Konvention Nr. 102 festgelegt sind, zurückgreifen kann. Leichter begründbar ist ein Verstoß gegen eine auf Solidarität basierende Organisationsstruktur der Sozialversicherung, da die Verwaltung des Rentenfonds in Chile aus profitorientierten privatrechtlichen Gesellschaften mit begrenzter Haftung besteht. Dies würde sich lediglich dann anders darstellen, wenn das Kapital des jeweiligen Fonds vollständig den Versicherten gehörte, so dass auch die Einnahmen den Versicherten zukämen436. Auch bei der Beurteilung von in der Praxis konkret auftretenden Problemen wie insbesondere der Nicht-Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge durch die Gemeinden bietet die Konvention nur ein weitmaschiges Netz, um einen Verstoß gegen internationales Recht geltend zu machen437. Das Komitee zieht Art. 10 Abs. 5 Konvention Nr. 35 heran. Darin wird bestimmt, dass der Staat selbst verwaltete Versicherungsinstitutionen finanziell und verwaltungsmäßig zu überwachen hat. 434 Als Ausgleich wurde bei Einführung des Systems lediglich eine obligatorische Lohnerhöhung eingeführt. 435 Vgl. den Wortlaut der Bestimmung: „Contributions from employers may be dispensed with under laws or regulations concerning schemes of national insurance not restricted in scope to employed persons“ (Art. 9 Abs. 3 Konvention Nr. 35). 436 Vgl. zu dem Problem auch die allgemeinen Berichte; vgl. dazu S. 298 ff. 437 Vgl. Report of the Committee set up to examine the representation alleging non-observance by Chile of the Old-Age Insurance (Industry, etc.) Convention, 1933 (No. 35) and the Invalidity Insurance (Industry, etc.) Convention 1933 (No. 37) submitted under article 24 of the ILO Constitution by the College of Teachers of Chile A.G., GB 271 / 18 / 1; GB 274 / 16 / 4.
II. Kontrollverfahren
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Die Überwachung allein, so das Komitee, genüge aber noch nicht; notwendig sei eine Erfolgsgarantie und die Gewährung von Schadensersatz. Neben den Beschwerden gegen Chile werden auch Beschwerden gegen Peru (1994)438 und Costa Rica (1985)439 eingereicht, die im Grunde gleichermaßen die Privatisierung des Systems betreffen, die Kritik aber an Details festmachen und damit wenig erfolgreich sind440.
bb) Beschwerden gegen eine liberale Arbeitsmarktpolitik und bestimmte Formen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Auch die liberale chilenische Arbeitsmarktpolitik ist Gegenstand einer Beschwerde nach Art. 24 der Verfassung der IAO im Jahr 1983441. Der nationale Gewerkschaftsrat beanstandet, dass die Wirtschaftspolitik negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt habe und im Widerspruch zu den Zielen der Konvention Nr. 122 der IAO stehe. Die Stellungnahme des triparitären Komitees ist sehr vorsichtig: „. . . it is difficult to see how far the Government is pursuing and keeping under review a policy to promote full, productive and freely chosen employment, in accordance with the Convention“442.
Die Privatisierung an sich sei nach Konvention Nr. 122 nicht zu beurteilen; allerdings habe der Staat in jedem Fall die Arbeitsmarktpolitik zu verantworten. Die Gewerkschaften greifen konkret auch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der chilenischen Regierungen als Verstoß gegen Konvention Nr. 122 an, da sie in 438 Vgl. Report of the Committee responsible for examining the representation made by the Latin American Central of Workers (CLAT) under article 24 of the ILO Constitution alleging non-observance by Peru of the Social Security (Minimum Standards) Convention, 1952 (No. 102). 439 Vgl. Report of the Committee set up to examine the representation made by the Confederation of Costa Rican Workers (CTC), the Authentic Confederation of Democratic Workers (CATD), the United Confederation of Workers (CUT), the Costa Rican Confederation of Democratic Workers (CCTD) and the National Confederation of Workers (CNT), under article 24 of the Constitution, alleging the failure by Costa Rica to observe International Labour Conventions no. 81, 95, 102, 122, 127, 130, 131, 138, and 144. 440 Die Beschwerde gegen Peru betrifft konkret die Umstrukturierung des Sozialversicherungsfonds der Fischer; allerdings ist die Sozialversicherung der Fischer explizit aus dem Anwendungsbereich der Konvention ausgenommen. Bei der Beschwerde gegen Costa Rica sind die tatsächlichen Grundlagen der Beschwerde nicht geklärt, so etwa die Frage, ob Costa Rica sich in einem „letter of intent“ und in einer darauf aufbauenden Vereinbarung verpflichtet hat, die staatlichen Leistungen zu reduzieren und dabei bedeutende Programme zur sozialen Sicherheit, Gesundheit und Bildung zu begrenzen oder abzuschaffen. 441 Report of the Committee set up to examine the representation presented by the National Trade Union co-ordinating Council (CNS) of Chile under article 24 of the Constitution alleging non-observance of International Labour Conventions nos. 1, 2, 29, 30 and 122 by Chile, Vol. LXVIII, 1985, Series B, Special Supplement 2 / 1985. 442 Ebenda.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
der Regel eine Form von versteckter Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung darstellten. Zudem läge ein Verstoß gegen die sozialversicherungsrechtlich relevante Konvention Nr. 24 vor, da diejenigen, die an bestimmten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen teilnehmen, grundsätzlich nicht sozialversichert seien. Das Komitee führt zu diesen Vorwürfen aus, dass Arbeit, die von einer Vielzahl von Personen geleistet und extrem niedrig entlohnt wird, außerdem weder Arbeitsnoch Sozialversicherungsschutz bietet, zu Zweifeln Anlass geben könne, ob es sich dabei um freiwillige Arbeit handelt, insbesondere wenn es sich nicht nur um eine vorübergehende oder Notsituation handelt, sondern diese Situation tendenziell andauere. Soweit sich diese Beurteilung auf Konvention Nr. 24 stützt, ist sie äußerst problematisch, da eine exakte Begründung fehlt, ob die nicht-geschützten Gruppen von Arbeitnehmern, die an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen teilnehmen, nicht nach Art. 2 Abs. 2 der Konvention von der Versicherungspflicht ausgenommen werden können443.
cc) Beschwerden gegen Maßnahmen zur finanziellen Konsolidierung der Kranken- und Arbeitsunfallversicherung Schweden hat in den 90er Jahren das Sozialversicherungssystem reformiert und dabei unter anderem in der Krankenversicherung einen Karenztag eingeführt, der auch für die Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten gilt. Diese Regelung steht allerdings im Widerspruch zu Konvention Nr. 121 der IAO; im Wesentlichen darauf basiert auch eine Beschwerde gegen Schweden aus dem Jahr 1993444. Der eindeutige Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 der Konvention räumt hier keinen Spielraum ein, rechtfertigende Gründe für eine abweichende Regelung zu berücksichtigen. Das Komitee ist zu einer rigiden schematischen Entscheidung verpflichtet und kann nicht die Verhältnismäßigkeit der Sparmaßnahme, die der Sanierung des Systems dient, prüfen. – Im konkreten Fall führt Schweden an, die Maßnahme sei notwendig, um den Missbrauch von Leistungen bei Krankheit zu vermindern und hohe administrative Kosten, die für eine gesonderte Berücksichtigung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten anfielen, zu vermeiden. Hier zeigt sich, dass Maßstab und Beurteilungsmethode bei Beschwerden nach Art. 24 Verfassung der 443 Möglich wäre eine Subsumtion unter Punkt (a) temporäre Arbeit, Punkt (d) Arbeitnehmer (outworkers), deren Arbeitsbedingungen nicht denen der gewöhnlichen Lohnarbeiter entsprechen. 444 Report of the Committee set up to examine the representation presented by the Swedish Trade Union Confederation (LO), the Swedish Confederation of Professional Employees (TCO), and the International Confederation of Free Trade Unions (ICFTU) under article 24 of the ILO Constitution alleging non-observance by Sweden of the Employment Injury Benefits Convention 1964 (No. 121).
II. Kontrollverfahren
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IAO und bei der Überprüfung der Berichte nach Art. 12 Abs. 3 ESC wesentlich voneinander abweichen. Im einen Fall ist an exakten Vorgaben zu messen, im anderen an einer Generalklausel, die einen weiten Beurteilungsspielraum einräumt; so wird die schwedische Regelung auch nach der ESC nicht kritisiert. Der zweite Problempunkt, der in der Beschwerde angesprochen wird, zeigt dagegen wiederum einen Interpretationsspielraum auf. Kritisiert wird die mit der Reform geänderte Beweislast bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Für die Kausalität zwischen schädlicher Exposition und Arbeitsunfall bzw. Berufskrankheit wird nicht mehr nur Wahrscheinlichkeit, sondern ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit gefordert. Nun ist die Beweislast in Konvention Nr. 121 der IAO nicht geregelt. Nach Art. 8 (b) Konvention Nr. 121 wird lediglich gefordert, dass das nationale Recht eine allgemeine Definition enthält, die weit genug ist, um die in der von der IAO ausgearbeiteten Liste enthaltenen Berufskrankheiten mit zu umfassen. Das triparitäre Komitee sieht auf dieser Grundlage dann die Möglichkeit eines Verstoßes als gegeben an, wenn sich die Beweislastregelung so auswirkt, dass im Hinblick auf die in der Konvention enthaltenen Berufskrankheiten eine Änderung in der Anerkennungspraxis eintritt.
dd) Beschwerden gegen die arbeits- und sozialrechtliche Behandlung ausländischer Staatsangehöriger Wie dargestellt, wirft die Integration ausländischer Staatsangehöriger in Sozialversicherungssysteme besondere Probleme auf. Dementsprechend wird auch diese Thematik in Beschwerdeverfahren aufgegriffen. Die gegen Spanien im Jahr 1997 eingereichte Beschwerde betrifft die Frage der Diskriminierung argentinischer Staatsangehöriger; Antragsteller ist die Allgemeine argentinische Arbeitsgewerkschaft445. In der Sache geht es um die Bedeutung der Staatsangehörigkeit für die Stellung auf dem Arbeitsmarkt und die Frage der Anerkennung von Diplomen. Wie bereits erwähnt wird in Konvention Nr. 111 der IAO das Kriterium der Staatsangehörigkeit in dem Katalog nicht nur nicht genannt, sondern es ist auch keine Öffnungsklausel enthalten. Das von den Materialien zu den anderen Menschenrechtspakten belegte Faktum, dass die Kriterien „Staatsangehörigkeit“ und „nationale Herkunft“ nicht identisch sind446, bestätigt auch das als Untersuchungsausschuss eingesetzte triparitäre Komitee: 445 Report of the Committee set up to examine the representation alleging non-observance by Spain of the Migration for Employment Convention (Revised), 1949 (No. 97), the Discrimination (Employment and Occupation) Convention, 1958 (No. 111), and the Employment Policy Convention, 1964 (No. 122), made under article 24 of the ILO Constitution by the General Confederation of Labour of Argentina (CGT). 446 Vgl. dazu S. 150 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
„. . . the concept of national extraction in Convention No. 111 does not refer to distinctions that may be made between the citizens of one country and those of another, but to distinctions between the citizens of the same country on the basis of a person’s place of birth, ancestry or foreign origin“447.
Damit sieht das Komitee auch keine Verletzung von Konvention Nr. 122 aufgrund einer auf der Staatsangehörigkeit basierenden Ungleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt448. Hier besteht ein konzeptueller Unterschied zu der Auslegung des ICESCR, wird doch im Hinblick auf Arbeitslosigkeit vorrangig untersucht, inwieweit davon ausländische Staatsangehörige betroffen sind. Auch bei der Beschwerde der senegalesischen nationalen Arbeitergewerkschaft gegen Mauretanien449 ist Staatsangehörigkeit ein entscheidendes Kriterium; dabei geht es allerdings nicht nur um ein Diskriminierungsproblem, sondern um die auch sozialrechtlichen Folgen der Vertreibung von Zehntausenden von Arbeitern und Beamten senegalesischen Ursprungs aus Mauretanien450. Inwieweit die Betroffenen die senegalesische oder die mauretanische Staatsangehörigkeit haben, ist im Einzelnen strittig. Nach Meinung des triparitären Komitees ist Konvention Nr. 102 nicht anwendbar, da sie keine Regelung über wohlerworbene Rechte enthält. Die Abwesenheit der Berechtigten vom Territorium des Vertragsstaats sei vielmehr ein Grund, um die Auszahlung von Leistungen zu suspendieren. Die Gleichbehandlungsregelung des Art. 68 Konvention Nr. 102 betreffe nur diejenigen, die im Land selbst wohnen. Konvention Nr. 118 der IAO regele zwar die strittige Problematik, sei aber auf diejenigen Arbeiter, die die senegalesische Staatsangehörigkeit haben, nicht anwendbar, da Senegal die Konvention nicht ratifiziert habe. Allerdings bilde die Konvention einen Maßstab zur Beurteilung der Ansprüche der mauretanischen Staatsangehörigen senegalesischen Ursprungs, die aus Mauretanien vertrieben worden sind. Die Vielzahl der Beschwerdeverfahren nach Art. 24 Verfassung der IAO zeigen, dass die Normen bei aktuellen Streitigkeiten sowohl innerhalb eines Staates als auch zwischen verschiedenen Staaten herangezogen werden und praktische Bedeutung haben. Allerdings ist das Netz, das die Standards aufbauen, zum Teil zu weitmaschig, um eine auf Normen gestützte konkrete Beurteilung zu ermöglichen, zum Teil enthält es aber auch Vorgaben, die eine flexible Handhabung nicht zulassen und damit zu der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gerecht werdenden Ergebnissen führen. Report, Punkt 35. „The Committee points out that this provision (Article 1 paragraph 2 (c)) in stipulating that employment policies should aim at ensuring that there is freedom of choice of employment and the fullest possible opportunity for each worker to qualify for, and to use his skills and endowments in a job for which he is well suited, irrespective of national extraction, does not cover distinctions that might be made between nationals of the country concerned and foreigners“ (Report, Punkt 37). 449 Report of the Committee set up to examine the representation presented by the National Confederation of Workers of Senegal under article 24 of the Constitution alleging non-observance by Mauritania of International Labour Conventions No. 95, 102, 111, 118 and 122. 450 Vol. LXXIV 1991 Series B, Supplement 1. 447 448
II. Kontrollverfahren
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b) Kollektivbeschwerdeverfahren nach dem Zusatzprotokoll zur ESC Das über Jahre hin vergleichsweise ineffektive Kontrollsystem zur ESC wurde 1995 durch ein kollektives Beschwerdeprotokoll ergänzt, nach dem internationale Organisationen von Arbeitgebern und Gewerkschaften, andere internationale NGOs, die einen Beraterstatus beim Europarat haben und auf einer entsprechenden Liste des Regierungskomitees stehen, sowie – in beschränktem Umfang – nationale Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften Beschwerden einlegen können, wenn sie der Meinung sind, die Charta würde von einer der Vertragsparteien nicht in befriedigender Weise angewandt451. Dieses Verfahren ist noch vergleichsweise neu; der Sozialrechtsausschuss hat in den ersten Fällen „Decisions“ ausgearbeitet, die von der äußeren Form Gerichtsentscheidungen gleichen, allerdings im Gegensatz zu den Entscheidungen des EGMR nicht bindend sind. Bei einem Verstoß kann das Ministerkomitee allerdings mit Zwei-Drittel-Mehrheit eine Empfehlung an den betreffenden Vertragsstaat richten452. Auch für die in der ESC bzw. in der RESC enthaltenen Sozialstandards kann das Verfahren von Bedeutung sein, wie die Entscheidung zur Zulässigkeit einer auf Art. 13 RESC gestützten Beschwerde der International Federation of Human Rights League gegen Frankreich zeigt. Als konventionswidrig werden dabei die reduzierten Sozialhilfeleistungen für illegale Immigranten, Staatsangehörige, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb Frankreichs haben, sowie der Ausschluss aus der allgemeinen Gesundheitsversorgung bestimmter Gruppen von Minderjährigen moniert453. Nicht sozialrechtliche Probleme im engeren Sinne, wohl aber die damit eng verbundene Frage der Integration Behinderter – im speziellen Fall autistischer Kinder – in das Erziehungssystem thematisiert ein weiteres Beschwerdeverfahren, in dem bereits eine Verletzung von Art. 15 Abs. 1 und 17 Abs. 1 der RESC festgestellt worden ist454. Für die Zukunft ist bei diesen Verfahren ein großes Entwicklungspotential zu sehen, insbesondere, da damit das Fehlen eines Individualbeschwerdeverfahrens, zumindest teilweise, kompensiert werden könnte455. Auch beansprucht das KomiVgl. Birk, Collective Complaint, S. 261 ff.; Lörcher, Beschwerdeprotokoll, S. 48 ff. Die ersten Verfahren betrafen Kinderarbeit (Portugal), Vereinigungsfreiheit (Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal), Diskriminierung beim Zugang zum Beruf und zur beruflichen Weiterbildung (Frankreich), Zwangsarbeit (Griechenland), Recht auf faire Arbeitsbedingungen, Recht auf faire Entlohnung, Vereinigungsfreiheit und Chancengleichheit von Arbeitnehmern mit Familienverpflichtungen (Frankreich) und Recht auf Kompensation für ungesunde Arbeitsbedingungen (Finnland). 453 Vgl. Complaint No. 14 / 2003 (International Federation of Human Rights Leagues vs. France), 16. 5. 2003. 454 Vgl. Complaint No. 13 / 2002 (Autisme-Europe vs. France) 4. 1. 2003 (Res ChS (2004) 10. 3. 2004), Decision on admissibility 12. 12. 2002, Decision on the merits 7. 11. 2003. 455 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Prebensen, Collective Complaints, S. 446 ff., der darauf hinweist, dass bei der EMRK das Staatenbeschwerdeverfahren insbesondere dann genutzt wurde, wenn das Individualbeschwerdeverfahren im konkreten Fall nicht zur Verfügung stand. 451 452
22 Nußberger
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tee ein sehr weitgehendes Prüfungsrecht, indem es nicht nur die Übereinstimmung der jeweiligen nationalen Gesetze mit den internationalen Verpflichtungen, sondern auch die praktische Umsetzung kontrolliert. So führt das Komitee in seiner Entscheidung zur Kinderarbeit in Portugal explizit aus: „Finally, the Committee recalls that the aim and purpose of the Charter, being a human rights protection instrument, is to protect rights not merely theoretically, but also in fact. In this regard, it considers that the satisfactory application of Article 7 cannot be ensured solely by the operation of legislation if this is not effectively applied and rigorously supervised ( . . . )“456.
Das Kollektivbeschwerdeverfahren kann sich so als wirksames Instrument zur Geltendmachung von Rechten im Bereich von sozialer Sicherheit und sozialer Fürsorge erweisen, da es sich gut eignet, um etwa die Schlechterstellung von gesellschaftlichen Gruppen in Umverteilungssystemen zu monieren.
5. Weiterentwicklung von internationalen Sozialstandards in Individualbeschwerdeverfahren a) Verfahren mit unverbindlichen Stellungnahmen – Auslegung der Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen Individualbeschwerdeverfahren sind ein Novum des Völkerrechts des 20. Jahrhunderts. Erst unter der Voraussetzung, dass der Einzelne nicht vom Staat mediatisiert wird, dass dem einzelnen subjektive Rechte auch im Völkerrecht zuerkannt werden, können Verfahren entwickelt werden, in denen der Einzelne als Beschwerdeführer gegen den Staat – sei es der eigene oder ein fremder Staat – auftritt457. Als entscheidender Schritt in dieser Entwicklung458 ist die Zuerkennung einer Aktivlegitimation an „jede natürliche Person“ in der ursprünglichen Fassung der EMRK von 1950 anzusehen459. Während sich dieses Verfahren mit dem 11. ZuComplaint No. 1 / 1998 (International Commission of Jurists against Portugal) para. 32. Partsch, Individuals in International Law, S. 957 ff.; Kotzur, Theorieelemente, S. 138 ff. 458 Als Vorläuferregelungen für ein individuelles Beschwerderecht wären zu nennen das nicht in Kraft getretene XII. Haager Abkommen von 1907 über die Errichtung eines Internationalen Prisenhofes, der ehemalige Vertrag über den Zentralamerikanischen Gerichtshof (1907 – 1918), verschiedene Bestimmungen über Gemischte Schiedsgerichte, die nach dem Ersten Weltkrieg errichtet wurden (vgl. Art. 297 lit. e und des Friedensvertrags von Versailles) und der deutsch-polnische Staatsvertrag vom 15. 5. 1922 mit einer Klagemöglichkeit für Minderheitsangehörige in Oberschlesien; vgl. Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 424. 459 Vgl. die ursprünglich nach Art. 25 EMRK abzugebende Erklärung über die Zuständigkeit der Kommission zur Entscheidung über Beschwerden natürlicher Personen, nicht-staatlicher Organisationen und Personenvereinigungen, die sich durch eine Verletzung der in der Konvention anerkannten Rechte durch eine Vertragspartei beschwert fühlten. Diese Idee geht zurück auf eine Resolution des „Congress of Europe“ vom 8. – 10. 5. 1948: „The Congress is convinced that in the interest of human values and human liberty, the [proposed] Assembly 456 457
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satzprotokoll zu einer obligatorischen Gerichtsbarkeit mit bindenden Entscheidungen entwickelt hat, ist das mit dem Fakultativprotokoll zum ICCPR institutionalisierte Verfahren vor dem Ausschuss für Menschenrechte ein Beschwerdeverfahren mit nicht bindenden Entscheidungen geblieben. Dass die Entwicklung in diesem Bereich dynamisch ist, zeigt die Ausarbeitung weiterer individueller Beschwerdeprotokolle, zum einen zum CEDAW – das Protokoll ist am 22. 12. 2000 in Kraft getreten – und zum ICESCR, das sich noch in der Vorbereitungsphase befindet460. Hatte Theodor Meron noch im Jahr 1986 geschrieben: „In international human rights, however, the process of creating interpretative jurisprudence is slow in time and non-comprehensive in scope“,
so kann dies aufgrund der jüngsten Entwicklung in diesem Bereich mittlerweile als überholt gelten; die Vielzahl der Individualbeschwerdeverfahren und Klagen trägt zu einer dynamischen Entwicklung des case law bei. aa) ICCPR Das Individualbeschwerdeverfahren vor dem Ausschuss für Menschenrechte beruht auf dem Fakultativprotokoll zum ICCPR. Wie auch der Pakt selbst datiert es vom 19. 12. 1966, ist aber für die Mehrzahl der Staaten später als der Pakt selbst, zumeist erst in den 90er Jahren in Kraft getreten461. Dennoch hat sich mittlerweile bereits eine umfassende Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte entwickelt. (1) Berücksichtigung sozialer Rechte nach dem ICCPR Bis 1984 können im Individualbeschwerdeverfahren allerdings keine sozialen Rechte geltend gemacht werden. Erst mit den grundlegenden Mitteilungen („Communications“) S.W.M. Broeks v. Niederlande vom 1. 6. 1984462 und F.H. Zwaan de Vries v. Niederlande vom 28. 9. 1984463 tritt hier eine Änderung ein. should make proposals for the establishment of a Court of Justice with adequate sanctions for the implementation of this Charter [of Human Rights], and to this end any citizen of the associated countries shall have redress before the Court, at any time and with the least possible delay, of any violation of his rights as formulated in the Charter“; vgl. den Explanatory Report zum 11. Zusatzprotokoll zur EMRK http: // conventions.coe.int / treaty / en / Reports / Html / 155.htm. 460 Individuelle Beschwerdemöglichkeiten gibt es außerdem zum CERD, zur Convention on the Rights of the Child on the sale of children, child prostitution and child pornography (25. 5. 2000) und zur Convention on the Rights of the Child on the involvement of children in armed conflicts (25. 5. 2000). 461 Vgl. für Deutschland Ratifikation des Paktes im Jahr 1973 (BGBl. 1973 II S. 1534); Ratifikation des Zusatzprotokolls im Jahr 1993 (BGBl. 1994 II S. 311). 462 Broeks v. the Netherlands, Communication 9. 4. 1987 (No. 172 / 1984). 463 Zwaan de Vries v. the Netherlands, Communication 9. 4. 1987 (No. 182 / 1984). 22*
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In beiden Fällen geht es um die Benachteiligung von Frauen beim Bezug von einer der deutschen Arbeitslosenhilfe vergleichbaren Leistung nach niederländischem Recht. Für Männer und Frauen gelten unterschiedliche Leistungsvoraussetzungen: Verheiratete Frauen bekommen die Leistung nur, wenn sie die Familie ernähren, bei Männern dagegen wird dieses Kriterium, gleich ob sie verheiratet sind oder nicht, nicht geprüft. Nun ist die strittige Frage, ob diese rechtliche Regelung als Verstoß gegen den ICCPR qualifiziert und damit in dem Beschwerdeverfahren vor dem Ausschuss für Menschenrechte geltend gemacht werden kann, obwohl das Recht auf soziale Sicherheit, das der Ungleichbehandlung zugrunde liegt, im ICESCR und nicht im ICCPR festgeschrieben ist. In der Sache geht es damit um die Frage, ob die Verpflichtung der Staaten lediglich dahin geht, Diskriminierungen bei wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte progressiv (Art. 2 ICESCR) zu beseitigen, oder ob eben diese Rechte mit dem Inkrafttreten des ICCPR auch ad hoc geltend gemacht werden können. Der Ausschuss für Menschenrechte legt die Bestimmung, nachdem sich in den Materialien dazu kein schlüssiges Ergebnis finden lässt, nach ihrer gewöhnlichen Bedeutung im Hinblick auf Ziel und Zweck nach Art. 31 WVK aus und kommt zu dem Ergebnis, dass die Diskriminierungsklausel zwar nicht fordere, bestimmte Regelungen im Bereich der sozialen Sicherheit zu erlassen. Wenn sie aber erlassen würden, so müssten sie sich an Art. 26 ICESCR messen lassen: „However, when such legislation is adopted in the exercise of a State’s sovereign power, then such legislation must comply with article 26 of the Covenant“.
Das bedeutet nicht, dass jedwede Unterscheidung bei der Gewährung von Sozialleistungen als diskriminierend zu verstehen wäre. Allerdings ist nach Meinung des Ausschusses im Einzelfall zu prüfen, ob es objektive und vernünftige Kriterien für eine Unterscheidung gibt. Für die Gewährung von Arbeitslosenhilfe kommt das Geschlecht der Antragsteller, wie die Fälle Broeks und Zwaan de Vries zeigen, als Unterscheidungskriterium grundsätzlich nicht in Betracht. Diese Auslegung durch den Sachverständigenausschuss ist als rechtsfortbildend zu verstehen. Aufgrund der getrennten Kodifizierung bürgerlicher und politischer Rechte einerseits und wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte andererseits war man bis dahin davon ausgegangen, dass den Vertragsparteien je unterschiedliche Verpflichtungen obliegen: entweder die Pflicht, „nach und nach die volle Verwirklichung der Rechte zu erreichen“ (Art. 2 ICESCR), oder die Rechte zu „achten und zu gewährleisten“ (Art. 2 ICCPR). Diese strikte Entweder-Oder-Zuordnung der Rechte wird aufgehoben; die von den Niederlanden erhobene Forderung, um der Entscheidungsharmonie willen müssten soziale Rechte, werden sie unter Art. 26 ICCPR subsumiert, zumindest im Licht der anderen UN-Konvention ausgelegt werden, wird negiert. Das Diskriminierungsverbot des Art. 26 ICCPR wird zu einer scharfen Waffe, dient als Maßstab für die Beurteilung des Status quo des Rechts, ist nicht nur Gradmesser für den Prozess der Rechtsentwicklung. Damit wird nicht berücksichtigt, dass die Beseitigung von Diskriminierungen ein fort-
II. Kontrollverfahren
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schreitender Prozess ist, der mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Meinung einhergeht, wie die Niederlande in ihrer Argumentation in der Entscheidung Broeks ausführen: „The search can never be completed, either as distinctions in legislation which are justifiable in the light of social views and conditions prevailing when they are first made may become disputable as changes occur in the views held in society“464.
Im Gegensatz dazu trägt etwa die Richtlinie 79 / 7 / EWG des Rates vom 19. 12. 1978465 der Tatsache Rechnung, dass die Anpassung von Rechtsregeln, die ein bestimmtes Rollenverständnis widerspiegeln und aufgrund neuer gesellschaftlicher Entwicklungen als diskriminierend empfunden werden, eine bestimmte Übergangsphase erforderlich macht, denn dort wird den Mitgliedstaaten eine sechsjährige Frist zur Umsetzung eingeräumt. Allerdings lässt sich dieser Argumentation entgegenhalten, dass auch in den verschiedenen nationalen Verfassungen der Gleichbehandlungsgrundsatz in der Regel nicht als lediglich progressiv umzusetzen verstanden wird. Zudem lässt sich bei Fragen der Gleichbehandlung kein dogmatischer Unterschied zwischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen einerseits und bürgerlichen und politischen Rechten andererseits ausmachen. Die Ausarbeitung der UN-Pakte belegt, dass auf die Interdependenz großer Wert gelegt wird; es sollten gerade keine abschließenden Kategorisierungen geschaffen werden466. Auch der Wortlaut der Bestimmungen spricht für die Auslegung durch den Ausschuss für Menschenrechte. Denn im Gegensatz zu Art. 2 ICCPR wird in Art. 26 ICCPR gerade nicht auf die „in dem Pakt garantierten Rechte“ Bezug genommen. Und die Frage nach der Gleichbehandlung bei der Gewährung sozialer Leistungen lässt sich unabhängig von dem jeweils garantierten Niveau des Systems der sozialen Sicherheit beantworten. Geht der Text davon aus, dass Gesetze „gleichen und wirksamen Schutz“ gegen Diskriminierungen gewähren müssen, so ist dies auch so zu interpretieren, dass begünstigende Gesetze nicht selbst diskriminieren dürfen. Allerdings ist die Legitimität der Entscheidung des Ausschusses für Menschenrechte problematisch, da er nicht nur über eine abstrakte Rechtsfrage, sondern zugleich auch in eigener Sache entscheidet: Werden auch soziale Rechte durch das Diskriminierungsverbot des Art. 26 ICCPR geschützt, so wird die Kompetenz des Ausschusses, Mitteilungen abzufassen – wenn sie auch nicht bindend sind – erweitert467. Und es fehlt ein geeigneter Mechanismus, der hier eine demokratische Rückbindung ermöglichen würde. Broeks v. the Netherlands, Communication 9. 4. 1987 (No. 172 / 1984), Punkt 8.3. RL 79 / 7 / EWG des Rates vom 19. 12. 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, ABl. L 6 / 24. 466 Vgl. S. 66 ff. 467 Vgl. dazu auch kritisch Dupuy, Equality, S. 153. 464 465
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Inwieweit die Vertragsstaaten die mit dieser Änderung der Spruchpraxis verbundene Erweiterung der Kompetenzen des Ausschusses für Menschenrechte tatsächlich akzeptiert haben, ist fraglich. Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Ratifikation des Fakultativprotokolls 1993 einen Vorbehalt eingelegt, nach dem die Zuständigkeit des Ausschusses nicht für Mitteilungen gilt, „mit denen eine Verletzung des Artikels 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte gerügt wird, wenn und soweit sich die gerügte Verletzung auf andere als im vorgenannten Pakt garantierte Rechte bezieht“468. In gleicher Weise hat auch die Schweiz die Geltung von Art. 26 ICCPR eingeschränkt. Frankreich hat eine auf dieser Grundlage ergangene Entscheidung im Fall Ibrahima Gueye nicht ins innerstaatliche Recht umgesetzt469. Der Conseil d’Etat verneint in einer Entscheidung vom 15. 4. 1996 explizit die Anwendbarkeit von Art. 26 ICCPR auf soziale Rechte470. Aufgrund der mit den Verfahren Broeks und Zwaan de Vries eingeleiteten Neuorientierung bei der Auslegung von Art. 26 ICCPR können Diskriminierungen bei der Gewährung von Sozialleistungen seit 1984 vor dem Ausschuss für Menschenrechte geltend gemacht werden. Dies ist in über zwei Dutzend Verfahren geschehen. Die Erfolgsquote der Beschwerden ist allerdings sehr gering. (2) Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts Die in den Mitteilungen Broeks und Zwaan de Vries monierte Ungleichbehandlung von Frauen bei der Gewährung von Arbeitslosenhilfe wird im niederländischen Recht mit einem Gesetz vom 29. 4. 1985, das rückwirkend zum 23. 12. 1984 (Datum der Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinie der EG) gilt, beseitigt. Dennoch gibt es auch danach noch verschiedene an den Ausschuss für Menschenrechte gerichtete Beschwerden von Frauen, die sich trotz der Neuregelung diskriminiert fühlen, zum einen, da für eine rückwirkende Gewährung der Leistungen Voraussetzung ist, bei Antragstellung noch arbeitslos zu sein471, zum anderen, da die rückwirkende Gewährung von Leistungen abgelehnt wird, wenn die Betroffenen nicht bereits unter der Geltung des alten Rechts einen Antrag gestellt haben472. BGBl. 1994 II, S. 311. Vgl. dazu S. 344 f. 470 Vgl. die Argumentation: „. . . il résulte de la coexistence (des deux Pactes) que l’article 26 précité du premier de ces Pactes ne peut concerner que les droits civils et politiques mentionnés par ce Pacte et a pour seul objet de rendre directement applicable le principe de nondiscrimination propre à ce Pacte“ (Conseil d’Etat ass. Avis du 15 avril 1996, Mathia Doukouré, abgedruckt in: Actualité Juridique du droit administratif 1996, Nr. 7, 8, S. 565); vgl. dazu auch den Kommentar in: Actualité Juridique du droit administratif 1996, nos. 7, 8, S. 507 – 513. 471 A.P.L.-v.d.M.v. the Netherlands, Communication 26. 7. 1993 (No. 478 / 1991); Cavalcanti Araujo-Jongen v. the Netherlands, Communication 8. 11. 1993 (418 / 1990). 472 J.A.M.B.-R v. the Netherlands, Communication 28. 4. 1994 (No. 477 / 1991). 468 469
II. Kontrollverfahren
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In all diesen Fällen verneint der Ausschuss für Menschenrechte aber einen Verstoß gegen den Pakt. In den anderen Fällen geht es um die Diskriminierung von Männern bei Hinterbliebenenrenten, im Fall Pauger (1) v. Österreich vom 30. 3. 1992 aufgrund einer nur anteiligen Auszahlung der Hinterbliebenenrente 473, im Fall Pauger (2) v. Österreich vom 30. 4. 1999 um eine Berechnung der Einmalzahlung einer Hinterbliebenenrente bei Wiederverheiratung474 – hier macht die wiederholte Entscheidung im selben Fall die Unzulänglichkeit der Umsetzung der Entscheidung des Ausschusses für Menschenrechte offenbar. Der Ausschuss für Menschenrechte bejaht in beiden Fällen einen Verstoß gegen Art. 26 ICCPR475. Der Fall A. P. Johannes Vos v. Niederlande vom 29. 7. 1999476 ist von besonderem Interesse, da hier Völkerrecht und supranationales Recht gegeneinander ausgespielt werden. Es geht um die Änderung der Berechnung von Beamtenrenten nach niederländischem Recht, die aufgrund einer ursprünglich bestehenden – und als Verstoß gegen Art. 119 EG-Vertrag a.F. (Art. 141 EGV) monierten – Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen notwendig geworden ist. Im Ergebnis werden aufgrund der Neuregelung Renten ab 1. 1. 1986 für Männer und Frauen gleich berechnet; bei der Berücksichtigung früherer Rentenansprüche werden Männer aber schlechter gestellt. Der EuGH erkennt auch darin einen Verstoß gegen Art. 119 EG-Vertrag a.F. (Art. 141 EGV), urteilt aber, dass nur die Ansprüche derer, die vor der Entscheidung Barber477 (17. 5. 1990) Klage eingereicht haben, gesondert zu berücksichtigen seien478. Das bedeutet, dass nach dem Urteil des EuGH die Diskriminierung nur in beschränktem Umfang aufgehoben wird. Darin aber sieht der Ausschuss für Menschenrechte einen Verstoß gegen Art. 26 ICCPR479. In der Sache negiert er damit die – aus finanziellen Gründen sowie Pauger (1) v. Austria, Communication 30. 3. 1992 (No. 415 / 1990). Pauger (2) v. Austria, Communication 30. 4. 1999 (No. 716 / 1996): bei Wiederverheiratung wird eine Einmalzahlung in Höhe von 70 Monatsrenten gewährt; erst ab einem bestimmten Stichtag wird aber der Berechnung die für Frauen und Männer in gleicher Höhe gewährte Leistung zugrunde gelegt. 475 Der Fall Pauger wird auch von der Europäischen Menschenrechtskommission und vor dem EGMR verhandelt, vgl. dazu S. 356; zur Problematik der Verdoppelung von Verfahren zu einer Sachfrage vgl. S. 421 ff. 476 Vos v. the Netherlands, Communication 29. 7. 1999 (No. 786 / 1997). 477 Entscheidung vom 17. 5. 1990 – Rs. C-262 / 88 (Barber). 478 Entscheidung vom 28. 9. 1994 – Rs C-7 / 93 (Beune). 479 Vgl. den Wortlaut der Entscheidung: „In this context, the Committee notes that the courts in the Netherlands, following the opinion by the European Court of Justice, have limited a remedy for the discrimination to those persons who filed their claim before 17 May 1990, in accordance with the law of the European Communities. The Committee observes that what is at issue in the instant communication under the Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights is not the progressive implementation of the principle of equality between men and women with regard to pay and social security, but whether or not the application to the author of the relevant legislation was in compliance with 473 474
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Gründen der Rechtssicherheit – limitierte Beseitigung von Diskriminierungen und verfolgt einen maximalistischen Ansatz. Andererseits beschränkt der Ausschuss für Menschenrechte im Fall H. J. Pepels v. die Niederlande vom 19. 7. 1994480 die rückwirkende Gewährung von Leistungen, die aufgrund einer diskriminierenden Behandlung vorenthalten worden sind. Der Antragsteller hatte als Witwer mit vier kleinen Kindern – im Gegensatz zu Witwen in der gleichen Situation – keine Leistungen bekommen, hatte aber auch keinen entsprechenden Antrag gestellt. Die Rechtslage wurde 1988 geändert, wobei allerdings die Rückwirkung der Regelung auf ein Jahr begrenzt wurde. Der Ausschuss für Menschenrechte sieht darin keinen Verstoß. Er erachtet die Rechtsposition des Antragstellers nicht für schützenswert, da er keinen Antrag gestellt hat, obwohl dies, ausgehend von der unmittelbaren Wirkung des ICCPR, ab dem 11. 3. 1979 in den Niederlanden möglich gewesen wäre. Die dogmatische Unterscheidung zwischen beiden Fällen ist wichtig. Beide Male geht es um die Aufhebung von diskriminierenden Regelungen, beide Male um die Korrektur von in der Vergangenheit liegenden Sachverhalten. Der erste Fall wirft allerdings im eigentlichen Sinn kein Problem der Rückwirkung auf, da hier die Berechnung der gegenwärtigen und zukünftigen Rente aufgrund der Anrechnung von in der Vergangenheit geleisteter Arbeit strittig ist. Im zweiten Fall dagegen geht es um die Gewährung von Leistungen, für die in der Vergangenheit ein Anspruch hätte bestehen müssen, damit um Rückwirkung im eigentlichen Sinn. Nun steht der Rückwirkung begünstigender Regelungen im Grunde nicht – wie der Rückwirkung belastender Regelungen – der Vertrauensgrundsatz entgegen. Allerdings kann das Diskriminierungsverbot auch nicht so weit ausgelegt werden, dass es geböte, in der Vergangenheit liegende Diskriminierungen auszugleichen – eine Frage, mit der sich der Ausschuss für Menschenrechte nicht befasst hat, die aber mit der Entscheidung Pepels als implizit beantwortet gelten kann. (3) Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit Obwohl Staatsangehörigkeit nicht unter den nach Art. 26 ICCPR als diskriminierend eingestuften Kriterien figuriert, wird sie doch vom Ausschuss für Menschenrechte unter „anderer Status“ subsumiert481. Das bedeutet, dass bei der Gewährung von Sozialleistungen nach der Staatsangehörigkeit nur differenziert werden darf, wenn es dafür einen objektiven und vernünftigen Grund gibt. Aufgrund dessen bejaht der Ausschuss im Fall Ibrahima Gueye v. Frankreich vom article 26 of the Covenant. The pension paid to the author as a married male former civil servant whose pension accrued before 1985 is lower than the pension paid to a married female former civil servant whose pension accrued at the same date. In the Committee’s view this amounts to a violation of article 26 of the Covenant“ (Vos v. the Netherlands, Communication 29. 7. 1999 (No. 786 / 1997), Punkt 7). 480 Pepels v. the Netherlands, Communication 19. 7. 1994 (No. 484 / 1991). 481 Vgl. zu der Problematik S. 150 ff.
II. Kontrollverfahren
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3. 4. 1989482 einen Verstoß gegen den Pakt. Gerügt wird die Ungleichbehandlung zwischen französischen und senegalesischen Soldaten, die gleichermaßen in der französischen Armee gedient und dafür eine Militärrente erworben haben, da nur für die senegalesischen, nicht aber für die französischen Staatsangehörigen die Rente auf dem Stand des Jahres 1975 eingefroren und nicht weiter angepasst wird. Dies wird damit begründet, dass Letztere mit der Unabhängigkeit von Senegal die französische Staatsangehörigkeit verloren hätten, dass erhebliche Schwierigkeiten bestünden, die Identität der Berechtigten und ihre Familiensituation in den afrikanischen Ländern festzustellen. Zudem sei die wirtschaftliche, soziale und finanzielle Situation in Frankreich und in den früheren Kolonien sehr unterschiedlich. Der Ausschuss erkennt diese Begründungen aber nicht als „objektiv und vernünftig“ an, da alleiniger Grund der Rentenleistungen der – von allen in gleicher Weise geleistete – Dienst in der Armee sei, und verlangt eine Reform des französischen Rechts483. Eines der grundlegenden Probleme bei der Gewährung von Sozialleistungen an ausländische Staatsangehörige ist, inwieweit es sachgerecht ist, dabei die Reziprozität von Regelungen zu berücksichtigen. In dem Fall Jacob und Jantina Hendrika van Oord v. Niederlande vom 14. 8. 1997484, in dem es um Ungleichbehandlung bei freiwilliger Altersversicherung geht, wird es als vernünftiges und objektives Kriterium anerkannt, bestimmten Personen Privilegien aufgrund völkerrechtlicher Abkommen, die ihr Heimatstaat abgeschlossen hat, einzuräumen und insoweit auch die Frage der Reziprozität bei der Gewährung von Leistungen zu berücksichtigen485 – ein Aspekt, der etwa bei der Entscheidung Gaygusuz ausgeblendet wird486. Allerdings ist in diesem Fall eine zusätzliche Besonderheit, dass die potentiell Berechtigten ihren Wohnsitz im Ausland haben; auch dies wäre als rechtfertigendes Unterscheidungskriterium zu werten, sofern man überhaupt den Schutzbereich des Paktes als eröffnet ansieht487. Gueye et al. v. France, Communication 6. 4. 1989 (No. 196 / 1985). Ein zweiter Antrag zu einem fast identischen Sachverhalt, zu den Hinterbliebenenrenten der senegalesischen Militärangehörigen, wird als unzulässig abgewiesen, da die innerstaatlichen Rechtsmittel noch nicht erschöpft sind (Doukouré v. France, Communication 25. 4. 2000 (No. 756 / 1997)). 484 Oord v. the Netherlands, Communication 14. 8. 1997 (No. 658 / 1995). 485 Konkret geht es um die freiwillige Versicherung von Niederländern, die im Ausland leben und eine ausländische Staatsangehörigkeit angenommen haben. Bei der Berechnung ihrer Rente werden ihnen im Gegensatz zu niederländischen Staatsangehörigen für die Zeit vor Einführung des Rentensystems 1957 keine Beiträge angerechnet, da sie nicht im Inland gelebt hatten. Die bei Abschluß der freiwilligen Versicherung bestehenden Bedingungen verbessern sich später aufgrund der Änderung der Rechtsstellung der Frau und aufgrund eines Vertrages zwischen den USA und den Niederlanden; zugleich verschlechtern sie sich aufgrund einer Besteuerung der Rente. Emigranten in andere Länder (Australien, Neuseeland, Kanada) werden aufgrund anderer Sozialversicherungsabkommen besser gestellt. 486 Vgl. dazu S. 364 ff. 487 Vgl. dazu S. 148 ff. 482 483
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
(4) Ungleichbehandlung aus sonstigen Gründen Der Ausschuss für Menschenrechte hat sich darüber hinaus auch mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die unterschiedliche Behandlung von Ehen und sonstigen nicht institutionalisierten Lebensgemeinschaften bei der Bemessung der Höhe von Invaliditätsrenten 488 oder bei der Gewährung von Hinterbliebenenrenten489 rechtfertigbar ist. Interessant ist, dass, nachdem der Ausschuss es in der ersten Entscheidung 1984 als objektiv und vernünftig ansieht, zwischen Verheirateten und NichtVerheirateten zu differenzieren, bei der zweiten Entscheidung 1994 die Klägerseite argumentiert, die gesellschaftliche Anschauung habe sich gewandelt, so dass das Anknüpfen an den Ehestatus bei der Gewährung von auf Beiträgen beruhenden Leistungen mittlerweile diskriminierend sei. Der Ausschuss betont aber die Freiwilligkeit des Entschlusses zu heiraten oder nicht zu heiraten. Deshalb sei es nicht zu beanstanden, wenn daran verschiedene Rechtsfolgen geknüpft würden. Dem stehe nicht entgegen, wenn in anderem Zusammenhang, etwa bei bedürftigkeitsabhängigen Sozialhilfeleistungen, diejenigen, die zusammenleben, und diejenigen, die verheiratet sind, von Rechts wegen gleichgestellt werden. Dieser Argumentation hält Elizabeth Evatt in einer „concurring opinion“ entgegen, es dürfe nicht auf die allgemeinen Rechtsfolgen eines Eheschlusses abgestellt werden; vielmehr sei entscheidend, ob die Unterscheidungen bei der Gewährung von Sozialleistungen von der sozialen Wirklichkeit gerechtfertigt würden. Werden allerdings unverheiratet zusammenlebende Paare im Hinblick auf Rentenansprüche unterschiedlich behandelt je nachdem, ob sie hetero- oder homosexuell sind, so wird dies als Verstoß gegen Art. 26 ICCPR angesehen490. Problematisch ist, dass sich der Ausschuss für Menschenrechte, angefangen mit der Entscheidung zur Ungleichbehandlung aufgrund von Staatsangehörigkeit, immer mehr von Art. 26 ICCPR fortbewegt. Nach dieser Bestimmung hat das Gesetz gegen Diskriminierungen aufgrund von bestimmten Kriterien – genannt werden Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politische oder sonstige Anschauung, nationale oder soziale Herkunft, Vermögen und Geburt – zu schützen. Dieser Katalog wird durch das Kriterium „sonstiger Status“ geöffnet. Das bedeutet aber, dass „sonstiger Status“ mit den anderen Charakteristika auf einer Stufe stehen muss. Während nun ein Teil dieser Charakteristika naturgegeben und damit nicht abänderbar ist (z. B. Rasse, Geschlecht, Geburt), ist den anderen Merkmalen eigen, dass sie die Identität der Person wesentlich bestimmen. Bei der Interpretation von Art. 26 ICCPR ist es somit notwendig, in einem ersten Schritt zu prüfen, ob das potentiell diskriminierende Merkmal dem Katalog unterfällt und, wenn nicht, inwieweit ihm die gleiche Bedeutung, der gleiche Stellenwert wie den im Katalog aufgezählten Merkmalen zukommt. Bei der Entscheidung Ibrahima Gueye etwa 488 489 490
Danning v. the Netherlands, Communication 19. 7. 1984 (No. 180 / 1984). Hoofdam v. the Netherlands, Communication 25. 11. 98 (No. 602 / 1994). Young v. Australia, Communication 18. 9. 2003 (No. 941 / 2000).
II. Kontrollverfahren
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hat der Ausschuss für Menschenrechte dies eigens geprüft und für das Kriterium „Staatsangehörigkeit“ bejaht. Erst beim zweiten Schritt ist dann zu überlegen, ob und inwieweit eine Unterscheidung dennoch rechtfertigbar ist, in der Diktion des Ausschusses, ob objektive und vernünftige Gründe dafür vorliegen. Der Ausschuss aber akzeptiert jede Unterscheidung zwischen verschiedenen Personengruppen als „anderen Status“ – ohne dies im Einzelnen zu prüfen – und überlegt dann lediglich, ob die Unterscheidung im konkreten Fall rechtfertigbar ist. Damit zielt er nicht mehr auf den Schutz gegen bestimmte, bei der Ausarbeitung des Paktes als ungerecht erkannte Diskriminierungen ab, sondern schafft einen Hebel, um rechtliche Regelungen ganz allgemein auf ihre Sachgerechtigkeit hin zu überprüfen. Ist die Schleuse erst einmal geöffnet, so ist kein Halten mehr. Der Ausschuss wird konfrontiert mit potentiellen Diskriminierungen aufgrund der Stellung als sorgeberechtigter Elternteil bzw. als Unterhaltsverpflichteter491, der arbeitsrechtlichen Stellung als Selbständiger oder Angestellter492, der Stellung als Militärangehöriger oder Zivilist493, der Stellung als leibliches Kind oder Stiefkind494, der Stellung als zeitweise beurlaubter Beamter oder Arbeitsloser495. Sogar die Frage, ob bei der Bemessung des Bedarfs bei Arbeitslosenhilfe berücksichtigt werden darf, ob der Berechtigte mit Familienangehörigen ersten Grades zusammenwohnt oder nicht, wird als potentieller Diskriminierungsfall thematisiert496. „Anderer Status“ wäre in 491 Byrne v. Kanada, Communication 23. 4. 1996 (No. 742 / 1997); als diskrimierend moniert werden Besteuerungsregelungen, die dazu führen, dass die Netto-Unterhaltszahlungen geringer ausfallen als vom Gericht festgelegt; nach Meinung des Ausschusses ist es Aufgabe des nationalen Gerichts, bei seinen Festlegungen die Besteuerung mitzuberücksichtigen; der Ausschuss könne in diese internen Berechnungen nicht eingreifen. 492 Kaaber v. Iceland, Communication 3. 12. 96 (No. 674 / 1995); moniert wird die ungleiche Besteuerung des Einkommens von Selbständigen und Angestellten; die Beschwerde ist unzulässig, da nur der Zweifel an der Effektivität nationaler Rechtsmittel nicht davor befreit, das entsprechende Rechtsmittel einzulegen, um den Rechtsweg zu erschöpfen. 493 Drake v. New Zealand, Communication 29. 4. 1997 (No. 601 / 1994); moniert wird, dass Entschädigungsleistungen für Militärangehörige, nicht aber für Zivilisten bezahlt werden; der Ausschuss sieht die Unterscheidung als „objektiv und vernünftig“ an, da Anknüpfungspunkt die Invalidität aufgrund von Kriegsgefangenschaft und nicht aufgrund von Gefangenschaft ist; vgl. den ähnlichen Fall Atkinson / Stroud / Cyr v. Canada, Communcation 9. 11. 1995 (No. 573 / 1994). 494 Oulajin / Kaiss v. the Netherlands, Communication 23. 10. 1992 (No. 406 / 1990 und 426 / 1990). Moniert wird die Benachteiligung von Stiefkindern im Hinblick auf Familienleistungen, da hier das zusätzliche Erfordernis aufgestellt wird, dass sie mit dem Antragsteller zusammenleben müssen; darin wird eine Benachteiligung von Wanderarbeitnehmern gesehen, da ihre Stiefkinder tendenziell eher im Ausland leben; der Ausschuss hält die Unterscheidung aber für objektiv. 495 Pons v. Spain, Communication 8. 11. 1995 (No. 454 / 1991). Hier geht es um die Ablehnung von Arbeitslosengeld für einen arbeitslosen Ersatzrichter, der aber zugleich den Status eines zeitweise beurlaubten Beamten hat; der Ausschuss sieht darin keine Diskriminierung. 496 Doesburg Lannooij Neefs v. the Netherlands, Communication 27. 7. 1994 (No. 425 / 1990). 497 S.B. v. New Zealand, Communication 4. 4. 1994 (No. 475 / 1991).
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
diesem Zusammenhang das „Zusammenwohnen mit den Eltern“. Angegriffen wird auch eine auf einem Sozialversicherungsabkommen beruhende Koordinierungsregel, nach der in einem Staat in einem öffentlichen Sicherungssystem erworbene Rechte zur Verhinderung von Übersicherungen auf die in einem anderen Staat erworbenen Rechte angerechnet werden497. Eine Diskriminierung bestehe im Vergleich zu denjenigen, die in Privatversicherungen eingezahlt hätten. Zum Teil stehen hinter den Diskriminierungen beim Erhalt von Leistungen keine identifizierbaren Gruppen mehr wie etwa bei der unterschiedlichen Besteuerung von Urlaubsgeld; hier geht es lediglich um eine nach bestimmten Voraussetzungen differenzierende Regelung498. – Auch wenn das Menschenrechtsausschuss in all diesen Fällen einen Verstoß gegen Art. 26 ICCPR ablehnt, da es objektive und vernünftige Kriterien für die jeweiligen Unterscheidungen gebe, so ist doch dieser argumentative Ansatz nicht richtig. Werden Sozialleistungen gewährt, so ist es nicht nur sachgerecht, sondern notwendig, Unterscheidungen zu treffen und Grenzen zu ziehen. Diese allgemein auf ihre „Objektivität‘“ und „Vernünftigkeit“ hin zu überprüfen, kann nicht Aufgabe eines für Menschenrechtsschutz verantwortlichen internationalen Kontrollkomitees sein, da gerade für die Beurteilung dieser Fragen die Sachnähe und damit die Kenntnisse der besonderen nationalen gesellschaftlichen Besonderheiten Voraussetzung sind. Anders ist lediglich der Fall R.E.d.B vom 5. 11. 1993499 zu beurteilen, bei dem es um die Behauptung einer Diskriminierung aufgrund von geistiger Behinderung geht. Dieser „Status“ wäre tatsächlich unter „anderer Status“ zu subsumieren, wäre den dort genannten Merkmalen vergleichbar. Allerdings handelt es sich dennoch nicht um eine Diskriminierung. Gerügt wird, dass Sozialleistungen (Fahrtkosten), die weder der geistig Behinderte selbst noch seine Eltern als gesetzliche Vertreter beantragt haben, weder von Amts wegen noch rückwirkend gewährt werden. Aufgrund der gesetzlichen Vertretung durch die Eltern ist der Behinderte aber durch diese Regelung nicht benachteiligt. Im Hinblick auf mittelbare oder indirekte Diskriminierung ist die Haltung des Ausschusses für Menschenrechte nicht eindeutig zu bestimmen. Einerseits führt er aus, dass es keine Diskriminierung darstelle, wenn die einheitliche Anwendung einer bestimmten Regel auf unterschiedliche Gruppen zu unterschiedlichen Ergebnissen führe. „The Committee considers that the scope of article 26 of the Covenant does not extend to differences resulting from the equal application of common rules in the allocation of benefits“500.
Brandsma v. the Netherlands, Communication 30. 4. 2004 (No. 977 / 2001). R.E.d.B v. the Netherlands, Communication 5. 11. 1993 (No. 548 / 1993). 500 Oulajin / Kaiss v. the Netherlands, Communication 23. 10. 1992 (No. 406 / 1990 und 426 / 1990), para. 7.5. 498 499
II. Kontrollverfahren
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Andererseits befasst er sich aber doch mit den Auswirkungen von Leistungskürzungen501 auf verschiedene Gruppen und prüft beispielsweise, ob von der Kürzung von Zulagen für Kinder Rentner stärker als die arbeitsfähige Bevölkerung betroffen sind. Die Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte zu den sozialrechtlichen Fällen macht zweierlei deutlich. Ins Völkerrecht finden „Alltagsfälle“ Eingang, Fälle, die potentiell im jeweiligen nationalen Rahmen „ungerecht“ entschieden worden sind, die aber in ihrer Wirkung auf den Einzelnen begrenzt und damit nicht geeignet sind, im zwischenstaatlichen Bereich Irritationen auszuüben. Zudem hat sich die Rechtsentwicklung von dem ursprünglich Intendierten weitgehend abgekoppelt. Die fehlende Justitiabilität war gerade das wesentliche Kriterium, um diese „sozialen“ Rechte nicht in den ICCPR aufzunehmen und dafür kein Individualbeschwerdeverfahren einzurichten. Und dennoch werden diese Rechte – oder zumindest Teilaspekte davon – auf dem ursprünglich für verschlossen gehaltenen Weg geltend gemacht. Das Instrument „Recht“ erweist sich in seiner Entwicklung als von außen nur bedingt steuerbar502. bb) CEDAW Am 10. 12. 1999 wird das Fakultativprotokoll zum CEDAW zur Unterzeichnung und Ratifikation aufgelegt503. Nach Art. 2 des Protokolls können einzelne Individuen ebenso wie Gruppen sich mit der Behauptung, in ihren auf dem Pakt beruhenden Rechten verletzt zu sein, an den Ausschuss zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen wenden. Das Protokoll trat am 22. 12. 2000 in Kraft. Damit wird der Forderung auf der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 und der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 Genüge getan. Eine Folge ist, dass auch die in Art. 11, 12 und 13 CEDAW enthaltenen, für die soziale Rechtsposition von Frauen relevanten Rechte in Individualverfahren geltend gemacht werden können. Inwieweit sich die Spruchpraxis parallel zur Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte entwickelt, werden die Verfahren zu diesen Rechtsfragen zeigen. cc) ICESCR Bereits in einer frühen Phase seiner Tätigkeit hat der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte die Vorbereitung eines Fakultativprotokolls als notwendig erkannt504. Bei der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 wurde ein Diskussionspapier vorgelegt und folgende Erklärung abgegeben: 501 Vgl. die Aussage: „The Committee recalls that a violation of article 26 can also result from the discriminatory effect of a rule or measure that is neutral at face value or without intent to discriminate“, Althammer v. the Netherlands, Communication 22. 9. 2003 (No. 998 / 2001). 502 Zu diesem Aspekt ausführlich Kapitel F. 503 Vgl. dazu Text und Materialien, United Nations, Optional Protocol, S. 1 ff.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
„[T]he Committee believes that there are strong reasons for adopting a complaints procedure (in the form of an optional Protocol to the Covenant) in respect of the economic, social and cultural rights recognized in the Covenant. Such a procedure would be entirely non-compulsory and would permit communications to be submitted by individuals or groups alleging violations of the rights recognized in the Covenant. It might also include an optional procedure for the consideration of inter-State complaints. Various procedural safeguards designed to guard against abuse of the procedure would be adopted. They would be similar in nature to those applying under the first Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights“505.
Mittlerweile gibt es verschiedene Entwürfe zu einem Fakultativprotokoll506. Die Gretchenfrage bei der Diskussion ist, ob, und wenn inwieweit, die in dem ICESCR enthaltenen Rechte justitiabel sind507. Der Ausschuss geht in seinem allgemeinen Kommentar Nr. 3 davon aus, dass bei allen Rechten ein gewisser Kern zu garantieren ist508. Auch der erste Entwurf von Utrecht beruht auf der Annahme einer zumindest teilweisen Justitiabilität der Rechte509. Im Übrigen geht man davon aus, dass diese Frage nicht theoretisch zu beantworten ist, sondern erst die Erfahrung, kommt das Protokoll zur Anwendung, zeigen wird, wie weit die Rechte im Einzelnen durchsetzbar sind510. dd) CERD Auch zum CERD gibt es ein Individualbeschwerdeverfahren. Von den Beschwerden nach Art. 14 CERD haben zwar mehrere soziale Rechte betroffen wie das Recht auf Arbeit511 und das Recht auf Wohnung512, nicht aber das nach Art. 5 e (iv) CERD geschützte Recht auf soziale Sicherheit. 504 Zu den einzelnen Etappen bei der Verwirklichung der Idee vgl. Alston, Right to Complain, S. 79 ff.; Alston, Optional Protocol, S. 179 ff.; Klee, Progressive Verwirklichung, S. 268 ff. 505 A / CONF.157 / PC / 62 / Add., Annex I, para. 18. 506 Utrecht Draft Optional Protocol to the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, abgedruckt in: Fons Coomans, Fried van Hoof (Hg.), The Right to Complain about Economic, Social and Cultural Rights, Utrecht 1995, S. 233 – 239; Committee Draft Optional Protocol, abgedruckt ebenda, S. 192 – 198. 507 Vgl. dazu auch Vierdag, Comments, S. 199. 508 Vgl. dazu S. 240 f. 509 Vgl. Punkt G in der Präambel der ersten Fassung: „Convinced that at least some elements of the human rights recognized in the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights are justiciable and, therefore, susceptible of further elaboration and determination within the framework of remedies of a (quasi)judicial character also on the international level“; diese Fassung ist abgedruckt in: Fons Coomans, Fried van Hoof (Hg.), The Right to Complain about Economic, Social and Cultural Rights, Utrecht 1995, S. 171 ff. (172). 510 Vgl. Van Hoof, Optional Protocol, S. 161. 511 Z.U.B.S. v. Austria, Communication 25. 10. 2000 (No. 6 / 1995); B.M.S. v. Australia, Communication 10. 5. 1999 (No. 8 / 1996); D.S. v. Sweden, Communication 17. 8. 1998 (No. 9 / 1997); Barbaro v. Australia, Communication 29. 8. 1997 (No. 7 / 1995) .
II. Kontrollverfahren
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Die Entwicklung der Individualbeschwerdeverfahren steht erst am Anfang; aber auch hier steht zu erwarten, dass sozialrechtsrelevante Positionen in Zukunft in erweitertem Umfang geltend gemacht werden können.
b) Verfahren mit verbindlichen Entscheidungen – Auslegung der EMRK und der Zusatzprotokolle Das effektivste und in der Öffentlichkeit auch am umfänglichsten wahrgenommene, auf Völkerrecht basierende Kontrollverfahren ist das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, dessen Entscheidungen verbindlich sind; die Vertragsstaaten sind nach Art. 46 EMRK verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Damit ist den nationalen Gerichten nicht aufgegeben, das case law des Gerichtshofs per se als verbindlich anzuerkennen. Weichen sie aber in einer Entscheidung davon ab, riskieren sie, dass sich die im jeweiligen Fall Betroffenen an den EGMR wenden und eine abweichende Entscheidung erstreiten, die dann im Inland zu vollziehen ist513. Nun war die EMRK – wie auch der ICCPR – ursprünglich zum Schutz der bürgerlichen und politischen Rechte konzipiert514. Individuelle Rechtspositionen im Bereich von sozialer Sicherheit und sozialer Fürsorge sollten nicht geltend gemacht werden können. Aber auch hier hat die Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs den eng gesteckten Rahmen aufgebrochen und neue Wege gewiesen515.
aa) Anwendung von Art. 6 EMRK auf sozialrechtliche Ansprüche Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in den 80er Jahren – analog zum Ausschuss für Menschenrechte – zwei Grundsatzentscheidungen gefällt, mit denen er die, wie es in der Entscheidung „Airey“ heißt, niemals „wasserdichte“ Trennung zwischen den in der EMRK festgeschriebenen bürgerlichen und politischen Rechten und den in der ESC enthaltenen sozialen Rechten durchbricht, indem er auf Ansprüche auf Krankengeld nach niederländischem Recht (Feldbrugge516) und auf eine Hinterbliebenenrente der Unfallversicherung nach deutL.K. v. the Netherlands, Communication 16. 3. 1993 (No. 4 / 1991). Ein Musterbeispiel dafür ist die Entscheidung vom 26. 9. 1995 Vogt . / . Deutschland (EuGRZ 1995, S. 590 ff.), bei der die Praxis der Berufsverbote in Deutschland – abweichend von der Meinung des Bundesverfassungsgerichts – als Verstoß gegen Art. 10 und 11 EMRK erkannt wurde; vgl. dazu Nußberger, Ban on Employment, S. 173 – 182. 514 Vgl. zur Entwicklung S. 79 ff. 515 Vgl. dazu grundlegend Schmidt, Europäische Menschenrechtskonvention. 516 Feldbrugge . / . die Niederlande (1986), Serie A, Nr. 99 und Serie B, Nr. 82. 512 513
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
schem Recht (Deumeland517) die verfahrensrechtliche Garantie des Art. 6 EMRK anwendet518. Dreh- und Angelpunkt dieser Entscheidungen ist die Auslegung des Begriffes „civil rights“ in Art. 6 EMRK: „In the determination of his civil rights and obligations . . . everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time by an independent and impartial tribunal established by law“.
Entscheidend für die Interpretation ist eine von dem Verständnis der nationalen Rechtsordnungen519 losgelöste Abgrenzung zwischen öffentlichen und privaten Rechtspositionen. Je nachdem, wo die Grenze gezogen wird, gestaltet sich die gerichtliche Geltendmachung der Ansprüche unterschiedlich. Nach Art. 6 EMRK wird ein justizförmiges Verfahren bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Einzelpersonen für unumgänglich gehalten, während davon bei rein öffentlich-rechtlichen Ansprüchen abgesehen wird; im Bereich der Verwaltung, so die Idee, können organisatorische, soziale und wirtschaftliche Überlegungen es rechtfertigen, weniger förmliche Verfahren vorzusehen520. Das Gericht arbeitet in den Entscheidungen Feldbrugge und Deumeland allgemeine Kriterien heraus, die es ermöglichen, einen Leistungsanspruch im Bereich des Sozialversicherungsrechts in die vorgegebene Dichotomie öffentlich – privat einzuordnen. So sind etwa der obligatorische Charakter der Versicherung, die Festlegung des Rahmens der Versicherung und ihre Kontrolle durch den Staat sowie die Übernahme der Verantwortung durch den Staat charakteristisch für öffentlichrechtliche, das Vorliegen eines subjektiven, vermögenswerten Rechtes, das Anknüpfen an den Arbeitsvertrag und die Ähnlichkeit mit einer Privatversicherung dagegen typisch für privatrechtliche Ansprüche. Die Besonderheit der Entscheidungen Feldbrugge und Deumeland besteht darin, dass der Gerichtshof hier bei den auf Sozialversicherungsrecht gestützten Ansprüchen die privat-rechtlichen Elemente, abweichend von der Klassifizierung nach dem jeweiligen nationalen Recht, für dominierend und damit die Einordnung bestimmend hält. In den Folgeentscheidungen erweitert das Gericht den Kreis sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche, die als „civil rights“ unter Art. 6 EMRK fallen, immer weiter und bezieht auch Ansprüche auf soziale Vorsorge von Beam517 Deumeland . / . die Bundesrepublik Deutschland (1986), Serie A, Nr. 100 und Serie B, Nr. 83. 518 Vgl. dazu auch Bradley, Right to a Fair Hearing, S. 3 ff.; Schmidt, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 34 ff. 519 Vgl. zur Bedeutung des Wortlauts einerseits von „civil rights and obligations“ in der anglo-amerikanischen Rechtstradition und von „droits et obligations de caractère civil“ andererseits in der französischen Rechtstradition; Schmidt, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 51 ff. 520 Vgl. dazu die Ausführungen in dem Sondervotum zu Deumeland; vgl. außerdem Boyle, Right to a Fair Hearing, S. 89 ff.
II. Kontrollverfahren
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ten521, schließlich auch reine Fürsorgeleistungen wie das „assegno civile“ nach italienischem Recht522 ein. Zentrales Argument ist, dass es sich auch dabei um subjektive, vermögenswerte, sich unmittelbar aus dem Gesetz ergebende Rechte handele, die für den Einzelnen von entscheidender Bedeutung sind. Diese Auslegung hat sich mittlerweile durchgesetzt und ist auch allgemein anerkannt. Dennoch ist nicht zu verkennen, dass Rechtspositionen im Bereich des Sozialrechts nicht zufällig über viele Jahre hin von Kommission und Gerichtshof ausgeblendet worden waren523, sondern die ursprünglich enge Auslegung von Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und auch telos der Norm getragen wurde524. In den 80er Jahren hat sich aber das Verständnis von der Bedeutung der individuellen Rechtspositionen des Bürgers im Recht der Sozialversicherung und der sozialen Fürsorge geändert; damit findet die erweiterte Auslegung von Art. 6 EMRK im Wege der Rechtsfortbildung allgemein Akzeptanz525. Nach dem neuen Verständnis von Art. 6 EMRK wird für diese sozialen Rechte gefordert, dass über sie vor einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in billiger Weise, öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist entschieden wird526. Damit wird im Völkerrecht eine prozedurale Garantie 521 Lombardo Giancarlo . / . Italien (1992), Serie A, Nr. 249-C; Pauger . / . Österreich (1997), Serie A, Reports 1997-III, Nr. 38. 522 Salesi . / . Italien (1993), Serie A, Nr. 257-E . 523 Vgl. die Entscheidungen der Kommission aus den 70er und 80er Jahren, in denen eine Subsumtion von Ansprüchen aus dem Sozialrecht unter Art. 6 EMRK abgelehnt wurde: X . / . Deutschland (1971), Yearbook 14, S. 622 (Entschädigung für Opfer von nationalsozialistischer Verfolgung durch das Bundesentschädigungsgesetz); B. . / . die Niederlande (1985), DR 43, S. 198 ff., S. 200 (Anspruch auf Entschädigung eines Verbrechensopfers); X. . / . Österreich (1970), CD 35, S. 109 ff., S. 112 (Rente von Kriegsversehrten); X . / . Deutschland (1971), Yearbook 14, S. 522 ff., S. 534 (Entschädigung nach dem deutschen Lastenausgleichsgesetz); X . / . Österreich (1978), DR 14, S. 252 ff., S. 253 (allgemeine Entschädigungsleistungen der österreichischen Unfall-Sozialversicherung); X . / . Schweiz (1980), DR 20, S. 161 ff., S. 162 (Renten nach einem Unfall beim Militär). 524 Vgl. hierzu insbesondere auch das Sondervotum von sieben Richtern des EGMR zur Entscheidung Deumeland, die im Einzelnen darlegen, dass Art. 6 EMRK nach Ziel und Zweck der Konvention nicht so weit reichen sollte, eine justizförmige Kontrolle der Verwaltung von gesetzlichen Systemen kollektiver sozialer Sicherheit zu gewährleisten; vgl. auch die ersten in der Folge von Deumeland / Feldbrugge ergangenen Entscheidungen, die die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK bei einer Vielzahl von Sozialleistungen noch ausschließen, z. B. bei deutscher Arbeitslosenhilfe (K . / . Bundesrepublik Deutschland (1988), DR 55, S. 51 ff., S. 66), bei Krankengeld nach schwedischem Recht (Wallin . / . Schweden (1988), DR 55, S. 142 ff., S. 148), bei schwedischen Entschädigungszahlungen nach einer Naturkatastrophe (M . / . Schweden (1993), Nr. 18436 / 91), bei schwedischer staatlicher Ausbildungsförderung (M.D . / . Schweden (1993), Nr. 19537 / 92). 525 Vgl. auch Bradley (Right to a Fair Hearing, S. 8), der argumentiert, die geänderte Staatenpraxis rechtfertige eine breitere Interpretation von Art. 6 Abs. 1 EMRK. 526 Vgl. den aufgrund dieser Rechtsprechung eingelegten Vorbehalt von Finnland zu Art. 6 EMRK, es könne bei Verfahren vor dem Sozialversicherungsgericht in der zweiten Instanz kein Recht auf eine mündliche Verhandlung garantieren.
23 Nußberger
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für die Durchsetzung sozialer Rechte geschaffen, die im Übrigen nicht nur die Leistungs-, sondern auch die Beitragsseite umfasst527. Von den Klägern wird Art. 6 EMRK in nahezu allen Fällen, die Einschränkungen sozialer Rechtspositionen betreffen, als verletzt gerügt, oftmals ohne einen Verfahrensverstoß zu spezifizieren528. Nur in vergleichsweise seltenen Fällen haben Klagen in diesem Zusammenhang zum Erfolg geführt529, insbesondere da bei sozialrechtlichen Ansprüchen die Komplexität der Materie bei der Berechnung der Zeitdauer der Verfahren – und dies ist der häufigste Kritikpunkt – berücksichtigt wird. Allerdings betont der Gerichtshof auch, dass bei rentenrechtlichen Fällen eine besondere Sorgfalt erforderlich ist530. Über Art. 6 EMRK kann damit – und dies ist als „abgeleiteter“ Sozialstandard zu bezeichnen – die gerichtsförmige Durchsetzung von auf nationalem Recht beruhenden Ansprüchen eingefordert werden. Logische Prämisse ist, dass der Gesetzgeber für diese Ansprüche entsprechende Rechtsgrundlagen geschaffen hat. Das bedeutet aber, dass Art. 6 EMRK grundsätzlich nicht als Hebel verwendet werden kann, um Rechte im sozialen Bereich zu erstreiten, die der Gesetzgeber nicht vorgesehen hat. Aber auch hier ist keine absolute Grenzlinie zu ziehen; vielmehr lassen sich Tendenzen erkennen, dass Kommission und Gerichtshof Art. 6 EMRK so interpretieren, dass er auch als Basis für die Geltendmachung von Ansprüchen dienen kann, für die sich im geltenden Recht keine Grundlage findet. Voraussetzung für die Anwendung von Art. 6 EMRK ist zwar, dass es einen Streit (dispute, contestation) über ein Recht gibt. Handelt es sich aber um einen Streit vor einem Verfassungsgericht, bei dem ein Anspruch nicht aus geltendem Recht abgeleitet wird, sondern vielmehr das geltende Recht als verfassungswidrig gerügt wird, weil es einen entsprechenden Anspruch nicht einräumt, so geht es in der Sache um die Durchsetzung neuer, nicht im Recht verankerter Ansprüche. – Die Minderheit der Kommission erkennt, dass mit der Anwendung von Art. 6 EMRK auch auf verfassungsrechtliche Verfahren das Recht fortgebildet wird, und sieht dies als nicht gerechtfertigt an531. Die Mehrheit der Kommission und der Gerichtshof gehen Shouten & Meldrum . / . die Niederlande (1994), Serie A Nr. 304. Vgl. z. B. Bielkowski . / . Polen (Nr. 28356 / 95 v. 16. 4. 1998), Stanilaw Styk . / . Polen (1998), Nr. 28356 / 95. 529 Vgl. z. B. Feldbrugge . / . die Niederlande (1986), Serie A, Nr. 99 und Serie B, Nr. 82 (Problem des Zugangs zum Gericht bei einer Streitigkeit um die Gewährung von Krankengeld); Deumeland . / . die Bundesrepublik Deutschland (1986), Serie A, Nr. 100 und Serie B, Nr. 83 (überlange Verfahrensdauer bei der Anerkennung einer Hinterbliebenenrente einer Witwe); Massa . / . Italien (1993), Serie A, Nr. 265-B (überlange Verfahrensdauer bei der retroaktiven Gewährung einer Hinterbliebenenrente für einen Witwer); Shouten and Meldrum . / . die Niederlande (1994), Serie A, Nr. 304 (überlange Verfahrensdauer bei der Entscheidung über die Pflicht, Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen); van Kück . / . Deutschland (Nr. 35968 / 97 v. 12. 6. 2003) (Problem einer ausreichenden Beweiswürdigung bei der Klärung der „medizinischen Notwendigkeit“ von Maßnahmen zur Geschlechtsumwandlung). 530 H.T. . / . Deutschland (Nr. 38073 / 97 v. 11. 10. 2001). 531 Vgl. die Argumentation: „The constitutional complaint therefore did not concern an existing right but the creation of a new right which was more favourable to his claim for a full 527 528
II. Kontrollverfahren
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aber über diesen Einwand hinweg und schaffen damit in der EMRK mit einem Verfahrensgrundrecht ein Tor, um gegen den Gesetzgeber soziale Rechte durchzusetzen.
bb) Anwendung des Diskriminierungsverbots in Verbindung mit Art. 6 EMRK auf sozialrechtliche Ansprüche Nach dem eindeutigen Wortlaut ist das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK nur auf die „in der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten“ anzuwenden. Anders als nach Art. 26 ICCPR kann die Ungleichbehandlung bei der Gewährung der in der ESC enthaltenen sozialen Rechte so grundsätzlich auf der Grundlage der EMRK nicht gerügt werden. Wird allerdings der Schutzbereich eines der in der EMRK geschützten Rechte so ausgelegt, dass auch soziale Rechte mit umfasst werden, und ist eben dieser Schutzbereich betroffen – wie dies hier für Art. 6 EMRK gilt – kann geprüft werden, ob eine Diskriminierung vorliegt. Auf diesem Umweg wird der – gerade im Bereich der Zuerkennung sozialer Rechte – sehr effektive Prüfungsmaßstab „Gleichbehandlung“ an die Gestaltung der nationalen Sozialschutzsystems angelegt – dies ist als Quantensprung in der „Nutzbarmachung“ internationaler Sozialstandards zu sehen. Gestützt auf Art. 6 iVm. Art. 14 EMRK ist so eine Korrektur materiell-rechtlicher Rechtspositionen möglich, wie insbesondere der Fall Schuler-Zgraggen v. Schweiz532 deutlich zeigt. Dabei geht es nicht, wie in einer Vielzahl anderer Klagen nach Art. 6 EMRK, um die Angemessenheit der Dauer des Verfahrens. Strittig ist vielmehr die Annahme des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, dass es auf der allgemeinen Lebenserfahrung beruhe, dass verheiratete Frauen anlässlich der Geburt ihres ersten Kindes ihre Arbeitsstelle aufgäben und erst später wieder eine Erwerbsarbeit aufnähmen. Aufgrund dieser Annahme, die weder im Einzelnen geprüft noch begründet wird, wird die Höhe der Invaliditätsrente im konkreten Fall am „Wert“ der Tätigkeit einer Hausfrau und nicht am ursprünglichen Verdienst ausgerichtet und fällt somit niedriger aus. – Der Gerichtshof folgt der Argumentation der Klägerin, dass eine derartige Feststellung, hätte es sich um eine Invaliditätsrente für einen Mann gehandelt, nicht getroffen worden wäre. Für diese Ungleichbehandlung sieht der Gerichtshof keine „sehr schwerwiegenden Gründe“ und bejaht somit einen Verstoß gegen Art. 6 iVm. Art. 14 EMRK. Wichtig für die Argumentation des Gerichtshofs ist, dass die Unterlassung einer Beweiserhebung über eine entscheidungserhebliche Tatsache unter Art. 6 EMRK zu fassen ist; die Art der Beweiserhebung ist grundsätzlich Bestandteil eines fairen Verfahrens. Und widower’s pension. As there was no existing right, the applicant was merely able to allege before the Constitutional Court that he ought to have one. However, such an allegation is not, of itself, sufficient to constitute a „civil right“ in domestic law“. (Concurring Opinion of Mr. Gaukur Jörundsson, Mr. Schwermers, Mr. Pellonpää und Mr. Marxer; RD 38, 904). 532 Schuler-Zgraggen . / . die Schweiz (1993), Serie A, Nr. 263. 23*
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hierauf bezieht sich die Ungleichbehandlung. Damit ist der Schutzbereich eines der in der Konvention anerkannten Rechte eröffnet und Art. 14 EMRK anwendbar. Allerdings muss der Verfahrensverstoß selbst diskriminierend sein. Für die Anwendbarkeit von Art. 14 iVm. Art. 6 EMRK genügt es nicht, dass ein „neutraler“ Verfahrensverstoß vorliegt und zugleich in der Sache eine diskriminierende Entscheidung getroffen wird. So im Fall Pauger, bei dem sich der Antragsteller bei der Berechnung der Hinterbliebenenrente gegenüber Frauen als ungleich behandelt sieht533. Hier wird die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK damit begründet, der österreichische Verfassungsgerichtshof habe es unterlassen, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Da der Antragsteller dies aber auch nicht verlangt und auch kein besonderes öffentliches Interesse besteht, verneint der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK. Damit kann die Frage, ob die Übergangsregelung im österreichischen Recht, nach der Witwer, die ursprünglich keine Hinterbliebenenrente nach ihrer verstorbenen Frau bekamen und denen für eine bestimmte Übergangszeit nur eine reduzierte Rente zugesprochen wird, konventionskonform ist, nicht an Art. 14 EMRK gemessen werden534. Aus diesen Entscheidungen lässt sich als „abgeleiteter Sozialstandard“ herauskristallisieren, dass das nationale Gerichtsverfahren zur Durchsetzung sozialer Rechte keine diskriminierenden Regelungen beinhalten darf.
cc) Anwendung von Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK auf sozialrechtliche Ansprüche (1) Anerkennung sozialrechtlicher Ansprüche als „Eigentum“ Hatte die Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK dazu geführt, sozialrechtliche Rechtspositionen in Straßburg als Kontrollgegenstand einzuführen, so werden die Überprüfungsmöglichkeiten der nationalen Gesetzgebung und Praxis am Maßstab völkerrechtlicher Normen mit der Rechtsprechung zu Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls (ZP) noch wesentlich ausgeweitet. Bahnbrechende Bedeutung kommt hier der viel diskutierten Entscheidung535 Gaygusuz vom 16. 9. 1996536 zu, in der die Notstandshilfe nach österreichischem Recht als Eigentum i.S. von Art. 1 des 1. ZP verstanden wird. Die Möglichkeit, „erdiente“ Ansprüche im Bereich des Sozialversicherungsrechts als Eigentum zu qualifizieren, war schon in einer Vielzahl früherer Entscheidungen von Kommission und Gerichtshof angedeutet537, zum Teil aber auch explizit abgelehnt worden538. Pauger . / . Österreich (1997), Serie A, Reports, 1997-III, Nr. 38. Vgl. zu dem Fall auch S. 421 ff. 535 Vgl. Jorens, Social security, S. 15 ff.; Lemmens, Gaygusuz, S. 23 ff.; Scheinin / Krause, Gaygusuz, S. 57 ff.; Mittelberger, Eigentumsschutz, S. 24 ff.; Pech, Öffentlich-rechtliche Ansprüche, S. 233 ff.; Schmidt, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 69 ff. 536 Gaygusuz . / . Österreich (1996), Reports, 1996-IV, Nr. 14. 533 534
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Nach dem Wortlaut von Art. 1 des 1. ZP wird das Recht auf Achtung des Eigentums geschützt. Festgelegt wird, dass niemandem sein Eigentum entzogen werden darf, es sei denn, das öffentliche Interesse würde es verlangen, und auch dann nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Im Kern geht es also um die Auslegung des Begriffes „Eigentum“, um die Frage, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen auch sozialversicherungsrechtliche Ansprüche, die in der Regel nicht individualisiert sind, dem Eigentumsbegriff unterfallen. Soweit Beiträge zu einem Sicherungssystem geleistet werden, liegt ein eigentumsrechtlicher Schutz des damit erworbenen Anspruchs nahe. Anders ist dies dagegen, wenn ein Anspruch auf Leistungen im Rahmen eines allgemeinen Umverteilungssystems besteht, zu dem der Einzelne nicht beigetragen haben muss. – Die Besonderheit der Entscheidung Gaygusuz besteht nun darin, dass eine nicht, zumindest nicht unmittelbar und nicht ausschließlich durch Beiträge finanzierte Leistung als vermögenswertes Recht („pecuniary right“) und damit als Eigentum anerkannt wird: „The Court considers that the right to emergency assistance – in so far as provided for in the applicable legislation – is a pecuniary right for the purposes of Article 1 of Protocol No. 1. That provision is therefore applicable without it being necessary to rely solely on the link between entitlement to emergency assistance and the obligation to pay ,taxes and other contributions‘“539.
