Selbstgebung und Selbstgegebenheit: Zur Bedeutung eines universalen Phänomens 9783495817513, 9783495489024


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Table of contents :
Inhalt
Einführung und Vorwort des Herausgebers
I. Die Phänomene der Selbstgegebenheit und der Selbstgebung und ihre Manifestationsformen (phänomenologisch, metaphysisch-ontologisch, personal)
Markus Enders: Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit
1. Zur Aufgabenstellung des Beitrags
2. Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit als die beiden grundlegenden Formen einer reflexiven Gabe-Beziehung – ihre Gemeinsamkeiten und ihre Differenzen
3. Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit als zwei personale Formen einer reflexiven Gabe-Beziehung im Unterschied zum apersonalen »Es gibt« als dem Geber von Gegebenheiten
4. Exemplarische phänomenale Kontexte der Manifestation des Phänomens der Selbst-Gebung
4.1. Die phänomenologische Bestimmung der Selbst-Gebung: Phänomenale Selbst-Gebung als die Wesensverfassung von Phänomenalität überhaupt
4.2. Die strikte ontologische Bestimmung der Selbst-Gebung: Selbst-Gegebenheit und Selbst-Gebung als seinsmäßiges Konstitutivum von Personen
4.3. Die personale Bestimmung von Selbst-Gebung: Freiwillige Selbst(hin-)Gabe und ihre Erscheinungsformen
4.4. Die religiöse Bestimmung von Selbst-Gebung: Selbst-Gebung als ein religiöses Prinzip in den Religionen – ihre subjektive und ihre objektive Seite
4.5. Die graduelle Verwirklichung der Selbst-Gebung in den monotheistischen Weltreligionen
4.6. Die Selbst-Gebung einer transzendenten Macht als ein universales Prinzip der Religionen und als das Wesen personaler Liebe
Iris Hennigfeld: Phänomenologische Selbstgegebenheit und »Vertikale« Erfahrung
1. Einleitung
2. Der phänomenologische Begriff der Gegebenheit und Selbstgegebenheit
3. Selbstgegebenheit in der generativen Phänomenologie (Anthony J. Steinbock)
4. Zur Phänomenologie vertikaler Erfahrungen
Siegfried Rombach: Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart
1. Die Linearstruktur der Gabe
2.1. Die linear-zirkuläre Struktur der Selbstgabe
2.2. Die vollständige Zirkelstruktur der Selbstgabe
3. Die Grundlegung der zirkulären Selbstgabe bei Meister Eckhart
4. Die zirkuläre Struktur der Selbst-Gebung in Eckharts Predigt 76
5. Die Frage nach dem »Wie« des einheitlichen Selbstvollzugs
Amanda Viana de Sousa: Die Selbstgabe des göttlichen Lebens in Meister Eckharts Metaphysik der Einheit
1. Einführung
2. Das Leben als das Sich-Selbst-Geben Gottes
3. Die Seele als das Prinzip des Lebens
4. Das absolute Empfangen
5. Die dynamische Einheit Gottes
Karsten Koreck: Selbstgebung Gottes und Theodizee
1. Zur Differenzierung des Theodizeeproblems
2. Das Theodizeeproblem als logisches Widerspruchsproblem
2.1. Inkompatibilistische Positionen
2.2. Kompatibilistische Positionen
2.2.1. Die Philosophische Theodizee
2.2.2. Die Philosophische Verteidigung des Theismus
3. Theologische Perspektive – Die Selbstgebung Gottes
3.1. Das Wesen der Liebe
3.2. Die Selbstgebung Gottes als Antwort auf die empirische und existenziell motivierte Theodizeefrage
Frank Schlesinger: Offenbarung als Re-entry Gottes
1. Einleitung: Selbstgebung in komplementären wissenschaftlichen Zugängen
2. Systemtheoretische Prämissen von Luhmanns Religionstheorie
2.1. Luhmanns Husserl-Rezeption
2.1.1. Der husserlsche Horizontbegriff
2.1.2. Husserls Erkenntnistheorie
2.2. Luhmanns Religionstheorie
3. Die Kontingenzformel Gott
3.1. Die Funktion der Kontingenzformel
3.2. Die evolutionäre Sequenz des Gottesbegriffs
3.2.1. Die tribal-segmentäre, archaische Gesellschaft: Geheimnis
3.2.2. Die stratifikatorische Hochkultur: Paradoxie
3.2.3. Die funktional ausdifferenzierte, moderne Gesellschaft: externe funktionale Analyse
3.3. Zusammenfassung: Luhmanns Beobachter-Gott
4. Die Selbstgebung Gottes im Re-entry
4.1. Theologie im Anschluss an Luhmann
4.2. Die Re-entry-Iteration
4.2.1. Kosmogonisches Beispiel: Schöpfung
4.2.2. Räumliches Beispiel: Tempel
4.2.3. Zeitliches Beispiel: Engel
4.3. Die Selbstbeobachtung und die Selbstgebung Gottes
4.4. Das zentrale Christusereignis
5. Fazit: Selbstgebung im Anschluss an Luhmann
II. Religiöse Erscheinungsbereiche des Phänomens der Selbstgebung
Riku Yokoyama: Offenbarung und Glückseligkeit bei Max Scheler
1. Einleitung
2. Das religiöse Erlebnis und die Offenbarung des Göttlichen
3. Das emotionale Erlebnis als Wertgefühl
4. Glückseligkeit und das Heilige
5. Schluss
Sarah Eichner: Die Idee der Hierophanie bei Mircea Eliade
1. Einleitung: Die Integralität von Eliades Werk
2. Zum Begriff der Hierophanie und dem Einbruch des Heiligen
3. Die Erfahrungsdimension der Religionsphänomenologie
4. Das Ewige im Menschen. Zur Eliades Idee des ›homo religiosus‹
5. Schlusswort: Entfremdung und Sehnsucht des modernen Menschen
Adrian Navigante: Die Lehre des avatāra: Selbst-Gebung und Gewalt in der Bhagavad Gītā
1. Einleitung: avatāra und incarnatio
2. Die Bhagavad Gītā im Kontext, Selbst-Offenbarung und göttliche Gewalt
3. Mythischer und kosmologischer Hintergrund der avatāra-Lehre
4. Selbst-Offenbarung und Restitution des dharma, oder der Sinn des göttlichen Eingriffs für den Menschen
5. Schlusswort: Zur Wirkungsgeschichte der avatāra-Lehre, oder die Polarisierung von Krieg und Liebe
Thomas Reitzig: »In welchen Erscheinungsformen lässt sich Selbst-Gebung als religiöses Prinzip im chinesischen Daoismus identifizieren?«
1. Einführung
2. Die Entwicklung und die verschiedenen Ausprägungen des Daoismus
3. WER kann im religiösen Daoismus Subjekt einer Selbst-Gebung sein?
4. WAS kann im religiösen Daoismus Gegenstand einer Selbst-Gebung sein?
5. WIE kann ein Angehöriger des religiösen Daoismus eine Selbst-Gebung erkennen?
6. WEM kann im religiösen Daoismus eine Selbst-Gebung gelten?
7. WARUM sollte im religiösen Daoismus eine Selbst-Gebung angenommen werden können?
8. Zusammenfassung
III. Ein Beispiel für die psychoanalytische und die literaturwissenschaftliche Bedeutungsdimension von »Selbstgebung«
Ullrich Glatthaar: Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung und ihre Bedeutung für das Motiv der Selbstsuche und Selbstfindung im literarischen Werk Hermann Hesses
1. Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung
1.1. Einführung – die zentralen Kernanliegen
1.2. Die Individuation als ein Weg der Verwirklichung der Selbst-Gegebenheit
1.3. Eine Wesensbestimmung der Selbst-Gegebenheit individueller Identität
2. Die Bedeutung der Analytischen Psychologie C. G. Jungs für das Motiv der Selbstwerdung im literarischen Werk Hermann Hesses
2.1. Hesses einflussreiche Begegnung mit der Psychoanalyse
2.2. Das Motiv der Selbstwerdung in drei ausgewählten Romanen
2.2.1. Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend (1919) – Selbstwerdung als ein Hören auf Gottes Stimme in uns
2.2.2. Siddhartha (1922) – Selbstwerdung durch persönliche Erfahrung
2.2.3. Der Steppenwolf (1927) – Selbstwerdung durch psychologisches Bekenntnis
3. Fazit
Epilog
Sils Maria – Rettung aus Todesgefahr
Index
Personenindex
Sachindex
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Selbstgebung und Selbstgegebenheit: Zur Bedeutung eines universalen Phänomens
 9783495817513, 9783495489024

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Seele, Existenz und Leben Band 30

Markus Enders (Hg.)

Selbstgebung und Selbstgegebenheit Zur Bedeutung eines universalen Phänomens

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817513

.

B

Markus Enders (Hg.)

Selbstgebung und Selbstgegebenheit

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Seele, Existenz und Leben Band 30:

Markus Enders (Hg.)

Selbstgebung und Selbstgegebenheit Zur Bedeutung eines universalen Phänomens

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Markus Enders (Ed.) Self-giving and self-givenness On the meaning of a universal phenomenon Self-giving and self-givenness are the two fundamental forms of a reflexive and personal relationship of giving. This collective volume explains its basic structures and shows examples of its most important phenomenal forms of manifestation. The understanding of the factual priority of the general areas of manifestation of being and realisation for the ultimately uniform phenomenon of self-giving and self-givenness over the specific areas of manifestation of religions as well as psychoanalysis and literature are the underlying structuring elements of this book. Accordingly, the first part of this collective volume renders the phenomenological, the metaphysical, the ontological and the personal dimension of meaning. The second part renders the religious (by means of the so-called archaic religions, and the Hindu religions of Shaivism and Tantrism, and the Chinese Daoism and lastly the monotheist revealed religions). The third part renders the psychoanalytic and the literary and thereby altogether the universal relevance of this original phenomenon.

The editor: Professor Markus Enders, born 1963, studied philosophy, Catholic theology and religious sciences at Freiburg University and Munich University. He completed his PhD in philosophy in 1991 and qualified as a professor in this subject in 1997. He completed a further PhD in Catholic theology. He is Professor of Christian Philosophy of Religion at the Faculty for Catholic Theology at Freiburg University since 2001.

https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Markus Enders (Hg.) Selbstgebung und Selbstgegebenheit Zur Bedeutung eines universalen Phänomens Selbstgebung und Selbstgegebenheit sind phänomenologisch, metaphysisch, religionswissenschaftlich, soziologisch, psychoanalytisch und literarisch bedeutsame Phänomene. Dementsprechend wird der Grundlegungsanspruch einer ursprünglichen »Gabe«-Wirklichkeit sowohl von einer phänomenologisch als auch einer metaphysisch orientierten Religionsphilosophie hervorgehoben. Andere Beiträge des Bandes untersuchen die soziologische und die universale religiöse Relevanz dieser Phänomene, u. a. anhand von archaischen Religionen, Shivaismus und Tantrismus, chinesischem Daoismus und sog. Offenbarungsreligionen.

Der Herausgeber: Prof. DDr. Markus Enders, Jahrgang 1963, studierte Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft an den Universitäten Freiburg im Breisgau und München. Dort promovierte er 1991 in Philosophie, habilitierte sich in diesem Fach 1997 und promovierte 1999 in katholischer Theologie. Seit 2001 ist er Ordinarius für Christliche Religionsphilosophie in der Fakultät für katholische Theologie der Universität Freiburg.

https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Seele, Existenz und Leben Herausgegeben von Rolf Kühn und Frédéric Seyler Forschungsstelle für jüngere französische Religionsphilosophie, Forschungskreis Lebensphänomenologie, Universität Freiburg i. Br und Department of Philosophy DePaul University, Chicago Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Erzdiözese Freiburg im Breisgau.

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48902-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81751-3

https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Inhalt

Einführung und Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . .

I.

9

Die Phänomene der Selbstgegebenheit und der Selbstgebung und ihre Manifestationsformen (phänomenologisch, metaphysisch-ontologisch, personal)

Markus Enders: Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit. Zur universalen (phänomenologischen, ontologischen, personalen und religiösen) Bedeutung zweier reflexiver und personaler Gabe-Beziehungen . . . . . . . . . . . .

17

Iris Hennigfeld: Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Siegfried Rombach: Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart. Phänomenologische Grundstrukturen der Selbst-Gebung als konstituierender Selbstvollzug existenzieller Freiheit . . . . . . . . . . .

59

Amanda Viana de Sousa: Die Selbstgabe des göttlichen Lebens in Meister Eckharts Metaphysik der Einheit . . . . . . . .

79

Karsten Koreck: Selbstgebung Gottes und Theodizee. Die Selbstgebung Gottes als theologische Antwort auf die empirische und existenziell motivierte Theodizeefrage . .

91

7 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Inhalt

Frank Schlesinger: Offenbarung als Re-entry Gottes. Selbstgebung in Niklas Luhmanns systemtheoretischer Deutung von Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . 112

II.

Religiöse Erscheinungsbereiche des Phänomens der Selbstgebung

Riku Yokoyama: Offenbarung und Glückseligkeit bei Max Scheler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Sarah Eichner: Die Idee der Hierophanie bei Mircea Eliade . . 151 Adrian Navigante: Die Lehre des avatāra: Selbst-Gebung und Gewalt in der Bhagavad Gītā . . . . . . . . . . . . . . . 160 Thomas Reitzig: »In welchen Erscheinungsformen lässt sich Selbst-Gebung als religiöses Prinzip im chinesischen Daoismus identifizieren?« . . . . . . . . . . . . . . . . 175

III. Ein Beispiel für die psychoanalytische und die literaturwissenschaftliche Bedeutungsdimension von »Selbstgebung« Ullrich Glatthaar: Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung und ihre Bedeutung für das Motiv der Selbstsuche und Selbstfindung im literarischen Werk Hermann Hesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . 229

8 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Einführung und Vorwort des Herausgebers

Der vorliegende Sammelband geht auf ein erweitertes Forschungsund Doktoranden-Kolloquium des Arbeitsbereichs (= AB) Christliche Religionsphilosophie im Institut für Systematische Theologie an der Universität Freiburg in Breisgau zurück, das vom 10.– 17. 09. 2016 im Silser Hof in Sils Maria im Schweizerischen OberEngadin durchgeführt wurde. Die Wahl dieses landschaftlich mitten auf der geschützten Hochebene zwischen Silsersee und Silvaplanersee malerisch gelegenen und daher geistig in hohem Maße inspirierenden Hochgebirgsortes Sils Maria für unsere Klausurtagung verdanken wir Herrn Karl Hillebrand, dem langjährigen Leiter des Colloquium politicum an der Universität Freiburg im Breisgau. Herr Hillebrand hat uns während unseres Aufenthalts in Sils Maria begleitet und unsere wenigen Ausflüge während dieser Zeit mit einer für einen nicht Ortsansässigen außergewöhnlichen Ortskundigkeit und Begeisterungsfähigkeit für die Schönheiten dieser beeindruckenden Natur- und Kulturlandschaft geleitet. Dafür sei ihm auch an dieser Stelle im Namen aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf das herzlichste gedankt. Mit dem christlichen Tagungshaus des Silser Hofes verbinden sich für Karl Hillebrand darüber hinaus auch lebendige Erinnerungen an die Doktoranden-Kolloquien, die der Erstinhaber des Lehrstuhls für Christliche Religionsphilosophie an der Universität Freiburg, Bernhard Welte, über viele Jahre hinweg regelmäßig einmal im Jahr dort abgehalten hat. Einen Ausflug am Sonntag, den 11. 09. 2016, hat Herr Hillebrand allerdings nicht geleitet – mit beinahe katastrophalen Folgen für die Teilnehmer dieser Hochgebirgswanderung von der Fuorcla Surlej auf den Piz Murtel. Von deren wider Willen dramatischem und lebensgefährlichem Verlauf und letztlich doch noch glücklichem Ausgang berichtet eine Ode, die trotz ihres nicht wissenschaftlichen Charakters deshalb in diesen Tagungsband aufgenommen worden ist, weil die existenzielle Grenzerfahrung, die sie beschreibt und dichte9 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Einführung und Vorwort des Herausgebers

risch zu deuten versucht, nicht nur für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Teilnehmer an dieser Wanderung als einer Schicksalsgemeinschaft prägend, sondern auch für die akademischen Diskussionen auf dieser Klausurtagung stimulierend und befruchtend geworden ist. Denn sowohl der Ernst unserer existenziellen Verpflichtung zur persönlichen Selbst-Gebung als auch die vollkommen ungeschuldete Selbst-Gabe jener höheren Daseinsmacht, aus der wir täglich leben dürfen, wurde uns durch diese Grenzerfahrung in einem radikalen, erschütternden Ausmaß neu bewusst. Die Teilnehmer dieser Klausurtagung, die ihren Beitrag zu dieser Tagung in überarbeiteter, die Ergebnisse der Diskussionen nach den einzelnen Vorträgen sowie der Abschlussdiskussion berücksichtigender Form für diesen Tagungsband dankenswerterweise zur Verfügung gestellt haben, kommen aus dem Doktorandenkreis des AB Christliche Religionsphilosophie, erweitert um zwei auswärtige Doktorandinnen (Frau Sarah Eichner und Frau Iris Hennigfeld) sowie um den Director of Research and Intellectual Dialogue der »India-Europe Foundation for New Dialogues« (Rom), Herrn Dr. Adrian Navigante. Dem inhaltlichen Aufbau des vorliegenden Sammelbandes liegt die Einsicht in den sachlichen Vorrang der für die Phänomene der Selbst-Gegebenheit und der Selbst-Gebung allgemeinen Manifestationsbereiche des Seins und des Erkennens gegenüber den speziellen Manifestationsbereichen der Religionen sowie der Psychologie und der Literatur zugrunde: Daher ist nach der einführenden, kontrastiv-komparativen Bedeutungsbestimmung von Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit als der beiden grundlegenden Formen einer personalen und reflexiven Gabe-Beziehung und einer Erläuterung ihrer phänomenalen Manifestationsformen (phänomenologisch, strikt ontologisch, personal, religiös) durch den Herausgeber der erste Teil dieses Sammelbandes der phänomenologischen Grundbedeutung von Selbst-Gegebenheit und Selbst-Gebung gewidmet, und zwar im ersten Beitrag (von Iris Hennigfeld) in der Phänomenologie Edmund Husserls und im zweiten Beitrag (von Siegfried Rombach) in Bezug auf Selbst-Gebung als Selbst-Vollzug in der Theorie der Selbstreferenzialität des Verstehens im freien Existenzvollzug bei Meister Eckhart. Die metaphysische Bedeutungsdimension dieser ursprünglichen Gabe-Wirklichkeit als Selbst-Gebung und -offenbarung einer relationalen Einheit bzw. eines ersten Seins oder eines absoluten Geistes in der Einheitsmetaphysik Meister Eckharts thematisiert der Beitrag von Amanda De Sousa. In eins damit wird die Dimension einer mög10 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Einführung und Vorwort des Herausgebers

lichen Offenbarung dieses Absoluten im Bereich erscheinender Vielheit eröffnet. Dass die christlich geglaubte Selbst-Gebung Gottes in der Person Jesu Christi als theologische Antwort auf die empirische und auf die existenziell motivierte Theodizeefrage verstanden werden kann, zeigt der Beitrag von Karsten Koreck. Die Bedeutung von Selbst-Gebung in Niklas Luhmanns systemtheoretischer Bestimmung religiöser Offenbarung deckt der Beitrag von Frank Schlesinger auf. Mit dem Beitrag von Riku Yokoyama über den Selbst-Gebungscharakter religiöser Offenbarung sowie des Heiligen im Verständnis der Religionsphänomenologie Max Schelers ist bereits der Übergang zum zweiten Teil dieses Sammelbandes vollzogen, in dem die religiöse Relevanz dieses Phänomens zunächst religionsphänomenologisch (im Beitrag von Riku Yokoyama), dann auch religionswissenschaftlich – im Beitrag von Sarah Eichner zur Dimension der Selbstgabe transzendenter Wesen in den sog. archaischen bzw. Natur-Religionen nach dem bedeutenden Religionswissenschaftler Mircea Eliade –, ferner indologisch – im Beitrag von Adrian Navigante zum Thema der heilsstiftenden Selbstmanifestation des Göttlichen, d. h. zur Lehre des avatára, im Hinduismus – und schließlich in dem Beitrag von Thomas Reitzig zur heilswirksamen Selbstvermittlung als einem religiösen Prinzip im chinesischen Daoismus auch sinologisch reflektiert wird. Last but not least zeigt der Beitrag von Herrn Ullrich Glatthaar am Beispiel des Psychoanalytikers C. G. Jung die psychoanalytische und am Beispiel des Motivs der Selbstsuche und der Selbstfindung im literarischen Werk Hermann Hesses auch die literarische Bedeutungsdimension der Thematik der Selbst-Gebung eindrucksvoll auf. Dieses Kaleidoskop an minutiös ausgearbeiteten Beiträgen auch zu dem zweiten Teil des vorliegenden Sammelbandes soll einen Eindruck von dem schier unermesslichen Reichtum der Bedeutungsfülle der Selbst-Gebung als eines religiösen Prinzips vermitteln. Dass die genannte Klausurtagung in Sils Maria überhaupt durchgeführt und der hier vorliegende Sammelband publiziert werden konnte, verdanken wir dem höchst dankenswerten Einsatz einiger Personen und der großzügigen Förderung und Unterstützung durch einige Institutionen. Von den Personen und den Institutionen sei an erster Stelle der Director of Research and Intellectual Dialogue der »India-Europe Foundation for New Dialogues« (FIND, Rom), Herr Dr. Adrian Navigante, genannt, dessen großem Einsatz wir es maßgeblich zu verdanken haben, dass die Foundation sozusagen das 11 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Einführung und Vorwort des Herausgebers