Zwar wird betont, dass die Beitragszahlung conditio sine qua non für die Leistungen war; die Beziehung zwischen Beitrag und Leistung ist dennoch nur mittelbar: „Entitlement to this social benefit is therefore linked to the payment of contributions to the unemployment insurance fund, which is a precondition for the payment of unemployment benefit ( . . . ). It follows that there is no entitlement to emergency assistance where such contributions have not been made“540.
Die Kommission hatte im Gegensatz zum Gerichtshof in ihrer Argumentation darauf abgestellt, dass, wenn die Zahlung von Steuern und Abgaben Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls unterfalle, dies auch für die sich daraus ergebenden Sozialleistungen gelten müsse541. In späteren Entscheidungen spielt die Frage, ob Beiträge geleistet worden sind, keine ausschlaggebende Rolle mehr. So werden Ansprüche auf Leistungen der nie537 Vgl. X. / . die Niederlande (1971), CD 38, S. 9 ff., S. 14; Müller . / .Österreich (1975), DR 3, S. 25 ff., S. 31 f.; X . / . Italien (1977), DR 11, S. 114; G. . / . Österreich (1984), DR 38, S. 84. 538 Vgl. X . / . die Niederlande (1971), CD 38, S. 9 ff.; vgl. zur Argumentation FN 361. 539 Gaygusuz . / . Österreich (1996), Reports 1996-IV, Nr. 14, Ziff. 41. 540 Vgl. Punkt 39 der Entscheidung; vgl. zu der Entwicklung der Rechtsprechung in diesem Punkt auch Pech, Öffentlich-rechtliche Ansprüche, S. 242. 541 EKMR Fall Gaygusuz v. Österreich (1995), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs, Reports 1996-IV, Nr. 14.
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derländischen Algemene Ouderdomswet, einer Volksversicherung, in der alle Einwohner der Niederlande mit Erreichen des 65. Lebensjahres unabhängig von Beitragszahlungen Ansprüche haben, als „Eigentum“ im Sinne des Zusatzprotokolls verstanden542. Da hier aber die Finanzierung auf den Zahlungen aller steuerpflichtigen Personen beruht, ist noch ein gewisser Konnex zu erkennen. In einer Reihe von Fällen, die privilegierte Renten in den ehemaligen Ostblockstaaten betreffen, werden aber auch die Zusatzleistungen zu den gewöhnlichen Renten als Eigentum qualifiziert543. Dabei ist das Recht auf eine Zusatzleistung grundsätzlich unabhängig von der Beitragsleistung; es handelt sich um eine privilegierte Form der Altersabsicherung, die zwar auf einer allgemeinen Arbeitsrente aufbaut, von dieser aber unabhängig ist. Anders als im Fall Gaygusuz haben in diesen Fällen gerade nicht alle, die die gleichen Beiträge leisten, die gleichen Rechte; die Beitragszahlung an sich führt so nicht zu einem Anspruch. Der Gerichtshof analysiert diese Frage nicht im Detail, sondern führt lediglich aus, dass es um einen Anspruch, der ein vermögenswertes Recht darstellt, geht544. Der Fall Michael W. Matthews v. Vereinigtes Königreich zeigt, wie weit der Begriff „possessions“ potentiell ausgelegt werden kann. Bei dem streitgegenständlichen „Elderly Person’s Travel Permit“, der Männern über 65 Jahren freie Zugfahrten erlaubt, während Frauen dazu schon im Alter von 60 Jahren berechtigt sind, ist kein Bezug zu einer wie auch immer gearteten Beitragsleistung mehr vorhanden. Das Gericht erklärt die Beschwerde für zulässig545, entscheidet aber nicht in der Sache, da eine gütliche Einigung erreicht wird546. Zu einem gewissen Abschluss kommt die mit der Entscheidung Gaygusuz begonnene Rechtsprechungsentwicklung mit der Entscheidung Koua Poirrez v. Frankreich im Jahr 2003547. Wie insbesondere die Einlassungen der Regierungen in den verschiedenen Fällen nach Gaygusuz zeigen, wird die Frage nach der Notwendigkeit von Vorleistungen für die Entstehung eines eigentumsrechtlich verfestigten Anspruchs im Sinn von Art 1 des 1. ZP vor der Entscheidung Koua Poirrez noch als offen angesehen worden548. In Koua Poirrez v. Frankreich spricht der Gerichtshof Tacheles: 542 Wessels-Bergervoet . / . die Niederlande (Nr. 34462 / 97 v. 4. 6. 2002), Entscheidung über die Zulässigkeit v. 3. 10. 2000. 543 Skórkiewicz . / . Polen (Nr. 39860 / 98 v. 1. 6. 1999), Domalewski . / . Polen (Nr. 34610 / 97 v. 15. 6. 1999), Styk . / . Polen (Nr. 28356 / 95 v. 16. 4. 1998), Szumilas . / . Polen (Nr. 35187 / 97 v. 1. 7. 1998), Bielkowski . / . Polen (Nr. 28356 / 95 v. 16. 4. 1998); Lazarevic . / . Kroatien (Nr. 50115 / 99 v. 7. 12. 2000), Jankovic . / . Kroatien (Nr. 43440 / 98 v. 12. 10. 2000). 544 Da die Argumentation der Klägerseite, der Anspruch sei unabhängig von Beitragsleistungen, von der Kommission nicht zur Kenntnis genommen wird, ist dies als Indiz zu werten, dass nicht die Beiträge des Betroffenen, sondern die Tatsache, dass es sich um ein vermögenswertes Recht handelt, vorrangig berücksichtigt wird. 545 Matthews . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 40302 / 98 v. 28. 11. 2000 – Zulässigkeitsentscheidung). 546 Matthews . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 40302 / 98 v. 15. 7. 2002). 547 Koua Poirrez . / . Frankreich (Nr. 40892 / 98 v. 30. 9. 2003).
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„. . . the Court considers that the fact that, in that case [Gaygusuz], the applicant had paid contributions and was thus entitled to emergency assistance ( . . . ) does not mean, by converse implication, that a non-contributory social benefit . . . does not also give rise to a pecuniary right for the purposes of Article 1 of Protocol No. 1“549.
Damit ist – wenn auch nicht einstimmig550 – als geklärt anzusehen, dass auch rein fürsorgerechtliche Ansprüche über das Zusatzprotokoll zur EMRK geschützt werden. Abgelehnt hat der Gerichtshof die Anwendbarkeit von Art. 1 des 1. ZP dann, wenn es nicht um die Aberkennung oder Einschränkung bestehender Rechtspositionen, sondern um das Nicht-Entstehen von Rechten geht. Ein Beispiel wäre die Nicht-Zuerkennung einer privilegierten Rente für Opfer des kommunistischen Regimes: Nach Meinung des Gerichtshofs vermittelt die Konvention kein Recht, Eigentümer zu werden: „. . . this provision of the Convention does not recognise any right to become the owner of property“551.
Im konkreten Fall waren nur denjenigen, die Opfer des kommunistischen Regimes zwischen 1944 und 1956 geworden waren, bestimmte Rechte zuerkannt worden, nicht aber den in den 80er Jahren Verfolgten552. Allerdings gilt dies dann nicht, wenn einzelne der Voraussetzungen für die Leistungsberechtigung diskriminierend sind553. Geschützt werden auch Anwartschaften, sofern sie auf einer legitimen Erwartung beruhen, indem sie vor Eintritt des Versicherungsfalls eine gewisse Verfestigung aufweisen554. 548 Vgl. auch die noch unbestimmte Formulierung in der Entscheidung Azinas . / . Zypern (Nr. 56679 / 00 v. 20. 6. 2002): „. . . the Court reiterates that, according to the case-law of the Convention institutions, the right to a pension which is based on employment can in certain circumstances be assimilated to a property right“ (para. 30). – Im konkreten Fall bejaht der Gerichtshof eine eigentumsrechtliche Verfestigung des Rentenanspruchs, da dieser Bestandteil der auf dem Arbeitsvertrag beruhenden Leistungspflicht des Staates als Arbeitgebers sei. 549 Koua Poirrez . / . Frankreich (Nr. 40892 / 98 v. 30. 9. 2003), para. 36. 550 Vgl. die abweichende Meinung des Richters Mularoni, der sich im konkreten Fall für die Anwendung von Art. 8 EMRK ausspricht. 551 Szyszkiewicz . / . Polen (Nr. 33576 / 96 v. 9. 12. 1999), Hervorhebung von der Verfasserin. 552 Fraglich ist, ob dieser Fall aus der Logik der Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte anders hätte entschieden werden müssen. Dieser geht davon aus, dass ein Staat nicht verpflichtet sei, bestimmte Rechte im sozialen Bereich zu garantieren. Wenn er sie aber garantiere, dürfe er niemanden diskriminieren. – Damit zeigt sich ein grundsätzlicher Unterschied, da der Ausschuss für Menschenrechte gegen Diskriminierungen bei sozialen Rechtspositionen auch dann schützen kann, wenn sie sich nicht als Eigentum verfestigt haben. 553 Vgl. Gaygusuz . / . Österreich (1996) , Reports 1996-IV, Nr. 14. 554 Paruszewska . / . Polen (Nr. 33770 / 96 vom 16. 4. 1998); Stran Greek Refineries and Stratis Andreatis . / . Griechenland (1994), Serie A, Nr. 301-B; Pressos Compania Naviera . / . Belgien (1995), Serie A, Nr. 332.
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Entscheidend ist, dass die Erwartung, einen Anspruch zu haben, besteht555. Das bedeutet, dass grundsätzlich ein objektives Kriterium, das Entstehen eines vermögenswerten Rechts auf gesetzlicher Grundlage, und ein subjektives Kriterium, eine begründete Erwartungshaltung, kumulativ vorhanden sein müssen, um ein Recht auf eine bestimmte Sozialleistung als „Eigentum“ im Sinn von Art. 1 des 1. ZP geltend zu machen. Diese Rechtsprechung hat, wie kritisch man auch immer die kryptische Argumentation des Gerichtshofs sehen mag556, eine nicht zu überschätzende Auswirkung auf das Verständnis sozialrechtlicher Rechtspositionen. Indem sie der – im Völkerrecht im allgemeinen stiefmütterlich behandelten557 – Eigentumsgarantie unterstellt werden, wird grundsätzlich anerkannt, dass sie einen, wie das Bundesverfassungsgericht formuliert, „Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich“ sichern und damit dem Einzelnen eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens ermöglichen558. Damit wird eine Entwicklung zum Abschluss gebracht, die mit der Einführung der Sozialversicherung im 19. Jahrhundert beginnt. Da aufgrund struktureller gesellschaftlicher Veränderungen nicht mehr jeder Einzelne grundsätzlich in der Lage ist, selbst für die Risiken des Lebens vorzusorgen, indem er sich ein Vermögen aufbaut, wird Vorsorge durch den Staat für notwendig gehalten. Ist ursprünglich vorrangig die Sicherung des Eigentums des Einzelnen gegen staatliche Übergriffe zu gewährleisten, um eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung zu ermöglichen, so ist jetzt in gleicher Weise die auf Umverteilung innerhalb der Gesellschaft beruhende und im Sozialrecht verankerte Position zu schützen. Dies wird auch im nationalen Recht anerkannt, man denke nur an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentum an Rentenansprüchen559. Auf internationaler Ebene reicht der vom EGMR garantierte Schutz aber noch weiter, da die Eigenleistung in den Hintergrund tritt. Dies ist im Grunde konsequent, da auch beim Schutz des Eigentums nicht berücksichtigt wird, ob und inwieweit es durch eigene Leistungen erworben worden ist. Besonderheit des eigentumsrechtlichen Schutzes von sich aus dem Sozialrecht ableitenden Ansprüchen bleibt, dass diese Ansprüche im Gegensatz zu klassischen Eigentumsrechten nur begrenzt individualisiert sind; der Einzelne hat nicht, wie die Kommission in einer frühen Entschei555 Vgl. Coke u. a. . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 38696 / 97 v. 9. 9. 1998): „In the present case, by contrast, none of the widows ever contributed to the pension scheme. Indeed, as their position as regards their entitlement to a pension was clear when they married, they never even had an expectation that they would be eligible for a pension“. 556 Vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung bei Schmidt, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 102 ff. 557 Weder in den ICCPR noch in den ICESCR wurde die Eigentumsgarantie aufgenommen; auch in der EMRK findet sie sich nicht im Ausgangstext, sondern lediglich im Ersten Zusatzprotokoll. 558 Vgl. BVerfG E 24, S. 367 (389); 58, 300 (339). 559 BVerfG E 53, 257; 64, 87; 69, 272; 71, 1; 75, 78; 97, 271, 378.
II. Kontrollverfahren
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dung ausführt, einen „identifizierbaren Anteil“560, auch keinen Anspruch auf eine bestimmte Höhe der Leistung, da diese von den jeweiligen wirtschaftlichen Bedingungen abhängt. Aufgrund dessen hatte die Kommission im Jahr 1971 noch die entgegengesetzte Schlussfolgerung gezogen und es abgelehnt, Ansprüche auf eine Hinterbliebenenrente unter Art. 1 des 1. ZP zu subsumieren561. Die Rechtsprechung hat hier aber eine Kehrtwende vollzogen; Ansprüche der Individuen werden auch geschützt, wenn sie auf einem nach dem Solidaritätsprinzip organisierten System beruhen und über das Umverteilungsverfahren finanziert werden. Neben der eigentumsrechtlich relevanten Ausgestaltung der Leistungsseite ist schließlich noch von Bedeutung, dass die Pflicht zur Beitragszahlung Art. 1 Abs. 2 des 1. ZP unterfällt562. Damit wird die Pflicht zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen der Zahlung von Steuern und sonstigen Abgaben gleichgestellt. (2) Schutzumfang Der auf Art. 1 des 1. ZP gestützte Anspruch allein vermittelt allerdings keinen sehr weitgehenden Schutz. Nicht nur gibt es kein individuelles Recht auf eine Rente in einer bestimmten Höhe563. Auch die Festsetzung bestimmter Voraussetzungen für die Leistungsberechtigung – zum Beispiel Altersgrenzen – wird nicht als Einschränkung des Rechts auf Eigentum gewertet564. Einem privaten VersicheX . / . Niederlande (1971), CD 38, S. 9. Vgl. die ausführliche Begründung in der Entscheidung X . / . Niederlande (1971), CD 38, S. 9: „. . . this branch of the Dutch social insurance legislation is based on the principle of solidarity which reflects the responsibility of the community as a whole to provide a minimum financial basis for its aged members and for survivors. The contributions which the younger members of the community are obliged to make are collected in a revolving fund from which the older or surviving members of the community receive their pension. The distribution of the pension funds takes into account the economic realities of the period concerned to the extent that persons benefiting from this system receive their pension in accordance with the index established for the period in which the pension is paid and not according to that established for the period in which they made contributions. There is, therefore, no relationship between the contributions made and the pension received in the sense that the amounts paid by the insured person are accumulated with a view to covering the pension benefits accruing to him when reaching pensionable age. Consequently, a person does not have, at any given moment, an identifiable share in the fund claimable by him but he has an expectancy of receiving old-age or survivors pension benefits subject to the conditions envisaged by the Acts concerned. In these circumstances, the Commission finds that the benefits accruing . . . do not constitute a property right which could be described as being possessions within the meaning of Art. 1 of Protocol No. 1“. 562 Vgl. van Raalte . / . die Niederlande (1997), Serie A, 1997-I, Nr. 29; Stevens und Knight . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 28918 / 95 v. 9. 11. 1998); Pearson . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 37526 / 97 v. 11. 5. 1999). 563 Ständige Rechtsprechung in der Folge von Müller . / . Österreich (1975) DR 3, S. 25; vgl. Okay . / . Türkei (Nr. 23161 / 94 v. 29. 6. 1999). 564 X . / . Vereinigtes Königreich (1970), Yearbook 13, S. 892; vgl. auch die Akzeptanz der Verrechnung von Leistungen aus verschiedenen Versicherungen T . / . Schweden (1985), DR 42, S. 229. 560 561
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
rungssystem wird ein staatliches System sozialer Sicherheit grundsätzlich nicht für vergleichbar gehalten565. Bei Reduktionen von Sozialversicherungsleistungen sind „Erwägungen der öffentlichen Politik“ in weitem Umfang zu berücksichtigen566. Geprüft wird, ob das Recht auf eine Rente in seiner Substanz beeinträchtigt wird567, insbesondere, ob die Rente ihre existenzsicherende Funktion verliert568, ob ein gerechtes Gleichgewicht zwischen dem öffentlichen Interesse und den imperativen Vorgaben der Grundrechte des Einzelnen erreicht wird569, ob das Eigentumsrecht durch die Art beeinträchtigt wird, wie Leistungen aus einem Fonds, zu dessen Bildung man mit Beiträgen beigetragen hat, verteilt werden570. In der Entscheidung Dieter Mann v. Deutschland finden sich auch Andeutungen, dass die Zweckentfremdung von in ein soziales Sicherungssystem eingezahlten Geldern ein Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP sein könnte: „He has furthermore not shown that any capital assets constituting this fund were gathered by the GDR authorities to the debit of the adherents and that such assets were taken over by the Federal Republic and were spent for purposes other than they had been destined for under the former GDR’s social security system“571.
Allerdings wird immer wieder betont, dass der Staat bei der Ausgestaltung von Sozialleistungen grundsätzlich einen sehr weiten Spielraum bei der Bestimmung des öffentlichen Interesses habe. Beispielsweise wird es grundsätzlich akzeptiert, 565 In der Entscheidung Okay . / . Türkei (Nr. 23161 / 94 v. 29. 6. 1999) wird es aufgrund dessen abgelehnt, eine Ungleichbehandlung zwischen privat und staatlich Versicherten überhaupt zu prüfen; hier ist ein gewisser Widerspruch in der Rechtsprechung zu sehen, da andererseits im Zusammenhang mit Art. 6 EMRK der privatrechtliche Charakter der Ansprüche gerade mit dem Verweis auf die Ähnlichkeit zu einer privatrechtlichen Versicherung begründet wird. 566 Als Rechtfertigungsgrund wird beispielsweise ein Ausgleich vergangener Ungerechtigkeiten anerkannt: „The Court considers that such considerations of public policy, even if the operation of laws resulting therefrom entails a reduction in social insurance benefits, do not affect the property rights stemming from the social insurance system in a disproportionate or arbitrary manner contrary to Article 1 of Protocol No. 1“ (Skórkiewicz . / . Polen (Nr. 39860 / 98 v. 1. 6. 1999)). 567 Dies wird etwa bei der Aberkennung von privilegierten Zusatzrenten verneint; vgl. Domalewski . / . Polen (Nr. 34610 / 97 v. 15. 6. 1999). 568 Vgl. Mann . / . Deutschland (Nr. 24077 / 94 v. 15. 5. 1996). 569 Dies wird etwa beim Verlust der Ansprüche auf eine auf Beitragszahlungen beruhende Zusatzrente dann verneint, wenn eine angemessene Entschädigung der Beitragsleistungen erfolgt, wobei allerdings kein Recht auf eine vollständige Entschädigung besteht, da aufgrund des öffentlichen Wohls eine Entschädigung unterhalb des Marktwerts notwendig sein kann; vgl. Okay . / . Türkei (Nr. 23161 / 94 v. 29. 6. 1999). 570 „The Court recalls that the making of contributions to a pension fund may, in certain circumstances, create a property right and such a right may be affected by the manner in which the fund is distributed“ (Bellet, Huertas, Vialatte . / . Frankreich (Nr. 40832 / 98 v. 12. 3. 1998, Nr. 40833 / 98 vom 6. 4. 1998 und Nr. 40906 / 98 vom 6. 3. 1998)). 571 Mann . / . Deutschland (Nr. 24077 / 94 v. 15. 5. 1996).
II. Kontrollverfahren
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dass Leistungen – trotz Beitragszahlung – nur bei Bedürftigkeit gewährt572 oder unter bestimmten Voraussetzungen, z. B. bei einer Inhaftierung573, suspendiert werden. Dies gilt auch für die nachträgliche Einfügung zusätzlicher Voraussetzungen für den Leistungsbezug574. Auch soweit die Pflicht zur Beitragszahlung betroffen ist, geht der nach Art. 1 des 1. ZP gewährte konkrete Schutz des Einzelnen, analysiert man die aktuelle Rechtsprechung, noch nicht sehr weit. Sozialversicherungsbeiträge werden, sofern sie verhältnismäßig sind und auf Gesetz beruhen, grundsätzlich als von der Eingriffsermächtigung des Art. 1 Abs. 2 des 1. ZP erfasst angesehen. In den bisherigen Entscheidungen wurde in dem Zusammenhang noch kein Verstoß moniert575. Sogar Beiträge, die zur Finanzierung des Systems erhoben werden, den Beitragspflichtigen selbst aber in keiner Weise zugute kommen, werden in einer Entscheidung der Kommission aus dem Jahr 1978 als gerechtfertigt angesehen576. Allerdings könnte die Verhältnismäßigkeit der Beitragspflicht in dem Moment problematisch werden, in dem die Beitragspflicht aufgrund der – insbesondere als Folge der demographischen Entwicklung – steigenden Kosten einen immer größeren prozentualen Anteil des Einkommens ausmacht. Mit Art. 1 Abs. 2 des 1. ZP wäre hier auf der internationalen Ebene ein Hebel gegeben, um auf die konkrete Ausgestaltung der Sozialversicherungssysteme unmittelbar Einfluss zu nehmen. Auch wäre möglich, nicht nur wie bisher die Beiträge im Verhältnis zum Einkommen577, sondern auch im Verhältnis zu den Leistungen zu messen, etwa, wenn die Umverteilung zwischen den Generationen aus dem Gleichgewicht gerät. Ob sich die Rechtsprechung aber in diese Richtung entwickelt, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen.
572 Nahon . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 34190 / 96 v. 23. 10. 1997): Im konkreten Fall ging es um die Nicht-Gewährung von Arbeitslosengeld, da die Betroffene bereits zum Bezug einer Frührente berechtigt war. 573 Szrabjer und Clarke . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 17004 / 95 und 270011 / 95 vom 23. 10. 1997); Carlin . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 27537 / 95 v. 3. 12. 1997). 574 Briest-Forch . / . Deutschland (Nr. 13578 / 88 vom 12. 7. 1989): Zur Sicherung der Finanzierung der Rentenversicherung war zu der Voraussetzung einer 5-jährige Beitragszahlung auch die Voraussetzung, beim Zeitpunkt der Antragstellung versichert zu sein, eingeführt worden. Dies wurde nicht als Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP angesehen. 575 Stevens und Knight . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 28918 / 95 v. 9. 11. 1998): kein Verstoß, wenn Schadensersatzleistungen gegen Sozialversicherungsleistungen verrechnet werden; Prüfung der Verhältnismäßigkeit insbesondere im Hinblick darauf, ob auch Leistungen verrechnet werden, die der Betroffene im allgemeinen System nicht bekommen hat. 576 National Federation of Self-Employed . / . Vereinigtes Königreich (1978), DR 15, S. 198. 577 Vgl. X . / . die Niederlande (1967), Yearbook 10, S. 169 ff., S. 174; X . / . Vereinigtes Königreich (1970), Yearbook 13, S. 892 ff., S. 898; X . / . die Niederlande (1971), CD 38, S. 9 ff., S. 14; X . / . die Niederlande (1973), CD 45, S. 76 ff., S. 82; van Breedam . / . Belgien (1989), DR 62, S. 109 ff., S. 118.
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
dd) Anwendung des Diskriminierungsverbots in Verbindung mit Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK Praktische Bedeutung kommt der Ausdehnung des Eigentumsrechts auch auf sozialrechtliche Ansprüche aber vor allem insofern zu, als auch damit ein Hebel geschaffen wird, um Diskriminierungen bei der Zuerkennung sozialer Rechtspositionen zu berücksichtigen. In der Gaygusuz-Entscheidung wird nicht eine Verletzung des in Art. 1 des 1. ZP geschützten Rechts auf Eigentum an sich moniert, sondern vielmehr eine Ungleichbehandlung: Ein türkischer Staatsangehöriger bekommt eine Leistung nicht, auf die österreichische Staatsangehörige, befinden sie sich in der gleichen Situation, Anspruch haben. Wie bereits im Zusammenhang mit Art. 6 EMRK ausgeführt, kann nach der Systematik der EMRK eine Diskriminierung nur geltend gemacht werden, wenn es sich um ein in der Konvention geschütztes Recht handelt, so der unmissverständliche Wortlaut von Art. 14 EMRK578. Nur dann, wenn sozialrechtliche Positionen unter Art. 1 des 1. ZP fallen, können sie im Hinblick darauf geprüft werden, ob dabei vergleichbare Sachverhalte auch gleich behandelt werden. Wie der Ausschuss für Menschenrechte handhabt auch der EGMR den in Art. 14 EMRK vorgegebenen Katalog von Diskriminierungsgründen sehr großzügig. Beispielsweise wird im Hinblick auf das für die Entscheidung Gaygusuz relevante Kriterium der Staatsangehörigkeit überhaupt nicht diskutiert, ob es unter „anderen Status“ zu subsumieren ist. Die rechtliche Prüfung wird auf die Rechtfertigungsebene verlagert. Besteht eine Unterscheidung welcher Art auch immer, wird untersucht, ob diese Unterscheidung auf objektiven und vernünftigen Gründen beruht, ob damit ein legitimes Ziel verfolgt wird und ob sie verhältnismäßig ist; dem Vertragsstaat wird dabei ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt: „The Court further notes that, for the purposes of Article 14 of the Convention, a difference in treatment is discriminatory if it has no objective and reasonable justification, which means that it does not pursue a „legitimate aim“ or that there is no „reasonable proportionality between the means employed and the aim sought to be realised“. Moreover, in this respect the States enjoy a certain margin of appreciation in assessing whether and to what extent differences in otherwise similar situations justify a difference in treatment“579.
Damit wird auch hier eine Schleuse geöffnet, um jede im einfachen Gesetz vorgesehene Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Sachverhalten auf ihre Sachgerechtigkeit zu prüfen. Das Diskriminierungsverbot wird als allgemeiner Gleich578 Vgl. die Ausführungen des Gerichtshofs: „According to the Court’s established caselaw Art. 14 of the Convention complements the other substantive provisions of the Convention and the Protocols. It has no independent existence since it has effect solely in relation to „the enjoyment of rights and freedoms“ safeguarded by those provisions. Although the application of Article 14 does not presuppose a breach of those provisions – and to this extent it is autonomous – there can be no room for its application unless the facts at issue fall within the ambit of one or more of them“ (Gaygusuz . / . Österreich (1996), Reports 1996-IV, Nr. 14). 579 Gaygusuz . / . Österreich (1996), Reports 1996-IV, Nr. 14.Rd. 42.
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behandlungsgrundsatz verstanden. Der – aufgrund historischer Erfahrung entwickelte – Katalog von Diskriminierungsgründen ist unbeachtlich. Geprüft wird nur, ob sich Personen in Situationen befinden, die sich in relevanter Art und Weise gleichen („persons in ,relevantly similar situations“)580. So wird etwa untersucht, ob eine Diskriminierung zwischen im allgemeinen System Versicherten und in einem Zusatzsystem Versicherten581 oder zwischen bei einem Arbeitsunfall leicht und schwer Geschädigten582 vorliegen könne. Ein Vergleich zwischen privat Versicherten und im öffentlichen System Versicherten wird dagegen ausgeschlossen: „The Commission finds that the comparison between a person covered by national insurance and a person who has a private insurance contract is a comparison of two different factual situations, since private insurance is a matter which does not concern the State in any respect ( . . . ) and as such discloses no discrimination under Article 14 of the convention“583.
Für nicht vergleichbar gehalten wird auch die Situation eines inhaftierten und eines auf freiem Fuß befindlichen Rentners584. Auch bei dem Sonderfall der deutschen Wiedervereinigung wird die Situation von denjenigen, die im System der Bundesrepublik Deutschland und denjenigen, die im System der DDR versichert waren, als grundsätzlich verschieden angesehen585. Aber auch dann, wenn Unterscheidungen zwischen verschiedenen Sachverhalten in weitem Umfang als potentielle Diskriminierungen untersucht werden, erkennt der Gerichtshof doch in den meisten Fällen objektive und vernünftige Gründe als Rechtfertigung an und gesteht den Staaten einen weiten Beurteilungsspielraum zu. Besonders offen ist der Gerichtshof für politische Erwägungen verschiedenster Art, die in bilaterale Sozialversicherungsabkommen Eingang gefunden haben; Reduktionen von Sozialleistungen und Ungleichbehandlungen im Vergleich zu denjenigen, die ausschließlich in einem nationalen Sozialversicherungssystem versichert sind, werden hier grundsätzlich hingenommen586:
580 Vgl. dazu Peukert in: Frowein / Peukert, Kommentar, Art. 14 Rd. 25, der davon ausgeht, dem Diskriminierungsverbot sei ein Gleichbehandlungsgebot inhärent. 581 Okay . / . Türkei (Nr. 23161 / 94 v. 29. 6. 1999). 582 Stevens und Knight . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 28918 / 95 v. 9. 11. 1998). 583 Stevens und Knight . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 28918 / 95 v. 9. 11. 1998). 584 Szrabjer und Clarke . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 27004 / 95 und 27011 / 95 v. 23. 10. 1997). 585 Mann . / . Deutschland (Nr. 24077 / 94 v. 15. 5. 1996). 586 Vgl. z. B. R.W. . / . Österreich (Nr. 14128 / 88 v. 12. 2. 1990) (Nicht-Anrechnung der Schulzeit in Schweden bei Berechnung der Rente in Österreich); Bellet . / . Frankreich (Nr. 40832 / 98 v. 12. 3. 1998) (Nicht-Gewähr einer französischen Rente in Monaco trotz Beitragszahlung aufgrund einer Bestimmung des französischen Rechts zur Vermeidung eines „cumul“).
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„The Commission notes that it is a common feature of international life that social security agreements are entered into between different countries, for the purpose of regulating the rights of persons moving from one country to another under the social security systems of each country. Such agreements commonly provide for the substitution, to a greater or lesser degree, of benefits under one system for those due under another . . . However it is almost inevitable that where a person in effect changes over from one social security system to another, he may find that his entitlements differ from those of persons in other countries“587.
Dies gilt auch für die Fallgruppe der Militärangehörigen der jugoslawischen Armee, deren Renten nach dem Auseinanderfallen des Bundesstaates Jugoslawien von Kroatien bzw. Slowenien ausgezahlt, aber um Sonderzulagen gekürzt werden588, nicht aber, wenn innerhalb einer einheitlichen Gruppe (ehemalige Militärrichter, die in die allgemeine Gerichtsbarkeit gewechselt haben) der Bezug einer Rente an das Kriterium der Eigeninitiative beim Arbeitsplatzwechsel geknüpft wird589. Strenger ist der Maßstab, der an Rechtfertigungsgründe angelegt wird, wenn es sich um Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts handelt: „However, very weighty reasons would have to be put forward before the Court could regard a difference in treatment based exclusively on the ground of sex as compatible with the Convention“590.
Im Fall van Raalte v. die Niederlande urteilt der Gerichtshof, dass die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Beitragszahlung zu einer Kinderversicherung diskriminierend sei. Im konkreten Fall waren Frauen, die über 45 Jahre alt und nicht verheiratet waren, von der Beitragszahlung ausgenommen worden. Der Gerichtshof sah in dieser Regelung eine Benachteiligung von Männern591. Dies gilt in gleicher Weise für die Gewähr von Leistungen nur an Witwen, nicht aber an Witwer, aber nur dann, wenn eine Frau unter den gegebenen Umständen einen Anspruch gehabt hätte, nicht dagegen, wenn ein Anspruch noch von Erfüllung bestimmter Bedingungen in der Zukunft abhängig gewesen wäre592. Benachteiligungen von Frauen können sich auch auf sozialrechtskoordinierende Regelungen gründen, die eine Verdoppelung von Ansprüchen vermeiden sollen, J.W. und E.W. . / . Vereinigtes Königreich (1983), DR 34, S. 153. Vgl. Lazarevic . / . Kroatien (Nr. 50115 / 99 v. 7. 12. 2000), Jankovic . / . Kroatien (Nr. 43440 / 98 v. 12. 10. 2000); das Gleiche gilt auch für Vorauszahlungen, die in diesen Fällen in beschränktem Umfang geleistet werden; vgl. M.R. . / . Slowenien (Nr. 39921 / 98 v. 1. 7. 1998), Trickovic . / . Slowenien (Nr. 39914 / 98 v. 27. 5. 1998). 589 Bucheò . / . Tschechische Republik (Nr. 36541 / 97 v. 26. 2. 2003). 590 Van Raalte . / . die Niederlande (1997), Serie A, 1997-I, Nr. 29; Hervorhebung von der Verfasserin. 591 Van Raalte . / . die Niederlande (1997), Serie A, 1997-I, Nr. 29. 592 Willis . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 36042 / 97 v. 11. 6. 2002). 587 588
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dabei aber zu unterschiedlichen Ergebnissen für verheiratete Frauen und verheiratete Männer führen593. Die Erfolgsquote der auf Art. 1 des 1. ZP iVm. Art. 14 EMRK gestützten Klagen ist so bisher gering. Außer in den Fällen Gaygusuz und van Raalte wurde, trotz der zahlreichen Klagen, kein Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP iVm. Art. 14 EMRK anerkannt.
ee) Anwendung von Art. 8 EMRK auf sozialrechtliche Ansprüche Ein weiteres Einfallstor für die Berücksichtigung des Rechts auf sozialen Schutz im Rahmen der EMRK ist Art. 8 EMRK, das Gebot zur Achtung der privaten Sphäre. Dass die Gewährung oder Nicht-Gewährung von Sozialleistungen das von Art. 8 EMRK geschützte Rechtsgut der Privatsphäre betreffen kann, hat der Gerichtshof explizit anerkannt. Dies gilt etwa für Familienleistungen wie Erziehungsgeld: „Nonetheless, this allowance paid by the State is intended to promote family life and necessarily affects the way in which the latter is organised as, in conjunction with parental leave, it enables one of the parents to stay at home to look after the children“594.
Gleichermaßen gilt dies auch für die Gewährung oder Verweigerung medizinischer Behandlung für psychische Erkrankungen wie Schizophrenie: „Mental health must also be regarded as a crucial part of private life associated with the aspect of moral integrity. Article 8 protects a right to identity and personal development, and the right to establish and develop relationships with other human beings and the outside world ( . . . ). The preservation of mental stability is in that context an indispensable precondition to effective enjoyment of the right to respect for private life“595.
Diese Begründung stellt die Besonderheit einer psychischen Erkrankung in den Vordergrund; ob der Gerichtshof allgemein ein Recht auf medizinische Behandlung unter Art. 8 EMRK fassen würde, bleibt offen. Art. 8 EMRK vermittelt dann einen bestimmten Anspruch auf eine Leistung, wenn die Verweigerung einen „substantiellen Eingriff in die psychische Integrität“ des Betroffenen bedeutete. – In dem Fall Bensaid v. Vereinigtes Königreich verneint der Gerichtshof dies bei einer Ausweisung eines an Schizophrenie Leidenden, da es eine rein hypothetische Annahme sei, dass eine ausreichende medizinische Versorgung im Heimatland des Betroffenen (Algerien) nicht gewährt werde596.
593 594 595 596
Vgl. Wessels-Bergervoet . / . die Niederlande (Nr. 34462 / 97 v. 4. 6. 2002). Petrovic . / . Österreich (1998), Reports 1998-II, Nr. 67. Bensaid . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 44599 / 98 v. 6. 2. 2001). Bensaid . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 44599 / 98 v. 6. 2. 2001).
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Die Rechtsprechung des Gerichtshofs weist aber hier bei der Behandlung ausländischer Staatsangehöriger, die keinen nationalen Sicherungssystemen unterfallen, Wege, die die Freiheitsgrundrechte in positive Staatenverpflichtungen im Bereich des Sozialrechts umwandeln könnten. Gefordert würde nicht nur eine Nothilfe für ausländische Staatsangehörige, sondern eine dauerhafte Versorgung. Entscheidungen, die eine Verletzung von Art. 8 EMRK in diesem Zusammenhang anerkennen – und aus der Argumentation der Entscheidung Bensaid v. Vereinigtes Königreich heraus wäre dies bei Antragstellern aus Staaten, die kein funktionierendes Gesundheitssystem haben, zu bejahen – hätte damit auch Konsequenzen im aufenthaltsrechtlichen Bereich. In einem weiteren Bereich sind noch Ansätze erkennbar, Art. 8 EMRK als für sozialrechtliche Positionen relevant auszulegen. Ist die Gewähr einer bestimmten medizinischen Behandlung identitätsstiftend oder -verändernd, wie dies etwa bei Transsexuellen der Fall ist, kann auch die konkrete Ausgestaltung der Voraussetzungen für die Gewähr von Kostenersatz die Privatsphäre berühren. Im Fall van Kück v. Deutschland bejaht der Gerichtshof mit knapper Mehrheit eine Verletzung, da beim Streit über den Kostenersatz die Interessen der privaten Versicherungsgesellschaft und der Betroffenen aufgrund der Beweislastverteilung nicht zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden597. Die dissentierenden Richter monieren aber zu Recht, dass die Frage der Beweislastverteilung bei der Kostenübernahme auf der Grundlage eines zivilrechtlichen Vertrags nicht das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen tangiert. Aufgrund der Vertragsfreiheit könnten derartige Maßnahmen auch grundsätzlich ausgeschlossen werden.
ff) Anwendung des Diskriminierungsverbots in Verbindung mit Art. 8 EMRK Ein zweiter Ansatz, Art. 8 EMRK für die Durchsetzung sozialer Rechte fruchtbar zu machen, wird exemplarisch in der Entscheidung Petrovic beschritten, in der es um die Gewährung von Erziehungsgeld nach österreichischem Recht geht. Zwar ließe sich, so die Kommission, aus Art. 8 EMRK kein Anspruch auf eine derartige Familienleistung ableiten. Werde sie aber gewährt, so habe dies auch in nicht-diskriminierender Form zu geschehen. Eine Unterscheidung zwischen Männern und Frauen sei nicht zu rechtfertigen. Der Gerichtshof folgt dieser Argumentation grundsätzlich, räumt dem Vertragsstaat aber dennoch einen „margin of appreciation“ bei der Bestimmung des Empfängerkreises der Leistung ein, da Erziehungsgeld für Väter eine Leistung sei, die – rechtsvergleichend betrachtet – nur von einer Minderheit von Staaten überhaupt vorgesehen werde. Eine schrittweise Einführung, die die Entwicklung der Gesellschaft in diesem Bereich spiegelt, sei damit nicht zu kritisieren598. Das bedeutet, dass, auch wenn hier noch kein Verstoß 597 598
Van Kück . / . Deutschland (Nr. 35968 / 97 v. 12. 6. 2003). Petrovic . / . Österreich (1998), Reports 1998-II, Nr. 67, Punkt 41.
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angenommen wird, doch die Türen für einen weitergehenden Kontrollansatz nationaler Sozialrechtsgestaltung geöffnet werden.
gg) Anwendung von Art. 3 EMRK auf sozialrechtliche Ansprüche Art. 3 EMRK, der das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung normiert, scheint keinen Ansatzpunkt zur Überprüfung sozialpolitischer Maßnahmen in den Einzelstaaten zu geben. Dennoch finden sich in der frühen Spruchpraxis der Kommission Beispiele, in denen die Kläger einen Verstoß gegen die Konvention bei der Reduktion oder Nicht-Gewährung von sozialversicherungs- oder fürsorgerechtlichen Leistungen auch mit einem Verweis auf diese Bestimmung begründen599 – ein Argument, das die Kommission allerdings regelmäßig als „ill-founded“ zurückweist. In Bezug auf entlassene Strafgefangene führt die Kommission explizit aus: „This provision cannot be interpreted as requiring particular economic and social measures for released convicts“600.
Seit den 70er Jahren ist hier aber ein grundlegender Wertewandel zu beobachten. Positiv-fördernde Maßnahmen werden gerade im Hinblick auf die aus der Gesellschaft ausgeschlossenen ebenso wie die besonders schwachen Gruppen gefordert. Ergreift der Staat nicht die als Minimum für ein menschenwürdiges Leben erforderlichen Maßnahmen, macht er sich nach der Ansicht des Gerichtshofs der Verletzung von Art. 3 EMRK durch Unterlassen schuldig. Gefordert sein kann der Schutz gegen Dritte, etwa die Eltern, wie in dem Fall Z. v. Vereinigtes Königreich, in dem die Behörden über Jahre beobachtet hatten, dass die Eltern zur Betreuung ihrer Kinder nicht in der Lage waren, dennoch aber nicht effektiv Abhilfe schufen, so dass die Kinder schwer geschädigt wurden601. Auch das Fehlen einer medizinischen Grundversorgung für drogenabhängige Gefangene kann einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründen602. Zudem erfährt Art. 3 EMRK in ausländer- und asylrechtlichen Streitigkeiten eine bedeutende Weiterentwicklung, die auch im Hinblick auf die Durchsetzung sozialer Mindeststandards relevant ist. Der erste Schritt in der Entwicklung des case law ist, dass das mit einer Ausweisung potentiell verbundene Unterlassen eines Schutzes gegen Folter und unmenschliche Behandlung durch dritte Staaten – etwa bei Ausweisungen in Länder, in denen die Todesstrafe vollstreckt wird – den ausweisenden Staaten zugerechnet wird603. Es liegt in der Konsequenz dieses
Vgl. z. B. X . / . Vereinigtes Königreich (1970), Yearbook 13, S. 892. Verfahren 7697 / 76 vom 16. 5. 1977, DR 9, S. 194 ff. 601 Z. u. a. . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 29392 / 95 v. 4. 4. 2001), Osman . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 23452 / 94 v. 17. 5. 1996). 602 McGlinchey u. a. . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 50390 / 99 v. 29. 7. 2003). 599 600
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case law, dass auch der – mit einer Ausweisung gleichermaßen potentiell verbundene – Abbruch lebensnotwendiger medizinischer Behandlung als Verstoß gegen die Konvention verstanden wird. Dieser Schritt wird in der Entscheidung D. v. Vereinigtes Königreich vollzogen604. Dabei geht es um einen Drogenhändler, der versucht, als Tourist nach Großbritannien einzureisen, an der Grenze aber aufgegriffen und für mehrere Jahre ins Gefängnis gebracht wird. Dort bricht die Krankheit AIDS, an der er sich schon zuvor infiziert hatte, aus. Nach seiner Entlassung soll er ausgewiesen und in seinen Heimatstaat St. Kitts gebracht werden. Seine Klage gegen die Ausweisung wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK hat Erfolg. Gerügt wird nicht die Unterlassung medizinischer Behandlung in Großbritannien – diese wurde offensichtlich auch während der Zeit in Abschiebehaft gewährt. Vielmehr wird Großbritannien – für den Fall einer Ausweisung – die Unterlassung medizinischer Versorgung im Heimatland des Betroffenen zugerechnet. Damit geht der Gerichtshof über seine bisherige Rechtsprechung in Ausweisungsfällen deutlich hinaus. Es geht nicht mehr wie in den Fällen der Ausweisung in Länder mit Todesstrafe um ein intentionelles Handeln der Behörden des Heimatstaates und auch nicht um intentionelles Handeln nicht-staatlicher Institutionen, das dem Heimatstaat zuzurechnen ist, sondern um ein Unterlassen des Staates, in den der Betroffene zurückgeschickt werden soll, wobei aber diesem Staat unmittelbar, liegt die Nicht-Fortführung der medizinischen Behandlung an fehlenden Ressourcen, kein Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzulasten wäre. Der Gerichtshof begründet diese Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 3 EMRK mit dem absoluten Charakter dieser Bestimmung. Er schränkt den Anwendungsbereich aber insofern wiederum ein, als er das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände betont. Dabei spielen auch Gesichtspunkte der Ingerenz eine Rolle – in Großbritannien war die Erkrankung im konkreten Fall zwei Jahre lang im Gefängnis und in Abschiebehaft behandelt worden. „The Court also notes in this respect that the respondent State has assumed responsibility for treating the applicant’s condition since August 1994. He has become reliant on the medical and palliative care which he is at present receiving and is no doubt psychologically prepared for death in an environment which is both familiar and compassionate. Although it cannot be said that the conditions which would confront him in the receiving country are themselves a breach of the standards of Article 3, his removal would expose him to a real risk of dying under most distressing circumstances and would thus amount to inhuman treatment“605.
Interpretiert man die Entscheidung des Gerichtshofs so, dass damit auf der Grundlage von Art. 3 EMRK ein neuer internationaler Sozialstandard geschaffen 603 Vgl. Soering . / . Vereinigtes Königreich (1989), Serie A Nr. 161, EuGRZ 1989, S. 314; vgl. zu dieser Entwicklung kritisch Hailbronner, Relevanz, S. 6 ff.; Herdegen, Völkerrecht, S. 124 ff. 604 D. . / . Vereinigtes Königreich (1997), Reports 1997-III, Nr. 37. 605 D. . / . Vereinigtes Königreich (1997), Reports 1997-III, Nr. 37.
II. Kontrollverfahren
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wird, so ist dieser, würde er verallgemeinert und als Handlungsanweisung verstanden, äußerst problematisch. Zum einen wird die medizinische Fürsorge, die Großbritannien dem in Haft Befindlichen angedeihen lässt, „bestraft“, da sie eine „Haftung aus vorangegangenem Tun“ begründet. Zum anderen wird der Versuch eines Kriminellen, in ein anderes Land einzureisen, „belohnt“, da unheilbar Kranke in derselben Situation, die es nicht geschafft haben, unter die Jurisdiktion eines Wohlfahrtsstaates zu kommen, im Gegensatz dazu keinen Anspruch auf medizinische und soziale Fürsorge hätten. Derjenige Kranke, der legal an der Grenze steht und Einreise begehrt, könnte abgewiesen werden, während derjenige, der, auf welchem Weg auch immer, schon ins Land gekommen ist, ein Bleiberecht und Anspruch auf Hilfeleistungen bis zum Tod hätte606. Die Entscheidung Bensaid v. Vereinigtes Königreich zeigt, dass der Gerichtshof bemüht ist, enge Grenzen für die Anerkennung von derartigen unter Art. 3 EMRK subsumierbaren Ausweisungsfällen zu ziehen, indem an den Nachweis, dass im Heimatstaat keine entsprechenden medizinischen Behandlungsmöglichkeiten vorhanden sind, sehr hohe Anforderungen gestellt werden607. Soweit man allerdings – abstrahiert von den im Detail sehr problematischen Einzelfällen – die Spruchpraxis zu Art. 3 EMRK so interpretiert, dass damit eine soziale Absicherung der Menschenwürde eingelöst wird, ist dies durchaus begrüßenswert. Werden sozialversicherungsrechtliche Rechtspositionen in sehr weitem Umfang grundsätzlich als justitiabel (Art. 6 EMRK) und eigentumsrechtlich geschützt (Art. 1 des 1. ZP) verstanden, so ist es nur konsequent, auch das „Recht auf ein menschenwürdiges Überleben“ derjenigen, die keine sonstigen Ansprüche auf Hilfeleistung haben, konventionsrechtlich abzusichern608. Das führt aber weiter dazu, dass man auch Unterstützungsleistungen, mögen sie auf Sozialversicherungsrecht oder Sozialfürsorge beruhen, auch dann, wenn sie vollkommen ungeeignet sind, das Existenzminimum zu sichern, als im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK zu diskutierendes Problem erachten muss. Dies deutet der Gerichtshof in einem Obiter dictum in der Entscheidung Larioshina v. Russische Föderation auch an: „This being said, the Court considers that a complaint about a wholly insufficient amount of pension and the other social benefits may, in principle, raise an issue under Article 3 of the Convention which prohibits inhuman and degrading treatment“609.
Konsequent zu Ende gedacht würde der EGMR auf dieser Grundlage ein Prüfungsrecht im Hinblick auf die Adäquanz sozialer Ersatzleistungen beanspruchen, wie dies gegenwärtig der Sozialrechtsausschuss auf der Grundlage von Art. 12 606 Vgl. auch die Kritik bei Hailbronner, Relevanz, S. 6 ff.; zu dem grundsätzlichen Dilemma vgl. Depenheuer, Staatliche Souveränität, S. 46 ff. 607 Bensaid . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 44599 / 98 v. 6. 2. 2001). 608 Vgl. in diesem Sinne auch Frowein, Wirtschaftliche und soziale Rechte, S. 216 ff.; Frowein, Kommentar, Art. 3, Rd. 25; Cassese, Inhuman and Degrading Treatment, S. 141 ff. 609 Larioshina . / . Russische Föderation (Nr. 56869 / 00 v. 23. 4. 2002).
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
ESC / RESC verwirklicht, wenn er das Verhältnis Mindestleistungen – Existenzminimum analysiert610. Ob der Gerichtshof aber diesen Ansatz weiter verfolgen wird, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen611. Insgesamt zeigt die Rechtsprechung des EGMR, in welcher Weise sich das Recht auf sozialen Schutz in den Katalog der in der EMRK fixierten politischen und bürgerlichen Rechte einbinden lässt: als Recht auf ein faires Verfahren, Recht auf Eigentum, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und Recht auf Schutz gegen unmenschliche Behandlung. Als internationale Sozialstandards kristallisieren sich zum einen heraus, dass gesetzlich festgeschriebene Ansprüche auf Leistungen verfahrensmäßig in bestimmter Weise abgesichert werden müssen, zum anderen, dass Staaten bei der Gewährung von Leistungen nur dann Unterscheidungen an persönliche Merkmale knüpfen können, wenn dies durch objektive und vernünftige Gründe gerechtfertigt ist. Zudem darf der Entzug von Sozialleistungen, und sei es auf der Grundlage einer im Übrigen gerechtfertigten Ausweisung, nicht zu einer Gefährdung eines menschenwürdigen Überlebens führen.
hh) Zusatzprotokoll Nr. 12 Die Rechtsprechung des EGMR zu sozialen Rechten mutet insgesamt sehr künstlich und gewunden an. Die Subsumtion sozialer Rechte unter „zivile Rechte“, „Eigentum“, ihre Diskussion im Zusammenhang mit dem „Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“ und „unmenschliche Behandlung“ sind interpretatorische Umwege, die sich zum großen Teil daraus erklären, dass ein Schutz auch dieser Rechtspositionen insbesondere im Hinblick auf nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen gewollt wird, Art. 14 EMRK aber nur dann zur Anwendung kommt, wenn ein in der Konvention geschütztes Recht betroffen ist. Am 4. 11. 2000 wurde nun das 12. Zusatzprotokoll zur Unterzeichnung aufgelegt, das in Art. 1 folgende Bestimmung enthält: „The enjoyment of any right set forth by law shall be secured without discrimination on any ground such as sex, race, colour, language, religion, political or other opinion, national or social origin, association with a national minority, property, birth or other status“.
Damit genügt es, dass ein Recht im Gesetz festgelegt ist, um anhand der Konvention das Vorliegen einer Diskriminierung zu prüfen. Die Frage der Gleichbehandlung bei der Zuerkennung sozialer Rechte wird somit im vollen Umfang kontrollierbar. Das bedeutet, dass Grenzziehungen bei der Zuerkennung von Rechten im Rahmen des sozialpolitischen Gestaltungsspielraums der Vertragsstaaten auf objektiven und vernünftigen Gründen beruhen, ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig in Bezug auf die Ziel-Mittel-Relation sein müssen.
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Vgl. dazu S. 323 ff. Vgl. dazu Nußberger, Soziale Verpflichtetheit des Staates, S. 366 ff.
II. Kontrollverfahren
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Die Rechtsprechung des EGMR hat, wie dargestellt, schon Wege geebnet, um die Gewährung oder Versagung sozialer Rechte anhand der EMRK zu überprüfen. Nach dem 12. Zusatzprotokoll werden die bisher ausgeschlossenen, auf Ermessen beruhenden Ansprüche und in weiterem Umfang auch das Unterlassen sozialer Hilfeleistungen – soweit das Protokoll gilt – Gegenstand der Rechtsprechung des EGMR. Folgenreich – auch für sozialrechtliche Rechtspositionen – könnten in der Zukunft Entscheidungen über Fragen der Diskriminierung beim Zugang zu einer Beschäftigung sein. Ein Beispiel wäre die als unzulässig abgewiesene Klage Wanda Paruszewska v. Polen612, bei der es um den Zwang zur Pensionierung weiblicher Staatsangestellter im Alter von 60 Jahren ging, während Männer erst mit 65 Jahre in Rente gehen müssen. Durch diese Ungleichbehandlung war nicht das Recht auf Eigentum betroffen – die Klägerin hatte für die Arbeit zwischen dem 60. und dem 65. Lebensjahr noch keine Rentenansprüche erworben – wohl aber handelte es sich um eine Diskriminierung in einem sonstigen Recht. Wie auch in dem „Explanatory Report“ zu dem neuen Zusatzprotokoll ausgeführt wird, kann die EMRK damit auch in verstärktem Umfang Grundlage für Verpflichtungen der Staaten zu positivem Tun werden, insbesondere wenn das jeweilige nationale Rechtssystem Lücken aufweist, die zu Diskriminierungen führen. Begrenzungen dieser positiven Verpflichtungen ergeben sich nach dem neuen Zusatzprotokoll einerseits daraus, dass in Art. 1 Abs. 1 des 12. ZP festgeschrieben wird, dass der Diskriminierung ein im Gesetz verankertes Recht zugrunde liegen muss. Zum anderen wird in Art. 1 Abs. 2 des 12. ZP auf die Diskriminierungen durch eine öffentliche Stelle (public authority) verwiesen; Diskriminierungen zwischen Privaten könnten so allenfalls in Ausnahmefällen erfasst werden: „These considerations indicate that any positive obligation in the area of relations between private persons would concern, at the most, relations in the public sphere normally regulated by law, for which the state has a certain responsibility (for example, arbitrary denial of access to work, access to restaurants, or to services which private persons may make available to the public such as medical care or utilities such as water and electricity, etc.)“613.
Damit würden aber gerade auch privatisierte Systeme sozialer Sicherheit der Kontrolle am Maßstab des Art. 1 des 12. ZP unterfallen. Wie sich die Entwicklung im Einzelnen hier gestalten wird, bleibt abzuwarten, wenn das Zusatzprotokoll in Kraft tritt. 6. Politische vs. rechtliche Dimension der Kontrollverfahren Markante juristisch fassbare Grenze zwischen den verschiedenen Kontrollverfahren ist einerseits die politische bzw. rechtliche Grundlage der Entscheidungen, andererseits ihre Verbindlichkeit bzw. Unverbindlichkeit. Paruszewska . / . Polen (Nr. 33770 / 96 v. 16. 4. 1998). Explanatory Report (http: // www.humanrights.coe.int/Prot123/Protocol%2012%20and %20Exp%20Prep.httm; letzter Zugriff Dezember 2004). 612 613
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
Soweit es ein zweistufiges Kontrollverfahren gibt, wird bei der ersten Stufe eine nur-rechtliche Überprüfung des Sachverhalts vorgenommen. Auf der zweiten Stufe besteht ein politisches Ermessen, modellhaft etwa in der IAO, wenn der Konferenzausschuss auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen diejenigen Konventionsverletzungen aussucht, die er für besonders gravierend und damit öffentlich zu rügen hält. Allerdings verschwimmen diese Unterschiede zumindest teilweise, wenn das politische Gremium die auf Recht basierenden Entscheidungen in toto übernimmt und von seinem Ermessen in keiner Weise Gebrauch macht, oder umgekehrt, wenn bereits die Rechtsanalyse Ermessenselemente enthält614. Die Grenzziehung zwischen „verbindlich“ und „unverbindlich“ läuft grundsätzlich entlang ähnlicher Linien. Nur eine ausschließlich auf dem Recht beruhende Entscheidung kann Verbindlichkeit beanspruchen. Dies erfordert zumindest ein rechtsstaatlichen Anforderungen genügendes Gerichtsverfahren sowie eine plausible, juristisch nachvollziehbare Argumentation einer explizit legitimierten Entscheidungsinstanz innerhalb ihrer Kompetenzgrenzen. Nun lässt sich allerdings beobachten, dass die Verfahren, die zu verbindlichen Entscheidungen führen, von diesem Ideal – zumindest teilweise – abrücken. Dies gilt insbesondere aufgrund der rechtsfortbildenden und damit zugleich kompetenzerweiternden Interpretation der EMRK durch den EGMR. Andererseits werden die Verfahren, die nicht zu verbindlichen Entscheidungen führen, Gerichtsverfahren angenähert – diese Entwicklung ist insbesondere bei den Individual- und Kollektivbeschwerdeverfahren zu beobachten. Auch bei der Durchsetzung der Entscheidungen durch die internationalen Organisationen treten die Unterschiede nicht mehr so stark hervor. Die innerstaatlichen Gerichte der Vertragsstaaten sind unmittelbar weder an die verbindlichen noch an die unverbindlichen Entscheidungen gebunden. Allerdings sind die Vertragsstaaten selbst rechtlich dazu verpflichtet, Sorge für die Einhaltung der Rechtsnormen, die sie mit der Ratifikation als rechtsverbindlich anerkannt haben, zu tragen und im Zweifel die Gesetze zu ändern. Die internationalen Organisationen etablieren in der Regel Verfahren, um die Durchsetzung der Entscheidungen zu überprüfen, wobei dies aber nicht für verbindliche, sondern durchaus auch für unverbindliche Verfahren gilt. Damit zeigt sich, dass die Grenze zwischen „verbindlich“ und „unverbindlich“ und damit „rechtlich“ und „politisch“ bei den Kontrollverfahren nicht wirklich an den juristisch unterschiedlichen Konsequenzen der Entscheidungen bzw. Stellungnahmen festzumachen ist. Ausschlaggebend ist vielmehr der Bekanntheitsgrad: Die Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte werden mittlerweile auch in der Öffentlichkeit diskutiert; die Stellungnahmen aller anderen Komitees und Ausschüsse dagegen sind weitgehend unbekannt. Dies ist so614 Vgl. die Möglichkeit des Sachverständigenausschusses der IAO, bestimmte Verstöße gegen Konventionen nicht in die Sachverständigenberichte aufzunehmen, sondern „direct requests“ an die betroffenen Staaten zu schicken.
II. Kontrollverfahren
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wohl für das Verständnis wie auch die Einschätzung der Bedeutung der völkerrechtlichen Sozialstandards in Rechnung zu stellen.
Zusammenfassung Damit zeigt sich, dass die Ansätze zur Kontrolle der Gestaltung nationaler Sozialsysteme auf der Grundlage völkerrechtlicher Normen sehr unterschiedlich sind. Verfolgt man die Tradition des internationalen Arbeits- und Sozialrechts, die vor allem in den Konventionen der IAO und den sozialversicherungsrechtlichen Konventionen des Europarats umgesetzt wird, so steht im Mittelpunkt des Interesses die Struktur des jeweiligen Systems. Verstöße werden vor allem dann festgestellt, wenn die Solidarität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern als den sich kontradiktorisch gegenüberstehenden gesellschaftlichen Kräften bei der Organisation des jeweiligen Systems nicht mehr gewährleistet wird. Daneben zwingt die Definition der Standards im Detail, die Leistungen bestimmten Vorgaben entsprechend zu gestalten; hier ist das System nicht flexibel. Der Menschenrechtsansatz zielt auf den Schutz individueller Rechtspositionen ab. Schwerpunktmäßig werden auf dieser Grundlage diskriminierende Regelungen moniert; im Vordergrund steht „horizontale Gerechtigkeit“ bei der Gewährung von Leistungen. Besonders effektiv ist die Kontrolle am Maßstab der EMRK und – in abgeschwächter Form – des ICCPR, da hier Klagen bzw. Individualbeschwerden vorgesehen sind. Geht es nicht um absolute Untergrenzen bei der Sicherung der Grundlagen der Existenz, kann mit diesem Ansatz allerdings nicht thematisiert werden, ob und in welchem Umfang ein Staat Sozialleistungen zu garantieren hat, sondern nur, ob er dabei ohne Willkür verfährt und nicht – ohne sachliche Gründe – bestimmte Personengruppen ausschließt. Der fremdenrechtliche Ansatz erfährt keine eigenständige Weiterentwicklung, sondern wird vielmehr durch den Menschenrechtsansatz überlagert. Zum Teil entstehen aber Widersprüche, da das Anknüpfen an die Staatsangehörigkeit und die Gewährung von Leistungen auf Gegenseitigkeit grundlegende Elemente der Vertragsgestaltung im Bereich des Fremdenrechts sind, während nach dem Menschenrechtsansatz Unterscheidungen auf der Grundlage von Staatsangehörigkeit nur bei Vorliegen objektiver und vernünftiger Gründe zu rechtfertigen sind. Deutlich ist, dass sich ein umfangreiches case law entwickelt hat, das den Umgang von Kontrollinstanzen mit sozialen Rechten und damit, in eingeschränktem Umfang, die Justitiabilität dieser Rechte zeigt. So weit aber auch die Schneisen sind, die die Einzelfallanwendung der völkerrechtlichen Sozialstandards in das Dogma, der Nationalstaat sei für die Gestaltung seines Sozialsystems ausschließlich selbst verantwortlich, geschlagen hat und so lebendig die Entwicklung in diesem Bereich ist, so fraglich ist es doch, ob mit diesen – aus den Möglichkeiten des bestehenden Rechts heraus entwickelten An-
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C. Interpretation und Dynamisierung internationaler Sozialstandards
sätzen – die tatsächlich bestehenden Probleme erfasst werden. Das Recht, auch wenn es fortgebildet und neueren Entwicklungen angepasst wird, kann nur in den Bahnen wirken, die ihm vorgegeben sind. Betrachtet man die von internationalen Gremien behandelten Fälle, bei denen es oftmals um Marginalien geht – Arbeitslosengeld für wenige Monate, Abschläge oder Zuschläge zur Rente, Zahlungen, die nicht existenzsichernd sind – dann drängt sich der Eindruck auf, dass der Wirkungsgrad der internationalen Sozialstandards (noch) nicht optimal ist; die eigentlichen Probleme bei der Gestaltung von Sozialschutzsystemen liegen anderswo. Dabei vermag aber der regional-europäische Ansatz, auf den die Normen grundsätzlich zugeschnitten sind, wesentlich eher, vorhandene Missstände aufzudecken als der universell-internationale Ansatz.
D. Probleme der Mehrfachregulierung „The measure of success which is achieved in eliminating and resolving conflicts between law-making treaties will have a major bearing on the prospect of developing, despite the imperfections of the international legislative process, a coherent law of nations adequate to modern needs“. Wilfried Jenks 1953
Für die Entwicklung der Sozialstandards im Völkerrecht gab es nie einen Plan, ein Konzept; die frühen Ansätze zur Ausarbeitung internationaler Normen im Arbeitsrecht des 19. Jahrhunderts, systematisiert in der Normsetzungstätigkeit der IAO, wurden von der Bestrebung, Menschenrechte auf internationaler Ebene zu kodifizieren, überlagert; auch der fremdenrechtliche Ansatz ist darin im Wesentlichen aufgegangen. Die Vorgaben auf universeller Ebene wurden auf regionaler Ebene in weitem Umfang nachgezeichnet; Überschneidungen und Verdoppelungen waren so unvermeidbar1. Auch die Auslegung bewirkt, dass Normen, die thematisch unterschiedlichen Komplexen zugeordnet waren, mehr und mehr ineinander greifen2. Das Risiko der Entstehung von Widersprüchen wird dadurch gesteigert, dass die multilateralen Menschenrechtsverträge in der Regel eigenständige Kontrollverfahren vorsehen, innerhalb derer nur der jeweils „eigene“ Satz von Normen angewendet wird. Das Problem, dass Konflikte zwischen völkerrechtlichen Verträgen entstehen, ist aber als solches kein Phänomen des modernen Völkerrechts, auch wenn es hier aufgrund der Vervielfachung multilateraler Verträge gerade im Bereich des Menschenrechtsschutzes eine neue Dimension angenommen hat3. Auch im klassischen Völkerrecht, etwa in den Schriften von Grotius, Pufendorf und de Vattel, war es Gegenstand der Diskussion4. Beispiele für nicht kompatible Völkerrechtsverträge sind nicht selten5.
Vgl. dazu die ausführliche Darstellung in Kapitel A. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung in Kapitel C. 3 Vgl. dazu auch die übergreifende Studie von Shany, Competing Jurisdictions, die speziell auf das Problem der sich überlappenden Zuständigkeit verschiedener Gerichte gerichtet ist, sowie Wolfrum / Matz, Conflicts in International Environmental Law, die die Fragestellung im Bereich des Umweltrechts beleuchten. 4 Vgl. Jenks, Law-Making Treaties, S. 405 ff. 5 Vgl. die Aufzählung bei Jenks, Law-Making Treaties, S. 405 ff. 1 2
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
I. Formen von Normenkollisionen Handelt es sich um bilaterale Verträge zwischen denselben Parteien, ist das Problem der Überschneidungen und potentiellen Widersprüchlichkeit zwischen verschiedenen Normen in der Regel durch Auslegung des Parteiwillens zu lösen. Schwieriger dagegen ist es bei multilateralen Verträgen. Hier können verschiedene Parteien an verschiedene Vertragssysteme gebunden sein, die in unterschiedlichem funktionalen Kontext stehen oder von unterschiedlichen internationalen Organisationen ausgearbeitet worden sind6. Der Fall Gaygusuz ist in diesem Zusammenhang kritisch zu diskutieren. Die menschenrechtliche Problematik, die Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit bei vermögenswerten Rechten, die als Eigentum geschützt werden, wurde bereits erörtert – hier kommt der EGMR zu einem Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP iVm. Art. 14 EMRK7. Das Ergebnis wäre ein anderes, würde man den Fall nach den spezifischen im Rahmen der IAO und des Europarats ausgearbeiteten Sozialrechtskonventionen lösen. Im Verhältnis zwischen der Türkei und Österreich, die der Gaygusuz-Konflikt betraf, gilt einerseits Konvention Nr. 102 der IAO8, andererseits auch die Konvention über soziale Sicherheit des Europarats aus dem Jahr 19729. Auf die streitgegenständliche Notstandshilfe, eine Leistung, für die die Zahlung von Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung zwar Voraussetzung ist, die aber auch aus öffentlichen Geldern finanziert wird, wäre Art. 68 Konvention Nr. 102 anwendbar: „Non-national residents shall have the same rights as national residents: Provided that special rules concerning non-nationals and nationals born outside the territory of the Member may be prescribed in respect of benefits or portions of benefits which are payable wholly or mainly out of public funds and in respect of transitional schemes“.
Danach wäre es zulässig, ausländische Staatsangehörige bei der Gewährung von Notstandshilfe auszunehmen10. 6 Ausgeblendet werden hier – wie auch sonst in der Arbeit – Überschneidungen zwischen dem Recht der Europäischen Gemeinschaft / Europäischen Union und sonstigen internationalen Verträgen, da hier Systeme, die auf grundlegend unterschiedlichen Prämissen beruhen, aufeinander treffen. Die Überschneidungen im sozialen Bereich, die sich aufgrund der Aufnahme sozialer Grundrechte in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (und damit voraussichtlich auch in den Verfassungsvertrag) noch vermehren werden, folgen insoweit besonderen Gesetzmäßigkeiten (vgl. nur den Fall Koua Poirrez, über den sowohl der EuGH (Entscheidung vom 16. 12.1992 – Rs C-206 / 91 (Poirrez)) als auch der EGMR (Koua Poirrez . / . Frankreich (Nr. 40892 / 98 v. 30. 9. 2003)) entschieden hat: Während ein Verstoß gegen EG-Recht abzulehnen war, da die versagte Sozialleistung nicht im Zusammenhang mit einer Wanderung in der Gemeinschaft stand, hat der EGMR eine Diskriminierung angenommen; vgl. S. 358 f. 7 Vgl. S. 364 ff. 8 Ratifikation von Österreich 4. 11. 1969, Ratifikation der Türkei 29. 1. 1975. 9 Ratifikation von Österreich 10. 6. 1975, Ratifikation der Türkei 2. 12. 1976.
I. Formen von Normenkollisionen
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Zu einem gerade entgegengesetzten Ergebnis führt dagegen die Europäische Konvention über Soziale Sicherheit; hier kann auch bei Nicht-Beitragsleistungen die Staatsangehörigkeit nicht in Betracht gezogen werden; berücksichtigt werden kann allenfalls eine Vorwohnzeit (Art. 8 der Konvention). Dies illustriert, dass Verträge, die in unterschiedlichem funktionalen Zusammenhang stehen oder von unterschiedlichen internationalen Organisationen ausgearbeitet worden sind, auch im konkreten Einzelfall zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können11. Normenkollisionen lassen sich in verschiedener Weise systematisieren12.
1. Offene vs. versteckte Normenkollisionen Offene Normenkollisionen sind aufgrund eines divergierenden Wortlauts ersichtlich; versteckte Normenkollisionen treten erst als Folge unterschiedlicher Interpretationen der Normen auf13. Von offenen Normenkollisionen lässt sich nicht schon dann sprechen, wenn verschiedene Normen in der Formulierung voneinander abweichen; bei Grundrechtsnormen etwa ist die Regel, dass sie nicht völlig kongruente Definitionen des jeweiligen Schutzbereichs enthalten. Relevant werden die unterschiedlichen Formulierungen dann, wenn sie sachlich unterschiedliche Konzepte offenbaren wie etwa bei Art. 11 ICESCR einerseits und Art. 13 ESC andererseits14.
10 Dies gilt auch, obwohl die Türkei die Geltung von Teil IV der Konvention Nr. 102 nicht angenommen hat; Art. 68 Abs. 1 stellt hier, im Gegensatz zu Art. 68 Abs. 2, keine besonderen Voraussetzungen. 11 Anzumerken ist, dass mittlerweile als Reaktion auf derartige Probleme im Rahmen der EU die Verordnung (EG) Nr. 859 / 2003 vom 14. 5. 2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408 / 71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574 / 72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen, ausgearbeitet worden ist. Danach würde der konkrete Fall eine Lösung im EU-Recht finden, die im Einklang mit der Entscheidung des EGMR stünde (Erwägung 16 der Verordnung, nach der Rechte und Pflichten aus den mit Drittstaaten geschlossenen internationalen Übereinkünften nicht berührt werden, käme nicht in Betracht, da die genannten internationalen Konventionen keine Verträge sind, bei denen die Gemeinschaft Vertragspartei wäre). 12 Vgl. dazu auch Pauwelyn, Conflicts of Norms, S. 175 ff. 13 Vgl. die Unterscheidung bei Roucounas, Engagements parallèles et contradictoires, S. 40 zwischen einem „conflit patent“ und einem „conflit latent“. 14 Vgl. dazu S. 83 ff.; ein anderes Beispiel wäre etwa die Garantie der Koalitionsfreiheit. Der Wortlaut der Bestimmungen in ESC / RESC, EMRK und ICESCR weist Unterschiede auf: Nach Art. 5 S. 2, 3 RESC (wie auch nach Art. 22 Abs. 2 S. 2 ICESCR) sind Einschränkungen für Militär und Polizei nach dem innerstaatlichen Recht möglich, nach Art. 11 Abs. 2 EMRK zusätzlich auch für die Staatsverwaltung. Nach Art. 6 Abs. 4 ESC wird das Streikrecht explizit garantiert, nicht aber nach Art. 11 Abs. 2 EMRK.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
Aufgrund der besonderen Natur des Rechts auf soziale Sicherheit und auf soziale Fürsorge fallen die Möglichkeiten der Einschränkung dieser Rechte zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Sicherheit des Staates, der Volksgesundheit, der Sittlichkeit etc. nicht ins Gewicht. Derartige Regelungen sind überhaupt nur in den Menschenrechtspakten, nicht dagegen in den spezifisch sozialrechtlichen Regelungen enthalten15. Relevant ist aber, ob Möglichkeiten zur Begrenzung der Rechte im Notstand vorgesehen sind oder nicht; hierin unterscheiden sich ESC und ICESCR grundlegend. Im ICESCR ist keine Notstandsklausel enthalten, die ESC dagegen regelt diese Frage ausführlich (Art. 30)16. Offene Normenkollisionen können auch dann auftreten, wenn Regelungen, die in ganz verschiedenem Kontext stehen, miteinander inkompatibel sind, wenn etwa in einem Vertrag Ausnahmebestimmungen zugelassen werden, die die Definition eines Rechts in einem anderen Vertrag konterkarieren. Ein Beispiel wäre Art. 69 Konvention Nr. 102 und Art. 12 Abs. 4 ESC. Während Konvention Nr. 102 der IAO eine Suspendierung der Leistungen bei Aufenthalt des Berechtigten im Ausland zulässt, ist nach der ESC die Wahrung der nach den Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit erwachsenen Leistungsansprüche unabhängig vom Aufenthalt der geschützten Personen innerhalb der Hoheitsgebiete der Vertragsstaaten zu gewährleisten. Versteckte Normenkollisionen haben einen dynamischen Charakter, da sie sich mit der Entwicklung der Rechtsprechung bzw. der Spruchpraxis zu den einzelnen Normen ändern. Normenkonflikte können entstehen, aber auch wieder beigelegt werden, ohne dass dies aus dem Wortlaut der Normen ersichtlich wäre17. Es gibt eine Reihe von Gründen, die versteckte Normenkollisionen bei Sozialstandards wahrscheinlich machen. Zum einen liegt den Standards, wie dargestellt, eine grundsätzlich unterschiedliche Philosophie zugrunde. Außerdem werden die Normen autonom ausgelegt. Die Interpreten sind jeweils nur zur Interpretation Vgl. z. B. Art. 4 ICESCR vs. Art. 31 ESC. Zur Problematik der Auslegung von Art. 30 ESC vgl. Jasudowicz, Legal Character, S. 35 ff. 17 Im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit etwa sind Unterschiede nicht am Wortlaut der Normen festzumachen. Allerdings zeigen die Vorarbeiten zur EMRK, dass die negative Koalitionsfreiheit aus dem Schutzbereich ausdrücklich ausgenommen werden sollte. Der EGMR lässt in der Entscheidung (Young, James, Webster . / . Vereinigtes Königreich (1981), Serie A Nr. 44) offen, ob es neben der positiven auch eine negative Koalitionsfreiheit gibt. Nach seiner Meinung ist lediglich notwendig, dass ein Freiheitsrecht ein bestimmtes Maß an Wahlfreiheit bei der Ausübung gewährleiste; im Gegensatz dazu sieht der Sozialrechtsausschuss auch die negative Koalitionsfreiheit notwendigerweise in der Garantie der Koalitionsfreiheit enthalten. Dieser Konflikt löst sich aber in dem Moment, in dem der EGMR in der Entscheidung Sigurjonsson v. Island ausdrücklich feststellt, auch Art. 11 EMRK enthalte ein Recht auf negative Koalitionsfreiheit. Er nimmt dabei explizit auf die Rechtsentwicklung auf der Grundlage von ESC und der IAO-Konventionen Bezug; vgl. Sigurjonsson . / . Island (1993), Serie A Nr. 264, para. 35. 15 16
I. Formen von Normenkollisionen
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ihres eigenen Sets an Normen berufen18. Dies hindert zwar nicht den rechtsvergleichenden Blick auf die Auslegung entsprechender Normen in anderen, thematisch verwandten Verträgen. Aber die Praxis zeigt, dass ein derartiges Vorgehen eher die Ausnahme denn die Regel ist. Auch wenn divergierende Interpretationen zur Kenntnis genommen werden, so setzt man sich doch nicht kritisch mit ihnen auseinander, um nicht in die Kompetenzen anderer internationaler Organe einzugreifen. Beispielsweise erwähnt der EGMR in der Entscheidung van der Mussele das Verständnis von Zwangsarbeit in Konvention Nr. 29 der IAO, fährt dann aber fort: „Be that as it may, the Court prefers to adopt a different approach“19.
Roucounas erklärt dies auch als Frage des Prestiges20.
2. Konflikte vs. Divergenzen Jenks hat in seiner grundlegenden Abhandlung aus dem Jahr 1953 „The Conflict of Law-Making Treaties“ Normenkollisionen in die zwei Kategorien „divergence“ und „conflict“ unterteilt, eine Systematisierung, die Meron in seiner Abhandlung „Human Rights Law-Making in the United Nations. A Critique of Instruments and Process“ aus dem Jahr 1986 zwar aufgreift, aber für nicht trennscharf hält. Auch wenn die Zuordnung in Einzelfällen nicht eindeutig sein mag, so ist der Ansatz von Jenks doch überzeugend, da er an die Relevanz der Widersprüchlichkeiten für die nationale Rechtsanwendung anknüpft. a) Konflikte zwischen verschiedenen Sozialstandards Bei Normenkonflikten ist nach der Definition von Jenks logisch ausgeschlossen, dass eine Vertragspartei beide Verpflichtungen erfüllen kann. Ein Beispiel wäre das in Art. 8 ESC enthaltene Verbot der Untertagearbeit in Bergwerken für Frauen, das mit Art. 26 ICCPR unvereinbar ist. Verbietet der nationale Gesetzgeber diese Form der Beschäftigung für Frauen, verstößt er gegen Art. 26 ICCPR, verbietet er sie nicht, verstößt er gegen Art. 8 ESC21. Ein ähnliches Dilemma ist in dem vom Vgl. dazu Sciotti, Concurrence des traités, S. 34 ff. Van der Mussele . / . Belgien (1983), Serie A, Nr. 170, para. 37. 20 Vgl. Roucounas, Engagements parallèles et contradictoires, S. 215: „. . . le prestige commande qu’il [l’interprète] s’occupe aussi rarement que possible de la manière dont d’autres organes s’acquittent de leur tâche au sujet des mêmes droits et libertés protégés“. 21 Der Sozialrechtsausschuss steht vor dem Problem, das in Art. 8 ESC enthaltene – grundsätzlich diskriminierende – Verbot der Arbeit unter Tage und bei sonstigen beschwerlichen und gesundheitsgefährlichen Arbeiten anzuwenden und auszulegen. Er hat keine Kompetenz zu einer Nichtigerklärung, versucht aber zumindest eine einschränkende Auslegung: Konfrontiert mit der Frage, ob das Arbeitsverbot auch bei Tätigkeiten unter Tage wie ärztlicher Betreuung oder touristischen Führungen in stillgelegten Bergwerken gelte, vergleicht der Ausschuss die französische und die englische Version des Textes des Übereinkommens 18 19
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
EGMR entschiedenen Fall Jersild v. Dänemark22 offenbar geworden. Indem Dänemark der nach Art. 4, 5 CERD bestehenden Pflicht, die Verbreitung von Rassendiskriminierung unter Strafe zu stellen, nachgekommen ist, hat es gegen Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsfreiheit) verstoßen. – Diese Fälle zeigen aber zugleich die Problematik der Kategorie „Normenkonflikte“ auf. Normen, die expressis verbis kontradiktorisch sind, indem etwa eine Handlung explizit geboten bzw. explizit verboten wird, lassen sich nur schwer finden. In der Regel entstehen die Normenkonflikte erst durch die konkrete Interpretation der Normen. Art. 26 ICCPR ist nicht so zu verstehen, dass Unterscheidungen zwischen Männern und Frauen zwangsläufig ausgeschlossen sind; allerdings müssen sie auf vernünftigen Gründen beruhen. Wurde in den 60er Jahren der Schutz der Frauen vor schwerer körperlicher Arbeit unter Tage noch als vernünftiger Grund in diesem Zusammenhang angesehen, wird dies mittlerweile verneint. Damit zeigt dieser Normenkonflikt auch die Entwicklungsdimension der Problematik. Auch in dem Fall, in dem Meinungsfreiheit und das Verbot der Rassendiskriminierung miteinander kollidieren, könnte der Konflikt durch Auslegung gelöst werden, wie die Richter Gölcüklü, Russo und Valticos in ihrer abweichenden Meinung hervorheben23. Bei Sozialstandards werden Konflikte im Jenk’schen Sinn regelmäßig dadurch ausgeschlossen, dass es sich um Mindeststandards handelt. Normiert wird nur ein Untermaß, so dass Verhaltensalternativen bleiben, die mit inhaltlich widersprechenden Standards kompatibel sind. Denkbar wären Konflikte zwischen dem aus den 50er Jahren stammenden, am Leitbild des „männlichen Familienernährers“ aufbauenden Sozialmodell der Konvention Nr. 102 und dem Diskriminierungsverbot. Allerdings wird mit der in Konvention Nr. 102 vorgegebenen Orientierung der Lohnersatzleistungen am Einkommen eines männlichen Durchschnittsverdieners nur eine rechnerische Größe vorgegeben, die den Standard der Ersatzleistungen festlegt; zu einer Diskriminierung und damit zu einem Normenkonflikt führt dies nicht.
und stellt fest, dass der französische Text ein umfassendes Verbot enthält, während der Wortlaut des englischen Textes so zu verstehen ist, dass nur der Bergbau unter Tage an sich verboten ist. Der Ausschuss stützt seine Auslegung des Verbots auf die englische Version des Übereinkommens und zieht dabei als zusätzliches Argument die in der Konvention Nr. 45 der IAO enthaltenen Ausnahmeregelungen analog heran (Conclusions VI, S. 71). 22 Jersild . / . Dänemark (1994), Serie A, Nr. 298. 23 „That Convention manifestly cannot be ignored when the European convention is being implemented. It is, moreover, binding on Denmark. It must also guide the European Court of Human Rights in its decisions, in particular as regards the scope it confers on the terms of the European Convention and on the exceptions which the Convention lays down in general terms“, (Jersild . / . Dänemark (1994), Serie A Nr. 298).