Startkapital für die Planung unserer Tagung mit einem großzügigen Förderbetrag zur Verfügung gestellt hat, wofür ich ihrem Direktor, Herrn Jacques Cloarec, im Namen aller Beiträgerinnen und Beiträger dieses Sammelbandes auch an dieser Stelle meinen ganz herzlichen Dank aussprechen möchte. Darüber hinaus hat FIND in Form der beiden Vorträge von Herrn Dr. Navigante und Frau Sarah Eichner, die in nochmals überarbeiteter Gestalt als Beiträge in diesen Tagungsband aufgenommen worden sind, zum Gelingen dieser Tagung und ihrer Dokumentation im vorliegenden Sammelband auch einen erheblichen intellektuellen Beitrag geleistet. Danken möchte ich an zweiter Stelle der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg im Breisgau und hier besonders Ihrem Vorsitzenden Herrn Prof. Dr. KarlReinhard Volz, für Ihre ebenfalls großzügige Förderung dieser Klausurtagung, ohne die wir diese nicht hätten durchführen können. Danken möchte ich der Erzdiözese Freiburg im Breisgau für Ihre großzügige finanzielle Unterstützung der Drucklegung dieses Sammelbandes sowie dem Verein der Freunde der Theologischen Fakultät der Univ. Freiburg für seine freundliche Förderung unseres Kolloquiums. Mein Dank gilt an dieser Stelle aber auch nochmals Herrn Karl Hillebrand, der durch die Beharrlichkeit seiner Hinweise auf Sils Maria als einem möglichen Tagungsort für ein Doktoranden-Kolloquium unseres Arbeitsbereichs uns für diese Idee überhaupt erst begeistert hat. Danken möchte ich an dieser Stelle besonders herzlich auch Herrn Thomas Reitzig für einen Dienst, ohne den ich nach meinen Verletzungen auf der Hochgebirgswanderung zum Piz Murtel die Klausurtagung im Silser Hof gar nicht mehr hätte selbst durchführen und leiten können: Für seine tägliche Fahrt mit seinem privaten PkW zum Hospital in Samedan, in dem meine Wunden versorgt und neu verbunden werden mussten. Nicht weniger herzlich danken möchte ich in diesem Zusammenhang auch meinem Doktoranden, Herrn Ullrich Glatthaar, für die behut- und einfühlsame, wie selbstverständlich geübte pflegerische Fürsorge, die er mir während unseres Aufenthalts im Silser Hof nach meinen Verletzungen in meinem hilfsbedürftigen Zustand hat zuteilwerden lassen. Für diesen selbstlosen Dienst werde ich ihm zeitlebens dankbar sein. Ein ganz großer Dank, den Worte nicht angemessen ausdrücken können, gilt meinem überaus hilfsbereiten und tatkräftigen Mitarbeiter, Herrn Karsten Koreck, für seine selbstlose Unterstützung bei der Durchführung unserer Klausurtagung und vor allem für seinen un12 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Einführung und Vorwort des Herausgebers

ermüdlichen und ungemein sorgfältigen Einsatz in der professionellen redaktionellen Betreuung dieses Sammelbandes. Herr Koreck hat sich für diesen Sammelband in vorzüglicher Weise verdient gemacht. Von ganzem Herzen Dank sagen möchte ich an dieser Stelle auch der Sekretärin unseres Arbeitsbereichs, Frau Ulrike Müller, für ihren wirklich großen und unermüdlichen Einsatz bei der Bewältigung der mit unserer Klausurtagung und ihrer Dokumentation in diesem Tagungsband verbundenen mühevollen administrativen Arbeiten. Ohne ihren großartigen Einsatz wäre unserer Tagung kein Gelingen beschieden gewesen. Schließlich danke ich meinem hoch geschätzten Kollegen, Herrn Univ.-Doz. Dr. Rolf Kühn, für seine freundliche Aufnahme dieser Arbeit in die von ihm herausgegebene, lebensphänomenologisch orientierte Reihe »Seele, Existenz, Leben« im Verlag Karl Alber. Dessen Leiter, Herrn Lukas Trabert, danke ich für die freundliche verlegerische Betreuung dieses Sammelbandes, dem ich auch und nicht zuletzt um der existenziellen Relevanz seines Themas der Selbst-Gebung willen eine zahlreiche, interessierte und wohlwollende Leserschaft wünsche. Freiburg, den 21. 06. 2017

Markus Enders

13 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

I. Die Phänomene der Selbstgegebenheit und der Selbstgebung und ihre Manifestationsformen (phänomenologisch, metaphysisch-ontologisch, personal)

https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Markus Enders (Freiburg im Breisgau)

Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit Zur universalen (phänomenologischen, ontologischen, personalen und religiösen) Bedeutung zweier reflexiver und personaler Gabe-Beziehungen 1.

Zur Aufgabenstellung des Beitrags

»Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit« stellen zwei Formen einer Gabe-Beziehung dar. Dabei besitzen diese beiden nahezu gleichlautenden Termini trotz ihrer großen phonetischen und semantischen Ähnlichkeit zugleich auch eine semantische Differenz. Worin genau besteht die semantische Gemeinsamkeit und worin liegt die semantische Differenz beider Termini? Ihre phonetische Ähnlichkeit dürfte ein Indikator dafür sein, dass sie zwei Seiten ein und desselben Phänomens bezeichnen. Um welches Phänomen könnte es sich dabei handeln? Worin besteht dessen behauptete »universale Bedeutung«? Und schließlich: In welchen Kontexten werden diese Termini wie bestimmt? Diesen Fragen soll der vorliegende Beitrag nachgehen, ohne sie freilich hinreichend und abschließend behandeln zu können. Denn gerade weil es sich hier um ein zentrales Phänomen der sogenannten objektiven Wirklichkeit von universaler Bedeutung handelt, kann es in dem diesem Beitrag vorgegebenen Rahmen nur in allgemeiner Form und somit nur annäherungsweise, nicht aber ausführlich oder gar erschöpfend behandelt werden.

2.

Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit als die beiden grundlegenden Formen einer reflexiven Gabe-Beziehung – ihre Gemeinsamkeiten und ihre Differenzen

Während der Terminus der Selbst-Gegebenheit ein Sich-selbstGegeben-Sein und damit ein zugleich reflexives und scheinbar auch passives Gabe-Verhältnis zum Ausdruck bringt, expliziert der substantivische Terminus der Selbst-Gebung ein zugleich reflexives und offenkundig aktives Gabe-Verhältnis. Damit handelt es sich in beiden Fällen zunächst einmal um ein reflexives, d. h. selbstbezügliches, 17 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Markus Enders

Gabe-Verhältnis. Ein reflexives Gabe-Verhältnis ist grundsätzlich dadurch bestimmt, dass das Subjekt der Gebung und dessen Objekt, d. h. das Gegebene, identisch sind, nämlich das Selbst. Bei der Selbst-Gegebenheit ist dieser reflexive Charakter der Gabe-Beziehung noch einmal, und zwar maximal, potenziert bzw. gesteigert: Denn in diesem Fall nimmt das Selbst nicht nur die genannten zwei Stellen, sondern alle drei Stellen der dreistelligen Relation eines Gabe-Verhältnisses ein. Bei der Selbst-Gegebenheit ist daher das Selbst nicht nur der Geber und das Gegebene bzw. die Gabe, sondern auch der Empfänger der Gabe, mit anderen Worten: Hier gibt das Selbst sich selbst sich selbst. Reflexive Gabe-Verhältnisse sind grundsätzlich von nicht-reflexiven Gabe-Beziehungen zu unterscheiden. Letztere, d. h. nicht-reflexive, Gabe-Beziehungen liegen bereits dann vor, wenn der Geber etwas substantiell Anderes gibt als sich selbst; sie können – analog zur Selbst-Gegebenheit bei den reflexiven Gabe-Beziehungen – auch maximal nicht-reflexiv sein: Das ist genau dann der Fall, wenn alle drei Stellen der Gabe-Relation, d. h. der Geber, die Gabe und der Empfänger, voneinander verschieden sind. Kehren wir zurück zu unserem Thema der reflexiven Gabe-Verhältnisse, zu denen die Selbst-Gebung und a fortiori die Selbst-Gegebenheit gehören. Dass es sich bei beiden Gabe-Beziehungen um reflexive Gabe-Verhältnisse handelt, lässt sich leicht einsehen. Denn bei beiden Gabe-Beziehungen ist das menschliche Selbst nicht nur das Gegebene, sondern auch das Subjekt der Gabe. Für die Selbst-Gebung ist dies evidentermaßen der Fall: Denn Selbst-Gebung bedeutet das Sich-selbst-Geben des Selbst. Aber auch im Falle der Selbst-Gegebenheit ist das Selbst das Subjekt einer Gebung bzw. eines Gabe-Aktes, der hier allerdings nicht einmalig ist – wie es die Selbst-Gebung zumindest sein kann –, sondern das gesamte selbstbewusste Leben eines Selbst umspannt. Denn zunächst und primär bin ich mir selbst durch mich selbst gegeben. Nun könnte man einwenden, dass im Falle der Selbst-Gegebenheit gar kein aktives Gabe-Verhältnis, d. h. keine Gebung, sondern nur ein passives Sich-Gegeben-Sein vorliegt. Diesem Einwand gegenüber muss jedoch geltend gemacht werden, dass Selbst-Gegebenheit immer auch und zugleich ein Sich-selbst-Aufgegeben-Sein bedeutet, d. h. sich selbst eine Aufgabe zu sein, und zwar eine Aufgabe zur Selbstgestaltung, Selbstverwirklichung, Selbsterfüllung. Wodurch aber bin ich mir selbst (auf-) gegeben? Zunächst und primär durch mich selbst, mit anderen Worten: Ich bin 18 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit

mir selbst durch mich selbst (auf-) gegeben. Das Selbst ist also auch im Falle der Selbst-Gegebenheit das Subjekt einer Gebung, und zwar der Gebung meiner selbst an mich selbst als Aufgabe für mich selbst. Diese Gebung aber besitzt im Unterschied zu dem einmalig, mithin punktuell, möglichen Akt der Selbst-Gebung stets einen das gesamte selbstbewusste Leben eines Selbst umfassenden, prozessualen Charakter. Dass darüber hinaus für Gläubige der drei monotheistischen Weltreligionen der erste und eigentliche Geber und damit gleichsam das logische Subjekt der Selbst-Gegebenheit des Menschen der göttliche Schöpfer allen Seins ist, dass also, um es mit Sören Kierkegaard zu sagen, mein Selbstverhältnis ein von einer absoluten Macht gesetztes Selbstverhältnis ist, 1 dürfte sich rein phänomenologisch nicht mehr hinreichend und vollständig aufweisen lassen, auch wenn der imponierende analoge Versuch der radikalen Lebensphänomenologie Michel Henrys, jede weltlich-horizonthafte, extensionale Erscheinungswirklichkeit auf ein originäres Selbst-Erscheinen und eine originäre Selbst-Gebung des absoluten Lebens radikalphänomenologisch zurückzuführen, diesen Anspruch erhebt. Wenn nach den vorherigen Überlegungen auch die Selbst-Gegebenheit ein – wenn auch kein einmaliger, sondern ein prozessualer – Akt der Selbst-Gebung ist, und wenn umgekehrt jeder Akt der Selbst-Gebung eine Selbst-Gegebenheit seines Subjekts notwendigerweise – als transzendentale Bedingung seiner Möglichkeit – einschließt, worin unterscheiden sich dann beide reflexiven Gabe-Akte überhaupt voneinander? Sie unterscheiden sich beim Menschen de facto zumeist in ihrer Bestimmung des Dativ-Objekts bzw. des Empfängers der Gabe, d. h. dessen, dem die Gabe gegeben wird. Ob sie sich auch hinsichtlich der Art und Weise bzw. des Wie des Gebens voneinander unterscheiden, kann hier noch offenbleiben. Denn grundsätzlich stellt ein Gabe-Verhältnis eine dreistellige Relation dar, die durch vier sogenannte »W-Fragen« präzise bestimmt werden kann: Vgl. Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay ›Zum Verständnis des Werkes‹, hrsg. v. Liselotte Richter, Reinbek bei Hamburg 21995, S. 13: »Ein derart abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu einem anderen verhält.« Vgl. auch ebd., S. 14: »Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte.«

1

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Markus Enders

1. 2.

Durch die Angabe des Subjekts der Gabe: Wer gibt? Durch die Angabe des Objekts der Gabe bzw. des Gegebenen: Was wird gegeben? 3. Durch die Angabe des Dativobjekts bzw. des Empfängers der Gebung: Wem wir das Gegebene gegeben? 4. Durch die Angabe der Art und Weise der Gebung: Wie, d. h. auf welche Art und Weise, wird das Gegebene dem Empfänger der Gabe gegeben? In unserem Fall besteht eine Teilidentität zwischen den beiden reflexiven Gabe-Akten der Selbst-Gebung und der Selbst-Gegebenheit. Denn diese sind, wie wir gesehen haben, identisch hinsichtlich sowohl des Subjekts als auch des Objekts der Gabe: das Selbst. Sie unterscheiden sich aber möglicherweise in dem Empfänger der Gabe, wenn und sofern vorausgesetzt wird, dass der Empfänger der Selbst-Gebung von ihrem Subjekt verschieden ist. Das ist aber keineswegs immer der Fall. Denn vor jeder durchaus möglichen und vielfach auch wirklichen Selbst-Gebung an andere und anderes gibt sich das Selbst keinem anderen, sondern stets nur sich selbst, wobei Subjekt und Empfänger dieses Gabe-Verhältnisses relational, aber nicht substantiell, voneinander verschieden sind. Denn die transzendentale Selbst-Gegebenheit des Selbst geht jedem konkreten, bestimmten Akt seiner Selbst-Gebung an andere und anderes immer schon als Bedingung seiner Möglichkeit voraus. In dem Wie ihrer Gebung unterscheiden sich beide reflexiven Gabe-Akte ebenfalls nicht notwendigerweise, aber möglicherweise voneinander. Denn ich kann mich mir selbst oder einer anderen Person durchaus anders geben als ich mir selbst grundsätzlich gegeben bin. So kann ich z. B. mir oder einer anderen Person etwas vortäuschen, d. h. suggerieren und vorgaukeln, wovon ich im Grunde weiß, dass es der Wirklichkeit meines Selbst nicht entspricht. Wir können also resümieren: Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit sind zwei genuin reflexive Gabe-Akte, die hinsichtlich ihres Subjekts und ihres (Akkusativ-) Objekts, d. h. im Wer und im Was ihrer Gebung, identisch sind. Sie unterscheiden sich nur möglicherweise – aber nicht notwendigerweise – in Bezug auf den Empfänger ihrer Gebung, weil die Selbst-Gebung auch an andere Personen und an andere Entitäten möglich ist, während bei der (transzendentalen) Selbst-Gegebenheit das Selbst auch der Empfänger der Gabe ist, so dass hier ein maximal reflexives Gabe-Verhältnis vorliegt. Beide reflexiven Gabe-Verhältnisse unterscheiden sich möglicherweise auch 20 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit

im Wie, d. h. in der Art und Weise, ihrer Gebung: Denn während die Selbst-Gegebenheit einen prozessualen Akt-Charakter besitzt, der das ganze selbstbewusste Leben eines Selbst umfasst, kann die Selbst-Gebung auch als ein einmaliger und punktueller Akt erfolgen. Schließlich unterscheiden sich beide Akte auch in ihrem gleichsam epistemischen Charakter voneinander: Denn während die Selbst-Gegebenheit einen transzendentalen Charakter als Bedingung der Möglichkeit aller freiheitlichen Vollzüge des Selbst und damit auch jedes konkreten, besonderen Aktes seiner Selbst-Gebung besitzt, eignet der Selbst-Gebung zunächst und zumeist der Charakter eines konkreten, besonderen Existenzvollzugs, der allerdings im Falle seiner uneingeschränkten Entschiedenheit für eine spezifische Lebensweise oder sogar seiner Selbstverpflichtung für eine besondere Lebensform den Charakter eines das zukünftige Leben des Selbst bestimmenden Selbsteinsatzes bzw. einer sog. »existenziellen Grundentscheidung«, einer »option fondamentale«, annehmen kann – wofür auch immer. 2

3.

Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit als zwei personale Formen einer reflexiven Gabe-Beziehung im Unterschied zum apersonalen »Es gibt« als dem Geber von Gegebenheiten

Zur vollständigen gabetheoretischen Klassifikation der Phänomene der Selbst-Gebung und der Selbst-Gegebenheit sollte noch grundsätzlich zwischen personalen und apersonalen Gabe-Verhältnissen unterschieden werden. Doch was ist mit einem apersonalen GabeVerhältnis genau gemeint? Der bedeutende französische Gegenwartsphilosoph Jean-Luc Marion hat in seiner Phänomenologie der Gabe 3 in Weiterführung Zur allgemeinen philosophischen Bestimmung einer »existenziellen Grundentscheidung« und ihrer religiösen Bedeutungsdimension vgl. Markus Enders: »›Entscheidung‹ als maximaler Selbsteinsatz. Überlegungen zur religiösen Bedeutungsdimension der ›existenziellen Grundentscheidung‹«, in: Stefano Semplici (Hrsg.): La Decisione (= Archivio di Filosofia. Archives of Philosophy LXXX/1–2), Pisa/Rom 2012, S. 101–112, insb. S. 108–112. 3 Eine sehr gute Einführung in Marions Phänomenologie der Gabe im Gesamtkontext seines Denkens bietet die Untersuchung von Thomas Alferi: Worüber hinaus Größeres nicht gegeben werden kann. Phänomenologie und Offenbarung nach Jean-Luc Marion, Freiburg i. Br./München 2007; eine ausgezeichnete Einführung in die Philosophie der Gabeund ihre religionsphilosophische Bedeutung hat Kurt Wolf: 2

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Markus Enders

von Martin Heideggers Überlegungen zum Gegebenheitscharakter des Seins im unpersönlichen »Es gibt« das Phänomen der Gegebenheit als ein apersonales Gabe-Geschehen beschrieben, dessen Geber für uns prima facie unbestimmt, weil unerkennbar, bleibe, so dass wir zunächst nur auf das unpersönliche »Es gibt« als den Geber von Gegebenheiten, d. h. von Gegenständen und ihren Gegebenheitsweisen für uns, verwiesen seien. 4 Über das »Es gibt« als den unpersönlichen Geber von uns vorgegebenen Gegebenheiten kommt unser (beweis-) rationales Einsichtsvermögen in das Subjekt dieser Gegebenheiten nicht hinaus. Gegebenheiten, d. h. Gegenstände und ihre Gegebenheitsweisen – wir können auch sagen: Erscheinungsweisen für uns – stellen demnach phänomenologisch gesehen ein apersonales bzw. unpersönliches Gabe-Verhältnis dar, weil das für uns klar erkennbare Subjekt ihrer Gebung nur das unpersönliche »Es gibt« ist; und weil zweitens das Akkusativ-Objekt bzw. das Was dieser Gebung nicht nur Personen, sondern auch apersonale Gegenstände bzw. Entitäten und ihre Gegebenheitsweisen sind. Denn auch diese sind uns oft unverfügbar (vor-) gegeben. Von solchen apersonalen Gabe-Verhältnissen sind die Gabe-Verhältnisse der Selbst-Gebung sowie der Selbst-Gegebenheit dadurch grundsätzlich unterschieden, dass es sich hier jeweils um ein personales Gabe-Verhältnis handelt. Denn sowohl das Subjekt der Selbst-Gebung und der Selbst-Gegebenheit als auch das Objekt bzw. das Was beider Gebungen bzw. Gabe-Verhältnisse ist das personale Selbst. Im engeren und eigentlichen Sinne dieses Wortes handelt es sich bei der Selbst-Gebung und der Selbst-Gegebenheit daher um ein personales Gabe-Verhältnis. Davon ist jedoch ein weiterer Gebrauch von SelbstGebung im übertragenen Sinne dieses Wortes zu unterscheiden, wie wir im Folgenden noch sehen werden.