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b) Divergenzen zwischen verschiedenen Sozialstandards Normen können auch unterschiedliche Regelungen treffen, ohne dass dadurch unmittelbar eine Konfliktsituation entstehen müsste: „Two law-making treaties with a number of common parties may deal with the same subject from different points of view or be applicable in different circumstances, or one of the treaties may embody obligations more far-reaching than, but not inconsistent with, those of the other“24.
Beispielsweise werden von Konvention Nr. 102 der IAO wohl Hinterbliebenenrenten für Witwen, nicht aber für Witwer vorgesehen. Dies ist diskriminierend, wie der EGMR und der Ausschuss für Menschenrechte übereinstimmend festgestellt haben. Allerdings bedeutet dieser Widerspruch nicht, dass ein Staat, der sowohl Konvention Nr. 102 als auch die EMRK bzw. den ICCPR ratifiziert hat, zwangsläufig gegen eine dieser Normen verstoßen müsste. Konvention Nr. 102 legt nur Mindeststandards fest; werden zusätzliche Sozialleistungen gewährt, so wird Konvention Nr. 102 davon nicht berührt. Dies gilt auch, wenn ein Vertrag Ausnahmen zu im Übrigen identischen Bestimmungen eines anderen Vertrages vorsieht, etwa dann, wenn die Pflicht zum Rentenexport an im Ausland lebende Rentner dann nicht besteht, wenn die Rente auch Leistungen aus öffentlichen Kassen enthält. Hier gibt es für einen Staat, der an beide Verträge gebunden ist, immer eine Option, sich vertragskonform zu verhalten. Dies trifft auch dann zu, wenn nach der Europäischen Fürsorgekonvention Sozialhilfeleistungen für Fremde nur unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere nur dann, wenn sie ihren Wohnsitz legal im Inland haben, zu gewähren sind, nach der EMRK dagegen in Extremfällen auch Leistungen für illegal im Inland Befindliche geboten sein können25. Divergenzen sind aber, geht es um die Standardisierung von Regelungen zum sozialen Schutz, kontraproduktiv. Dies illustriert etwa die auf der Grundlage des CEDAW in General Comment No. 16 erhobene Forderung, auch Frauen, die in Familienbetrieben mitarbeiten, seien in soziale Sicherungssysteme zu integrieren, da gerade für diese Gruppe in den Sozialrechtskonventionen der IAO Ausschlussmöglichkeiten explizit vorgesehen werden26. Divergenzen, nicht Konflikte, sind schließlich auch bei der Ausgestaltung des Rechtsschutzverfahrens zur Geltendmachung sozialer Rechte zu konstatieren. Die speziellen Sozialrechtskonventionen enthalten durchgehend Vorschriften zu dieser Thematik. Die frühen Konventionen beschränken sich darauf, ein Beschwerderecht Jenks, Law-Making Treaties, S. 426. Vgl. die Fälle Bensaid . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 44599 / 98 v. 6. 2. 2001) und D. . / . Vereinigtes Königreich (1997), Reports 1997-III, Nr. 37; vgl. dazu S. 369 ff. 26 Vgl. z. B. Art. 2 Abs. 2 (e) Konvention Nr. 35, Art. 2 Abs. 2 i Konvention Nr. 44. 24 25
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
der Betroffenen bei einer Instanz zu fordern, die nicht selbst die angegriffene Entscheidung erlassen hat27. Konvention Nr. 102 und Nr. 121 enthalten detailliertere Bestimmungen für ein Verfahren, bei dem die geschützten Personen einen Interessenvertreter haben, Konvention Nr. 128 darüber hinaus das Gebot einer angemessenen Prozessvertretung des Betroffenen. Gerade nicht gefordert wird aber eine im engeren Sinne justizförmige Kontrolle der Verwaltung von gesetzlichen Systemen kollektiver sozialer Sicherheit28 – der Standard, den der EGMR auf der Grundlage von Art. 6 EMRK als unabdingbar erachtet. Nun entsteht auch hier kein Normenkonflikt – ein justizförmiges Verfahren ist mit den Vorgaben der Konventionen der IAO vereinbar. Aber auch wenn in jedem Fall der Schutz des Betroffenen zentraler Orientierungspunkt ist, ein grundlegender Wertungsunterschied bleibt: Die Vorgaben der sozialversicherungsrechtlichen Konventionen lassen einen weiteren Raum zur Berücksichtigung der besonderen Anforderungen an sozialrechtliche Verfahren – etwa der Notwendigkeit, ein Gleichgewicht zwischen dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Verwaltung und dem Privatinteresse des Betroffenen herzustellen29 –, die Rechtsprechung des EGMR dagegen fordert ein Verfahren, das entsprechend den streitigen Verfahren zwischen Privaten konstruiert ist.
3. Konzeptionelle Widersprüche Nicolas Valticos geht in seiner Abhandlung „Pluralité des ordres juridiques internationaux et unité du droit international“ davon aus, dass sich das Völkerrecht in seiner Gesamtheit als kohärentes System entwickelt: „. . . l’ordre juridique n’est pas seulement un ensemble statique de normes constituant un système juridique plus ou moins cohérent, mais il constitue, en outre, une entité dynamique qui, dans une certaine mesure, conduit les normes elles-mêmes dans un développement dynamique cohérent“30.
Ob diese These allerdings angesichts der vielfältig inkonsistenten Entwicklungen im Bereich des Völkerrechts zu halten ist, ist zweifelhaft, da hinter den Konflikten und Divergenzen häufig konzeptionelle Widersprüche, fundamentale UnterArt. 20 Konvention Nr. 35, Art. 21 Konvention Nr. 37, Art. 23 Konvention Nr. 39. Vgl. ILO, Social Security Protection in Old-Age, S. 101, in dem zu den Konventionen Nr. 102 und 128 der IAO ausgeführt wird, dass gerade keine unabhängige Kontrollinstanz nötig sei. 29 Vgl. dazu auch das Sondervotum in der Entscheidung Deumeland, Punkt 15, 16. 30 Valticos, Pluralité, S. 302; vgl. auch Wolf, Interdépendance des conventions, S. 117: „Les instruments internationaux à caractère collectif représentent un secteur de plus en plus large de l’ordre juridique international moderne. Il va de soi que ces instruments, comme les autres sources de droit international positif, se rattachent les uns aux autres et doivent s’inscrire dans un ensemble à la fois cohérent et dynamique, dont la règle pacta sunt servanda serait en quelque sorte le pivot“. 27 28
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schiede in den Ansätzen unterschiedlicher Normensysteme zu erkennen sind. Konzeptionelle Widersprüche müssen nicht zu Konflikten oder Divergenzen führen, tun dies aber regelmäßig. Bei Sozialstandards können formale Kriterien wie die Stellung der Normen im Gesamtsystem oder aber inhaltliche Kriterien wie die Ausrichtung am Arbeitnehmerschutz oder am Schutz benachteiligter Gruppen in der Gesellschaft eine je unterschiedliche Philosophie offenbaren. a) Hierarchisierung vs. Gleichbewertung von Sozialstandards Konzeptionelle Widersprüche können entstehen, wenn dem Schutz der verschiedenen Rechtsgüter ein unterschiedlicher Stellenwert eingeräumt wird. Die einzelnen Normierungen in den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen ebenso wie in der EMRK stehen grundsätzlich auf einer Ebene. Zwar ist ein Teil der garantierten Rechte im Ausnahmezustand derogierbar, während ein anderer Teil auch dann weiter gilt. Auch wird diskutiert, einen Teil der Rechte dem ius cogens zuzuordnen31. De iure ist aber dennoch keine Hierarchisierung im Rahmen der einzelnen Normierungssysteme erkennbar. Auch für das neue Fakultativprotokoll zum ICESCR, das ein individuelles Beschwerderecht vorsehen soll, werden – entgegen ursprünglich anderen Überlegungen32 – alle Rechte gleichberechtigt behandelt, ein Wahlrecht soll nicht eingeräumt werden33. Demgegenüber hat die IAO mit der „Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work“ aus dem Jahr 1998 eine Zweiteilung der Konventionen in „grundlegende Konventionen“ und „nicht-grundlegende Konventionen“ erreicht. Zu ersteren gehören nur die politischen Rechte, die Vereinigungsfreiheit, das Verbot der Zwangsarbeit, das Diskriminierungsverbot und das Verbot der Kinderarbeit, nicht aber die soziale Sicherheit. Die sozialrechtlichen Konventionen werden damit zu Konventionen zweiter Klasse degradiert, da ihnen ein geringerer Stellenwert im Gesamtsystem zukommt. Konkret bedeutet dies, dass die Ratifikation dieser Konventionen weniger gefördert wird und das mit der Deklaration eingeführte zusätzliche Berichtssystem nicht greift. Auch innerhalb der einzelnen Konventionen werden Hierarchien gebildet. So besteht, wie dargestellt, bei den sozialversicherungsrechtlichen Konventionen von IAO und Europarat sowie bei ESC / RESC nicht nur ein Wahlrecht im Hinblick auf die konkret abzudeckenden Risiken, sondern auch die einzelnen Normenkomplexe werden unterschiedlich gewichtet34. Diese verschiedenen Ansätze – Hierarchisierung vs. Gleichstellung – offenbaren ein unterschiedliches Verständnis von den Rechten, die geschützt werden sollen. 31 32 33 34
Vgl. dazu S. 416. Vgl. A / CONF.157 / PC / 62 / Add.5, Analytical Paper, Nos. 68 – 79. Vgl. dazu S. 349 f. Vgl. Art. 2 Konvention Nr. 102 der IAO, Art. 2 EOSS.
25 Nußberger
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Entweder wird eine Gesamtheit von Rechten als „internationaler Standard“ definiert. Jedes einzelne dieser Rechte wird für so bedeutungsvoll gehalten, dass die Negation eines Rechtes gewissermaßen die Negation aller bedeutet. Oder aber der internationale Standard wird als variable Größe verstanden, die aus unterschiedlichen Komponenten zusammengesetzt ist. Werden einzelne Rechte nicht garantiert, so wird der Schutz insgesamt dennoch nicht gefährdet. Diese Wertkonflikte müssen nicht zu unmittelbaren Entscheidungskonflikten bei der Normanwendung führen. Dennoch ist der Ausbildung und Akzeptanz allgemeiner internationaler Standards eine unterschiedliche Gewichtung nicht zuträglich. Wie ist es etwa zu werten, dass dem Recht auf soziale Sicherheit nach dem ICESCR die gleiche Stellung wie der Vereinigungsfreiheit zukommt, während letztere im Recht der IAO ein deutliches Übergewicht hat? Oder dass der Aufbau eines Schutzsystems bei Alter nach der Konvention Nr. 102 der IAO eine vorrangig zu lösende Aufgabe darstellt, nach dem ICESCR der Absicherung gegen alle Risiken aber die gleiche Bedeutung zukommt? b) Systembezogener vs. individuumsbezogener Regelungsansatz Nun ist es eine Sache, jedem Menschen – oder auch nur jedem Arbeitnehmer – ein Recht auf sozialen Schutz zu garantieren, ohne dies von besonderen Voraussetzungen abhängig zu machen. Der Menschenrechtsansatz bezieht jeden Einzelnen mit ein. So bestimmt Art. 9 ICESCR, dass die Vertragsstaaten das Recht eines jeden auf soziale Sicherheit anerkennen; dies schließe die Sozialversicherung mit ein. Universell ist auch der Schutz sozialer Rechte in der EMRK und im ICCPR: Gerade die positiven Entscheidungen in den Fällen D. v. Vereinigtes Königreich35 oder Ibrahima Gueye v. Frankreich36 zeigen, dass die Absicherung des Einzelnen der entscheidende Gradmesser ist. Etwas ganz anderes ist es, zu verlangen, dass in den Nationalstaaten gewissen Anforderungen genügende Systeme sozialer Sicherheit existieren müssen. Im ersteren Fall wird das Individuum in den Blick genommen; die Einhaltung der Standards wird am Einzelnen gemessen. Im letzteren Fall dagegen ist es nicht nur möglich, dass Einzelne durch die Maschen des Systems fallen, sondern dies wird bewusst in Kauf genommen, sei es, dass nur eine bestimmte Prozentzahl der Einwohner eines Landes oder der Arbeitnehmerschaft oder nur bestimmte Gruppen gesichert werden, sei es, dass bestimmte Gruppen – und dies sind meist die besonders Gefährdeten wie etwa die unständig Beschäftigten – explizit ausgenommen werden. Diese konzeptionellen Widersprüche sind nicht nur im Verhältnis der verschiedenen Systeme zueinander erkennbar, sondern treten auch innerhalb der einzelnen 35 36
Vgl. dazu S. 370 ff. Vgl. dazu S. 344 ff.
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Systeme auf. Beispielsweise lautet in der ESC der Programmsatz in Teil I „Alle Arbeitnehmer und ihre Angehörigen haben das Recht auf soziale Sicherheit“37. Art. 12 Abs. 2 ESC verweist dagegen auf die Konvention Nr. 102 der IAO, die sozialen Schutz immer nur für einen bestimmten Prozentsatz der Arbeitnehmer, der Erwerbstätigen oder der Einwohner bestimmt. Und selbst die revidierte Ordnung für soziale Sicherheit, die zum Teil fordert, dass 100 % aller Arbeitnehmer bzw. Einwohner erfasst sind, lässt Ausnahmen zu. c) Arbeitnehmerschutz vs. Schutz benachteiligter Gruppen der Gesellschaft Gleich, ob im Fokus der Normierung das jeweilige System sozialer Sicherheit oder das Individuum steht, ist weiter danach zu differenzieren, ob ein Schutz der Arbeitnehmerschaft bzw. des einzelnen Arbeitnehmers oder aber der Allgemeinheit und damit jedes Einzelnen intendiert wird. Die verschiedenen Ansätze sind in sich nicht vollkommen konsistent. Die IAO, die aufgrund ihrer triparitären Struktur grundsätzlich nur dafür geeignet ist, den Schutz der Arbeitnehmer zu bewirken, bezieht bei ihren sozialversicherungsrechtlichen Konventionen doch auch Schutzsysteme, die an den Wohnsitz anknüpfen, mit ein38. Die ESC stellt bei ihren Programmsätzen auf den sozialen Schutz der Arbeitnehmer ab, geht aber in Art. 13 ESC über diese Beschränkungen hinaus. Der Menschenrechtsansatz ist per definitionem nicht auf Arbeitnehmer beschränkt. d) Staatsangehörigkeit als Differenzierungskriterium vs. Verbot der Differenzierung aufgrund von Staatsangehörigkeit Wird in der ESC ebenso wie in der RESC bestimmt, dass die in der Charta garantierten Rechte grundsätzlich nur auf Staatsangehörige von Vertragsstaaten Anwendung finden39, so bedeutet dies, dass Staatsangehörigkeit als systemimmanentes Unterscheidungskriterium, geht es um die Gewährung sozialer Rechte, anerkannt wird. Dasselbe gilt für alle bilateralen und multilateralen Abkommen; auch hier werden begünstigte Vertragsstaatsangehörige und nicht begünstigte Drittstaatsangehörige voneinander abgegrenzt. Demgegenüber wird eine Differenzierung zwischen verschiedenen Personengruppen allein aufgrund der Staatsangehörigkeit in den Pakten, die bürgerliche und politische Rechte kodifizieren, in der EMRK, dem ICCPR und dem CERD, grundsätzlich ausgeschlossen, es sei denn, es gäbe dafür objektive und vernünftige Gründe40. Hervorhebung von der Verfasserin. Vgl. zu dieser Problematik v. Maydell, Internationale Arbeitsorganisation, S. 611 ff.; Hepple, Tripartism, S. 133, 135. 39 Vgl. den wortgleichen Anhang, der konstitutiver Bestandteil des ESC bzw. der RESC ist; vgl. dazu S. 148 f. 40 Vgl. dazu S. 149 f. 37 38
25*
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Beide Konzeptionen sind dann miteinander vereinbar, wenn Differenzierungen zwischen verschiedenen Staatsangehörigen auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Abkommens als grundsätzlich objektiv und vernünftig und damit nicht als diskriminierend angesehen werden41. Dies wäre allerdings ein sehr formal-rechtliches Vorgehen, das einem umfassenden Grundrechtsschutz nicht gerecht würde42. Prüft man aber die in den einzelnen völkerrechtlichen Verträgen vorgenommenen Differenzierungen materiell-rechtlich, so wird die Unvereinbarkeit dieser verschiedenen Ansätze evident. Vertragsvölkerrecht kann sich so als menschenrechtswidrig erweisen43. Dies lässt sich an den verschiedenen Sozialstandards deutlich zeigen. Ausländische Staatsangehörige werden nach den Normen des internationalen Sozialrechts grundsätzlich in soziale Sicherungssysteme eingeschlossen, da für Systeme sozialer Sicherheit der Anknüpfungspunkt der Ort der Beschäftigung bzw. der Wohnort ist, für Systeme sozialer Hilfe der Wohnort44. Das Kriterium der Staatsangehörigkeit spielt insoweit grundsätzlich keine Rolle. Der Grundsatz des Einschlusses ausländischer Staatsangehöriger in soziale Sicherungssysteme ist so nicht strittig, strittig sind die Ausnahmen45. Und auf die Frage, welche Ausnahmen zulässig sind, bleiben auch die multilateralen Verträge eine in sich konsistente Antwort schuldig46. Während die Sozialrechtsverträge dazu explizite Vorgaben enthalten – Ausnahmen sind möglich, wenn der Berechtigte seinen Wohnsitz im Ausland hat und die Finanzierung der Leistungen aus öffentlichen Geldern erfolgt und / oder von Reziprozität abhängig gemacht werden können – sind den Menschenrechtsverträgen keine expliziten Antworten zu entnehmen. Die Auslegungspraxis weist in verschiedene Richtungen. Die Reduktion oder Suspendierung von Leistungen an ausländische Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, wird etwa vom Ausschuss für Menschenrechte als unzulässig erachtet47, von der Europäischen 41 Vgl. als Beispiel einer in diesem Sinn eingeschränkten Gleichbehandlungsklausel Art. 18 European Convention on the Legal Status of Migrant Workers: „Each Contracting Party undertakes to grant within its territory, to migrant workers and members of their families, equality of treatment with its own nationals, in the matter of social security, subject to conditions required by national legislation and by bilateral or multilateral agreements already concluded or to be concluded between the Contracting Parties concerned“. 42 Vgl. die Argumentation in der Gaygusuz-Entscheidung (Gaygusuz . / . Österreich (1996), Reports 1996-IV, Nr. 14), nach der die Tatsache, dass zwischen Österreich und der Türkei kein besonderes Abkommen besteht und Türken aufgrund dessen anders behandelt werden als Staatsangehörige von Staaten, mit denen entsprechende Abkommen bestehen, als Rechtfertigungsgrund nicht akzeptiert wird. 43 Vgl. zu der Problematik, insbesondere auch der Vereinbarkeit des EU-Sozialrechts mit der Gaygusuz-Entscheidung, Hailbronner, Sozialrechtliche Gleichbehandlung, S. 397 ff. 44 Vgl. dazu Becker, Challenge, S. 1 ff. 45 Vgl. die Übersicht über die Ausnahmen in nationalen Sozialrechtssystemen bei von Maydell, General Report, S. 326 ff. 46 Nußberger, Challenge, S. 33 ff. 47 Gueye et al. v. France, Communication 6. 4. 1989 (No. 196 / 1985); vgl. dazu S. 344 ff.
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Menschenrechtskommission dagegen nicht beanstandet48. Auf Gegenseitigkeit bei der Gewährung von Leistungen abzustellen, erscheint nach dem menschenrechtlichen Ansatz – im Gegensatz zum sozialrechtlichen Ansatz – nicht möglich. Der Abschluss bilateraler Verträge wird nach den sozialrechtlichen Konventionen gefordert, widerspricht aber dem Menschenrechtsansatz, da damit typisierte Unterscheidungen zwischen den Staatsangehörigen einzelner Länder eingeführt werden. Wirtschaftliche Gründe rechtfertigen eine Unterscheidung zwischen Inländern und Ausländern nach dem menschenrechtlichen Ansatz nicht49, obwohl sie bilateralen Abkommen in der Regel zugrunde liegen und auch in der Resolution „Declaration on the Human Rights of Individuals Who are not Nationals of the Country in which They Live“ Ausdruck finden50. So ist es schwierig zu formulieren, was als „völkerrechtlicher Standard“ in Bezug auf die Stellung ausländischer Staatsangehöriger in nationalen Sozialversicherungssystemen anzusprechen ist: Ist etwa das Element der Reziprozität aufgrund des menschenrechtlichen Ansatzes zur Makulatur geworden, sind die Konventionen der IAO und des Europarats insofern veraltet? Oder aber sind sie als lex specialis noch immer beachtlich? Nach dem Günstigkeitsprinzip ist davon auszugehen, dass der menschenrechtliche Ansatz den sozialversicherungsrechtlichen Ansatz überlagert. Aber gilt dies auch, wenn nicht eine Rechtsnorm dem Betroffenen in weiterem Umfang Rechte zuerkennt, sondern dies nur auf einer innovativen Auslegung beruht? In welcher Weise kann der regionale Standard auf den universellen Standard Einfluss nehmen?
e) Progressive Verwirklichung vs. Garantie von Sozialstandards Ein weiterer konzeptioneller Unterschied zwischen den verschiedenen Sozialstandards ist an den kontroversen Argumentationen in den Entscheidungen Broeks und Zwaan de Vries abzulesen. Die niederländische Seite hält der Einbeziehung sozialer Rechtspositionen in das Diskriminierungsverbot des Art. 26 ICCPR entgegen, bei sozialen Rechten werde nur die progressive Verwirklichung garantiert, nicht aber zugesichert, der Status quo des nationalen Rechts erfülle bereits die Vorgaben. Die internationale Verpflichtung bedeute nur, einen bestimmten Weg einzuschlagen. Damit sei kein Verstoß zu monieren, habe ein Staat das Ziel noch nicht erreicht: „If article 26 of the International Covenant on Civil and Political Rights were deemed applicable to complaints concerning discriminatory elements in national legislation in the 48 X. . / . Deutschland (1976) DR 8, S. 70 ff. Die Kommission bezeichnet die Voraussetzung für Ausländer, den Wohnsitz im Inland zu haben, als „regulations concerning the modalities of the payment of pensions which are carried out in accordance with the exception expressed in the second paragraph of Art. 1 of Protocol No. 1“. 49 Gueye et al. v. France, Communication 6. 4. 1989 (No. 196 / 1985). 50 Vgl. dazu S. 153.
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field of those conventions, this could surely not be taken to mean that a State party would be required to have eliminated all possible discriminatory elements from its legislation in those fields at the time of ratification of the Covenant. Years of work are required in order to examine the whole complex of national legislation in search of discriminatory elements“51.
Der Ausschuss für Menschenrechte widerlegt die Argumentation der Niederlande und erklärt, das Verbot der Diskriminierung sei auch bei sozialen Rechten nicht nur nach und nach umzusetzen, sondern bei der Gewährung jeder einzelnen Sozialleistung beachtlich. Damit stehen Sozialstandards, die progressiv zu verwirklichen sind, Sozialstandards, die unmittelbar einzulösen sind, gegenüber. Nicht allgemein, sondern nur für jeden Einzelfall ist durch Auslegung zu ermitteln, wozu ein Staat konkret verpflichtet ist. Die Gleichordnung „soziale Rechte – Verpflichtung zum Tätigwerden“ und „Freiheitsrechte – Verpflichtung zu Rechtsgarantien“, wie sie in der Regel mit der unterschiedlichen Fassung von Art. 2 ICCPR und Art. 2 ICESCR begründet wird, ist in dieser Schwarz-Weiß-Zeichnung nicht haltbar. Dies wird deutlich, wenn man – wie mittlerweile allgemein anerkannt – die staatlichen Verpflichtungen bei der Verwirklichung der Menschenrechte in drei Ebenen analytisch getrennt betrachtet. Einerseits geht es um die Verpflichtung, Rechte zu achten („to respect“) und nicht in geschützte Rechtspositionen einzugreifen, andererseits darum, Maßnahmen zum Schutz der Rechte zu ergreifen („to protect“), und schließlich darum, die Voraussetzung für die Verwirklichung der Rechte zu schaffen („to fulfill“); als progressiv ist nur die dritte Ebene anzusprechen. Auch hier ziehen sich die konzeptionellen Widersprüche durch die verschiedenen Systeme. Im Einzelnen besteht Streit, welcher Ansatz mit einer Norm konkret verfolgt wird. Dies gilt etwa für Art. 12 Abs. 4 ESC: „With a view to ensuring the effective exercise of the right to social security, the Contracting Parties undertake: . . . to take steps, by the conclusion of appropriate bilateral and multilateral agreements, or by other means, and subject to the conditions laid down in such agreements, in order to ensure . . .“52.
Je nachdem, welches Element man in dieser Bestimmung hervorhebt, nämlich entweder die Verpflichtung, etwas zu gewährleisten, oder die Verpflichtung, Schritte zu unternehmen, kommt man zu einem unterschiedlichen interpretatorischen Ergebnis mit unterschiedlichen Konsequenzen für die Vertragsstaaten53.
51 52 53
Broeks v. the Netherlands, Communication 9. 4. 1987 (No. 172 / 1984), Punkt 8.3. Hervorhebung von der Verfasserin. Vgl. dazu S. 265 ff. zur Interpretation der Bestimmung durch den Sozialrechtsausschuss.
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f) Mindestsicherung vs. optimale Sicherung Werden Normen im Konsens festgelegt, spiegeln sie zwangsläufig Kompromisse wider. Keiner der am Entwurf Beteiligten kann sein Konzept in vollem Umfang durchsetzen. – Bei der Ausarbeitung der Sozialstandards im Völkerrecht sind zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzepte miteinander zum Ausgleich zu bringen. Möglich ist, optimale Standards zu definieren, Standards, die einem Verständnis von sozialer Gerechtigkeit in vollem Umfang gerecht werden, die damit aber auch nur von den Staaten ratifiziert werden können, die bereits ein fortschrittliches Sozialsystem entwickelt haben. Denkbar ist aber auch, mit Mindeststandards eine untere Grenze zu bestimmen, unter die kein Staat fallen darf. Diese Standards müssten konsequenterweise alle Staaten ratifizieren können. – Beide Konzepte werden in verschiedener Form mit den verschiedenen Sozialstandards verwirklicht. Minimalforderungen sind etwa in der Konvention Nr. 102 der IAO niedergelegt; der Menschenrechtsansatz dagegen ist maximalistisch („jeder Mensch hat ein Recht auf . . .“). Aber auch hier ist eine Zweiteilung ein zu grobes Raster. Denn gerade bei maximalistischen Ansätzen kann sich im Einzelnen erweisen, dass sie mit sehr viel Zurückhaltung ausgelegt werden, wie etwa die Spruchpraxis des Sozialrechtsausschusses zu Art. 12 Abs. 3 ESC, die nur in wenigen Ausnahmefällen Verstöße feststellt, zeigt54. Und auch ein Dokument wie die Revidierte Europäische Ordnung für Soziale Sicherheit, die ganz dem maximalistischen Ansatz verpflichtet ist, lässt zugleich in so weitem Umfang Wahlmöglichkeiten zu, dass letztlich die sehr weitgehenden Forderungen wieder zurückgenommen werden.
g) Diskriminierungsverbot vs. Schutzgebot Inhaltlich ist eine Kontroverse auszumachen zwischen dem Bemühen, Normen zu entwerfen, die dem Schutz von gesellschaftlich schwachen Gruppen wie Behinderten, Alten und Kindern dienen sollen, einerseits und dem Diskriminierungsverbot andererseits. Denn da Schutznormen oftmals nur dann wirksam sind, wenn sie als Verbote formuliert sind (z. B. das Verbot der Kinderarbeit, das Verbot für Wöchnerinnen zu arbeiten), können sie zugleich für die Betroffenen eine substantielle Einschränkung in ihrem Betätigungsfeld bedeuten. Insbesondere im Hinblick auf die Stellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt wurden Verbote nicht nur als kontraproduktiv, sondern auch als diskriminierend erkannt, eine Entwicklung, die übrigens bereits bei der Debatte über die Regelung der Nachtarbeit von Frauen in der Industrie am Protest der schwedischen Frauen im Jahr 190855 und in den 30er Jahren im Verfahren vor dem StIGH zur Auslegung der Konvention Nr. 4 der IAO zum Verbot der Nachtarbeit von Frauen56 erkennbar war. Bereits hier beklagten die Geschützten die negativen Auswirkungen des Schutzes. 54 55
Vgl. dazu S. 262 f.; S. 316 ff. Vgl. dazu S. 119 f.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
Die konzeptionellen Widersprüche in diesem Bereich können zu Normenkonflikten im Sinne von Jenks führen; sie bedeuten für die jeweiligen Vertragsstaaten Entscheidungsdilemmata. Eine salvatorische Klausel enthält etwa der CEDAW in Art. 4 Abs. 2: „Sondermaßnahmen der Vertragsstaaten – einschließlich der in diesem Übereinkommen genannten Maßnahmen – zum Schutz der Mutterschaft gelten nicht als Diskriminierung“.
Mit Ausnahme von Maßnahmen zum Schutz der Mutterschaft verstoßen somit potentiell dem Schutz der Frauen dienende Maßnahmen gegen das Diskriminierungsverbot. – Es steht zu erwarten, dass im Hinblick auf Alter, insbesondere auf eine als Schutzmaßnahme verstandene Zwangspensionierung, eine ähnliche Entwicklung einsetzen wird wie im Hinblick auf arbeitsrechtliche Zwangsschutzmaßnahmen für Frauen. Der unter der EMRK für unzulässig erklärte Fall Wanda Paruszewska v. Polen macht die Problematik deutlich57, der allgemeine Kommentar Nr. 6 des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte weist gleichermaßen bereits in diese Richtung58: Ein aufgezwungener Schutz alter Menschen stellt eine Diskriminierung dar59.
h) Kohärenzziel vs. Ziel eines konfliktfreien Nebeneinanders unterschiedlicher Systeme Schließlich bleibt noch ein konzeptioneller Unterschied zwischen den regionalen Standards des Europarats und den universellen Standards von IAO und Vereinten Nationen aufzuzeigen. In der Präambel der Satzung des Europarats ebenso wie in der EMRK, der ESC, der EOSS und dem EFA wird jeweils hervorgehoben, dass es das Ziel des Europarats sei, „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, um die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe sind, zu wahren und zu verwirklichen.“ Das bedeutet, dass die Standards nicht nur auf einer gemeinsamen Tradition beruhen, sondern auch die Kohärenz zwischen den Vertragsstaaten weiter fördern sollen. Nicht ein unverbindliches Nebeneinander verschiedener Rechtsordnungen, sondern eine auch auf das Recht gegründete „Wertegemeinschaft“ soll geschaffen werden. Dies gilt für die Vereinten Nationen und die IAO nicht, zumindest nicht in demselben Maß. Zwar soll ein allgemeines Konzept sozialer Gerechtigkeit verwirklicht werden, sollen die Sozialstandards dazu beitragen, wie es in der Präambel der IAO heißt, „einen dauerhaften Weltfrieden zu sichern“. Aber ein Aufeinander-zu-Bewegen der verschiedenen Rechtsordnungen wird nicht voraus56 PCIJ Series A / B No. 50, Series C No. 60 (1932): Interpretation of the Convention of 1919 Concerning the Employment of Women during the Night. 57 Vgl. dazu S. 373. 58 Vgl. dazu S. 242. 59 Vgl. Nußberger, Altersgrenzen, S. 524 ff.
II. Gründe für die Entstehung von Normenkollisionen
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gesetzt und nicht intendiert; es geht nicht um Zusammenschluss, sondern lediglich um Zusammenarbeit 60.
II. Gründe für die Entstehung von Normenkollisionen Defizit bei der Normsetzung auf internationaler Ebene ist, dass eine zentrale übergreifende Normsetzungsinstanz fehlt. Zwar sind, selbst wenn es eine solche gibt, Normenkollisionen nicht ausgeschlossen; allerdings verschärft sich das Problem, wenn voneinander unabhängige Institutionen ihre je eigenen Normen ausarbeiten. Jenks spricht in diesem Zusammenhang – analog zu „conflict of laws“ – von „conflict of law-making treaties“61. Dabei sind verschiedene Fallgruppen von Überschneidungen zu identifizieren.
1. Inhaltliche Dimension von Überschneidungen Sozialstandards werden in unterschiedlichen Kontexten normiert. Selbst wenn die in verschiedenen Verträgen behandelten Themen nicht identisch sind, so können sich doch Berührungspunkte ergeben. Dies trifft etwa zu bei Regelungen zum Problem „Flüchtlinge“ einerseits und zum Problem „soziale Fürsorge“ andererseits: Die Genfer Flüchtlingskonvention62 ebenso wie das Protokoll zur Europäischen Fürsorgekonvention63 haben einen völlig unterschiedlichen Regelungsansatz, treffen aber beide Regelungen zum sozialen Schutz von Flüchtlingen. – Inhaltliche Überschneidungen gibt es auch zwischen allgemeinen und speziellen Regeln, etwa dann, wenn besondere Personengruppen wie Seeleute bei allgemeinen Regeln nicht ausgenommen werden, zusätzlich aber auch noch Sonderregelungen für sie gelten. Auch können Verträge unterschiedlichen Zuschnitts für ein und dieselbe Personengruppe gelten. Prominentes Beispiel, das die deutsche Rechtsprechung nachhaltig beschäftigt, sind Flüchtlinge aus der Türkei, die in Deutschland um Asyl nachsuchen. Unterfallen sie ausschließlich der Genfer Flüchtlingskonvention in ihrer Eigenschaft als Flüchtlinge oder kommt gleichzeitig auch noch das Assoziationsabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zur Anwendung, da sie trotz ihrer Flüchtlingsstatus türkische Staatsangehörige sind64? – Auch können Vgl. Schwelb, Observations, S. 507 ff. Jenks, Law-Making Treaties, S. 403. 62 Vgl. Art. 23, 24 Genfer Flüchtlingskonvention. 63 Vgl. Protocol to the European Convention on Social and Medical Assistance (ETS No. 014 A). 64 Das Bundesverwaltungsgericht lehnt die Anwendung auf Flüchtlinge ab (BVerwG E 91, 327 ff.), der VGH Baden-Württemberg dagegen befürwortet sie (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 8. 2. 2001 VBl BW 2001, 407 ff.); vgl. dazu im Einzelnen Nußberger, Wirkungsweise, S. 43 ff. 60 61
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
Regelungen für den Fall des Krieges mit Regelungen für Friedenszeiten kollidieren, wenn letztere für den Fall des Krieges ganz oder teilweise weitergelten. Schließlich können auch verschiedene thematische Ansätze zu sich überschneidenden Regelungen führen, so etwa einerseits die Regelung der Arbeitsbedingungen, wenn diese die sozialrechtliche Absicherung über das Arbeitsverhältnis mit umfasst, und andererseits die Regelung der sozialen Sicherheit als solche. Die Regelung der Grundrechte überschneidet sich potentiell mit einer Vielzahl von anderen Themenkreisen. Dies gilt in besonderem Maße für die den „sozialen Rechten“ zugeordneten individuellen Ansprüche im arbeits- und sozialrechtlichen Bereich65.
2. Zeitliche Dimension von Überschneidungen In dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge sind allgemeine Regeln zur Anwendung zeitlich aufeinander folgender Verträge über denselben Gegenstand (Art. 30 WVK) und zur Beendigung oder Suspendierung eines Vertrags durch den Abschluss eines späteren Vertrags (Art. 59) enthalten66. Nach dem Lex-posterior-Grundsatz findet ein früherer Vertrag nur mehr insoweit Anwendung, als er mit einem späteren Vertrag vereinbar ist (Art. 30 Abs. 3 WVK). Dies gilt aber grundsätzlich nur, wenn die Verträge zwischen denselben Parteien und über denselben Gegenstand geschlossen worden sind. Und dies ist bei den hier interessierenden Überschneidungen im Bereich des internationalen Sozialrechts gerade die Ausnahme. In der Regel sind die Parteien der verschiedenen Verträge nur teilweise identisch, und auch die Vertragsgegenstände sind nicht deckungsgleich. Die Konventionen der IAO bieten hier ein reiches Anschauungsmaterial. Der Gegenstand der Sozialversicherungsabkommen der IAO wird in unterschiedlicher Weise abgegrenzt. Die Konventionen aus den 30er Jahren etwa befassen sich jeweils mit der Sicherung eines bestimmten Risikos, während Konvention Nr. 102 das Thema soziale Sicherheit umfassend abhandelt. Die Normen sind so parallel nebeneinander anwendbar. Die Konventionen aus den 60er Jahren, die wiederum den Ansatz der Konvention Nr. 102 weiterführen, ersetzen Konvention Nr. 102 zumindest teilweise, die Konventionen aus den 30er Jahren dagegen ersetzen sie vollständig67. An diesem Beispiel lässt sich auch zeigen, dass der Kreis der Vertragsstaaten stark variiert. Konvention Nr. 35 (Old-Age Insurance (Industry etc.) Convention) Vgl. dazu ausführlich Kapitel A. Vgl. dazu Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 786 ff.; Dowrick, Overlapping International and European Laws, S. 66 ff. 67 Vgl. im Einzelnen die Kollisionsregeln Art. 28, 29 Konvention Nr. 121, Art. 44, 45 Konvention Nr. 128, Art. 35, 36 Konvention Nr. 130. 65 66
II. Gründe für die Entstehung von Normenkollisionen
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von 1933 haben 10 Staaten ratifiziert. Davon haben fünf Staaten, nämlich Italien, Frankreich, Peru, Ecuador und das Vereinigte Königreich, Teil V (Alter) der Konvention Nr. 102 und ein Staat (Ecuador) auch noch Konvention Nr. 128 (Invalidity, Old-Age and Survivors‘ Benefits Convention) von 1967 ratifiziert. Von den 41 Vertragsstaaten der Konvention Nr. 102 haben außer Ecuador noch 14 Staaten68 Konvention Nr. 128 ratifiziert, mit der Folge, dass für sie Konvention Nr. 102 nur mehr teilweise gilt. In der Folge entsteht ein sehr kompliziertes Vertragsgeflecht. In den jeweiligen Beziehungen zueinander lassen sich fünf Ländergruppen unterscheiden: Länder, in deren Verhältnis zueinander ausschließlich Konvention Nr. 35 gilt, Länder, in deren Verhältnis zueinander Konvention Nr. 35 und Konvention Nr. 102 konkurrierend nebeneinander gelten, Länder, in deren Verhältnis zueinander ausschließlich Konvention Nr. 102 gilt, Länder, in deren Verhältnis zueinander ausschließlich Konvention Nr. 128 gilt, und Länder, in deren Verhältnis zueinander teilweise Konvention Nr. 128 und teilweise Konvention Nr. 102 gilt.
Dies ist nun in unterschiedlicher Weise bedeutungsvoll. Handelt es sich um Regelungen, die die Konstruktion des jeweiligen innerstaatlichen sozialen Schutzsystems betreffen, so entstehen Probleme nur für die Staaten, für die verschiedene Regeln nebeneinander anwendbar sind. Ein Beispiel möge die Festlegung der Altersgrenze sein. In Konvention Nr. 35 wird vorgesehen, sie dürfe für abhängig Beschäftigte nicht höher als auf 65 Jahre festgesetzt werden (Art. 4 Konvention Nr. 35). In Konvention Nr. 102 dagegen wird zugelassen, dass die Altersgrenze dann höher ist, wenn es die Arbeitsfähigkeit der älteren Menschen im Land zulässt (Art. 26 Konvention Nr. 102); es wird also keine starre Grenze fixiert. An welche Regel sind nun Staaten wie Italien und Frankreich gebunden, für die beide Konventionen nebeneinander gelten? In Art. 74 Konvention Nr. 102 wird lediglich festgelegt, dass Konvention Nr. 102 keine andere Konvention revidiere. Damit ist der Lex-posterior-Grundsatz – im Gegensatz zu Konvention Nr. 128 im Verhältnis zu Konvention Nr. 102 – nicht unmittelbar anwendbar. Allenfalls wäre zu überlegen, ob nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (Art. 30 Abs. 3 iVm Abs. 4 a) davon auszugehen wäre, dass der frühere Vertrag nur mehr insoweit Anwendung findet, als er mit dem späteren Vertrag vereinbar ist69. Aber diese Regel passt nicht, da es sich bei den beiden Konventionen gerade nicht um Regelungen „desselben Gegenstands“ handelt; nur die Einzelbestimmungen behandeln das68 Österreich, Bolivien, Barbados, Zypern, die Tschechische Republik, Deutschland, Libyen, die Niederlande, Norwegen, die Slowakei, Schweden, die Schweiz und Venezuela. 69 Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge ist ratione temporis grundsätzlich nicht anwendbar; allerdings könnten die darin enthaltenen Regelungen auch als allgemeines Völkerrecht zur Anwendung kommen.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
selbe Problem; eine analoge Anwendung in diesem Fall ist aber problematisch, da die jeweilige Norm im Gesamtkontext zu sehen ist. Möglich wäre auch, auf das allgemeine Günstigkeitsprinzip zurückzugreifen, das in Art. 19 Abs. 8 der Verfassung der IAO festgelegt ist70. Allerdings ist bei der Bestimmung der Altersgrenze in rigider bzw. flexibler Form nicht eindeutig zu klären, welche Regelung für die Arbeiter günstiger ist. Wie vor dem EGMR ausgetragene Einzelfälle zeigen, kann es für die Betroffenen von Vorteil sein, wenn sie länger arbeiten können71. Diese Rechtsproblematik betrifft nur Konflikte im nationalen Bereich auf der Grundlage nicht miteinander kompatibler Regelungen verschiedener internationaler Verträge. Daneben treten aber auch noch Probleme im bilateralen Verhältnis der jeweiligen Vertragspartner zueinander auf. Sowohl Konvention Nr. 35 als auch Konvention Nr. 102 enthalten Gleichbehandlungsklauseln, die aber im Einzelnen unterschiedlich sind. Nach Konvention Nr. 35 haben ausländische Staatsangehörige aus Vertragsstaaten ein Recht auf Rentenleistungen unter den gleichen Voraussetzungen wie die eigenen Staatsangehörigen; Ausnahmen werden lediglich für die an Wohnsitzzeiten zu stellenden Anforderungen vorgesehen. Die Gleichbehandlungsklausel nach Konvention Nr. 102 geht wesentlich weniger weit: Hier werden nur „non-national residents“ den „national residents“ gleichgestellt; Ausnahmen für öffentliche Leistungen werden zugelassen. Für Beitragsleistungen wird die Möglichkeit, die Leistungen von Reziprozität abhängig zu machen, explizit vorgesehen. Welche Klausel gilt nun im Verhältnis zwischen welchen Staaten? – Um ein konkretes Beispiel zu geben: Die Reduktion von Rentenzahlungen bei Wohnsitz im Ausland für ausländische Staatsangehörige72 stünde im Widerspruch zu Konvention Nr. 35, nicht aber zu Konvention Nr. 102. Gelten etwa für Vertragspartner beider Konventionen wie Peru und Frankreich – für die die Regeln der Verordnung 1408 / 71 nicht einschlägig sind – die restriktiveren oder die weniger restriktiven Regelungen? Hier kommt man, je nachdem, ob man das Günstigkeitsprinzip oder den Lex-posterior-Grundsatz anwendet, zu unterschiedlichen Ergebnissen. Denn das spätere Recht (Konvention Nr. 102) enthält die weniger günstige Regelung (nur eingeschränkte Geltung der Gleichstellungsklausel). Diese Probleme sind vor allem auf die Schwerfälligkeit der Abänderung multilateraler Verträge und die Relativität der Vertragsbeziehungen zurückzuführen. Während es im nationalen Recht einen Automatismus bei der Aufhebung alter Rechtsregeln bei Erlass neuen Rechts gibt, bleiben zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausgearbeitete Verträge im internationalen Bereich nebeneinander bestehen. Besonders im Bereich der sozialen Sicherung der Frau wirkt sich der Zeitfaktor auf die inhaltliche Ausgestaltung aus und führt zu Inkonsistenzen. Denn eine Vielzahl von Reformen in den nationalen Sozialrechtssystemen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist durch die grundlegende Änderung der Stellung der Frau in 70 71 72
Vgl. dazu S. 409 ff. Vgl. z. B. Paruszewska . / . Polen (Nr. 33770 / 96 v. 16. 4. 1998). Vgl. zu dieser Problematik BVerfG E 51, 1 ff.
II. Gründe für die Entstehung von Normenkollisionen
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der Gesellschaft bedingt. Motor der Sensibilisierung für offene und versteckte Diskriminierungen war insbesondere der EuGH mit seiner Rechtsprechung zur mittelbaren Diskriminierung auf der Grundlage von Art. 141 EGV. Die Menschenrechtsverträge waren aufgrund der generalklauselartigen Formulierungen an die gesellschaftliche Entwicklung anpassbar. Die Sozialrechtskonventionen, die etwa zur gleichen Zeit ausgearbeitet worden sind, bauen dagegen mit ihren sehr viel detaillierteren Vorschriften auf einem nicht mehr zeitgemäßen Verständnis von der Rolle der Frau auf. So stellt das IAA in seiner Analyse zum Stand der Bestimmungen zur sozialen Sicherheit selbstkritisch fest: „Most of the ILO social security instruments contain no provision forbidding discrimination on the basis of sex, having been adopted at a time when the prevailing opinion (often at variance with reality even then) was that men were the breadwinners and that women would normally stay at home to take care of the family“73.
Sowohl die Konventionen Nr. 102, 121, 128 und 130 der IAO als auch die EOSS enthalten explizit diskriminierende Bestimmungen. So wird eine Ehefrau als „Ehefrau, für deren Unterhalt der Ehemann sorgt“74, eine Witwe als „Frau, für deren Unterhalt der Ehemann zur Zeit seines Todes gesorgt hat“75 definiert; entsprechende Bestimmungen zu Ehemann und Witwer fehlen. Der leistungsberechtigte Personenkreis bei der Krankenversicherung etwa wird abgegrenzt als „Ehemann mit Frau und Kindern“76. Dementsprechend wird auch als typisierter Leistungsempfänger ein Ehemann mit Frau und zwei Kindern gesehen. Diesem Modell entspricht, dass nur Witwen-, aber keine Witwerrenten vorgesehen werden. Leistungen an Hinterbliebene können zudem versagt werden, wenn „eine Witwe mit einem Mann in eheähnlicher Gemeinschaft lebt“ (Art. 69 j Konvention Nr. 102), für Leistungen an kinderlose, arbeitsunfähige Witwen kann eine bestimmte Ehedauer zur Voraussetzung gemacht werden (Art. 63 Abs. 5 Konvention Nr. 102). Ansätze zur Kompensation der systembedingten Schlechterstellung von Frauen in den Sozialschutzsystemen – etwa des durch Kindererziehung bedingten Ausfalls von Versicherungszeiten – finden sich nicht. Diese Bestimmungen sind geltendes Recht; ein Verfahren zur „verfassungskonformen Auslegung“ gibt es nicht. Sie stehen in unübersehbarem Gegensatz zu dem modernen Sozialversicherungssystemen zugrunde liegenden Bild einer eigenständig abgesicherten Frau, das insbesondere in der Interpretation der Bestimmungen der Menschenrechtsverträge als Ziel staatlicher Sozialpolitik vorgegeben wird77. ILO, Social Security, S. 38. Vgl. Art. 1 Abs. 1 c Konvention Nr. 102, Art. 1 f Konvention Nr. 128, Art. 1 f Konvention Nr. 130; EOSS 75 Art. 1 Abs. 1 d Konvention Nr. 102, ebenso Art. 1 g Konvention Nr. 128. 76 Vgl. Art. 9 a Konvention Nr. 102 / EOSS. 77 Vgl. z. B. Forderung nach Unterstützungsmaßnahmen für Einelternfamilien (General Comment ICCPR; vgl. oben S. 306 ff.); Forderung einer Sicherung der Frau im Alter (General Comment ICESCR; vgl. oben S. 289 ff.). 73 74
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
Zu den sozialrechtlichen Konventionen gibt es – mit Ausnahme der noch nicht in Kraft getretenen revidierten EOSS – keine nicht-diskriminierenden Fassungen. Dennoch entstehen für die Vertragsstaaten, die an die veralteten Normen gebunden sind, im Bereich des Sozialrechts – im Gegensatz zum Arbeitsrecht78 – keine Normenkonflikte im Jenks’schen Sinn. Zwar bedeutet die – dem Wortlaut getreue – Befolgung der Normen einen Verstoß gegen das in den Menschenrechtsverträgen enthaltene Diskriminierungsverbot. Aber die Normen zwingen nicht zu diskriminierendem Handeln; sie lassen immer auch andere Handlungsalternativen zu.
3. Institutionelle Dimension von Überschneidungen Auch wenn in der UN-Familie mit den verschiedenen Sonderorganisationen die Tätigkeitsbereiche der verschiedenen Organisationen im Wesentlichen so abgegrenzt sind, dass sich keine Mehrfachzuständigkeiten ergeben79, so gibt es doch auch Fragen, die mehrere Organisationen unmittelbar angehen. Wie dargestellt, machen sich die verschiedenen internationalen Organisationen die Definition von Grundwerten – auch im sozialen Bereich – gleichermaßen zur Aufgabe, so dass hier Überschneidungen vorprogrammiert sind. Aber auch bei konkreten Einzelthemen wie der Sicherung der Rechte der Wanderarbeitnehmer betrachten sich mehrere internationale Organisationen gleichermaßen als zuständig80. 4. Räumliche Dimension von Überschneidungen Es gibt eine Vielzahl von Gründen, neben Standards auf der universellen Ebene auch Standards auf der regionalen Ebene auszuarbeiten. So lassen sich etwa einheitliche Voraussetzungen, insbesondere kultureller und wirtschaftlicher Art, in einem bestimmten Teil der Welt berücksichtigen und besondere Probleme, die nicht überall von gleicher Relevanz sind, besser angehen. Unter Umständen ist Reziprozität in weiterem Umfang gesichert, ergeben sich Möglichkeiten zu konzertierten Aktionen. Auch können höhere Standards durchgesetzt werden. Allerdings sind diese Vorteile gegen die Nachteile unterschiedlicher Standards abzuwägen – regionale Diskrepanzen werden dadurch in der Regel verstärkt und nicht abgebaut81. – Im Bereich des internationalen Sozialrechts sind Überschneidungen zwischen regionalen und universellen Regelungen besonders ausgeprägt, da es die meisten Normen, wie etwa ESC vs. ICESCR, Konvention Nr. 102 vs. EOSS, 78 79 80 81
Vgl. zum Verbot der Nachtarbeit und zum Verbot der Arbeit unter Tage S. 381. Vgl. Köhler, Aktivitäten, S. 236 ff., 286 ff. Vgl. zu den sich überschneidenden Rechtsakten Kapitel A. Vgl. dazu Jenks, Norm-Making Treaties, S. 412.
II. Gründe für die Entstehung von Normenkollisionen
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Konventionen Nr. 121, 128 und 130 der IAO vs. Protokoll zur EOSS, paarweise gibt. 5. Überlagerung verbindlicher und unverbindlicher Normen Die Geschichte der Entwicklung der internationalen Sozialstandards zeigt, dass oftmals unverbindliche Erklärungen abgegeben werden, mit denen ein zwischen den Staaten zu einer Frage bestehender Kompromiss ausgelotet wird; diese dienen als Wegbereiter, um zu einem späteren Zeitpunkt, darauf aufbauend, verbindliche Standards auszuarbeiten82. Widersprüche können dann auftreten, wenn die verbindlichen Normen neue Akzentsetzungen vornehmen oder auch inhaltlich divergieren83. Verbindliche und unverbindliche Normen können auch dann inhaltlich unterschiedliche Vorgaben machen, wenn ein neuer Vertrag als lex posterior eine frühere Regelung ablösen soll, aber noch nicht in Kraft getreten ist, da die erforderliche Zahl von Ratifikationen noch fehlt. Dieses „Recht auf Vorrat“ ist unverbindlichen Empfehlungen gleichzustellen, da auch hier ein Kompromiss fixiert, aber nicht als rechtsverbindlich anerkannt wird84. Das bedeutet, Überschneidungen sind strukturbedingt, Divergenzen und Konflikte unvermeidbar.
82 Dies gilt z. B. für die Ausarbeitung der speziellen Menschenrechtskonventionen, denen entsprechende Erklärungen vorangingen. 83 So ist etwa in der „Declaration on the Elimination of Discrimination against Women“ aus dem Jahr 1967 eine Privilegierung der Frauen im Hinblick auf das Rentenalter und die für die Rente erforderlichen Beitragsjahre enthalten, die im CEDAW aus dem Jahre 1979 nicht mehr auftaucht. Dagegen wird im CEDAW im Fall der Mutterschaft nicht nur der Erhalt des Arbeitsplatzes garantiert, sondern auch das Dienstalter (seniority) und die sozialen Zulagen. Die Entlassung bei Mutterschaft oder Heirat soll nach dem CEDAW nicht nur verhindert, sondern auch sanktioniert werden. Die Bereitstellung von Kinderbetreuungseinrichtungen wird für die Erfüllung der Elternpflichten und nicht nur für die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf für erforderlich gehalten. Diese Unterschiede sind im Wesentlichen im Hinblick auf den unterschiedlichen Zeitpunkt der Annahme der Konvention (1979) – bzw. der Deklaration (1967) – zu erklären. 84 Vgl. zum Problem McMahon, Legislative Techniques, S. 17; Evans, Workers‘ Rights and Human Rights, S. 7 ff.; Fried, Rechtsvereinheitlichung, S. 199 f.; Valticos, Droit du Travail, S. 128; Landy, Influence, S. 564 ff. Für die nicht-ratifizierten Übereinkommen der IAO ist die Besonderheit zu bedenken, dass auch bei diesen Übereinkommen die Pflicht besteht, dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamts in angemessenen, vom Verwaltungsrat festzusetzenden Zeitabständen über den Stand seiner Gesetzgebung und über seine Praxis bezüglich der Fragen zu berichten, die den Gegenstand des Übereinkommens bilden (Art. 19 Abs. 5 e IAO-Verfassung). Im Allgemeinen ist, soweit Abkommen unterzeichnet, aber nicht ratifiziert sind, Art. 18 WVK zu beachten.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
III. Probleme aufgrund von Normenkollisionen 1. Autoritätsverlust und Desintegration Normenkonflikte im Jenks’schen Sinn verursachen für Vertragsstaaten ein Dilemma: Sie werden gezwungen, befolgen sie die Regeln eines Vertrags, gegen die Regeln des anderen Vertrags zu verstoßen. Widersprüchliche Anweisungen machen Verhaltensregulierung unmöglich. Aber auch Divergenzen zwischen verschiedenen Normen bedeuten einen Autoritätsverlust. Statt Erwartungen zu stabilisieren85, werden Erwartungen zerstört. Normkonformes Verhalten bedeutet gerade keine Absicherung gegen Kritik. Implementiert ein Staat etwa alle in Konvention Nr. 102 enthaltenen Vorgaben ins nationale Recht, so ist er dennoch dem Vorwurf ausgesetzt, gegen geltendes Völkerrecht zu verstoßen, da die von der Konvention explizit zugelassene Ungleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich des Sozialschutzes das Diskriminierungsverbot verletzen würde. Andererseits können Staaten Kritik abwehren, wird eine nationale Regelung als Verstoß gegen einen Vertrag gerügt, bleibt aber, am Maßstab eines anderen Vertrags zwischen den gleichen Vertragspartnern gemessen, unbeanstandet. So argumentierten die Niederlande, als die Reform der Invaliditätsversicherung 1992 / 1993 auf der Grundlage der EOSS sowie des Protokolls angegriffen worden war, dies sei unbeachtlich, da auf der Grundlage der Konvention Nr. 128 der IAO kein Verstoß festgestellt worden sei. Die Ratifikation dieser Konvention habe bewirkt, dass die Vorschriften des Europarats nicht mehr zur Anwendung kämen. Das bedeutet, dass die Entstehung nicht nur von Normenkonflikten, sondern auch von Divergenzen den Regelungsauftrag konterkariert und so Autoritätsverlust und Desintegration bewirkt.
2. Kündigung von Abkommen Soweit Normenkonflikte bestehen, ist der einzige Ausweg, Abkommen zu kündigen. Beispiel dafür ist etwa die Kündigung des Übereinkommens Nr. 89 der IAO zur Nachtarbeit von Frauen durch Belgien, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, die Niederlande, Portugal und Spanien in der Folge der Entscheidung des EuGH Stoeckel, mit der klargestellt worden war, dass das Verbot der Nachtarbeit von Frauen einen Verstoß gegen das EG-Recht darstellt86. Die Bundesrepublik Deutschland kündigte das Übereinkommen Nr. 96 über Büros für entgeltliche
85 86
Vgl. zu dieser Funktion des Rechts Luhmann, Rechtssoziologie; ausführlich S. 441 f. Entscheidung vom 25. 7. 1991 – Rs. C-345 / 89, EuGRZ 1991, S. 421 ff. (Stoeckel).
III. Probleme aufgrund von Normenkollisionen
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Arbeitsvermittlung, nachdem mit der Entscheidung Höfer87 gleichermaßen die Inkompatibilität von EG- und IAO-Recht evident geworden war. Schwierigkeiten können entstehen, wenn ein Staat ein Abkommen kündigt, in einem anderen Abkommen sich aber eine Klausel findet, die im Wesentlichen inhaltsgleich mit den Vorschriften ist, die auch in dem gekündigten Abkommen enthalten waren. So hatte etwa Irland das Übereinkommen Nr. 45 der IAO (Underground Work (Women) Convention) 1988 gekündigt. Art. 8 Abs. 4 (b) ESC – das grundsätzliche Verbot der Untertagearbeit für Frauen – war aber weiterhin in Kraft. Der Sozialrechtsausschuss bestand auf Informationen aus Irland über die Folgen der Kündigung des Abkommens und weigerte sich, eine positive „Conclusion“ zu dieser Frage zu erlassen88. 3. Belastung mit Berichtspflichten Das Problem der Mehrfachregulierung, gleich ob die Regelungen widersprüchlich sind oder nicht, hat aber auch eine praktische Seite, da die Regierungen der jeweiligen Vertragsstaaten mit einer Vielzahl von Berichtspflichten belastet werden, die zu Irritationen bei den Staaten führen und die Effizienz des internationalen Normsystems nicht steigern89. Die Staaten sind verpflichtet, konkret auf die im Rahmen des jeweiligen Überwachungssystems gestellten Fragen zu antworten, so dass getrennte und eigenständige Berichte erforderlich sind. Da dies in der Regel nicht zu leisten ist, werden die Berichte zumeist nur mit großen zeitlichen Verzögerungen eingereicht und gehen auch oftmals nicht genau auf die Anfragen ein. Die Sachverständigenkomitees versuchen, bestehende Lücken zum Teil mit Informationen zu schließen, die sich in Staatenberichten finden, die im Rahmen anderer Kontrollsysteme erstellt worden sind – beispielsweise greift der Sachverständigenausschuss der IAO vergleichsweise häufig auf Angaben in Berichten zum ICESCR zurück. Dass hier Reformen notwendig sind, ist evident90. Gefordert wird eine Koordination innerhalb der einzelnen Systeme, so etwa im Rahmen der verschiedenen Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen91 oder innerhalb der Sozial- und Menschenrechtsverträge des Europarats92. Notwendig ist aber auch eine KoorEntscheidung vom 23. 4. 1991 – Rs. C-41 / 90, EuGRZ 1991, S. 162 ff. (Höfer). Vgl. Conclusions XIII-1, S. 182 f. 89 Vgl. von Maydell, Internationale Arbeitsorganisation, S. 611: „Gegenwärtig findet die Parallelität der Arbeit, etwa auf dem Gebiet der Normsetzung und der Normüberwachung oder auch der technischen Kooperation, zu einer suboptimalen Zersplitterung der Ressourcen und zu manchen Irritationen bei den Staaten und sonstigen Betroffenen, für die ein solches Nebeneinander häufig nicht einsichtig zu machen ist“. 90 Vgl. die Beschreibung der praktischen Probleme in den Beiträgen von Klein, Simma, Wolfrum und Schöpp-Schilling in: Klein, Monitoring System, S. 17 ff. 91 Vgl. Klein, Cohesive Human Rights Treaty System, S. 89 ff. 92 Vgl. Council of Europe, Conclusions, XIII-4, S. 35 ff. (Social Protection), S. 39: „More generally, the Committee is convinced of the importance of co-ordination in applying these 87 88
26 Nußberger
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
dinierung zwischen den Normensystemen der verschiedenen internationalen Organisationen. 4. Entscheidungsdisharmonie und Forum Shopping Wird ein strittiger Fall vor mehreren internationalen Instanzen entschieden, so ist dies eine fragwürdige Verwendung von Ressourcen; ein bekanntes Beispiel sind etwa die sogenannten Berufsverbote im deutschen Recht und der Fall Vogt. Dazu hatten zwei Beschwerde- und ein Klageverfahren auf der Grundlage von Konvention Nr. 111 der IAO stattgefunden, der Sozialrechtsausschuss, der Ausschuss für Menschenrechte und der Sachverständigenausschuss der IAO hatten sich damit befasst und schließlich der EGMR dazu eine Entscheidung mit 11 gegen 10 Stimmen erlassen. Nun mag bei besonders eklatanten Verstößen gegen internationales Recht eine mehrfache Verurteilung eines bestimmten Verhaltens eines Staates ein geeignetes Druckmittel sein. Aber wirksam ist dies nur, wenn die Einzelentscheidungen kohärent sind. Entscheidungsdisharmonie ist kontraproduktiv93. Nun finden sich im internationalen Sozialrecht Beispiele für verschiedene Formen von Entscheidungsdisharmonie: Einzelfälle, die von verschiedenen internationalen Instanzen unterschiedlich beurteilt werden, aber auch Entscheidungen, die in anderem Kontext von anderen internationalen Instanzen gefundene Ergebnisse nicht bestehen lassen. Der Fall Pauger v. Österreich wird der Europäischen Kommission für Menschenrechte und dem EGMR vorgelegt; außerdem entscheidet darüber auch der Ausschuss für Menschenrechte. Es geht um die potentielle Diskriminierung von Männern aufgrund der Berechnung von Witwerrenten, in einem ersten Verfahren um die Berechnung der Rente selbst, in einem zweiten Verfahren um die Berechnung einer Abschlagszahlung bei Wiederverheiratung aufgrund einer Übergangsbestimmung94. Der Beschwerdeführer reicht 1990 eine Beschwerde bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte ein95, mit der er eine Verletzung von Art. 6 EMRK geltend macht. 1995 erklärt die Kommission diese Beschwerde für zulässig, verneint aber mit einer Mehrheit von 17 gegen 11 Stimmen einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK96. Auch der EGMR erkennt in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1997 keinen Verstoß gegen Art. 6 EMRK an97. two treaties [European Social Charter and European Code of Social Security], which aim to guarantee a basic human rights: the right to social security“. 93 Vgl. dazu Shany, Competing Jurisdictions, S. 11, die betont, dass derartige Kompetenzkonflikte dazu führen, dass die Vorhersagbarkeit, die Effektivität und die Glaubwürdigkeit des internationalen Rechts insgesamt eingeschränkt wird. 94 Vgl. dazu S. 356. 95 Application Nr. 16717 / 90. 96 Reports of Judgments and Decisions 1997 III.
III. Probleme aufgrund von Normenkollisionen
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Anders die Entscheidung nach dem ICCPR. Der Ausschuss für Menschenrechte erklärt 1992, dass die Beschwerde aus dem Jahr 199098 Erfolg habe, da ein Verstoß gegen Art. 26 ICCPR vorliege. Nun ist dieser Unterschied im Ergebnis – kein Verstoß gegen Art. 6 EMRK, Verstoß gegen Art. 26 ICESCR – damit zu erklären, dass der ICCPR ein allgemeines Diskriminierungsverbot enthält und auf dieser Grundlage jede Form von Verstößen gegen das Gleichbehandlungsgebot im Bereich sozialer Rechte geltend gemacht werden kann, der EGMR aber immer einen Umweg, in der Regel über Art. 6 EMRK oder Art. 1 des 1. ZP, gehen muss99. Das bedeutet, dass der Ausschuss für Menschenrechte sich unmittelbar mit der Diskriminierungsproblematik befassen kann, während der EGMR die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren untersuchen muss, um Art. 14 EMRK zur Anwendung bringen zu können. Die unterschiedlichen Ergebnisse sind damit nicht eigentlich überraschend. Dennoch ist es misslich, dass verschiedene Instanzen auf internationaler Ebene mit einem Fall betraut werden und im Ergebnis die Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs zugleich in Übereinstimmung und im Widerspruch zu Normen internationalen Ursprungs steht. Der Fall Pauger macht aber noch in anderer Hinsicht Rechtsgeschichte. Denn nach Abschluss dieser ersten beiden Parallelverfahren finden nochmals zwei Verfahren auf internationaler Ebene statt, diesmal nicht mehr zu der Frage der Berechnung der Witwerrente, sondern der Berechnung der Abschlagszahlung bei Wiederverheiratung. In diesem zweiten Verfahren argumentiert die Europäische Kommission für Menschenrechte, es handele sich um den im Wesentlichen gleichen Gegenstand wie bei dem voraufgegangenen Verfahren vor dem Ausschuss für Menschenrechte, und erklärt die Beschwerde so für unzulässig nach Art. 27 Abs. 1 b EMRK100. Der Ausschuss für Menschenrechte, der nun seinerseits noch einmal mit dem Fall befasst wird, entscheidet in der Sache und bejaht auch hier einen Verstoß gegen Art. 26 ICCPR: „The Committee upholds its views concerning communication No. 415 / 1990, that these reduced pension benefits for widowers are discriminatory on the ground of sex. Consequently, the reduced lump-sum payment received by the author is likewise in violation of article 26 of the Covenant, since the author is denied a full payment on equal footing with widows“101.
Das bedeutet, dass auch hier ein Dissens zwischen den beiden Entscheidungssystemen besteht: Der Ausschuss für Menschenrechte hält eine erneute EntscheiZu der Argumentation im Einzelnen vgl. S. 356 ff. Pauger (1) v. Austria, Communication 30. 3. 1992 (No. 415 / 1990). 99 Vgl. dazu S. 351 ff. 100 Pauger . / . Österreich (1996), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs Reports 1997-III, Nr. 38. 101 Pauger (2) v. Austria, Communication 30. 4. 1999 (No. 716 / 1996). 97 98
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
dung in der Sache für erforderlich, die Europäische Menschenrechtskommission betrachtet die Angelegenheit als bereits entschieden. Die natürliche Folge derartiger unterschiedlicher Entscheidungen ist Forum Shopping – eine Erscheinung, die im Allgemeinen als Folge der Entscheidungsdivergenz zwischen nationalen Gerichten, die auf der Grundlage verschiedener Rechtssysteme operieren, zu beobachten ist. Einzelentscheidungen, selbst wenn ihnen nicht derselbe Fall zugrunde liegt, können auch Diskrepanzen zwischen verschiedenen normativen Ansätzen sichtbar machen. Ein Beispiel wäre der Fall Vos v. Niederlande102, in dem der Ausschuss für Menschenrechte einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot in einer Fallkonstellation bejaht, die der EuGH für im Einklang mit dem Recht der EG erachtet. Im Grunde stoßen hier das Konzept einer progressiven Verwirklichung der Grundrechte und die Durchsetzung des Gleichbehandlungsgebots aneinander103. Der Fall Wessels-Bergervoet v. die Niederlande104 offenbart nicht einen Widerspruch zwischen Gemeinschaftsrecht und internationalem Recht, wohl aber ein Problem, das gewissermaßen zwischen den verschiedenen Rechtssystemen liegt. Der EGMR hat über den Rentenanspruch einer über ihren Mann versicherten Frau zu entscheiden, der dadurch gemindert wird, dass der Mann eine Zeitlang im Ausland gearbeitet hat, diese Zeit aber rentenversicherungsrechtlich nur dem Mann, nicht aber der Frau angerechnet wird. Die Richtlinie 79 / 7 / EWG ist nicht anwendbar, da die Frau nicht zu der in Art. 2 der Richtlinie näher bestimmten Erwerbsbevölkerung gehört. Der EGMR sieht hier einen Verstoß gegen Art. 1 des 1. ZP iVm Art. 14 EMRK. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, über die EMRK eine Lücke zu schließen, die das EG-Recht offen lässt.
Vgl. dazu S. 343. „In this context, the Committee notes that the courts in the Netherlands, following the opinion by the European Court of Justice, have limited a remedy for the discrimination to those persons who filed their claim before 17 May 1990, in accordance with the law of the European communities. The Committee observes that what is at issue in the instant communication under the Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights is not the progressive implementation of the principle of equality between men and women with regard to pay and social security, but whether or not the application to the author of the relevant legislation was in compliance with article 26 of the Covenant. The pension paid to the author as a married male former civil servant whose pension accrued before 1985 is lower than the pension paid to a married female former civil servant whose pension accrued at the same date. In the Committee’s view this amounts to a violation of article 26 of the Covenant“ (Vos v. the Netherlands, Communication 29. 7. 1999 (No. 786 / 1997), Punkt 7). 104 Wessels-Bergervoet . / . die Niederlande (Nr. 34462 / 97 v. 4. 6. 2002). 102 103
IV. Ansätze zur Lösung der Probleme
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IV. Ansätze zur Lösung der bei Mehrfachregulierung entstehenden Probleme Nun ist es evident, dass die aufgrund von Mehrfachregulierungen entstehenden Probleme einer Lösung bedürfen, und zwar zum einen auf materiell-rechtlicher Ebene, zum anderen aber auch auf prozeduraler Ebene. Es gilt, Divergenzen und Konflikte zwischen Normen internationalen Ursprungs nicht entstehen zu lassen bzw., wenn sie entstanden sind, zu lösen sowie auch die parallele Zuständigkeit verschiedener internationaler Instanzen in ein- und derselben Sache zu vermeiden, da ineffiziente Parallelverfahren ebenso wie Entscheidungsdisharmonie die Autorität der Entscheidungsinstanzen gefährden können. Mechanismen zur Lösung dieser Probleme sind auf der Ebene des Völkerrechts in rudimentärer Form vorhanden; auch auf der Ebene der jeweiligen nationalen Rechtssysteme bieten sich im Ansatz entsprechende Möglichkeiten. Die Entstehung von Normenkonflikten kann bei der Ausarbeitung von Verträgen auf verschiedene Weise verhindert werden: Entweder man vermeidet Mehrfachregulierungen, oder aber man nimmt in die Verträge Klauseln auf, die potentiell auftauchende Normenkonflikte lösen. Hier können zwei verschiedene Hebel angesetzt werden. Möglich ist es, einen Anwendungsvorrang festzulegen und zu bestimmen, welcher Vertrag im Konfliktfall zur Anwendung kommt; möglich ist aber auch, die Interpretation zu harmonisieren und vorzugeben, wie ein Vertrag ausgelegt bzw. nicht ausgelegt werden darf, sollen Widersprüche vermieden werden. 1. Abstimmung bei der Abfassung der Verträge105 „The best technique for conflict avoidance, however, is . . . mutual legislative restraint leading either to abstention from legislating anew on a subject already regulated by an existing instrument, or to the formulation of norms which are parallel, similar, and complementary to existing provisions“106.
Diese sehr weit gehende Forderung von Meron wird in der Praxis nicht erfüllt. Lediglich in einzelnen Ansätzen ist, soweit sich die Aufgabengebiete der verschiedenen internationalen Organisationen überschneiden und Normen in diesen Schnittbereichen ausgearbeitet werden sollen, ein kooperatives Vorgehen zu beobachten. Die IAO hat bei der Ausarbeitung von Standards, die ihre Grundthemen, Arbeits- und Sozialrecht, betreffen, zum Teil mitgewirkt, zum Teil ist sie aber mit ihren Versuchen der Abgrenzung auch nicht durchgedrungen.
105 Vgl. dazu auch Valticos, Droit International du Travail, S. 175 ff.; Jenks, Law-Making Treaties, S. 429 ff., Sciotti, Concurrence des traités, S. 40 ff. 106 Meron, Law-Making, S. 203.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
Ein Beispiel für ein gemeinsames Vorgehen wäre die Zusammenarbeit von IAO und Europarat bei der Ausarbeitung der ESC107 oder die Absprache zwischen IAO und WHO bei der Aufstellung einer Liste von Berufskrankheiten108. Bei der Ausarbeitung des sich vielfach mit Normen der IAO überschneidenden CRC109 hat die IAO der Menschenrechtskommission eine Reihe von Kommentaren zugeleitet, um eine Abstimmung insbesondere mit Konvention Nr. 178 (Minimum Age Convention) zu erreichen110. Auch der CEDAW greift in den Regelungsbereich der IAO über111. Der im Entwurf enthaltene Art. 16 Abs. 2 regelt potentielle Normenkonflikte mit anderen internationalen Normen. Er lautet: „Similarly, nothing in this convention should affect existing conventions adopted under the auspices of the United Nations or its specialized agencies and having as their object the regulation of various aspects of the status of women if they provide for more extensive rights for women“112.
Aus der Sicht der IAO ist das Problem, dass nach dieser Formulierung der neue Pakt bereits bestehende Normen der UN oder ihrer Spezialorganisationen verdrängt, es sei denn, sie würden den Frauen weiterreichende Rechte einräumen. Dabei sei der Begriff „weiterreichende Rechte“ vage – er könnte detaillierter ausgestaltete Rechte oder weitergehende Begünstigungen bezeichnen, wobei offen sei, aus welcher Perspektive dies beurteilt werden müsse. Nach dem Vorschlag der IAO hätte der Zusatz „if they provide for more extensive rights for women“ gestrichen werden sollen. Dem wurde allerdings nicht entsprochen. Die sich daraus ergebenden Normenkonflikte – etwa zwischen Konvention Nr. 89 (Night Work (Women)) (revised)) oder Konvention Nr. 45 (Underground Work (Women)) einerseits und dem CEDAW andererseits – sind offensichtlich113. Im Übrigen wird die Kompatibilität neuer Regelungen mit bestehenden Normensystemen in Form von Gutachten und Analysen geprüft114. Soweit die Ansätze 107 Vg. ILO, European Social Charter and International Labour Standards, S. 354 ff., S. 462 ff. 108 Vgl. Valticos, Droit International du Travail, S. 378. 109 Der CRC überschneidet sich vor allem mit Konventionen Nr. 5, 6, 10, 33, 59, 60, 79, 90, 100, 111, 123, 138 und 182. 110 Vgl. UN Doc. E / CN.4 / 1984 / WG.1 / WP.1 (1983). 111 Der CEDAW überschneidet sich vor allem mit Konventionen Nr. 3, 4, 41, 45, 89, 103, 156, 171, 183. 112 UN Doc. E / 5938 (1977). 113 Vgl. auch Meron, Law-Making, S. 207 ff. 114 Vgl. z. B. zur Vereinbarkeit von EMRK und ICCPR: Report of the Committee of Experts on Problems Arising from the Coexistence of the United Nations Covenants on Human Rights and the European Convention on Human Rights: Differences as Regards the Rights Guaranteed, Council of Europe Doc. H. (70) 7 (1970); zur Vereinbarkeit der Konventionen der IAO mit dem CRC: UN Doc. E / CN.4 / 1984 / WG.1 / WP.1 (1983); zur Vereinbarkeit der
IV. Ansätze zur Lösung der Probleme
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aber weit divergieren – wie insbesondere der Schutz bürgerlicher und politischer Rechte einerseits und die Festlegungen in speziellen Sozialrechtskonventionen andererseits – werden entsprechende Studien nicht in Angriff genommen; Überschneidungen sind bei der Ausarbeitung dieser Verträge nicht erkennbar115. Konträr zu der von Meron geforderten Zurückhaltung bei der Ausarbeitung von Normen, die bereits vorhandene Normen duplizieren, ist die Überlegung, dann, wenn sich Normen nicht in vollem Umfang entsprechen, sie entsprechend zu ergänzen. Dies gilt im Verhältnis von EMRK und ICCPR. Eine Reihe der zusätzlich im ICCPR enthaltenen Rechte wurden in das System der EMRK über das 7. Zusatzprotokoll aufgenommen. Auf diese Weise werden Widersprüche im Schutzumfang der verschiedenen Systeme vermindert, zugleich aber die Zahl der Mehrfachnormierungen erhöht116.
2. Aufnahme von Kollisionsregeln in Sachverträge Ist eine internationale Instanz zur Kontrolle nationalen Rechts am Maßstab internationalen Rechts aufgerufen, so hat sie nur die Normen anzuwenden, die dem System angehören, in dessen Rahmen sie agiert: der EGMR die EMRK, der Ausschuss für Menschenrechte den ICCPR, das Sachverständigenkomittee der IAO die Konventionen und Empfehlungen der IAO usw. Nicht dagegen ist gefordert, aus der Vogelperspektive, auf der Grundlage einer Zusammenschau aller verschiedenen, eine bestimmte Frage betreffenden Normen internationalen Ursprungs eine Sachfrage zu entscheiden. Damit rücken potentielle Normenkonflikte grundsätzlich nicht in den Gesichtskreis der Entscheidungsträger. Eine systematische Auseinandersetzung mit Widersprüchen findet nicht statt. Damit ist auch eine Harmonisierung der Sozialstandards auf der internationalen Ebene nicht zu erwarten117. Treten Konflikte zwischen den Normen zu Tage, insbesondere wenn die Vertragsstaaten geltend machen, durch andere Normen in anderer Weise gebunden zu sein, so lässt sich zur Klärung dieser Widersprüche nicht nur auf die in den Verträgen selbst enthaltenen Konfliktregeln, sondern auch auf allgemeine Prinzipien zurückgreifen. allgemeinen Menschenrechtspakte mit dem CEDAW: UN Doc. E / 5938 (1977); vgl. allgemein: Report of the Ad Hoc Inter-Agency Meeting of Legal Experts on Co-ordination of Legislative Work of Organisations, UN Doc. Co-ordination / (R.1003 (1973)). 115 Vgl. auch die Analyse zur Vereinbarkeit von EMRK und ICCPR (FN 406), in der die potentielle Überschneidung von Art. 26 ICCPR und Art. 14 EMRK im Bereich der sozialen Rechte nicht problematisiert wird. 116 Vgl. Sciotti, Concurrence des traités, S. 41. 117 Kritisch dazu Meron, Law-Making, S. 212: „In addition, means should be found to permit judicial or other supervisory organs to take into account a spectrum of human rights broader than those stated in their constitutive expertise“.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
a) Regelungen zur Kompatibilität verschiedener Systeme Das Gefüge der regionalen und universellen ebenso wie der spezialisierten und allgemeinen Organisationen ist als komplementär, nicht als kontradiktorisch konzipiert. Dies wird, wie etwa im Hinblick auf das Verhältnis Europarat – Vereinte Nationen118 ebenso wie im Verhältnis Vereinte Nationen – Sonderorganisationen119, auch normativ festgehalten; die einzelnen Pakte greifen die Grundregel auf120. Aus diesen Bestimmungen lässt sich der allgemeine Grundsatz ableiten, dass dann, wenn die im Rahmen der verschiedenen Organisationen ausgearbeiteten Normen inhaltlich divergieren, grundsätzlich diejenige Auslegung zu wählen ist, die nicht zu einem Widerspruch mit einer anderen Norm führt. Da es allerdings für die Entscheidungsinstanzen keinen Zwang zur Abstimmung der Auslegungen einzelner Normen gibt und insofern auch kein institutionalisiertes Verfahren wie etwa das Vorlageverfahren nach Art. 234 EGV besteht121, kann die allgemeine Regel zur Lösung der konkreten Normenkonflikte wenig beitragen.
b) Ansätze zu einer einheitlichen Begriffsbildung Einen Beitrag zur Systemkohärenz leistet auch die Verwendung von einheitlichen Begriffen, sei es innerhalb der von den jeweiligen internationalen Organisationen geschaffenen Normensysteme („intrasystemisch“), sei es auch zwischen verschiedenen Systemen („intersystemisch“). Werden identische oder nahezu identische Definitionen in verschiedenen Konventionen verwendet, so ist dies noch kein Beweis für eine systemeinheitliche Begriffsbildung; eine unterschiedliche Auslegung identischer Begriffe ist nicht ausgeschlossen. Beispielsweise wurde der Begriff „civil rights“ in Art. 14 ICCPR und in Art. 6 EMRK unterschiedlich verstanden; in Art. 14 ICCPR wurden auch die Ansprüche von Beamten einbezogen, während diese in Art. 6 EMRK ursprünglich ausgeschlossen wurden122.
118 Vgl. Art. 1 c der Satzung des Europarats: „Die Beteiligung der Mitglieder an den Arbeiten des Europarats darf ihre Mitwirkung am Werk der Vereinten Nationen und der anderen internationalen Organisationen und Vereinigungen, denen sie angehören, nicht beeinträchtigen“. 119 Vgl. Art. 57, 63 UN-Charta. 120 Vgl. Art. 46 ICCPR, Art. 24 ICESCR, Art. 80 MWC. 121 Sciotti, Concurrence des traités, S. 45, sieht ein derartiges, beim EGMR eingerichtetes Verfahren zur Harmonisierung der verschiedenen Normen im Menschenrechtsbereich als sinnvoll an. Danach müssten die Staaten vor Abschluss eines neuen Vertrags den EGMR zur Frage der Kompatibilität der Regelungen befragen. Allerdings werden damit in der Regel nur offene, nicht versteckte Normenkonflikte erfasst. 122 Vgl. den Fall Casanovas v. France, Communication 10. 8. 1994 (No. 441 / 1990). Mittlerweile wurde aber die Auslegung von Art. 6 EMRK erweitert (vgl. Lombardo . / . Italien (1992), Serie A Nr. 249-C), dazu S. 351 ff.
IV. Ansätze zur Lösung der Probleme
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Anders ist es bei dynamischen Verweisungen. Ein Schutz des bereits erreichten Status quo wird mit Regelungen wie Art. 8 Abs. 3 ICESCR intendiert, indem explizit festgelegt wird, dass die „Garantien der entsprechenden IAO-Übereinkommen“ nicht beeinträchtigt werden dürfen, d. h., dass auch die Auslegung des jeweils anderen Paktes mit zu berücksichtigen ist. Derartige dynamische Verweise sind dann von besonderer Wichtigkeit, wenn – wie dies gerade für die von Art. 8 ICESCR geschützte Vereinigungsfreiheit in hohem Maße gilt – die entsprechenden Bestimmungen im Wege der Auslegung ausdifferenziert und weiterentwickelt worden sind und diese Entwicklungen nicht abgeschnitten werden sollen. Verweise auf andere Normensysteme können auch implizit sein: So bezieht sich Art. 9 ICESCR zwar nicht ausdrücklich auf die Regelungen der Konventionen Nr. 102. Dennoch werden die verschiedenen in Konvention Nr. 102 enthaltenen Schutzbereiche auch in den Berichtsrichtlinien zu Art. 9 ICESCR wiedergegeben123, so dass deutlich wird, dass zwischen diesen Bestimmungen eine enge Verbindung hergestellt werden soll124.
c) Normierung des Günstigkeitsprinzips Bei widersprüchlichen sozialrechtlichen Regelungen ist für die Lösung von Konflikten in erster Linie das Günstigkeitsprinzip heranzuziehen, das im internationalen Arbeits- und Sozialrecht allgemein anerkannt125, in der Verfassung der IAO explizit normiert ist126 und gleichermaßen im Bereich der Grundrechte gilt. Danach dürfen die Bestimmungen in einem Vertrag nicht so ausgelegt werden, als würden sie die Rechte, die dem Einzelnen in einem anderen Vertrag garantiert werden, einschränken, begrenzen oder aufheben127. Dabei können diese Klauseln ent123 Vgl. Revised Guidelines Regarding the Form and Contents of Reports to Be Submitted by States Parties under Articles 16 and 17 of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (UN doc. E / 1991 / 23), Anhang 1. 124 Dies ergibt sich aus den Materialien zu Art. 9 ICESCR. 125 Vgl. dazu auch Valticos, Droit international du travail, S. 179. 126 Vgl. Art. 19 Abs. 8 Verfassung der IAO: „In no case shall the adoption of any Convention or Recommendation by the Conference, or the ratification of any Convention by any Member, be deemed to affect any law, award, custom or agreement which ensures more favourable conditions to the workers concerned than those provided for in the Convention or Recommendation“. 127 Vgl. Art. 5 Abs. 2 ICCPR / Art. 5 Abs. 2 ICESCR: „There shall be no restriction upon or derogation from any of the fundamental human rights recognized or existing in any State Party to the . . . covenant pursuant to law, conventions, regulations or custom on the pretext that the . . . Covenant does not recognize such rights or that it recognizes them to a lesser extent“; Art. 53 EMRK: „Nothing in this Convention shall be construed as limiting or derogating from any of the human rights and fundamental freedoms which may be ensured under the laws of any High Contracting Party or under any other agreement of which it is a Party“; Art. 32 ESC: „Die Bestimmungen dieser Charta lassen geltende oder künftig in Kraft tretende Bestimmungen des innerstaatlichen Rechtes und zwei- oder mehrseitiger Übereinkünfte
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
weder unbestimmt sein und sich auf alle anderen Verträge beziehen oder aber sie zielen auf einen bestimmten anderen Vertrag ab; am weitesten gehen die Klauseln, die auch noch entgegenstehendes Gewohnheitsrecht berücksichtigen wie etwa Art. 5 Abs. 2 ICESCR / ICCPR. Lösbar ist damit ein Auslegungsstreit wie derjenige, der bei den Verfahren des Ausschusses für Menschenrechte Broeks und Zwaan de Vries entstanden ist. Berufen sich die Niederlande darauf, den Gleichheitsgrundsatz, entsprechend den Vorgaben des ICESCR, lediglich progressiv zu verwirklichen, nicht aber seine Einhaltung, wie nach dem ICCPR gefordert, bereits in vollem Umfang zu garantieren, so steht dieser Argumentation Art. 5 Abs. 2 ICESCR entgegen. Die Normen eines Vertrages sollen gerade nicht so ausgelegt werden, dass sie die von einem anderen Vertrag garantierten Rechte beschränken128. In gleicher Weise lassen sich nach dem Günstigkeitsprinzip Widersprüche lösen, die dadurch entstehen, dass bestimmte Normen Ausnahmen von allgemeinen Prinzipien zulassen und dadurch Rechte Einzelner einschränken. Diese Ausnahmen greifen dann nicht, wenn die Verpflichtungen nach einem anderen Vertrag weiter gehen. Fordert ein Vertrag die Gleichbehandlung von In- und Ausländern nur bei Reziprozität, ein anderer Vertrag aber darüber hinausgehend auch dann, wenn keine Reziprozität garantiert wird, so ist diese zusätzliche Anspruchsvoraussetzung nach dem Günstigkeitsprinzip unanwendbar. Problem einer Lösung all dieser Konflikte nach dem Günstigkeitsprinzip ist aber, dass damit über den allgemeinen grundrechtsbezogenen Ansatz die sehr viel spezielleren Einzelabmachungen zwischen den Staaten „ausgehebelt“ werden können. Betrachtet man den Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 ICCPR / ICESCR und Art. 53 EMRK, so wird deutlich, dass nur Widersprüche im grundrechtlichen Bereich anvisiert werden, nicht aber zwischen sonstigen Normen („no restriction upon or derogation from any of the fundamental human rights“). Inwieweit das Günstigkeitsprinzip damit auch im Verhältnis zwischen allgemeinen Grundrechtsverträgen und spezifischen Sozialrechtsverträgen gilt, ist fraglich. Für das Sozialrecht ergibt sich in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Schwierigkeit. Das materiell-rechtliche Kriterium der „Günstigkeit“ führt zwar zu eindeutigen Ergebnissen, wenn man isoliert die Höhe der Leistungen für den Einzelnen betrachtet, nicht aber, wenn man die Position aller, die in das jeweilige System als Beitragszahler und Leistungsempfänger integriert sind, mit in Rechnung stellt; hier geht es um Umverteilung, um Geben und Nehmen. Nach der Logik des Systems ist jeder potentiell Gebender und potentiell Nehmender, jeder ist potentiell unberührt, die den geschützten Personen eine günstigere Behandlung einräumen“; vgl. auch Art. 23 CEDAW: „Dieses Übereinkommen lässt zur Herbeiführung der Gleichberechtigung von Mann und Frau besser geeignete Bestimmungen unberührt, die enthalten sind (b) in sonstigen für diesen Staat geltenden internationalen Übereinkommen, Verträgen und Abkommen“; vgl. auch Art. 32 Convention on Migrant Workers, Art. 22 CRC. 128 Vgl. zu den Fällen S. 339 ff.
IV. Ansätze zur Lösung der Probleme
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Schutzbedürftiger. Kann man im Arbeitsrecht die Arbeitnehmer als Schutzbedürftige ansehen, so ist eine entsprechende Typisierung im Sozialrecht nicht durchgehend möglich. In ähnlicher Weise wie in den Fällen, in denen die Grundrechte verschiedener Grundrechtsträger aufeinander treffen, ergibt sich auch hier eine Pattsituation. Aber nicht nur bei der Bestimmung der Leistungshöhe und des Leistungsumfangs, sondern auch bei einer Vielzahl von anderen Fragen kann das Günstigkeitsprinzip nicht zu eindeutigen Ergebnissen führen, so etwa, wenn die Einbeziehung einzelner Personen in ein Sozialsystem an sich in Frage steht; hier kann es für die Betroffenen auch von Vorteil sein, nicht obligatorisch versichert zu sein129. Auch bei dem Konflikt zwischen Schutznormen und dem Diskriminierungsverbot ist nicht eindeutig festzustellen, welche Regelung „günstiger“ ist130. Der Fortschrittsglaube der 60er Jahre hat hier insgesamt einer sehr viel differenzierteren Bewertung zu weichen. Dennoch aber kann das Günstigkeitsprinzip, soweit es explizit in den Verträgen enthalten ist, helfen, eine Reihe von Widersprüchen zwischen den Normen im Einzelfall zu beseitigen.
d) Rückgriff auf allgemeine Anwendungs- und Interpretationsregeln Soweit in den einzelnen Verträgen keine speziellen Kollisionsregeln enthalten sind, ist auf die allgemeinen völkerrechtlichen Regeln zur Interpretation von Verträgen zurückzugreifen.
aa) Auslegung der Verträge mit Blick auf andere Verträge Nach Art. 31 Abs. 3 (c) WVK ist bei der Auslegung eines Vertrages „jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz“ zu berücksichtigen. Diese Interpretationsvorschrift wirkt einer Atomisierung der verschiedenen sozial- und menschenrechtlichen Regelungsansätze entgegen; eine Zusammenschau wird gefordert. Nach Art. 31 Abs. 3 (c) WVK sind aber nur die tatsächlich bestehenden Völkerrechtssätze zu berücksichtigen. Das Interamerican Committee of Human Rights ist über diesen Ansatz noch hinausgegangen und hat auch berücksichtigt, welche Pflichten ein Staat einem anderen Staat gegenüber gerade nicht übernommen hat:
129 Vgl. z. B. die Regelungen zur Beitragsbemessungsgrenze im deutschen Krankenversicherungsrecht, die die Höherverdienenden von der obligatorischen Versicherungspflicht ausnimmt und auch als „Friedensgrenze“ bezeichnet wird; vgl. Schulin / Igl, Sozialrecht, Rdnr. 153. 130 Meron, Law-Making, S. 73, weist im Hinblick auf die Schutzgesetzgebung für Frauen auf die amerikanische Diskussion hin, nach der diese den wirtschaftlichen Status der Frauen als Gesamtgruppe insgesamt gesenkt habe.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
„. . . it would be impossible to impose upon the United States Government . . . by means of ,interpretation‘, an international obligation based upon a treaty that such State has not duly accepted or ratified“131.
Das bedeutet, dass nicht nur aus anderen Verträgen, die ein Staat abgeschlossen hat, Rückschlüsse auf die Auslegung einzelner Vertragsbestimmungen gezogen werden können, sondern auch die Tatsache, welche Verträge nicht abgeschlossen worden sind, aber hätten abgeschlossen werden können, zu berücksichtigen ist. Auf den Gaygusuz-Fall angewendet würde dies bedeuten, dass aus dem „Recht auf Eigentum“ nicht eine Pflicht Österreichs zur Gewährung einer Sozialleistung gegenüber türkischen Staatsangehörigen hätte abgeleitet werden dürfen, da Österreich eine entsprechende Pflicht gerade nicht auf der Grundlage eines Vertrags übernommen hatte132. Es ist evident, dass, würde man diesen Ansatz verfolgen, der grundrechtliche Schutz sozialrechtlicher Rechtspositionen auf das Niveau der in den spezifischen Sozialrechtskonventionen enthaltenen Sozialstandards zurückgeführt würde; eine dynamische Entwicklung wäre dann gerade nicht mehr möglich. Aber auch wenn man sich darauf beschränkt, nach Art. 31 Abs. 3 (c) WVK die tatsächlich zwischen den Vertragsparteien anwendbaren Völkerrechtssätze zu berücksichtigen, wird die Auslegung von Menschenrechtsnormen stark eingeschränkt. Beispielsweise wären bei der Auslegung des im 1. ZP zur EMRK kodifizierten Rechts auf Eigentum oder des Umfangs der Verfahrensgarantie von Art. 6 EMRK die speziellen Regelungen zu berücksichtigen, die in den einzelnen internationalen Sozialversicherungskonventionen enthalten sind. Damit ließe sich schwer begründen, die Frage der Gegenseitigkeit bei sozialrechtlichen Ansprüchen auszuklammern oder eine umfassende gerichtliche Überprüfung bestehender Ansprüche zu fordern. Dieser Widerspruch ist dann aufzulösen, wenn man auch Art. 31 Abs. 3 (c) WVK im Lichte des Günstigkeitsprinzips interpretiert. Damit sind die sonstigen zwischen den Vertragsparteien anwendbaren Völkerrechtssätze nur dann für die Auslegung zu berücksichtigen, wenn sie zu einem für die geschützte Person vorteilhafteren Ergebnis führen. Das bedeutet, dass, sind mehrere Interpretationen einer Bestimmung möglich, grundsätzlich die für den Arbeitnehmer oder für den Grundrechtsträger „günstigste“ Interpretation auch dann zu wählen ist, wenn ein 131 Res. No. 23 / 81 Case No. 2141 IACHR, Annual Report 1980 – 81, at 24, zitiert nach Meron, Law-Making, S. 138. 132 Anders die Argumentation des Gerichtshofs: „Even though, at the material time, Austria was not bound by reciprocal agreements with Turkey, it undertook, when ratifying the Convention, to secure ,to everyone within (its) jurisdiction‘ the rights and freedoms defined in Section 1 of the Convention“ (Gaygusuz . / . Österreich (1996), Reports 1996-IV, Nr. 14, para. 51); allerdings ist diese Argumentation bereits insofern falsch, als Österreich mit der Ratifizierung der Europäischen Konvention für Soziale Sicherheit eine Pflicht zur Gleichbehandlung sehr wohl übernommen hatte; vgl. dazu S. 173.
IV. Ansätze zur Lösung der Probleme
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anderer Vertrag für eine „weniger günstige“ Auslegung sprechen würde. Dies gilt aber in dem Moment nicht mehr, in dem aufgrund der Auslegung ein Konflikt im Jenks’schen Sinne entstehen würde: „‘[w]here the interpretation of a treaty provision is doubtful, there is a presumption that the provision was not intended to be in conflict with the provisions of another law-making treaty of a general character“133.
Um zu vermeiden, dass Normen internationalen Ursprungs sich gegenseitig blockieren, wäre das Günstigkeitsprinzip dann einzuschränken, wenn dadurch für den einzelnen Vertragsstaat eine dilemmatische Situation geschaffen würde, die er nur lösen kann, indem er gegen eine Norm verstößt oder aber diese Norm für unanwendbar oder nichtig erklärt bzw. den entsprechenden Vertrag kündigt. Allgemein ist zu beobachten, dass etwa seit 2000 eine neue Sensibilität der zur Auslegung Berufenen im Hinblick auf die Vervielfältigung der internationalen Normen, die Überschneidungen und die damit entstehenden Probleme zu beobachten ist. Dies ist insbesondere daran zu erkennen, dass zunehmend auch andere Normensysteme, zumindest soweit sie im Rahmen derselben internationalen Organisation ausgearbeitet worden sind, zitiert werden. Paradebeispiel ist die Entscheidung Koua Pourrez vs. Frankreich, in der der EGMR bei der Auslegung des 1. ZP zur EMRK sowohl auf unverbindliche Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats wie auch auf die Spruchpraxis des Sozialrechtsausschusses zur ESC Bezug nimmt134.
bb) Anwendung des Lex-posterior-Grundsatzes Der Lex-posterior-Grundsatz hat in Art. 30 und Art. 58 WVK Eingang gefunden. Die Regelungen stellen aber auf Verträge ab, bei denen die einzelnen Rechte und Pflichten im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. Dies gilt bei Verträgen, die Sozialstandards festlegen, nur in sehr eingeschränktem Umfang. Art. 30 Abs. 3 WVK passt nicht, da Voraussetzung ist, dass die Vertragspartner des früheren Vertrags auch Vertragspartner des späteren Vertrags sind – ein Fall, der bei Verträgen, die Sozialstandards enthalten, keine praktische Relevanz hat135. Art. 30 Abs. 4 WVK wäre grundsätzlich einschlägig. Danach gelten die Regelungen des später geschlossenen Vertrags nicht im Verhältnis zu den Staaten, die nur den früheren Vertrag ratifiziert haben; zwischen ihnen bleibt die ursprüngliche Regelung in Kraft. Die IAO hat zur Lösung derartiger intertemporaler Probleme Sonderregelungen ausgearbeitet136.
133 134 135 136
Jenks, Conflict, S. 451. Koua Poirrez . / . Frankreich (Nr. 40892 / 98 v. 30. 9. 2003). Vgl. oben die Übersichten zu den Ratifikationen, Kapitel B.I. Vgl. dazu Kapitel D.II.2.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
Allerdings helfen all diese Regelungen nicht, wenn es um Konflikte zwischen Normen in unterschiedlichen regionalen oder funktionalen Zusammenhängen geht.
cc) Anwendung des Lex-superior-Grundsatzes (1) Vorrang der UN-Charta Während das Günstigkeitsprinzip wie auch Art. 31 Abs. 3 (c) WVK auf der Prämisse aufbauen, dass die sich widersprechenden Regelungen internationalen Ursprungs grundsätzlich gleichberechtigt seien, postuliert das Lex-superior-Prinzip, dass eine Regelung einer anderen Regelung hierarchisch vorgeordnet sei und diese verdränge. In Ausnahmefällen finden sich positivrechtliche Fixierungen dieses Prinzips im Bereich des Völkerrechts. Ein historisches Beispiel wäre etwa Art. 20 der Völkerbund-Satzung137. Damit wurden alle zwischen den Parteien bestehenden Verträge, soweit sie zu den in der Satzung getroffenen Regelungen im Widerspruch standen, aufgehoben. Dem entspricht – grosso modo – die Regelung in Art. 103 UN-Charta138. Vorrang haben danach die Verpflichtungen aus der Charta, nicht aber die Verpflichtungen aufgrund von Verträgen, die unter der Ägide der Vereinten Nationen abgeschlossen worden sind; ein Vorrang der Regelungen in den allgemeinen Menschenrechtsverträgen vor den Regelungen in anderen – insbesondere regionalen und speziellen Verträgen – lässt sich damit nicht ableiten139. (2) Vorrang von Gründungsverträgen internationaler Organisationen Ein hierarchisches Verhältnis ließe sich auch bei den verschiedenen internationalen Organisationen jeweils zwischen den Gründungsdokumenten und den im Rahmen der Organisationen im Einzelnen ausgearbeiteten Verträgen nachweisen. Allerdings ist damit in der Regel für Konfliktfälle nicht viel gewonnen, da Widersprüche gerade nicht zwischen diesen Normen auftreten, da die Gründungsdokumente schwerpunktmäßig verfahrensrechtlich und nicht materiell-rechtlich relevante Vorgaben enthalten. Ein Gegenbeispiel wäre aber das Recht der IAO, da hier auf der Grundlage der Verfassung postuliert wird, es gebe bestimmte fundamentale Prinzipien, die alle 137 Vgl. den Wortlaut: „Die Bundesmitglieder erkennen, ein jedes für sein Teil, an, dass die gegenwärtige Satzung Verpflichtungen und Einzelverständigungen aufhebt, die mit ihren Bestimmungen unvereinbar sind, und verpflichten sich feierlich, solche in Zukunft nicht mehr einzugehen. Hat ein Mitglied vor seinem Eintritt in den Bund Verpflichtungen übernommen, die mit den Bestimmungen der Satzung unvereinbar sind, so hat es die Pflicht, unverzüglich Maßnahmen zur Lösung dieser Verpflichtungen zu ergreifen“. 138 Vgl. den Wortlaut: „Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang“. 139 Vgl. Bernhardt in: Simma, Charta, Art. 103, Rd. 10 ff.
IV. Ansätze zur Lösung der Probleme
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Mitgliedstaaten vorrangig zu beachten hätten140. Bedeutung hat diese Hierarchisierung allerdings nicht als Mechanismus zur Konfliktlösung erlangt, sondern vielmehr, um Staaten zur Rechenschaft ziehen zu können, auch wenn sie die entsprechenden grundlegenden Konventionen nicht ratifiziert haben141. Die Deklaration von 1998 hat ein hierarchisches Verhältnis zwischen den einzelnen Konventionen bestätigt und die sozialen Rechte der Vereinigungsfreiheit, dem Diskriminierungsverbot, dem Verbot der Kinderarbeit und dem Verbot der Zwangsarbeit untergeordnet142. (3) Vorrang grundlegender Rechtsdokumente Möglich wäre auch, den Dokumenten, die inhaltlich Grundwerte fixieren, einen Vorrang als Teil einer „gemeinschaftlichen öffentlichen Ordnung“ einzuräumen. Diese Meinung wird etwa im Hinblick auf die EMRK vertreten143. Allerdings ist dieser Ansatz schon insofern sehr problematisch, als damit bürgerliche und politische Rechte den sozialen Rechten vorgeordnet würden. Die „gemeinschaftliche öffentliche Ordnung“ des Europarats als einer bestimmten Werten verpflichteten Staatengemeinschaft setzt sich aber aus einer Vielzahl von in multilateralen Verträgen enthaltenen Normen zusammen; soziale Grundrechte und bürgerliche und politische Grundrechte sind komplementär; die Konstruktion eines Über- Unterordnungsverhältnisses wäre diesem Grundverständnis diametral entgegengesetzt. Diskutiert wird auch ein hierarchisches Verhältnis zwischen universellen und regionalen Verträgen; allerdings lassen sich de lega lata dafür keine Indizien finden144. Vertreten wird sowohl der Vorrang der universellen145 wie auch der Vorrang der regionalen Regelungen146.
140 Vgl. Valticos, Droit international du travail, § 58, 659: „Au cours des années, le sentiment s’est progressivement formé que les Etats membres de l’O.I.T. ont, du fait de leur participation à l’Organisation, une sorte d’obligation de respecter certaines normes fondamentales prévues de manière générale par la Constitution de l’O.I.T., et cela même s’ils n’ont pas ratifié les conventions particulières traitant plus précisément de la matière considérée“. 141 Vgl. z. B. die Verurteilung der Apartheidspolitik von Südafrika durch eine Deklaration der internationalen Arbeitskonferenz von 1964, die auf das in der Erklärung von Philadelphia enthaltene Diskriminierungsverbot gestützt war; dazu Valticos, Droit international du travail, § 301; Valticos / Potobsky, S. 125 § 268; diese Möglichkeit war nach dem Austritt Südafrikas aus der IAO nicht mehr gegeben; vgl. Körner-Damman, ILO-Standards, S. 100. 142 Vgl. dazu S. 94 ff. 143 Sciotti, Concurrence des traités, S. 64. 144 Tardu, Co-existing petition procedures, S. 789 FN 43 mwN. 145 Vgl. z. B. Scelle, Droit international public, S. 21: „. . . un ordre juridique composé domine et conditionne les ordres juridiques composants“. 146 Vgl. Sciotti, Concurrence des traités, S. 63.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
(4) Vorrang des ius cogens Anknüpfungspunkt für eine Hierarchisierung der Regelungen wäre schließlich noch die in Art. 53 und 64 WVK normierte Rechtsfigur des ius cogens. Danach sind Verträge nichtig, wenn sie im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts stehen. Auf dieser Grundlage ließe sich argumentieren, dass es bei den Grundrechten solche gibt, die fundamental wichtig und damit Bestandteil des ius cogens sind, und solche, denen nur zweitrangige Bedeutung zukommt147. Zu ersterer Gruppe wird in der Regel das Recht auf Leben, das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung und das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit gezählt. Aber wie werden die Rechte in diesem Zusammenhang verstanden? Umfasst das Verbot der unmenschlichen Behandlung als fundamentales Recht auch das Verbot der Ausweisung im Fall von Schwerkranken und damit die Pflicht zur Pflege und Versorgung auch illegaler Migranten, wie der EGMR judiziert hat148? – Mit dieser Argumentation könnten soziale Rechte, die über den in den Verträgen enthaltenen Fundus weit hinausgehen, als ius cogens eben diese vertraglichen Regelungen verdrängen. Oder ist das Recht „nackt“, unabhängig von der auf internationaler Ebene entwickelten Auslegung, zum ius cogens zu rechnen? Aber was ist dann im Einzelnen darunter zu verstehen? – Diese Fragen sind noch weitgehend ungeklärt149. Für die Lösung von Normkonflikten zwischen verschiedenen Sozialstandards ist aus dem ius cogens kein Anhaltspunkt zu gewinnen.
dd) Anwendung des Lex-specialis-Grundsatzes Auch der Lex-specialis-Grundsatz150 bietet sich zur Lösung von Konflikten zwischen verschiedenen Sozialstandards bzw. zwischen Sozial- und Grundrechtsstandards an. Als praktisches Beispiel lässt sich die Auseinandersetzung zwischen Dänemark und dem Sozialrechtsausschuss anführen. Der Ausschuss hatte eine dänische Regelung, nach der Familienleistungen nur dann gewährt werden, wenn die potentiell Berechtigten bereits für mindestens sechs Monate einen Wohnsitz im Inland hatten, als diskriminierend und damit als Verstoß gegen Art. 16 ESC eingestuft. Dem hat Dänemark entgegengehalten, Familienleistungen würden von Art. 12 Abs. 4 Vgl. dazu Meron, Hierarchy, S. 1 ff. D. . / . das Vereinigte Königreich (1997), Reports 1997-III, Nr. 37; vgl. zu der Entscheidung S. 369 ff. 149 Vgl. Fastenrath, Lücken, S. 75; Danilenko, Ius Cogens, S. 46, 47; ablehnend zum ius cogens; Weil, Relative Normativity, S. 413 ff.; Marek, Progrès, S. 34 ff.; zum ius cogens allgemein vgl. auch die Auseinandersetzung zwischen Verdross, Ius Cogens, S. 55 ff., und Schwarzenberger, International Ius cogens, S. 455 ff. 150 Das Lex-specialis-Prinzip wird auch schon von Grotius, de Vattel und Pufendorf als Ansatz zur Lösung von Normenkonflikten angesehen; vgl. dazu Jenks, Law-Making, S. 446. 147 148
IV. Ansätze zur Lösung der Probleme
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ESC erfasst; diese Bestimmung gehe als lex specialis Art. 16 ESC vor. Danach seien zur Vermeidung von Missbrauch Wartezeiten möglich151. Der Sachverständigenausschuss hat dem entgegengehalten, bei Art. 12 ESC werde das Sozialversicherungssystem als Ganzes geprüft, Familienleistungen könnten ausgeschlossen werden. Deshalb sei Art. 16 ESC neben Art. 12 ESC einschlägig152. – Mittlerweile hat der Ausschuss aber seine Spruchpraxis zu der Frage geändert und Art. 12 Abs. 4 ESC als lex specialis anerkannt, behält sich allerdings die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Wohnzeit vor153. Vermag so der Lex-specialis-Grundsatz zur Lösung einzelner Konflikte im Verhältnis verschiedener Einzelnormen zueinander beizutragen, wenn diese im Rahmen eines Vertrags stehen oder auch Teile eines in sich kohärenten Regelungsansatzes sind, so ist er doch nicht dazu geeignet, Widersprüche zwischen spezifischen Sozialrechts- und allgemeinen Menschenrechtsnormen zu klären. Grundsätzlich ist der Menschenrechtsansatz allgemeiner und müsste damit nach dem Lex-specialis-Grundsatz zurücktreten. Sinn des Menschenrechtsansatzes ist es aber gerade, Grundregeln zusammenzustellen, an denen alle anderen Regelungen zu messen sind. Zudem ist zu bedenken, dass Grundrechtsnormen über wesentlich effektivere Durchsetzungsmechanismen abgesichert sind. Gerade dieser entscheidende Gesichtspunkt kann aber nach dem Lex-specialis-Grundsatz nicht berücksichtigt werden. Keine der genannten Konfliktregeln führt so durchgehend zu befriedigenden Lösungen bei Normenkonflikten.
3. Jurisdiktionsklauseln a) Potentielle Überschneidungen und Vervielfältigungen Wie dargestellt, findet die Überprüfung nationalen Rechts an völkerrechtlichen Sozialstandards in einer Vielzahl von Formen statt: in allgemeinen Berichtsverfahren, Staatenbeschwerdeverfahren, Kollektivbeschwerdeverfahren und Individualbeschwerdeverfahren mit und ohne verbindliche Entscheidung. Theoretisch kann jedes Einzelproblem damit parallel in einer Vielzahl von Verfahren auf internationaler Ebene zur Sprache gebracht werden. Beispiele lassen sich in großer Zahl finden.
151 Vgl. den Anhang zu Art. 12 Abs. 4: „The words „and subject to the conditions laid down in such agreements“ in the introduction to this paragraph are taken to imply inter alia that with regard to benefits which are available independently of any insurance contribution a Contracting Party may require the completion of a prescribed period of residence before granting such benefits to nationals of other Contracting Parties“. 152 Vgl. zu der Problematik Samuel, Fundamental Social Rights, S. 353 ff. 153 Vgl. dazu S. 267 ff.
27 Nußberger
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
Vorprogrammiert ist das Nebeneinander von allgemeinem Berichtsverfahren und Kollektivbeschwerdeverfahren. Die Rentenreformen in Chile etwa sind von dem Sachverständigenausschuss zur IAO im Rahmen von Konvention Nr. 35 gerügt worden; zugleich waren sie Gegenstand mehrerer Beschwerdeverfahren154. Erstmals problematisiert wird dieses Nebeneinander in dem ersten Kollektivbeschwerdeverfahren zum Problem der Kinderarbeit in Portugal nach dem Zusatzprotokoll zur ESC / RESC155. Portugal argumentiert, die Einleitung eines Kollektivbeschwerdeverfahrens nach Erlass einer negativen Stellungnahme im allgemeinen Berichtsverfahren sei unzulässig aufgrund von res iudicata und ne bis in idem: „. . . the complaint amounts to a useless procedural exercise because it pursues the same objective and, essentially, covers the same reference period as the negative conclusion adopted by the Committee . . .“156.
Der Sozialrechtsausschuss aber weist den Einwand zurück und hält dagegen, dass das Ziel des Kollektivbeschwerdeverfahrens ein anderes sei als das Ziel allgemeiner Berichtsverfahren, da nur ersteres es dem Ausschuss erlaube, die Situation in einem Staat rechtlich im Licht von Informationen zu beurteilen, die in einem kontradiktorischen Verfahren geliefert werden. Zudem finde das allgemeine Berichtsverfahren nur in vierjährigen Intervallen statt. So führe die Tatsache, dass ein bestimmtes Problem im allgemeinen Berichtsverfahren bereits geprüft worden sei und nochmals geprüft werde, nicht zur Unzulässigkeit einer Beschwerde: „Neither the fact that the committee has already examined this situation in the framework of the reporting system, nor the fact that it will examine it again during subsequent supervision cycles do in themselves imply the inadmissibility of a collective complaint concerning the same provision of the Charter and the same Contracting Party. . . . The legal principles res judicata and non bis in idem relied on by the Portuguese Government do not apply to the relation between the two supervisory procedures“.
Eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung dieser Prinzipien und eine Begründung, warum sie nicht auf derartige Fälle übertragbar sind, fehlt. Zweifellos finden die Prinzipien nicht unmittelbar Anwendung, da die Stellungnahmen in den Berichtsverfahren nicht verbindlich sind. Allerdings ließe sich eine analoge Anwendung damit begründen, dass auch die Entscheidungen im Kollektivbeschwerdeverfahren nicht verbindlich sind und damit Gleiches wiederholt wird. Dennoch ist zu bedenken, dass, würden die Grundsätze res iudicata und ne bis in idem für anwendbar gehalten, das Kollektivbeschwerdeverfahren weitgehend seine Bedeutung verlieren würde, da ein Nebeneinander der Verfahren nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Vgl. dazu S. 299 ff. und S. 331. Vgl. dazu S. 337 f. 156 Complaint No. 1 / 1998 (International Commission of Jurists against Portugal); Decision on admissibility 10. 03. 1999; Decision on the merits 9. 9. 1999. 154 155
IV. Ansätze zur Lösung der Probleme
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Auch ein Nebeneinander verschiedener Einzelverfahren vor verschiedenen internationalen Gremien ist möglich, wie der Fall Pauger gezeigt hat157. Gleichermaßen können verschiedene Staatenbeschwerden in Parallelverfahren nebeneinander behandelt werden. Ein historisches Beispiel sind die Mitteilungen an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen im Jahr 1968 wegen der Verletzung von in der ECOSOC Resolution 1235 (XLII) niedergelegten Rechten durch Haiti und Griechenland einerseits und die Geltendmachung entsprechender Vorwürfe vor der Interamerikanischen Kommission und der Europäischen Menschenrechtskommission andererseits158. Nach Tardu gibt es drei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze, eine derartige Vervielfältigung von Verfahren zu behandeln159. Nach der Vereinheitlichungsdoktrin gilt es um der Rechtssicherheit willen zu verhindern, dass eine Frage auf internationaler Ebene mehrfach geprüft wird. Aufgrund dessen ist es nötig, entweder den Vorrang der regionalen oder aber der universellen Verfahren zu regeln. Dem ließe sich kritisch entgegenhalten, dass damit den Betroffenen keine zweite Chance eingeräumt wird; legitime prozessuale Interessen des Opfers einer Menschenrechtsverletzung werden so nicht berücksichtigt160. Nach der Doktrin eines prozeduralen Laissez-faire ist der Schutz der Menschenrechte umso effektiver, je mehr Verfahren es gibt. Der Mangel, dass damit keine in sich kohärente internationale Rechtsordnung aufgebaut und nicht gegen Missbrauch vorgebeugt wird, wird in Kauf genommen. Nach einem zwischen diesen Extremen vermittelnden Ansatz wären Beschwerden auch dann als zulässig zu erachten, wenn sie in einem anderen Verfahren bereits als unzulässig oder unbegründet verworfen worden sind, nicht aber dann, wenn das Verfahren noch läuft oder bereits zu einem positiven Abschluss gebracht worden ist. Damit würde nur die zeitgleiche Behandlung identischer Fragestellungen vor unterschiedlichen internationalen Gremien ebenso wie die Vervielfältigung stattgebender Entscheidungen unterbunden161. b) Einzelregelungen Ein Ausschnitt aus der Problematik ist positiv-rechtlich geregelt, nämlich die Verdoppelung von Staatenbeschwerdeverfahren und die Verdoppelung von Individualbeschwerdeverfahren. Im Übrigen wird das Nebeneinander mehrerer Verfahren nicht begrenzt.
157 158 159 160 161
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Vgl. dazu S. 351 ff. Tardu, Co-existing petition procedures, S. 790. Tardu, Co-existing petition procedures, S. 793 ff. Tardu, Co-existing petition procedures, 794 Vgl. dazu auch Shany, Competing jurisdictions, S. 117 ff.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
aa) Vervielfältigung von Staatenbeschwerden Staatenbeschwerden sind im Rahmen von ICCPR, CERD, EMRK und den IAOKonventionen möglich162. Zur Lösung von Problemen, die sich aufgrund der potentiellen Vervielfältigung von Staatenbeschwerden ergeben, sind Art. 44 ICCPR163, Art. 11 Abs. 2 CERD164, Art. 55 EMRK165 heranzuziehen. Diese Regelungen schränken die freie Wahl der Vertragspartner zwischen den Verfahren nicht ein; es gibt kein Verbot, die Verfahren nebeneinander durchzuführen166. Um der Gefahr einer Entscheidungsdisharmonie und auch einer Einschränkung der Autorität des EGMR entgegenzuwirken, die dann zu befürchten wäre, wenn eine weitere internationale Instanz verbindliche Entscheidungen des EGMR nochmals überprüfen könnte, empfiehlt das Ministerkomitee den Mitgliedstaaten des Europarats in Resolution (70)17 vom 15. 5. 1970, einen Vorbehalt zum Fakultativprotokoll zum ICCPR einzulegen mit der Bestimmung, dass ein Verfahren vor dem Ausschuss für Menschenrechte nur zulässig ist, wenn nicht bereits ein Verfahren im europäischen Rahmen stattgefunden hat: „Declares that, as long as the problem of interpretation of Article 62 of the European Convention is not resolved, States Parties to the Convention which ratify or accede to the U.N. Covenant on Civil and Political Rights and make a declaration under Article 41 of the Covenant should normally utilise only the procedure established by the European Convention in respect of complaints against another Contracting Party to the European Convention (or its Protocols) and by the U.N. Covenant on Civil and Political Rights, it being understood that the U.N. procedure may be invoked in relation to rights not guaranteed in the European Convention (or its Protocols) or in relation to States which are not Parties to the European Convention“.
Entsprechende Vorbehalte wurden aber von den Mitgliedstaaten des Europarats, die eine Erklärung nach Art. 41 ICCPR abgegeben haben, nicht gemacht. – Das potentielle Nebeneinander zwischen Staatenbeschwerden zum CERD und zu den Vgl. dazu Kapitel C.II.3. Vgl. den Wortlaut „Die Bestimmungen über die Durchführung dieses Paktes sind unbeschadet der Verfahren anzuwenden, die auf dem Gebiet der Menschenrechte durch oder auf Grund der Satzungen und Übereinkommen der Vereinten Nationen und der Sonderorganisationen vorgeschrieben sind, und hindern die Vertragsstaaten nicht, in Übereinstimmung mit den zwischen ihnen in Kraft befindlichen allgemeinen oder besonderen internationalen Übereinkünften andere Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten anzuwenden“. 164 „Wird die Sache nicht binnen sechs Monaten nach Eingang der ersten Mitteilung bei dem Empfangsstaat entweder durch zweiseitige Verhandlungen oder durch ein anderes den Parteien zur Verfügung stehendes Verfahren zur Zufriedenheit beider Parteien beigelegt, so hat jeder der beiden Staaten das Recht, die Sache erneut an den Ausschuss zu verweisen . . .“. 165 „Die Hohen Vertragsparteien kommen überein, dass sie sich vorbehaltlich besonderer Vereinbarung nicht auf die zwischen ihnen geltenden Verträge, sonstigen Übereinkünfte oder Erklärungen berufen werden, um eine Streitigkeit über die Auslegung oder Anwendung dieser Konvention einem anderen als den in der Konvention vorgesehenen Beschwerdeverfahren zur Beilegung zu unterstellen. . .“. 166 Eissen, Problems of Coexistence, S. 188. 162 163
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Konventionen der IAO wird nicht eingeschränkt. – Staatenbeschwerden sind aber, wie dargestellt, eine Ausnahmeerscheinung; im Hinblick auf die Weiterentwicklung von internationalen Sozialstandards haben sie bisher keinen eigenständigen Beitrag geliefert.
bb) Vervielfältigung von Individualbeschwerden Wesentlich häufiger – und auch für die Entwicklung der Sozialstandards relevanter – ist dagegen die gleichzeitige Einlegung von Individualbeschwerden vor dem Ausschuss für Menschenrechte und dem EGMR, wobei die Verfahren eine Reihe von prozeduralen Ähnlichkeiten aufweisen167. Als Konfliktregelungen sind Art. 5 Abs. 2 (a) des Zusatzprotokolls168 zum ICCPR und Art. 35 Abs. 2 (b) EMRK169 einschlägig. Auch diese Regelungen lassen den betroffenen Individuen a priori vollständige Wahlfreiheit zwischen den Verfahren. Hat der Ausschuss für Menschenrechte allerdings bereits eine Entscheidung getroffen – gleich, ob er die Beschwerde als unzulässig oder unbegründet abgewiesen oder ihr stattgegeben hat – kann der EGMR in der gleichen Sache nicht mehr entscheiden. Eine Verdoppelung der Verfahren ist damit ausgeschlossen. Problem ist nur, im Einzelfall zu bestimmen, wann es sich um die „gleiche Sache“ handelt, wie etwa die Entscheidung im Fall Pauger zeigt170. Im Übrigen muss der Einwand der Unzulässigkeit von den Parteien erhoben werden, der EGMR prüft diese Frage nicht von Amts wegen171. Hat aber der EGMR als erster eine Entscheidung getroffen, so ist der Ausschuss für Menschenrechte nicht an einer eigenen Entscheidung gehindert. Nach dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 (a) des Zusatzprotokolls führt nur die Rechtshängigkeit vor einem anderen internationalen Entscheidungsgremium zur Unzulässigkeit; sukzessiv ist die Befassung mit ein- und derselben Sache möglich. Damit ergibt sich rein theoretisch das Problem eines negativen Zuständigkeitskonflikts, wenn eine Sache erst in Straßburg rechtshängig gemacht wird und der 167 Vgl. z. B. die Überprüfung, ob die innerstaatlichen Rechtsmittel erschöpft sind; die Abweisung jedes Gesuchs, das anonym oder offensichtlich unbegründet ist oder einen Missbrauch des Beschwerderechts darstellt; die Einholung einer schriftlichen Stellungnahme von der jeweiligen Regierung; vgl. Heffernan, A Comparative View, S. 78 ff. 168 Vgl. den Wortlaut: „Der Ausschuss prüft die Mitteilung einer Einzelperson nur, wenn er sich vergewissert hat, dass dieselbe Sache nicht bereits in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitregelungsverfahren geprüft wird“. 169 Vgl. den Wortlaut: „Der Gerichtshof befasst sich nicht mit einer . . . Individualbeschwerde, die . . . schon einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz (another international procedure of investigation or settlement) unterbreitet worden ist und keine neuen Tatsachen enthält“ (Art. 27 Abs. 1 (b) EMRK a.F.). 170 Vgl. dazu S. 356. 171 Vgl. Pauger v. Österreich (1997), Serie A, Reports, 1997-III, Nr. 38.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
Ausschuss für Menschenrechte aufgrund dessen eine negative Zulässigkeitsentscheidung trifft. Der EGMR ist dann an einer Entscheidung in der Sache gehindert, da sich bereits ein internationales Entscheidungsgremium mit dem Fall befasst hat. Nach Meinung des Ministerkomitees des Europarats ist die Situation, die sich aus der Anwendung der beiden Konfliktklauseln ergibt, unbefriedigend. Zwar solle der Einzelne grundsätzlich entscheiden können, an welche Instanz er sich wenden will. Nicht notwendig sei dagegen, dass derselbe Fall nach beiden Verfahren entschieden wird, gleich ob dies sukzessiv oder gleichzeitig geschieht. Aufgrund dessen empfiehlt das Ministerkomitee auch für Individualbeschwerden den Mitgliedstaaten des Europarats, einen entsprechenden Vorbehalt einzulegen. Dieser soll aber nur diejenigen Rechte erfassen, die in beiden Instrumenten enthalten sind172. Einen entsprechenden Vorbehalt haben mit Ausnahme der Russischen Föderation173 alle Staaten eingelegt, für die beide Individualbeschwerdeverfahren nebeneinander anwendbar sind. Allerdings trägt dieser Vorbehalt nicht zur Lösung der Normenkonflikte im sozialrechtlichen Bereich bei. Da sich die entsprechenden Schutznormen – Art. 26 ICCPR vs. Art. 14 EMRK iVm Art. 6, 8 EMRK oder Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls – nur teilweise überschneiden, aber nicht deckungsgleich sind, bleibt die für die Abgrenzung in sozialrechtlichen Fällen entscheidende Frage offen. Ein Nebeneinander der Verfahren könnte nur dann verhindert werden, wenn das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK in Kraft träte, da das darin enthaltene Diskriminierungsverbot Art. 26 ICCPR im Wesentlichen entspricht. Aber auch dann bliebe noch abzuwarten, ob die jeweilige Auslegung des Diskriminierungsverbots den gleichen Schutz böte. Die gegenwärtige Rechtslage illustriert der Fall Althammer v. Österreich. Hier hat der Ausschuss für Menschenrechte eine Entscheidung in der Sache getroffen, nachdem der EGMR den Fall für unzulässig erklärt hatte, und dies damit begründet, dass die inhaltliche Prüfung des Ausschusses für Menschenrechte bei Ungleichbehandlungen im sozialen Bereich auf der Grundlage von Art. 26 ICCPR weiterreichend sei als die inhaltliche Prüfung durch den EGMR174. De lege lata ist ein Nebeneinander zwischen Individualbeschwerdeverfahren vor dem Ausschuss für Menschenrechte und Klagen vor dem EGMR, trotz der Vorbehalte der Vertragsparteien, bei der Durchsetzung von Sozialstandards somit nicht ausschließbar.
Eur. Consult. Ass. 22d Sess, Doc. No. 2795 at 22 – 23 (1970 – 71). Der Vorbehalt der Russischen Föderation schließt nur die Gleichzeitigkeit von internationalen Beschwerdeverfahren aus. 174 Althammer et al.. v. Austria, Communication 22. 9. 2003 (No. 998 / 2001). 172 173
V. Auswirkungen internationaler Sozialstandards auf die Rechtsanwendung
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4. Institutionalisierte Zusammenarbeit bei Kontrollentscheidungen Schließlich bietet noch der obligatorische Austausch von Informationen im Rahmen von Kontrollverfahren, bei denen sich die Tätigkeit verschiedener internationaler Organe überschneidet, eine Möglichkeit, Probleme, die aufgrund der Parallelität von Verfahren entstehen, zu entschärfen. Eine derartige Zusammenarbeit kann institutionalisiert sein wie die Integration von Vertretern der IAO in die Arbeit des Europarats im sozialrechtlichen Bereich175, kann aber auch ad hoc auf freiwilliger Basis stattfinden, wie etwa die Entscheidungen des EGMR zu Zwangsarbeit und den Gewerkschaftsrechten zeigen, bei denen auf Informationen der ILO Bezug genommen wird176. Insbesondere im Hinblick auf die Parallelität der Berichtsverfahren auf UN-Ebene werden Wege zur Effektivierung der Verfahren und zur Vermeidung von unnötigen Mehrfach-Entscheidungen und auch Widersprüchen diskutiert; der radikalste Ansatz ist die Forderung nach einem „Super-Komitee“, das alle Themen umfassende nationale Berichte überprüft177.
V. Auswirkungen der Kollisionen verschiedener internationaler Sozialstandards auf die Rechtsanwendung im nationalen Bereich Der nationale Richter, der konkrete Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden hat, ist nur in Ausnahmefällen mit kollidierenden internationalen Sozialstandards befasst, da die Probleme von einer Vielzahl verschiedener Filtermechanismen aufgefangen werden. 1. Normenselektion Wollen die Staaten Vorsorge treffen, um die Anwendung widersprüchlicher Normen internationalen Ursprungs im innerstaatlichen Bereich zu verhindern, so bleibt ihnen in erster Linie die Möglichkeit der Normenselektion. Das Vorgehen im Einzelnen zeigen hier Sachverständigengutachten, mit denen vor der Ratifizierung geprüft wird, inwieweit neue vertragliche Verpflichtungen mit bereits bestehenden Verpflichtungen kompatibel sind. Beispielsweise wird in der vom Deutschen Bundestag in Auftrag gegebenen Denkschrift zum ICESCR vom 19. 12. 1966178 das Verhältnis von Art. 12, 13 ESC und Art. 9 ICESCR erörtert und festgestellt, dass in der ESC der Begriff der „sozialen Sicherheit“ enger eingegrenzt sei als im Vgl. Art. 26 ESC. Vgl. Tardu, Co-existing petition procedures, S. 797. 177 Vgl. die Beiträge von Klein und Weiß in: Klein, Monitoring, S. 89 ff., 143 ff., 183 ff., 191 ff. 178 BT-Drucksache 7 / 658. 175 176
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
ICESCR; Inkompatibilitäten zwischen beiden Bestimmungen werden aber nicht festgestellt. Widersprechen sich einzelne Bestimmungen, so können die Staaten von einer Ratifikation absehen oder entsprechende Vorbehalte einlegen. Auch hierfür lassen sich Beispiele finden: Frankreich hat in einem Vorbehalt zum ICESCR darauf verwiesen, dass Art. 9 und 11 ICESCR nicht so ausgelegt werden dürfen, als dürften für die Gewährung von Sozialleistungen keine Vorwohnzeiten gefordert werden, da dies nach der ESC möglich ist. Die potentiell weitergehende Vorschrift des ICESCR wird so auf das Niveau der ESC zurückgeführt. – Bei diesen Formen der Normenselektion müssen sich die Staaten aber grundsätzlich an einer Analyse der Wortlauts in abstracto orientieren; eine potentiell dynamische Interpretation der Normen kann nicht berücksichtigt werden. Werden die jeweiligen Normen – und wie gezeigt ist das die Regel und nicht die Ausnahme – rechtsfortbildend weiterentwickelt, so bleibt als Ausweg nur die Kündigung der Abkommen oder, soweit möglich, die nachträgliche Einlegung von Vorbehalten179. 2. Normeninterpretation Werden Widersprüche im Vorfeld nicht bereinigt, ist der nationale Richter aufgerufen, die dadurch entstehenden Probleme zu lösen. Allerdings wird nur ein sehr geringer Teil der zwischen den verschiedenen Sozialstandards bestehenden Widersprüche in der richterlichen Praxis tatsächlich relevant. Denn nur wenn die Normen aus völkerrechtlichen Verträgen auch im nationalen Recht unmittelbar anwendbar sind, kann die Lösung von Widersprüchen zwischen verschiedenen Normen internationalen Ursprungs entscheidungserheblich sein. Die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit aber ist aus der Systematik des jeweiligen nationalen Rechts heraus zu beantworten. Für das deutsche Recht etwa lässt sich feststellen, dass den Normierungen zum Recht auf soziale Sicherheit in der Regel – zum Teil auch im Widerspruch zu den Vorgaben der jeweiligen Kontrollinstanzen auf internationaler Ebene – die unmittelbare Anwendbarkeit abgesprochen wird180. Damit wird die 179 Der umgekehrte Fall, dass Vorbehalte durch Entwicklungen der Rechtsprechung im internationalen Bereich überholt werden können, ist gleichermaßen möglich. Ein Beispiel dafür ist der Vorbehalt Deutschlands zum CEDAW, in dem festgestellt wird, dass Art. 7 (b) CEDAW nicht so ausgelegt werden könne, als würden Frauen zum Dienst in Kampfeinheiten der Bundeswehr herangezogen werden können. Hier hat der EuGH andere Maßstäbe gesetzt (vgl. Entscheidung vom 11. 1. 2000 – Rs. C-285 / 98 (Kreill)); das Kontrollkomitee erachtet die Rücknahme des Vorbehalts aufgrund dessen für möglich; vgl. Concluding Observations of the Committee of Elimination of Discrimination against Women: Germany 02 / 02 / 2000. A / 55 / 38, paras. 287 – 333. 180 Vgl. zu Konvention Nr. 102 der IAO: „Als bloße Verpflichtung gilt das Übereinkommen nicht unmittelbar im Rechtsraum der Bundesrepublik, da es sich nicht unmittelbar an staatliche Rechtsanwendungsorgane und an die Rechtsunterworfenen wendet“ (BSG 1994,
V. Auswirkungen internationaler Sozialstandards auf die Rechtsanwendung
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Entstehung von Normenkonflikten im Vorfeld unterbunden. Geht es darum, Ermessensentscheidungen zu determinieren oder Allgemeinklauseln auszufüllen, so können Normen internationalen Ursprungs, die in sich widersprüchlich sind, nicht in Betracht gezogen werden. Bei tatsächlich bestehenden Konflikten zwischen unmittelbar anwendbaren Normen ist ein pragmatischer Ansatz, die entsprechenden Normen überhaupt unbeachtet zu lassen. Claudia Sciotti hat in ihrer Analyse zur Rechtsprechung in Belgien, Frankreich und Luxemburg festgestellt, dass Vertragskonkurrenzen im Bereich der Menschenrechte nur selten thematisiert werden – ein Phänomen, das sie unter anderem auf die fehlende internationalrechtliche Ausbildung der nationalen Richter und den Unwillen, Normen internationalen Ursprungs überhaupt zur Anwendung zu bringen, zurückführt181. Tauchen Widersprüche auf und kann der nationale Richter nicht vermeiden, sich damit auseinanderzusetzen, so hat er zu prüfen, ob die von den internationalen Kontrollorganen gegebenen Interpretationen eine Handhabe zur Konfliktlösung vorgeben. Ist dies nicht der Fall, hat er eigenständig die dargestellten Mechanismen zur Konfliktlösung heranzuziehen; eine eindeutige Lösung ist dann aber nicht zu erwarten182. Zusammenfassung Mehrfachregulierungen von Sozialstandards auf internationaler Ebene sind strukturell bedingt. Sie können positive Effekte haben: Werden bestimmte Grundwerte in unterschiedlichem Kontext wiederholt normativ festgehalten, so wird ihre Bedeutung und ihre Universalität hervorgehoben. Allerdings können Rechtssicherheit und Rechtsklarheit durch Divergenzen, Konflikte und konzeptionelle Widersprüche zwischen den Normen beeinträchtigt werden. Dabei sind offene Normenkollisionen die Ausnahme; in der Regel werden Widersprüche erst aufgrund der – zum Teil rechtsfortbildenden – Auslegung der Sozialstandards offenbar. Die Mechanismen zur Lösung von Normenkonflikten sind unzureichend. Weder das Günstigkeitsprinzip noch allgemeine Anwendungs- und Interpretationsregeln wie der Lex-posterior-, der Lex-superior- und der Lex-specialis-Grundsatz führen zu eindeutigen Lösungen, insbesondere dann, wenn allgemeine Grundrechts- und spezifische Sozialrechtsnormen aufeinander treffen. Die in den Verträgen enthalteS. 97 ff., 157); vgl. zur ESC: „Bei der Europäischen Sozialcharta handelt es sich nämlich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der – von etwaigen hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen ( . . . ) keine unmittelbaren Rechte einzelner Bürger begründet, sondern lediglich rechtspolitische Zielsetzungen beinhaltet, deren Umsetzung in einklagbares Recht sich die Vertragsparteien ausdrücklich vorbehalten haben ( . . . )“ (BVerwG E 91, 327 ff., 330); vgl. dazu Nußberger, Wirkungsweise, S. 43 ff. 181 Sciotti, Concurrence des traités, S. 20. 182 Vgl. dazu die ausführliche Studie von Sciotti, Concurrence des traités, S. 58 ff.
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D. Probleme der Mehrfachregulierung
nen Jurisdiktionsklauseln können Überschneidungen und Vervielfältigungen von Verfahren nicht wirksam vermeiden; Fälle von Entscheidungsdisharmonie sind schon jetzt nachweisbar und werden dann, wenn das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK für die Mehrzahl der Mitgliedstaaten des Europarats in Kraft tritt, in noch größerem Umfang zu erwarten sein.
E. Relative Normativität internationaler Sozialstandards „. . . the norms of international law represent only an imperfect consensus of the community of states, a consensus which rarely commands complete acceptance but which usually expresses generally held ideas. Given the decentralized nature of law-creation and law-application in the international community, there is no official voice of the states as a collectivity. However, international law taken as a body of generally related norms is the closest thing to such a voice“. William Coplin 1965
I. Spezifika der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards Sozialstandards sind nicht gleich Sozialstandards. Die bisherigen Betrachtungen haben gezeigt, dass es ein sehr breites Spektrum von unterschiedlichen Formen gibt: Bestimmungen in internationalen Verträgen, die ratifiziert werden und damit für die Vertragsstaaten verbindlich gelten, Bestimmungen in unverbindlichen Resolutionen und Deklarationen, Bestimmungen, die vage und allgemein gefasst sind als „Recht auf soziale Sicherheit“, und Bestimmungen, die mit einer Vielzahl von Details vorgeben, wie Sozialsysteme zu gestalten sind, Bestimmungen, deren Nicht-Einhaltung mit Geldstrafen sanktioniert werden kann, und Bestimmungen, die im Konjunktiv formuliert sind und Wünsche zum Ausdruck bringen, Bestimmungen, aus denen Entscheidungen in konkreten Einzelfällen abgeleitet werden können, und Bestimmungen, die nur als Orientierungspunkt dienen. Auch der Umgang mit diesen Sozialstandards ist sehr unterschiedlich. Zum Teil wird ihre Bedeutung mit den Techniken juristischer Auslegung im Einzelnen bestimmt, zum Teil werden sie als thematische Vorgaben genommen, als Raster, nach dem Informationen zu verschiedenen Sachgebieten abgefragt werden. Auch ihre Wirkung ist nicht über einen Leisten zu schlagen. Es finden sich Beispiele dafür, dass die Sozialstandards von den einzelnen Staaten vollständig ignoriert werden, wie auch dafür, dass sie den Anstoß zu grundlegenden Reformen geben. – Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Rechtscharakter der internationalen Sozialstandards: Sind sie Bestandteil des Völkerrechts? Sind sie als Bestandteil des Völkerrechts Bestandteil des Rechts? Oder handelt es sich um ein Aliud, ein Novum, das sich in die Kategorien „Recht“, „Moral“, „Politik“ nicht einpassen lässt? – Auffällig ist, dass gerade das „Recht auf soziale Sicherheit“ und das „Recht auf soziale Fürsorge“ in einer Vielzahl von nationalen Rechtsordnungen aus den
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E. Relative Normativität internationaler Sozialstandards
Grundrechtskatalogen ausgeklammert wird, dass es aber auf internationaler Ebene an prominenter Stelle figuriert und in einer Vielzahl unterschiedlicher Kontexte aufgegriffen wird. Völkerrecht lässt sich in zwei große Bereiche unterteilen: klassisches Völkerrecht und Menschenrechte1. Soziale Grundrechte gehören zu den Menschenrechten. Sozialstandards, wie sie hier definiert werden, stehen, zumindest teilweise, zwischen diesen beiden Bereichen. Bestimmungen, die aus dem Fremdenrecht erwachsen sind und an die Gegenseitigkeit von Leistungen anknüpfen, gehören zum klassischen Völkerrecht. Vorgaben, die den Staaten zur sozialrechtlichen Sicherung ihrer eigenen Bürger gemacht werden, gehören dagegen zu den Menschenrechten, bilden dabei aber eine besondere Untergruppe. Letzteren wurde über lange Zeit hin nahezu unwidersprochen der Rechtscharakter abgesprochen2. Erst in jüngerer Zeit wird die Dichotomie „bürgerliche / politische Rechte“ vs. „wirtschaftliche / soziale / kulturelle Rechte“ als inadäquat angegriffen; insbesondere werden auch die daraus gezogenen Schlussfolgerungen und Kategorisierungen3 als nicht haltbar angesehen4. Stellt man die Frage nach der Rechtsnatur von sozialen Grundrechten, so wird insbesondere zwei Kriterien Aufmerksamkeit geschenkt, nämlich der Verbindlichkeit und der Justitiabilität, wobei alle justitiablen Normen verbindlich, nicht aber alle verbindlichen Normen justitiabel sind. Soziale Rechte werden entweder als nicht verbindlich, oder aber als zwar verbindlich, aber nicht justitiabel eingestuft. Allerdings werden mit derartigen Zuordnungen Etiketten verteilt, die keine besondere Aussagekraft haben. Prosper Weil hat dies mit großer Klarheit herausgestellt: „While prenormative acts do not create rights or obligations on which reliance may be placed before an international court of justice or of arbitration, and failure to live up to them does not give rise to international responsibility, they do create expectations and exert on the conduct of states an influence that in certain cases may be greater than that of rules of treaty or customary law. Conversely, the sanction visited upon the breach of a legal obligation is sometimes less real than that imposed for failure to honor a purely moral or political obligation“5.
Simma, International Human Rights, S. 153 ff. Vgl. Cohen-Jonathan, Pluralité des Systèmes, S. 613 ff.; Bossuyt, La distinction juridique, S. 783 ff.; Viedrag, The Legal Nature, S. 69 ff. 3 Vgl. die Gegensatzpaare negativ vs. positiv, kostenintensiv vs. kostenlos, fortschreitend vs. sofort zu verwirklichen, vage vs. präzise, komplex vs. leicht zu handhaben, ideologisch / politisch vs. unideologisch / unpolitisch, justitiabel vs. nicht-justitiabel, Ziele vs. echte Rechte (die Zusammenstellung findet sich bei Scott, Interdependence, S. 833; Shue, Social Rights, S. 53 ff.). 4 Vgl. dazu im Einzelnen Simma, Die vergessenen Rechte, S. 867 ff.; Shue, Social Rights, S. 53 ff.; van Hoof, Legal Nature, S. 97 ff.; Scheinin, Legal Rights, S. 41 ff.; Berenstein, Economic and social rights, S. 257 ff. 5 Weil, Relative normativity, S. 415. 1 2
I. Spezifika der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards
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Das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf soziale Fürsorge schon deshalb für „Recht“ zu halten, weil es in einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag Eingang gefunden hat, wäre ein allzu formalistischer Ansatz. Auch die Frage der Justitiabilität lässt sich nicht an äußeren Merkmalen festmachen. Und selbst wenn ein Standard verbindlich und justitiabel ist – ist er dann schon „Recht“? Ist nicht auch die tatsächliche Wirkung zu berücksichtigen? Conditio sine qua non für die Existenz von Rechtsnormen ist, dass sie den Anspruch erheben, eine bestimmte Autorität zu verkörpern. Dieser Anspruch kann in sehr unterschiedlicher Weise begründet werden. Er kann entweder auf interne oder auf externe Faktoren gestützt werden. Extern wäre die Berufung auf eine außerhalb des Rechts stehende Macht; intern wären alle Erklärungen, die sich aus dem System selbst ergeben, der Verweis auf Regeln, die das System selbst gesetzt hat und auf deren Einhaltung es sich in der Folge beruft6. Die dem Recht zukommende Autorität ließe sich so dahingehend umschreiben, dass aus einem „Du-sollst“ ein „Du-sollst-weil“ wird: „. . . weil es schon immer so war“, „. . . weil es dem Naturrecht entspricht“, „. . . weil die Vorschrift Teil der geltenden Rechtsordnung ist“, „. . . weil es allgemein anerkannt wird“, „. . . weil es der Wille der Mehrheit ist“, „. . . weil alle sich so verhalten“, „. . . weil derjenige, der die Norm aufgestellt hat, dich auch mit Gewalt zwingen kann, sie einzuhalten“ etc.7 Während in traditionellen Theorien in verschiedener Weise externe Deutungen versucht werden (insbesondere im Naturrecht), kann es als ein Credo der Moderne bezeichnet werden, dass Recht kontingent ist8. Das Recht entspringt, so Teubner, 6 Koskenniemi vertritt für das Völkerrecht die These, jeder Versuch, die Autorität der Normen zu begründen, sei es nach dem naturalistischen, sei es nach dem konsensualistischen Ansatz, führe zu Zirkelschlüssen: „So, we seem to be in an interminable circle. Consensualism is needed because this seems the only way to guarantee the law’s concreteness. Non-consensualism seems needed to provide for its binding force. And yet, both positions seem to exclude each other. Consensualism is justifiable only if non-consensualism is not. And viceversa. In order to find out, in a given case, whether preference should be given to consent or a non-consensual principle of justice a meta-theory is needed to establish the preference. But this would have to be justified in either a naturalistic or a positivistic manner. In which case it could be opposed by a contrasting view. And so on“ (Koskenniemi, Utopia, S. 281). Damit ist aber nicht widerlegt, dass Recht einen Anspruch auf eine in bestimmter Weise begründete Autorität erhebt und sich damit von anderen Normierungssystemen abgrenzt. 7 Fastenrath, Lücken, S. 82, stellt zusammen, welche Rechtsbegriffe jeweils welche Dimension des Rechts hervorheben: „. . . der philosophische Rechtsbegriff die ethische Geltung, der logische die juristische Geltung, der rechtssoziologische Rechtsbegriff und die Zwangstheorien die faktische Geltung; die Anerkennungstheorien erinnern daran, dass sich bestimmte Verhaltenserwartungen in einem Interaktionsprozeß herausschälen, der psychologische Rechtsbegriff, dass solche Verhaltenserwartungen mit dem Rechtsgefühl internalisiert sind, und die Willenstheorien verweisen auf die unleugbare Tatsache, dass Recht – zumindest zu einem großen Teil – auf kontingenter menschlicher Setzung beruht“. 8 Vgl. Luhmann, Positivität, S. 180; Ewald, Social Justice, S. 107.
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„seiner eigenen Positivität“.9 – Das bedeutet, dass die Autorität von Sozialstandards als Recht daran festzumachen ist, dass sie bestimmte, an das Recht gestellte Kriterien erfüllen, dass sie ihre eigene „Rechtlichkeit“ selbst unter Beweis stellen. Worauf ist aber abzustellen, will man begründen, ob ein bestimmter Sozialstandard Autorität als Recht hat10? Bei den Theorien, die zu der Frage der Rechtsnatur von Normen vertreten werden, lassen sich drei Muster identifizieren: das Anknüpfen an formale Gesichtspunkte, das Anknüpfen an inhaltliche Gesichtspunkte und die Frage nach der Wirkung, nach der Rezeption der Normen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Selektion der für Recht konstituierenden Merkmale wesentlich dadurch bestimmt wird, ob die Ausgangsfrage lautet: „Was ist Recht?“, „Ist Völkerrecht Recht?“ oder „Sind Sozialstandards Recht?“. Entsprechend werden in der Regel die Besonderheiten des im nationalen Rahmen funktionierenden Rechts untersucht und Ausblicke auf andere Formen des Rechts gegeben (z. B. Hobbes, Kant, Austin, Hart, Luhmann), die Spezifika von völkerrechtlichen Regelungen bei der Theoriebildung schon im Ansatz berücksichtigt (z. B. McDougal / Lasswell, Reisman, Gottlieb, Kratochwil, Onuf) oder aber gerade auf die Besonderheiten von Normierungen im sozialen Bereich abgestellt (Scheinin, van Hoof, Shue). Auch macht es einen Unterschied, ob die Funktion des Rechts im Gerichtsverfahren11 oder die Funktion des Rechts bei der Entscheidungsfindung im politischen Prozess12 Folie der Überlegungen ist. Ein weiterer wichtiger GeTeubner, Autopoietisches System, S. 8. Im Folgenden geht es nur um die Diskussion der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards in dem engen Sinn, wie sie hier verstanden werden, und damit beschränkt auf das Recht auf soziale Sicherheit und soziale Fürsorge, nicht um die Rechtsnatur sozialer Grundrechte allgemein. Die Diskussion der Rechtsnatur sozialer Grundrechte in der Literatur ist wenig fokussiert. Da der Begriff „soziale Grundrechte“ in der Regel sehr weit gefaßt wird und sich an den Kategorisierungen in den Menschenrechtsverträgen EMRK vs. ESC bzw. ICCPR vs. ICESCR orientiert, werden so unterschiedliche Rechte wie das Recht auf Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Nahrung und das Recht auf soziale Sicherheit und soziale Fürsorge einbezogen. Letztere Rechte spielen in der Diskussion in der Regel nur eine sehr untergeordnete Rolle. Justitiabilität wird ihnen in dem General Comment No. 3 des Sachverständigenausschusses zum ICESCR nicht zugesprochen (General Comment No. 3, para. 5), während folgende Rechte als potentiell justitiabel angesprochen werden: die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Recht auf angemessenen Lohn und gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit, die Gewerkschaftsfreiheit, das Diskriminierungsverbot bei Schutzmaßnahmen für Kinder, das Recht auf obligatorischen und unentgeltlichen Grundschulunterricht, die Erziehungsfreiheit der Eltern und die Freiheit von Wissenschaft und schöpferischer Tätigkeit. 11 Kratochwil (International Law, S. 29, 34) sieht den „focus on law as a mainly judicial activity“ als typisch für positivistische Positionen an und weist diesen Gesichtspunkt als entscheidend für Rechtstheorien von Kelsen bis Dworkin nach. 12 Vgl. z. B. McDougal / Lasswell, Public order, S. 53: „Within the decision-making process our chief interest is in the legal process, by which we mean the making of authoritative and controlling decisions“. 9
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sichtspunkt ist, dass die Grenzlinien in unterschiedlicher Weise gezogen werden. Möglich ist eine Grenzziehung zwischen Recht auf der einen Seite und Religion und Moral auf der anderen Seite (Kelsen13, Hobbes14, Weber15, Hart16); möglich ist aber auch eine Grenzziehung zwischen Recht und Unrecht (im Sinne einer Ausgrenzung von Elementen, die nicht Bestandteil des Rechts sein können wie etwa im Naturrecht17) sowie eine Grenzziehung zwischen Recht und Politik18. Auch ist der Fokus ein anderer, je nachdem, ob man die Rechtsqualität einzelner Normen oder die Rechtsqualität des Gesamtsystems untersucht19.
1. Bestimmung der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards nach formalen Gesichtspunkten Die Bandbreite formaler Gesichtspunkte, die berücksichtigt werden können, will man Recht von Nicht-Recht abgrenzen, ist groß. Abzustellen ist auf die Machtstellung der normsetzenden Instanz, die Sanktionsmöglichkeiten, die Kohärenz und Funktionsweise des Systems, in das sich die Normen einfügen, sowie auf die Verbindlichkeit und die Justitiabilität der Normen.
a) Machtstellung der normsetzenden Instanz Unter der Rubrik „Zwangstheorien des Rechts“ werden in der Literatur die Ansätze zusammengefasst, die die Erzwingbarkeit rechtlicher Regelungen als ent13 Kelsen, Principles, S. 5: „It is the criterion for law; for law is a coercive order. It provides for socially organized sanctions and thus can be clearly distinguished from a religious order on the one hand, and a merely moral order on the other hand“. 14 Hobbes (Leviathan, S. 228) grenzt „Gesetz“ in dem Kapitel „Von den bürgerlichen Gesetzen“ von „Rat“ ab: „Ein Gesetz ist offenbar kein Rat, sondern ein Befehl . . .“. Er definiert „bürgerliches Gesetz“ als „eine Regel, welche der Staat mündlich oder schriftlich oder sonst auf eine verständliche Weise jedem Bürger gibt, um daraus das Gute und Böse zu erkennen und danach zu handeln“. 15 Max Weber (Rechtssoziologie, S. 80) unterscheidet zwischen Recht, Konvention und Sitte: „Ein Gebiet, in welches die Rechtsordnung in lückenloser Stufenleiter übergeht, ist dasjenige der ,Konvention‘ und weiterhin – was wir begrifflich davon schieden – der ,Sitte‘“. 16 Hart versucht mit seiner Theorie, die „multiple relationships between law, coercion, and morality“ (Concept, S. 208) klarzustellen. 17 Vgl. den Ansatz von Augustinus: „Non videtur esse lex quae justa non fuerit“ (St. Augustinus I, De Libero Arbitrio, S. 5, zitiert nach Hart, Concept, S. 8); zum naturrechtlichen Ansatz vgl. allgemein Verdross / Köck, Natural Law, S. 17 ff.; Scheuner, Naturrechtliche Strömungen, S. 556 ff.; Fastenrath, Lücken, S. 36; Reibstein, Anfänge, S. 178 ff. 18 Hier liegt der Schwerpunkt bei den modernen Rechtstheorien, die dominant auf Rezeption und Wirkung in Entscheidungssituationen abstellen. 19 Vgl. die Zweiteilung der Analyse Onufs, Rules, S. 385 ff., der zuerst die Rechtsqualität einzelner Normen und dann die Rechtsqualität des Völkerrechts als System untersucht. Combacau, Droit international, S. 85 ff., geht nur auf die Systemfrage ein.
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scheidendes Kriterium zur Unterscheidung zwischen Recht und Nicht-Recht in den Vordergrund rücken20. Entscheidend ist, ob derjenige, der eine Regel aufstellt, auch die Autorität hat und in der Lage ist, diese Regel durchzusetzen. So sieht etwa Hobbes als Voraussetzung für „Recht“ die Existenz eines staatlichen Machtapparats an21; für Austin ist das Über-Unterordnungsverhältnis zwischen dem, der Recht setzt, und dem, der das Recht zu befolgen hat, Ausgangspunkt aller weiterer Überlegungen22. Völkerrecht, das Fragen in horizontalen Machtbeziehungen regelt, ist damit grundsätzlich kein Recht, es sei denn, es würde mit Zwang durchgesetzt. Zwar lassen sich bei der Entwicklung des Menschenrechtsschutzes dafür durchaus Beispiele finden23. Dies gilt unter Umständen sogar für soziale „Mindestmindeststandards“, für die Vermeidung eines vollständigen sozialen Chaos, wie der UN-Einsatz in Somalia zeigt24. Allerdings betrifft dies nicht die sozialen Standards im engeren Sinn, das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf soziale Fürsorge. Damit würde es sich nach diesem theoretischen Ansatz bei Sozialstandards um „opinions or sentiments held or felt by an indeterminate body of men in regard to human conduct“25 handeln, nicht unterschieden von sonstigen Völkerrechtsregeln, aber wie diese „law, unproperly so called“26. b) Sanktionsmöglichkeiten Ähnlich argumentiert Kelsen, der davon ausgeht, für „Recht“ – im Gegensatz zu anderen sozialen Ordnungen – seien Sanktionen konstitutives Merkmal. Entscheidend sei, ob Sollensgebote freiwillig oder aufgrund von Zwang befolgt werden27. 20 Vgl. dazu Blenk-Knocke, Soziologische Bedingungen, S. 42 ff. (mit Ausführungen zu Max Weber und Theodor Geiger); Fastenrath, Lücken, S. 45 ff. (mit Ausführungen zu Luther, Hobbes, Thomasius, Kant, der marxistischen Lehre, Austin, Lauterpacht, Kelsen, Max Weber, Theodor Geiger und René König). 21 Vgl. zur Definition des Rechts im allgemeinen Leviathan, Kapitel 26. 22 „A law, in the most general and comprehensive acceptation in which the term, in its literal meaning, is employed, may be said to be a rule laid down for the guidance of an intelligent being by an intelligent being having power over him“ (Austin, Jurisprudence, S. 18; Hervorhebung von der Verfasserin). 23 Vgl. Weschke, Durchsetzung, S. 86 ff. 24 Vgl. SC Res. 794 vom 3. 12. 1992 (Somalia). 25 Austin, Jurisprudence, S. 20. Vgl. zur Wirkung der Theorie Austins Ago, Begriff des positiven Rechts, S. 267 FN 21 mit Nachweisen zur Annahme, es gebe kein internationales Recht, sondern nur „positive international morality“ (Pomeroy), „nichtjuristische Staatensitte“ (Lasson), „une obligation morale résultant de la raison“ (Wheaton), „vernunftpostuliertes Recht“ (Hagens); vgl. auch Savigny (System des heutigen römischen Rechts, S. 33), der argumentiert, es handele sich um „unvollendete Rechtsbildung“, „weil ihm diejenige reale Grundlage fehlt, die dem Recht der einzelnen Glieder desselben Volks in der Staatsgewalt, und namentlich in dem Richteramt gegeben ist.“. 26 Austin, Jurisprudence, S. 20. 27 „A social order that attempts to bring about the desired conduct of individuals by sanctions we call a coercive order, in the sense that it provides for coercive acts as sanctions. It
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Das Kriterium der Sanktionierbarkeit sieht Kelsen allerdings nicht auf die Zwangsgewalt des Souveräns, die auf einem Gewaltmonopol beruht, beschränkt. Vielmehr bezieht er auch die im internationalen Bereich gegebenen Sanktionsmöglichkeiten mit ein28. Damit wird Völkerrecht grundsätzlich als „Recht“ fassbar29. Nach diesem Ansatz wären Sozialstandards dann Bestandteil des Rechts, wenn ihre Nicht-Einhaltung sanktionierbar wäre. Nun sind negative Stellungnahmen in Überwachungsverfahren noch nicht als Sanktionen anzusprechen, und dies auch dann nicht, wenn sie eine „mobilization of shame“30 bewirken. Gewisse Sanktionsmöglichkeiten sind aber in den verschiedenen Systemen vorgesehen. Sehr weitreichend ist die Vorschrift des Art. 33 IAO-Verfassung. Danach kann, befolgt ein Mitglied binnen einer vorgeschriebenen Frist die in dem Bericht eines Untersuchungsausschusses oder in einer Entscheidung des IGH enthaltenen Empfehlungen nicht, der Verwaltungsrat die Maßnahmen empfehlen, die ihm zur Sicherung der Ausführungen der Empfehlungen zweckmäßig erscheinen. „Maßnahmen“ wird hier nicht näher bestimmt; im weitesten Sinn wären davon aber auch Sanktionen gedeckt, auch wenn dies noch nicht praktisch geworden ist. In der EMRK ist in Art. 46 Abs. 2 festgelegt, dass dem Ministerkomitee die Überwachung der Durchführung der verbindlichen Entscheidungen obliegt. Sanktionen und Zwangsmaßnahmen werden nicht vorgesehen. Nach Art. 3, 8 des Statuts des Europarats verbliebe aber als ultima ratio, den Mitgliedsstaat, der seine Pflichten nicht erfüllt, auszuschließen31. Bei der ESC kann ein derartiger Hebel dagegen nicht angesetzt werden; die Stellungnahmen des Sachverständigenausschusses sind nur unverbindlich. Auch bei den UN-Menschenrechtspakten sind Sanktionsmöglichkeiten weder bei allgemeinen Berichts- noch bei Individualbeschwerdeverfahren vorgesehen; hier ist stands in the sharpest contrast to all other social orders, which rest on voluntary obedience. The various systems of morals insofar as they do not provide for transcendental or socially organized sanctions are such noncoercive orders. Thus the antagonism of freedom and coercion – fundamental to social life – supplies the decisive criterion“ (Kelsen, Principles, S. 5). 28 Als „spezifische Unrechtsfolgen“ des Völkerrechts wird Repressalie und Krieg ausgewiesen; vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 113; Kelsen, Principles, S. 18 ff.; vgl. zu dieser Position auch Wengler, Wirkungen, S. 306 ff., 317: „Die Nichtzugehörigkeit des normativen Vertragsinhaltes eines nichtvölkerrechtlichen Vertrages zum völkerrechtlichen Normerzwingungssystem äußert sich darin, dass eine Nichtbefolgung einer vertraglichen Verpflichtung die andere Partei nicht berechtigt, die Erfüllung eigener Pflichten aus dem allgemeinen Völkerrecht, oder aus einem anderen, und zwar einem echten völkerrechtlichen Vertrag, als Repressalie im weiteren Sinne gegenüber dem Vertragsverletzer zu suspendieren“. 29 Vgl. auch die kritische Auseinandersetzung mit diesem Ansatzpunkt bei Kratochwil, International Law, S. 23 ff. 30 Khol, Sicherungsverfahren, S. 163. 31 Gölcüklü, Exécution, S. 557 ff., S. 572. Allerdings haben die Staaten bisher mit wenigen Ausnahmen (v.a. im Zusammenhang mit dem Problem Türkei-Zypern) die Entscheidungen umgesetzt, es kam lediglich teilweise zu gewissen zeitlichen Verzögerungen; vgl. Schlette, Kontrollmechanismus, S. 915. Ob dies allerdings auch in Zukunft im Hinblick auf zum Teil von den einzelnen Mitgliedstaaten nicht akzeptierte Entscheidungen so bleiben wird, ist fraglich. 28 Nußberger
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allenfalls die Ausübung politischen Drucks möglich32. Zwar könnte hier auf allgemeine Sanktionen des Völkerrechts zurückgegriffen werden, wenn die Sozialstandards in verbindlichen Vertragsnormen festgelegt sind33. Die hier in Betracht kommenden Möglichkeiten wie Repressalien, humanitäre Intervention, Durchsetzungsmechanismen im Bereich des Völkervertragsrechts und die Nicht-Anerkennung von Staaten34 passen aber in der Regel nur für akut auftretende, schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen, nicht aber für die Nicht-Einhaltung von Sozialstandards. Das bedeutet, dass, will man auf die Sanktionierbarkeit abstellen, die Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht quer durch die Sozialstandards laufen würde und zwei Gruppen zu bilden wären. Auf der einen Seite stünden die Sozialstandards, deren Nicht-Einhaltung zumindest theoretisch sanktionierbar ist, nämlich die Sozialstandards, die in Konventionen der IAO und in der EMRK enthalten sind, auf der anderen Seite alle übrigen Sozialstandards. Dass dies eine sehr künstliche Trennung wäre, leuchtet unmittelbar ein, umso mehr als die Sanktionsmechanismen, wie dargestellt, in der Praxis keine Rolle spielen.
c) Systemkohärenz Die Essenz der Theorie von H. L. A. Hart, die auf der Kritik an den Theorien von Austin und Kelsen aufbaut, ist die „union of primary and secondary rules“35. Die Norm als Teil des Systems, die Bestimmung der Zugehörigkeit einer Norm zum System ist für Hart der zentrale Gesichtspunkt. Er stellt auf den „Stammbaum“ („pedigree“) einer Norm ab, auf die Ableitbarkeit der „primary rules imposing obligations“ aus den „secondary rules of recognition, change and adjudication“. Grundlage seiner Überlegungen ist damit ein logisch in sich geschlossenen System, in dem die Anerkennungsregeln bestimmen, was Recht ist und was nicht36. Im internationalen Bereich fehlt nach Meinung Harts eine allgemeine „rule of recognition“37. Die Regeln des Völkerrechts seien nicht in einem „system of rules“ 32 Vgl. Weschke, Durchsetzung, S. 23 ff.; etwa 20 % der Bemerkungen des Ausschusses für Menschenrechte werden nicht umgesetzt (Klein, Stille Revolution, S. 19); vgl. auch Boerefijn, Follow-up, S. 101 ff. 33 Vgl. dazu die umfassende Studie von Weschke, Durchsetzung, S. 86 ff. 34 Vgl. Weschke, Durchsetzung, S. 86 ff. 35 Hart, Concept of Law, S. 77 ff. 36 Vgl. dazu zum nationalen Recht Teubner (Autopoietisches System, S. 55): „Rechtsnormen können nur noch auf dem Weg über präzise definierte Rechtsakte, sei es Gesetz, sei es Urteil, sei es organisationsinterne Satzung entstehen. Selbst das Gewohnheitsrecht kann heute nur noch als Richterrecht anerkannt werden, weil es den Weg über einen ,konstitutiven‘ (und nicht bloß deklaratorischen) Rechtsakt gehen muss, wenn es als positives Recht gelten soll“. 37 „It is indeed arguable, . . . , that international law not only lacks the secondary rules of change and adjudication which provide for legislature and courts, but also a unifying rule of
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zusammenzufassen, sondern bildeten lediglich ein „set of rules“38. Im internationalen Bereich sei damit die Praxis entscheidend, die erweisen muss, ob eine Regel anerkannt wird oder nicht39. Bezogen auf internationale Sozialstandards lässt sich trotz dieser Aussage Harts argumentieren, sie seien zumindest insoweit „Recht“, als sie über die verschiedenen internationalen Organisationen in institutionalisierte Systeme einbezogen sind, die Geltung, Änderung und Kontrolle der Normen regeln. Die Ausarbeitung von Konventionen im Rahmen der IAO findet nach einem fest vorstrukturierten Verfahren statt40. Auch der Entwurf von Verträgen im Rahmen von Europarat und Vereinten Nationen ist in gewisser Weise institutionalisiert. Die Kontrollmechanismen sind, mit Ausnahme der Verfahren vor dem EGMR, zwar nicht als Gerichtsbarkeit anzusprechen; sie erfüllen dennoch eine im Wesentlichen vergleichbare Funktion. Problematisch ist allerdings die Änderung von Normen. Es gibt keine Automatismen wie im nationalen Recht, so dass hier, wie dargestellt, ein wesentlicher Grund für Überschneidungen und Verdoppelungen und damit für Inkonsistenzen im System liegt. Dennoch ließe sich nach dem von Hart entwickelten Konzept eine Zuordnung verbindlicher Sozialstandards, die im Rahmen internationaler Organisationen ausgearbeitet werden, zum Recht begründen, auch wenn Hart selbst dies für das Völkerrecht seiner Zeit noch in Abrede stellt. Allerdings würde es sich nicht um ein System Recht, sondern um eine Mehrzahl von Systemen handeln, da es jeweils voneinander unabhängige „secondary rules“ für die Normkreierung gibt. d) Verbindlichkeit Der Ansatz von Hart ließe sich für das Völkerrecht aber auch in anderer Weise fruchtbar machen, indem auf Art. 38 IGH-Statut als „secondary rule“ abgestellt und damit geprüft wird, inwieweit die Normen einer der in Art. 38 IGH-Statut genannten Rechtsquellen zuordenbar sind41. recognition specifying ,sources‘ of law and providing general criteria for the identification of its rules“ (Hart, Concept of Law, S. 209). 38 Hart, Concept of Law, S. 231. 39 Hart, Concept of Law, S. 229: „In the simpler form of society we must wait and see whether a rule gets accepted as a rule or not; in a system with a basic rule of recognition we can say before a rule is actually made, that it will be valid if it conforms to the requirements of the rule of recognition“. 40 Vgl. zu den Formen der Institutionalisierung der Normsetzungsverfahren der IAO Valticos, Droit international du travail, S. 128 ff.; Valticos / von Potobsky, International Labour Law, S. 49 ff.; Betten, International Labour Law, S. 20 ff.; Johnston, International Labour Organisation, S. 88; Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 294; Fried, Rechtsvereinheitlichung, S. 45; Osieke, International Labour Organisation, S. 146; MacMahon, Legislative Techniques, S. 21 ff. 41 Vgl. Jimenez de Arechaga in: Cassese / Weiler, Change and Stability, S. 1, der Völkerrecht als ein im Sinne von Hart geschlossenes Regelsystem ansieht. 28*
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Sozialstandards sind vor allem in völkerrechtlichen Verträgen enthalten; die Begründung aufgrund von Gewohnheitsrecht ist schon bei allgemeinen menschenrechtlichen Normen problematisch42; bei Sozialstandards wird ein derartiger Ansatz bisher noch nicht vertreten43. Auch allgemeine Rechtsgrundsätze spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle44. Damit verliefe die Grenzlinie zwischen Recht und Nicht-Recht im Wesentlichen zwischen verbindlichen Verträgen und unverbindlichen Empfehlungen, Deklarationen und Resolutionen45. Dem steht allerdings nach Simma entgegen, dass „die internationale Gemeinschaft heute immer mehr Normen erzeugt, die sich an die ausgetretenen Pfade des Art. 38 nicht mehr oder nur mehr mit Gewalt anschließen lassen“46, so dass sich eine Vielzahl von Ansätzen finden, die die Rechtsquellenlehre neuen Erkenntnissen entsprechend in verschiedener Hinsicht modifizieren47. Die formellen Rechtsquellen werden nicht mehr als numerus clausus der Rechtserzeugungsarten verstanden; vielmehr wird argumentiert, die Normerzeugung befinde sich in einem flüssigen Aggregatszustand48. Dementsprechend hat sich die Rechtsdoktrin dem Phänomen des soft law49 zugewandt und die Bedeutung unverbindlicher Normen – unter verschiedenen Vorzeichen – diskutiert50. 42 Zur Problematik einer Anerkennung von Menschenrechten als Bestandteil des Gewohnheitsrechts vgl. Simma / Alston, Sources, S. 82 ff. (ablehnend), und Lillich, Customary International Human Rights Law, S. 1 ff. (befürwortend). 43 Soweit Menschenrechte als Bestandteil von Gewohnheitsrecht anerkannt werden, werden in der Regel nur grundlegende Freiheitsrechte in Betracht gezogen; vgl. Lillich, Customary International Human Rights Law, S. 1 ff. 44 Stellt man in diesem Zusammenhang auf die Rechtsgrundsätze ab, die die Grundlage des übereinstimmenden innerstaatlichen Rechts bilden (Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 602), so ließe sich argumentieren, dass die Idee einer sozialen Sicherung – zumindest in rudimentärer Form – in nahezu allen Rechtsordnungen anzutreffen sind. Allerdings ist ein Rückgriff auf diese Rechtsfigur aufgrund der umfangreichen vertraglichen Normierungen nicht notwendig. 45 Vgl. Danilenko, Law-Making, S. 23: „Sources of law thus play a central role in our understanding of the law: it is widely accepted that only a notion of law based on the doctrine of sources could help to draw a distinction between law and other kinds of rules, particularly moral and political norms“. 46 Simma, Resolutionen, S. 76. 47 Vgl. dazu Cassese / Weiler, Change and Stability, S. 1 ff.; Brownlie, Principles, S. 1 ff.; Starke, Introduction to International Law, S. 32 ff.; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht, S. 48 ff.; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, S. 321 ff.; van Hoof, Rethinking the Sources of International Law, S. 11 ff., S. 83 ff., S. 179 ff.; Riedel, Farewell, S. 58 ff. 48 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 518; vgl. auch Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht 1972, S. 112: „Die übliche Einteilung der Rechtsquellen nach Vertrag und Gewohnheitsrecht bedeutet keine Fixierung der Wege der Rechtserzeugung auf diese beiden Modalitäten, sondern beschreibt lediglich empirisch die äußeren Formen, auf die der Rechtswille der Völkergemeinschaft bisher im Wesentlichen beschränkt gewesen ist. Die Förmlichkeiten sind lediglich Indikatoren für die Existenz eines echten Rechtswillens, der jederzeit auch ein anderes Erscheinungsbild annehmen kann und damit jenes Merkmal der Unmittelbarkeit besitzt, wie es dem pouvoir constituant zugeschrieben wird“.