Philosophie der Gabe. Meditationen über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilosophie (= Ursprünge des Philosophierens 13), Stuttgart 2006, vorgelegt; vgl. hierzu auch Kurt Wolf: »›Gabe‹. Sozialontologie und Religionsphilosophie«, in: Münchener Theologische Zeitschrift 59 (2008), S. 256–269. 4 Vgl. Jean-Luc Marion: »Der Durchbruch des ›Es gibt‹«, in: Jean-Luc Marion: Gegeben sei. Phänomenologie der Gegebenheit. Aus dem Französischen übersetzt von Thomas Alferi (= Eichstätter philosophische Studien 2), Freiburg i. Br./München 2015, S. 70–74.

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Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit

4.

Exemplarische phänomenale Kontexte der Manifestation des Phänomens der Selbst-Gebung

Während die Selbst-Gegebenheit im engeren, strikten Sinn dieses Wortes den transzendentalen Charakter des Selbst als Bedingung der Möglichkeit seiner freiheitlichen, mithin selbstbestimmten, Existenzvollzüge bezeichnet und deshalb ausschließlich in der transzendentalen Verfassung des Selbst verwirklicht ist, findet sich das Phänomen der Selbst-Gebung in vielen verschiedenen phänomenalen Kontexten, und zwar als ein Phänomen, das für diese Kontexte jeweils von zentraler Bedeutung ist. Beide Thesen – die weite Verbreitung und die jeweils zentrale Bedeutsamkeit des Phänomens der Selbst-Gebung – aber sind keineswegs selbstverständlich, sondern durchaus begründungsbedürftig. Der Verbreitungsraum und die jeweils zentrale Bedeutung des Phänomens der Selbst-Gebung können im Folgenden allerdings nur exemplarisch belegt und aufgewiesen werden – wenn auch an sachlich höchst bedeutsamen phänomenalen Kontexten. Denn es handelt sich bei der Selbst-Gebung um ein sowohl in phänomenologischer als auch in ontologischer bzw. metaphysischer und nicht zuletzt in personaler und in religiöser Hinsicht höchst bedeutsames Phänomen. Diese Behauptung soll im Folgenden näher erläutert und begründet werden.

4.1. Die phänomenologische Bestimmung der Selbst-Gebung: Phänomenale Selbst-Gebung als die Wesensverfassung von Phänomenalität überhaupt Beginnen wir mit der Begründung unserer ersten Behauptung, dass die Selbst-Gebung ein in phänomenologischer Hinsicht höchst bedeutsames Phänomen sei. Bei genauerem Hinsehen aber muss diese Behauptung modifiziert bzw. revidiert werden. Denn eine radikale phänomenologische Analyse des Phänomens der Selbst-Gebung zeigt, dass es sich bei ihm gar nicht um ein einzelnes, besonderes, von anderen Phänomenen unterschiedenes Phänomen handelt. Wie ist das zu verstehen? Setzen wir zunächst einmal aus heuristischen Gründen voraus, es handele sich bei der Selbst-Gebung tatsächlich um ein bestimmtes, spezifisches Phänomen, das von anderen Phänomenen unterschieden ist. Wenn dem so wäre, d. h. wenn Selbst-Gebung ein spezifisches 23 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Markus Enders

Phänomen wäre, dann müsste sie gemäß Martin Heideggers in Sein und Zeit vorgenommener phänomenologischer Bestimmung eines Phänomens als etwas, das sich von sich selbst her zeigt, 5 in genau diesem Sinne für uns in Erscheinung treten, nämlich von sich selbst her. Gegen diese These vom Phänomen-Charakter der Selbst-Gebung könnte man allerdings gleichsam als advocatus diaboli und prima facie auch mit Recht einwenden, man könne dergleichen überhaupt nicht geistig sehen, Selbst-Gebung trete für uns gar nicht in Erscheinung, die These von der Phänomenalität der Selbst-Gebung sei also falsch. Wie könnte man diese Kontroverse auflösen bzw. entscheiden? Um dieses Problem zu lösen, müssen wir uns fragen: Wo, d. h. in welchen Zusammenhängen, könnte das Phänomen der Selbst-Gebung überhaupt für uns in Erscheinung treten? Handelt es sich dabei nicht um ein rein begriffliches Abstraktum, das weder vor unseren leiblichen noch vor unseren intentionalen geistigen Augen, deren Blick auf gegenständliche Wirklichkeit gerichtet ist, auftauchen kann? Das phänomenologische Sehen, das die Wesensverfassung seiner Gegenstände erfasst, erkennt in der Selbst-Gebung die Wesensstruktur dessen, was ein Phänomen überhaupt erst zu einem Phänomen macht, d. h. der Phänomenalität überhaupt. Dabei müssen wir allerdings eine weitere und übertragene Bedeutung von Selbst-Gebung als gültig voraussetzen, der zufolge Selbst-Gebung sowohl ein personales als auch ein apersonales Gabe-Verhältnis bezeichnen kann. Denn wir sahen im Gefolge von Heideggers Bestimmung des Phänomen-Begriffs, dass ein Phänomen nichts anderes ist als etwas, das sich von sich selbst her zeigt. Phänomen ist demnach also ein Selbst-Erscheinendes und damit etwas, das sich von sich selbst her dem Blick bzw. dem Sehen eines Betrachters bzw. Erkenntnissubjekts gibt. Folglich stellt Selbst-Gebung die Wesensverfassung von Phänomenalität überhaupt dar. 6 Wir können auch einfacher sagen: Jedes Phänomen gibt sich selbst als solches zu erkennen. Täte es dies nicht, dann wäre

5 Zu Heideggers Begriff des Phänomens vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Zweites Kapitel, § 7: Die phänomenologische Methode der Untersuchung, A. Der Begriff des Phänomens, Tübingen 151979, S. 31: »das Sich-an-ihm-selbst-zeigende«. 6 Diese Überlegung konvergiert sachlich mit der phänomenologischen Analyse von Jean-Luc Marion, der das wesenhafte Sich-Zeigen des Phänomens als Ausdruck (s)eines Sich-Gebens und dieses als eine unpersönliche Selbstheit deutet, vgl. Marion: Gegeben sei, S. 130–132 (Phänomene geben sich).

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Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit

es kein Phänomen. Für uns in Erscheinung treten aber nicht nur personale, sondern auch apersonale Phänomene. Mit Michel Henrys radikaler Phänomenologie müsste man diese Wesensverfassung von Phänomenalität allerdings noch radikaler bzw. ursprünglicher begründen, nämlich in einem reinen Selbsterscheinen, das jedem Erscheinen für Anderes und andere bestimmend zugrunde liegt. 7 Doch auch für dieses reine Selbsterscheinen des absoluten Lebens gilt, dass es sich in seinem Sich-selbst-Erscheinen sich selbst gibt, so dass hier eine relationale Identität zwischen beiden Seiten dieser Selbsterscheinung besteht, als die Henry das absolute Leben bestimmt. Daher ist auch beim reinen Selbsterscheinen des absoluten Lebens Selbst-Gebung dessen Wesensstruktur, und zwar in dem reflexiven Sinne des Sich-sich-selbst-Gebens. Wir können daher resümieren: Selbst-Gebung im weiteren, die Unterscheidung zwischen personalen und apersonalen Gabe-Verhältnissen umgreifenden Sinne dieses Wortes, ist das phänomenologisch erkannte und bestimmte Wesen von Erscheinung bzw. genauer von Phänomenalität überhaupt, und zwar auch im radikal-phänomenologischen Sinne dieses Wortes. Deshalb handelt es sich bei der SelbstGebung im weiteren, personale und apersonale Gabe-Verhältnisse umgreifenden Sinne dieses Wortes nicht um ein einzelnes Phänomen unter anderen Phänomenen, sondern um das Wesen von Phänomenalität als solcher. Diese Form der Selbst-Gebung, welche die Wesensstruktur von Phänomenalität überhaupt ausmacht, können wir auch als »phänomenale Selbst-Gebung« bezeichnen. Darüber hinaus gibt es auch noch andere und eigentlichere Erscheinungsformen der Selbst-Gebung, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Vgl. Michel Henry: »Die ursprüngliche Selbst-Offenbarung des Lebens als Grund der phänomenologischen Methode. Beantwortung des allgemein-philosophischen Problems der Möglichkeit, das Leben zu denken«, in: Michel Henry: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Aus dem Französischen von Rolf Kühn, Freiburg i. Br./München 22004, S. 137–148.

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4.2. Die strikte ontologische Bestimmung der Selbst-Gebung: Selbst-Gegebenheit und Selbst-Gebung als seinsmäßiges Konstitutivum von Personen Ein zweiter Kontext, in dem das Phänomen der Selbst-Gebung in Erscheinung tritt, könnte man als den ontologischen bezeichnen. Was ist damit gemeint? Jedes Seiende, das wir als wirklich erkennen und damit umgehen können, ist uns gegeben. Gegeben-Sein ist daher, wie Jean-Luc Marion in seiner phänomenologischen Ontologie eindrucksvoll aufgezeigt hat, die Wesensverfassung jedes Seienden als solchen. In ihrem Sein wesenhaft gegeben und damit Ge-gebenheiten sind also alle Entitäten, und zwar sowohl die nicht geistbesitzenden als auch die geistbesitzenden Entitäten. Im eigentlichen Sinne dieses Wortes sich selbst gegeben sein, können aber, wie wir bereits gesehen haben, nur solche Entitäten, die auch ein personales Selbst besitzen, weshalb die zuvor erläuterte phänomenale Selbst-Gebung als solche nicht die eigentliche und vollkommene Form der Selbst-Gebung sein kann. Doch was ist ein personales Selbst? Mit dem personalen Selbst dürfte zunächst eine individuelle IchIdentität gemeint sein, die nur personale Wesen besitzen. Denn nur diese sind sich selbst zugehörig und verfügen gleichsam über sich selbst, und zwar durch ihr individuelles Selbstbewusstsein und durch die relativ freie Selbstbestimmung ihres verantwortungs- bzw. moralitätsfähigen Willens. Aufgrund dieser beiden Grundvermögen sind personale Wesen sich selbst (auf-) gegeben, so dass sie sich selbst auch anderen geben können. Selbst-Gegebenheit und damit das Vermögen zur Selbst-Gebung in diesem strikten und eigentlichen Sinn kann demnach keine Wesensbestimmung aller Entitäten sein, sondern nur der geistbesitzenden, personalen Entitäten. Denn kraft ihres Selbstbewusstseins und ihrer willentlichen Selbstbestimmung verfügen Personen über sich und besitzen sich selbst gleichsam, d. h. bestimmen sich selbst. Ob und inwiefern sie sich selbst anderen Personen mitteilen und damit sich ihnen geben, muss als ein Akt ihrer Freiheit offenbleiben. Die Selbst-Gegebenheit menschlicher Personen ist demnach, wie wir ebenfalls bereits gesehen haben, eine transzendentale Bedingung für die einzelnen, konkreten Akte ihrer personalen Selbst-Gebung. Nun ist aber eine menschliche Person ohne die Selbstgebung anderer menschlicher Personen an sie gar nicht lebens- und entwicklungsfähig, wie wir aus Erfahrung wissen. Bereits die natürliche Ent26 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit