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Nach einem als „konservativ“ zu bezeichnenden Ansatz wird soft law nicht als „Recht“ angesehen, dennoch aber für ein wichtiges Mittel gehalten, um die Bedeutung von Normen internationalen Ursprungs zu klären und Änderungen des Rechts wahrzunehmen51. Ein Beispiel aus dem Recht der IAO wären die unverbindlichen Resolutionen, die als Richtlinien und „terms of reference“ vom Sachverständigenausschuss der IAO herangezogen werden können52. Weiter geht Riedel mit seiner Theorie der Menschenrechtsstandards. Auch er nimmt als Ausgangspunkt die Rechtsquellentrias des Art. 38 IGH-Statut. Diese sieht er aber als nicht ausreichend an, zum einen, da sich die Struktur der Staatengemeinschaft sowie die Grundlagen der Konsensbildung insgesamt geändert hätten, zum anderen aber auch, da Art. 38 IGH-Statut eine traditionalistische Anschauung von der Wirkung von Rechtsnormen spiegele, die nicht mehr dem heutigen Verständnis entspräche53. Der Ansatz Riedels ist, Normen des hard law und des soft law zu Kombinationsstandards zusammenzufassen, deren Wirkung im Ineinandergreifen der Regelungen unabhängig von ihrer Geltungskraft zu sehen 49 Der Begriff „soft law“ erfährt in der Literatur eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen. Eine Möglichkeit ist, darunter all diejenigen Normen zu fassen, die nicht auf eine der in Art. 38 IGH-Statut enthaltenen Rechtsquellen zurückzuführen sind (Simma / Verdross, Universelles Völkerrecht, § 654; Thürer, Soft Law, S. 432). Geht man von dieser Definition aus, konzentriert sich die Diskussion darauf, entweder auch diese Normen, insbesondere die Resolutionen internationaler Organisationen, als eigenständige Völkerrechtsquelle anzuerkennen oder zu zeigen, wie sie in das Schema der Rechtsquellentrias einzupassen sind, insbesondere, wie sie zur Entwicklung von Gewohnheitsrecht beitragen (vgl. Cassese / Weiler, Change and Stability, S. 37 ff.). Möglich ist auch, mit soft law Festlegungen im Rahmen von Verträgen zu bezeichnen, die nicht-verbindlich sind (Ida, Soft Law, S. 333 ff. – dieser Ansatz wird im Folgenden unter dem Stichwort „Justitiabilität“ diskutiert; vgl. auch den Überblick über verschiedene Formen des soft law bei Baxter, Infinite Variety, S. 549 ff.; Schachter, Non-binding Agreements, S. 296 ff.). 50 Vgl. Heusel, Weiches Völkerrecht, Schachter, Nonbinding International Agreements, S. 296 ff.; Baxter, Infinite Variety, S. 549 ff.; Fastenrath, Relative Normativity, S. 307 ff.; Chinkin, Soft Law, S. 850 ff.; Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 149 ff.; Riedel, Farewell, S. 58 ff.; Bothe, Legal and non-legal norms, S. 65 ff.; Thürer, Soft Law, S. 4 29 ff.; Bossuyt, Distinction juridique, S. 783 ff.; Vitzthum, Begriff, S. 14; Ida, Soft Law, S. 333 ff.; Zemanek, Soft Law, S. 843 ff.; Dupuy, Soft Law, S. 247 ff.; Jabloner / Okresek, „Soft law“, S. 217 ff.; Tammes, Soft Law, S. 187 ff.; Klabbers, Soft Law, S. 167 ff. 51 Vgl. Fastenrath, Relative Normativity, S. 324: „Soft law is an instrument which provides, in as positivist a way as possible, understanding on the existence of rules, their formulation and interpretation“; vgl. auch Simma / Paulus, Positivist View, S. 308 ff., Simma / Zöckler, Social Protection, S. 78 ff.; Chinkin, Soft Law, S. 850 ff., Riedel, Farewell, S. 58 ff.; Thürer, Soft law, S. 447, geht davon aus, dass „soft law“ auch als Auslegungshilfe für das nationale Recht dienen könne. 52 Vgl. dazu Valticos / v. Potobsky, International Labour Law, Rd. 121. 53 „The traditional national approach to legal norms – to this very day – follows the positivistic legal pattern of conditional programme, consequence, and conclusion, supplemented by sanctions or at least the threat of sanctions for breach of those legal obligations. This pattern clearly fits many developments in international law, but not all of them“ (Riedel, Farewell, S. 65).
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ist. Damit dienen Normen, denen keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt, nicht mehr nur der Auslegung des hard law oder werden als Zwischenstufe zur Entwicklung von hard law angesehen; vielmehr kommt ihnen ein Eigenwert bei der Konstituierung der nach außen wirkenden Normkomplexe zu54. Einzelentscheidungen beruhen damit zwar auf den dem hard law zurechenbaren Teilen der Kombinationsstandards, werden aber von den Soft-law-Elementen mit unterstützt55. Riedel wertet damit auch die nicht-verbindlichen Normen als integrativen Bestandteil des Rechts. Nach dieser Theorie wären internationale Sozialstandards in ihrer Gesamtheit als Bestandteil des „Rechts“ zu sehen. Verbindliche Normen wären ein Ausschnitt des Bildes, deren konkrete Bedeutung sich erst mit Blick auf die unverbindlichen Normen erschließt56. e) Justitiabilität Wird auf diese Weise der Kreis, den das Recht ausfüllt, über die verbindlichen Standards hinaus erweitert, so lässt sich – konträr dazu – auch vertreten, nur eine Teilmenge der verbindlichen Normen stelle Recht dar. Ansatzpunkt wäre hier die Möglichkeit der gerichtlichen Geltendmachung der Normen. Voraussetzung dafür ist nicht nur, dass die Normen verbindlich, sondern auch, dass sie justitiabel sind57. Dies bedeutet, dass internationale Sozialstandards dann, wenn der Inhalt im Einzelfall nicht eindeutig konkretisierbar ist, nicht als dem „Recht“ im eigentlichen Sinne zuordenbar verstanden werden. Dies ist der Hauptkritikpunkt an sozialen Grundrechten: Sie seien aufgrund ihres progressiven Charakters und ihrer Unbestimmtheit nicht justitiabel. Illustrativ für diese Position ist die Stellungnahme von Vierdag zum ICESCR, abgegeben allerdings zu einem Zeitpunkt, als es noch keine unabhängige Kontrolle der Einhaltung der Bestimmungen gab: Vgl. Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 260 ff.; Riedel, Farewell, S. 68, 69. „It is the presence of norms of varying degrees of legal obligation that mutually reinforce each other, and establish new forms of implementation which bring about significant changes of human rights realization within individual states and at the international level“ (Riedel, Farewell, S. 71). 56 Auch die IAO selbst relativiert die Bedeutung des Unterschiedes zwischen verbindlichen und nicht verbindlichen Standards. In der Einleitung zum „International Labour Code“ von 1951 wird festgehalten, der Unterschied zwischen ILO-Übereinkommen und -empfehlungen sei „less absolute in practice than in legal principle. Experience has shown that Conventions produce a substantial part of their practical effect as standard-defining rather than as obligation-creating instruments. For Conventions, although designed as obligation-creating instruments, are not binding per se“ (IAO, International Labour Code, Band 1, S. LXVIII); vgl. auch Fried, Rechtsvereinheitlichung, S. 45; Jenks, Corpus Iuris, S. 102 ff.; Wolf, Interdépendance, S. 117 ff. 57 Van Hoof (Legal Nature, S. 101) unterscheidet in diesem Zusammenhang „validity“ und „applicability“. 54 55
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„. . . social rights are not directed at government action that can be described or defined in terms of law. The creation of social and economic conditions under which social rights can be enjoyed is – as yet – not describable in terms of law. In order to be a legal right, a right must be legally definable; only then can it be legally enforced, only then it can be said to be justiciable. All aspects of economic, social and cultural rights: elements, forms, goals, methods of implementation, and so on, are economic, social and cultural, not – as yet – legal“58.
Entweder wird den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten die Justitiabilität vollständig abgesprochen59, oder aber sie werden im Vergleich zu den bürgerlichen und politischen Rechten als minderwertig dargestellt60. Diesem Ansatz wird mit einer Vielzahl von Argumenten widersprochen; federführend sind Eide, Scheinin, Shue und van Hoof. Nach ihrer Meinung ist für das Verständnis der Rechtsnatur von sozialen Grundrechten zentral, dass nicht nur diese, sondern alle grundrechtlichen Normierungen mehrschichtig seien. Betrachte man die den Staaten obliegenden Verpflichtungen, so ginge es immer um drei Ebenen: um die Pflicht, ein Recht anzuerkennen, zu schützen und die Voraussetzungen für seine Realisierung zu schaffen (auf eine kurze Formel gebracht: „to respect – to protect – to provide“61). „Respect“ bedeutet, dass der Staat in den Schutzbereich eines Rechts nicht eingreifen darf, „protect“, dass er Rechte gegen Eingriffe Dritter zu schützen hat, „provide“, dass Maßnahmen zu ergreifen sind, um die Rechte tatsächlich zu gewährleisten. Zwar sei bei sozialen Rechten der Aspekt, Grundlagen für die Rechtsverwirklichung zu schaffen, dominant, bei den bürgerlichen und politischen Rechten werde dagegen der Akzent auf Nicht-Eingriff und Schutz gelegt; dennoch umfasse jede Rechtsgewährleistung alle drei Ebenen. Deshalb sei die Schwarz-Weiß-Unterscheidung zwischen einer nicht justitiablen programmatischen Verpflichtung zu einem Tun und einer justitiablen Verpflichtung zu einem 58 Viedrag, Legal Nature, S. 93. Viedrag vergleicht soziale Rechte mit den von Georg Jellinek in Anlehnung an Rudolf von Ihering entwickelten „Reflexrechten“, d. h. Rechtspositionen, die daraus entstehen, dass sich die Verpflichtung des Staates zur Vornahme einer Handlung mit einem subjektiven Interesse deckt. 59 So Vierdag, Legal Nature, S. 69 ff. 60 Vgl. Cohen-Jonathan, Pluralité des systèmes, S. 641: „Pour l’essentiel la Convention des droits de l’homme consacre des droits-libertés qui supposent une abstention de l’Etat ou plus précisément un système de limitations imposées à l’Etat afin d’assurer le libre jeu des libertés individuelles. Au contraire, la Charte sociale envisage de nombreux droits-créances qui imposent à l’Etat des prestations actives ( . . . ). Les premiers sont susceptibles d’être judiciairement garantis. Les seconds se prêtent mal à un tel contrôle. Georges Burdeau l’a très bien dit ,le droit individuel inclut en lui une liberté active, créatrice; les droits sociaux au contraire ne sont que des vocations à la liberté. Ils ne définissent pas une liberté présente, ils annoncent une libération.‘ Mais comment concevoir un contrôle judiciaire sur une vocation à la liberté, comment vérifier par exemple si une infraction a été commise à l’égard du droit à une rémunération équitable par exemple, étant entendu que l’Etat doit réaliser ce programme d’une manière progressive et relative“; vgl. auch Bossuyt, Distinction juridique, S. 783 ff. 61 Vgl. grundlegend Eide, Food as a Human Right, 25; Shue, Basic Rights.
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Unterlassen nicht haltbar. – Justitiabel sei jedes Recht, wenn auch zum Teil nicht in vollem Umfang, so doch zumindest in einzelnen Aspekten. Dies bestätigt die Analyse der Spruchpraxis der verschiedenen Sachverständigenkomitees zu den Sozialstandards. Einzelne Elemente des Rechts auf soziale Sicherheit und soziale Fürsorge sind justitiabel, die Rechte in ihrer Gesamtheit entziehen sich aber einem juristisch operationellen Ansatz. Justitiabel ist der Aspekt der Gleichbehandlung: Werden bei der Gewähr von Rechten ohne sachlich rechtfertigenden Grund Unterscheidungen getroffen, so lassen sich in diesen Fällen eindeutige Verstöße gegen Sozialstandards feststellen. Justitiabel ist auch die Ausgestaltung von Gerichtsverfahren, bei denen soziale Rechte geltend gemacht werden. Weiter ist die Durchsetzung „begründeter Erwartungen“ justitiabel. Darunter sind Rechtspositionen zu verstehen, die auf gesetzlicher Grundlage garantiert worden sind; hier wird mit dem Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips gemessen. Und justitiabel sind schließlich auch bestimmte formale Gestaltungselemente wie die gemeinsame Finanzierung sozialer Sicherheit durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer – dies zeigen insbesondere die Interpretationsansätze zur ESC und zu den Konventionen der IAO62. Geht es aber darum, einen Kern des Rechts auf soziale Sicherheit zu bestimmen, so ergibt sich ein uneinheitliches Bild. Zwar gibt es einen Katalog der sozialen Risiken – Krankheit, Alter, Invalidität, Mutterschaft, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Verlust des Ernährers –, gegen die Vorsorge zu treffen ist. Hier lässt sich dementsprechend prüfen, ob ein Staat überhaupt Vorsorgesysteme aufgebaut hat. Im Übrigen zeigen aber die Stellungnahmen zu den Staatenberichten, insbesondere im Rahmen des ICESCR, dass es nicht allgemein gültige Verpflichtungen in diesem Bereich gibt. Vielmehr sind die aus den jeweiligen Normen entspringenden Verpflichtungen relativ, und damit immer nur im Verhältnis zum wirtschaftlichen Entwicklungsstand und zum Rechtssystem des einzelnen Staats zu bestimmen. Die Auslegung der Normen – geht es nicht um Fragen der Diskriminierung, der gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen, des Vorhandenseins bestimmter organisatorischer Grundelemente – kann jeweils nur im Verhältnis zum angesprochenen Staat Gültigkeit beanspruchen; die Ergebnisse sind nicht auf andere Staaten übertragbar. Wird bei einem Staat das Unterlassen einer bestimmten Regelung auf der Grundlage einer Norm internationalen Rechts gerügt, so muss das Unterlassen eines anderen Staates nicht in gleicher Weise als negativ bewertet werden. Im Gegensatz zu den offen formulierten sozialen Grundrechten ist die Justitiabilität der spezifisch sozialrechtlichen Konventionen aufgrund der Detailliertheit der Normen in der Regel nicht problematisch63. Stellt man auf die Justitiabilität der Normen ab, um Recht von Nicht-Recht abzugrenzen, so ist eine Einzelfallprüfung vorzunehmen; zusätzlich ist zu berück62 63
Vgl. dazu die Ergebnisse von Kapitel C. Vgl. die Spruchpraxis zu Konvention Nr. 102 und zur EOSS (Kapitel C).
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sichtigen, dass Normen teilweise justitiabel, teilweise nicht-justitiabel sein können.
2. Bestimmung der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards mit Blick auf die Rezeption All den bisher dargestellten Theorien ist eigen, dass sie die Autorität bestimmter Regeln als „Rechtsregeln“ ohne Blick auf die tatsächliche Wirkung bestimmen. Eine verbindliche, sanktionierbare und justitiable Norm kann aber als Regelungsmechanismus völlig bedeutungslos sein wie etwa die als diskriminierend und damit völkerrechtswidrig erkannte Bestimmung des Art. 60 der Konvention Nr. 102 der IAO, die nur Frauen, nicht aber Männern Hinterbliebenenrenten im Falle des Todes des Ehegatten zuerkennt – hätte diese Norm konkrete Auswirkungen, hätten die an sie gebundenen Staaten versuchen müssen, sie abzuändern oder aufzuheben, wie dies bei entsprechenden Normen in den nationalen Rechtsordnungen durchgehend geschehen ist. – Moderne theoretische Ansätze knüpfen an dieser Überlegung an und berücksichtigen bei der Bestimmung von Recht, welche Autorität Normen als Rechtsnormen tatsächlich zukommt, wie sie aufgenommen werden und wie sie wirken. Dieser rechtssoziologische Ansatz ist gerade bei der Analyse von internationalen Sozialstandards unverzichtbar, da die Rechtskritik wesentlich darauf abzielt, dass die Sozialstandards, wenn auch de iure geltendes Recht, so doch de facto irrelevant seien.
a) Erwartungsstrukturen Niklas Luhmann setzt bei den potentiell dem Recht Unterworfenen an und versteht Recht als einen Mechanismus, der Erwartungen verfestigt, auch wenn ihnen nicht entsprochen wird – er spricht in diesem Zusammenhang von einer „durch kontrafaktisches Verhalten nicht unmittelbar änderbaren Verhaltenserwartung“64. Prämisse dieser Leistung des Rechts sind nach Luhmann konsolidierte politische Systeme. Dieser Ansatz lässt sich auf den internationalen Bereich übertragen. So hat etwa Henkin nachgewiesen, dass Regeln des Völkerrechts nicht nur in der überwiegenden Zahl der Fälle problemlos eingehalten werden65, sondern auch, dass Verstöße zumeist nicht zugestanden, sondern gleichermaßen als normkonformes Verhalten ausgegeben werden66. Das zeigt, dass in der Regel die normativen ErLuhmann, Rechtssoziologie, S. 42. Vgl. Henkin, How Nations Behave, S. 47: „Almost all nations observe almost all principles of international law and almost all of the obligations almost all of the time“. 66 Henkin, How Nations Behave; Weil, Droit international, S. 49; vgl. dazu kritisch Simma, Völkerrecht in der Krise, S. 273 ff., im Hinblick auf Verstöße gegen Fundamentalnor64 65
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wartungen sogar von denjenigen, die als Normbrecher in Erscheinung treten, geteilt werden67. Nach der Luhmann’schen Theorie wäre so für die Beantwortung der Frage, ob Sozialstandards „Recht“ sind, darauf abzustellen, ob diese Normen tatsächlich Erwartungsstrukturen schaffen. Theoretisch bedeutet die Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages, dass der Staat, der diesen Schritt unternimmt, erklärt, dass er die Bestimmungen des Vertrags für verbindlich halte, d. h., dass die anderen Vertragspartner von diesem Staat ein diesen Bestimmungen entsprechendes Verhalten erwarten dürfen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang das grundsätzlich unterschiedliche Ratifikationsverhalten der einzelnen Staaten, etwa bei Konventionen der IAO, in Rechnung zu stellen. Es gibt Staaten, die vor der Ratifikation im Detail prüfen, ob ihre Gesetzgebung mit den internationalen Vorgaben übereinstimmt, und nur dann einer Ratifikation zustimmen, wenn keine relevanten Abweichungen zu erkennen sind. Dagegen gibt es auch Staaten, die Konventionen en bloc ratifizieren und damit lediglich zum Ausdruck bringen wollen, dass sie die internationalen Vorgaben für richtig halten, ohne aber die Übereinstimmung der eigenen Gesetzgebung mit den internationalen Normen vorab im Einzelnen zu prüfen68. Mit der Ratifikation sollen damit gerade keine konkreten Erwartungen aufgebaut werden. Außerdem kommt man auch hier wieder zu dem unter dem Stichwort „Justitiabilität“ bereits angesprochenen Punkt, dass bei einer Vielzahl von Sozialstandards gerade nicht klar bestimmt wird, welches Verhalten von den Vertragsstaaten zu erwarten ist. Zudem sichert die buchstabengetreue Einhaltung einzelner Standards nicht gegen die Kritik, gegen andere Standards zu verstoßen; hier zeigt sich, dass Normkonflikte und Divergenzen kontraproduktiv wirken und die rechtliche Autorität der Normen in Frage stellen69. b) Verhaltensspielräume Gottlieb postuliert in seiner Abhandlung „The Nature of International Law: Toward a Second Concept of Law“, dass es zwei unterschiedliche Konzepte von men des Völkerrechts, denen die Befolgung rein technischer Regelungen nicht gleichzusetzen sei. 67 Im Gegensatz dazu werden, so Luhmann, kognitive Erwartungen, wenn sie nicht der Wirklichkeit entsprechen, aufgegeben. 68 Ein Beispiel wäre etwa Peru, das insgesamt 67 Konventionen der IAO ratifiziert hat, davon 32 allein im Jahr 1962, das aber seither alljährlich wegen seiner Praxis in einer Vielzahl von Fällen im Hinblick auf die über Jahre hin unveränderte Nicht-Einhaltung der Standards kritisiert wird. Öhlinger, The European Social Charter, S. 48 ff., nennt als Beispiel für diese Form von Ratifikationspraxis Spanien, das die ESC 1980 ohne Einschränkungen ratifizierte und seither in den Berichten des Sachverständigenausschusses immer wieder auf Nicht-Übereinstimmungen hingewiesen wird; vgl. dazu auch Landy, Effectiveness, S. 83 ff. 69 Vgl. Kapitel D.
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„Recht“ gebe. Nach seiner Meinung sind verschiedene Kriterien für die Definition „Recht“ heranzuziehen, je nachdem, ob Recht in einem vertikalen System funktioniert, das auf Über-Unter-Ordnung aufbaut, oder in einem horizontalen System, das von einer Gleichordnung der Akteure bestimmt ist. Dennoch sieht er Recht im internationalen Bereich nicht als „Aliud“ im Vergleich zum Recht im nationalen Bereich; beiden gemeinsam sind die Arten und Verfahren der Entscheidungsfindung70. Als Funktionen von Recht erkennt er unter anderem an, autoritative Bezugspunkte zu schaffen, Legitimität zu vermitteln und zu entziehen und damit letztlich Politik zu gestalten. Gottlieb arbeitet verschiedene Kriterien zur Bestimmung von Recht heraus: die Akzeptanz von spezifischen Regeln als bindend in dem Sinn, dass keine Freiheit besteht, sie zu ignorieren; das Handeln auf der Grundlage dieser bindenden Regeln und die Akzeptanz, sie zur Streitentscheidung heranzuziehen; ein gewisser Grad an Kongruenz zwischen Handeln und als Recht akzeptierten Regeln; ein Konsens über den Inhalt und die Entstehung der Regeln71. Zudem setzt Gottlieb voraus, dass internationale Akteure auf Grundlage der Normen Forderungen stellen und sie bei der Regelung von Meinungsverschiedenheiten heranziehen. Die Bezugnahme auf Sozialstandards bei Streitfällen ist nicht zu verifizieren. Auch fehlt ein Konsens über den genauen Inhalt der als bindend akzeptierten Regeln und über die Vorgehensweise, um einen entsprechenden Konsens zu identifizieren72. Nach der Theorie von Gottlieb wird als entscheidender Gesichtspunkt im Einzelfall angesehen, wie weit der Spielraum des der Norm Unterworfenen reicht, ob Verhalten nur im Hinblick auf das Ziel oder auch im Hinblick auf die Mittel zur Erreichung des Ziels determiniert ist73, wobei dies nicht, wie in dem rechtssoziologischen Modell Luhmanns, an den bei den Normadressaten entstehenden Erwartungen, sondern an der Sprachstruktur der Norm zu untersuchen ist. Verlangt man mit Gottlieb ein „marked degree‘ of firmness of guidance“ und damit eine Begrenzung des Auslegungsspielraums, um Recht von politischen Forderungen abgrenzen zu können, so sind auch nach diesem Ansatz die offenen Normierungen von Sozialstandards nicht zum Recht zu rechnen. Der Prozess der Normkonkretisierung könnte dieses Ergebnis nur dann ändern, wenn er vordeterminiert wäre. Dies ist er aber, wie die Auslegungspraxis zeigt, gerade nicht. 70 „Common juridical modes and procedures can therefore be traced to both models of legal ordering. The distinct features of those two models turn on their institutional and societal context, on the power relationships prevailing in that society. The consistent qualities of legalness are system-free, relating instead to modes and procedures of decision-making“. (Gottlieb, Second Concept, S. 376). 71 Vgl. im Einzelnen Gottlieb, Second Concept, S. 365. 72 Gottlieb, Second Concept, S. 365. 73 „Legal as distinct from political guidance requires that there be a ,marked degree‘ of firmness of guidance, limiting discretion not only with respect to the goals to be achieved but also as to the means to be adopted“. (Gottlieb, Second Concept, S. 371).
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Nach Gottliebs Ansicht führt aber – im Gegensatz zu positivistischen Konzeptionen – die Anwendung der einzelnen Kriterien nicht zu einer Ja-Nein-Entscheidung auf die Frage, ob eine Regel „Rechtsregel“ sei oder dem Bereich rein politischer Entscheidungen angehöre. Vielmehr sieht Gottlieb den Übergang als fließend an: „. . . but the more specific the guidance in a system becomes, the more specific the norms, the policy goals and their application, the more ,legal‘ this system becomes“74.
c) Sprachstrukturen Als Beispiel für eine Theorie, die an die Sprachstruktur anknüpft, sei im Folgenden Onufs Ansatz kurz skizziert, so wie er ihn in seiner Abhandlung „Do Rules Say What They Do? From Ordinary Language to International Law“ darlegt. Grundlage dieser Konzeption ist die Erkenntnis, dass mit Sprache nicht nur eine Nachricht übermittelt werden (lokutionärer Akt), sondern auch eine Handlung ausgeübt (illokutionärer Akt) und ein bestimmtes Ziel erreicht werden kann (perlokutionärer Akt)75. Die Ausgangsfrage, ob Regeln auch das sagen, was sie tun, stellt somit auf das Spannungsverhältnis zwischen „Sprechen“ und „etwas mit Sprache Erreichen“ ab. Um Rechtsregeln aus der allgemeinen Kommunikation herausschälen zu können, ist für Onuf als erster Schritt eine Differenzierung verschiedener Sprechakte erforderlich. Er greift dafür auf die Systematisierung von Searle zurück und unterscheidet „assertives“ (Bestimmungen)76, „directives“ (Anweisungen)77, „commissives“ (Verpflichtungen)78, „expressives“ (Gefühlsbezeigungen)79 und „declarations“ (Erklärungen)80. „Regeln“ lassen sich damit von anderen Sprechakten in einem ersten Schritt dadurch abgrenzen, dass es sich entweder um Bestimmungen, Anweisungen oder Verpflichtungen handeln muss81.
Gottlieb, Second Concept, S. 371 – 372. Vgl. die Zusammenfassung bei Habermas, Theorie, S. 389: „. . . etwas sagen; handeln indem man etwas sagt; etwas bewirken, dadurch dass man handelt, indem man etwas sagt“. 76 Onuf, Rules, S. 400: „Assertives are speech acts stating a belief, coupled to the speaker’s wish or intention that the hearer accept this belief“ 77 Onuf, Rules, S. 400: „. . . directives present the hearer with a speaker’s intention as to some act the speaker would like to have performed„ 78 Onuf, Rules, S. 400: „. . . commissives reveal the speaker‘s intention of being committed to a stated course of action: to promise and offer are usual examples“. 79 Onuf, Rules, S. 400: „Expressives serve to convey an emotion or attitude toward a state of affairs; examples are apologies and congratulations“. 80 Onuf, Rules, S. 400: „. . . declarations achieve illocutionary force and performative efficiency by parasitic association with institutionalized rules“. 81 „Hence, all rules are either assertives of the form, ,I state that X counts as Y,‘ or directives of the form, ,I state that X person (should, must, may, etc.) do Y,‘ or commissives of the form, ,I state that I (can, will, should, etc.) do Y‘“ (Onuf, Rules, S. 401). 74 75
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Diese Regeln bindet Onuf zurück auf verschiedene Formen sozial relevanten Verhaltens82. Werden die Regeln institutionalisiert und formalisiert, überschreiten sie nach Onuf die Grenze zwischen Nicht-Recht und Recht dann, wenn sie bestimmte Funktionen erfüllen können. Ob sie dies können, entscheidet sich danach, ob in der Folge „declarations“ als auf diesen Regeln basierende Sprechakte performativ erfolgreich sind, d. h. ausreichen, um aufgrund von Sprache etwas zu bewirken, sprachlich zu handeln. Rechtsregeln sind damit „. . . rules with the specific perlocutionary effect of authorizing persons to perform certain speech acts which will then be declarations on performance“83.
Damit untermauert Onuf aber letztlich Harts Theorie von den „secondary rules“ mit in der Linguistik entwickelten Kategorien. Bei der konkreten Abgrenzung zwischen Regeln internationalen und nationalen Ursprungs stellt auch er fest, dass sich die Regeln im nationalen Bereich in ein vorgegebenes System einpassen, im internationalen Bereich dagegen ihre Rechtsnatur aus sich heraus behaupten müssen und damit in entscheidendem Maß von der Rezeption abhängig sind: „Domestic orders typically depend on declarations whose performative sufficiency is a specific perlocutionary effect of yet other such declarations. The international order consists of many rules lacking formality and therefore always subject to revisions in their normative strength depending on the reception accorded each use“84.
Allerdings bleibt Onuf nicht an diesem Punkt stehen, sondern thematisiert auch die Verwendung der Regeln im institutionalisierten Diskurs, bei Entscheidungen von Schiedsrichtern, die über strittige Interpretationen zu befinden haben, bei Auseinandersetzungen zwischen rechtlich bevollmächtigten Staatenvertretern über verschiedene Rechtspositionen und auch im öffentlichen Streit um Prinzipien. Denn: „It is true that discourse about law is what makes legal rules pervasive“85.
Anhand dieser Theorie wird das internationalen Sozialstandards inhärente Spannungsverhältnis zwischen dem lokutionären Akt der Festlegung des Inhalts einer Norm, etwa der Aussage, jeder habe ein Recht auf soziale Sicherheit, und dem perlokutionären Akt der Einforderung dieses Rechts bewusst; gerade hier ist einer der wesentlichen Mängel des Systems zu sehen. Sprachliche Festlegung, Handlung und Wirkung bilden bei Sozialstandards keine Einheit.
82 Onuf, Rules, S. 404: „These socially constitutive activities are: (1) naming and relating, (2) having and using, and (3) enabling and making unable“. 83 Onuf, Rules, S. 407. 84 Onuf, Rules, S. 407. 85 Onuf, Rules, S. 408.
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d) Besondere Argumentationsmuster Geht man davon aus, dass Recht „unbestimmt“ ist, dass Rechtssätze Verhalten grundsätzlich nicht eindeutig bestimmen, so ist es konsequent, das Augenmerk auf den operativen Prozess zu richten, d. h. darauf, wie Recht in institutionalisierten Verfahren funktioniert. Kratochwils Theorie basiert auf Überlegungen zur Funktion von Normen im kontradiktorischen Prozess. Kern seiner These ist, Recht sei ein „rhetorisches Mittel“: „In this view, law is a particular form of argument and instead of the workings of ,pure law‘ by means of logical hierarchies, i.e. deductive entailment or inductive generalization, legal reasoning exhibits features that are fundamentally ,rhetorical‘ in character“86.
Diese Charakteristika sieht er auch im internationalen Bereich gegeben. Die auf Recht als rhetorischem Mittel basierende Überzeugungsarbeit richtet sich an eine universelle Zuhörerschaft. Statt Zwang auszuüben wird die Zustimmung des Gegenübers gesucht. Dafür werde zum einen auf allgemein akzeptierte und der Allgemeinheit auch verständliche Topoi – z. B., dass gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln seien, man jedem das Seine zukommen lassen müsse – rekurriert, zum anderen aber würden auch Argumente verwendet, die nur ausgebildeten Juristen verständlich seien; aus dieser Mischung ergebe sich das Spezifische des juristischen Diskurses. Nun lässt sich argumentieren, internationale Sozialstandards seien Teil dieser Rhetorik; es geht nicht um Zwang, sondern um Überzeugungsarbeit, die auf spezifischen Argumentationsstrukturen beruht. Allerdings macht die Analyse etwa der einzelnen Sachverständigenkommentare deutlich, dass nur teilweise mit „juristischer Rhetorik“ – Begründung von Pflichten als Rechtspflichten – gearbeitet wird, teilweise die Stellungnahmen aber auch als bloße Wünsche, die von keiner besonderen Autorität abgestützt sind, formuliert werden87.
e) Gewicht in Entscheidungsprozessen Möglich ist auch, darauf abzustellen, rechtliche Faktoren im allgemeinen Entscheidungsprozess, sei es im nationalen, sei es im internationalen Rahmen, zu gewichten.
Kratochwil, International Law, S. 40. Vgl. z. B. die Tatsache, dass das Problem der Gewalt gegen Frauen im privaten Bereich im CEDAW – zieht man den Wortlaut heran – nicht angesprochen wird, der Sachverständigenausschuss dennoch in Art. 16 und Art. 5 ein Gewaltverbot angelegt sieht, ohne dies in irgendeiner Weise zu begründen: „Family violence is one of the most insidious forms of violence against women. . . . These forms of violence put women’s health at risk and impair their ability to participate in family life on a basis of equality“ (Punkt 23 der Empfehlung Nr. 19 von 1992). 86 87
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Nach der „Law and Economics“ Theory sind Gesetzgebung und Rechtsprechung ebenso wie der Markt darauf ausgerichtet, individuelle Präferenzen offenzulegen und zu einem Ausgleich zu bringen. „No individual can determine ,efficiency‘ for another, if efficiency is defined as maximization of preferences, because no individual knows another’s preferences. Rather, societies structure legislatures, courts and markets to enable constituents to maximize their subjectively determined preferences, subject to institutional constraints“88.
Die „Policy Oriented Jurisprudence“ interpretiert Recht nicht als „set of rules“, sondern als „stream of authoritative decisions“89. Recht wird damit reduziert auf den tatsächlichen Einfluss im Entscheidungsprozess. Der jeweilige argumentative Wert bemisst sich danach, von wem das Recht kommt und aus wessen Perspektive es betrachtet wird. Damit gibt es nicht mehr eine umfassende, systematische Kategorie „Recht“, sondern jeder Rechtssatz muss in seinem normativen Gehalt eigens bestimmt werden90. Nach diesen Überlegungen wäre im Einzelnen zu prüfen, inwieweit internationale Sozialstandards bei Entscheidungsprozessen tatsächlich herangezogen werden, einerseits bei Verfahren vor nationalen Gerichten, andererseits im Gesetzgebungsprozess. Die Bedeutung formaler Kriterien – insbesondere die Verbindlichkeit von Normen – würde aus dieser Perspektive relativiert. Spielt sie auch bei Gerichtsverfahren vor nationalen Gerichten eine entscheidende Rolle, so ist doch nachweisbar, dass Konventionen der IAO, gerade auch Konvention Nr. 102 der IAO, einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Sozialschutzsystemen in den Ländern haben, die von einer Ratifikation Abstand genommen haben91. – Betrachtet man andererseits die im Jahr 2001 veröffentlichte Analyse der IAO zur sozialen Sicherheit, so fällt auf, dass dem input der Normen nur eine äußerst geringe Bedeutung beigemessen wird92. f) Besonderheiten des Kommunikationsprozesses McDougal / Lasswell und Reisman entwerfen eine Theorie vom internationalen Recht, die Recht von anderen Mitteilungen im globalen Kommunikationsprozess auf der Grundlage von drei Kriterien unterscheidet: „policy content“, „authority signal“ und „control intention“. Alle drei Komponenten müssen von einem Sender an einen Empfänger in einem andauernden Prozess vermittelt werden. Der RechtsDunoff / Trachtman, Law and Economics, S. 398, 399. Slaughter / Ratner, Message, S. 411. 90 Vgl. dazu im Einzelnen Wiessner, Willard, Policy-Oriented Jurisprudence, S. 316 ff. 91 Vgl. die Stellungnahme von Bartolomei de la Cruz in der Diskussion „Is there a Need for the Further Development of Existing Protection Standards in the Field of Social Security?“, in: v. Maydell / Nußberger, Social Protection, S. 190 ff.; allgemein zur Wirkung von Normen der IAO auf nationale Reformprojekte vgl. Landy, Influence, S. 568 ff. 92 ILO, Social Security, S. 72 ff. 88 89
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begriff wird damit eingeengt auf effektives, fortwirkendes Recht; totes Buchstabenrecht wird nicht erfasst. – Das Kriterium „policy content“ setzt an der Intention der rechtsetzenden Instanz an, berücksichtigt aber auch die sprachliche Form und den Kontext. Der mögliche Inhalt rechtlicher Normen wird im Hinblick auf die Vorgaben des internationalen ius cogens eingeengt gesehen. Zentral ist das Kriterium „authority signal“, da damit die Ausübung von rein tatsächlicher Macht von der Ausübung rechtlich fundierter Macht abgegrenzt wird. Definiert wird „authority control“ als „. . . a communication which attends the communication of policy content and control intention and which indicates to the relevant audience that the communicators are the appropriate lawmakers or, in more functional terms, have the authority to prescribe“93.
Das Kriterium „control intention“ greift nach der New Haven School weiter als das von den Zwangstheorien des Rechts vertretene Sanktionskonzept. Es wird definiert als „. . . power, the capacity and willingness to make a preferential expression effective“94.
Aus der Sicht der New Haven School gibt es nicht ein allgemeines internationales Recht, das als übergreifende Kategorie funktionieren könnte, sondern eine Vielzahl von internationalen Rechten95. Inwieweit „policy content“, „authority signal“ und „control intention“ bei internationalen Sozialstandards vorliegen, ist nicht allgemein zu bestimmen; vielmehr ist auf die jeweilige konkrete Kommunikationssituation, in der die Normen zu wirken bestimmt sind, abzustellen.
g) Autopoietische Verselbständigung des Systems Für das Verständnis der Rechtsnatur von internationalen Sozialstandards von besonderem Interesse ist Teubners Theorie vom Recht als autopoietischem System. Prämisse der Theorie ist, dass das Recht auf seiner höchsten Entwicklungsstufe als autopoietisches System von anderen gesellschaftlichen Systemen getrennt sei.
Reisman, Communication, S. 110. Reisman, Communication, S. 110. Vgl. McDougal / Lasswell, Public Order, S. 53: „Authority is the structure of expectation concerning who, with what qualifications and mode of selection, is competent to make which decisions by what criteria and what procedures. By control we refer to an effective voice in decision, whether authorized or not. The conjunction of common expectations concerning authority with a high degree of corroboration in actual operation is what we understand by law“. 95 McDougal / Lasswell, Public Order, S. 46. Diese Rechtsdefinition findet sich aber in den verschiedenen Publikationen in unterschiedlichen Varianten wieder: McDougal, Studies, S. 987: „What we have instead is rather a variety of ,international‘ laws and an anarchy of diverse, contending orders proclaiming and embodying the values of human dignity in very different degrees, and aspiring to application and completion of many different scales of international, regional, and global compass“. 93 94
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Teubner unterscheidet drei Stufen der Entwicklung des Rechts, von einem gesellschaftlich diffusen System über ein teilautonomes Recht zu einem autopoietisch geschlossenen System. Während bei einem gesellschaftlich diffusen Recht die allgemeine gesellschaftliche Kommunikation und die spezifisch rechtliche Kommunikation noch ineinander verschränkt seien, zeichne sich das teilautonome Recht bereits durch eine explizite Differenzierung der verschiedenen Kommunikationsebenen aus96. Voraussetzung dafür sei, dass das System sich selbst beobachte und über diese Beobachtung sich selbst konstituiere. Normen ließen sich auf dieser Stufe als „selbstreferentiell konstitutierte Systemkomponenten“ beschreiben97. Von diesen teilautonomen Rechtssystemen grenzt Teubner die Rechtssysteme ab, deren Systemkomponenten hyperzyklisch verknüpft sind: „Nun ist ein Sonderfall der Selbstkonstitution für unsere Zwecke interessant: wenn die Kriterien für die Normidentifizierung in der Weise konstituiert werden, dass sie nicht auf außerrechtliche Rechtsquellen, sondern auf interne Systemkomponenten verweisen. Autopoiese-Verdacht tritt also etwa dann auf, wenn die Selbstbeschreibungen des Rechts eine Rechtsquellenlehre entwickeln und praktizieren, die die Normgewinnung auf Präjudizien verweist, oder auf andere Prozesse rechtsinterner Rechtsbildung. Dann werden Rechtsnormen durch Verweis auf Rechtshandlungen definiert, also Systemkomponenten durch Systemkomponenten ,produziert‘“98.
Kern der Theorie ist, dass sich das System „Recht“ gegenüber der allgemein-gesellschaftlichen Interaktion verselbständigt, seine je eigenen Systemkomponenten definiert und operativ verwendet99; Recht schält sich aus der allgemeinen Kommunikation heraus. Begriffe, die zuerst in einem allgemeinen Kontext verwendet werden, werden in einen neuen Kontext gestellt100. Ein Begriffsapparat wird aufgebaut, bei dem die einzelnen Elemente untereinander in Beziehung stehen. Begriffe werden zu Rechtsbegriffen und erlangen eine eigenständige Bedeutung. Und Teubner, Autopoietisches System, S. 51. „Die kritische Übergangsschwelle zu einem ,teilautonomen Recht‘ ist erreicht, wenn eine oder mehrere der Systemkomponenten des Rechtssystems durch Selbstbeschreibung und Selbstkonstitution gegenüber den Komponenten allgemeingesellschaftlicher Interaktion verselbständigt werden“ (Teubner, Autopoietisches System, S. 50). 98 Teubner, Autopoietisches System, S. 54. 99 Teubner, Autopoietisches System, S. 51; vgl. auch die Zusammenfassung S. 87: „Aus dem allgemeinen Kommunikationskreislauf der Gesellschaft haben sich spezialisierte Kommunikationskreisläufe ausdifferenziert, von denen einige soweit verselbständigt sind, dass sie als autopoietische Sozialsysteme zweiten Grades anzusehen sind. Sie haben gegenüber der gesellschaftlichen Kommunikation eigenständige Kommunikationseinheiten als ihre Elemente konstituiert, die ihrerseits selbstreproduktiv sind, also Kommunikationseinheiten gleicher Art und Güte herstellen. Sämtliche ihrer Systemkomponenten sind selbstreproduktiv: Sonderkommunikationen als Elemente, selbstgenerierte Erwartungen als Strukturen, eigenständige Prozesse, thematisch definierte Grenzen, selbstkonstruierte Systemumwelten, selbstdefinierte Identität“. 100 Vgl. zur Differenzierung zwischen Alltagssprache und juristischer Fachsprache allgemein Larenz, Methodenlehre, S. 305 ff. 96 97
29 Nußberger
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mit diesem Begriffsapparat wird in der Folge operiert. Die einzelnen Elemente werden miteinander vernetzt und erzeugen sich gegenseitig; sie werden in eine zirkuläre Struktur eingebunden und führen als Bestandteil des Systems ein Eigenleben, das von der Dynamik des Systems bestimmt wird. Entscheidend ist, dass sich die Begriffe und mit ihnen die Normen im operativen Prozess, bei der Anwendung auf konkrete Sachverhalte, verselbständigen, einen Eigenwert bekommen. Eine derartige Dynamisierung der Einzelelemente durch die Zugehörigkeit zum System kann aber nur stattfinden, wenn das System „arbeitet“ und damit auf der Grundlage abstrakter Normen autoritative konkrete Entscheidungen getroffen werden. Dann ist das System im Teubner’schen Sinn zirkulär strukturiert, die einzelnen Elemente beziehen sich auf sich und nur auf sich; das System kann seine eigene Dynamik entfalten. Überträgt man diesen Ansatz auf internationale Sozialstandards, so lassen sich die aus der Analyse der Kontrollverfahren gewonnenen Erkenntnisse für die Bestimmung der Rechtsnatur der Standards verwerten. Die Kontrollverfahren unterscheiden sich wesentlich darin, wie mit den ihnen zugrunde liegenden Normen umgegangen wird. Entweder wird, wie etwa bei der Rechtsprechung zur EMRK, aber auch bei der Auslegung der ESC, ein Begriffsverständnis definiert, mit dem dann in der Folge gearbeitet wird, ein Begriffsverständnis, das auch argumentativ abgesichert ist. So wird etwa der Begriff „civil rights“ in Art. 6 EMRK so gedeutet, dass auch Sozialrechtsansprüche mit enthalten sind. Mit dieser Vorgabe wird bei anderen Entscheidungen weiter operiert, sie ist konstitutives Element im System, die entsprechende Entscheidung wird als „leading case“ in einer Vielzahl weiterer Entscheidungen zitiert; diese Möglichkeit wird durch das System selbst „produziert“. – Im Gegensatz zu EMRK und ESC hat die Auslegung etwa zum CEDAW diese Stufe der Verselbständigung nicht erreicht; die Begriffe werden keine Rechtsbegriffe, mit denen operiert würde, sondern verbleiben im allgemein-gesellschaftlichen Diskurs. Es entsteht keine zirkuläre Struktur mit Präjudizien, in der die Einzelelemente des Systems miteinander verbunden würden101. Mit diesem Ansatz lässt sich die Rechtsnatur der Sozialstandards bestimmen, indem nicht nur auf die Formulierung, den Stempel „verbindlich – nicht verbindlich“ bzw. „justitiabel – nicht justitiabel“ oder die nur empirisch fassbare Wirkung abgestellt wird, sondern auf die Interaktion der Normen im System. Auch Elemente, die nicht verbindlich sind, können damit Bestandteil des „Rechts“ sein, wenn sie zur Systemkonstitutierung dienen, etwa zur Auslegung der Bedeutung von Normen herangezogen werden. Umgekehrt können verbindliche Normen, die in Entscheidungen ignoriert und damit nicht mit anderen Elementen vernetzt werden, ausgegrenzt werden. Verbindliches, aber nicht angewendetes „law in the books“ wäre damit als Nicht-Recht anzusehen. Die Grenzlinien sind nicht starr: Normen, die neu „entdeckt“ werden, finden in das System Eingang, Normen, die keine Relevanz mehr haben, werden an den Rand gedrängt. 101
Vgl. S. 349 ff.
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3. Bestimmung der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards nach inhaltlichen Kriterien Nicht nur die Form, nicht nur die Wirkung und tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit einer Norm können als Ausgangspunkt für die Bestimmung des spezifisch Rechtlichen genommen werden; auch über den Inhalt lassen sich Abgrenzungen definieren. Dementsprechend sehen McDougal / Lasswell dem Recht mit der „Würde des Menschen“ ein inhaltliches Konzept vorgegeben, dem sich das Recht „anzunähern“ hat102. Henry Shue stellt in seiner Abhandlung „Basic Rights“ aus dem Jahr 1980 auf ein „moral right“ ab, das er folgendermaßen definiert: „A moral right provides the rational basis for a justified demand that the actual enjoyment of a substance be socially guaranteed against standard threats“103.
Die Idee ist, dass Recht-Haben bedeutet, nicht bitten zu müssen. Derjenige, der ein Recht geltend macht, kann dies auf eine rational greifbare Grundlage stellen. Er hat mit dem Recht die Rechtfertigung für sein Begehren auf seiner Seite. Recht-Haben ist damit nach Shue Ausdruck der menschlichen Würde. Ein Recht muss auf eine Substanz gerichtet sein, auf etwas Konkretes, das man „haben“ kann104. Das Recht muss in und durch die Gesellschaft garantiert werden, so dass dem Recht notwendigerweise Pflichten korrespondieren105. Garantie eines Rechts bedeutet, dass entsprechende „Arrangements“ getroffen sein müssen, um das Recht verwirklichen zu können; welche Maßnahmen konkret gefordert werden, ist nicht abstrakt zu bestimmen; die Grenze zur Nicht-Garantie ist empirisch feststellbar106. Nimmt man diesen theoretischen Ansatz als Messlatte und fragt, inwieweit internationale Sozialstandards „moral rights“ im Sinne von Shue sind, so ergibt sich ein anderes Ergebnis als bei der Prüfung nach den Kriterien „Form“ oder „Wirkung“. Auch Normen, die offen formuliert sind, vermitteln „moral rights“ – entsprechende Ansprüche beruhen auf einer rationalen Grundlage, Bittsteller werden in Rechtsuchende verwandelt. Dies gilt dagegen gerade nicht für Regelungen, die 102 „The process of authoritative decision known as international law, insofar as it approximates a public order of human dignity, is a process in which the established decision-makers of the world community seek to clarify and implement the common, shared interests of the members of that community, as individuals and as members of appropriate groups“ (McDougal, Policy-Oriented Framework, S. 129). 103 Shue, Basic Rights, S. 13. 104 „The substance of a right is whatever the right is a right to. A right is not a right to enjoy a right – it is a right to enjoy something else, like food or liberty“ (Shue, Basic Rights, S. 15). 105 „. . . it is essential to a right that it is a demand upon others, however difficult it is to specify exactly which others“ (Shue, Basic Rights, S. 16). 106 „But if people who walk alone after dark are likely to be assaulted, or if infant mortality is 60 per 1000 live births, we would hardly say that enjoyment of, respectively, security or subsistence had yet been socially guaranteed“ (Shue, Basic Rights, S. 17).
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E. Relative Normativität internationaler Sozialstandards
den Staaten Vorgaben zur Gestaltung von Sozialschutzsystemen machen, so präzise gefasst sie auch sein mögen. Wird etwa festgelegt, dass 50 % der Arbeitnehmerschaft gegen ein bestimmtes Risiko abzusichern sind, so könnte diese Vorgabe niemandem als Rechtfertigung für einen Anspruch auf eine entsprechende Sicherung dienen.
II. Konzept relativer Normativität Definieren bedeutet, Grenzlinien zu ziehen, zwischen einer Art von Dingen und einer anderen zu unterscheiden. Recht kann man, wie gezeigt, im internationalen Bereich in sehr verschiedener Weise von Nicht-Recht abgrenzen. Dementsprechend lassen sich konzentrische Kreise mit jeweils verschieden großem Radius entwerfen. Entweder man zeichnet einen sehr kleinen Kreis, bezieht nur Normen ein, die auf die drei allgemein anerkannten Rechtsquellen Vertragsrecht, Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze zurückgehen, ausreichend konkret bestimmt sind, denen in Entscheidungsprozessen tatsächlich Gewicht zukommt und die auch als Rechtfertigung bei der Geltendmachung von Forderungen in Anspruch genommen werden können; Normen, die diesen Voraussetzungen nicht genügen, betrachtet man als vorrechtliches, politisch-programmatisches Umfeld beziehungsweise als totes Buchstabenrecht. Oder aber man zeichnet einen Kreis mit sehr großem Umfang und bezieht auch allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen in offen formulierten Normen und Akte des soft law, die nicht auf eine der Rechtsquellen des traditionellen Kanons zurückzuführen sind, sowie auch gesetztes Recht, das keine Anwendung mehr findet, mit ein. Würde man die einzelnen Merkmale zur Identifikation von Rechtsnormen auf einer Skala eintragen und darum die Sozialstandards prüfen, so zeigte sich, dass sie an sehr verschiedenen Stellen der Skala anzuordnen wären. Eine Reihe von Normen fiele durch alle Raster und bliebe als unverbindlich / nicht-justitiabel / keine konkreten Erwartungen aufbauend etc. außerhalb des Rechts. Bei anderen Normen käme man zu ambivalenten Ergebnissen. Die aus bürgerlichen und politischen Grundrechten abgeleiteten Sozialstandards wären dem Recht zuzuschlagen, es sei denn, man würde auf ein Über-Unterordnungsverhältnis zwischen normsetzender und normunterworfenen Instanz abstellen. Nimmt man internationale Sozialstandards in ihrer Gesamtheit, so ist diese Rechtsvielfalt als erstes grundlegendes Charakteristikum anzusprechen. Die Rechtsnatur ist bei Sozialstandards eine Variable. Sozialstandards sind nicht festgelegt auf eine bestimmte Art der Normierung – als verbindlich oder unverbindlich –, eine bestimmte Art der Geltendmachung – justitiabel oder nicht- justitiabel –, eine bestimmte Art der Durchsetzbarkeit – sanktionierbar, nicht- sanktionierbar. Sie können Erwartungen erzeugen, als Rechtsrhetorik eingesetzt werden, bestimmte Sprachstrukturen aufweisen, müssen es aber nicht. Sie entziehen sich in ihrer Gesamtheit jeder gängigen Kategorisierung, können „mehr Recht“ sein oder „weniger Recht“; je
II. Konzept relativer Normativität
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nachdem, unter welchem Gesichtspunkt man sie einzuordnen versucht, kommt man zu einem unterschiedlichen Ergebnis. Die zweite entscheidende Besonderheit ist die Stufen-Dynamik. Ausarbeitung der Verträge, Ratifizierung, Auslegung sind Stufen in einem Prozess, in dessen Verlauf Recht entsteht; es gibt keine punktuelle Normsetzung; Norm ist Prozess. Nicht ein einmal gefundener Konsens wird verwaltet, sondern dieser Konsens wird überhaupt erst entwickelt, wenn mit der Normsetzung ein Ausgangspunkt für diesen Prozess gesetzt ist. Der Kompromiss kann aus Leerformeln bestehen und Eigendynamik entfalten, wie dies etwa anhand von Art. 12 Abs. 3 ESC, der Pflicht, das System sozialer Sicherheit fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen, nachgewiesen wurde107. Oder aber eine Einigung über konkrete Details erweist sich als nicht wirklich fassbar108. Bei internationalen Sozialstandards handelt es sich also um „ungefähres Recht“, um eine „Rohmasse Recht“. Dies liegt wesentlich daran, dass sie in der Regel nicht „zu Ende verhandelt“ werden. Im Gegensatz etwa zu der ersten Konvention über das Verbot der Frauenarbeit, bei der für jeden einzelnen Vertragsstaat die Folgen mit reflektiert und zum Teil in besonderen Bestimmungen berücksichtigt worden sind109, wird bei allen multilateralen sozialrechtlichen Konventionen im Rahmen von IAO, Europarat und Vereinten Nationen ein „abstrakter“ Kompromiss gefunden, Erwartungshaltungen an konkrete Rechtsänderungen in den potentiellen Vertragsstaaten sind nicht Gegenstand der Verhandlungen; aber, wie dargestellt110, wäre jedes andere Vorgehen unrealistisch, wenn man überhaupt zu in Normen niedergelegten Ergebnissen kommen will. Mit diesem Ergebnis lässt sich die eingangs gestellte Frage wieder aufgreifen und bejahen. Internationale Sozialstandards sind ein Aliud, ein Novum im Grenzbereich zwischen Recht, Moral und Politik; dies soll als Phänomen der „relativen Normativität“ beschrieben werden. Die Idee, Normativität sei nicht absolut, sondern nur relativ bestimmbar, liegt einer Vielzahl der dargestellten Theorien zugrunde111. Das Phänomen wird als Charakteristikum eines Rechtssystems ohne effektive zentrale Führungsinstitutionen112, als Folge einer auf Kompromisse gestützten Ausarbeitung von Normen113 Vgl. S. 262 f. Beispielsweise wird in Art. 65 der Konvention Nr. 102 der IAO (identisch mit Art. 65 EOSS) auf den früheren Verdienst Bezug genommen. Es wird aber nicht bestimmt, ob der Brutto- oder der Nettoverdienst gemeint ist. Dies hat zu Unstimmigkeiten bei den Kontrollverfahren geführt. 109 Vgl. S. 118 f. 110 Vgl. oben Kapitel B. 111 Vgl. oben die Theorien von Gottlieb, Kratochwil, Dunoff / Trachtman, Wiessner / Willard. 112 „In a social system without effective central institutions of government, it is almost always difficult, in the absence of a formal agreement, to determine when a rule of law exists. It is a matter of degree and reflects the expectations of states toward what is permissible and impermissible“ (Falk, Quasi-Legislative Competence, S. 786). 107 108
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E. Relative Normativität internationaler Sozialstandards
vielfach beschrieben. Prosper Weil hat die Überlegungen – auf die Entwicklungen im Völkerrecht, insbesondere die Auflösung der Rechtsquellentrias bezogen – auf den Begriff der „relativen Normativität“ gebracht, zugleich aber als zerstörerisch für die internationale Normenordnung gesehen und deshalb abgelehnt. Grundgedanke ist, dass „Recht“ nicht gleich „Recht“ sei, sondern dass es eine „gleitende Skala der Normativität“114, d. h. „mehr Recht“ und „weniger Recht“ gebe. Prosper Weil beobachtet dies am ius cogens und der Unterscheidung zwischen internationalen Delikten und Verbrechen im Bereich der Staatenverantwortlichkeit: „Normativity is becoming a question of ,more or less‘: some norms are now held to be of greater specific gravity than others, to be more binding than others. Thus the scale of normativity is reemerging in a new guise, its gradations no longer plotted merely between norms and non-norms, but also among those norms most undeniably situated on the positive side of the normativity threshold. Having taken its rise in the subnormative domain, the scale of normativity has now been projected and protracted into the normative domain itself, so that, henceforth, there are ,norms and norms‘“115.
Gegen die Relativierung wird der Einwand erhoben, sie sei logisch unmöglich, da eine Norm entweder gelte oder nicht gelte; eine dritte Möglichkeit gebe es nicht. Prosper Weil sieht „relative Normativität“ im Hinblick auf die Funktion des Völkerrechts, eine solide Basis für Kooperation und Koexistenz zu schaffen, als kontraproduktiv an. Der Verlust eines klaren Bestandes an Normen führe zu einem Verlust an Rechtssicherheit116. Die Autorität des Rechts werde eingeschränkt117. 113 „Da es nun im internationalen Bereich jene oben apostrophierten Unterschiedlichkeiten in bezug auf Komplexität und Kontroversität der zu regelnden Materien und in bezug auf Dichte und Geschwindigkeit der jeweiligen Kommunikationsabläufe realiter in starkem Maße gibt, wird es deshalb auch ständig eine Skala verschieden konkretisierter, ,verfestigter‘ Rechtsnormen geben: einmal Rechtsnormen, die in ihrem Bestand als Rechtsnormen allgemein und unzweifelhaft anerkannt sind; zum anderen Normen, die gerade dabei sind, sich aus dem Bereich bloßen ,Wünschens und Wollens’ in Rechtsnormen zu verfestigen, zu ,kondensieren‘; schließlich Rechtsnormen, die im Begriffe sind, als Rechtsnormen zu ,degenerieren‘, indem sie entweder zu bloßer, nicht ,gesollter‘ Übung herabsinken oder als Verhaltensmuster überhaupt verschwinden. Zwischen diesen derart bezeichneten Eckwerten jener imaginären Skala unterschiedlicher Arten von Rechtsnormen sind weitere, jeweils verschiedene Übergangsstufen, ,Aggregatzustände‘ denkbar“ (Schütz, Probleme der Anwendung, S. 162). 114 Weil, Relative Normativity, S. 417. 115 Weil, Relative Normativity, S. 421. 116 Vgl. auch Vitzthum (Begriff, FN 146): „Gewiß mag ein rechtlich nicht verbindlicher Konsens besser sein als gar keiner und insoweit die Völkerrechtsgemeinschaft voranbringen. Der Preis solcher „Weichheit“ kann freilich hoch sein – ein dogmatisch verwaschenes, zum Nichtrecht hin „ausfransendes“ Völkerrecht würde insgesamt an normativer Kraft verlieren“. 117 „There is a serious danger that the normative confusion and uncertainty resulting from the definitional manipulations will only erode the concept of legal obligation and weaken the authority of law within the international community“ (Danilenko, Law-Making, S. 21).
II. Konzept relativer Normativität
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Dem ist entgegenzuhalten, dass eben diese relative Normativität eine notwendige Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Rechts im internationalen Bereich im Allgemeinen, im Bereich von Sozialstandards im Besonderen ist. Sie stellt einen Spiegel der schrittweisen Kompromissfindung dar und grenzt nicht nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip wichtige, aber nicht in ein vorgefertigtes Schema passende Teilschritte aus dem Spektrum des rechtlich Relevanten aus118. Gerade bei der Normierung von Sozialstandards ist Innovation und Kreativität erforderlich119. Der Einwand, eine Relativierung der Normativität sei aus logischen Gründen unmöglich, greift nicht; zur Begründung von Entscheidungen können Normen in unterschiedlicher Weise herangezogen werden. Zwischen dem Dictum „gilt“ und dem Dictum „gilt nicht“ gibt es auch das Dictum „gilt in bestimmter Hinsicht“ – eine Festlegung, die im Einzelfall je unterschiedlich interpretiert werden kann120. Eine Relativierung des „normativen Wertes“ einzelner Bestimmungen konstatiert auch der IGH in seinem Gutachten zu Nuklearwaffen von 1996: „The Court notes that General Assembly resolutions, even if they are not binding, may sometimes have normative value. They can, in certain circumstances, provide evidence important for establishing the existence of a rule or the emergence of an opinio iuris. To establish whether this is true of a given General Assembly resolution, it is necessary to look at its content and the conditions of its adoption; it is also necessary to see whether an opinio iuris exists as to the normative character. Or a series of resolutions may show the gradual evolution of the opinio iuris required for the establishment of a new rule“121.
Relativität wird hier allerdings nur aus dem Blickwinkel der Theorien, die Recht nach formalen Kriterien bestimmen, betrachtet; um Recht als Recht zu qualifizieren wird der Unterschied zwischen verbindlichen und unverbindlichen Normen nicht mehr für letztlich ausschlaggebend angesehen122. Der Ansatz, der hier ver118 Vgl. Simma / Zöckler, Social Protection, S. 70 ff.; Riedel, Farewell, S. 72, 73: „. . . international law, if restricted to analyses of positive hard law norms will uncover only minimalistic legal structures which produce a distorted and incomplete picture, revealing only pointillistic or partial aspects of norm regulation in the community of states“. 119 Vgl. Lang, Verrechtlichung, S. 305: „Die „soft-law“ Regeln erfüllen also insofern ihren Zweck, als sie in jene Sektoren der Rechtsschöpfung, in denen Innovation und Kreativität verlangt werden, ein Maß der Flexibilität einbringen, das erforderlich ist, um relativ neuen und unveränderlichen Bedürfnissen gesellschaftlicher Ordnung sowie zwischenstaatlichen Interessenausgleichs zu entsprechen“. Dies wird auch im Hinblick auf die Weiterentwicklung des supranationalen Rechts für nötig gehalten: Everling, Rechtliche Wirkung, S. 156: „Dem gegenwärtigen Stand der Integration dürften jedoch vieldeutige Handlungsformen, . . . , durchaus entsprechen, weil sie Aktionen dort ermöglichen, wo förmliches Vorgehen an rechtliche oder politische Grenzen stößt“. 120 Vgl. dazu Thürer, Soft Law, S. 442; Virally, Distinction, S. 246. 121 1996 ICJ Reports, No. 95, S. 26; noch in den 70er Jahren war das Gericht von einer Dichotomie „legal / binding“ vs. „political“ ausgegangen: „. . . not binding, but only recommendatory in character. The persuasive force of Assembly resolutions can indeed be very considerable, – but this is a different thing. It operates on the political not the legal level: it does not make these resolutions binding in law“ (1971 ICJ Reports 50 – 51). 122 So dezidiert auch die Position von Riedel, Menschenrechtsstandards, 260 ff.
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E. Relative Normativität internationaler Sozialstandards
folgt wird, ist umfassender: Relativität wird auch als Charakteristikum der Wirkung, der mit Normen aufgebauten Erwartungsstrukturen, der Bedeutung in Entscheidungsprozessen, der Rechtfertigung von Ansprüchen gesehen123. Relative Normativität in diesem umfassenden Sinn als Triebfeder der Rechtsentwicklung unterscheidet zwar Völkerrecht grundsätzlich von nationalem Recht, das auf einen allgemein akzeptierten Rechtsetzungsmechanismus zurückgeht; die Normen sind verbindlich, justitiabel, durchsetzbar, bauen bestimmte Erwartungshaltungen auf, haben ein bestimmtes Gewicht in Entscheidungsprozessen etc.; aber auch im nationalen Recht gibt es eine Vielzahl verschiedener Arten der rechtlich relevanten Konsensbildung gerade im untergesetzlichen Bereich, die nicht unbedingt diesen Schemata gehorchen124. Auch hier ist Recht nicht immer gleich Recht. Vergleichbar sind auch Entwicklungen im supranationalen Recht. Auch dort spielen nicht-verbindliche Akte wie Entschließungen und Empfehlungen der Organe der EU, über deren konkrete Wirkungen Streit besteht, eine zunehmende Rolle125. Für die Entwicklung internationaler Sozialstandards ist die Öffnung des Völkerrechts, sind innovative Ansätze zur normativen Festschreibung gemeinsamer Werte conditio sine qua non. War 1948 auf universeller Ebene eine unverbindliche Erklärung mit einer Bestimmung, die ein Recht auf soziale Sicherheit garantiert, möglich, 1966 ein verbindlicher Vertrag mit einer Generalklausel, zu Beginn der 80er Jahre die Einsetzung eines Kontrollausschusses, so wird in den 90er Jahren bereits ein Zusatzprotokoll diskutiert, das Individualbeschwerden zulässt. Vor allem aber die Emanzipierung der Auslegung nach der Beendigung des Kalten Krieges und damit der Lähmung der Kontrollkomitees durch ideologisches Zweckdenken trägt zur Rechtsentwicklung bei. Unverbindliche Stellungnahmen und Kommentare konkretisieren die offenen Formulierungen der Normen und machen sie zu einem Instrument, das allgemeinen Wertsetzungen Autorität als Recht verleiht126. Damit ist die eingangs aufgestellte These, nicht nur die Idee internationaler Sozialstandards habe sich konkretisiert und sei „normierbar“ geworden, sondern auch 123 Vergleichbar umfassend ist der Ansatz von Schütz (Probleme der Anwendung, S. 163), der ein Modell relativer Normativität entwickelt, das auf den Kommunikationsabläufen, die zur Konsensbildung im internationalen Bereich führen, aufbaut. Dabei differenziert er nach der Beweiskraft der Norm „für die Existenz einer bestimmten, von den betreffenden Akteuren des internationalen Systems als ,richtig‘ fixierten Verhaltensmöglichkeit“; vgl. auch Miehsler, Autorität, S. 35 ff., der die Autorität der Beschlüsse internationaler Gemeinschaften nach den Kriterien Verfahren (Form, Organ, Umstände der Willensbildung), Inhalt (Gegenstand, Zweck, Abstraktionsgrad, Autoritätsanspruch, Kontrollmechanismen) sowie Bekanntheit, Adressaten, öffentliche Meinung, Partikularinteressen vs. Gemeinschaftsinteressen, Bestätigung in anderen Beschlüssen, Ausmaß der Beachtung und Kurswert der internationalen Institution abstuft. 124 Vgl. zur Entwicklung des nationalen Sozialrechts die Studie von Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht. 125 Vgl. Everling, Rechtliche Wirkung, S. 133 ff.; Bothe, Soft Law, S. 762 ff. 126 Vgl. zu der Entwicklung auch Buergenthal, Evolution, S. 703 ff.
III. Experimenteller Charakter des Rechts
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die Struktur des Völkerrechts habe sich geändert und geöffnet, so dass internationale Sozialstandards auch Eingang finden konnten, zu bestätigen127.
III. Experimenteller Charakter des Rechts Bedeutet relative Normativität, dass mit der „Rechtsetzung“, sei es mit der Ausarbeitung und Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrags, der Sozialstandards normiert, sei es mit der Konsensfindung in unverbindlichen Erklärungen und Empfehlungen, relatives Recht entsteht, dessen Autorität, dessen normative Bedeutung in Entscheidungsprozessen noch nicht absehbar ist, so ist es naheliegend, von einem experimentellen Charakter des so gewonnenen „Rechts“ auszugehen. Die Idee, rechtliches Normieren als Experimentieren zu betrachten, ist nicht neu128. Rechtsetzung, so wird argumentiert, ist nichts anderes als ein Vorgehen nach dem Prinzip „trial and error“: Neue Normen werden erlassen, in ihrer Wirkung getestet und, lösen sie die an sie gestellten Erwartungen nicht ein, aufgehoben und durch andere Normen ersetzt. So lässt sich etwa das Fallrechtsdenken des römischen und des angelsächsischen Rechts als „experimentell“ verstehen129. Neuerdings spricht man von „Erprobungsgesetzen“ bzw. „Pilotgesetzen“, wenn Regelungen für Sachverhalte gesucht werden, deren – insbesondere technischen – Probleme und Folgen nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft nicht absehbar sind130. Das Phänomen lässt sich auch systemtheoretisch erklären131. Der Gedanke lässt sich aber auch zur Beschreibung der Besonderheit der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards fruchtbar machen132. Betrachtet man die Ausarbeitung internationaler Konventionen, insbesondere im sozialrechtlichen Bereich, so findet die Konsensbildung – im Gegensatz zum nationalen Recht, in dem die Diskussion über Sozialgesetze einen breiten Raum in der öffentlichen Diskussion einnimmt – gewissermaßen im Labor statt: Konventionen werden in der Vgl. S. 50 f. Jahrreiß, Größe und Not der Gesetzgebung 1953, S. 32 f.; Zippelius, Experimentierende Methode, S. 5 ff.; Noll, Gesetzgebungslehre, S. 76 ff. 129 Zippelius, Experimentierende Methode, S. 8. 130 Vgl. dazu ausführlich Horn, Experimentelle Gesetzgebung. 131 Vgl. Teubner, Autopoietisches System, S. 77: „Das Zusammenwirken von phylogenetischer und ontogenetischer Entwicklung im Recht, also das Zusammenspiel von Rechtskultur und Rechtsverfahren, muss man sich als ein Ineinandergreifen zweier kommunikativer Kreisläufe vorstellen. Das Rechtsverfahren ist sozusagen das Experimentierfeld des Rechts, in dem Normzumutungen als Variationsmechanismen und Rechtsentscheidungen als Selektionsmechanismen zusammenspielen. Über die Retention entscheidet erst der zweite kommunikative Kreislauf, in dem über die Tradierung der Rechtskultur verhandelt wird“. 132 In diesem Sinne auch Riedel, Menschenrechtsstandards, S. 148, der von der Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit von „Normversuchen“ spricht. 127 128
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E. Relative Normativität internationaler Sozialstandards
Regel von Expertengremien ausgearbeitet und auch ohne weitergehende Beteiligung der Öffentlichkeit angenommen133. Diese Normen werden in der Folge einem „experimentellen Bedeutungstest“ unterworfen. Handelt es sich um Verträge, gibt die Zahl der Ratifikationen einen ersten Anhaltspunkt bei der Untersuchung der Relevanz der Norm134; das Ergebnis ist allerdings, wie dargestellt, nur bedingt aussagekräftig, da weder die Nicht-Ratifikation mit Irrelevanz der Norm gleichzusetzen ist, noch die Ratifikation impliziert, dass der Norm auch tatsächlich eine konkrete Bedeutung zukommt. Auch die Interpretations- und Kontrollverfahren sind Teil des „Bedeutungstests“ – dabei kristallisiert sich heraus, ob, und wenn ja, wie eine Norm operabel gemacht werden kann. Besonderheit der internationalen Sozialstandards ist, dass sich diese Möglichkeiten aufgrund der strukturellen Änderungen der Verfahren, aber auch aufgrund des neuen Normverständnisses in den letzten Jahren vervielfacht haben. Aber auch damit ist das Experiment noch nicht abgeschlossen, ist noch nicht erwiesen, dass die Normen tatsächlich wirksam sind und als „verhaltensleitende Sinngehalte“135 die mit ihnen erstrebten Wirkungen hervorbringen. Dabei ist die Wirksamkeit im engeren Sinn, die Frage, ob eine Norm eingehalten wird, zu unterscheiden von der Wirksamkeit im weiteren Sinn. Hier ist zu prüfen, ob sich eine Norm als geeignetes Mittel zur Erreichung des angestrebten Zwecks erweist. In den Kontrollverfahren kann nur der erste Aspekt untersucht werden. Im Hinblick auf zahlenmäßig konkretisierte und inflexible Vorgaben, die Reformprojekten im sozialen Bereich entgegenstehen und keinerlei Abwägung der Interessen zulassen, lässt sich aber argumentieren, hier sei die Wirksamkeit im weiteren Sinn fraglich136. Allerdings fehlt auf internationaler Ebene in der Regel – im Gegensatz zur nationalen Sozialpolitik – eine nicht nur ex ante, sondern auch ex post geführte Diskussion der tatsäch133 Vgl. allgemein zu multilateralen Verträgen: United Nations, Review, S. 16 ff.; zu den IAO-Konventionen: United Nations, Review, S. 396 ff.; Valticos, Droit international du travail, S. 215 ff.; Valticos / Potobsky, International Labour Law, S. 52 ff.; Osieke, International Labour Organisation, S. 148 ff.; zu den Konventionen der UN: United Nations, Review, S. 177 ff.; zu den Konventionen des Europarats: United Nations, Review, S. 451; anders ist es nur, wenn die Themen eine besondere politische Brisanz haben – ein Beispiel wäre etwa die Ausarbeitung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. 134 Betrachtet man etwa die Abstimmungsergebnisse bei Konventionen der IAO, so zeigt sich, dass die Konventionen regelmäßig mit überwältigender Mehrheit angenommen, in der Folge aber doch nur von einem Bruchteil der Mitglieder der IAO ratifiziert werden; vgl. z. B. die Resultate für Konventionen, die etwa ein Jahrzehnt zur Ratifikation ausgelegt sind: Konvention Nr. 167 Safety and Health in Construction Convention (1988): 421 Ja-Stimmen, keine Nein-Stimme, 1 Enthaltung, 14 Ratifikationen; Konvention Nr. 168 Employment Promotion and Protection against Unemployment Convention (1988): 366 Ja-Stimmen, keine Nein-Stimme, 26 Enthaltungen, 6 Ratifikationen. – Bei der Stimmabgabe kommt die triparitätische Struktur zum Tragen, da Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Regierungsvertreter abstimmungsberechtigt sind. 135 Zippelius, Experimentelle Methode, S. 12. 136 Vgl. etwa das Verfahren gegen die Reform der Arbeitsunfallversicherung in Schweden (S. 334 f.).
III. Experimenteller Charakter des Rechts
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lichen Entscheidungsträger, durch die die Ergebnisse des „Experiments Sozialstandards“ geprüft und nicht-adäquate Normen an den Pranger gestellt werden könnten137. Der natürliche Prozess der Selektion von Normen findet nicht statt.
Zusammenfassung Die Zuordnung der internationalen Sozialstandards zum Recht im Allgemeinen und zum Völkerrecht im Speziellen ist problematisch. Stellt man auf formale Kriterien wie Verbindlichkeit oder Justitiabilität ab, so sind ein Teil der Sozialstandards als Nicht-Recht zu klassifizieren. Zu einem anderen Ergebnis kommt man, wenn man auf die Wirkung, auf die Rezeption der Normen abstellt, da nicht alle verbindlichen und justitiablen Standards geeignet sind, tatsächlich bestimmte Erwartungshaltungen aufzubauen und in politischen Entscheidungsprozessen eine Rolle zu spielen. Berücksichtigt man inhaltliche Aspekte und prüft, inwieweit aufgrund eines Standards eine Bitte in einen gerechtfertigten Rechtsanspruch umgewandelt wird, so ist die Trennlinie zwischen Recht und Nicht-Recht in wiederum anderer Weise zu ziehen. Charakteristikum von internationalen Sozialstandards ist somit ihre „relative Normativität“ – sie sind „mehr“ oder „weniger“ Recht, je nachdem, von welchem Blickwinkel aus man sie betrachtet. Dabei spielt auch die zeitliche Dimension eine entscheidende Rolle. Die Rechtsnatur von Sozialstandards bestimmt sich im Prozess, in der Entwicklung von der oft experimentell-laborhaften Ausarbeitung bis zur konkreten Auslegung und Anwendung durch die dazu berufenen internationalen Gremien. Da eine kritische Normselektion im Rahmen einer Rechtsdiskussion und Auseinandersetzung mit normativen Vorgaben in einer demokratischen Öffentlichkeit fehlt, findet sich neben tatsächlich relevanten Sozialstandards auch Recht auf Vorrat ebenso wie Recht, das frühere Rechtsentwicklungen spiegelt, den neuen Entwicklungen aber nicht angepasst ist.
137 Besonderheit der IAO ist zwar gerade, dass die Gewerkschaften in institutionalisierter Form am Prozeß der Normbildung mitwirken. Damit wird aber eine Stimme von vielen, die für die Gestaltung der Sozialpolitik wichtig sind, verabsolutiert. Außerdem wird die Diskussion im Wesentlichen nur ex ante, nicht ex post geführt.
F. Verrechtlichung durch internationale Sozialstandards – ein ambivalentes Phänomen „An irrelevant legal system will succumb to either of two extreme situations: it will run too far into a utopian future too fast, asking more of mere mortals than they wish to give; or it will lag woefully behind, continuing to deal piously with problems that in a changed society simply no longer exist“. Michael Barkun 1979
Die Entwicklung internationaler Sozialstandards weist eine Reihe von Paradoxa auf. Obwohl ein Grundkonsens zu der Frage, was unter „sozialer Sicherheit“ bzw. unter „sozialer Fürsorge“ zu verstehen sei, fehlt, werden entsprechende Ansprüche des Einzelnen in einer Vielzahl von völkerrechtlichen Verträgen bindend vorgeschrieben. Die Normierungen überschneiden sich und wiederholen gewisse Postulate in verschiedenen Abwandlungen, ohne dass es allgemein anerkannte Konfliktregelungen gäbe, die bei Unstimmigkeiten zwischen den Normen zur Klärung herangezogen werden könnten. Trotz der Fülle von bestehenden Regelungen wird immer neu die Forderung erhoben, Normen auszuarbeiten. Bestimmungen im menschenrechtlichen Bereich werden zum Teil ohne Blick auf konkrete Regelungen in spezifisch sozial-rechtlichen Verträgen ausgelegt. Triebfeder der Rechtsentwicklung sind die Individualbeschwerdeverfahren vor dem Ausschuss für Menschenrechte und die Gerichtsverfahren vor dem EGMR, obwohl der bei den Entscheidungen zur Verfügung stehende Normenkorpus weder ein Recht auf soziale Sicherheit noch ein Recht auf soziale Fürsorge enthält und – so die sich aus den Materialien ergebende Konzeption – der Schutz dieser Rechtspositionen auch explizit aus dem Schutzbereich der bürgerlichen und politischen Rechte ausgenommen werden sollte. Auf der Grundlage der spezifisch sozialrechtlichen Konventionen befassen sich die Sachverständigenkomitees in ihren Stellungnahmen zur Entwicklung des Sozialrechts im nationalen Bereich mit Einzelheiten wie der Anzahl von Karenztagen bei der Absicherung einzelner Risiken, während Probleme wie etwa die medizinische Grundversorgung von Aids-Kranken oder das vollständige Fehlen einer sozialen Sicherung für Arbeiter im informellen Sektor nur am Rande thematisiert werden. Die Fragestellungen, die in Individualbeschwerdeverfahren aufgegriffen werden, sind von so marginaler Bedeutung, dass man, nähme man sie für die einzig tatsächlich relevanten Anliegen in diesem Bereich, davon ausgehen müsste, es gäbe im Grunde eine heile Welt. Zudem stammen eine Vielzahl der geltenden Normen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, obwohl es kaum eine Rechtsmaterie gibt, die sich schneller wandeln und neuen Entwicklungen anpassen würde als
F. Verrechtlichung durch internationale Sozialstandards
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das Sozialrecht. Die Normen versuchen „Mindeststandards“ zu definieren, die auf universeller oder auf regionaler Ebene allgemein gültig sind, weisen aber entweder in eine utopische Zukunft oder setzen eine Wirklichkeit voraus, die nicht mehr besteht. „In the former situation, the law has been utilized for innovative purposes but it has been unable to wrench social actors from their accustomed modes of behavior. Thus, the result is a problem of social engineering. The latter case, far more common in international law, reduces law to irrelevance because the rules envision one set of problems and the environment produces another. In such a circumstance it may not even be fair to say that law has failed to regulate conduct, for it has not made the attempt“1.
Die Inadäquanz der spezifisch sozialrechtlichen Standards der IAO und des Europarats2 liegt in vielen Punkten auf der Hand: Bei der Bemessung der Leistungen fehlt durchgehend ein Bezug zum Existenzminimum, obwohl dies bei zum Teil nur 40 %igen Ersatzquoten im Verhältnis zum voraufgehenden Lohn nicht gesichert scheint; der personelle Schutzbereich der Normen orientiert sich an der historischer Entwicklung, nach der die einzelnen Gruppen der Bevölkerung bzw. der Arbeitnehmer Schritt für Schritt in die Sicherungssysteme aufgenommen wurden – das Konzept der Inklusion aller wird nicht verwirklicht; die Normen knüpfen an einem Beschäftigungskonzept an, das nur mehr partiell relevant ist; die GenderProblematik wird nicht berücksichtigt; Finanzierungsfragen werden nicht geklärt – der Hinweis auf eine paritätische Finanzierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist nur ein Detail in diesem Zusammenhang; Grundfragen der Solidarität und der Umverteilung, insbesondere die Möglichkeit, einzelne gesellschaftliche Gruppen von dem Umverteilungssystem auszuschließen, werden nicht angesprochen; die Altersgrenze wird unabhängig von der Lebenserwartung festgesetzt; eine Möglichkeit, die Leistungen auf die Bedürftigsten zu konzentrieren, besteht nicht. Neben diesen einzelnen Inadäquanzen ist ein weiterer grundlegender Kritikpunkt, dass aus internationaler Warte Vorgaben an nationale Rechtsordnungen gemacht werden, eben diesen Vorgaben aber auf internationaler Ebene zuwidergehandelt wird: Beispielsweise wird eine angemessene Dauer des Verfahrens als Ausfluss des Prinzips eines gerechten Verfahrens angesehen, obwohl bei den internationalen Gremien die Fälle gleichermaßen über Jahre hin nicht behandelt werden. Auch wird gefordert, diskriminierende Regelungen explizit im nationalen Recht zu ändern; diskriminierende Regelungen auf internationaler Ebene werden dagegen nicht aus dem Normenbestand getilgt. Aufgrund dessen liegt die Vermutung nahe, dass es zwar einerseits ein Zuviel an rechtlichen Regelungen, andererseits aber auch ein Zuwenig an effektiven rechtlichen Regelungen gibt. Hier hat Rechtskritik anzusetzen. Barkun, Functional Perspective, S. 20, 21. Die im Folgenden aufgeführten Kritikpunkte betreffen nicht die revidierte Europäische Ordnung für soziale Sicherheit, die noch nicht in Kraft getreten ist. 1 2
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F. Verrechtlichung durch internationale Sozialstandards
Folie für die im Folgenden dargestellten rechtskritischen Überlegungen ist die so genannte Verrechtlichungsdebatte3, die, bezogen auf Staats- und Völkerrecht, bereits in der Weimarer Republik in den 20er Jahren4 und später wieder in den 70er, 80er Jahren5 geführt worden ist und bei der es im Kern gerade um dies – um das Zuviel rechtlicher, Zuwenig effektiver rechtlicher Regelungen, um das Dilemma, mit im Kompromiss gefundenen Regelungen gesellschaftliche Vorgänge nicht wirksam beeinflussen zu können, um Formalisierung, Desintegration, Destabilisierung und Fehlsteuerung durch Recht – geht6. Die Vervielfältigung internationaler Sozialstandards ist als besondere Ausprägung des Phänomens der Verrechtlichung und damit als Teil eines Entwicklungsprozesses zu sehen, in dessen Verlauf dem Recht eine immer bedeutendere Rolle als Gestaltungsmedium von Vorgängen im nationalen und internationalen Bereich zugewiesen wird, bei dem das Recht aber auch an seine Grenzen stößt. Denn die quantitative Zunahme von Recht, das Eindringen von Recht in vordem dem Recht verschlossene Bereiche ist zwar Ausdruck für die Haltung, alles sei machbar und regelbar. Dies gilt aber nur vordergründig; die Machbarkeit und die Regelbarkeit wird auch grundsätzlich angezweifelt und in Frage gestellt. Der mit Verrechtlichung offenkundig werdende Rechts-Optimismus ist die eine Seite, der in der Verrechtlichungsdiskussion offenkundig werdende Rechts-Skeptizismus die andere Seite der Medaille.
3 Der Begriff „Verrechtlichung“ ist ein Kunstwort, das weder in allgemeinen Sprachlexika noch in juristischen oder historischen Fachwörterbüchern nachweisbar ist. Im deutschen Sprachraum führt er zurück zur Auseinandersetzung um Grundfragen zum Verhältnis Recht – Gesellschaft, Recht – Politik in der Weimarer Republik. Erstmals nachgewiesen ist der Begriff in der Schrift Hugo Sinzheimers „Die Zukunft der Arbeiterräte“ aus dem Jahr 1919 zur Beschreibung der gewandelten Rolle der Gewerkschaften. 4 Vgl. Kirchheimer, Staatslehre, S. 36 f.; Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes; Kunz, Statisches und dynamisches Völkerrecht, S. 217 ff. 5 Federführende Autoren sind Habermas, Luhmann, Voigt, Teubner, Zacher und Simitis. 6 Die Fragestellungen, denen in diesem Zusammenhang nachgegangen wird, sind äußerst heterogen. Das Spektrum reicht von Analysen der Freiräume des Individuums bzw. der Gesellschaft (vgl. z. B. Habermas, Theorie, insbesondere S. 522 ff., sowie den Sammelband von Holzhey / Kohler, Verrechtlichung und Verantwortung) über die Beschreibung der Evolution des Rechts (vgl. Luhmann, Positivität, S. 176 ff.; Ewald, Social Justice, S. 91 – 113) bis hin zu Untersuchungen der Grenzen der dem Recht zugeschriebenen Steuerungsfunktion (vgl. Teubner, Begriffe, S. 289 ff.; Teubner, Autopoietisches System). Gegenstand sind aber oftmals auch einzelne Rechtsgebiete, die im Hinblick auf Regelungsdichte und konkrete Funktion des Rechts untersucht werden (vgl. insbesondere die Sammelbände Zacher / Simitis / Kübler / Hopt / Teubner, Verrechtlichung, und Wolf, Internationale Verrechtlichung).
I. Verrechtlichung als Charakteristikum der Moderne
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I. Verrechtlichung als Charakteristikum der Moderne7 „The constant creation of new law by legislative action has, however, become as characteristic a feature of the world community as of the modern State“8.
So urteilt Jenks 1953 mit Blick auf die Rechtsentwicklung im nationalen wie im internationalen Bereich. Die Beobachtung einer quantitativen Zunahme von Normen ist auch wesentlicher Ausgangspunkt aller modernen Theorien zur Verrechtlichung9. Aber so wichtig der quantitative Aspekt ist, so wenig ist er doch geeignet, die Tür zur Analyse der eigentlichen Verrechtlichungsproblematik aufzustoßen. Vielmehr geht es um die Bedingungen und Auswirkungen der Zunahme von Normen – und dies im Verhältnis zum Recht selbst, zum Staat, zur Gesellschaft, zu den einzelnen dem Recht unterworfenen Bürgern – Auswirkungen, deren Analyse Grundfragen nach Funktion und Legitimation des Rechts laut werden lässt, wie auch etwa folgende Versuche von expliziten Begriffsdefinitionen deutlich machen: „ ,Verrechtlichung‘ nennt man den Prozeß, in dessen Verlauf immer mehr positivrechtliche, vom Staatsapparat erlassene und durchzusetzende Normen entstehen und auf das gesellschaftliche Leben einwirken“10. „Ausdehnung des Rechtssystems zu Lasten anderer Sozialsysteme durch Verschiebung der Sinngrenzen bzw. als Durchdringung (Infiltration) sozialer Beziehungen durch Recht ( . . . )“11, und
7 Vgl. dazu Habermas (Theorie, S. 522 ff.), der eine „Theorie der Verrechtlichung im gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß„ (Teubner) entwickelt. Als ersten Verrechtlichungsschub sieht er die Entstehung des bürgerlichen Staates, aufbauend auf einer Verbindung von Rechts-, Geld- und Marktsystem. Die gesellschaftliche Entwicklung führe als nächste Stufe zum bürgerlichen Rechtsstaat, der durch die rechtliche Bindung der Verwaltung und durch bürgerliche Freiheitsrechte charakterisiert sei. Die Demokratisierung der Staatsgewalt schaffe als dritte Stufe der Entwicklung einen demokratischen Rechtsstaat, der schließlich – und hier setze der vierte Verrechtlichungsschub ein – in einen sozialen und demokratischen Rechtsstaat mutiere. – Habermas versteht diese schrittweise Verrechtlichung als „Kolonialisierung der Lebenswelt“. 8 Jenks, Law-Making, S. 401. 9 Vgl. Habermas, Theorie, S. 524: „Der Ausdruck ,Verrechtlichung‘ bezieht sich ganz allgemein auf die in modernen Gesellschaften zu beobachtende Tendenz der Vermehrung des geschriebenen Rechts“; Partington, Juridification, S. 420: „. . . noting this increase in the volume of laws, and then engaging in an analysis of the nature of this law . . .“; vgl. auch die Bezugnahme auf statistisches Material bei Hopt, Verrechtlichung, S. 231; Zuck, Rechtsflut, S. 2; Mayer-Maly, Gesetzesflut, S. 13 ff., oder in den Verhandlungen des siebenten österreichischen Juristentages Salzburg, S. 5; für das Völkerrecht Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht; Roucounas, Engagements parallèles et contradictoires, S. 16 ff. 10 Kohler, Verrechtlichung, S. 17. 11 Voigt, Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft, S. 27.
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„. . . zunehmende rechtliche Regelung lebensweltlicher Vorgänge durch das politische System zum Zwecke der Steuerung“12.
Zentrale Fragestellung der Verrechtlichungsdebatte, die auch im Folgenden vorangestellt werden soll, ist, ob es bestimmte Charakteristika, Strukturen im Recht gibt, die Verrechtlichung ermöglichen und bedingen, bzw. ob die quantitative Veränderung der Rechtsproduktion zu qualitativen Veränderungen im Recht führt. Auf dieser Grundlage werden unter den Stichworten „Verfügbarkeit des Rechts“, „Rematerialisierung des Formalrechts“, „Externalisierung von Lösungsansätzen“ und „Herausbildung komplementärer Rechtsstrukturen“ die Änderungen im Völkerrecht skizziert, die Voraussetzung für Verrechtlichung sind. In einem zweiten Schritt werden die verschiedenen Formen von Verrechtlichung charakterisiert – die Entwicklung internationaler Sozialstandards weist hier eine Reihe von Besonderheiten auf. Die kritische Diskussion der Wirkung von Sozialstandards schließlich greift die Gesichtspunkte auf, die in der Verrechtlichungsdebatte im Mittelpunkt stehen: Formalisierung, Desintegration, Destabilisierung und Fehlsteuerung. Dennoch ist Verrechtlichung kein einseitig negativ zu wertendes Phänomen, positive und negative Aspekte halten sich die Waage.
1. Verfügbarkeit des Rechts Betrachtet man die Entwicklung der internationalen Sozialstandards, die innerhalb von einem Jahrhundert rechtsfreie Räume füllen, Postulate in der Folge – zumindest in Ansätzen – weiter differenzieren und in verschiedenen Kontexten vielfach wiederholen, so stellt sich die Frage nach den Ursachen und Folgen einer derartigen Entwicklung. Welche Elemente müssen im Rechtssystem vorhanden sein oder sich formieren, um eine derartige quantitativ dynamische Entwicklung zu ermöglichen? Inwiefern wirkt eine quantitativ dynamische Entwicklung des Rechts auf die Strukturen des Rechts zurück und verändert sie qualitativ? Führt man die zweite Fragestellung noch weiter und fragt nicht nur nach den Veränderungen des Rechts, sondern präziser, inwieweit diese Veränderungen ihrerseits eine weitere Zunahme von Normen induzieren, so wird deutlich, dass die Fragestellungen in Form einer Spirale miteinander verbunden sind. Die quantitative Zunahme von Normen und die qualitative Veränderung des Rechts bedingen sich gegenseitig und führen die Veränderungen auf eine jeweils neue Ebene.
12
Voigt, Lexikonbeitrag, S. 33.
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a) Emanzipation des Prozesses der Rechtserzeugung Eine wesentliche Voraussetzung für Verrechtlichung ist mit dem Begriff der „Positivität“ (Luhmann) bzw. „Verfügbarkeit“ (Zacher) zu beschreiben: Recht sei dann „positiv“, stehe zur Disposition, wenn es gesetzt werden könne und kraft Entscheidung gelte, wenn es damit auch abänderbar sei. Der entscheidende Punkt sei, dass Rechtsetzung zum Routinevorgang werde. Luhmann grenzt nach diesen Kriterien modernes Recht von archaischem Recht und Naturrecht ab. Archaisches Recht zeichne sich dadurch aus, dass es auf die Vergangenheit bezogen „zeitlich invariant und sachlich alternativenlos konzipiert“13 sei: „Recht wird in älteren Gesellschaften als von alters her geltend gesehen, als ewig oder in der Vorzeit gestiftet. Die Vergangenheit dient als Symbol seiner Unabänderlichkeit: Man kann es genausowenig ändern, wie man Vergangenes ändern kann“14.
Auch Naturrecht stehe nicht zur Disposition, da es auf Nachahmung und Vollendung der Natur beschränkt sei. Für modernes Recht dagegen sei charakteristisch, dass es nicht mehr an die Erkenntnis von vorgegebenen Lösungsstrukturen gebunden sei, sondern aus verschiedenen Alternativen bewusst auswählen könne15. Zacher fasst diese Entwicklung in die Formel des „Übergangs von der Unverfügbarkeit zur Verfügbarkeit“16. Rechtliche Regelungen sind damit auch in Bereichen möglich, die bisher nicht „rechtsreif“ waren17. Kann aber Recht beliebig gesetzt werden, entfällt jegliche Beschränkung einer quantitativen Zunahme. Mit dem positiven Recht, das Luhmann bereits im 19. Jahrhundert in einigen politischen Systemen Europas ausgebildet sieht, ist somit eine wesentliche strukturelle Voraussetzung für Verrechtlichung geschaffen. Ein Ansatzpunkt für eine Antwort auf die erste Frage nach den Strukturbedingungen des Rechts, die eine dynamische Entwicklung ermöglichen, ist somit der Verweis auf die Positivität des Rechts, die dem Rechtssystem als solchem aber nicht inhärent ist, sondern sich vielmehr erst zu einem bestimmten Zeitpunkt ausbildet. Dies gilt auch für internationale Sozialstandards als Teil des Völkerrechts. Ist Prämisse von Verrechtlichung, dass Recht nicht als unabänderlich, sondern als bewusst gestaltbar angesehen wird, so stellt die Emanzipation des Völkerrechts vom Naturrecht eine conditio sine qua non dar. Wie in der auf den nationalen BeLuhmann, Positivität, S. 180. Luhmann, Positivität, S. 180. 15 Luhmann, Positivität, S. 184. 16 Zacher, Verrechtlichung, S. 53. 17 Luhmann, Positivität, S. 186: „Der regulative Zugriff des Rechts ist jetzt nicht mehr an den Nachweis gebunden, daß es schon immer so war, und dadurch werden viele neue Verhaltensweisen oder auch neue Aspekte an alten Verhaltensweisen rechtsreif: Trunkenheit im Straßenverkehr oder Prämien für die Vernichtung von Äpfeln, Verlängerung der Schulpflicht oder Einrichtung von Personalvertretungen im öffentlichen Dienst“. 13 14
30 Nußberger
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reich bezogenen Diskussion Verrechtlichung als ein Phänomen der „Moderne“ eingestuft wird – Habermas geht mit seiner Theorie von den unterschiedlichen Verrechtlichungsschüben auf die frühe Neuzeit, die Entstehung des bürgerlichen Staates zur Zeit des Absolutismus18, Luhmann auf die Positivierung des Rechts im 19. Jahrhundert zurück19 –, so gilt auch für das Völkerrecht, dass Verrechtlichung erst mit der zumindest teilweisen Abkehr von naturrechtlichen Konzeptionen im französischen Zeitalter überhaupt denkbar wird20. Erstmals das englische Zeitalter wird durch ein bis dahin nicht gekanntes Wachstum des geschriebenen Rechts gekennzeichnet; völkerrechtliche Verträge werden in großer Zahl und Häufigkeit abgeschlossen21. Allerdings bedeutet die im 19. Jahrhundert dominierende streng positivistische Lehre, obwohl sie die „Machbarkeit“ des Rechts anerkennt und „eine besonders intensive Neigung zur vertraglichen Fixierung und Kodifikation des Völkerrechts zeigt“22, nicht, dass einer quantitativen Vermehrung von Regelungen auf internationaler Ebene Tür und Tor geöffnet würden, denn dem steht das Konzept der nationalen Souveränität entgegen. Im Extremfall wird die Existenz des Völkerrechts überhaupt geleugnet23, zumindest aber wird eine Weiterentwicklung des Rechts nur unter der Voraussetzung, dass die souveränen Nationalstaaten dem zustimmen und es nicht als Eingriff in ihre inneren Angelegenheiten werten, zugelassen. Verfügbarkeit des Rechts bedeutet nicht nur, dass Recht nicht für unabänderlich, naturgegeben gehalten wird, sondern auch, dass diejenigen, die ein Interesse an einem instrumentellen Einsatz des Rechts haben, darauf unmittelbar zurückgreifen können. Diese Möglichkeit ist dagegen nur in eingeschränktem Umfang gegeben, entsteht Recht im Wesentlichen auf der Grundlage einer von einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung getragenen langjährigen Übung, denn auf diesen Prozess kann allenfalls mittelbar Einfluss genommen werden. Zudem wird dieses Recht zumeist mündlich tradiert24. Strukturelle Voraussetzung für die Zunahme völkerrechtlicher Habermas, Theorie, S. 524. Luhmann, Positivität, S. 185 ff. 20 Vgl. die Schriften der Völkerrechtspositivisten des französischen Zeitalters Richard Zouche, Samuel Rachel, Johann Wolfgang Textor, Cornels van Bynkershoek, Johann Jakob Moser und Georg Friedrich von Martens, die das Völkerrecht auf Verträge und Gewohnheit und nur sekundär auf das Naturrecht gründen; vgl. dazu Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 199 ff.; Grewe, Epochen, S. 602 ff. Erwähnenswert ist auch das mit diesen Theorien in etwa zeitgleiche Erscheinen der ersten Vertragssammlungen (Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 194 ff.). 21 Vgl. Nussbaum, Geschichte, S. 217 ff.; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 224 ff.; Grewe, Epochen, S. 602 ff.; vgl. auch die Bedeutung der Konferenzen, auf denen in der Terminologie Triepels „rechtssetzende Vereinbarungen“ geschaffen werden (Grewe, Epochen, S. 603). 22 Grewe, Epochen, S. 602. 23 Vgl. dazu Kapitel E.I.1. 24 Stein, Persistent Objector, S. 464, weist nach, daß bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein Großteil des Völkerrechts lex non scripta gewesen sei. Eine Ausnahme habe nur gegolten für das Kriegs- und Neutralitätsrecht, das teilweise kodifiziert gewesen sei. 18 19
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Regelungen ist, dass ein Instrumentarium bereit steht, das sich zur Rechtsetzung bei als regelungsbedürftig erachteten Materien eignet. Dies ist der Vertrag, insbesondere der multilaterale Vertrag, der das Fehlen internationaler Gesetzgebung in gewisser Weise kompensieren kann25. Das bedeutet: Je mehr das Gewohnheitsrecht als Grundform zur Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen in den Hintergrund und Vertragsrecht in den Vordergrund tritt, umso wahrscheinlicher ist die Steigerung der Rechtsproduktion26. Rechtsetzung ist damit nicht mehr retrospektiv, sondern prospektiv. Nicht der Blick zurück bestimmt, wie es sein soll, nicht das Argument, „weil es schon immer so war“, trägt. Vielmehr zeigt der Blick nach vorne, welche rechtlichen Regelungen machbar sind, wie Wirklichkeit durch Recht gestaltet werden kann. Nun entzieht sich Recht aber dennoch dem Zugriff derer, die es als umfassendes Gestaltungsmittel einsetzen wollen, wenn es als Instrument zu schwer handhabbar ist, wenn es zu große Anforderungen an die Kompromissbereitschaft der an der Rechtsetzung Beteiligten stellt. Dies gilt grundsätzlich für multilaterale Konventionen, wenn gefordert wird, dass alle Vertragspartner bestimmte Rechtsregelungen in allen Details akzeptieren müssen – zu verschieden sind die Ausgangsvoraussetzungen in den verschiedenen Staaten, insbesondere im sozialen Bereich. Verfügbar wird das Recht dann, wenn es Vorbehalte und Wahlmöglichkeiten in weitem Umfang zulässt und mit Allgemeinklauseln operiert, die unterschiedliche Auffassungen verdecken. Verfügbar wird es auch, wenn Normativität relativiert wird und eine Regel auch dann zum „Recht“ gezählt werden kann, wenn sie nicht Bestandteil eines verbindlichen Vertrags ist. Die strukturellen Voraussetzungen für Verrechtlichung im Völkerrecht und damit die Vervielfältigung von internationalen Sozialstandards lassen sich so unter den Schlagworten „Schriftlichkeit“, „Bewusstheit“, „Zukunftsgerichtetheit“ und „relative Normativität“ zusammenfassen und dem klassischen Völkerrecht entgegenstellen, das durch „Mündlichkeit“, „Unbewusstheit“ und „Vergangenheitsbezogenheit“ und ein enges Rechtsverständnis charakterisiert ist27.
25 Vgl. Hazard in: Cassese / Weiler, Stability and Change, S. 11; vgl. dazu auch Simma, International Human Rights, S. 199, der argumentiert, mit dem Geflecht an vertraglichen Beziehungen werde eine objektive Ordnung aufgebaut: „It is ,objective‘ in as far as its legal elements go beyond the creation of correlative inter-State rights and duties along the contract model“ Historisch ist der Kollektivvertrag bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine Seltenheit (vgl. die Beispiele bei Grewe, Epochen, S. 603); verbreitet verwendet wird er ab dem Wiener Kongreß, besonders oft in Form von „Generalakten“ (vgl. dazu Grewe, Epochen, S. 603). 26 Dem widerspricht nicht, daß aufgrund der Interaktion zwischen Gewohnheits- und Vertragsrecht der vermehrte Abschluß internationaler Verträge auch zu einer Vermehrung des Gewohnheitsrechts führen kann; zu diesen Zusammenhängen vgl. die Diskussion bei Cassese / Weiler, Change and Stability, S. 1 ff.; vgl. insbesondere die Stellungnahme von Jiménez de Arechaga, der von „establishment of customary law on an unprecedented scale“ spricht (ebenda, S. 2). 27 Vgl. dazu auch Stein, Persistent Objector, S. 463 ff.
30*
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b) Emanzipation des Prozesses der Rechtsauslegung Der Begriff der Positivität des Rechts kann aber zugleich auch für die zweite Frage nach den Veränderungen des Rechts in der Folge der quantitativen Zunahme von Normen fruchtbar gemacht werden. Luhmann sieht als eine der wesentlichen Neuerungen die Erweiterung der dem Richter zugesprochenen Funktion. Er sei nicht mehr darauf beschränkt, Recht zu „erkennen“, sondern sei vielmehr auch selbst legitimiert, als Entscheidungsinstanz hervorzutreten. Die Entwicklung von Richterrecht sei somit eine natürliche Folge der Positivierung des Rechts und trage ihrerseits wieder zur Verrechtlichung bei, wenn auch nicht aufgrund von Rechtsetzung, sondern aufgrund von Rechtsauslegung. Dies gilt auch für die Auslegung des Völkerrechts. Besonderheit bei internationalen Sozialstandards ist, dass die Auslegung im Wesentlichen nicht von Gerichten, sondern von nur indirekt legitimierten Sachverständigengremien geleistet wird, deren über weite Strecken hin rechtsschöpferische Tätigkeit die Vertragsstaaten nicht bindet28. Dies ist somit als ein wesentlicher Aspekt der oben erwähnten Spirale festzuhalten: Grundelemente des Rechtssystems ändern sich und schaffen die Voraussetzung für die Zunahme von Normen, die Zunahme von Normen ist die Voraussetzung für Änderungen im Rechtssystem29.
2. Rematerialisierung des Formalrechts Ebenso wie der Begriff der „Positivität des Rechts“ beschreibt das auf Max Webers Unterscheidung zwischen materialem und formal-rationalem Recht zurückgehende Phänomen der „Re-Materialisierung des Formalrechts“ strukturelle Veränderungen, die der Entwicklung des Rechts eine neue Richtung weisen. Auch hier wird Verrechtlichung erklärt als Folge dessen, dass das Recht eine neue Stufe in einem mehrstufigen Entwicklungsprozess erreicht hat. Für Weber ist das moderne europäische Recht „formal-rational“. Das bedeutet, dass es dadurch geprägt ist, dass in den von professionell ausgebildeten Juristen geleiteten Rechtsverfahren „ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale materiell-rechtlich und prozessual“ Beachtung finden30. – Ist formal-rationales Recht durch einen sehr hohen Abstraktionsgrad geprägt, so steht dies einer Vgl. dazu ausführlich Kapitel C. Luhmann, Positivität, S. 185: „Auch hieran wird deutlich, daß die Rechtspositivierung die Grundlage des Rechts ändert und dadurch das Recht im ganzen umstrukturiert. Sie läßt sich weder als Wegfall des naturrechtlichen Überbaus und als bloßes Übrigbleiben der lex positiva begreifen noch als bloß zusätzliche Einführung von Gesetzgebungsmöglichkeiten in ein schon bestehendes Normen- und Rollengefüge. Sie betrifft die Funktion des Rechts als Erwartungsstruktur der Gesellschaft“. 30 Weber, Rechtssoziologie, S. 125. 28 29
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Ausweitung des Normenbestandes tendenziell entgegen. Insofern wird als Voraussetzung für Verrechtlichung die „Materialisierung des Formalrechts“ gesehen31. Ethische Forderungen, politische Maximen, insbesondere im Arbeits-, Gesellschafts-, Kartell- und Sozialrecht, werden in Recht übersetzt; das Recht verliert seinen formal-rationalen Charakter und wird zur „direkten und ergebnisorientierten Steuerung von Verhalten“ eingesetzt32, wird zum „regulatorischen Recht“33. Wird das Recht somit auf konkrete Regelungszwecke festgelegt, die sich mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung verändern, wird eine permanente Fortschreibung des Rechts, nicht nur im Sinn einer Anpassung an neue Anforderungen, sondern auch einer weiteren Verfeinerung und Differenzierung erforderlich. Zugleich bekommt das Recht eine neue Qualität, die mit „Politisierung“ und „Fragmentarisierung“ zu umschreiben ist. Nach Teubner gibt damit das Recht seine dogmatische und konzeptionelle Einheit zugunsten einer „postmodernen“ Vielheit der Rechtsdiskurse auf. Zu besorgen sei eine „dramatische Zunahme an Vagheit, Unbestimmtheit des Rechts und seine immer stärkere Aufladung mit rechtsfremden Elementen (z. B. Ökonomisierung, Politisierung, Pädagogisierung, Verwissenschaftlichung)“34. Diese am nationalen Recht gemachten Beobachtungen sind auf den internationalen Bereich zu übertragen. Die internationalen Sozialstandards sind – wie auch die Menschenrechte und das Gewaltverbot – Ausdruck einer Moralisierung des Völkerrechts; Gerechtigkeitsvorstellungen und Politikziele werden in Vertragsform gefasst und überformen die formalen abstrakten Strukturen des Rechts, den als „normativen Minimalkonsens“35 zwischen den Staaten zu fassenden Kern des Völkerrechts. Jenks führt dazu aus: „[T]he emphasis of the law is increasingly shifting from the formal structure of the relationships between states and the delimitation of their jurisdiction to the development of substantive rules on matters of common concern vital to the growth of an international community and to the individual well-being of the citizens of its Member States“36.
Ziel ist ein „gemeinsames Recht der Menschheit“, in dem Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit als ideologische Klammer für ein im Übrigen pragmatisches System dienen37. Diese Entwicklung ist nachweisbar an Stellungnahmen, die KonTeubner, Begriffe, S. 291. Teubner, Begriffe, S. 306, mit einer Vielzahl von Nachweisen zu Materialisierungstendenzen in den verschiedenen Rechtsgebieten. 33 Vgl. Teubner, Begriffe, S. 312: „Verrechtlichung heißt nicht bloß Wachstum des Rechts, sondern bezeichnet einen Prozeß, in dem der intervenierende Sozialstaat einen neuartigen Rechtstyp, das regulatorische Recht, hervorbringt. Erst beide Elemente zusammengenommen – Materialisierung und sozialstaatliche Absicht – machen die Besonderheit des heutigen Verrechtlichungsphänomens aus“. 34 Teubner, Ultrazyklisches Geschehen, S. 206. 35 List, Recht und Moral, S. 43; vgl. zum Koexistenzrecht Kapitel A.IV.1. 36 Jenks, Common Law of Mankind, S. 17. 37 Jenks, Common Law of Mankind, S. 1 ff. 31 32
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ventionen und Deklarationen der Vereinten Nationen als „Ausdruck des moralischen Gewissens der Menschheit“38 oder die legislative Tätigkeit der IAO als „Ausdruck einer in Recht gefassten Solidarität“ betrachten39. Zudem wird internationales Recht in einer Vielzahl von Bereichen als Steuerungsmechanismus eingesetzt – es geht nicht mehr nur darum, möglichen Konflikten vorzubeugen und abstrakte Lösungsschemata für Streitfälle bereitzustellen, sondern das Verhalten der Staaten soll „reguliert“, aktiv gestaltet werden.
3. Externalisierung von Lösungsansätzen Eine weitere bedeutende Veränderung des Rechts ist mit Zacher als „Externalisierung“ zu bezeichnen40. Zacher zeigt am Beispiel des Sozialrechts auf, dass es „zwei Ordnungen“ zur rechtlichen Lösung bestimmter Sachverhalte gibt. So ist es möglich, Lebensverhältnisse nicht nur durch ein „vorfindliches Recht“, sondern darüber hinaus durch ein Recht zweiter Ordnung zu regeln. „Internalisierende“ und „externalisierende“ Lösungen stehen einander gegenüber41. Diese Fallkonstellation ist typisch, greift das Sozialrecht als Regelungsinstrument ein42. Lösungen, die aus dem Sachzusammenhang gefunden werden, bedeuten in der Regel eine kontinuierliche Rechtsentwicklung. Wird aber ein zusätzliches System 38 Vgl. die Resolution 2627 (XXV) vom 2. 11. 1970 zum 25. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen: „Les conventions et déclarations internationales, conclues sous ses auspices, sont l’expression de la conscience morale de l’humanité en même temps qu’elles constituent des normes humanitaires que doivent respecter tous les membres de la communauté internationale“. 39 Vgl. die „spirituelle Weihe“, die den Bemühungen um soziale Rechte gegeben wird, wenn Jenks als Direktor der IAO in einer Rede über Sozialpolitik in einer sich wandelnden Welt Papst Paul VI. mit den Worten zitiert: „Your legislative work must continue boldly and strike out along new paths. . . . You must express in rules of law that solidarity which is becoming ever more definite in the consciences of men“ (Jenks, Speeches, S. 80). Vgl. dazu allgemein Khan / Paulus, Gemeinsame Werte, 217 ff.; Friedmann, Changing Dimensions, S. 1150 ff. 40 Zum Folgenden vgl. Zacher, Verrechtlichung, S. 23 ff. 41 Zacher, Verrechtlichung, S. 25: „Zu den Problemlösungen, die in den ,natürlichen’ Problemfeldern gesucht und gefunden werden, treten so die Lösungen, die aus dem Zusammenhang dieser ,natürlichen‘ Problemfelder heraustreten – dorthin, wo es primär um den Ausgleich von sozialen Defiziten, um Sozialleistungen geht. Neben die internalisierenden treten die externalisierenden Problemlösungen: ,internalisierend‘, wenn gegebene Lebensordnungen wie die Organisation der Arbeit, das Wohnungswesen oder das Bildungswesen sozial korrigiert, durchsetzt, verändert werden; ,externalisierend‘, wenn die soziale Korrektur aus diesem Zusammenhang gelöst, isoliert wird“. 42 Ein Beispiel wäre die Gefährdung des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz. Arbeitsschutz und Arbeitgeberhaftung wären den internalisierenden Lösungen zuzurechnen. Die Arbeiterunfallversicherung dagegen wäre ein System, das von außen auf den Lebenssachverhalt „aufgestülpt“ wird und eine strukturell neue – externalisierende – Lösung anbietet; Zacher, Verrechtlichung, S. 25.
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von außen konstruiert, so sei dies ein interventionistischer Eingriff, der eine besondere organisatorische und institutionelle Absicherung brauche. Es entstehe ein „ ,Sachzwang‘ zur rechtlichen Regelung, eine elementare Angewiesenheit auf sie“43. Aufgrund der Künstlichkeit der externalisierenden Lösungen entstehe ein immer neues Bedürfnis nach Klärung und ein immer neues Verlangen nach Änderung: Die Folgen des Sozialrechts seien zu „bewältigen“44. Verrechtlichung habe damit zwei Dimensionen: die Dimension der internen Integration des (Sozial)Rechts und die Dimension seiner externen Wirkungsbedingungen (Phase der Korrektur, Phase der Institutionalisierung)45. Dieser Gedanke ist nicht unmittelbar auf die Verrechtlichung durch internationale Sozialstandards zu übertragen. In gewisser Weise ist Externalisierung aber auch hier ein wesentlicher Gesichtspunkt. Allerdings geht es nicht um die Überlagerung „vorfindlichen Rechts“ durch ein „Recht zweiter Ordnung“, sondern um die Überlagerung nationaler Lösungen durch internationale Lösungen, die von außen in abstrahierter Form an ein Rechtssystem herangetragen werden. Fehlen im nationalen Recht entsprechende Regelungen oder entsprechen sie nicht den Vorgaben, so bedeutet auch dies, dass neues, ergänzendes Recht geschaffen werden muss46. Auch hier wird der Abstand zwischen Regelungsinstanz und Regelungsbereich vergrößert.
4. Herausbildung komplementärer Rechtsstrukturen Einen vierten ebenso grundlegenden strukturellen Umbruch, der Verrechtlichung bedinge, beschreibt Deggau als Übergang von der reziproken zur komplementären Rechtsstruktur47. „Reziprok“ ist eine Rechtsstruktur dann, wenn Ansprüche im Verhältnis do-ut-des stehen, so dass die Teilnehmer am Rechtsverkehr wechselseitig Subjekt und Objekt im Rahmen der Rechtsbeziehung sind. „Komplementär“ sind dagegen ausschließlich einseitige Ansprüche – der Anspruchsgegner hat hier selbst keine Ansprüche, die er im Gegenzug geltend machen kann. Der Übergang von reziproker zu komplementärer Rechtsstruktur bedeute damit, dass das Recht auf ein „Ansprüche-haben-und-fordern-können“48 umgestellt werde. 43 „Die Externalisierung ist so weithin eine Erscheinungsform der Verrechtlichung“ (Zacher, Verrechtlichung, S. 32). 44 Zacher, Verrechtlichung, S. 49. 45 Zacher, Verrechtlichung, S. 49 ff. 46 Beispielhaft ist auf die Rechtsentwicklung in osteuropäischen Staaten zu verweisen, die, etwa um den Vorgaben des Europarats im sozialen Bereich zu genügen, eine Reihe neuer Gesetze ausarbeiten mußten, etwa zur Sozialhilfe oder zum Schutz Behinderter. 47 Deggau, Verrechtlichung, S. 112; Ausgangspunkt sind die Thesen Luhmanns zur Bedeutung subjektiver Rechte für den Umbau des Rechtsbewußtseins in der modernen Gesellschaft (Luhmann, Subjektive Rechte, S. 59).
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Recht werde so als „positivierte Zuteilung“49 begriffen. Auf der einen Seite steht das fordernde Rechtssubjekt mit seinem „subjektiven Recht“, auf der anderen Seite der zuteilende Staat50. Das subjektive Recht stellt sich somit als Korrelat des Wohlfahrtsstaats dar. Im Zusammenhang mit der Verrechtlichungsthematik ist entscheidend, dass subjektive Rechte inhaltlich nicht mehr bestimmt, sondern nach Art und Umfang von der Rechtsetzung abhängig sind, dass sie also immer neu aktualisiert und ausgestaltet werden müssen. Im Gegensatz zur reziproken Rechtsstruktur gibt es kein begrenzendes Prinzip mehr, „keine rechtliche Grenze der Umsetzung von Erwartungen in rechtlich garantierte Ansprüche“51. Dies gelte ebenso für die kompensatorischen Leistungen des Staates wie für die gegen den Staat gerichteten allgemeinen Sicherheits- und Sicherungsansprüche52. Auch hier werden die auf nationaler Ebene gefundenen Besonderheiten auf internationaler Ebene bestätigt. Das traditionelle Völkerrechtsverständnis beruht wesentlich auf dem Grundsatz do-ut-des: Die auf der Grundlage von Verträgen gewährten Leistungen freier Staaten werden als im Gegenseitigkeitsverhältnis stehend verstanden53. Diese Struktur wird nun nicht durch eine einseitige Anspruchsstruktur – vergleichbar den im nationalen Recht bestehenden subjektiven Ansprüchen des Einzelnen gegen den Staat – abgelöst. Aber neben den zweiseitigen Rechtsbeziehungen entsteht eine Vielzahl multilateraler Beziehungen, in deren Rahmen Rechte und Pflichten nicht mehr streng symmetrisch sind. Dies gilt im Besonderen für die „nach innen gerichteten Rechtspflichten“ in Menschenrechtsverträgen und für internationale Sozialstandards54.
II. Formen von Verrechtlichung Verrechtlichung kann ganz Unterschiedliches bedeuten. Recht kann in „rechtsfreie Räume“ eindringen, bereits bestehende Regelungen weiter differenzieren Luhmann, Subjektive Rechte, S. 59. Deggau, Verrechtlichung, S. 115. 50 Deggau, Verrechtlichung, S. 113: „Eine grundlegende Umgestaltung des Rechts zeigt sich daher an, wenn die Reziprozität aufgegeben wird und nicht mehr rechtskonstitutiv ist, wenn das unsymmetrische einseitige Komplementaritätsverhältnis selbst als rechtsförmig gesehen wird, wenn der Rechtsanspruch aus seiner doppelten konditionalen Bindung entlassen und einseitig werden kann. Diese Auflösung der Symmetrie geschieht in der Rechtsfigur des subjektiven Rechts: . . .“. 51 Deggau, Verrechtlichung, S. 117 52 Deggau, Verrechtlichung, S. 117. 53 Simma, Community Interest, S. 322; zur Bedeutung der Reziprozität im Völkerrecht allgemein: Simma, Reziprozitätselement; Decaux, Réciprocité. 54 Simma, Reziprozitätselement, S. 161 ff. 48 49
II. Formen von Verrechtlichung
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oder auch nur wiederholen; die Zunahme von Recht ist jeweils unterschiedlich zu werten. 1. Verrechtlichung als Einengung rechtsfreier Räume Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gab es für Staaten keine Normen, die von „außen“ bestimmt hätten, wie die Staaten im Inneren Fragen der sozialen Sicherung zu lösen haben, wen sie in welcher Weise und in welchem Umfang sichern müssen, wie entsprechende Sicherungssysteme zu strukturieren sind, wie Umverteilung innerhalb der Gesellschaft zu gestalten ist. Knapp ein Jahrhundert später sind in dem freien Feld eine Vielzahl von Pflöcken eingeschlagen; Recht ist in einen vordem rechtsfreien Raum eingedrungen55.
a) Konzept des rechtsfreien Raumes Grundlage der Vorstellung der Verrechtlichung eines rechtsfreien Raumes ist, dass es ein „vacuum legis“, einen – wie Bergbohm schreibt – „rechtsleeren Raum um das Recht“56 gebe. So explizit Fikentscher: „Das Recht kann nun aus dem Bereich normfreien Regelverhaltens Vorgänge herausnehmen und in die Rechtssphäre einbringen. Außerdem kann das Recht Normen, die auf anderen Foren gelten, zu rechtlichen Normen machen. Dann wird dem rechtsfreien Raum Verhalten entnommen, um es zu verrechtlichen. Umgekehrt kann das Recht sowohl an die normfreie Sphäre als auch an andere Foren ursprünglich von ihm geregelte Bereiche abgeben“57.
55 Definitionen und Umschreibungen für diese Form der Verrechtlichung im nationalen Bereich werden verschiedentlich angeboten. Isensee spricht von der „Ausdehnung des staatlichen Rechts auf Bereiche, die herkömmlich der privaten oder der gesellschaftlichen Selbstregulierung vorbehalten waren“ (Mehr Recht durch weniger Gesetze?, S. 139), Voigt (Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft, S. 15) von der „Verschiebung der Grenzen des Rechtssystems nach außen“, Zacher (Verrechtlichung, S. 53) vom „Übergang von unverfügbaren, unverfügten und vorgegebenen Ordnungen zu sozialer Steuerung“. Dabei präzisiert er dies dahingehend, dass Lebenserscheinungen, die als regelungsbedürftig empfunden werden, unter Umständen auch erst durch das Recht geschaffen würden und so auch das Recht selbst wiederum rechtsfreie Räume schaffen könne, die vorher inexistent waren. Kübler (Verrechtlichung von Unternehmensstrukturen, S. 171 ff.) nennt diese Form der Verrechtlichung „externe Verrechtlichung“, Weiß (Verrechtlichung, S. 602) „Dynamisierung des Rechts“ – die Terminologie ist sehr uneinheitlich. 56 Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 379; vgl. die Formulierung dieser Prämisse als These bei Engisch, Der rechtsfreie Raum, S. 386: „Das Recht hat nach allen Seiten hin Grenzen, es gibt einen vieldimensionalen, mehr oder minder umfangreichen rechtsleeren Raum“; zum Problem, ob es einen rechtsfreien Raum gibt; vgl. auch Fikentscher, Methoden, S. 164 f.; Canaris, Lücken, S. 41 ff. 57 Fikentscher, Methoden, S. 167.
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F. Verrechtlichung durch internationale Sozialstandards
Allerdings akzeptieren nicht alle Rechtstheorien diese – letztlich einem positivistischen Denken verhaftete – Vorstellung58, dass es einen Nicht-Rechts-Bereich, ein Reservat des nicht-rechtlich Geregelten gebe, sondern gehen davon aus, das Recht sei universal, so dass auf jede Frage eine Antwort im Recht zu finden sei59. Damit werden zwei unterschiedliche Folien ausgebreitet, auf denen sich die Aufnahme von Sozialstandards in das klassische Völkerrecht beschreiben lässt. Entweder man geht davon aus, die Sozialstandards seien in einen Bereich vorgedrungen, in dem das Recht „nichts zu sagen“ hatte60, einen Bereich, der auf nationaler Ebene als „Lebenswelt“ (Habermas), „vorgegebene Ordnung“ (Zacher) oder „Bereich der gesellschaftlichen und privaten Regulierung“ (Isensee) zu betrachten wäre. Für das internationale Recht ist davon auszugehen, dass dann, wenn es keine rechtlichen Antworten auf bestimmte Fragen gibt, moralische oder politische Konventionen die Stelle des Rechts einnehmen und diese mit der Verrechtlichung verdrängt werden. Hält man das Recht dagegen für allumgreifend61, ist zu argumentieren, Recht regele jede Frage, und zwar im Zweifel in dem Sinn, dass es den Einzelstaaten 58 Vgl. explizit Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 375: „Nun hat es aber noch niemals ein positives Recht für notwendig und zweckmäßig gehalten, die Totalität der möglichen Rechtsstoffe in seinem persönlich-räumlichen Gebiet auch wirklich zu regeln, vielmehr läßt jedes eine Menge derselben beiseite. Also den Umfang seines konkreten Bereichs durch Anordnungen, welche sich über Haben und Nichthaben, Dürfen und Nichtdürfen, Gewährt- und Abgesprochensein usw. ergeben, selbst bestimmend entscheidet das einzelne Recht implicite hinsichtlich des Restes, daß darüber rechtlich nichts verordnet sein soll. . . . diejenigen äußeren Verhältnisse und Handlungen, welche sie einschließt, sind Stoffe eben dieses Rechts, alle anderen, wie stark sie auch nach rechtlicher Normierung verlangen sollten, fallen in den rechtsleeren Raum“; vgl. auch die Zwangstheorien des Rechts, die Völkerrecht nicht als Recht anerkennen (S. 431 f.) – danach ist der gesamte Raum jenseits des nationalen Hoheitsraums rechtsfrei; vgl. Fastenrath, Lücken, S. 214. 59 „Es liegt im Wesen rechtlicher Ordnung, universal zu sein. Recht kann eine Teilregelung nicht treffen, ohne schon durch die Auswahl des geregelten Teils menschlicher Beziehungen auch zu dem nichtgeregelten Teil – eben durch den Ausschluß von Rechtswirkungen – Stellung zu nehmen. Deshalb ist ein ,rechtsleerer Raum‘ immer nur vermöge des eigenen Willens der Rechtsordnung rechtsleer und überhaupt nicht im strengen Sinne rechtsleer, nicht ein rechtlich ungeregeltes, sondern ein rechtlich im negativen Sinne, durch Verneinung jeder Rechtsfolge geregeltes Tatsachengebiet. Die Rechtsordnung hat in dem angeblich rechtsleeren Raum nichts gewollt – nicht etwa: nicht wollen gewollt, was doch wohl ein Widerspruch in sich wäre“ (Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 191). 60 Ein derartiges Rechtsverständnis läßt sich dem Gutachten des IGH zur völkerrechtlichen Zulässigkeit des Einsatzes atomarer Waffen zu Verteidigungszwecken entnehmen, in dem der Gerichtshof keine auf das Recht gegründete Antwort findet und feststellt: „. . . that the present corpus iuris is devoid of relevant rules in this matter“ (ICJ Reports 1996, S. 12). 61 Nach der naturrechtlichen Vorstellung ist ein rechtsfreier Raum nicht denkbar, da das Natur- bzw. Vernunftsrechtssystem per definitionem als allumfassend verstanden wird; zu jeder Sachfrage sind Normen ableitbar. Auch moderne, auf der Analyse von Sprache basierende Theorien negieren die Existenz eines rechtsfreien Raums mit der Begründung, daß das Recht über die Wortsinngrenzen hinaus auf alle möglichen Sachverhalte ausdehnbar sei (Fastenrath, Lücken, S. 215).
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eineunbegrenzte Gestaltungsautonomie einräume62. Sozialstandards würden aus dieser Sicht nicht in einen rechtsfreien Raum vordringen, sondern ebendiese vom Recht gewährte Gestaltungsfreiheit einengen. Gründe für diese Entwicklung gibt es viele. Für internationale Sozialstandards sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung. Zum einen erschließt sich Recht dann neue Felder, wenn Probleme in der Folge technischer Entwicklungen oder gesellschaftlicher Änderungsprozesse entstehen63 – dies gilt für die Einführung sozialer Sicherungsmaßnahmen aufgrund einer geänderten „ökonomischen, sozialen und politischen Ambiance“ in besonderem Maße64. Zum anderen führt ein neues Rechtsverständnis dazu, bestehende Probleme als regelbar anzusehen. Dies gilt im internationalen Bereich für das Ausgreifen völkerrechtlicher Regelungen auf den über eine lange Zeit hin als „black box“65 verstandenen Innenrechtsraum der Staaten.
b) Verrechtlichung rechtsfreier Räume als gradueller Prozess Besonderheit der Verrechtlichung aufgrund von Sozialstandards ist, dass nicht Recht „gesetzt“ wird, wo zuvor kein Recht war, sondern dass Recht in bestimmte Bezugssysteme vordringt. Dies ist aufgrund der relativen Normativität als gradueller Prozess zu verstehen. Nimmt man als Ausgangspunkt der Verrechtlichung Verträge, so wird primär nur für die jeweiligen Vertragspartner der rechtsfreie Raum eingeengt bzw. die souveräne Entscheidungsmacht eingeschränkt, und dies nur insoweit, als die Verträge im Einzelnen bindende Vorgaben machen und die Staaten keine Vorbehalte eingelegt oder die Geltung der Regelungen in anderer Weise abbedungen haben. – Allerdings wäre dieser Ansatz, wie dargestellt66, eine zu begrenzte Sichtweise; wesentliche Rechtsentwicklungen würden ausgeklammert. Ein rechtsfreier Raum würde in Bereichen fingiert, in denen Recht vorgedrungen ist, bzw. genauer, in denen Recht Schritt für Schritt vorzudringen im Begriff ist. Bei internationalen Sozialstandards gibt es ein Weniger und ein Mehr an Recht; der Rechtscharakter einer 62 Beispielhaft für diese Haltung wäre die Lotus-Entscheidung des StIGH aus dem Jahr 1927, in der das Gericht ausführt, daß dann, wenn es keine völkerrechtliche Norm gebe, die einem Staat ein bestimmtes Verhalten verbiete, dieses Verhalten völkerrechtlich erlaubt sein müsse. „Restrictions upon the independence of States cannot therefore be presumed“ (PCIJ Series A No. 10, pp. 18,19). 63 Szasz, General Law-Making Processes, S. 40: „[progressive development] means the creation of new law as required by the world community – which may be old needs not previously addressed legislatively, but more often constitute new demands arising from technological developments, scientific insights, or merely the ever-increasing number and complexity of international interactions“. 64 Vgl. dazu Köhler / Zacher, Pfade der Entwicklung, S. 14 ff. 65 Simma, International Human Rights, S. 171. 66 Vgl. Kapitel E.
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Norm ist unterschiedlich, je nachdem, mit welcher Elle man misst. Das bedeutet, dass die Verrechtlichung des rechtsfreien Raumes nicht abrupt erfolgt, sondern graduell. Unverbindliche Normen bereiten den Boden vor, verbindliche Generalklauseln definieren rechtliche Regelungen in Umrissen, die Spruchpraxis der Sachverständigenkomitees konkretisiert und ergänzt die Vorgaben, das rechtliche Netz verdichtet sich, der rechtsfreie Raum und damit die Gestaltungsfreiheit der Staaten im Bereich des Sozialrechts wird mehr und mehr eingeschränkt. „Norm-creation“ und „Norm-concretization“ greifen bei der Ausfüllung des rechtsfreien Raumes ineinander67. Nun findet Verrechtlichung aber dennoch basierend auf Verträgen, Empfehlungen, Erklärungen etc. statt, die in der Regel nicht allgemein, sondern nur in einem bestimmten Bezugssystem, für die jeweiligen Vertragspartner, für die jeweiligen Mitgliedstaaten einer bestimmten Organisation etc., gelten. Ob eine neue Norm in einen rechtsfreien Raum eindringt, ist so immer nur relativ zu einem Bezugssystem zu bestimmen. Möglich ist, das Rechtssystem der jeweiligen internationalen Organisation als Bezugssystem zu definieren und auf dieser Grundlage festzustellen, ob eine Regelung innovativ ist oder nicht. Dies ist die Perspektive, die die internationalen Organisationen selbst in der Regel einnehmen. Bei der Ausarbeitung von Neuregelungen wird nicht geprüft, ob es eine entsprechende Regelung überhaupt auf internationaler Ebene gibt, sondern vielmehr, ob die Frage im Rahmen des „Rechtssystems“ der jeweiligen Organisation bereits geklärt ist. Beispielsweise wird mit den Neuregelungen in der RESC rechtsfreier Raum ausgefüllt, prüft man im Hinblick auf den Europarat, ob entsprechende Regelungen existieren. Anders ist es, stellt man auf die Perspektive der Einzelstaaten ab. Sobald für sie bereits im Rahmen einer der internationalen Organisationen, der sie angehören, eine Regelung rechtlich relevant ist, lässt sich nicht mehr von Verrechtlichung eines rechtsfreien Raumes sprechen. Dies gilt etwa für die Neuregelungen der RESC, da sie in dem Normenkorpus der IAO bereits enthalten sind68. Geht es um die Frage der grundsätzlichen Verpflichtetheit des Staates, soziale Sicherungssysteme zu schaffen, so lassen sich im Völkerrecht kaum mehr völlig rechtsfreie Räume feststellen. Die große Mehrzahl der Staaten hat mit der Ratifizierung des ICESCR ein Recht auf soziale Sicherheit und ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard grundsätzlich anerkannt69. Die Staaten, für die dies Vgl. Simma / Zöckler, Social Protection, S. 70. Vgl. S. 83 ff. 69 Vgl. Kapitel B.I.; nicht dazu gehören Andorra, Antigua und Barbuda, die Bahamas, Bahrain, Bhutan, Brunei, Daressalam, die Komoren, die Cookinseln, Kuba, Dschibuti, Eritrea, Fidschi, der Heilige Stuhl, Indonesien, Kazachstan, Kiribati, Volksrepublik Laos, Malaysia, die Malediven, die Marshallinseln, Mauretanien, Mikronesien, Myanmar, Nauru, Niue, Oman, Pakistan, Palau, Papua-Neuguinea, Qatar, Saint Kitts und Nevis, St. Lucia, Samoa, Saudi-Arabien, Singapur, die Salomonen, Swaziland, Tonga, Tuvalu, die Vereinigten 67 68
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nicht zutrifft, sind zum Teil an andere Verträge gebunden, die Sozialstandards, zumindest ansatzweise, enthalten70. Im Übrigen ist „soft law“ auszumachen71, das zumindest erste rechtliche Orientierungspunkte enthält. Die graduelle Verrechtlichung lässt sich gut erkennen: Die Ratifikation der entsprechenden völkerrechtlichen Bestimmungen bedeutet lediglich einen ersten Schritt; bis diese Vorgaben konkrete rechtliche Erwartungen im Luhmann’schen Sinn schaffen und im nationalen Entscheidungsprozess eine Rolle spielen, ist es ein weiter Weg. Der Grad an Verrechtlichung ist für jeden Staat insoweit unterschiedlich zu bestimmen72. Betrachtet man die Rechtsvorgaben im Gesamtsystem, so ist der Grad an Verrechtlichung auch inhaltlich ungleich. Fragen wie etwa die Möglichkeit der Suspendierung von Sozialleistungen sind vergleichsweise eingehend geregelt, während etwa die Finanzierung oder die Möglichkeiten der Privatisierung sozialer Sicherungssysteme weitgehend ausgeklammert werden. Auch dieses Ungleichgewicht ist ein Charakteristikum nicht nur des internationalen Sozialrechts, sondern des Völkerrechts allgemein: „Durchweg besteht ein Mißverhältnis zwischen der Bedeutung der jeweils normierten Bereiche und der Vollständigkeit der Normierung. Wichtige Gegenstände sind nicht speziell geregelt, oder sie sind nur formelkompromisshaft abgedeckt; andere – weniger bedeutende – Fragen sind dagegen äußerst detailliert beantwortet“73.
2. Verrechtlichung als Differenzierung allgemeiner Regelungen Verrechtlichung kann auch bedeuten, dass bereits bestehende rechtliche Lösungen durch komplexere rechtliche Lösungen ergänzt werden74. Für das nationale Recht lassen sich Zwänge identifizieren, die dazu führen, dass allgemeine RegeArabischen Emirate, Vanuatu; bisher nur signiert haben Liberia, Sao Tomé, Südafrika, die Türkei und die USA. 70 Verschiedene der Staaten, die den ICESCR nicht ratifiziert haben, sind an den CRC, CEDAW oder CERD gebunden, die zumindest für die jeweils geschützten Gruppen ein Diskriminierungsverbot bei der Gewähr sozialer Rechte beinhalten. Die USA haben nicht den ICESCR, wohl aber den ICCPR ratifiziert, so dass Art. 26 auf soziale Rechtspositionen grundsätzlich zur Anwendung kommt. Allerdings haben sie eine Erklärung abgegeben, nach der im Gegensatz zu Art. 26 Unterscheidungen möglich sind, soweit sie in vernünftiger Weise mit einem legitimen Ziel der Regierung verbunden sind. 71 Vgl. insbesondere S. 76 f. sowie S. 136 f. 72 Vgl. für das deutsche Recht die umfassende Studie von Schuler, Internationales Sozialrecht. 73 Graf Vitzthum, Begriff, Rd. 48. 74 Vgl. Voigt, Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft, S. 15, der von einer „Detaillierung oder Spezialisierung des Rechts“ spricht. Normativ bereits geregelte Tatbestände würden in weitere Einzeltatbestände aufgelöst, um die Zielgenauigkeit des rechtlichen Steuerungsinstrumentariums zu erhöhen. Deggau (Verrechtlichung, S. 98) grenzt von der Erweiterung der Regelungsbreite des Rechts die „Intensivierung der Normierung in bestehenden Regelungsbereichen“ ab.
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lungen immer weiter ausdifferenziert werden. Begriffe wie Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit geben eine bestimmte Ordnung des politischen Systems vor und werden als Grundbausteine in das Rechtssystem integriert. Da sie aber in der Regel nur abstrakte Konzepte benennen, sind sie mit Hilfe von konkreten Einzelnormen auszugestalten. Eine Balance zwischen den verschiedenen Interessen, die im Rahmen eines übergreifenden Konzepts geschützt sind, ist niemals abschließend zu bestimmen. So findet eine Differenzierung und Neubestimmung „ad infinitum“ statt75. Dies gilt insbesondere für den Gleichheitssatz. Differenzen bestehen immer, werden aber zusätzlich auch noch durch Ausgleichsansprüche fortwährend neu geschaffen, so dass „das Recht sich stets selbst in Bewegung hält“76. Dies gilt besonders für sozialrechtliche Ansprüche77. Die Spannung zwischen „der konkreten Zuteilung des konkret Richtigen und der generellen Zuteilung des generell Richtigen“78 sorgt zudem für einen fortwährenden Präzisierungs- und Fortschreibungsbedarf bei der Normsetzung. Dies gilt auch für den demokratischen Rechtsstaat. Legitimation erfolgt durch Gesetz. Damit ist auch hier der Keim für progressive Verrechtlichung angelegt79. So ist für das deutsche Recht der aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleitete Gesetzesvorbehalt nicht unmaßgeblich an dem Anwachsen rechtlicher Regelungen beteiligt, erfordert er doch nicht nur für Eingriffe in Freiheit und Eigentum eine gesetzliche Grundlage, sondern ist so erweitert und verfeinert worden, dass er tendenziell alle Bereiche des staatlichen Handelns und der staatlichen Verantwortung für privates Handeln mit erfasst80. Analysiert man die Entwicklung internationaler Sozialstandards, so lässt sich im Gegensatz zu diesen Besonderheiten der nationalen Rechtsentwicklung feststellen, dass eine zunehmende Detaillierung der Regelungen durch neue ergänzende Regelungen eher die Ausnahme als die Regel ist81. Der menschenrechtliche und der spezifisch sozialrechtliche Ansatz existieren nebeneinander; von einer Differenzierung und Ausgestaltung lässt sich hier nicht sprechen. Auch lässt sich nicht nach75 Vgl. dazu auch Isensee, Mehr Recht durch weniger Gesetze?, S. 142: „Wenn die Gleichheitsidee aus ihrem liberalen Koordinationssystem gelöst, innerhalb dessen sie Gleichheit vor dem allgemeinen Gesetz und Gleichheit im Freiheitsrecht bedeutet, und als soziale Gleichheit in den Lebensverhältnissen verstanden wird, erzeugt sie einen progressus in infinitum, weil jede gesetzliche Einebnung realer Ungleichheit neue Ungleichheit in anderer Relation stiftet“. 76 Deggau, Verrechtlichung, S. 119. 77 „Der Wohlfahrtsstaat lebt davon, daß die Ungleichheit auf gesamtgesellschaftlicher Basis schneller reproduziert wird, als sie beseitigt werden kann“ (Luhmann, Subjektive Rechte, S. 88). 78 Zacher, Verrechtlichung, S. 64. 79 Zacher, Verrechtlichung, S. 33. 80 Isensee spricht in diesem Zusammenhang von einer „Hypertrophie des Vorbehalts des Gesetzes“; vgl. Isensee, Mehr Recht durch weniger Gesetze?, S. 140. 81 Etwas anderes gilt allerdings im Bereich des Koordinierungsrechts.
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weisen, dass die Normen eine Sogwirkung in dem Sinn entfalten würden, dass sie weitere, ergänzende Regelungen nötig machten82. Detaillierte Instrumente wie die revidierte EOSS oder Konvention Nr. 157 der IAO, die versuchen, einen im Sozialbereich erreichbaren Konsens in einer Vielzahl von präzisen Einzelregelungen festzuschreiben, werden nicht ratifiziert83. Dies zeigt, dass die Bereitschaft der Staaten, sich in derart weitgehender Weise im Sozialbereich zu binden, nicht vorhanden ist. Vielmehr lässt sich eine Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung beobachten. Detaillierte Regelungen werden auf ihre Grundbestandteile zurückgeführt; mit Voigt ließe sich in diesem Zusammenhang von „Entfeinerung“84 sprechen. Prominentes Beispiel wäre die Deklaration über Grundprinzipien der IAO, die aufgefächerte Bestimmungen auf ihre Kernbestandteile zurückführt und neben diesen parallel besteht85. Differenzierungen der Standards erfolgen so nicht über weitere Normen, sondern lediglich über unverbindliche Auslegungen. Multilaterale Verträge, die normative Vorgaben für eine Vielzahl unterschiedlicher Systeme enthalten sollen, sind nicht geeignet, um detaillierte Regelungen aufzunehmen. Ein Prozess eines Feedback zur Überprüfung der Lückenhaftigkeit von Normen und der immer neuen Ergänzung und Erweiterung des Normenbestandes auf dieser Grundlage fehlt im Bereich internationaler Sozialstandards.
3. Verrechtlichung als Wiederholung bereits bestehender Regelungen Die Vervielfachung von auf einen Sachverhalt anwendbaren Normen ist als eine weitere Form von Verrechtlichung anzusprechen. Sie stellt sich prima facie als Wiederholung dar. Der Regelungsgehalt wird nicht weiter ausdifferenziert, konkretisiert, verfeinert, sondern schlicht ein zweites, drittes, viertes Mal festgehalten. Allerdings lassen sich inhaltsgleiche Normen trotzdem nicht unbedingt zur Deckung bringen. Abgesehen davon, dass es (fast) immer unterschiedliche Nuancen bei den einzelnen Normierungen gibt – inhaltlich wird keine hundertprozentige Übereinstimmung erreicht, der Geltungsumfang der Norm ist unterschiedlich –, bringt es auch der jeweilige Kontext, in dem die Norm steht, mit sich, dass den Normierungen in der Regel ein Eigenwert zukommt. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen von Wiederholungen können in drei Gruppen zusam82 Diese Beobachtung trifft für andere Bereiche des Völkerrechts nicht zu. Werden im System bei der Anwendung Lücken festgestellt, so kann dies zur Neuregelung führen; vgl. Roucounas, Engagements parallèles, S. 22. 83 Die revidierte EOSS wurde in 15 Jahren noch nicht ein einziges Mal ratifiziert, Übereinkommen Nr. 157 der IAO in 19 Jahren dreimal, vgl. dazu Kapitel B.I. 84 Voigt, Lexikonbeitrag, S. 40. 85 Im Gegensatz zu den differenzierten Bestimmungen, die in der Regel in einzelnen Konventionen enthalten sind, handelt es sich hierbei um eine nicht-bindende Bestimmung.
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mengefasst werden. Neben identischen und teilidentischen Regelungen gibt es Normen, die sich aufgrund ihrer hierarchischen Stellung im System unterscheiden, und Normen, denen eine jeweils unterschiedliche Rechtsqualität zukommt. a) Identische / teilidentische Regelungen Identische oder teilidentische Regelungen sind im nationalen Recht selten. Vorstellbar wären inhaltsgleiche Regelungen, die in verschiedenen Gesetzen enthalten sind. Allerdings wird dies meist mit der Technik der Verweisung vermieden und charakterisiert so eher ein im Übergang befindliches, noch nicht konsolidiertes Recht86 bzw. einen konkreten Missstand, der oftmals im Wege der Rechtsbereinigung zu beseitigen versucht wird. Internationale Sozialstandards – sieht man sie als Gesamtheit und nicht aufgespalten in die Rechte der verschiedenen internationalen Organisationen an – umfassen dagegen häufig identische Regelungen, man denke nur an die Aufnahme der Bestimmungen der Konvention Nr. 102 der IAO in die Europäische Ordnung für Soziale Sicherheit87. Teilidentische Regelungen sind noch weiter verbreitet. Ein Beispiel wäre die Normierung der Verpflichtung der Staaten, eine aktive Beschäftigungspolitik zu verfolgen: Revidierte Europäische Sozialcharta von 1996
Konvention Nr. 122 der IAO von 1964
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966
Art. 1 Abs. 1 Um die wirksame Ausübung des Rechtes auf Arbeit zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien, zwecks Verwirklichung der Vollbeschäftigung die Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungsstandes zu einer ihrer wichtigsten Zielsetzungen und Aufgaben zu machen.
Art. 1 Um das wirtschaftliche Wachstum und die wirtschaftliche Entwicklung anzuregen, den Lebensstandard zu heben, den Arbeitskräftebedarf zu decken sowie die Arbeitslosigkeit und die Unterbeschäftigung zu beseitigen, hat jedes Mitglied als eines der Hauptziele eine aktive Politik festzulegen und zu verfolgen, die dazu bestimmt ist, die volle, produktive und frei gewählte Beschäftigung zu fördern.
Art. 6 Abs. 2 Die von einem Vertragsstaat zur vollen Verwirklichung dieses Rechts [des Rechts auf Arbeit] zu unternehmenden Schritte umfassen . . . die Festlegung von Grundsätzen und Verfahren zur Erzielung einer stetigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung und einer produktiven Vollbeschäftigung unter Bedingungen, welche die politischen und wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Einzelnen schützen.
86 Vgl. z. B. das Recht der Transformationsstaaten in der ersten Zeit nach dem Systemumbruch. 87 Vgl. dazu Kapitel A.II.6.
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Inwieweit Normen tatsächlich identisch oder nur teilidentisch sind, ist im Einzelfall zu prüfen. Identität könnte bei wortgleicher Formulierung in den authentischen Vertragssprachen zu bejahen sein. Allerdings ist selbst in diesem Fall zu differenzieren, da sich inhaltliche Unterschiede zum Teil auch aus der Zielrichtung des jeweiligen multilateralen Vertrags, dem sie entstammen, ergeben können88. Zudem können sie auch historisch bedingt sein oder aufgrund unterschiedlicher Auslegungspraxis im Lauf der Zeit manifest werden89.
b) Regelungen auf unterschiedlicher hierarchischer Ebene Möglich ist auch, dass bereits bestehende Normen wiederholt, dabei aber zugleich auf eine andere hierarchische Ebene im Normengefüge gestellt werden. So kann – geht man von der im deutschen Recht vorgegebenen Normenstruktur aus – der Inhalt einer hierarchisch niedriger stehenden Norm, beispielsweise einer Satzung, zugleich in Form eines höherstehenden Rechtsakts, etwa in Gesetzesform, verabschiedet werden90. Umgekehrt können aber auch verfassungsrechtliche Regelungen auf anderer Ebene wiederholt werden. Ein typisches Beispiel wären die Landesverfassungen, die vielfach mit den Bestimmungen des Grundgesetzes übereinstimmen. Mögliche Gründe für derartige Wiederholungen sind, dass die Geltung einer Norm auf einen erweiterten Adressatenkreis ausgedehnt, die Norm auf eine neue Legitimationsbasis gestellt, die Veränderbarkeit eingeschränkt werden oder der Norm bei Abwägungen ein anderes Gewicht zukommen soll. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es einen Stufenbau der Rechtsordnung und damit ein hierarchisches Normgefüge gibt. – Derartige Erscheinungen finden sich im Bereich des Völkerrechts nur ansatzweise, etwa im Verhältnis der Verfassung der IAO zu einzelnen Konventionen91.
88 Beispielsweise ist davon auszugehen, daß die aus IAO-Übereinkommen in die RESC übernommenen Bestimmungen in einem derartigen den Grundrechten gewidmeten Normkomplex eine andere Wirkung entfalten als in den zugrundeliegenden, schwerpunktmäßig arbeitsrechtlichen Abkommen. 89 Vgl. Bericht BT-Drucksache 7 / 660, Punkt 15: „. . . wünscht der Sachverständigenausschuß die Aufmerksamkeit der Regierungen auf die Tatsache zu lenken, daß ein Recht, das einerseits im VN-Pakt und andererseits in der Europäischen Konvention gewährleistet wird, selbst wenn es mit denselben Worten formuliert wird, durch die Kontrollorgane, die auf Grund der beiden Systeme errichtet worden sind, verschieden ausgelegt werden kann“. 90 Regelmäßig handelt es sich aber in diesem Fall um Reformen, da mit Erlaß der höherrangigen Norm die Norm niederen Ranges aufgehoben wird. 91 Vgl. die Festschreibung der Vereinigungsfreiheit und des Diskriminierungsverbots in der Verfassung sowie in den Konventionen Nr. 87 und 98 bzw. 111.
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c) Regelungen von unterschiedlicher Rechtsqualität Rechtliche Regelungen können auch, selbst wenn es sich um inhaltliche Wiederholungen handelt, dadurch eine andere Bedeutung bekommen, dass sie Teil von Rechtsakten mit unterschiedlicher Rechtsqualität sind. Wird etwa mündlich tradiertes Gewohnheitsrecht schriftlich aufgezeichnet, so lebt die Regelung in zwei verschiedenen Formen fort, da das Gewohnheitsrecht durch die Kodifikation nicht aufgehoben wird92. Das Gleiche gilt etwa auch für die Aufnahme von soft law in Verträge. Diese Form von Verrechtlichung, die Koexistenz von inhaltsgleichen Regelungen verschiedener Rechtsqualität, ist, wie dargestellt93, als grundlegendes Charakteristikum internationaler Sozialstandards anzusprechen. Damit lässt sich festhalten, dass die Verrechtlichung durch internationale Sozialstandards eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Rechtsfreie Räume sind im Hinblick auf die jeweiligen Bezugssysteme zu definieren; sie werden in einem langsam fortschreitenden Prozess angefüllt, wobei „norm-concretisation“ durch unverbindliche Stellungnahmen wichtiger als „norm-creation“ ist. Im Gegensatz zum nationalen Recht erklärt nicht die Differenzierung und Detaillierung allgemeiner Regelungen, sondern die Wiederholung bestehender Regelungen die quantitative Zunahme von Recht. Eine Rückkoppelung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung fehlt, so dass auf dieser Grundlage das Normennetz nicht dynamisch ausgeweitet wird.
III. Rechtskritik am Phänomen der Verrechtlichung Die Vervielfältigung von internationalen Sozialstandards ist Ausdruck der Überzeugung, dass das Recht allgemein akzeptierte Werte zu definieren vermag und als Instrument gesellschaftlicher Steuerung universell und so auch auf internationaler Ebene eine dominante Funktion übernehmen kann. Aber werden die damit verbundenen Erwartungen eingelöst? Bewirken die Sozialstandards, was sie bewirken sollen? Bedeutet ein Mehr an Recht – und dies ist das in letzter Konsequenz anvisierte Ziel – ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit für den Einzelnen?
1. Formalisierung Der Kritikpunkt, der bereits für den ersten Protagonisten der Verrechtlichungsdiskussion, für Otto Kirchheimer, zentral ist, ist die Einengung des Entscheidungs92 Zumeist ist beides aber nicht identisch; die Kodifikation von Gewohnheitsrecht beinhaltet auch Änderungen oder Neuerungen. 93 Vgl. oben Kapitel E.
III. Rechtskritik am Phänomen der Verrechtlichung
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spielraums der politischen Entscheidungsträger. An die Stelle von sachlicher Entscheidungsmacht trete rechtstechnische Förmlichkeit94. Verrechtlichung bedeute „Neutralisierung“ und „juristische Formalisierung“; es gehe darum, Machtentscheidungen auszuweichen95. Juristische Formalisierung, das Zurückweichen vor Sachentscheidungen, zeigt sich auch an dem Prozess der Ausarbeitung und Anwendung internationaler Sozialstandards. Sachgerecht wäre, dann, wenn ein konkretes Bedürfnis für eine international-rechtliche Regelung entsteht – sei es, eine Sachfrage gäbe fortwährend zu Streit Anlass, sei es, ein Missstand, der das Verhältnis zwischen verschiedenen Staaten berührt, solle behoben werden – entsprechende Regelungen auszuarbeiten und dabei diejenigen Staaten einzubeziehen, für die die Frage von Relevanz ist. So wurde bei der Ausarbeitung der ersten sozialrechtlichen Konventionen zur Jahrhundertwende vorgegangen – das Verfahren war dem Ziel, eine bestimmte Einigung zu einem bestimmten Punkt zu erreichen, untergeordnet. Von einer Formalisierung der Sachentscheidung lässt sich in dem Augenblick sprechen, in dem nicht mehr der Inhalt das Verfahren, sondern das Verfahren den Inhalt bestimmt. Dies ist insbesondere bei der Rechtsetzung im Rahmen der IAO zu beobachten. Obwohl das Verfahren so strukturiert ist, dass beim Prozess der Vorbereitung der Normen die Mitgliedstaaten und das Internationale Arbeitsamt gleichermaßen einbezogen werden96, ist es nicht möglich, adäquat auf tatsächlich bestehende Probleme zu reagieren. Zum einen ist das Verfahren sehr langfristig vorausbestimmt; die Planung, welche Normen auszuarbeiten sind, erstreckt sich über mehrere Jahre. Kontroverse Themen, zu denen kein Konsens erreichbar scheint, werden ausgeklammert. Alle Staaten müssen grundsätzlich beteiligt werden, selbst wenn eine Sachfrage einzelne Staaten nicht betrifft97. Da kein Staat gebunden ist, von der Internationalen Arbeitskonferenz verabschiedete Konventionen auch tatsächlich zu 94 „Abgesehen von dem jedem Recht der Neuzeit, . . . , eigenen Maß an Technizität, fanden wir weit darüber hinausgehend den spezifischen Charakter unseres Rechts in einem zu seiner quantitativen Zunahme im umgekehrten Verhältnis stehenden Fehlen sachlicher Entscheidungsmacht, in einem Verschwinden staatlicher Wertsetzungen, in einem Mehr rechtstechnischer Förmlichkeit und Präzision, kurzum in dem charakteristischen Verschwinden des Staates hinter seinem eigenen Rechtsmechanismus“ (Kirchheimer, Staatslehre, S. 47). 95 „. . . Aber über jede Verwaltungsfunktion erhoben sich die Instanzen, die die Entscheidung der jeweiligen Kräfteverteilung entreißen und in die Sphäre des Rechts entrücken sollten. Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung, jeder tatsächlichen, jeder Machtentscheidung wird auszuweichen versucht . . .“ (Kirchheimer, Staatslehre, S. 36 f.). Kirchheimer setzt sich in dieser Schrift kritisch mit der „Formaldemokratie“, d. h. mit einer Staatsform, die keinem ideologischen Wert verpflichtet ist, auseinander und stellt sie der Staatslehre des Bolschewismus und Sozialismus gegenüber. Während bei ersterem das Rechtsverfahren im Vordergrund stünde, ginge es bei letzterem um einen ideologiebezogenen Einsatz des Rechts zur Erreichung der Ziele der bolschewistischen Revolution. 96 Valticos, Droit international du travail, S. 215 ff.; Osieke, International Labour Organisation, S. 148 ff. 97 Ein Beispiel für eine Konvention, die nur für eine begrenzte Zahl von Staaten von Interesse ist, ist etwa die Konvention zur Plantagenarbeit.