stehung personalen Seins verdankt sich der wechselseitigen Selbst (hin-)gabe zweier menschlicher Personen. Doch auch für die weitere Entwicklung personalen Seins ist die personale Selbstgabe menschlicher Personen lebensnotwendig. Personale Selbstgebung bzw. Selbstgabe ist daher für personales menschliches Sein seinskonstitutiv, und zwar sowohl für dessen Entstehung als auch für dessen gelingende Entwicklung.

4.3. Die personale Bestimmung von Selbst-Gebung: Freiwillige Selbst(hin-)Gabe und ihre Erscheinungsformen Damit sind wir bereits bei der eigentlichen, der personalen Bedeutung von Selbst-Gebung bzw. Selbstgabe angelangt. Denn, wie schon öfters gesagt worden ist: Streng genommen können nur Personen kraft ihrer Selbstverfügung und Selbstbestimmung sich selbst anderen Personen oder auch apersonalen Gegenständen und Sachen geben bzw. hingeben, wobei die Formen dieser Selbsthingabe sehr verschieden sind: Als Schenkung und Bewahrung des Lebens anderer oder auch als Arbeit und Einsatz für das Wohlergehen anderer wie etwa für das störungsfreie und reibungslose Funktionieren sachlicher Zusammenhänge zum Gebrauch bzw. zum Nutzen anderer oder gar als stellvertretende Selbst(hin-)Gabe zur Tilgung der Schuld anderer wie in der jüdisch-christlichen Religion, die bis zum stellvertretenden Sühneleiden und Sterben für die Rettung und Erlösung anderer gehen kann – eine äußerste und unübertreffliche Form der Selbst(hin-) Gabe, weil sie mit der größten Form der Selbstentäußerung um des endgültigen Glücks – religiös gesprochen: des Heils – anderer willen verbunden ist. Selbst(hin-)Gabe aber ist die äußerste und radikalste Form der Selbst-Gebung bzw. der Selbst-Gabe, weil sie die totale, vollständige, restlose Form der Selbst-Gabe bedeutet, in der das personale Selbst nichts mehr von sich selbst für sich selbst gleichsam zurückbehält, sondern sich selbst vollständig gibt.

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4.4. Die religiöse Bestimmung von Selbst-Gebung: Selbst-Gebung als ein religiöses Prinzip in den Religionen – ihre subjektive und ihre objektive Seite Damit sind wir wie mit Siebenmeilenstiefeln schon in den Bereich der religiösen Bedeutung personaler Selbst-Gebung hinübergegangen. Dabei nimmt ein freiwilliger Selbsteinsatz bzw. eine Selbst-Gabe für andere erst dann eine genuin religiöse Bedeutung an, wenn sie zugleich als Selbst-Gabe an irgendeine Form echter Transzendenz intendiert ist, sei es an eine apersonale Macht, sei es an eine personale Gottheit, sei es an die Seelen oder Geister der verstorbenen Ahnen und Vorfahren etc. 8 Dabei haben wir zunächst nur die subjektive, persönliche Selbst (hin-)Gabe religiöser menschlicher Individuen im Blick. Diese besitzt in den Religionen jedoch nur den Charakter einer Antwort auf eine ihr vorausgehende Selbstmitteilung bzw. Selbstvermittlung einer transzendenten Macht, die sich selbst dem Menschen in irgendeiner – und sei es in einer noch so verborgenen und indirekten Weise – zeigt, sich selbst ihm gleichsam gibt, so dass das genuin religiöse Verhältnis den Charakter einer wechselseitigen, einer gleichsam dialogischen Selbst-Gebung besitzt. Dabei gereicht diese in den Religionen graduell unterschiedlich große und intensive Selbst-Gabe einer ebenfalls in unterschiedlich großem Maße als transzendent geglaubten Macht an die Menschen – in den Weltreligionen an prinzipiell alle Menschen – nach dem Verständnis der Religionen ihren Empfängern nur dann und genau dann zum Heil, wenn sie von ihnen in der ihrer Selbst-Gabe angemessenen und insofern rechten Weise aufgenommen und beantwortet wird. Denn erst dann, wenn die Selbst-Gabe transzendenter Wesen von ihren Adressaten bzw. Empfängern auch wirklich angenommen und angeeignet wird, kann sie ihre einheits- und damit im religiösen Sinne dieses Wortes heilsstiftende Wirkung für sie entfalten. 9 Im Christentum Hier wird der Religions-Begriff des Verfassers zugrundegelegt, dem zufolge ein (verehrender, sich hingebender) Bezug auf eine übersinnliche Transzendenz konstitutiv für menschliche Religiösität ist, vgl. Markus Enders: »Religion und Transzendenz. Ist ein Transzendenz-Bezug konstitutiv für Religion?«, in: ΦΙΛΟΘΕΟΣ. International Journal for Philosophy and Theology 13 (2013), S. 3–14. 9 Hierzu vgl. Markus Enders: »Endlichkeit und Einheit. Zum Verständnis von Religion im Anschluss an Hermann Schrödters Begriff von Religion«, in: Tobias Müller/ Thomas M. Schmidt (Hrsg.): Was ist Religion? Beiträge zur aktuellen Debatte um den Religionsbegriff, Paderborn u. a. 2013, S. 125–155. 8

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wird diese Selbst-Gebung einer zugleich transzendenten und immanenten Heilsmacht in zweifacher Hinsicht radikalisiert: Erstens dadurch, dass diese Macht selbst, d. h. in eigener Person, in die Welt der erscheinenden Vielheit hervortritt, sich also selbst den Menschen offenbart bzw. gibt; und zweitens dadurch, dass sie ihre personale Selbst-Gebung durch deren Materialisierung in den eucharistischen Gaben dauerhaft und unverwechselbar für uns Menschen gemacht hat. Beispiele für religiöse Formen der Selbst-Gabe finden wir in dem vorliegenden Tagungsband in dem Beitrag von Sarah Eichner zur Dimension der Selbstgabe transzendenter Wesen in den sog. archaischen bzw. Naturreligionen nach dem bedeutenden Religionswissenschaftler Mircea Eliade; ferner auch in dem Beitrag von Adrian Navigante zum Thema der heilsstiftenden Selbstmanifestation des Göttlichen, d. h. zur Lehre des avatára, im Hinduismus; weiterhin in dem Beitrag von Thomas Reitzig zur heilswirksamen Selbstvermittlung als einem religiösen Prinzip im chinesischen Daoismus. In dem Beitrag von Riku Yokoyama wird der Selbstgebungscharakter religiöser Offenbarung sowie des Heiligen im Verständnis der Religionsphänomenologie Max Schelers theoretisch und allgemein reflektiert. Im christlichen und zugleich religionenübergreifenden Denken Meister Eckharts besitzt das religiöse Phänomen der Selbst-Gabe eine zentrale Bedeutsamkeit: Diese macht der vorliegende Beitrag von Frau Amanda Viana De Sousa über die Selbstgabe des (göttlichen) Lebens in Meister Eckharts Metaphysik der Einheit deutlich sichtbar. Dass das Phänomen der Selbst-Gabe auch für den methodischen Charakter des Denkens Meister Eckharts eine grundlegende Bedeutung besitzt, zeigt der Beitrag von Siegfried Rombach über phänomenologische Grundstrukturen der Selbst-Gebung als Selbstvollzug im Denken Meister Eckharts. Und selbst in Niklas Luhmanns systemtheoretischer Deutung von Offenbarung eignet der Selbst-Gebung eine signifikante religiöse Bedeutung – wie wir dies aus dem Beitrag von Frank Schlesinger zu diesem Tagungsband lernen können. Dass die religiöse Selbst-Gebung Gottes an den Menschen im Christentum als theologische Antwort auf die empirische und existenziell motivierte Theodizeefrage verstanden werden kann, begründet der vorliegende Beitrag von Karsten Koreck. Schließlich zeigt der Beitrag von Herrn Ullrich Glatthaar am Beispiel des Psychoanalytikers C. G. Jung die psychoanalytische und am Beispiel des Motivs der Selbstsuche und der Selbstfindung im literarischen Werk Hermann Hesses auch 29 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Markus Enders

die literarische Bedeutungsdimension der Thematik der Selbst-Gebung exemplarisch auf. Dieses Kaleidoskop an minutiös ausgearbeiteten Beiträgen zu dem vorliegenden Tagungsband soll einen Eindruck von dem schier unermesslichen Reichtum der Bedeutungsfülle der Selbst-Gebung als einem religiösen Prinzip vermitteln. Zu dessen herausragender Bedeutung in den drei monotheistischen Weltreligionen soll abschließend noch ein Gedanke entfaltet werden.