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ratifizieren, und die Vertreter bei der Konferenz nicht die tatsächlichen politischen Entscheidungsträger sind, werden bei der Diskussion neuer Normen nicht unbedingt die wirklich kritischen Punkte zur Sprache gebracht. Die sozialpolitische Diskussion wird in die engen Bande des juristisch auf internationaler Ebene Möglichen eingespannt. Das Ergebnis der Formalisierung ist an dem Verhältnis zwischen den – insbesondere in jüngerer Zeit – angenommenen Konventionen und den Ratifikationen zu sehen. So wurden die Konventionen der letzten zehn Jahre in der Regel von weniger als zehn Prozent der Mitgliedstaaten ratifiziert. Insbesondere auch die geringe Ratifikationsrate von Konventionen, die Sozialstandards normieren, ist augenfällig98. Die Formalisierung des Verfahrens der Rechtsetzung setzt sich in der inhaltlichen Ausgestaltung der Standards fort. Fraenkel spricht von „Versteinerung“, würden juristische Konstruktionen gebildet, die über den sozialen Gehalt der jeweiligen Bestimmungen nichts aussagen99. Eine Versteinerung in dem Sinn ist auch an den Normierungen im sozialen Bereich zu beobachten. Fragen der sozialen Sicherheit enthalten ein intensives Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite geht es um Sicherung gegen Not bzw. Erhaltung eines bestimmten Lebensstandards, auf der anderen Seite steht die Einengung des persönlichen Entscheidungsspielraums auf dem Spiel. Dieses Spannungsverhältnis wird in den Formeln, die verwendet werden („Recht auf sozialen Schutz“) nicht zum Ausdruck gebracht; die freiheitsbeschränkende Dimension wird nicht offen gelegt. Formalisierung ist Folge der notwendigen Abstraktion bei der Kompromissfindung; das Grunddilemma eines vollständig unterschiedlichen Entwicklungsstandes im sozialen Bereich sowie unterschiedlicher Grundkonzeptionen von sozialer Sicherheit ist nur in Formelkompromissen auffangbar. Formalisiert ist auch die Kontrolle der Einhaltung der Normen. Es wird nicht – wie etwa bei NGOs – ein freier Dialog über sozialrechtliche Entwicklungen geführt, bei dem die tatsächlich wunden Punkte in den einzelnen Staaten aufgegriffen werden könnten. Vielmehr müssen sich die Kontrollkomitees an die normativen Vorgaben halten, die die auf internationaler Ebene gefundenen Kompromisse widerspiegeln. Werden etwa die prozentualen Standards der Konvention Nr. 102 der IAO oder der EOSS eingehalten, bedeuten die jeweiligen Ersatzquoten für die Betroffenen aber, dass das Existenzminimum nicht gesichert ist, so muss das Kontrollkomitee dennoch die Übereinstimmung der nationalen Regelungen mit den internationalen Normen bescheinigen. Wird die Privatisierung von Sozialrechtssystemen untersucht, so hat dies anhand von Normen zu geschehen, die diese Möglichkeit nicht vorgesehen hatten; entsprechend eklektisch und wenig aussagekräftig ist die Auseinandersetzung100. Noch deutlicher wird das Problem der Formalisierung aufgrund der grundsätzlich auf die Angaben der Staaten beschränkten InformaVgl. dazu Kapitel B.I. Fraenkel, Politische Bedeutung, S. 255 ff. 100 Vgl. dazu S. 299 f. und S. 331 f. 98 99
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tionsbasis der Kontrollkomitees. Die Tatsache, dass Kommentare oftmals über viele Jahre wortgleich sind, dass sowohl die internationalen Sachverständigenkomitees als auch die wegen ihrer Rechtsetzung und -anwendung kritisierten Staaten dieselben Stellungnahmen wieder und wieder wiederholen, spricht für sich. Dies ist in gewisser Weise paradox; der Wert der Entscheidungen liegt in diesen Fällen nur darin, dass es rechtliche – wenn auch in den meisten Fällen unverbindliche – Entscheidungen sind, dass sie von einer dazu berufenen Instanz ausgesprochen werden. Dennoch sind es keine Sachentscheidungen in dem Sinn, dass alle Aspekte umfassend – und immer neu – geprüft würden. Otto Kirchheimer argumentiert, diese Art von Formalisierung führe dazu, dass es sich nicht mehr um Recht handele, sondern um einen Rechtsmechanismus, dass derjenige, der das Recht anwende, eine Rechtsmaschinerie in die Hand bekäme, „die ihn in Anspruch nimmt wie einen Maschinisten seine sechs Hebel, die er zu bedienen hat“101. Formalisierung würde damit in nuce bedeuten, dass nicht die Orientierung an bestimmten Werten, sondern die Einhaltung von bestimmten Normen geprüft wird. Dies ist auch der Kern der Verrechtlichungskonzeption von Ewald102, der die Rechtsentwicklung als Dreischritt auffasst – begrifflich verortet als „klassisches Naturrecht“, „modernes Naturrecht“ und „soziale Gerechtigkeit“ – und den Weg zur Verrechtlichung als Wandel der Vorstellungen von der Gerechtigkeit, die in der Gesellschaft mit Hilfe des Rechts zu verwirklichen sind, erklärt. Während die Gesellschaft der griechischen Polis auf ein bestimmtes telos ausgerichtet gewesen und nach der Konzeption von Hobbes und Grotius die Gesellschaft als auf einem Vertrag (social contract) beruhend verstanden worden sei, gebe es für die moderne Gesellschaft kein außerhalb liegendes Referenzsystem. Gerechtigkeit sei nicht mehr ein der Gesellschaft vorgegebenes Abstraktum, es ginge nur mehr darum, die Norm einzuhalten: „Being just today is no longer attributing to each his own in terms of a hierarchy grounded in nature, nor is it asserting one’s right while equally respecting that of others; it is – and let us accept that it is less glorious – keeping the norm“103.
Dies würde auch für die Entwicklung aufgrund von internationalen Sozialstandards gelten: Geprüft wird nicht, ob der jeweilige Staat ein tatsächlich sozial gerechtes Umverteilungs- und Sicherungssystem hat, sondern, ob er die Normen internationalen Ursprungs einhält. Wie dargestellt, lässt sich allerdings aufgrund der Analyse der Spruchpraxis der einzelnen Kontrollkomitees auch feststellen, dass sie die engen rechtlichen Vorgaben aufbrechen, indem sie auch zu Fragen Stellung nehmen, die nicht in ihren Bereich fallen, oder die Normen rechtsfortbildend – auch gegen den Wortlaut – 101 Kirchheimer, Staatslehre, S. 37; Kirchheimer bezieht sich dabei allerdings auf diejenigen, die die Staatsgeschäfte zu führen haben und dabei durch Recht übermäßig eingeengt würden. 102 Ewald, Social Justice, S. 91 ff. 103 Ewald, Social Justice, S. 107.
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auslegen. Damit wird Recht allerdings gerade nicht mehr als „Recht“ eingesetzt; insbesondere löst es nicht den Anspruch ein, Erwartungssicherheit zu schaffen.
2. Desintegration Die Einengung von Entscheidungsräumen kann desintegrierend wirken. Ist Sinn der internationalen Vorgaben im Sozialbereich, den Spielraum der nationalen Entscheidungsinstanzen bei der Gestaltung des Rechts einzuengen, indem bestimmte Ziele, bestimmte Methoden der sozialen Sicherung vorgeschrieben werden, so kann dies vor allem dann zu Problemen führen, wenn die Standards auf neue Entwicklungen keine adäquaten Antworten bieten. Dann werden die Staaten aufgrund geltenden Rechts, wollen sie nicht dagegen verstoßen, daran gehindert, notwendige sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen. Hauptproblem ist hier, dass internationale Verträge nur sehr schwer abänderbar sind; das Verfahren ist grundsätzlich so aufwändig, dass eine flexible Reaktion auf neue Entwicklungen nicht möglich ist. Nun sollen internationale Sozialstandards ihrer Natur als Mindeststandards nach nicht „aktuell“ sein. Aber auch die Definition von Mindeststandards ist zeitgebunden und wird überholt; es besteht die Gefahr, dass Probleme geregelt werden, die die Probleme einer vergangenen Epoche sind. – Kirchheimer bezeichnet das Völkerrecht als das „fragwürdigste aller Rechtsgebilde“ und führt aus, dass sein Wesen „in der Stabilisierung der Gewohnheiten und Rechtssätze einer im Absterben begriffenen Zeit“ läge104. Dies kann man für völkerrechtliche Sozialstandards nicht allgemein behaupten; dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Grundkonzeption der spezifisch sozialrechtlichen Konventionen von Europarat und IAO nicht auf der Inklusion aller, sondern der Inklusion der Arbeiterschaft besteht und damit auf einer bestimmten Konzeption der Arbeitswelt aufbaut, die weder in postmodernen Industriegesellschaften noch in Entwicklungsländern anzutreffen ist105. Rechtliche Regeln zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus komplexen Lebenssachverhalten nur einzelne, ex ante als bedeutungsvoll bezeichnete Elemente herausfiltern und daran ebenfalls ex ante definierte Rechtsfolgen knüpfen106. Damit Kirchheimer, Staatslehre, S. 48. Diesen Aspekt greift auch Carl Schmitt bei seiner Verrechtlichungskritik auf. Er argumentiert, mit Hilfe des Rechts werde ein aufgrund politisch-historischer Faktoren zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebener Besitzstand festgeschrieben; Recht als formales Instrument zementiere Bestehendes, auch soweit es ungerecht sei, ohne inhaltliche Prinzipien, die einen Ausgleich bzw. eine Weiterentwicklung in der Zukunft ermöglichten, bereitzustellen. Mit seiner Kritik bezieht er sich konkret auf den im Friedensvertrag von Versailles festgeschriebenen Besitzstand im Zusammenhang mit der Verankerung des Gewaltverbots im Völkerrecht. Kunz sieht dagegen als entscheidendes Charakteristikum des auf dem Völkerbundspakt und dem Kellogg-Pakt aufbauenden „neuen“ Völkerrechts die Dynamik: „Das Problem des dynamischen Völkerrechts ist das Problem der Verrechtlichung der politisch-historischen Entwicklung mit Ausschluß des Selbsthilfeverfahrens des Krieges“ (Kunz, Statisches und dynamisches Völkerrecht, S. 248). 104 105
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erfolgt eine Reduktion, indem das Typische, Einmalige des zu regelnden Einzelfalls zugunsten eines allgemein anwendbaren Schemas in den Hintergrund tritt. Zwischen der allgemeinen Rechtsnorm und den Verhältnissen, auf die sie angewendet wird, besteht so notwendigerweise eine Diskrepanz. Diese Diskrepanz zwischen „Legalitätsstruktur und gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedürfnissen nach situationsgerechtem Recht“107 lässt sich als Ursache von Verrechtlichung im nationalen Bereich verstehen. Indem Normen die Realität nur grobkörnig und damit verzerrt abbilden, auf der Grundlage dieser Abbildung aber auf die Realität eingewirkt wird, wird ein Anreiz geschaffen, die Realität nach den normativen Vorgaben zu konstruieren und bestimmte Tatbestandsmerkmale, an die das Recht anknüpfen kann, erst zu schaffen. Das Recht wiederum muss auf diese Herausforderung reagieren, neues Recht muss geschaffen werden. Möglich ist zugleich auch eine Aneinander-Vorbei-Entwicklung von Recht und Gesellschaft, wenn Recht aus seiner eigenen Logik heraus neue Strukturen schafft, zu denen es noch keine gesellschaftlichen Bedürfnisse gibt. Hier wird die Kausalbeziehung umgekehrt, denn das Recht reagiert nicht, sondern agiert eigenständig108. Habermas erfasst diese Sachzusammenhänge als „Konflikt der Lebenswelt mit der Eigendynamik verselbständigter Subsysteme“109. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für Regelungen, die aus einer übergeordneten, internationalen Perspektive auf nationale Systeme einwirken. Bestimmte typische, verallgemeinerbare Gesichtspunkte werden herausgegriffen und als Maßstab wiederum an die nationalen Rechtssysteme gehalten. Unter Umständen werden damit aber Regelungsdefizite und Probleme in Systeme hineinprojiziert, die gar nicht wirklich bestehen. Es kann ein Zwang zur Behandlung von Themen entstehen, die nicht auf der nationalen Agenda stehen und in der nationalen Rechtsentwicklung Fremdkörper darstellen. Die Besonderheiten der im jeweiligen nationalen Kontext gefundenen Lösungen für sozialrechtliche Probleme werden ausgeklammert. Desintegrierend kann auch wirken, wenn sich nur einzelne nationale Akteure – und dies nur einseitig für ihre Zwecke – auf internationale Normen beziehen. Dabei wird die Gesamtheit der internationalen Normen als Rhetorikvorrat verwendet, der zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden kann110.
106 Vgl. zur Kritik an der Formenwelt juristischen Denkens, das mit seinen Standardisierungen der Vielfalt der realen Problemlagen nicht gerecht werden könne: Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, S. 97. 107 Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus, S. 12. 108 Deggau, Verrechtlichung, S. 110: „Das Recht kann so in extremis vor den Erwartungen entstehen. Einer Rechtsnorm ist nicht anzusehen, ob sie bestehende Erwartungen normativ ausgestaltet oder solche erst schafft und ermöglicht“. 109 Habermas, Theorie, S. 525. 110 Ein Beispiel wäre das Herausgreifen von Art. 69 i der Konvention Nr. 102 im Zusammenhang mit der Grundsatzauseinandersetzung über die Finanzierung von Streiks.
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3. Destabilisierung Die Kritik an der quantitativen Zunahme von Normen im völkerrechtlichen Bereich richtet sich insbesondere auch gegen die Ineffektivität und die Unklarheit von Neuregelungen sowie, soweit das Repertoire an Rechtsformen ausgeweitet wird, gegen die dadurch bedingte Verwässerung der Abgrenzung zwischen Recht und Nicht-Recht111. Exemplarisch ist die Kritik von Krystyna Marek, die als progressiv eingestufte Entwicklungen des Völkerrechts analysiert und feststellt, dass dadurch nicht die Rechtssicherheit gestärkt, sondern, im Gegenteil, die Rechtsunsicherheit gefördert werde: „Leur trait dominant est l’élargissement constant des champs d’incertitude: prolifération des actes normatifs d’une effectivité incertaine ou d’une ineffectivité certaine, incertitude de leur contenu et de leurs destinataires, incertitude quant aux sources, incertitude des notions, incertitude engendrée par des règles fictives, incertitude, en fin de compte, sur la question même de savoir ce qui est encore le droit et ce qui ne l’est pas, dans la confusion entre la lex lata et la lex ferenda, entre la fiction et la réalité, – tout ceci en l’absence de mécanismes qui permettraient de réduire le degré de cette incertitude“112.
Für Marek ist die übermäßig vermehrte Rechtsproduktion Ausdruck eines „Maximalismus“, eines quantitativ bestimmten Fortschrittskonzepts, das weder die tatsächliche Notwendigkeit normativer Regelungen noch die historische Bedingtheit reflektiert: „Maximalisme quantitatif et qualitatif à la fois: il faut avoir beaucoup de tout, beaucoup de traités, beaucoup de règles, beaucoup de sources, etc.; et il faut régler tout, totalement et tout de suite, que l’objet à régler se prête à une réglementation ou non, qu’il en appelle une ou non, tout ceci sans souci ni de l’expérience historique ni des étapes de l’évolution“113.
Sie sieht darin eine Gefährdung der Funktion des Völkerrechts, Rechtssicherheit zu gewährleisten114. Soweit hinter der Zunahme rechtlicher Regelungen ein Anspruch auf Perfektionismus stehe, führe dies zu einer Moralisierung des Rechts, die die Ordnungsfunktion konterkariere. Aus dieser Sicht erscheinen internationale Sozialstandards insofern als kritikwürdig, als Recht und Nicht-Recht ineinander übergehen und damit Legitimationsprobleme entstehen. Dies ist insbesondere dann ein Problem, wenn die Auslegungspraxis, mit der die Normen erst konkretisiert und damit operabel werden, rechtsfortbildend ist – die Sachverständigenkomitees unterliegen keiner demokratischen Kontrolle; es gibt keine rechtsstaatlichen Sicherungen gegen ein ÜberschreiVgl. dazu Kapitel E. Marek, Progrès, S. 38. 113 Marek, Progrès, S. 38. 114 Marek, Progrès, S. 38, definiert als Funktion des Völkerrechts wörtlich „. . . d’assurer au maximum l’ordre et la sécurité dans les rapports humains et de rendre ces rapports toujours plus civilisés“. 111 112
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ten der Kompetenzen. Auch wenn diese Norminterpretationen nur unverbindlich sind, haben sie doch normativen Wert und stützen die gegen die einzelnen Staaten gerichteten Stellungnahmen. Zwar sind auch diese unverbindlich; dennoch handelt es sich um Kritik an der einzelstaatlichen Praxis auf der Basis von Völkerrecht. Rechtssicherheit gegen eine erweiternde Auslegung der Verträge und eine darauf gestützte Verurteilung gibt es nicht. Die Vervielfältigung von Sozialstandards kann auch dann Rechtssicherheit unterminieren, wenn Konflikte zwischen verschiedenen Normen entstehen und keine ausreichenden Mechanismen zur Konfliktlösung bereitstehen. Wie dargestellt können aber auch Divergenzen und konzeptionelle Widersprüche die Orientierungsfunktion von Sozialstandards beeinträchtigen. 4. Grenzen rechtlicher Steuerung Stellt man fest, dass rechtliche Normierungen eine desintegrierende Wirkung haben können, dass bestehende intakte Strukturen verdrängt oder zerstört werden können, dass politische Entscheidungsspielräume eingeengt und Politik mechanisiert werden kann, so liegt es nahe, die Steuerungsfähigkeit des Rechts in Frage zu stellen. Dies kann einzelfallbezogen oder grundsätzlich geschehen. Entweder man konstatiert eine Fehlentwicklung, einen Missbrauch, bei dem korrigierend eingegriffen werden kann, oder aber man kritisiert das „Instrument Recht“ als solches und rekurriert auf Alternativen zum Recht. Die Missbrauchskritik mag sich darstellen als Kritik am Handwerklichen, an der schlechten Technik115, als Kritik an der Überforderung des Einzelnen aufgrund einer übermäßig großen, sich unter Umständen widersprechenden Anzahl an Regelungen116, als Kritik an einem falschen Verständnis von bestimmten Grundkonzepten117– es gibt hier ein breites Spektrum. Mehr ins Grundsätzliche geht die Kritik, durch Recht würden Konflikte aus ihrem Bezugsrahmen genommen und nicht mehr adäquat behandelt118, ein Gesichtspunkt, der im Rahmen der Verrechtlichungsdebatte zum nationalen Recht immer wieder thematisiert wird119. Zuck, Rechtsflut, S. 1 ff. Vgl. Kirchhof, Normenflut – Dilemma ohne Ausweg, S. 257 ff. 117 Vgl. Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, § 24 Rd. 27: „Folglich findet der Rechtsstaat weder in einem allgemeinen Verrechtlichungsgebot noch in einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch seine Krönung. Nichts verkennt rechtsstaatliche Verfahrensweisen so sehr wie jene „Entdifferenzierung“, die heute in dem Bemühen um extensive Doppel- und Übersicherungen zuweilen betrieben wird“ Und, so die Ausführungen desselben Autors an anderer Stelle: „Heute löst nicht das Fehlen von Gesetzen, sondern der Mangel an abgestimmten Gesetzen rechtsstaatliche Bedenken aus, weil er der Exekutive praktisch den beliebigen Rückgriff auf den einen oder anderen Tatbestand gestattet und die Gefahr „selektiver Gesetzmäßigkeit“ heraufführt“. 118 Christie, Conflicts as Property,S. 1 – 15. 119 Vgl. z. B. Rogowski, Rechtsgläubigkeit, S. 251 – 274. 115 116
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Thema allgemeiner Rechtskritik, die am Phänomen der Verrechtlichung ansetzt, ist die Grenze der Steuerungsfähigkeit des Rechts. Es wird immer mehr Recht produziert, so der Befund, obwohl dies nicht unbedingt zu den gewünschten und erwarteten Wirkungen führt120. Zur Erklärung der nur eingeschränkten Wirksamkeit rechtlicher Normen verwendet Teubner den Begriff „regulatorisches Trilemma“. Kern der Theorie, mit der er Verrechtlichung im nationalen Bereich beschreibt, ist, dass die einzelnen gesellschaftlichen Subsysteme wie Recht, Wirtschaft oder Gesellschaft jeweils eine besondere „Grammatik“ haben, ein spezielles System, das die Funktionsweise der Entscheidungsfindung bestimmt. Diese verschiedenen Grammatiken sind eigenständig, Elemente aus einem System können nicht einfach in ein anderes System übersetzt werden. Allenfalls können sie an das jeweils andere System von außen angekoppelt werden und dort gewisse Reaktionen auslösen, die dann aber wiederum von der Grammatik des Systems, auf das eingewirkt werden soll, bestimmt werden (Begriff der strukturellen Koppelung). Das bedeutet, dass eine rechtliche Vorgabe nicht unmittelbar im gesellschaftlichen Bereich wirken kann, sondern vielmehr darauf beschränkt ist, in der als abgeschlossenes System gedachten gesellschaftlichen Wirklichkeit einen bestimmten Vorgang auszulösen, dessen Weiterentwicklung aber nicht genau vorhersehbar ist121. Der Versuch, mit Elementen des Subsystems Recht auf Elemente eines anderen Subsystems einzuwirken, ist problematisch: „Jeder regulatorische Eingriff, der diese Grenzen überschreitet, ist entweder irrelevant oder hat desintegrierende Wirkungen für den gesellschaftlichen Lebensbereich oder aber desintegrierende Wirkungen auf das regulatorische Recht selbst zur Folge“122.
Das Recht steht somit in einem Spannungsverhältnis zwischen Politik einerseits und reguliertem Sozialsystem andererseits. Zu beiden Bereichen besteht – trotz der Formalisierung und damit der Zunahme der Autonomie des Rechts – ein Abhängigkeitsverhältnis: „Dieses Spannungsverhältnis von steigender Autonomie und steigender Interdependenz begründet zugleich die Notwendigkeit und die Problematik der modernen Verrechtlichung“123. 120 Vgl. Teubner, Autopoietisches System, S. 22: „Während nun Interventionen dieser Art durchaus Wirkungen zeitigten, so wurde doch zunehmend deutlich, daß diese Wirkungen in den betroffenen sozialen Systemen andere waren als die erwarteten: mal zu gering, mal zu stark, manchmal nur kurzfristig wirkend, manchmal den beabsichtigten Zweck konterkarierend, oft kontraintuitiv und häufig vom System irgendwie ,verschluckt‘“. 121 Teubner, Begriffe, S. 316: „Man ist dann mithin genötigt, Vorstellungen von wirksamer Fremdsteuerung aufzugeben, so als könnten Recht und Politik gesellschaftliche Teilbereiche zielorientiert steuernd beeinflussen. Demgegenüber müßte man die Wirkung des regulatorischen Rechts weitaus bescheidener als bloße Auslösung von Selbststeuerungsprozessen beschreiben, deren Richtung und Wirkung im vorhinein kaum prognostiziert werden kann. Die Kybernetiker halten dafür den Begriff ,black box‘ bereit“. 122 Teubner, Begriffe, S. 316. 123 Teubner, Begriffe, S. 315.
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Folge dieses regulatorischen Trilemmas ist die „Selbstgefährdung des Rechts durch Verrechtlichung“. Je mehr das Recht gezwungen ist, sich der Eigenlogik der anderen gesellschaftlichen Subsysteme anzupassen, umso mehr wird – in den Worten Teubners – die „eigene selbstreproduktive Organisation gefährdet“124. Beispiele dafür wären etwa, dass das Recht die ihm eigene Klarheit und Sicherheit verliert, dass es für nicht erfüllbare Erwartungen in Anspruch genommen wird125, oder auch, dass die Schnelllebigkeit des Rechtsetzungs- und Rechtsänderungsprozesses Mechanismen, die mit dem Recht essentiell verbunden sind, etwa die Ausbildung von Fallrecht und Dogmatik, nicht mehr ausreichend Zeit lässt zu greifen und die Wirkung des Rechts abzusichern126. Ein anderer Gesichtspunkt wäre, dass das Recht mit der Folgenkontrolle rechtlicher Entscheidungen in einer Weise belastet wird, die es nicht leisten kann127. Die Erklärung der Verrechtlichung aus dem regulatorischen Trilemma und die darauf aufbauende Rechtskritik wird weitergeführt und verdichtet in der Theorie vom Recht als autopoietischem System. Diese wendet sich gegen die Prämissen einer Theorie „umweltoffener Systeme“, die die Funktionsweise des Rechts mit Begriffspaaren wie input-output zu fassen versucht und Recht als Mittel direkter Intervention in soziale Systeme interpretiert128. Dieser Ansatz wird aufgrund der „regulatory failure“ als nicht haltbar verstanden – die Steuerungsfähigkeit des Rechts sei nicht aufgrund überwindbarer Dysfunktionen im Rechtsetzungsprozess, sondern aufgrund seiner strukturellen Besonderheiten begrenzt129. Verstehe man Recht, ebenso wie die anderen gesellschaftlichen Systeme, dagegen nicht als umweltoffene, sondern als geschlossene Systeme, die von außen nicht direkt steuerbar seien und auch die Außenwelt nicht fremd-steuern, sondern nur Selbststeuerungsvorgänge anregen könnten, so ließen sich, so der Ansatz der autopoietischen Rechtstheorie, die Grenzen und Möglichkeiten des Rechts realistischer beschreiben130. Die Entstehung von autopoietischem Recht bedeutet, dass „die selbstreferentiellen Zirkel der Systemkomponenten in einer solchen Weise kongruent zueinander konstituiert sind, dass sie sich zu einem selbstreproduktiven Hyperzyklus verketTeubner, Begriffe, S. 323. Zacher, Verrechtlichung, S. 71. 126 Luhmann, Self-Reproduction, S. 125. 127 Luhmann, Self-Reproduction, S. 125. 128 Zu den Prämissen der Theorien umweltoffener Systeme vgl. Teubner, Autopoietisches System, S. 22. 129 Teubner, Autopoietisches System, S. 96: „Die in selbstreferentiellen Verhältnissen wurzelnde Systemautonomie gesellschaftlicher Teilbereiche ist einer gesetzgeberischen Direktintervention unzugänglich. Möglich erscheinen nur indirekte Interventionen, die aber spezifische negative Folgeprobleme aufwerfen“. 130 Der Anspruch der Theorie geht allerdings weit darüber hinaus; versucht wird, ein neues Konzept von der Funktion des Rechts in der Gesellschaft vorzustellen; vgl. auch den Überblick bei Ladeur, Autopoiesis, S. 3 ff. 124 125
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ten“131. Entscheidend ist, dass die Einzelelemente des Rechtssystems sich nicht mehr auf die „Außenwelt“ beziehen – dies wäre etwa bei Generalklauseln der Fall, die auf soziale Normen verweisen – sondern dass sie sich selbst über andere Elemente des Systems definieren, beispielsweise über Präjudizien. Damit würden „Systemkomponenten durch Systemkomponenten ,produziert‘“132. Geschlossenheit des Rechtssystems ist nun aber nicht mit Unabhängigkeit von der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung gleichzusetzen, bedeutet nicht, dass die Entwicklung des Systems nicht von externen Faktoren beeinflusst werden könnte und in erheblichem Maße beeinflusst würde133. Allerdings erfolgen Einwirkungen von außen nicht direkt, unmittelbar, vielmehr stoßen sie systeminterne Wandlungsprozesse an (Begriff des „trigger“). In der Sprache Teubners: „Es lösen gesellschaftliche Konflikte rechtsinterne Prozesse der Formulierung von rechtseigenen Erwartungskonflikten aus, die letztlich für Rechtsinnovationen verantwortlich sind, die aber mit den sozialen Erwartungskonflikten der streitenden Parteien nur wenig gemein haben“134.
Ein Ineinandergreifen der verschiedenen autopoietischen Systeme (Recht, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik etc.) ist ausgeschlossen. Ein System kann nur ein Bild vom anderen System konstruieren, eine Möglichkeit zu einem Direktkontakt, zu einem Austausch besteht aufgrund der zirkulären Geschlossenheit nicht. Möglich sind allenfalls „Interferenzen“ 135. Und Interferenzen gibt es insbesondere auf der Grundlage von Kommunikation, da diese allen gesellschaftlichen Subsytemen zugrunde liegt. Damit wird letztlich die Sprache – trotz der Ausbildung von „Spezialsprachen“ – als das die einzelnen Systeme Verbindende gesehen136. Grundlegend für das Verständnis des Rechts als autopoietisches System ist damit das Paradox, dass das Recht zwar normativ geschlossen, zugleich aber auch kognitiv offen ist, dass es die Lebenswelt erkennen, aber nicht unmittelbar darauf einwirken kann. Ladeur bringt dafür das Bild eines blinden Mannes mit einem Stock, Teubner, Autopoietisches System, S. 54. Teubner, Autopoietisches System, S. 54. 133 Teubner, Autopoietisches System, S. 30: „Mit Selbstproduktion ist nicht gemeint, daß sämtliche Ursachen innerhalb des Systems gesetzt sein müssen, ja nicht einmal, daß die wesentlichen Ursachen ( . . . ) oder auch nur die meisten Ursachen interner Herkunft zu sein haben. Soziale, ökonomische, politische Determinierung des Rechts wird – allen gegenteiligen Unterstellungen zum Trotz – in einem selbstproduzierenden Rechtssystem nicht ausgeschlossen, sondern sind vorausgesetzt“. 134 Teubner, Autopoietisches System, S. 74. 135 Teubner, Autopoietisches System, S. 107: „Information wird in jedem Sozialsystem neu generiert, jedoch im Falle der Interferenz mit der Besonderheit, daß die Information in dem betroffenen Teilsystem gleichzeitig und aufgrund des gleichen kommunikativen Ereignisses generiert wird“. 136 Teubner, Autopoietisches System, S. 109: „Jede spezialisierte Rechtskommunikation ist immer zugleich auch allgemeingesellschaftliche Kommunikation“. 131 132
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der sich nur mit der Unterscheidung stabil – instabil vorwärtstasten kann, zugleich aber anhand dieser Unterscheidung in der Lage ist, sich ein Bild von der Umgebung zu machen137. Aufgrund der Charakteristik des Rechts als ein in einer besonderen Weise „geschlossenes System“ ist die Stoßrichtung der Rechtskritik klar. Unmittelbare Steuerung gesellschaftlicher Vorgänge durch Recht wird als Fiktion entlarvt; rechtliche Normen führen ein Eigenleben, sind von den vorgegebenen sozialen Zwecken abgelöst, und dies nicht aufgrund von bei der Rechtsproduktion vermeidbaren Fehlern, sondern strukturell bedingt. Damit bedeutet Verrechtlichung, dass Rechtsnormen vom Rechtssystem selbst produziert und immer weiterproduziert werden, ohne dass dabei die Besonderheiten der sich gegenüberstehenden autopoietischen Systeme, der Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation und Beeinflussung zwischen diesen Systemen in Rechnung gestellt würden. Die Wirkung der Normen ist damit nicht eine Steuerung der Gesellschaft im intendierten Sinn, sondern ein Vorbei-Steuern, das allenfalls zu potentiellen Einzelerfolgen führen kann. Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass für das Rechtssystem die Wirklichkeit nicht als solche, sondern lediglich nach einem bestimmten Code wahrnehmbar ist. Wirklichkeit wird damit als „das Korrelat einer selbstreferentiellen Operationsweise, die sich selbst nach diesem Code (von Recht oder Unrecht) reproduziert“ verstanden138. Die besondere Art, wie das Recht die Wirklichkeit erfasst, kommt in dem Begriff „Rechtswirklichkeit“ zum Ausdruck: Rechtswirklichkeit ist eine „Konstruktion eines inneren Modells der Außenwelt“139. Streitigen Verfahren wird eine bedeutende Rolle für die Gesamtentwicklung des Rechts eingeräumt. Sie sind der Testfall, das Experiment, in dem sich zeigt, ob und inwieweit die gesetzten Normen zur Anwendung kommen, „Rechtsgeltung“ haben: „Die Entscheidung im Verfahren nimmt einerseits rekursiv Bezug auf die rechtskulturell tradierte Norm, die ihrerseits durch rekursive Bezugnahme auf andere konkrete Entscheidungen in konkreten Rechtsverfahren entstanden ist. Andererseits ist die Entscheidung im Verfahren das Ausgangsmaterial für neue Rechtsbildungen innerhalb der rechtskulturellen Sphäre“140.
Fehlen streitige Verfahren und damit ein wesentlicher Rückkoppelungsmechanismus, eine Möglichkeit zur experimentellen Überprüfung der Geeignetheit der Rechtsnormen, werden aber trotzdem weiter Rechtsnormen produziert, so ist auch dies ein Grund für eine von den tatsächlichen Bedürfnissen abgelöste Vermehrung des Rechts. 137 138 139 140
Ladeur, Autopoiesis, S. 10. Luhmann, Einheit des Rechtssystems, S. 134. Teubner, Autopoietisches System, S. 88. Teubner, Autopoietisches System, S. 77.
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Auf der Grundlage dieser Theorie lassen sich eine Reihe der zu Beginn des Kapitels erwähnten Paradoxa als Dysfunktionen eines rechtlichen Regulierungsmechanismus erkennen. Die Schwierigkeiten rechtlicher Regelungen, die Teubner auf der nationalen Ebene beschreibt, sind auf der internationalen Ebene besonders evident, da Regelung und geregelter Bereich noch weiter voneinander entfernt sind und Inkompatibilitäten deutlicher hervortreten. Internationale Sozialstandards wären als Teil des Völkerrechts zu verstehen, das ein geschlossenes System vorstellt und nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten operiert. Es operiert mit Begriffen wie „Recht auf soziale Sicherheit“, „Recht auf ein geordnetes Verfahren“, „Schutz wohlerworbener Rechte“, die mit Hilfe von weiteren Rechtsbegriffen näher bestimmt werden. Dieses Begriffsnetz ist dazu bestimmt, die Wirklichkeit abzubilden. Es rekonstruiert aber ein Bild der Wirklichkeit nur im eigenen System, eine „Rechtswirklichkeit“. Aufgrund der Abstraktheit der internationalen Regelungen, des Außeracht-Lassens nationaler und damit konkreter gesellschaftlicher Spezifika, ist das Bild sehr grobkörnig. Der Maßstab zur Beurteilung der nationalen Rechtspraxis wird aber aus diesem grobkörnigen Bild abgeleitet. Das System „Recht“ ist nicht von außen steuerbar, sondern entwickelt sich vielmehr eigendynamisch. Eingespeist ins System wurden etwa Ansprüche auf soziale Sicherheit und soziale Fürsorge. Diese erweisen sich aber nach der Logik des Systems schwer fassbar – man denke an die Diskussion zur Justitiabilität und an die bemühten Ansätze der Kontrollkomitees, mit diesen Normen umzugehen. Die Wirkung ist so sehr gering – es bleibt bei vage formulierten Erwartungen, von denen nicht anzunehmen ist, sie könnten im gesellschaftlichen System eine besondere Rolle spielen. Von der Logik des Systems fassbar sind dagegen Ungleichbehandlungen, Unterscheidungen zwischen grundsätzlich vergleichbaren Sachverhalten. Dementsprechend hat sich das System – abgekoppelt von einer gesellschaftlich bestehenden oder nicht bestehenden Notwendigkeit einer internationalen Regelung in diesem Bereich – eigenständig entwickelt und diesen Punkt als den vom System einzig konkret fassbaren herausgegriffen. Auf dieser Basis operiert es: Bei der Realisierung von Sozialansprüchen werden nach allen Systemen – ESC, EMRK, ICCPR, ICESCR – dominant Ungleichbehandlungen geprüft. Das Ergebnis ist damit aber ein anderes als vorgesehen. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte, der aus der Vielzahl der potentiell bestehenden, auf internationaler Ebene zu lösenden sozialen Rechtsprobleme ausschließlich Ungleichheiten bei der Gewähr von Sozialleistungen herausgreift. Gerade an Einzelbeschwerdeverfahren zeigt sich, wie die Grammatik des Systems wirkt. Kontrolliert werden kann nur der Staat, der sich der Kontrolle freiwillig unterwirft. Und die Kontrolle ist umso effektiver, je höher der Bekanntheitsgrad der Normen ist. Damit ergibt sich ein paradoxes Ergebnis. An den internationalen Pranger gestellt und in einer Vielzahl von Einzelfällen kritisiert werden vor allem die Niederlande, obwohl sie anerkanntermaßen ein sehr gut funktionierendes Sozialschutzsystem haben. Dagegen sind eklatante Missbräuche wie die Nicht-Auszah-
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lung von „erdienten“ Renten über viele Monate hin – wie dies etwa in der Russischen Föderation über Jahre hin gängige Praxis war – vom System des ICCPR nicht erfassbar. Zwar hat auch die Russische Föderation das Fakultativprotokoll zum ICCPR ratifiziert141. Die Nicht-Auszahlung der Renten stellt aber – betrifft sie nicht nur einzelne Gruppen von Rentnern – keine „Ungleichbehandlung“ aufgrund bestimmter Kriterien dar; vielmehr werden alle im Unrecht gleich behandelt. Gleichermaßen als Fehlsteuerung einzuschätzen ist, dass neue Normen dann geschaffen werden, wenn sie aus der Sicht des Systems „Recht“ fehlen, und nicht dann, wenn in dem Subsystem „Gesellschaft“ dazu eine Notwendigkeit besteht. Wie Teubner erklärt, werden Systemkomponenten aus Systemkomponenten produziert; diese Produktion wird ausschließlich von der Logik des Systems bestimmt. Damit wird aus der Außensicht ein immer neuer Normenbedarf artikuliert, ohne dass die gefundenen Kompromisse den tatsächlich bestehenden Bedürfnissen entsprechen müssten. Autopoietisch voneinander abgeschlossen sind dabei im Grunde nicht nur das System „Völkerrecht“ und die nationalen Rechtssysteme bzw. die Subsysteme wie Wirtschaft, Gesellschaft etc., sondern autopoietisch voneinander abgeschlossen sind auch die Rechtssysteme der verschiedenen internationalen Organisationen, sogar die Subsysteme, die im Rahmen der internationalen Organisationen bestehen: Europarat, Vereinte Nationen, Internationale Arbeitsorganisation – alle operieren für sich auf der Grundlage ihrer je eigenen Rechtsnormsysteme, auf der Grundlage ihrer je eigenen „Grammatik“.
IV. Verrechtlichung aufgrund von Sozialstandards – ein ambivalentes Phänomen Die Vervielfältigung internationaler Sozialstandards wird unterschiedlich gewertet. Von den einen wird sie als besonderer Fortschritt der völkerrechtlichen Rechtsentwicklung angesehen, von den anderen als irrelevant abgetan und schlicht ignoriert. Die vorliegende Studie führt zu einem differenzierten Ergebnis. Wie das Phänomen der Verrechtlichung als solches, so ist auch die Vervielfältigung von Sozialstandards in ihrer Wirkung als ambivalent zu sehen. Einerseits werden Orientierungspunkte für staatliche Sozialpolitik geschaffen, werden dem Einzelnen auch im sozialen Bereich „Grundrechte“ zuerkannt, wird eine international-rechtlich abgesicherte Verantwortung des Staates für das Wohlergehen des Einzelnen geschaffen, wird Politik in ein rechtlich determiniertes Koordinierungssystem gestellt. Andererseits werden damit aber dynamische Mei141
Ratifikation am 1. 10. 1991.
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nungsbildungsprozesse formalisiert, wird Desintegration und Destabilisierung bewirkt. Recht erweist sich nicht als ein Instrument, mit dem Prozesse mathematischexakt steuerbar wären; vielmehr entfaltet es eine eigene Dynamik und greift in anderer Weise steuernd in Abläufe ein als vorgesehen. Diese Ambivalenz bestätigen die Wertungen zur Verrechtlichung allgemein. Einerseits wird die Zunahme von Rechtsregelungen als „freiheitsverbürgend“142 gesehen, als eine Garantie gegen Willkür und Despotie, als ein Instrument der Demokratie143, als Voraussetzung für Stabilität144. Die Zunahme des Rechts bedeutet damit in dem Gegensatz Recht – Macht eine Verschiebung der Gewichte zugunsten des – insofern positiv gewerteten – Rechts. Luhmann wertet die Voraussetzungen, die Verrechtlichung ermöglichen und bedingen, als „Errungenschaft der Neuzeit“: Recht könne durch politische Entscheidung hergestellt werden und werde nicht mehr, wie zuvor, durch Rückgriff auf das invariante und unverfügbare Natur- und Vernunftrecht artikuliert und begründet145. Dies gelte, so Voigt, auch für die Ausbildung des westlichen Wohlfahrtsstaats, da auf der Ebene der Normativstrukturen Religion und Moral durch das anpassungsfähigere Recht abgelöst würden146: „. . . that juridification of the welfare state, far from being a crisis, on balance represents a social achievement of profound importance in a civilized world“147.
Noch deutlicher als im nationalen Bereich erfährt Verrechtlichung im internationalen Bereich eine grundsätzlich positive Wertung als „Einhegung von Macht und Gewalt in der Weltgesellschaft“ 148. Die „fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts sowie seine Kodifizierung“ wird in Art. 13 UN-Charta zur Aufgabe der Generalversammlung der Vereinten Nationen erklärt, eine Aufgabe, für deren Erfüllung mit Resolution 174 (II) vom 21. 11. 1947 die „International Law Commission“ errichtet wird149. Diese Bemühung wäre ohne eine positive Wertung einer Zunahme völkerrechtlicher Normierungen nicht zu verstehen. Der Gedanke beruht 142 Teubner, Begriffe, S. 304: „freiheitsverbürgende Funktion des interventionsstaatlichen Verrechtlichungsprozesses“. 143 Vgl. Zacher, Verrechtlichung, S. 68, der Verrechtlichung durch Gesetz als Instrument der Demokratie erachtet; er sieht Verrechtlichung als „notwendiges Instrument, um Erwartungen zu ermöglichen und ihre Erfüllung so sicher wie möglich zu machen“; zugleich betont er die Bedeutung für die offene Austragung von Interessenkonflikten und Konsensfindung: „Je weniger sich in einer Gesellschaft von selbst versteht, desto notwendiger ist das Recht, um unerträgliche Widersprüche aufzuheben“. 144 Vgl. die These Max Webers, Bürokratisierung und Verrechtlichung seien strukturelle Garantien stabiler Herrschaft in den Gemeinwesen des Okzidents (dazu: Seibel, Abschied vom Recht, S. 134); vgl. auch Voigt, Verrechtlichung von Staat und Gesellschaft, S. 29, der von „systemstabilisierender Leistung des Rechts bzw. rechtsförmiger Verfahren“ spricht. 145 Luhmann, Positivität, S. 175 ff. 146 Vgl. Voigt, Steuerung, S. 4. 147 Partington, Juridification, S. 436. 148 List, Recht und Moral, S. 51. 149 Vgl. dazu United Nations, International Law Commission, S. 1 ff.
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auf der Annahme, dass Frieden durch Recht geschaffen und gesichert werden könne150; dies gilt, wie aus der Präambel der Verfassung der IAO deutlich wird, insbesondere auch für Standards im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts. Andererseits ist der Begriff „Verrechtlichung“ – nimmt man nun wieder nationalstaatliches Recht in den Blick –, mit Assoziationen wie „verwaltete Welt“, Entfremdung, Reglementierung, Zentralisierung, Bürokratisierung und Bürgerferne151 negativ besetzt152. Titel wie „Mehr Recht durch weniger Gesetze?“ sprechen für sich153. Aspekte des gesellschaftlichen Prozesses wie die Einschränkung der Freiheit des Einzelnen154, die Bewahrung bestehender (Herrschafts)Verhältnisse durch die herrschende Klasse155 und die Eingrenzung des politischen Gestaltungsspielraums werden gleichermaßen unter den Begriff subsumiert. Blickt man in die Geschichte, so findet sich auch dort die Vorstellung, dass zu viele Regelungen ein Übel seien; ein fürsorglicher Gesetzgeber sei der, der seinen Untertanen nur wenige Gesetze zumute; dies müssten dann allerdings besonders gute Gesetze sein156. Damit wird aber im Grunde nicht anders als in der aktuellen Rechtsdiskussion zum Ausdruck gebracht, dass eine übermäßige quantitative Zunahme des Rechts einen Missbrauch des Rechts in seiner Funktion als Instrument gesellschaftlicher Steuerung bedeutet und damit als „Scheinsteuerung“, als „Scheinlösung“ zu interpretieren ist. Befürchtet wird, dass zuviel – und nur eingeschränkt effektives – Recht die Achtung vor dem Gesetz unterminieren und gar zur Zerstörung der Rechtsordnung beitragen könne157. Vgl. v. Mangoldt, Verrechtlichung, S. 9 Voigt, Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft, S. 13 f.; Teubner, Begriffe, S. 290. 152 Vgl. die Ausschnitte aus der politischen Diskussion insbesondere Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre bei Holtschneider, Normenflut , S. 16 ff., und Voigt, Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft, S. 15. Anzumerken ist, daß der Begriff der Verrechtlichung bei gesellschaftlichen Grundsatzdiskussionen als Ansatz zur Kritik sowohl von konservativer als auch von sozialdemokratischer Seite verwendet wurde, vgl. Voigt, Einleitung, S. 8; zum Überblick über die weitere Literatur vgl. Isensee, Mehr Recht durch weniger Gesetze?, S. 139 FN 2; Zacher, Verrechtlichung, S. 65 FN 126. 153 Vgl. die Publikation des Bundesministeriums der Justiz unter dieser Fragestellung. 154 Vgl. Heldrich, Normüberflutung, S. 811. 155 Vgl. Voigt, Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft, S. 31, zu den Ausführungen der politökonomischen Staatstheorie zum Thema „Verrechtlichung“. 156 „Peu de loix sages rendent un peuple heureux; beaucoup de loix embarrassent la jurisprudence. Par la raison qu’un bon médecin ne surcharge pas ses malades de remèdes, le législateur habile ne surcharge pas le public de loix superflues; trop de médecines se nuisent et empêchent réciproquement leurs effets; trop de loix deviennent un dédale, où les jurisconsultes et la justice s’égarent“. (Dissertation sur les raisons d’établir ou d’abroger les loix Œuvres du philosophe de Sans-Souci, Tome premier, Mémoires pour servir à l’histoire de la Maison de Brandebourg. Au Donjon du Chasteau, MDCCL, Avec Privilège d’Apollon, S. 301 – 302, zitiert nach Marek, Progrès, S. 31). 157 So etwa Hamm, Gesetzgebungsflut, S. 85. 150 151
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Im internationalen Bereich wird der optimistischen Einschätzung, Verrechtlichung stelle einen Fortschritt dar, entgegengehalten, Verrechtlichung sei ein Zeugnis des Verfalls des Völkerrechts: „Admirée par les uns comme un signe de progrès, cette surabondance de normativité est perçue par d’autres comme un témoignage du déclin du droit international. . .“158.
Dergleichen negativen Konnotationen des Verrechtlichungsbegriffes liegt die Annahme zugrunde, dass das Recht in Bereiche eindringe, die außerhalb des Rechts liegen und auch liegen sollen. Voraussetzung dieser Vorstellung ist, dass es – in den Worten Zachers – „ein Bild vom ,richtigen Recht‘, von seiner ,richtigen‘ Entwicklung, der ,richtigen‘ Rollenverteilung im Recht und zwischen dem Recht und anderen Steuerungsmechanismen, zwischen den Rechtsnormen und anderen Normen“ gibt159. Die Vorstellung einer „adäquaten Rolle“ oder „Idealrolle“ des Rechts erklärt aber nicht nur die negativen Wertungen der Zunahme von Recht, sondern ist als eines von verschiedenen möglichen gedanklichen Modellen zum Verständnis des ambivalenten Charakters des Phänomens insgesamt heranzuziehen. Geht man davon aus, es gebe eine bestimmbare Menge von Normen, die als Steuerungsinstrument optimal funktionieren, so wäre, solange diese Menge von Normen noch nicht geschaffen worden ist, Verrechtlichung als positiv zu betrachten; wird der kritische Punkt überschritten, ist jede weitere quantitative Zunahme von Normen mit negativen Konsequenzen verbunden160: „If there were no law at all, there would be total compliance, a condition usually described as anarchy. And if there were very little law, there would be some compliance and, hopefully, a little less anarchy, and so on until the point is reached where the creation of more law would become counterproductive“161.
Diesem „Modell der goldenen Mitte“ fehlt allerdings eine Erklärung, die den kritischen Punkt, den Umschlag von „zu wenig“ zu „zu viel“ des Guten, feststellbar machen würde162. 158 Vgl. die Zusammenfassung der verschiedenen Positionen bei Weil, Droit international, S. 52; vgl. auch die Stellungnahme von Guggenheim im Zusammenhang mit der Diskussion über die Bestimmung von „domaine réservé“, (abgedruckt in: Annuaire de l’Institut de Droit international 1954, Band 2, S. 179): „Un jugement de valeur sur l’évolution de Droit international ne fait qu’augmenter un état d’esprit . . . inflationniste par rapport au droit international. La notion de l’évolution n’a aucune substance concrète et l’on doit lutter contre cet état d’esprit“. 159 Zacher, Verrechtlichung, S. 20. 160 Diese Vorstellung von Scylla und Charybdis – zu viel Recht, zu wenig Recht – wird auch am Gegensatz zwischen extremem Liberalismus und Diktatur festgemacht: „In der Regel sind die modernen Rechtssysteme so beschaffen, daß sie die Mitte halten zwischen einer nur durch den Grundsatz ,neminem laede‘ beschränkten allseitigen Handlungsfreiheit (mit ,Vermutung‘ dieser letzteren) und absoluter Strangulierung des Daseins“ (Engisch, Der rechtsfreie Raum, S. 410). 161 Gross, International Adjudication, S. 52 ff. 162 Luhmann, Self-Reproduction, S. 120.
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Geht man davon aus, dass es ein richtiges Maß an Recht gibt, so ließe sich einerseits argumentieren, internationale Sozialstandards griffen in einen Bereich ein, in dem das Recht nicht nur vordem nichts zu sagen hatte, sondern auch nichts zu sagen haben sollte, da die Ansprüche des Einzelnen auf soziale Sicherheit und soziale Fürsorge nur im jeweiligen konkreten gesellschaftlichen System auszubalancieren sind und es keine abstrakten Mindestanforderungen oder kultur- und rechtssystemübergreifende Eckwerte zur Gestaltung sozialer Umverteilungssysteme gibt. Oder aber man argumentiert, Sozialstandards können eine sinnvolle und positive Wirkung auf nationale Rechtssysteme haben, aber nur dann, wenn sie in sich stimmig sind und die tatsächlich relevanten Regelungsprobleme herausgreifen, die auf internationaler Ebene einer Klärung bedürfen. Jedes Zuviel, jede Detaillierung, die über den Kern des Regelungsbedarfs hinausgeht, wäre kontraproduktiv. Möglich ist auch, die Ambivalenz des Phänomens der Verrechtlichung auf die Ungenauigkeit, Eigenständigkeit, Unberechenbarkeit des Rechts selbst zurückzuführen. Die Zunahme von Normen wäre so in dem Sinne als ambivalent zu werten, als sie zwar einerseits die von der rechtlichen Regelung intendierten Folgen – zumindest teilweise – zu erreichen hilft, andererseits aber auch zu einer Vielzahl nicht erwünschter (Neben)Folgen führt163 oder die Grundintention der Regelung in ihr Gegenteil verkehrt164. – Nach dieser Vorstellung müsste man eine Zielungenauigkeit der Regelungen allgemein anerkennen. Es wäre im Einzelnen abzuschätzen, in welchem Verhältnis gewollte Wirkungen und ungewollte potentielle Nebenwirkungen stehen könnten. Ein dritter Ansatz schließlich ist, den Wert von Verrechtlichung relativ zum jeweils einer Regelung zu unterwerfenden Lebensbereich zu sehen. Danach wären negative Auswirkungen rechtlicher Regelungen kein grundsätzliches, strukturelles Problem, sondern würden sich nur in bestimmten Bereichen ergeben. Auch bei die163 Vgl. dazu die Fragestellungen bei Voigt: Einschränkung der Freiheit des einzelnen vs. Tendenz zur Sicherung individueller Freiheitsspielräume; Eingrenzung des politischen Gestaltungsspielraums vs. Erweiterung des Spielraums für Reformpolitik (Voigt, Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft (Vorwort), S. 10); vgl. Bellers, Wirtschaftsbeziehungen, S. 128, der als positiv wertet, daß durch Verrechtlichung regelmäßig erwartbare soziale Beziehungen ermöglicht würden, als negativ, daß dadurch das soziale Gebilde inflexibel, starr und lebensfremd würde. 164 Vgl. dazu die anschaulichen Beispiele aus dem Arbeitsrecht bei Simitis, Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen, S. 116, der etwa für die aufgrund von Arbeitnehmerschutz eingeführten Kündigungsschutzregeln zeigt, daß sie zu einer Zentralisierung des Marktes und damit zur Förderung von Strukturen führen, die die Abhängigkeit des Arbeitnehmers bedingen und damit letztlich Arbeitnehmerschutz unterminieren; zur „Desintegration durch Sozialrecht“ vgl. Pitschas, Soziale Sicherung, S. 150 – 169, der die Ambivalenz zwischen sozialer Sicherheit als Vorbedingung individueller Freiheit und freiheitsgefährdender Bevormundung herausarbeitet. Zur Desintegration führe trotz entgegengesetzter politischer Regelungsintention die Typisierung, die Selektion von Problemen, die sich von den tatsächlichen Problemen entfernt, die Spezialisierung / Professionalisierung, die damit verbundenen Orientierungsverluste, die Nicht-Inanspruchnahme sozialer Rechte, damit die „Bürgerferne sozialrechtlicher Normkomplexe“.
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sem Modell kann Verrechtlichung positiv oder negativ gewertet werden165. Zu prüfen wäre, welche Aspekte im sozialen Bereich auf internationaler Ebene tatsächlich regelbar sind – ausschließlich darauf hätten sich internationale Normierungen zu konzentrieren. Ist die rechtskritische Haltung nicht radikal und negiert, dass Recht überhaupt, sei es im nationalen, sei es im internationalen Bereich, die Funktion von Steuerung und Wertorientierung adäquat übernehmen könne, so ist der Verrechtlichungskritik die Suche „nach dem richtigen Recht“ inhärent. Gesucht wird das „gute Maß“ an Recht, das Recht „am richtigen Ort“, die „richtige Form“, in der Recht bestimmungsgemäß zum Einsatz kommen kann. Die strukturbedingten Dysfunktionalitäten internationaler Sozialstandards müssen so nicht zu der Überzeugung führen, Grundwerte „sozialer Gerechtigkeit“ seien auf internationaler Ebene nicht normierbar. Im Gegenteil: Die Entwicklungen haben gezeigt, dass die Herausbildung normativer Regelungsansätze, die mehr sind als bloße Wünsche, die als „Recht“ verbindliche Vorgaben machen, möglich ist. Allerdings ist es notwendig, den Prozess der Kompromissfindung lebendig zu erhalten; wird der internationale Dialog auf der Basis veralteter Normen zum Ritual, gehen die Möglichkeiten, die offen stehen, um eine internationale Sozialverfassung zu schaffen, verloren. Desiderat wäre ein die verschiedenen internationalen Organisationen übergreifender Kompromiss über Standards im Bereich des Sozialschutzes. Diese sollten ein Verfahren zur Bestimmung des Existenzminimums in Relation zur wirtschaftlichen Situation im jeweiligen Land definieren, das als rechnerische Größe die Basis für die Gestaltung sozialer Schutzsysteme, die alle einbinden, bilden könnte. Außerdem wären wohlerworbene Rechte im sozialen Bereich ohne Blick auf die Staatsangehörigkeit zu garantieren166. Dies sind Forderungen, die über die in den Konventionen der IAO enthaltenen Sozialstandards hinausgehen, aber die in den Menschenrechtskonventionen allgemein formulierten Ansprüche auf soziale Sicherheit und soziale Fürsorge adäquat ausfüllen. Diese Rechte einzulösen ist Grundaufgabe jeden Staates. Und die Verpflichtung dazu sollte auf internationaler Ebene rechtlich abgesichert sein.
165 Vgl. Kleger, Verrechtlichung, S. 292: „. . . es zu unterscheiden gilt zwischen Lebensbereichen, die Schutz vor Verrechtlichung (durch Recht), und Lebensbereichen, die Schutz vor allem durch Verrechtlichung benötigen“. 166 Vgl. die Formulierung einer Zukunftsperspektive aus der Sicht der IAO (ILO, Social Security, S. 72 ff.) „Providing a Normative Framework Through Standard Setting“. Darin wird als Ziel die Erfassung nicht nur der abhängigen Arbeitnehmer, sondern auch der Selbständigen und derer, die auf flexibler und unregelmäßiger Basis außerhalb einer traditionellen Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehung arbeiten, aufgezeigt; soziale Fürsorge bleibt – dem historisch entwickelten Ansatz der IAO entsprechend – ausgespart. Daneben wird die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Bereich der sozialen Sicherheit und die Absicherung neuer Risiken (Pflege, Unterstützungsleistungen für Eltern) als Regelungsaufgabe ausgewiesen.
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Zusammenfassung Die Entwicklung internationaler Sozialstandards und die darauf aufbauende Spruchpraxis der Sachverständigengremien sowie die Rechtsprechung des EGMR zeigen Orientierungspunkte im sozialen Bereich auf, vermögen aber aufgrund einer Vielzahl struktureller Defizite nicht, die Ansprüche, die an eine „internationale Sozialverfassung“ in einer globalisierten Welt gestellt werden, einzulösen. Der Bedarf an internationalen Regelungen und an Kontrollentscheidungen zu nationaler sozialpolitischer Gestaltung wird nicht adäquat gedeckt. Vielmehr werden lebendige Auseinandersetzungen und Entscheidungsprozesse formalisiert, nebensächliche Probleme in den Mittelpunkt gerückt; die Grenzen rechtlicher Steuerung werden evident. Die Kritik an der mangelnden Effektivität rechtlicher Regelungen trotz ihrer quantitativen Zunahme ist als „Verrechtlichung“ anzusprechen, als ein Prozess, der charakteristisch für die Moderne ist. Die Zunahme von rechtlichen Regelungen beruht auf einer veränderten Auffassung von Recht, die auch an den Strukturen der Regelungen festzumachen ist. Recht wird als etwas „Machbares“ verstanden, mit dem man gesellschaftliche Prozesse beeinflussen kann. Abstrakte Rechtsstrukturen werden „materialisiert“, die Distanz zwischen Regelungsinstanz und Regelungsbereich vergrößert sich, die strenge Symmetrie von Rechten und Pflichten wird aufgelöst. – Verrechtlichung ist ein ambivalentes Phänomen, denn mehr Recht muss nicht unbedingt mehr Gerechtigkeit, mehr Sicherheit, mehr Stabilität bedeuten. Wenn es aber richtig eingesetzt wird, kann es dazu beitragen.
Thesen 1. Internationale Sozialstandards sind Normen internationalen Ursprungs, die definieren, in welchem Umfang und auf welche Weise das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf soziale Fürsorge auf nationaler Ebene zu gewährleisten sind. Drei historische Entwicklungslinien werden damit zusammengeführt: die Menschenrechtstradition, soweit diese auch die materielle Existenzsicherung des Einzelnen durch den Staat mit umfasst, die Arbeiterschutzgesetzgebung und das allgemeine Fremdenrecht. Nur die letztere Thematik ist eine originär völkerrechtliche Regelungsmaterie. Voraussetzung dafür, dass Arbeiterschutzgesetzgebung und Grundrechtsschutz im Verhältnis Bürger – Staat ins Völkerrecht Eingang finden, ist, dass sich das Völkerrecht auch den Innenbereich der Staaten als potentielles Regelungsfeld erschließt. 2. Die Entwicklung internationaler Sozialstandards verläuft nicht kontinuierlich. Erster wesentlicher Einschnitt ist die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation, mit der die Ausarbeitung von Konventionen im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts institutionalisiert wird. Regelungsdefizite, die in bi- und multilateralen Beziehungen festgestellt werden, sind nicht mehr conditio sine qua non für die Ausarbeitung von Konventionen; Normsetzung wird abstrakt und systematisch. Der zweite Markstein in der Entwicklung ist die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, in die das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf soziale Fürsorge gleichberechtigt mit Grundrechten, deren Bedeutung aufgrund einer langen Tradition anerkannt wird, aufgenommen werden. Da in der Folge sowohl die Internationale Arbeitsorganisation als auch die Vereinten Nationen und der Europarat die Entwicklung von Sozialstandards zu ihrer Aufgabe machen, werden parallel Normen ausgearbeitet, die entweder dem Grundrechtsschutz oder der Arbeiterschutzgesetzgebung verpflichtet und damit nicht unbedingt miteinander kompatibel sind. Insbesondere die Normen, die die Rechtsstellung ausländischer Staatsangehöriger in Sozialschutzsystemen definieren, weichen in wesentlichen Details voneinander ab. 3. Von den für die Sozialrechtsgestaltung relevanten Normen, die im Rahmen von Europarat, Vereinten Nationen und Internationaler Arbeitsorganisation ausgearbeitet worden sind, gilt nur ein vergleichsweise geringer Teil in den Mitgliedstaaten verbindlich. Zwar sind eine Vielzahl von Staaten aufgrund der Ratifikation der allgemeinen Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen rechtlich verpflichtet, ein Recht auf soziale Sicherheit und – soweit dies in dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard enthalten ist – auch ein Recht auf soziale Fürsorge zu garantieren. Aber konkrete Verpflichtungen werden entweder nicht übernommen
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oder aber über Vorbehalte eingeschränkt. Spezifikum sozialrechtlicher Regelungen ist darüber hinaus, dass Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Regelungskomplexen bestehen. Dies ist, ebenso wie die Verwendung offener Begriffe, eine legislative Technik, um die Ratifikation auch bei Abweichen der nationalen Gesetzgebung von den internationalen Vorgaben in einzelnen Sachbereichen zu ermöglichen. Damit wird ein quantitativer anstelle eines qualitativen Ansatzes verfolgt, dessen Ziel eine möglichst hohe Zahl von Ratifikationen, nicht die Definition von in allen Details einheitlichen Standards ist. 4. Seit Mitte der 80er Jahre sind die internationalen Sozialstandards, die bis dahin nur in Ausnahmefällen als „operational standards“ zur Kontrolle der Rechtsentwicklung in den Vertragsstaaten eingesetzt worden waren, in ihrem Bedeutungsgehalt konkretisiert und zur Bewertung insbesondere von finanzwirtschaftlich motivierten Sozialreformen eingesetzt worden – sei es, von Spar- und Konsolidierungsprogrammen in westeuropäischen Ländern, sei es, von sozialpolitischen Programmen in Lateinamerika, die zur Bildung von Investitionskapital beizutragen bestimmt sind. Die Anwendung der Normen macht das Dilemma bei einer Rechtsetzung auf internationaler Ebene deutlich. Die Normen sind entweder als Allgemeinklauseln zu offen formuliert und bieten so zu wenig Anhaltspunkte für rechtlich argumentativ abgesicherte Kontrollentscheidungen oder aber sie enthalten konkrete, in ihrer Bedeutung zum Teil nur historisch erklärbare Einzelregelungen, die inflexibel sind und dazu zwingen, Grundsatzfragen an einzelnen Details festzumachen. Der sozialpolitische Gestaltungsraum auf nationaler Ebene kann damit unter Umständen in einer Weise eingeengt werden, die nicht im Interesse der Vertragspartner liegt. 5. Sollen Bestimmungen in multilateralen Verträgen, deren Erfüllung nicht im Verhältnis der Parteien untereinander realisiert wird, für Einzelentscheidungen eingesetzt werden, ist es nötig, ihren Bedeutungsgehalt in einem Verfahren auf internationaler Ebene zu erschließen und eine einheitliche Auslegung zu sichern. Interpretationsverfahren beim IGH, wie sie in der Verfassung der IAO vorgesehen sind, werden in der Praxis von leichter handhabbaren Verfahren verdrängt, die allerdings nicht zu verbindlichen Ergebnissen führen. Die zur Kontrolle der Einhaltung der Normen berufenen Sachverständigengremien haben allgemeine Interpretationsverfahren entwickelt, in denen sie, abgelöst von konkreten Fällen, entweder die völkerrechtlichen Standards, die bei bestimmten sozialen Problemen zu beachten sind, erläutern oder Artikel für Artikel den Bedeutungsgehalt der Normen erschließen. Die Auslegungsmethoden werden von der Struktur der Normen und von dem Mandat des Kontrollgremiums bestimmt. Die Interpretation der Konventionen der IAO orientiert sich vorrangig an Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Normen. Die Auslegung der Europäischen Sozialcharta ist der Idee, einen umfassenden und effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten, verpflichtet. Die Bestimmungen in den Menschenrechtspakten werden nicht als einzelne Einheiten, sondern in ihrer Gesamtheit gesehen, Bedeutungen werden in den Text der Verträge hineingelegt, nicht daraus nach anerkannten Interpretationsregeln abgeleitet. Die Auslegungs-
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ergebnisse sind nach Art. 31 Abs. 3 b WVK als spätere Übung bei der Anwendung eines Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, beachtlich, soweit die Vertragsparteien nicht explizit widersprechen. 6. Trotz der kodifikatorischen Trennung zwischen bürgerlichen und politischen Rechten auf der einen Seite und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf der anderen Seite spielen auch erstere bei der Weiterentwicklung von Sozialstandards eine entscheidende Rolle. Der Ausschuss für Menschenrechte untersucht anhand des Diskriminierungsverbots auch Fälle von Ungleichbehandlungen bei der Gewährung von Sozialleistungen. Bei den bisher entschiedenen Fällen geht es nicht nur um Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens und der Geburt. Vielmehr können auch andere Fälle einer unterschiedlichen Behandlung vergleichbarer Sachverhalte als Verstoß gegen Art. 26 ICCPR gerügt werden, werden sie nicht durch objektive und vernünftige Gründe gerechtfertigt. Damit wird der Ausschuss für Menschenrechte zu einer Kontrollinstanz der Sozialgesetzgebung in den Vertragsstaaten. 7. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte subsumiert Auseinandersetzungen über sozialrechtliche Ansprüche unter „Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ nach Art. 6 EMRK und sieht das von Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ebenso wie das von Art. 1 des 1. ZP geschützte Recht auf Achtung des Eigentums als von sozialrechtlichen Regelungen potentiell betroffen an. Soweit sozialrechtliche Ansprüche damit der EMRK unterfallen, werden auch Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) geprüft, wobei Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts und der Staatsangehörigkeit im Vordergrund stehen. Ausweisungen, aufgrund derer die grundlegendsten humanitären Bedürfnisse nicht mehr gedeckt und eine Mindestversorgung im medizinischen Bereich nicht mehr gewährt wird, können in Ausnahmefällen einen Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen Behandlung (Art. 3 EMRK) darstellen. Aus dem case law zur EMRK kristallisieren sich somit über die spezifisch sozialrechtlichen Normierungen hinausgehende Sozialstandards heraus. Es wird ein Hebel geschaffen, um zumindest einzelne Aspekte sozialrechtlicher Gestaltungen im Hinblick auf ihre Menschenrechtskonformität auf internationaler Ebene zu überprüfen. Diese Kontrolle betrifft nicht nur nationales, sondern auch supranationales Recht ebenso wie bi- und multilaterale Verträge. 8. Die dezentrale Rechtsetzung und die dynamische Interpretation von Sozialstandards führen nicht nur zu Überschneidungen und Verdoppelungen von Normen, sondern auch zu offenen und versteckten Normenkonflikten, Divergenzen und konzeptionellen Widersprüchen, die der Herausbildung eines einheitlichen Rechts nicht förderlich sind. Zudem besteht aufgrund der Vervielfachung der Kontrollverfahren auf internationaler Ebene die Gefahr von Entscheidungsdisharmo-
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nien. Die Mechanismen zur Lösung von materiell-rechtlichen Normkonflikten führen nicht immer zu einheitlichen Ergebnissen, insbesondere wenn spezifisch sozialrechtliche und allgemein menschenrechtliche Normen aufeinandertreffen. Auch die in den Verträgen enthaltenen Jurisdiktionsklauseln können Überschneidungen und Verdoppelungen der einzelnen Verfahren nicht wirksam verhindern. 9. Je nachdem, in welcher Weise man die Grenzlinie zwischen Recht und NichtRecht zieht – ob man auf formale Kriterien wie Verbindlichkeit und Justitiabilität, auf inhaltliche Kriterien oder auf die Rezeption und Bedeutung im politischen Prozess abstellt –, fällt die Antwort auf die Frage nach der Rechtsnatur internationaler Sozialstandards unterschiedlich aus. Diese Unbestimmtheit ist als Charakteristikum internationaler Sozialstandards, als „relative Normativität“ anzusprechen. 10. Die Zunahme und Vervielfältigung internationaler Sozialstandards bedeutet eine Verrechtlichung – rechtliche Regelungen dringen in Bereiche ein, die dem Völkerrecht zuvor verschlossen waren, identische und teilidentische Regelungen überlagern sich. Verrechtlichung ist allgemein als Phänomen der Moderne anzusehen, als Ausdruck der Überzeugung, mit Recht steuernd in gesellschaftliche Abläufe eingreifen zu können. Dass dies nicht immer zu den gewünschten Ergebnissen führt, zeigt die Entwicklung der internationalen Sozialstandards. Das Recht ist seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Mit der Institutionalisierung von Rechtsetzung wird der lebendige Dialog über die Notwendigkeit von Regulierungen formalisiert; die Selektion von Rechtsproblemen, die durch dem Recht eigene Mechanismen bewirkt wird, greift nicht unbedingt die Fälle, die tatsächlich einer internationalen Lösung bedürftig sind, auf; die Spielräume bei der Ausarbeitung von Normen sind durch die Notwendigkeit, Kompromisse zu finden, die den unterschiedlichen Interessen gerecht werden, beschränkt, so dass strittige Fragen nicht unbedingt in adäquater Form beantwortet werden. Die Erkenntnis dieser strukturellen Defizite ist Voraussetzung für Reformen, die den Wirkungsgrund internationaler Regelungen im Bereich des Sozialschutzes erhöhen.
Summary 1. International social standards are norms of international origin defining in which way and to what extent the right to social security and the right to social assistance have to be guaranteed on the national level. The historical development of international social standards rests on three pillars. The human rights tradition has led to the elaboration of social standards as far as the minimal guarantee of the subsistence level is concerned. The international labour legislation has emanated from a different starting-point, but has also helped to define social standards. The third pillar touches upon the status of foreigners in international law. Whereas questions related to this last subject are inherently international in character, labour legislation and human rights protection do not necessitate an international approach. As a precondition for the internationalisation of these issues, international law had to discover the States’ inner sphere as a potential field of regulation. 2. The development of international social standards is not a continuous process. The first decisive step is the foundation of the International Labour Organisation as it serves the institutionalisation of standard-setting in the field of labour and social law. Standard-setting is no longer necessarily a reaction to regulatory deficits in bi- and multilateral relations, but is getting abstract and systematic. The second turning-point in the development is brought about by the Universal Declaration of Human Rights in 1948 as it includes social standards on an equal footing with traditionally accepted civil and political human rights. Subsequently the International Labour Organisation, the United Nations and the Council of Europe consider the development of international social standards as their task and duty. This leads to a parallelism in the elaboration of norms. They either mirror the universalistic philosophy of human rights or they are inspired by the idea of protecting the weaker ones in clearly defined social relationships. The outcome of these different approaches is not always consistent; the norms are not always compatible. This is especially true for norms defining the legal status of foreign citizens in social protection systems. 3. Only a small part of social standards is binding in the member States of the United Nations, the Council of Europe and the International Labour Organisation. It is true that the ratification of the universal human rights conventions legally obliges a majority of States to guarantee a right to social security and a right to an adequate standard of living. But concrete obligations are either not accepted or reduced on the basis of reservations. The specialised conventions in the field of social law are not compelling in their entirety, but offer alternatives between different regulations. This legislative technique – comparable to the use of open notions
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– is meant to make ratification possible even if the national legislation contradicts international demands in certain fields. The approach is quantitative and not qualitative; the aim is to attain a high number of ratifications and not to define homogenous and undivided international social standards. 4. Whereas during the East-West-conflict international social standards were not used as „operational standards“ for the control of legal developments in the contracting States, a fundamental change can be observed since the mid-80s. The contents of international social standards began to be discussed more broadly; the standards were used in order to evaluate financially motivated social reforms such as the social cuts in the countries of Western Europe or the new socio-political programmes in Latin America aiming at the agglomeration of investment capital. The application of the norms illustrates the dilemma of standard-setting on the international plane. Either the norms are formulated as general clauses not offering a solid basis for control decisions legitimized by convincing legal arguments. Or they contain concrete individual regulations the meaning of which can sometimes only be explained with reference to history. Norms of this kind are inflexible and can make it necessary to discuss fundamental questions in connection with minor details. When that leads to a reduction of the socio-political flexibility of action on the national plane, the application of the norms is no longer in the interest of the contracting partners. 5. Clauses in multilateral treaties creating erga omnes obligations can be used as a basis for individual decisions, but only if a specific procedure on the international plane allows for the definition of their meaning and secures a coherent interpretation. The constitution of the ILO establishes an interpretation procedure before the International Court of Justice, but in practice less complicated procedures are preferred, even if they are not binding. Thus the expert committees called upon to secure the application of the norms have developed general interpretation procedures. Without reference to concrete cases they either explain the international standards that have to be observed when solving social problems, or they comment on the meaning of a convention article by article. The methods of interpretation are influenced both by the structure of the norms and the mandate of the control body; they vary from expert body to expert body. The interpretation of the ILO conventions is primarily based on the wording and the drafting history of the norms, whereas the interpretation of the European Social Charter is directed towards the aim of a comprehensive and effective human rights protection. The different clauses of the human rights treaties of the United Nations are not seen as individual regulations, but as a general framework. Their meaning is not deduced from the text on the basis of generally accepted rules of interpretation, but induced into the text. Still, on the basis of Art. 31 III 3 b of the Vienna Convention on the Law of the Treaties the interpretations given by the expert committees are to be taken into account as a subsequent practice which establishes the agreement of the parties regarding the interpretation as long as they do not explicitly contradict.
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6. Despite the fact that the codifications separate civil and political rights from economic, social and cultural rights, both play a decisive role in the development of social standards. Since 1984 the Human Rights Committee does no longer refrain from analysing discrimination problems relating to social benefits. The complaints decided so far do not only concern discrimination based on sex, race, colour, language, religion, political or other conviction, national or social origin, fortune, and birth, but also other cases of unequal treatment as long as the differentiation cannot be justified by objective and reasonable grounds. Thus the Human Rights Committee develops into a control body of the social protection legislation in the contracting States. 7. The European Court of Human Rights interprets social security benefits as „civil rights and obligations“ within the context of Article 6 ECHR. Furthermore, it argues that granting or refusing social benefits can constitute an interference with the right to respect private and family life (Article 8 ECHR) as well as with the right to property (Article 1 of Protocol No 1). As far as social security rights come under the ambit of the ECHR, the Court also rules on discrimination issues (Art. 14 ECHR) concerning in most of the cases differential treatment on the basis of sex or nationality. In exceptional cases even an otherwise justified expulsion can constitute a violation of the prohibition of inhuman treatment (Art. 3 ECHR), if it leads to a situation in which basic humanitarian needs and minimal medical services are no longer provided for. The case law on the basis of the ECHR thus defines social standards that go further than the specific social security conventions. It creates a lever for international control of certain aspects of social policy with regard to their compatibility with human rights law. This control comprises not only national but also bi- or multilateral treaties. 8. Decentral law-making and dynamic interpretation of social standards do not only lead to overlapping and duplication of norms, but also to open and hidden conflicts of norms, divergences and conceptional contradictions that are contraproductive to the development of homogenous international regulations. The multiplication of control procedures on the international plane causes the danger of inconsistent decisions as well. The mechanisms helping to resolve legal conflicts do not always bring about uniform results, especially in the case of interference between specific social security and general human rights norms. Even jurisdiction clauses in the treaties cannot preclude overlapping and duplication effectively. 9. The borderline between law and non-law can be defined on the basis of formal criteria such as binding force and justiciability, on the basis of material criteria or on the basis of reception and impact on the political process. Accordingly, the determination of the legal nature of international social standards varies. This „relative normativity“ is to be seen as a characteristic feature of international social standards. 10. The increase and diversification of international social standards is to be understood as „juridification“. Legal regulations invade areas that had been closed
Summary
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to international law; identical and partly identical regulations coincide. Juridification has to be seen generally as phenomenon of modernity, as an expression of the conviction to be able to direct social processes on the basis of law. The development of international social standards illustrates that this approach does not automatically lead to the desired results. Law is subject to its own conditioning. The living dialogue about the necessity of regulations is formalised when law-making is institutionalised on the international plane; the selection of legal problems does not necessarily correspond to the deficits that exist in reality. The elaboration of norms is predetermined by the necessity to find compromises encompassing the different interests. As a consequence controversial questions are not always answered in an adequate form. Understanding these structural deficits is a prerequisite for reforms that improve the efficiency of international regulations in the field of social protection.
Dokumentation I. Rechtsdokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 1. Rechtsdokumente der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 a) Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 aa) Bürgerliche und politische Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 bb) Soziale Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 cc) Gruppenspezifische Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 b) Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . 514 c) Resolutionen des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen . . . . . . . 515 d) Erklärungen bei internationalen Konferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 2. Rechtsdokumente der Internationalen Arbeitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 a) Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 b) Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 c) Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 d) Erklärungen der Internationalen Arbeitskonferenz und einzelner Komitees . . 519 3. Rechtsdokumente der UNESCO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 4. Rechtsdokumente der Weltgesundheitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 5. Rechtsdokumente des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 a) Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 aa) Bürgerliche und politische Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 bb) Soziale Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 cc) Koordinierung des Sozialrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 dd) Harmonisierung des Sozialrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 ee) Soziale Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 ff) Sonstige sozialpolitische Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 b) Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats . . . . . . . . . 522 c) Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 6. Rechtsdokumente der Europäischen Gemeinschaft / Europäischen Union . . . . . . . 523 a) Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 b) Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 c) Deklarationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
Dokumentation
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II. Gutachten und Entscheidungen internationaler Sachverständigengremien und Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 1. Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 2. Gutachten des Internationalen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 3. Allgemeine Kommentare internationaler Sachverständigengremien . . . . . . . . . . . . 524 a) Allgemeine Kommentare des Ausschusses für Menschenrechte auf der Grundlage des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte 524 b) Allgemeine Kommentare des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auf der Grundlage des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 c) Allgemeine Empfehlungen des Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau auf der Grundlage des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 d) Allgemeine Empfehlungen des Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung auf der Grundlage des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 e) Allgemeine Kommentare des Ausschusses für die Rechte des Kindes auf der Grundlage des Übereinkommens über die Rechte des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . 526 f) Allgemeine Überblicke des Sachverständigenausschusses über die Anwendung der Konventionen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation auf der Grundlage der Konventionen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 g) Allgemeine Betrachtungen des Sozialrechtsausschusses auf der Grundlage der Europäischen Sozialcharta und der Revidierten Europäischen Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 4. Kommentare internationaler Sachverständigengremien zu den Berichten der Vertragsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 a) Berichte auf der Grundlage des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 b) Berichte auf der Grundlage des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 c) Berichte auf der Grundlage des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 d) Berichte auf der Grundlage des Übereinkommens über die Rechte des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 e) Berichte auf der Grundlage der Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 f) Berichte auf der Grundlage der Europäischen Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 g) Berichte auf der Grundlage der Revidierten Europäischen Sozialcharta . . . . . 530 h) Berichte auf der Grundlage der Europäischen Ordnung für soziale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
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Dokumentation 5. Stellungnahmen internationaler Sachverständigengremien in Staaten- und Kollektivbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 a) Stellungnahmen zu Staatenbeschwerdeverfahren im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 b) Stellungnahmen zu Kollektivbeschwerdeverfahren im Rahmen des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 6. Stellungnahmen internationaler Sachverständigengremien zu Einzelbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 a) Mitteilungen des Ausschusses für Menschenrechte auf der Grundlage des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . 532 b) Mitteilungen des Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung auf der Grundlage des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 c) Stellungnahmen des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte 534 d) Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte . . . . . . . . 534 e) Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . . . . . . 536 f) Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538
Dokumentation
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I. Rechtsdokumente1 1. Rechtsdokumente der Vereinten Nationen a) Übereinkommen aa) Bürgerliche und politische Grundrechte International Covenant on Civil and Political Rights 19. 12. 1966 / 23. 3. 1976 (UNTS No. 14668, vol. 999 (1976) p. 171) Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights 19. 12. 1966 / 23. 3. 1976 (UNTS No. 14668, vol. 999 (1976) p. 302)
bb) Soziale Grundrechte International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights 19. 12. 1966 / 3. 1. 1976 (UNTS No. 14531, vol. 993 (1976) p. 3)
cc) Gruppenspezifische Grundrechte Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination 21. 12. 1965 / 4. 1. 1969 (660 UNTS 195) International Convention on the Suppression and Punishment of the Crime of Apartheid 30. 11. 1973 / 18. 7. 1976 (UNTS No. 14861, vol. 1015 p. 243) Convention on the Rights of the Child 20. 11. 1989 / 2. 9. 1990 (UN Doc. A / RES / 44 / 25) Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women 18. 12. 1979 / 3. 9. 1981 (UNTS No. 20378, vol. 1249 (1981) p. 13) Optional Protocol to the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women 10. 12. 1999 / 22. 12. 2000 (UN. Doc. A / 54 / 49 (Vol. I) (2000)) International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families 18. 12. 1990 / 1. 7. 2003 (UN Doc. A / RES / 45 / 158) Convention relating to the Status of Stateless Persons 28. 9. 1954 / 6. 6. 1960 (360 UNTS 117) Convention relating to the Status of Refugees 28. 7. 1951 / 22. 4. 1954 (189 UNTS 150)
1 Im Folgenden werden all diejenigen Rechtsdokumente zusammengestellt, auf die in der Arbeit Bezug genommen wird. Dabei wird die authentische Bezeichnung des Vertrags in der englischen Version angegeben. Das erste Datum bezeichnet den Zeitpunkt der Ausarbeitung des Vertrags, das zweite Datum den Zeitpunkt des Inkrafttretens.