4.5. Die graduelle Verwirklichung der Selbst-Gebung in den monotheistischen Weltreligionen Die heils-, weil einheitsstiftende Selbst-Gabe einer absoluten Einheit an die Menschen als ihren Adressaten und Empfänger wird in den drei monotheistischen Weltreligionen des Judentums, des Christentums und des Islams in unterschiedlich großem bzw. radikalem (Aus-) Maß verwirklicht: Im Islam als die im Koran mitgeteilte Selbstprädikation dieser absoluten Einheit für die Menschen, welche sachlogisch die geringste bzw. schwächste Form der Selbst-Gabe und Selbstentäußerung dieser absoluten Einheit darstellt, weil hier Gott von sich selbst nur eine Rede über sich selbst – daher der grundlegend selbstprädikative Charakter dieser Offenbarungsgestalt – sowie eine Rede darüber den Menschen gibt, wie sie seinem Heilswillen gemäß leben sollen. 10 Im Judentum gibt sich die absolute Einheit als deren Reflexion für die Menschen in Gestalt der Thora bzw. des Tenach – in der sich nach rabbinischer Thora-Spekulation Gott selbst gleichsam betrachtet –, die bereits eine höhere Stufe der Selbst-Gabe Gottes an die Menschen darstellt, sofern die Thora nach rabbinischer Überzeugung gleichsam der Spiegel Gottes ist, in dem wir Gott erkennen können und in dem Gott sich selbst erkennt. Von uns Menschen wird Gott

Zum selbstprädikativen Charakter des Korans als der islamisch geglaubten Offenbarungsgestalt der absoluten Einheit Gottes in der von ihr geschaffenen Welt der erscheinenden Vielheit vgl. Markus Enders: »Ein Gott in drei Personen!? Provokation und Relevanz des christlichen Trinitätsglaubens für das christliche Gespräch mit dem Judentum und dem Islam«, in: REGNUM. Schönstatt international – Reflexion und Dialog 51 (2017), S. 64–89, hier: S. 88 (»Ansätze zu einem trinitarischen Monotheismus im Islam: Die koranischen Prädikationen Jesu als Wort und Geist Gottes, das Verständnis des Korans als ungeschaffene, präexistente Selbstprädikation Gottes«).

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darin allerdings nur in mittelbarer, nicht in unmittelbarer Weise und damit nicht so erkannt, wie er selbst sich selbst darin erkennt. 11 Und schließlich ist im Christentum gemäß seinem Selbstverständnis die höchste, weil vollständige und unübertreffliche Form der Selbst-Gabe Gottes an die Menschen verwirklicht, indem Gott selbst in eigener Person sich in die Welt der Menschen begibt, indem er selbst Mensch unter Menschen wird, um die sonst verlorenen Menschen zu retten und zu sich zu führen. Im Christentum hat die vollkommene Selbst-Gabe der erhabenen Einheit Gottes an die Menschen daher zugleich ein unübertrefflich großes Ausmaß der Selbstentäußerung Gottes angenommen, wird die Barmherzigkeit Gottes zu uns Menschen daher unübertrefflich groß gedacht bzw. geglaubt. 12

4.6. Die Selbst-Gebung einer transzendenten Macht als ein universales Prinzip der Religionen und als das Wesen personaler Liebe An dieser Stufenfolge der Verwirklichung des Selbst-Gebungscharakters einer transzendenten Heilsmacht in den drei monotheistischen Weltreligionen von Judentum, Christentum und Islam können wir zumindest für diese drei Weltreligionen erkennen, dass die Selbst-Gebung einer transzendenten Heilsmacht das zentrale religiöse Prinzip darstellt, das sich in unterschiedlichem Ausmaß in den verschiedenen Religionen verwirklicht. Und dies ist kein Zufall: Stellt doch die in allen Religionen, wenn auch jeweils unterschiedlich groß, angenommene Selbst-Gebung einer transzendenten Macht das heilsstiftende Prinzip von Religion überhaupt dar. Denn wir Menschen suchen in der und durch die Religion unser Heil, d. h. letztlich und eigentlich die Erfahrung einer möglichst unmittelbaren Anwesenheit

Zum reflexiven Charakter der Thora als der jüdisch, insbesondere rabbinisch, geglaubten Offenbarungsgestalt Gottes in seiner Schöpfung vgl. Enders: »Ein Gott in drei Personen!?«, S. 86 f. 12 Zur hier vorausgesetzten Interpretation der Offenbarungsformen der drei monotheistischen Weltreligionen als selbstprädikative Offenbarung (im Islam), als reflexive Offenbarung (im Judentum) und als selbstreflexive Offenbarung (im Christentum) vgl. Bernhard Uhde: »Gott der Eine – Dreieinig? Christliche Überlegungen und Anregungen im Gespräch mit Juden und Muslimen«, in: Lebendige Seelsorge 1 (2002), S. 19–23. 11

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Markus Enders

bei einer transzendenten (und zugleich uns immanenten) Einheit, 13 deren Selbst-Gebung bzw. Selbstmitteilung uns Menschen genau dann zur Heilsquelle wird, wenn und sofern wir uns ihr öffnen und ihre entäußerte Wirksamkeit empfangen. Deshalb ist zu vermuten, dass dieses religiöse Prinzip der Selbst-Gebung mutatis mutandis auch für die anderen, nicht monotheistischen Religionsformen bestimmend und ein universal, für alle religiösen Erscheinungsformen, gültiges und relevantes Prinzip ist. Diese hier angenommene universale religiöse Relevanz des Prinzips der Selbst-Gebung aber kann letztlich und eigentlich nur darin begründet liegen, dass die in den Religionen in unterschiedlich intensiver Weise sich selbst den Menschen gebende transzendente Macht einen entschiedenen Heilswillen für die Menschen besitzt und deshalb eine personale Natur mit einem freien Willen von (prinzipiell unübertrefflich) großer Güte besitzen muss. Denn sich selbst geben kann ein Wesen im eigentlichen Sinne dieses Wortes nur dann, wie wir sahen, wenn es ein personales Selbst besitzt. Daran aber wird deutlich, dass diese universale Bedeutung von Selbst-Gebung als einem religiösen Prinzip letztlich und eigentlich in der personalen Seinsweise der sich selbst (hin-)gebenden (transzendenten) Heilsmacht begründet liegt, die den eigentlichen Sinngehalt von Selbst-Gebung in sich birgt. Dieser aber besteht darin, dass Selbst-Gebung für Personen nicht nur seinskonstitutiv ist, sondern darüber hinaus auch deren zielgerichtetes Streben nach Vollkommenheit und Glück erfüllt und vollendet. Denn die BeziehungsEinheit der wechselseitigen Selbst (hin-)Gabe von Personen aneinander ist Inbegriff der interpersonalen Liebe, deren göttliches Wesen in der relationalen Einheit der wechselseitigen Selbst (hin-)Gabe dreier wesensidentischer Personen zueinander besteht. Selbst-Gabe in ihrer höchsten Form als Selbst (hin-)Gabe ist daher nicht nur das (göttliche) Wesen personaler Liebe, sondern zugleich auch das universale Prinzip der Religionen. 14

Zu dem hier vorausgesetzten Grund-Verständnis menschlicher Religiosität vgl. Enders: »Endlichkeit und Einheit«. 14 Es ist dem Verfasser bewusst, dass diese These einer noch genaueren und ausführlicheren Begründung bedarf, die im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht mehr geleistet werden kann. 13

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Iris Hennigfeld (Freiburg im Breisgau, Lüneburg)

Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung

1.

Einleitung

Es ist ein Verdienst phänomenologischen Denkens, die vielfältigen Weisen, wie das Dasein in lebendiger Beziehung zur Welt steht, eigens philosophisch bedacht und ausgewiesen zu haben. Der Begründer der Phänomenologie und Vater der phänomenologischen Bewegung Edmund Husserl (1859–1938) hat dieses Wesensverhältnis zwischen dem Bewusstseinserlebnis und seinem Gegenstand während der Ausarbeitungen zu den Logischen Untersuchungen (1900/ 1901) (wieder-)entdeckt und im Anschluss an Franz Brentanos empirische Psychologie als »Intentionalität« bezeichnet. In Husserls Worten: »Das sich auf den Gegenstand Beziehen ist eine zum eigenen Wesensbestande des Akterlebnisses gehörige Eigentümlichkeit, und die Erlebnisse, die sie zeigen, heißen (nach Definition) intentionale Erlebnisse oder Akte.« 1 Intentionalität besagt, kurz gesagt, dass Bewusstsein immer »Bewusstsein von etwas« 2 ist, das heißt »bewußtseinsmäßig ›Gemeintes‹ : als Wahrgenommenes, Erinnertes, Erwartetes, bildlich Vorgestelltes, Phantasiertes, Identifiziertes, Unterschiedenes, Geglaubtes, Vermutetes, Gewertetes usw.« 3. Die Intentionalität bildet die erkenntnistheoretische Grundlage für eine unhintergehbare (apriorische) Korrelation von Objekt und Subjekt, von Gegenständlichkeiten und »subjektiven Leistungen«, die Husserl in 1 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band, erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, hrsg. v. Ursula Panzer, Husserliana (Hua) Bd. XIX/1, Dordrecht/Boston/London 1995, S. 427. 2 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, neu hrsg. v. Karl Schuhmann, Hua Bd. III/1, Den Haag 1976, S. 200 (im Folgenden Ideen 1). 3 Edmund Husserl: Aufsätze und Vorträge, 1911–1921, hrsg. v. Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Hua Bd. XXV, Den Haag 1986, S. 15.

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Iris Hennigfeld

seinem Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie das »universale Korrelationsapriori« nennt. 4 Das Verhältnis von Bewusstseinsakt und seinen Gegenstand betreffend befragt die Phänomenologie alle Erfahrung von Gegenständen unter Ausschaltung der Transzendenz – deren Sinn und Geltung allererst aufgeklärt werden sollen – im Hinblick auf die mannigfaltigen Weisen, wie diese Gegenstände im Bewusstsein, das heißt in reiner Immanenz, gegeben sind. Die phänomenologischen Prinzipien eines Gegebenseins und einer Selbstgegebenheit der Dinge können insbesondere für eine Beschreibung und Erforschung derjenigen Phänomene fruchtbar gemacht werden, die sich ihrem ureigenen Wesen nach anderen, vor allem reduktionistisch oder dogmatisch verfahrenden, Ansätzen widersetzen. Zu solchen »widerstandsfähigen« Phänomenen gehören interpersonale, religiöse oder künstlerische Erfahrungen. Exemplarisch für eine frühe phänomenologische Eröffnung speziell dieser genannten Gebiete können die Arbeiten von Max Scheler, Emmanuel Levinas, Michel Henry, Maurice Merleau-Ponty und Jean-Luc Marion genannt werden. 5 Der Beitrag möchte zunächst zeigen, wie Husserl auf dem Wege einer Erforschung des reinen Bewusstseins die Ideen einer Gegebenheit und Selbstgegebenheit der Gegenstände als phänomenologische Prinzipien entwickelt hat, die zugleich erkenntnistheoretische Relevanz haben (1.). In diesem Zusammenhang wird auch der phänomenologisch erweiterte Begriff der Erfahrung zur Sprache kommen. Im Anschluss soll der sachliche Übergang von einer statischen und genetischen Phänomenologie in die generative Phänomenologie nachgezeichnet und methodische Kriterien für letztere herausgearbeitet werden (2.). Exemplarisch für eine an den »Sachen selbst« orientierte, generative Phänomenologie wird unter 3. Anthony J. Steinbocks Phänomenologie vertikaler Gegebenheiten am Beispiel mystischer 4 Siehe Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. Walter Biemel, Hua Bd. VI, Den Haag 1976, S. 161–163. 5 Von den genannten Autoren hat sich vor allem Jean-Luc Marion ausdrücklich einer Phänomenologie des »Gegebenseins« gewidmet. Siehe Ders.: Etant donné: Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 32002; Engl.: Being Given: Toward a Phenomenology of Givenness, übers. v. Jeffrey L. Kosky, Stanford 2002; Dt.: Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit (= Eichstätter philosophische Studien), Freiburg i. Br./München 2015.