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Dokumentation
b) Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen UN GA Resolution 217 (III) „Universal Declaration of Human Rights“ 10. 12. 1948 UN GA Resolution 521 (V) „Draft International Covenant on Human Rights and Measures of Implementation: Future Work of the Commission on Human Rights“ 4. 12. 1950 UN GA Resolution 421 (V) „Draft International Covenant on Human Rights and Measures of Implementation: Future Work of the Commission on Human Rights“ 4. 12. 1950 UN GA Resolution 543 (VI) „Preparation of two Draft International Covenants on Human Rights“ 5. 2. 1952 UN GA Resolution 1904 (XVIII) „Declaration on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination“ 20. 11. 1963 UN GA Resolution 2263 (XXII) „Declaration on the Elimination of Discrimination against Women“ 7. 11. 1967 UN GA Resolution 2542 (XXIV) „Declaration on Social Progress and Development“ 11. 12. 1969 UN GA Resolution 2627 (XXV) „Declaration on the Occasion of the Twenty-fifth Anniversary of the United Nations“ 24. 10. 1970 UN GA Resolution 2856 (XXVI) „Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons“ 20. 12. 1971 UN GA Resolution 3447 (XXX) „Declaration on the Rights of Disabled Persons “ 9. 12. 1975 UN GA Resolution 32 / 130 „Alternative Approaches and Ways and Means within the UN System for Improving the Effective Enjoyment of Human Rights and Fundamental Freedoms“ 16. 12. 1977 UN GA Resolution 40 / 144 „Declaration on the Human Rights of Individuals Who are not Nationals of the Country in which They Live“ 13. 12. 1985 UN GA Resolution 41 / 117 „Indivisibility and Interdependence of Economic, Social, Cultural, Civil, and Political Rights“ 4. 12. 1986 UN GA Resolution 41 / 128 „Declaration on the Right to Development“ 4. 12. 1986 UN GA Resolution 42 / 125 „Guiding Principles for Developmental Social Welfare Policies and Programmes in the Near Future“ 7. 12. 1987 UN GA Resolution 45 / 625 (Annex) „World Declaration on the Survival, Protection and Development of Children“ 30. 9. 1990 UN GA Resolution 46 / 91 „Principles for Older Persons“ 16. 12. 1991 UN GA Resolution 46 / 119 „Principles for the Protection of Persons with Mental Illness and the Improvement of Mental Health Care“ 17. 12. 1991 UN GA Resolution 48 / 96 „Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities“ 20. 12. 1993
Dokumentation
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c) Resolutionen des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen ECOSOC Resolution 303 C (XI) 9. 8. 1950 ECOSOC Resolution 303 I (XI) 9. 8. 1950 ECOSOC Resolution 1985 / 17 22. 5. 1985
d) Erklärungen bei internationalen Konferenzen2 Universal Declaration on the Eradication of Hunger and Malnutrition (International Human Rights Conference, Teheran 1968) U.N.doc. A / CONF. 32 / 41 at 3 Vienna Declaration and Programme of Action (World Conference on Human Rights, Vienna 1993) U.N. doc. A / CONF.157 / 23; abgedruckt 32: 1663 ILM (1993), EuGRZ 1993, S. 520 ff. S. 47 Copenhagen Declaration and Programme of Action (World Summit for Social Development, Copenhagen 1995) U.N.doc. A / CONF.166 / 9 Report of the International Conference on Population and Development (Cairo 1994) U.N.doc. A / CONF.171 / 13 Report of the Fourth World Conference on Women (Beijing 1995) U.N.doc. A / CONF.177 / 20
2. Rechtsdokumente der Internationalen Arbeitsorganisation3 a) Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation Constitution of the International Labour Organization 28. 6. 1919 (Teil XIII des Vertrages von Versailles)
b) Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation Convention No. 1: Convention Limiting the Hours of Work in Industrial Undertakings to Eight in the Day and Forty-eight in the Week 28. 11. 1919 / 13. 6. 1921 Convention No. 2: Convention concerning Unemployment 28. 11. 1919 / 14. 7. 1921 Convention No. 3: Convention concerning the Employment of Women before and after Childbirth 28. 11. 1919 / 13. 6. 1921 2 Soweit sie nicht in Form einer Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurden. 3 Die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation sind z. T. veröffentlicht in folgenden vom Internationalen Arbeitsamt herausgegebenen 2 Bänden: International Labour Organisation, International Labour Conventions and Recommendations 1919 – 1991, Geneva 1992. Sie sind im Internet abrufbar über http: //www.ilo.org.
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Convention No. 4: Convention concerning Employment of Women during the Night 28. 11. 1919 / 13. 6. 1921 Convention No. 5: Convention Fixing the Minimum Age for Admission of Children to Industrial Employment 28. 11. 1919 / 13. 6. 1921 Convention No. 6: Convention concerning the Night Work of Young Persons in Industry 28. 11. 1919 / 13. 6. 1921 Convention No. 7: Convention Fixing the Minimum Age for Admission of Children to Employment at Sea 9. 7. 1920 / 27. 9. 1921 Convention No. 8: Convention concerning Unemployment Indemnity in Case of Loss or Foundering of the Ship 9. 7. 1920 / 16. 3. 1923 Convention No. 10: Convention concerning the Age for Admission of Children to Employment in Agriculture 16. 11. 1921 / 31. 8. 1923 Convention No. 11: Convention concerning the Rights of Association and Combination of Agricultural Workers 12. 11. 1921 / 11. 5. 1923 Convention No. 12: Convention concerning Workmen’s Compensation in Agriculture 12. 11. 1921 / 26. 2. 1923 Convention No. 13: Convention concerning the Use of White Lead in Painting 19. 11. 1921 / 31. 8. 1923 Convention No. 14: Convention concerning the Application of the Weekly Rest in Industrial Undertakings 17. 11. 1921 / 19. 6. 1923 Convention No. 15: Convention Fixing the Minimum Age for the Admission of Young Persons to Employment as Trimmers or Stokers 11. 11. 1921 / 20. 11. 1922 Convention No. 16: Convention concerning the Compulsory Medical Examination of Children and Young Persons Employed at Sea 11. 11. 1921 / 20. 11. 1922 Convention No. 17: Convention concerning Workmen’s Compensation for Accidents 10. 6. 1925 / 1. 4. 1927 Convention No. 18: Convention concerning Workmen’s Compensation for Occupational Diseases 10. 6. 1925 / 1. 4. 1927 Convention No. 19: Convention concerning Equality of Treatment for National and Foreign Workers as regards Women’s Compensation for Accidents 10. 6. 1925 / 8. 9. 1926 Convention No. 20: Convention concerning Night Work in Bakeries 8. 6. 1925 / 26. 5. 1928 Convention No. 24: Convention concerning Sickness Insurance for Workers in Industry and Commerce and Domestic Servants 15. 6. 1927 / 15. 7. 1928 Convention No. 25: Convention concerning Sickness Insurance for Agricultural Workers 15. 6. 1927 / 15. 7. 1928 Convention No. 26: Convention concerning the Creation of Minimum Wage-Fixing Machinery 16. 6. 1928 / 14. 6. 1930
Dokumentation
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Convention No. 28: Convention concerning the Protection against Accidents of Workers Employed in Loading or Unloading Ships 21. 6. 1929 / 1. 4. 1932 Convention No. 29: Convention concerning Forced or Compulsory Labour 10. 6. 1930 / 1. 5. 1932 Convention No. 30: Convention concerning the Regulation of Hours of Work in Commerce and Offices 10. 6. 1930 / 29. 8. 1933 Convention No. 31: Convention Limiting Hours of Work in Coal Mines 18. 6. 1931 / 30. 5. 2000 Convention No. 33: Convention concerning the Age for Admission of Children to Non-Industrial Employment 30. 4. 1932 / 6. 6. 1935 Convention No. 35: Convention concerning Compulsory Old-Age Insurance for Persons Employed in Industrial or Commercial Undertakings, in the Liberal Professions, and for Outworkers and Domestic Servants 29. 6. 1933 / 18. 7. 1937 Convention No. 37: Convention concerning Compulsory Insurance for Persons Employed in Industrial or Commercial Undertakings, in the Liberal Professions, and for Outworkers and Domestic Servants 29. 6. 1933 / 18. 7. 1937 Convention No. 39: Convention concerning Compulsory Widows’ and Orphans’ Insurance for Persons Employed in Industrial or Commercial Undertakings, in the Liberal Professions, and for Outworkers and Domestic Servants 29. 6. 1933 / 8. 10. 1946 Convention No. 44: Convention Ensuring Benefit or Allowances to the Involuntarily Unemployed 23. 6. 1934 / 10. 6. 1938 Convention No. 47: Convention concerning the Reduction of Hours of Work to Forty a Week 22. 6. 1935 / 23. 6. 1957 Convention No. 48: Convention concerning the Establishment of an International Scheme for the Maintenance of Rights under Invalidity, Old-Age and Widows’ and Orphans’ Insurance 22. 6. 1935 / 10. 8. 1938 Convention No. 49: Convention concerning the Reduction of Hours of Work in Glass-Bottle Works 25. 6. 1935 / 10. 6. 1938 Convention No. 51: Convention concerning the Reduction of Hours of Work on Public Works 23. 6. 1936 / 30. 5. 2000 Convention No. 52: Convention concerning Annual Holidays with Pay 24. 6. 1936 / 22. 9. 1939 Convention No. 60: Convention concerning the Age for Admission of Children to Non-Industrial Employment (Revised 1937) 22. 6. 1937 / 29. 12. 1950 Convention No. 61: Convention concerning the Reduction of Hours of Work in the Textile Industry 22. 6. 1937 / 30. 5. 2000 Convention No. 62: Convention concerning Safety Provisions in the Building Industry 23. 6. 1937 / 4. 7. 1942
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Convention No. 67: Convention concerning the Regulation of Hours of Work and Rest Periods in Road Transport 28. 6. 1939 / 18. 3. 1955 Convention No. 82: Convention concerning Social Policy in Non-Metropolitan Territories 11. 7. 1947 / 19. 6. 1955 Convention No. 87: Convention concerning Freedom of Association and Protection of the Right to Organise 9. 7. 1948 / 4. 7. 1950 Convention No. 91: Convention concerning Vacation Holidays with Pay for Seafarers (Revised 1949) 18. 6. 1949 / 14. 9. 1967 Convention No. 97: Convention concerning Migration for Employment (Revised 1949) 1. 7. 1949 / 22. 1. 1952 Convention No. 98: Convention concerning the Application of the Principles of the Right to Organise and to Bargain Collectively 1. 7. 1949 / 18. 7. 1951 Convention No. 100: Convention concerning Equal Remuneration for Men and Women Workers for Work of Equal Value 28. 6. 1952 / 23. 5. 1953 Convention No. 102: Convention concerning Minimum Standards of Social Security 4. 6. 1952 / 27. 4. 1955 Convention No. 103: Convention concerning Maternity Protection (Revised 1952) 28. 8. 1952 / 7. 9. 1955 Convention No. 105: Convention concerning the Abolition of Forced Labour 25. 6. 1957 / 17. 1. 1959 Convention No. 110: Convention concerning Conditions of Employment of Plantation Workers 24. 6. 1958 / 22. 1. 1960 Convention No. 111: Convention concerning Discrimination in Respect of Employment and Occupation 25. 6. 1958 / 15. 6. 1960 Convention No. 117: Convention concerning Basic Aims of Social Policy 22. 6. 1962 / 23. 4. 1964 Convention No. 118: Convention concerning Equality of Treatment of Nationals and NonNationals in Social Security 28. 6. 1962 / 25. 4. 1964 Convention No. 121: Convention concerning Benefits in the Case of Employment Injury 8. 7. 1964 / 28. 7. 1967 Convention No. 122: Convention concerning Employment Policy 9. 7. 1964 / 15. 7. 1966 Convention No. 128: Convention concerning Invalidity, Old-Age and Survivors‘ Benefits 29. 6. 1967 / 1. 11. 1969 Convention No. 130: Convention concerning Medical Care and Sickness Benefits 25. 6. 1969 / 27. 5. 1972 Convention No. 138: Convention concerning Minimum Age for Admission to Employment 26. 6. 1973 / 19. 6. 1976
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Convention No. 155: Convention Concerning Occupational Safety and Health and the Working Environment 22. 6. 1981 / 11. 8. 1983 Convention No. 156: Convention concerning Equal Opportunities and Equal Treatment for Men and Women Workers: Workers with Family Responsibilities 23. 6. 1981 / 11. 8. 1981 Convention No. 157: Convention concerning the Establishment of an International System for the Maintenance of Rights in Social Security 21. 6. 1982 / 11. 9. 1986 Convention No. 165: Convention concerning Social Security for Seafarers (Revised) 9. 10. 1987 / 2. 7. 1992 Convention No. 168: Convention concerning Employment Promotion and Protection against Unemployment 21. 6. 1988 / 17. 10. 1991 Convention No. 182: Convention concerning the Prohibition and Immediate Action for the Elimination of the Worst Forms of Child Labour 17. 6. 1999 / 19. 11. 2000 Convention No. 183: Convention concerning the Revision of the Maternity Protection Convention (Revised) 15. 6. 2000 / 7. 2. 2002
c) Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation Recommendation No. 25: Recommendation concerning Equality of Treatment for National and Foreign Workers as regards Workmen’s Compensation for Accidents 5. 6. 1925. Recommendation No. 67: Recommendation concerning Income Security 12. 5. 1944 Recommendation No. 69: Recommendation concerning Medical Care 12. 5. 1944 Recommendations to the United Nations for Present and Post-War Social Policy, Montreal 1944 Recommendation No. 95: Recommendation concerning Maternity Protection 28. 6. 1952 Recommendation No. 191: Recommendation concerning the revision of the Maternity Protection Recommendation, 1952 15. 6. 2000
d) Erklärungen der Internationalen Arbeitskonferenz und einzelner Komitees „Principles Regarding Women Workers“ (Resolution of the International Labour Conference June 1937) „The Renunciation of Discrimination against Workers belonging to Certain Races or Confessions“ (Resolution of the International Labour Conference June 1938) Consolidated Santiago-Havanna Resolutions concerning the Fundamental Principles of Social Insurance (Resolution of the first Labour Conference of the American Member States of the ILO, Santiago 1936: „The ILO and Social Insurance“; Resolution of the second Labour Conference of the American Member States of the ILO, Havanna 1939: „Report on the Ac-
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tion taken to give Effect to the Resolutions adopted by the Santiago Conference“, ILO, The International Labour Code 1951, Volume 2, p. 664 ff.) „The Protection of Children and Young Workers“ (Resolution of the International Labour Conference November 1945) „Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work “ (Resolution of the International Labour Conference June 1998) „Resolution and Conclusions concerning Social Security“ (Resolution of the International Labour Conference June 2001)
3. Rechtsdokumente der UNESCO Convention against Discrimination in Education 14. 12. 1960 / 22. 5. 1962 (429 UNTS 93)
4. Rechtsdokumente der Weltgesundheitsorganisation Constitution of the World Health Organisation, 22. 7. 1946 / 7. 4. 1948 (14 UNTS 186)
5. Rechtsdokumente des Europarats a) Übereinkommen aa) Bürgerliche und politische Grundrechte Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms 4. 11. 1950 / 3. 9. 1953 (ETS No. 5) Protocol to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms 20. 3. 1952 / 18. 5. 1954 (ETS No. 9) Protocol No. 2 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, conferring upon the European Court of Human Rights competence to give advisory opinions 6. 5. 1963 / 21. 9. 1970 (ETS No. 44) Protocol No. 4 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, securing certain rights and freedoms other than those already included in the Convention and in the first Protocol thereto 16. 9. 1963 / 2. 5. 1968 (ETS No. 46) Protocol No. 6 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms concerning the Abolition of the Death Penalty 28. 4. 1983 / 1. 3. 1985 (ETS No. 114) Protocol No. 11 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, restructuring the control machinery established thereby 11. 5. 1994 / 1. 11. 1998 (ETS No. 155)
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Protocol No. 12 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms 4. 11. 2000 / 1. 4. 2005 (ETS No. 177)
bb) Soziale Grundrechte European Social Charter 18. 10. 1961 / 26. 2. 1965 (ETS No. 35) Protocol amending the European Social Charter 21. 10. 1991 (ETS No. 142) Additional Protocol to the European Social Charter Providing for a System of Collective Complaints 9. 11. 1995 / 1. 7. 1998 (ETS No. 158) European Social Charter (Revised) 3. 5. 1996 / 1. 7. 1999 (ETS No. 163)
cc) Koordinierung des Sozialrechts European Interim Agreement on Social Security Schemes Relating to Old Age, Invalidity and Survivors 6. 11. 1953 / 1. 7. 1954 (ETS No. 12) Protocol to the European Interim Agreement on Social Security Schemes Relating to Old Age, Invalidity and Survivors 11. 12. 1953 / 1. 10. 1954 (ETS No. 12 A) European Interim Agreement on Social Security other than Schemes Relating to Old Age, Invalidity and Survivors 11. 12. 1953 / 1. 10. 1954 (ETS No. 13) Protocol to the European Interim Agreement on Social Security other than Schemes for Old Age, Invalidity and Survivors 11. 12. 1953 / 1. 7. 1954 (ETS No. 13 A) European Convention on Social Security 14. 12. 1972 / 1. 3. 1977 (ETS No. 78) Supplementary Agreement for the Application of the European Convention on Social Security 14. 12. 1972 / 1. 3. 1977 (ETS No. 78 A)
dd) Harmonisierung des Sozialrechts European Code of Social Security 16. 4. 1964 / 17. 3. 1968 (ETS No. 48) Protocol to the European Code of Social Security 16. 4. 1964 / 17. 3. 1968 (ETS No. 48 A) European Code of Social Security (Revised) 6. 11. 1990 (ETS No. 163)
ee) Soziale Fürsorge European Convention on Social and Medical Assistance 11. 12. 1953 / 1. 7. 1954 (ETS 14) Protocol to the European Convention on Social and Medical Assistance 11. 12. 1953 / 1. 7. 1954 (ETS No. 14 A)
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ff) Sonstige sozialpolitische Themen Agreement on the Exchange of War Cripples between Member Countries of the Council of Europe with a view to Medical Treatment 13. 12. 1955 / 1. 1. 1956 (ETS No. 20) Agreement between the Member States of the Council of Europe on the issue to military and civilian war-disabled of an international book of vouchers for the repair of prosthetic and orthopaedic appliances 17. 12. 1962 / 27. 12. 1963 (ETS. No. 40) European Convention on the Adoption of Children 24. 4. 1967 / 26. 4. 1968 (ETS No. 58) European Convention on the Social Protection of Farmers 6. 5. 1974 / 17. 6. 1977 (ETS No. 83) European Convention on the Legal Status of Migrant Workers 24. 11. 1977 / 1. 5. 1983 (ETS No. 93) European Convention on the Compensation of Victims of Violent Crimes 24. 11. 1983 / 1. 2. 1988 (ETS No. 116)
b) Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Recommendation 1196 (1992) on severe poverty and social exclusion: towards guaranteed minimum levels of resources Resolution 1008 (1993)1 on social policies for elderly persons and their self-reliance Recommendation 1304 (1996)1 on the future of social policy Recommendation 1308 (1996)1 on the World Trade Organisation and social rights Recommendation 1355 (1998)1 Fighting social exclusion and strengthening social cohesion in Europe Recommendation 1445 (2000) Health safety for Europe’s population
c) Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats Recommendation No. R (8)3 of the Committee of Ministers to Member States on the Flexibility of Retirement Age, 6. 3. 1989 Recommendation No. R (91)2 of the Committee of Ministers to Member States on Social Security for Workers Without Professional Status (Helpers, Persons at Home with Family Responsibilities and Voluntary Workers), 14. 2. 1991 Recommendation No. R (91)3 of the Committee of Ministers to Member States on Social Security Protection of Seconded Workers, 14. 2. 1991 Recommendation No. R (92)6 of the Committee of Ministers to Member States on a coherent policy for people with disabilities, 9. 4. 1992
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Recommendation No. R (2000)3 of the Committee of Ministers to Member States on the Right to the Satisfaction of Basic Material Needs of Persons in Situations of Extreme Hardship, 19. 1. 2000
6. Rechtsdokumente der Europäischen Gemeinschaft / Europäischen Union a) Verordnungen Verordnung (EWG) Nr. 1408 / 71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. L 149 / 1971, S. 2 Verordnung (EWG) Nr. 1612 / 68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. L 257 / 1968, S. 2 Verordnung (EG) Nr. 859 / 2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408 / 71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574 / 72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen, ABl.L 124 / 2003, S. 1
b) Richtlinien RL 75 / 129 / EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen und 92 / 56 / EWG Recht auf Schutz bei Kündigung RL 80 / 987 / EWG Recht auf Schutz der Arbeitnehmerforderungen bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers RL 76 / 207 / EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen vom 9. 2. 1976, ABl. L 39 / 40, geändert durch Richtlinie 2002 / 73 RL 79 / 7 / EWG des Rates vom 19. 12. 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, ABl. L 6 / 24
c) Deklarationen Grundrechtserklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 5. 4. 1977, ABl. 1977 / C 103 / 1 (EuGRZ 1977, S. 157) Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments vom 12. 4. 1989 (EuGRZ 1989, S. 205)
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Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9. 12. 1989 (KOM (89) 248 endg.) Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 18. 12. 2000, ABl. 2000 / C 364 / 01
II. Gutachten und Entscheidungen internationaler Sachverständigengremien und Gerichte 1. Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs PCIJ Series C No. 1 (1922): Competence of the International Labour Organisation PCIJ Series B Nos. 2, 3 (1922): Competence of the International Labour Organisation PCIJ Series B No. 13 (1926): Competence of the International Labour Organisation to Regulate Incidentally the Personal Work of the Employer PCIJ Series A No. 10 (1927): The „Lotus“ case PCIJ Series A / B No. 50, Series C No. 60 (1932): Interpretation of the Convention of 1919 Concerning the Employment of Women during the Night
2. Gutachten des Internationalen Gerichtshofs ICJ Reports 1951, No. 16 Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Advisory Opinion) ICJ Reports 1996, No. 95 Legality of the Threat of Nuclear Weapons
3. Allgemeine Kommentare internationaler Sachverständigengremien4 a) Allgemeine Kommentare des Ausschusses für Menschenrechte auf der Grundlage des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte General comment No. 3: Article 2 (Implementation at the national level) (1981) General comment No. 4: Article 3 (Equal right of men and women to the enjoyment of all civil and political rights) (1981) General comment No. 5: Article 4 (Derogation of rights) (1981) 4 Vgl. die Gesamtübersicht über alle allgemeinen Kommentare der Sachverständigenausschüssen zu den Pakten der Vereinten Nationen in dem Dokument HRI / GEN / 1 / Rev. 7 (im Internet abrufbar unter http: //unhchr.ch); im Folgenden werden nur diejenigen Kommentare aufgelistet, die rechtsdogmatisch oder für die Entwicklung von Sozialstandards relevant sind und aufgrund dessen im Text erwähnt werden.
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General comment No. 6: Article 6 (The right to life) (1982) General comment No. 9: Article 10 (Humane treatment of persons deprived of their liberty) (1982) General comment No. 14: Article 6 (Nuclear weapons and the right to life) (1984) General comment No. 15: The position of aliens under the Covenant (1986) General comment No. 16: Article 17 (Right to privacy) (1988) General comment No. 17: Article 24 (Rights of the child) (1989) General comment No. 18: Non-discrimination (1989) General comment No. 19: Article 23 (The family) (1990) General comment No. 20: Article 7 (Prohibition of torture, or other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment) (1992) General comment No. 21: Article 10 (Humane treatment of persons deprived of their liberty) (1992) General comment No. 24: Issues relating to reservations made upon ratification or accession to the Covenant or the Optional Protocols thereto, or in relation to declarations under article 41 of the Covenant (1994) General comment No. 28: Article 3 (The equality of rights between men and women) (2000) General comment No. 31: The Nature of the General Legal Obligation Imposed on States Parties to the Covenant (2004)
b) Allgemeine Kommentare des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auf der Grundlage des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte General comment No. 1: Reporting by States parties (1989) General comment No. 2: Article 22 (International technical assistance measures) (1990) General comment No. 3: Article 2, para. 1 (The nature of States parties obligations) (1990) General comment No. 4: Article 11.1 (The right to adequate housing) (1991) General comment No. 5: Persons with disabilities (1994) General comment No. 6: The economic, social and cultural rights of older persons (1995) General comment No. 7: Article 11.1 (The right to adequate housing) (1997) General comment No. 8: The relationship between economic sanctions and respect for economic, social and cultural rights (1997)
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General comment No. 9: The domestic application of the Covenant (1998) General comment No. 10: The role of national human rights institutions in the protection of economic, social and cultural rights (1998) General comment No. 11: Article 14 (Plans of action for primary education) (1999) General comment No. 12: The right to adequate food (Art. 11 of the Covenant) (1999) General comment No. 13: The right to education (Art. 13 of the Covenant) (1999) General comment No. 14: The right to the highest attainable standard of health (Art. 12 of the Covenant) (2000) General comment No. 15: The right to water (Arts. 11 and 12 of the Covenant) (2003)
c) Allgemeine Empfehlungen des Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau auf der Grundlage des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau General recommendation No. 16: Unpaid women workers in rural and urban family enterprises (1991) General recommendation No. 18: Disabled women (1991) General recommendation No. 19: Violence against women (1992) General recommendation No. 21: Equality in marriage and family relations (1994) General recommendation No. 23: Political and public life (1997) General recommendation No. 24: Article 12 of the Convention (women and health) (1999)
d) Allgemeine Empfehlungen des Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung auf der Grundlage des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung General recommendation XIV on article 1 of the Convention, UN Doc. HRI / GEN / 1 / Rev.a at 67 (1994) General recommendation XX on article 5 of the Convention, UN Doc. CERD / 48 / Misc. 6 / Rev. 2 (1996)
e) Allgemeine Kommentare des Ausschusses für die Rechte des Kindes auf der Grundlage des Übereinkommens über die Rechte des Kindes General comment No. 3: HIV / AIDS and the rights of the child (2003) General comment No. 4: Adolescent health and development in the context of the Convention on the Rights of the Child (2003)
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f) Allgemeine Überblicke des Sachverständigenausschusses über die Anwendung der Konventionen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation auf der Grundlage der Konventionen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, Minimum Standards of Social Security: Conclusions regarding reports received under Art. 19 and 22 of the Constitution of the ILO concerning the Social Security (Minimum Standards) Convention, 1952 (No. 102), Geneva 1961 ILO, General Survey of the Reports Relating to the Equality of Treatment (Social Security) Convention 1962. Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, Geneva 1962 ILO, Equality of Treatment (Social Security). General Survey of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, Geneva 1977 ILO, Migrant Workers. General Survey of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, Geneva 1980 ILO, Employment Promotion and Social Security, Geneva 1987 ILO, Social Security Protection in Old-Age. General Survey of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, Geneva 1989
g) Allgemeine Betrachtungen des Sozialrechtsausschusses auf der Grundlage der Europäischen Sozialcharta und der Revidierten Europäischen Sozialcharta Council of Europe, Conclusions XIII-2, Strasbourg 1996, S. 25 ff. (Family) Council of Europe, Conclusions XIII-4, Strasbourg 1996, S. 35 ff. (Social Protection)
4. Kommentare internationaler Sachverständigengremien zu den Berichten der Vertragsstaaten5 a) Berichte auf der Grundlage des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Germany 04 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add.29 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Israel 04 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add.27 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland 04 / 12 / 97. E / C.12 / 1 / Add.19
5 Aufgelistet werden nur die Berichte, die in der Arbeit in den Fußnoten zitiert werden. Die Berichte sind über die Website (http: //www.ohchr.org/english/law/index.htm) abrufbar.
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Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Iraq 16 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.17 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Libyan Arab Jamahiriya 16 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.15 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Cameroon 08 / 12 / 99. E / C.12 / 1 / Add.40 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Canada 10 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add.31 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Colombia 06 / 12 / 95. E / C.12 / 1995 / 18 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Australia 01 / 09 / 2000. E / C.12 / 1 / Add.50 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Saint Vincent and the Grenadines 02 / 12 / 97. E / C.12 / 1 / Add.21 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Peru 16 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.14 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Argentinia 08 / 12 / 99. E / C.12 / 1 / Add.38 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Guatemala 28 / 05 / 96. E / C.12 / 1 / Add.3 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: igeria 13 / 05 / 98. E / C.12 / 1 / Add.23 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Russian Federation 20 / 05 / 97. E / C.12 / 1 / Add.13 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Kyrgyzstan 01 / 09 / 2000. E / C.12 / 1 / Add.49 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Iraq 12 / 12 / 97. E / C.12 / 1 / Add.17 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Italy 23 / 05 / 2000. E / C.12 / 1 / Add.43 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Canada 10 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add.31 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Poland 16 / 06 / 98. E / C.12 / 1 / Add.26 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Mexico 08 / 12 / 99. E / C.12 / 1 / Add.41 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Argentinia 08 / 12 / 99. E / C.12 / 1 / Add.38
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Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Switzerland 07 / 12 / 98. E / C.12 / 1 / Add.30 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: the Netherlands 16 / 06 / 98. E / C.12 / 1 / Add.25 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Spain 28 / 05 / 96. E / C.12 / 1 / Add.2 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Sweden 07 / 06 / 95. E / C.12 / 5 / Add.40 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Dominican Republic 05 / 12 / 96. E / C.12 / 1 / Add.6 Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Ecuador 07 / 06 / 2004. E / C.12 / 1 / Add.100
b) Berichte auf der Grundlage des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau Concluding Observations of the Committee of the Elimination of Discrimination Against Women: Austria 15 / 06 / 2000. A / 55 / 38, paras.211 – 243 Concluding Observations of the Committee of the Elimination of Discrimination Against Women: Germany 02 / 02 / 2000.A / 55 / 38, paras. 287 – 333 Concluding Observations of the Committee of the Elimination of Discrimination Against Women: Spain 01 / 07 / 99.A / 54 / 38, paras. 236 – 277 Concluding Observations of the Committee of the Elimination of Discrimination Against Women: United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland 01 / 07 / 99.A / 54 / 38, paras. 278 – 318
c) Berichte auf der Grundlage des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung CERD / C / 304 / Add.9: Great Britain and Northern Ireland
d) Berichte auf der Grundlage des Übereinkommens über die Rechte des Kindes CRC / C / 15 / Add.98: Austria
e) Berichte auf der Grundlage der Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, Report of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations. Report III (Part 1A), 1959, 1965, 1971, 1974, 1980, 1983, 1989 – 2004 34 Nußberger
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f) Berichte auf der Grundlage der Europäischen Sozialcharta Council of Europe, Committee of Independent Experts on the European Social Charter, Conclusions6 Conclusions I, Strasbourg 1970 Conclusions III, Strasbourg 1973 Conclusions VI, Strasbourg 1979 Conclusions XI-1, Strasbourg 1989 Conclusions XIII-1, Strasbourg 1994 Conclusions XIII-2, Strasbourg 1995 Conclusions XIII-4, Strasbourg 1996 Conclusions XIV-1 / 1, Strasbourg 1998 Conclusions XIV-1 / 2, Strasbourg 1998 Conclusions XV-1 / 1, Strasbourg 2000 Conclusions XV-1 / 2, Strasbourg 2000 Conclusions XV-2 / 1, Strasbourg 2001 Conclusions XV-2 / 2, Strasbourg 2001 Conclusions XVI-1 / 1, Strasbourg 2002 Conclusions XVI-1 / 2, Strasbourg 2002 Conclusions XVI-2, Strasbourg 2003 Conclusions XVII-1, Strasbourg 2004
g) Berichte auf der Grundlage der Revidierten Europäischen Sozialcharta Revised Social Charter – Conclusions 2002, 2002
h) Berichte auf der Grundlage der Europäischen Ordnung für soziale Sicherheit7 Resolution CSS (2000) 12 on the application of the European Code of Social Security and its protocol by the Netherlands 6 Die Expertenberichte ab XV werden nach dem Internet zitiert; dabei sind keine Seitenangaben möglich. 7 Die Berichte des Sachverständigenausschusses sind nicht veröffentlicht. Die wesentlichen inhaltlichen Punkte sind aber regelmäßig auch in den auf ihnen beruhenden Resolutionen des Ministerrats des Europarats enthalten. Im Folgenden wurden die Resolutionen genannt, die im Text zitiert wurden.
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Resolution CSS (2001) 9 on the application of the European Code of Social Security and its protocol by the Netherlands Resolution CSS (2003) 26 on the application of the European Code of Social Security and its protocol by the Netherlands Resolution CSS (2003) 21 on the application of the European Code of Social Security and its protocol by Germany Resolution CSS (2004) 5 on the application of the European Code of Social Security and its protocol by Germany
5. Stellungnahmen internationaler Sachverständigengremien in Staaten- und Kollektivbeschwerdeverfahren a) Stellungnahmen zu Staatenbeschwerdeverfahren im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation Report of the Committee set up to examine the representation submitted by the National Trade Union Co-ordination Council (CNS) of Chile under article 24 of the ILO Constitution, alleging non-observance by Chile of International Labour Conventions Nos. 1, 2, 24, 29, 30, 35, 37, 38 and 111; Vol. LXXI, 1988, Series B, Supplement 1 Report of the Committee set up to examine the representation alleging non-observance by Chile of the Old-Age Insurance (Industry, etc.) Convention, 1933 (No. 35) and the Invalidity Insurance (Industry, etc.) Convention 1933 (No. 37) submitted under article 24 of the ILO Constitution by the College of Teachers of Chile A.G., GB 271 / 18 / 1; GB 274 / 16 / 4 Report of the Committee responsible for examining the representation made by the Latin American Central of Workers (CLAT) under article 24 of the ILO Constitution alleging non-observance by Peru of the Social Security (Minimum Standards) Convention, 1952 (No. 102) Report of the Committee set up to examine the representation made by the Confederation of Costa Rican Workers (CTC), the Authentic Confederation of Democratic Workers (CATD), the United Confederation of Workers (CUT), the Costa Rican Confederation of Democratic Workers (CCTD) and the National Confederation of Workers (CNT), under article 24 of the Constitution, alleging the failure by Costa Rica to observe International Labour Conventions Nos. 81, 95, 102, 122, 127, 130, 131, 138, and 144 Report of the Committee set up to examine the representation presented by the National Trade Union co-ordinating Council (CNS) of Chile under article 24 of the Constitution alleging non-observance of International Labour Conventions Nos. 1, 2, 29, 30 and 122 by Chile, Vol. LXVIII, 1985, Series B, Special Supplement 2 / 1985 Report of the Committee set up to examine the representation presented by the Swedish Trade Union Confederation (LO), the Swedish Confederation of Professional Employees (TCO) and the International Confederation of Free Trade Unions (ICFTU) under article 24 of the ILO Constitution alleging non-observance by Sweden of the Employment Injury Benefits Convention 1964 (No. 121) 34*
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Report of the Committee set up to examine the representation alleging non-observance by Spain of the Migration for Employment Convention (Revised), 1949 (No. 97), the Discrimination (Employment and Occupation) Convention, 1958 (No. 111), and the Employment Policy Convention, 1964 (No. 122), made under article 24 of the ILO Constitution by the General Confederation of Labour of Argentina (CGT) Report of the Committee set up to examine the representation presented by the National Confederation of Workers of Senegal under article 24 of the Constitution alleging non-observance by Mauritania of International Labour Conventions Nos. 95, 102, 111, 118 and 122 Report of the Committee set up to examine the representation alleging non-observance by Chile of the Old-Age Insurance (Industry, etc.) Convention, 1933 (No. 35), the Old-Age Insurance (Agriculture) Convention, 1933 (No. 36), the Invalidity Insurance (Industry, etc.) Convention, 1933 (No. 37), and the Invalidity Insurance (Agriculture) Convention, 1933 (No. 38), made under article 24 of the ILO Constitution by certain national workers’ unions of the private sector pension funds (AFPs)
b) Stellungnahmen zu Kollektivbeschwerdeverfahren im Rahmen des Europarats Complaint No. 14 / 2003 (International Federation of Human Rights Leagues vs. France), 16. 5. 2003 Complaint No. 13 / 2002 (Autisme-Europe vs. France) 4. 1. 2003 (ResChS (2004) 10. 3. 2004), Decision on admissibility 12. 12. 2002, Decision on the merits, 7. 11. 2003 Complaint No. 1 / 1998 (International Commission of Jurists vs. Portugal), Decision on admissibility 10. 3. 1999, Decision on the merits 9. 9. 1999
6. Stellungnahmen internationaler Sachverständigengremien zu Einzelbeschwerdeverfahren a) Mitteilungen des Ausschusses für Menschenrechte auf der Grundlage des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte A.P.L.-v.d.M. v. the Netherlands, Communication 26. 7. 1993 (No. 478 / 1991) Althammer et al. v. Austria, Communication 22. 9. 2003 (No. 998 / 2001) Atkinson / Stroud / Cyr v. Canada, Communication 9. 11. 1995 (No. 573 / 1994) B.M.S. v. Australia, Communication 10. 5. 1999 (No. 8 / 1996) Barbaro v. Australia, Communication 29. 8. 1997 (No. 7 / 1995) Broeks v. the Netherlands, Communication 9. 4. 1987 (No. 172 / 1984) Byrne v. Canada, Communication 23. 4. 1996 (No. 742 / 1997) Casanovas v. France, Communication 10. 8. 1994 (No. 441 / 1990)
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Cavalcanti Araujo-Jongen v. the Netherlands, Communication 8. 11. 1993 (No. 418 / 1990) D.S. v. Sweden, Communication 17. 8. 1998 (No. 9 / 1997) Danning v. the Netherlands, Communication 9. 4. 1987 (No. 180 / 1984) Doukouré v. France, Communication 25. 4. 2000 (No. 756 / 1997) Drake v. New Zealand, Communication 29.4. 1997 (No. 601 / 1994) Fanali v. Italy, Communication 31. 3. 1983 (No. 75 / 1980) Gueye et al. v. France, Communication 6. 4. 1989 (No. 196 / 1985) Hendrika van Oord v. the Netherlands, Communication 14. 8. 1997 (No. 658 / 1995) Hoofdam v. the Netherlands, Communication 25. 11. 1998 (No. 602 / 1994) J.A.M.B.-R v. the Netherlands, Communication 28. 4. 1994 (No. 477 / 1991) Kaaber v. Iceland, Communication 3. 12. 1996 (No. 674 / 1995) L.K. v. the Netherlands, Communication 16. 3. 1993 (No. 4 / 1991) Neefs v. the Netherlands, Communication 27. 7. 1994 (No. 425 / 1990) Oord v. the Netherlands, Communication 14. 8. 1997 (No. 658 / 1995) Oulajin / Kaiss v. the Netherlands, Communication 23. 10. 1992 (Nos. 406 / 1990 and 426 / 1990) Pauger (1) v. Austria, Communication 30. 3. 1992 (No. 415 / 1990) Pauger (2) v. Austria, Communication 30. 4. 1999 (No. 716 / 1996) Pepels v. the Netherlands, Communication 19. 7. 1994 (No. 484 / 1991) Pons v. Spain, Communication 8. 11. 1995 (No. 454 / 1991) R. E. d. B. v. the Netherlands, Communication 5. 11. 1993 (No. 548 / 1993) S. B. v. New Zealand, Communication 4. 4. 1994 (No. 475 / 1991) Vos v. the Netherlands, Communication 29. 7. 1999 (No. 786 / 1997) Z.U.B.S. v. Austria, Communication 25. 1. 2000 (No. 6 / 1995) Zwaan de Vries v. the Netherlands, Communication 9. 4. 1987 (No. 182 / 1984)
b) Mitteilungen des Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung auf der Grundlage des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, Communication 28. 3. 1996, CERD / C / 304 / Add.9
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c) Stellungnahmen des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte Series A No. G 101 / 81 of 25 July 1981, in the matter of Viviana Gallardo et al., abgedruckt in: HRLJ 2 (1981), S. 328 ff. Series A No. 1 OC-1 / 82 of 24 September 1982, „Other Treaties“ Subject to the Consultative Jurisdiction of the Court (Art. 64 of the American Convention on Human Rights), abgedruckt in: HRLJ 3 (1982), S. 140 ff. Series A No. 7 OC-7 / 86 of 29 August 1986, Enforceability of the Right to Reply or Correction (Art. 14 (1), 1 (1) and 2 of the American Convention on Human Rights) OC-3 / 83 of 8 September 1983, Series A No. 3 (1983), Restrictions on the Death Penalty (Arts. 4(2) and 4 (4) of the American Convention on Human Rights), § 48 Res. No. 23 / 81 Case No. 2141 IACHR, Annual Report 1980 – 81, at 24
d) Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte8 A.P. . / . Österreich (Nr. 20458 / 92 v. 15. 10. 1996) B. . / . die Niederlande (1985), DR 43, S. 198 Briest-Forch . / . Deutschland (Nr. 13578 / 88 v. 12. 7. 1989) Carlin . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 27537 / 95 v. 3. 12. 1997) Coke u. a. . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 38696 / 97 v. 9. 9. 1998) Deumeland . / . die Bundesrepublik Deutschland (1983), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs, Serie A, Nr. 100 Feldbrugge . / . die Niederlande (1983), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs, Serie A, Nr. 99 G. . / . Österreich (1984), DR 38, S. 84 Gaygusuz . / . Österreich (1995), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs, Reports 1996-IV, Nr. 14 J.W. und E.W. . / . Vereinigtes Königreich (1983), DR 34, S. 153 K . / . Bundesrepublik Deutschland, (1988), DR 55, S. 51 Lombardo . / . Italien (1991), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs, Serie A Nr. 149-B M. und M.D. . / . Schweden (Nr. 18436 / 91 und Nr. 19537 / 92, v. 31. 3. 1993) M.R. . / . Slowenien (Nr. 39921 / 98 v. 1. 7. 1998) 8 Soweit die Fundstellen nicht angegeben sind, sind die Fälle entweder über die Website des EGMR (http: //www.echr.coe.int), in den genannten Entscheidungssammlungen oder in den Archiven des Europarats erhältlich.
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Mann . / . Deutschland (Nr. 24077 / 94 v. 15. 5. 1996) Meldrum . / . die Niederlande (1993), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs, Serie A, Nr. 304 Müller . / . Österreich (1975), DR 3, S. 25 Nahon . / . das Vereinigte Königreich (Nr. 34190 / 96 v. 23. 10. 1997) National Federation of Self-Employed . / . das Vereinigte Königreich (1978), DR 15, S. 198 Paruszewska . / . Polen (Nr. 33770 / 96 v. 16. 4. 1998) Pauger . / . Österreich (1996), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs Reports 1997-III, Nr. 38 R.W. . / . Österreich (Nr. 14128 / 88 v. 12. 2. 1990) Salesi . / . Italien (1992), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs, Serie A, Nr. 257-E Schuler-Zgraggen . / . die Schweiz (1992), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs, Serie A, Nr. 263 Shouten . / . die Niederlande (1993), abgedruckt als Annex zur Entscheidung des Gerichtshofs, Serie A, Nr. 304 Soering . / . Vereinigtes Königreich (1989), Serie A, Nr. 161 Styk . / . Polen (Nr. 28356 / 95, v. 16. 4. 1998) Szrabjer und Clarke . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 17004 / 95 und 270011 / 95, v. 23. 10. 1997) Szumilas . / . Polen (Nr. 35187 / 97 v. 1. 7. 1998) T . / . Schweden (1985), DR 42, S. 229 Trickovic . / . Slowenien (Nr. 39914 / 98 v. 27. 5. 1998) Van Breedam . / . Belgien (1989), DR 62, S. 109 Vos . / . die Niederlande (1985), DR 43, S. 190 Wallin . / . Schweden (1988), DR 55, S. 142 X . / . die Bundesrepublik Deutschland (1971), Yearbook 14, S. 522 X . / . die Bundesrepublik Deutschland (1971), Yearbook 14, S. 622 X . / . die Bundesrepublik Deutschland (1976), DR 8, S. 70 X . / . Italien (1977) DR 11, S. 114 X . / . die Niederlande (1971), CD 38, S. 9 X . / . die Niederlande (1967), Yearbook 10, S. 169 X . / . die Niederlande (1973), CD 45, S. 76
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X . / . Österreich (1970), CD 35, S. 109 X . / . Österreich (1978), DR 14, S. 252 X . / . die Schweiz (1980), DR 20, S. 161 X . / . Vereinigtes Königreich (1970), Yearbook 13, S. 892 Nicht veröffentlichte Fälle: Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland (Nr. 13578 / 88 v. 12. 7. 1989) Verfahren gegen Schweden (Nr. 12257 – 12319 / 86 v. 12. 12. 1988)
e) Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Airey . / . Irland (1979), Serie A, Nr. 32 Alberta Union of Provincial Employees . / . Kanada (Nr. 118 / 1982 v. 18. 7. 1986) Azinas . / . Zypern (Nr. 56679 / 00 v. 20. 6. 2002) Behic Ahmet Okay . / . Türkei (Nr. 23161 / 94 v. 29. 6. 1999) Belgischer Sprachenstreit (1968), Serie A, Nr. 6 Belilos . / . Schweiz (1988), Serie A, Nr. 132 Bellet, Huertas, Vialatte . / . Frankreich (Nr. 40832 / 98 v. 12. 3. 1998, Nr. 40833 / 98 v. 6. 4. 1998 und Nr. 40906 / 98 v. 6. 3. 1998) Bensaid . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 44599 / 98 v. 6. 2. 2001) Bielkowski u. a. . / . Polen (Nr. 28356 / 95 v. 16. 4. 1998) Briest-Forch . / . Deutschland (Nr. 13578 / 88 v. 12. 7. 1989) Buchenˇ . / . Tschechische Republik (Nr. 36541 / 97 v. 26. 2. 2003) Carlin . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 27537 / 95 v. 3. 12. 1997) Chrysostomos (1995), Human Rights Law Journal 12 (1991), S. 113 ff. Coke u. a. . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 38696 / 97 v. 9. 9. 1998) D. . / . Vereinigtes Königreich (1997), Reports 1997-III, Nr. 37 Deumeland . / . die Bundesrepublik Deutschland (1986), Serie A, Nr. 100 und Serie B, Nr. 83 Domalewski . / . Polen (Nr. 34610 / 97 v. 15. 6. 1999) Feldbrugge . / . die Niederlande (1986), Serie A, Nr. 99 und Serie B, Nr. 82 Gaygusuz . / . Österreich (1996), Reports 1996-IV, Nr. 14 Golder . / . Vereinigtes Königreich (1975), Serie A Nr. 18
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H.T. . / . Deutschland (Nr. 38073 / 97 v. 11. 10. 2001) Jankovic . / . Kroatien (Nr. 43440 / 98 v. 12. 10. 2000) Jersild . / . Dänemark (1994), Serie A Nr. 298 Johnston and Others . / . Irland (1986), Series A Nr. 112 Koua Poirrez . / . Frankreich (Nr. 40892 / 98 v. 30. 9. 2003) Larioshina . / . Russische Föderation (Nr. 56869 / 00 v. 23. 4. 02) Lazarevic . / . Kroatien (Nr. 50115 / 99 v. 7. 12. 2000) Lithgow . / . Vereinigtes Königreich (1986), Series A. Nr. 102 Lombardo Giancarlo . / . Italien (1992), Serie A, Nr. 249-C Louizidou . / . Türkei (1995), Serie A, Nr. 310 Luedicke, Belkacem and Koc . / . Deutschland (1978), Series A Nr. 29 Mann . / . Deutschland (Nr. 24077 / 94 v. 15. 5. 1996) Marckx . / . Belgien (1979), Serie A, Nr. 31 Massa . / . Italien (1993), Serie A, Nr. 265-B Matthews . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 24833 / 94 v 18. 2. 1999) Matthews . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 40302 / 98 v. 28. 11. 2000 – Zulässigkeitsentscheidung) Matthews . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 40302 / 98 v. 15. 7. 2002) McGlinchey u. a. . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 50390 / 99 v. 29. 7. 2003) Nahon . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 34190 / 96 v. 23. 10. 1997) Okay . / . Türkei (Nr. 23161 / 94 v. 29. 6. 1999) Osman . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 23452 / 94 v. 17. 5. 1996) Paruszewska . / . Polen (Nr. 33770 / 96 v. 16. 4. 1998) Pauger . / . Österreich (1997), Serie A, Reports, 1997-III, Nr. 38 Pearson . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 37526 / 97 v. 11. 5. 1999) Petrovic . / . Österreich (1998), Reports 1998-II, Nr. 67 Pressos Compania Naviera . / . Belgien (1995), Serie A, Nr. 332 Salesi . / . Italien (1993), Serie A, Nr. 257-E Schuler-Zgraggen . / . die Schweiz (1993), Serie A, Nr. 263 Shouten & Meldrum . / . die Niederlande (1994), Serie A, Nr. 304 Sigurjonsson . / . Island (1993), Serie A Nr. 264 Skórkiewicz . / . Polen (Nr. 39860 / 98 v. 1. 6. 1999)
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Sporrong und Lönnroth . / . Schweden (1982), Serie A, Nr. 52 Stevens und Knight . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 28918 / 95 v. 9. 11. 1998) Stran Greek Refineries und Stratis Andreatis . / . Griechenland (1994), Serie A, Nr. 301-B Szrabjer und Clarke . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 17004 / 95 und 270011 / 95 v. 23. 10. 1997) Szumilas . / . Polen (Nr. 35187 / 97 v. 1. 7. 1998) Szyszkiewicz . / . Polen (Nr. 33576 / 96, v. 9. 12. 1999) Van der Mussele . / . Belgien (1983), Serie A, Nr. 170 Van Kück . / . Deutschland (Nr. 35968 / 97 v. 12. 6. 2003) Van Raalte . / . die Niederlande (1997), Serie A, 1997-I, Nr. 29 Vogt . / . Deutschland (Nr. 17851 / 91 v. 2. 9. 1995) Wessels-Bergervoet . / . die Niederlande (Nr. 34462 / 97 v. 4. 6. 2002) Willis . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 36042 / 97 v. 11. 6. 2002) Young, James, Webster . / . Vereinigtes Königreich (1981) Serie A Nr. 44 Z. u. a. . / . Vereinigtes Königreich (Nr. 29392 / 95 v. 4. 4. 2001)
f) Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Entscheidung vom 15. 1. 1986 – Rs C-41 / 84 (Pinna) Entscheidung vom 17. 5. 1990 – Rs. C-262 / 88 (Barber) Entscheidung vom 25. 7. 1991 – Rs. C-345 / 89 (Stoeckel), EuGRZ 1991, S. 421 ff. Entscheidung vom 23. 4. 1991 – Rs. C-41 / 90 (Höfer), EuGRZ 1991, S. 162 ff. Entscheidung vom 16. 12. 1992 – Rs C-206 / 91 (Poirrez) Entscheidung vom 28. 9. 1994 – Rs C-7 / 93 (Beune) Entscheidung vom 17. 10. 1995 – Rs C-450 / 93 (Kalanke) Entscheidung vom 11. 1. 2000 – Rs. C-285 / 98 (Kreill)
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Sachregister Abwehrrecht 238 Admissibility theory 201 Airey . / . Irland 92, 351 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 64, 66, 79, 84 Alters- und Invalidenunterstützung 53, 163 Althammer . / . Österreich 422 Amerikanisch-chinesischer Vertrag 113 Amerikanische Menschenrechtskonvention 101 Amnesty International 31 Anwartschaft 165, 166, 168, 171, 322, 359 Arabische Charta der Menschenrechte 101 Arbeit – Arbeiterbewegung 50, 112 – Arbeiterschutzgesetzgebung 34, 40, 95, 103, 106, 116, 126, 138, 140 f., 502 – Arbeitnehmerrechte 88, 96, 98 – Arbeitsbedingungen 53, 58, 86 ff., 103 ff., 139 f., 177, 250, 312, 334, 337, 394 – Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 333 f. – Arbeitsbeschaffungsprogramm 186 – Arbeitsförderung 130 – Arbeitslosenversicherung 120, 164, 317 ff., 378 – Arbeitslosigkeit 34, 45, 53, 58 ff., 101, 114, 122 ff., 168, 170, 186, 204 ff., 216, 220 f., 253, 292, 294, 303, 308, 312, 314, 317 f., 334, 336, 480 – Arbeitsmarkt 52, 58, 75, 85, 98, 113, 119, 128 f., 216, 254, 315, 333, 335 f., 391 – Arbeitsmigration 103 – Arbeitsrecht 32 f., 52, 107, 119, 175, 262, 271, 377, 398, 411, 499, 556 – Arbeitsunfall 34, 45, 129, 169 f., 221, 335, 365, 440 – Arbeitszeit 86, 104, 114, 116, 121, 139, 190, 257 Arbeitsmarktpolitik 294, 333 Atlantikcharta 56, 64, 125
Audiganne, Armand 109 Aufklärung 45, 49 Ausländer 85, 141 ff., 200, 202, 253, 258, 266, 267, 293, 323, 325, 389 Auslegung 65, 87 ff., 136, 152 ff., 171, 229, 256, 262, 272, 274, 279, 380, 381, 408, 420 Ausschuss – Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau 230 f., 287 (siehe auch CEDAW) – Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung 230 f., 288 (siehe auch CERD) – Ausschuss für die Rechte des Kindes 230 f., 288 (siehe auch CRC) – Ausschuss für Menschenrechte 27 f., 72, 194, 208, 230 ff., 281, 287, 339 ff., 364, 383, 388, 390, 402 ff., 420 ff., 460, 504 (siehe auch ICCPR) – Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 152, 230 ff., 240 ff., 279 ff., 349 (siehe auch ICESCR) – Sachverständigenausschuss der IAO 125, 186, 230, 232, 233, 245, 256 ff., 271, 273, 277, 281, 288, 298 f., 305, 307, 331, 401, 402, 437 – Sozialrechtsausschuss 153, 173, 232 f., 261 ff., 288, 304, 314, 317, 321 f., 337, 390, 401, 416, 418 (siehe auch ESC) Austin, John 430, 432, 434 Ausweisung 80, 82, 145, 146, 148, 180, 266, 367 ff., 416 Autopoietisches System 448, 492 Banjul Charta der Menschenrechte 101 Barber-Fall 343 Behinderte 37, 76, 85 ff., 101, 221, 240, 242, 279, 281, 283, 315, 337, 348, 391, 471
Sachregister Beitragszahlung 162, 169, 357 f., 361 ff. Belgischer Sprachenstreitfall 83 Benchmarking 290 Bensaid . / . Vereinigtes Königreich 367, 368, 371, 383 Berichtspflichten 218, 230, 237, 401 Berichtsverfahren 92, 240, 284 ff., 296, 298, 329 ff., 417 f., 423 Berliner Konferenz 109, 114, 228 Berufskrankheit 34, 45, 53, 100, 121 f., 126, 172, 186, 204 f., 253, 317, 334 f., 406, 440 Beveridge, William 59, 121, 125, 130, 185, 218 Bismarck, Otto v. 50, 106, 111, 130, 185, 218 Blanqui, J.-A. 44, 109, 112 Broeks . / . die Niederlande 28, 339, 341, 390 Brüsseler Vertrag 172 Bundesverfassungsgericht 128, 166, 318, 360 Bürgerliche Grundrechte 44 Bürgerlicher Liberalismus 51
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Case law 37, 92 f., 173, 233, 256, 260 f., 277, 318, 321, 329, 339, 351, 369, 375, 504 CEDAW 67, 69, 73 f., 85, 182, 196, 198 f., 221, 225, 230 f., 237, 246, 274, 285, 287, 296, 339, 349, 383, 392, 399, 406 f., 410, 424, 446, 450, 477 CERD 66, 68, 73 f., 85, 151 f., 182, 221, 225, 230 f., 248, 274, 285, 288, 296, 297, 329, 339, 350, 382, 387, 420, 477, 522 Charta der Grundrechte der Europäischen Union 27, 31, 39, 40, 100, 520 Charta von Bern 120 Churchill, Winston 56 Condorcet, Marquis de 46, 47 CRC 54, 67, 69, 73, 75, 85, 150, 152, 182, 198, 225, 230 f., 248, 274, 285, 288, 296 f., 406, 410, 477
Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work 95, 185, 385 Declaration on Social Progress and Development 77, 179 Declaration on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination 76, 77 Declaration on the Human Rights of Individuals Who are not Nationals of the Country in which They Live 153, 389 Declaration on the Rights of Disabled Persons 76 Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons 76 Deklarationen von Santiago und Havanna 125 Desintegration 42, 400, 462, 464, 486, 496, 499 Destabilisierung 42, 462, 464, 488, 496 Deumeland . / . Deutschland 28, 352 ff., 384 Deutsche Gesellschaft für Sozialreform 190 Diskriminierung 28, 37, 54, 67, 69, 73 f., 85 ff., 128 f., 139, 149, 153, 167, 194, 199, 206, 214, 229, 235, 246, 248, 253, 255, 263 ff., 278, 291, 305 ff., 321 f., 325, 329, 335, 337, 343, 347 ff., 355, 364 f., 372 f., 378, 382, 390, 392, 397, 402, 440 – Diskriminierungsverbot 28, 71 f., 79, 82, 91, 94 f., 150, 160, 174, 196, 198, 234 f., 241 f., 315, 340 f., 344, 355, 364 f., 368, 382, 385, 389, 391 f., 398, 400, 403 f., 411, 415, 422, 430, 477, 504 – Mittelbare Diskriminierung 97, 227, 253, 263, 269, 307, 321 – Positive Diskriminierung 308 – Potentielle Diskriminierung 309, 315, 347, 365, 402 – Unmittelbare Diskriminierung 167, 307, 321 Divergenzen 381, 383 f., 399 f., 405, 425, 442, 489, 504 Doukouré v. Frankreich 345 Ducpétiaux 109, 112 Dynamische Auslegung 241, 276
D. . / . Vereinigtes Königreich 370, 383 Danning vs. die Niederlande 346 Declaration of Philadelphia 52, 57 f., 63, 96, 213
EFA 153 ff., 174, 196, 201 f., 266, 392 EGMR 28 f., 38, 83, 91 f., 137, 148, 152, 173, 194, 237, 255, 260 ff., 274, 281 f., 285, 311, 337, 343, 351 ff., 378 ff., 396,
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Sachregister
402 ff., 407 f., 413, 416, 420 ff., 435, 460, 501, 504, 530 Eigentum 29, 35, 80, 82, 127, 142, 225, 291, 305, 329, 356, 357 ff., 372 f., 378, 412, 478, 504 Eisenacher Übereinkunft 144 EMRK 28, 79 f., 87, 91 ff., 127, 132, 148 ff., 173, 182, 194, 225, 237 f., 260, 264, 273, 278, 285, 329 f., 337 f., 351 ff., 378 ff., 402 ff., 420 ff., 430, 433, 450, 494, 504 Entscheidungsdisharmonie 41, 402, 405, 420, 426 Entwicklungsländer 70, 152, 181, 183, 185 ff., 196, 213 EOSS 84, 90, 132 ff., 187, 205 f., 209 ff., 271, 285, 288, 313, 315, 317, 320, 326 ff., 385, 392, 397 f., 400, 440, 453, 479, 484 Erprobungsgesetz 457 Erziehungsgeld 270, 367 f. ESC 36, 83 ff., 132, 148 ff., 173 f., 182, 205 ff., 221, 224, 225, 232, 233, 237, 242, 261 ff., 304, 312 ff., 335, 337, 351, 355, 372, 379 ff., 385, 387, 390 ff., 398, 401, 406, 409, 413, 416, 418, 423 ff., 430, 433, 440, 442, 450, 453, 494, 542 EuGH 97, 264, 269, 308, 311, 343, 378, 397, 400, 404, 424 Europäische Fürsorgeabkommen (siehe EFA) 200 Europäische Gemeinschaft 30, 97 Europäische Konvention über Soziale Sicherheit 160, 379 Europäische Ordnung für Soziale Sicherheit 36, 133, 207, 391, 480, 132 (siehe auch EOSS) Europarat 31, 36, 79, 81, 99, 102, 132, 141, 154, 165, 172, 182, 205 f., 210, 214, 227, 232, 271, 288, 337, 375, 378, 385, 406, 408, 435, 453, 476, 486, 495, 502 European Convention on the Compensation of Victims of Violent Crimes 155 Existenzminimum 127, 292, 294, 314, 371 f., 461, 484 Export von Leistungen 166, 174, 269 Externalisierung 464, 470 ff
Fabrikgesetzgebung 30, 103 ff., 111 Familienleistungen 34, 62, 75, 85, 95, 100, 126, 134, 170, 186, 202, 204, 221, 237, 264, 267 ff., 294, 314, 317, 322, 347, 367, 416 f. Feldbrugge . / . Deutschland 28, 351 ff. Formalrecht 464, 468, 469 Fortschrittsklausel 84, 90, 316, 320 Forum Shopping 41, 402, 404 Fraenkel, Ernst 484 Französisch-belgisches Abkommen 158 Französisch-italienisches Abkommen 116 Frauenarbeit 54, 105, 115, 453 Freizügigkeit 80, 269 Fremdenrecht 40, 122, 141 ff., 174, 375, 428, 502, 546 Frühkonstitutionalismus 49 Fürsorge 27, 34, 39, 44, 45, 48, 52, 54, 57, 63, 65, 68 f., 72, 76, 78 f., 83 f., 87, 93, 96, 98, 101 f., 104 f., 109 f., 112, 143 ff., 174, 184, 205, 225, 227, 243, 245, 261, 263 ff., 275, 278, 323, 338, 351, 353, 371, 380, 393, 427, 429, 430, 432, 440, 460, 494, 499 f., 502 GATT 139 Gaygusuz . / . Österreich 345, 356 ff., 364, 367, 378, 388, 412 Gegenseitigkeit 117, 146, 162, 165 ff., 202, 375, 389, 412, 428 Gemeinschafts-Charta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer 97 Generalversammlung der Vereinten Nationen 36, 70, 496 Genfer Flüchtlingskonvention 155, 166, 393 Genossenschaftliche Hilfskassen 105 Gewalt gegen Frauen 246 f., 446 Gewohnheitsrecht 201, 410, 434, 436 f., 452, 467, 482 Gleichbehandlung 75, 87 ff., 113, 120, 122, 146, 153, 161, 163 f., 166, 168 ff., 199 f., 205, 208 f., 225, 227, 236, 248, 257 ff., 263 f., 266, 304, 322, 325 f., 341, 355, 372, 388, 410, 412, 440 Golder . / . das Vereinigte Königreich 274, 275 Gothaer Übereinkommen 146 Grotius, Hugo 35, 377, 416, 485
Sachregister Grundsicherungs- und Zusatzsysteme 131 Gueye v. France 150, 342, 344 ff., 386, 388 f. Günstigkeitsprinzip 167, 389, 396, 409 ff., 425 GUS 101, 214 Habermas, Jürgen 41, 104, 444, 462 f., 466, 474, 487 Hahn, Ch. U. 109, 112 Hansenne, Michel 139 f. Hard law 437 f., 455 Harmonisierung 30, 99 f., 103, 114, 116, 118, 163, 183, 189, 225, 407 f. Hart, H. L. A. 430 ff., 445 Hindley, Charles 109, 112 Hinterbliebenenversicherung 159, 164, 255 Hobbes, Thomas 430 ff., 485 Höfer-Fall 401 Hoheitsgewalt 149 Homogenität 189 Humanitätsgedanke 51 Humanitätsintervention 51 IAA 37, 52, 202, 232, 243, 251, 483 ICCPR 28, 66 ff., 81, 132, 148 ff., 182, 194, 196, 198, 208, 225, 230 ff., 272, 274, 277, 281 f., 285, 287, 322, 329, 339 ff., 348, 349, 351, 355, 360, 375, 381, 383, 386 f., 389 f., 397, 403, 406 ff., 420 ff., 430, 477, 494, 504 ICESCR 28, 36, 66 ff., 82, 84, 86 f., 91, 132, 150 ff., 182, 185, 196 ff., 213, 217, 220, 221, 225, 231, 233, 236, 237, 239 ff., 274, 277, 279 ff., 285, 287, 289, 291 ff., 296, 304, 314, 322, 325, 329, 336, 339 f., 349 f., 360, 379 f., 385 f., 390, 397, 398, 401, 403, 408 ff., 423 f., 430, 438, 440, 476 f., 494 IGH 81, 193, 195 f., 202, 232, 249, 257, 272, 283, 433, 435, 437, 455, 474, 503 Ihering, Rudolf von 439 Illegale Wanderarbeitnehmer 171, 254 Individualbeschwerdeverfahren 285, 337 ff., 349 ff., 417, 419, 422, 433, 460 Industrialisierung 106 Informeller Sektor 131, 185, 292 f., 315, 460
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Inklusion 88, 91, 160, 180, 461, 486 Integrationsvölkerrecht 180 International Bill of Human Rights 47, 66, 70 Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (siehe CERD) 74 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (siehe ICCPR) 28 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (siehe ICESCR) 28 Internationales Übereinkommen über den Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienmitglieder (siehe MWC) 67 Invaliditätsversicherung 169, 318, 327, 400 Ius cogens 385, 416, 448, 454 Jakobiner-Verfassung 47 Jellinek, Georg 439 Jenks, Wilfried 32, 37, 57, 94, 168, 249, 252, 377, 381, 383, 392 f., 398, 400, 405, 413, 416, 438, 463, 469, 470 Jersild . / . Dänemark 382 Judicial self-restraint 299 Jugend- und Arbeitsschutz 121 Jurisdiktionsklauseln 417, 426, 505 Justitiabilität 29, 80, 349 f., 375, 428 ff., 437 ff., 459, 494, 505 Kant, Immanuel 55, 430, 432 Kapitalbildungssystem 131 Kelsen, Hans 430 ff. Keynes, John Maynard 65 Kinderarbeit 53, 95, 104, 107, 111, 115, 139, 337 f., 385, 391, 415, 418 Kindergeld 264, 269, 317, 321 Kirchheimer, Otto 41, 462, 482 ff. Koalitionsfreiheit 57 f., 379, 380 Koexistenzvölkerrecht 177 Kollektivbeschwerdeverfahren 285 f., 330 f., 337 f., 374, 417 f. Kollisionsregel 407, 411 Kombinationsstandard 35, 437 Kompatibilität 293, 298, 302, 406, 408 Konflikt 28, 265, 377 f., 380, 382, 411, 413, 487
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Sachregister
Kongress von Genf 146 Kongress von Paris 146 Konkurrenzfähigkeit 104, 107, 110 f. Konsensprinzip 193 Kontrollkomitee 38, 84, 87, 167, 205, 209, 219, 273, 278, 287, 289, 323, 331, 348, 424, 456, 484, 485, 494 Kontrollverfahren 29, 32, 36 f., 40, 84, 124, 133, 173, 228 f., 233, 235, 284 ff., 423, 450, 453, 458, 504 Konvention der IAO – Nr. 2 122, 168, 253 – Nr. 3 89, 122, 127, 168, 252, 254 – Nr. 4 89, 250, 282, 391 – Nr. 5 89 – Nr. 6 89 – Nr. 10 89 – Nr. 11 53 – Nr. 17 122, 215 – Nr. 18 253 – Nr. 19 122, 159, 160, 165, 168, 226, 252, 253 – Nr. 20 250 – Nr. 24 204, 215, 217, 251, 334 – Nr. 25 251 – Nr. 26 121 – Nr. 28 121 – Nr. 29 53, 89, 330, 381 – Nr. 33 89 – Nr. 34 89 – Nr. 35 159, 168 f., 215, 251, 299 f., 331 f., 383 f., 394 ff., 418 – Nr. 36 251 – Nr. 37 169, 331 – Nr. 38 251 – Nr. 39 251 – Nr. 40 251 – Nr. 41 89 – Nr. 44 123, 220, 383 – Nr. 45 89, 382, 406 – Nr. 48 89, 168, 309 – Nr. 59 89 – Nr. 60 89 – Nr. 79 89 – Nr. 87 311, 312 – Nr. 89 406 – Nr. 90 89 – Nr. 97 90, 156, 169, 170
– Nr. 98 94 – Nr. 100 94 – Nr. 102 84, 87, 89 f., 94 f., 126 ff., 169, 181, 183, 185 ff., 204, 206, 208 ff., 220 ff., 226, 242, 243, 251, 258, 268, 271, 273, 281, 292, 293, 299 ff., 309, 310, 313, 315, 319, 320, 326, 327, 328, 332, 336, 378 ff., 409, 424, 440 f., 447, 453, 480, 484, 487 – Nr. 103 89, 94, 127 f. – Nr. 105 94, 330 – Nr. 111 54, 74, 89, 94, 151 f., 304 ff., 335, 402 – Nr. 118 168, 187, 205 f., 209 f., 258, 273, 308 ff., 322, 336 – Nr. 121 89, 94, 129, 169, 212, 215, 255, 273, 334 f., 394 – Nr. 122 219 f., 333, 336, 480 – Nr. 123 89 – Nr. 128 89, 94, 129, 204, 207, 210, 212, 258, 274, 299, 384, 394 f., 397, 400 – Nr. 130 89, 129, 169, 303, 394 – Nr. 135 332 – Nr. 138 89, 331 – Nr. 142 89 – Nr. 143 171, 254, 258 – Nr. 156 90, 127, 128 – Nr. 157 89, 159 f., 168, 274, 479 – Nr. 159 89, 309 – Nr. 167 458 – Nr. 168 130, 212, 220, 274, 458 – Nr. 171 89 – Nr. 178 406 – Nr. 183 89, 127 ff., 212, 216, 219, 274 – Nr. 187 312 – Nr. 198 311, 312 Konvention zum Verbot der Nachtarbeit 189 Kooperationsrecht 176 Koordinierung 31, 116, 146, 157, 164, 165, 183, 402 Kopenhagener Erklärung über soziale Entwicklung 78 Koua Poirrez . / . Frankreich 358 f., 378 Kriegsversehrte 155 Kunz, Josef 41, 462, 486 Larioshina . / . Russische Föderation 371 Lauterpacht, Sir Hersch 36, 38, 49, 50, 55, 176, 192, 283, 432
Sachregister Law and Economics 447 LeGrand, Daniel 108, 110, 112 Lex loci laboris 158, 159 Lex-posterior-Grundsatz 394, 396, 413 Lex-specialis-Grundsatz 416, 417, 425 Lex-superior-Grundsatz 425 Limburg Principles 71, 152, 213 Locke, John 45, 46 Lohnersatzleistung 126, 128, 129, 307, 382 Luhmann, Niklas 35, 41, 400, 429 f., 441 ff., 462, 465, 466 f., 471 f., 477 f., 491, 493, 496, 498 Marckx . / . Belgien 282 Matthews . / . Vereinigtes Königreich 358 Maximalistischer Ansatz 189 Medical Care Recommendation 60, 102, 125 Medizinische Leistungen 134 f., 222, 244 ff., 317 Medizinische Versorgung 60, 154 f., 205, 214, 246, 367 Mehrfachregulierung 377 ff. Menschenrechtskonvention 29, 33, 37, 75, 92, 94, 141, 178, 182, 234, 281, 399, 500 Menschenrechtsschutz 63, 79, 81, 82, 94, 101, 147, 326, 348 Menschenrechtsstandard 35, 50, 55, 184, f., 275, 435, 437 f., 455, 457 Menschenrechtsübereinkommen 73, 198, 225 Menschenwürde 237, 277, 371 Mikroversicherung 131 Mindesteinkommen 58, 292, 325 Mindestlohn 46, 58, 121, 257, 324 Ministerkomitee 93, 136 f., 218, 337, 420, 422, 433 Modellgesetzgebung 191, 208 f. Montesquieu, Charles-Louis de 46, 228 MWC 69, 73, 75, 150, 153, 167, 174, 182, 184, 196, 199, 225, 274, 285, 288, 408 Nachtarbeit von Frauen 119, 179, 391, 400 Nachtarbeitsverbot 189, 250 Naturrecht 46, 429, 431, 465 f., 485 Necker, Jacques 108, 112 New Haven School 448 NGO 31, 286 f., 330, 337, 484
585
Nicht-Beitragsleistung 173, 379 Normenkollision 167, 378 ff., 425 Normenkonflikte 36, 157 ff., 380, 381, 392, 398, 400, 405 ff., 416 f., 422, 425, 504 Normenselektion 423 f. Notfallhilfe 267, 293 Obligations of conduct 221 Obligations of result 221 Opposability theory 194, 201 Opting out 191 Optionsklauseln 219 Overbergh, Cyrille van 142 ff. Owen, Robert 104, 108, 112 Paine, Thomas 46, 47 Parlamentarische Versammlung des Europarats 80, 93, 134, 136 Patriarchalische Fürsorge 46 Pauger . / . Österreich 343, 353, 356, 402 f., 419, 421 Paulskirchenverfassung 49 Pepels . / . die Niederlande 344 Petrovic . / . Österreich 367, 368 Pflegebedürftigkeit 100, 292 Positivität des Rechts 465, 468 Privatisierung 294, 297, 299, 331 f., 477, 484 Produktionskosten 107, 111 Proklamation von Teheran 77 Protokoll von San Salvador 101 Pufendorf, Samuel von 377, 416 Radbruch, Gustav 474 Ratifikation 31, 64, 66, 88, 90, 117, 119, 124, 128, 182 ff., 295 f., 331, 339, 342, 349, 374, 378, 385, 400, 424, 442, 447, 458, 477, 495, 502 Ratifikationsverhalten 182 ff., 187, 442 Recht auf Arbeit 35, 48 f., 50, 54, 72, 85 f., 89, 101, 199, 205, 221, 315, 350 Recht auf Bildung 48, 54, 80, 82, 87, 240, 430 Recht auf Freiheit 51, 258 Recht auf Fürsorge 65, 102, 148, 265 Recht auf Leben 51, 65, 68 f., 72, 83, 85, 142, 153, 238, 247, 258, 277, 416 Recht auf Meinungsfreiheit 33, 382
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Sachregister
Recht auf Sicherheit 32, 65 Recht auf soziale Fürsorge 32 Recht auf soziale Sicherheit 27, 72, 87, 101, 225, 427, 430 (siehe soziale Sicherheit) Recht auf sozialen Schutz 29, 33, 45, 49, 69, 72, 73, 76, 92, 95, 97, 98, 101, 102, 372, 386, 484 (siehe sozialer Schutz) Rechtsetzungsbefugnis 191 Recommendation Concerning Income Security 60, 102 Regulatorisches Trilemma 490 Relative Normativität 42, 427 ff., 505 Rentenansprüche 114, 236, 343, 346, 373, 404 Rentenversicherungsrecht 124 RESC 36, 88 ff., 100, 148, 150, 153, 155, 173, 182, 206, 221, 242, 261 ff., 313 ff., 337, 372, 379, 385, 387, 418, 476, 481 Resolution Concerning Social Security 96, 131, 304 Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen 76, 78 Resolutionen der Internationalen Arbeitskonferenz 54, 122 Resolutionen des Sicherheitsrates 176 Resolutionen des Wirtschafts- und Sozialrates 70, 231, 239 Respect-protect-fulfill 245, 390 Rezeption 42, 430 f., 441, 445, 459, 505 Risikogemeinschaften 106 Roosevelt, Franklin D. 56, 179 Sanktionsmöglichkeit 431, 432, 433 Schlussakte von Helsinki 101 Schmitt, Carl 41, 462, 486 Schuler-Zgraggen . / . Schweiz 355 Schutz älterer Menschen 241 Schutz Behinderter 241 Schutz von Kindern 120, 239, 270 Selbstbeteiligung 135 Self-executing 223, 226, 241 Severability-doctrine 194 Shelving 124, 331 Sinzheimer, Hugo 41, 462 Social insurance era 125, 217 Social security era 217 Soft law 178, 230, 437, 452, 477, 482
Solidarität 99, 131, 263, 304, 319, 332, 375, 461, 470 Souveränität 48, 50, 109, 114, 140, 178, 191, 249 f., 276 f., 283, 371, 466 Sozialdumping 111 Soziale Exklusion 136 Soziale Fürsorge 225, 261, 263, 266, 371, 430, 460 Soziale Gerechtigkeit 53, 122, 162, 469, 485 Soziale Grundrechte 31 ff., 50, 207, 211, 221, 284, 329, 378, 415, 430, 558 Soziale Sicherheit 32 f., 36, 39 f., 54 ff., 63 ff., 83 ff., 125, 130 f., 137, 154, 165, 167, 170, 172, 173, 185, 196 ff., 205 f., 217, 225, 236, 243 ff., 261 ff., 276, 289, ff., 306, 326, 340, 350, 378, 380, 385 ff., 394, 424, 427, 429, 430, 432, 440, 445, 456, 460, 461, 476, 494, 499, 500, 502 Sozialer Schutz 34, 215, 248, 267 Sozialgesetzgebung 105, 108, 110 ff., 120, 138 ff., 158, 163, 171, 190, 210, 218, 504 Sozialhilfe 60, 62, 92, 125, 168, 201, 225, 294, 310, 325, 471 Sozialversicherungsabkommen 60 f., 164 f., 167, 171, 251, 321, 345, 348, 365, 394, 412 Sozialversicherungsmodell 185 Sozialversicherungssystem 40, 60, 116, 165, 168, 307, 310, 316, 322, 334, 335, 363, 365, 389, 397, 417 Staatenberichte 240, 257, 272, 286, 298, 314 Staatenbeschwerdeverfahren 260, 284 ff., 329 f., 337, 417, 419 Staatsangehörigkeit 37, 81, 115, 143, 145, 150 ff., 157, 162 ff., 213, 263, 308, 309, 325, 335 f., 344 ff., 364, 375, 378, 379, 387 ff., 500, 504, 519, 541 Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities 76, 242 Steuerungsfähigkeit des Rechts 489 ff. StIGH 175, 192, 232, 249 f., 253, 276, 282, 391, 475 Streikrecht 224, 279, 291, 311 f., 379 Subsysteme 487, 490 f., 495 Systemkohärenz 408, 434
Sachregister Teubner, Gunther 31, 430, 434, 448 ff., 457, 462 f., 469, 490 ff. Trial and error 457 Triparitäre Struktur 95, 251, 387 Tripartismus 133 Übereinkommen über die Rechte des Kindes (siehe CRC) 69 Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen 155, 166 Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (siehe MWC) 75 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (siehe CEDAW) 73 Umverteilungssystem 166, 461 Ungleichbehandlung 27, 82, 154, 162, 172, 197, 248, 291, 308 ff., 336, 340, 342 ff., 355 f., 362, 364 ff., 372 f., 400, 422, 494 f., 504 Van Kück . / . Deutschland 368 Van Oord . / . die Niederlande 345 Van Raalte . / . die Niederlande 366 Vattel, Emer de 377, 416 Verbindlichkeit 373 f., 428, 431, 435, 438, 447, 459, 505 Vereinheitlichungsdoktrin 419 Vereinigungsfreiheit 33, 52 f., 64, 68, 79, 86, 94 f., 139, 205, 257, 279, 311 f., 337, 385 f., 409, 415, 430, 481 Vereinte Nationen 102, 231, 287 f., 408, 495 Verfassung der IAO 52 f., 96, 124, 176 f., 202, 249, 251, 257, 286, 331, 333, 409, 481, 497, 503 Verhältnismäßigkeitsprinzip 440 Verrechtlichung 41 f., 104, 180, 455, 460 ff. Versicherungsschutz 62 Vertrag über die Europäische Union 99 Vertrag von Brüssel 51 Vertrag zwischen Frankreich und Großbritannien 117 Vertragskonkurrenzen 425 Vienna Declaration and Programme of Action 78 Villermé, Louis Réné 109 Vitoria, Francisco de 50
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Völkerbund 51 f., 57, 414 Völkermord-Konvention 195 Vogt . / . Deutschland 351, 402 Vorbehalt 40, 152 ff., 192 ff., 227, 266, 267, 420, 422, 424, 467, 475, 503 Vorsorge 45, 52, 58 ff., 61, 109, 115, 156, 180, 352, 360, 423, 440 Vorwohnzeit 322, 325, 379 Vos . / . die Niederlande 112, 343 f., 404, 531 Vulnerable groups 294 Wahlmöglichkeiten 41, 129, 192, 204 ff., 211, 213, 218 f., 222, 227, 391, 467, 503 Wanda Paruszewska . / . Polen 373, 392 Wanderarbeitnehmer 67, 69, 73, 86, 90, 131, 150, 153, 156, 167, 171 f., 184, 187, 206, 225, 254, 270, 288, 291, 347, 398 Wandererkonkurrenzargument 114 Warenkonkurrenzargument 107, 112 Weber, Max 247, 431, 432, 468 Weiterbildung 58, 89, 337 Weltbank 31, 124, 186 Weltfrauenkonferenz 349 Wertegemeinschaft 177, 392 Wessels-Bergervoet . / . die Niederlande 358, 367, 404 Wettbewerb 30 f., 51, 106, 177, 277 Wiener Menschenrechtskonferenz 349 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge 394, 395, 193 Wilhelm II. 44, 114, 115 Winant, Howard 59 Wohlfahrtsstaat 65, 105 f., 164, 179, 180, 371, 472, 478, 496, 572 Wohltätigkeitskongress in Kopenhagen 143, 146, 154 Wolff, Christian 46 Wolowski, Ludwig 109 WTO 136, 139 Würde des Menschen 451 Z. . / . Vereinigtes Königreich 369 Zoll- und Handelsabkommen 138, 139, 140 Zunft- und Gesellenordnungen 105 Zwaan de Vries . / . die Niederlande 339 Zwangsarbeit 54, 89, 94 f., 257, 331, 337, 381, 385, 415, 416, 423