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Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung

Erfahrungen vorgestellt, wie diese in Phenomenology and Mysticism: The Verticality of Religious Experience (2007) zur Darstellung kommen. Ein Ausblick auf eine weitere Dimension vertikaler Gegebenheit wird am Ende mit der Sphäre moralischer Gefühle in Steinbocks Werk Moral Emotions: Reclaiming the Evidence of the Heart (2014) gegeben.

2.

Der phänomenologische Begriff der Gegebenheit und Selbstgegebenheit

»Zurück zu den Sachen selbst!« lautet das Losungswort der phänomenologischen Bewegung. So heißt es im ersten Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913): »Vernünftig oder wissenschaftlich über Sachen urteilen, das heißt aber, sich nach den Sachen selbst richten, bzw. von den Reden und Meinungen auf die Sachen selbst zurückgehen, sie in ihrer Selbstgegebenheit befragen und alle sachfremden Vorurteile beiseitetun.« 6 Die »Sachen selbst« betreffen nicht diese oder jene möglichen Themen der Phänomenologie, sondern der Ruf meint vor allem eine bestimmte Zugangsart zu den Dingen. Statt eine im Vorhinein bestimmte Methode (z. B. Konstruktion, Spekulation oder Deduktion) auf die Gegenstände anzuwenden, orientiert sich die phänomenologische Methode uneingeschränkt an den »Sachen selbst«, das heißt an den Besonderheiten der jeweiligen ontologischen Region. Die Phänomenologie kann als ein Denkstil verstanden werden, der es den Dingen ermöglicht, dass diese sich von sich selbst her zeigen und somit zu einem »Phänomen« (im phänomenologischen Sinne) werden können. 7 Damit nimmt die Phänomenologie eine dezidiert anti-metaphysische Haltung ein, wenn Metaphysik im traditionellen Sinne verstanden wird als nicht aus- und aufweisendes, sondern als spekulatives Unterfangen in Bezug auf die »höchsten und letzten Fragen« 8 Hua III/1, S. 41. In diesem Sinne bestimmt Martin Heidegger in Sein und Zeit (1927) Methode und Ziel der Phänomenologie: »Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.« (Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 34). 8 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. und eingel. v. S. Strasser, Hua Bd. I, Den Haag 1973, S. 165. Husserl spielt hier auf Kants metaphysische Postulate an. 6 7

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nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Im spezifisch phänomenologischen Sinne hingegen erhält der Begriff der Metaphysik eine neue Bedeutung und einen neuen Stellenwert, insofern diese als transzendentalphänomenologisch fundierte Metaphysik aufgefasst wird. In den Ideen 1 arbeitete Husserl eine Methode aus, in der die »originär gebende Anschauung« 9 und korrelierend die Evidenz sowie das Aufweisen und Ausweisen zu zentralen Prinzipien des Erkennens mit dem Ziel einer Wesenserkenntnis erhoben werden. Mittels der Methode des Aufweisens kann – anders als im Beweisen und Begründen – etwas allererst zur Erscheinung gebracht werden, was sich zuvor nicht gezeigt hat. Diese Erscheinung kann dann so, wie sie sich von sich selbst her gibt, weiteren Beschreibungen, Analysen und Reflektionen unterzogen werden. Mittels der phänomenologischen (eidetischen und transzendentalen) Reduktionen und über die Aufklärung der vielfältigen Strukturen der Intentionalität sowie der noematischen Konstitutionsbedingungen können die Gegenstände in ihrem Wesen zur Erscheinung gebracht werden. Beschreibung oder Deskription als zentraler Baustein der phänomenologischen Methode wird von Husserl ausdrücklich als Nicht-Konstruktion aufgefasst. 10 Der phänomenologische Denkweg beginnt mit den Gegenständen, so wie sie sich direkt und unmittelbar (im Bewusstsein) zeigen, dringt aber über eine »Stufenleiter des Fortschritts« und vielfältige »methodische Prozeduren« 11 zu allgemeinen und objektiven Wesensstrukturen der Phänomene vor. Statt nach der Subjektivität oder Objektivität der Erkenntnis zu fragen, widmet sich die Phänomenologie beschreibend und in eidetischer Hinsicht den vielfältigen Weisen, wie die Phänomene gegeben sind. Die phänomenale Gegebenheit ist also nicht notwendig an die Struktur der Intentionalität im Sinne des Schemas von Subjekt und Objekt bzw. Noesis und Noema gebunden. 12 Erkenntnistheoretisches Richtmaß stellt in der phänomenologischen Analyse die »Selbstgebung« der Gegenstände dar. Diese stellt einen theoretischen Hua III/1, S. 51. Vgl. Elisabeth Ströker: Husserls transzendentale Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1987, S. 29. 11 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Teil: Prolegomena zur reinen Logik, hrsg. v. Elmar Holenstein, Hua Bd. XVIII, Den Haag 1984, S. 31 f. 12 Siehe Anthony J. Steinbock: Phenomenology and Mysticism: The Verticality of Religious Experience, Bloomington/IN 2007, S. 2. 9

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Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung

Grundbegriff der deskriptiven Phänomenologie sowie ein methodisches Prinzip der transzendentalen Phänomenologie des Bewusstseins dar. In Husserls Worten: »Selbstgebung soll für uns Maß, und ihr absolutes Optimum das letzte Maß sein, an dem wir alle Urteile, alle unsere Seinsmeinungen bewähren.« 13 Mit dem Begriff der Selbstgebung sind noch keine ontologischen Aussagen über die jeweilige Sache gemacht, die selbstgegeben ist. 14 Denn der Terminus verweist nicht auf das Was, sondern auf das Wie der Gegebenheit der Gegenstände. Welcher Art ist nun diese herausgehobene Weise der Gegebenheit, die als das »letzte Maß« alles Urteilens fungieren soll? Selbstgegebenheit besagt, allgemein formuliert, eine spezifische Form des Gegebenseins, in der eine Gegenständlichkeit (im allerweitesten Sinne verstanden) unmittelbar gegenwärtig und das Vermeinte in der Anschauung erfüllt ist. Für diese Weise der anschaulichen Erfüllung verwendet Husserl auch den Begriff der Evidenz, bei der es sich um ein »[e]s-selbst-geistig-zu-Gesicht-Bekommen« 15 handelt. Evidenz im phänomenologischen Sinne darf nicht als subjektives Evidenzgefühl missverstanden werden, sondern bezeichnet das Korrelat der Selbstgebung des Gegenstandes. Max Scheler beschreibt die Selbstgebung in pointierter Weise als wesentliches Moment des Erkenntnisprozesses: »Keine Erkenntnis ohne vorhergehende Kenntnis; keine Kenntnis ohne vorhergehendes Selbstdasein und Selbstgegebensein von Sachen.« 16 Selbstgegebensein zeigt den spezifischen Grad der Adäquatheit der Gegebenheit des intendierten Gegenstandes im Fortschreiten einer »Leermeinung« zu einer Erfüllung an. Die Wahrheit hingegen kann charakterisiert werden als diejenige Erfahrung, in der der intendierte Gegenstand anschaulich selbstgegeben ist. Weniger auf den Wegen der Anthropologie, empirischen Wissenschaften oder regionalen Ontologien, wohl aber auf dem Cartesianischen Weg in die Phänomenologie hinein spielt die Idee einer Selbstevidenz der Gegenstände eine wichtige Rolle. Denn bezweifelEdmund Husserl: Erste Philosophie (1923/4). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion, hrsg. v. Rudolf Böhm, Hua Bd. VIII, Den Haag 1959, S. 33. 14 Zum Problem der Selbstgebung in Husserls Logischen Untersuchungen siehe Bernhard Rang: »Repräsentation und Selbstgegebenheit: Die Aporie der Phänomenologie der Wahrnehmung in den Frühschriften Husserls«, in: Phänomenologische Forschungen 1 (1975), S. 105–37, hier S. 105. 15 Hua I, S. 52. 16 Max Scheler: Schriften aus dem Nachlass: Zur Ethik und Erkenntnislehre, Gesammelte Werke Bd. X, Bern 1957, S. 397. 13

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bares Wissen der äußeren Gegenstände ist fundiert in unbezweifelbarer Selbstevidenz der cogitationes. Das Bewusstsein wird zu einer absoluten, evidenten und unabhängigen Seinssphäre und begründet die Welt als relative, bezweifelbare und abhängige Seinssphäre. 17 Damit stellt die Phänomenologie eine selbstreflexive Methode dar, die über die Weise, wie der Gegenstand im Bewusstsein gegeben ist und wie sich dieser im Bewusstsein konstituiert, zugleich Einsichten in das (»objektive«) Wesen des Gegenstandes erhält. Die vielfältigen Konstitutionsbedingungen können als Wegweiser und Leitfaden zu dessen Wesen, das Husserl auch Eidos nennt, genommen werden. Husserl versteht die Konstitution der allgemeinen Gegenstände nicht als eine willkürliche produktive Leistung des Bewusstseins, sondern Konstitution bezeichnet eher die Tatsache, »daß die Bedingungen der Selbsterscheinung des Gegenstandes durch unseren Akt hervorgebracht werden« 18. Phänomenologische Reflexion bedeutet Rückwendung und Abwendung von der natürlichen Einstellung sowie Hinwendung zu einem durch die methodischen Schritte von epoché und Reduktion gereinigten transzendentalen Bewusstsein, wozu auch die Aufmerksamkeit auf die Gegenständlichkeiten, die Noemata, gehört. 19 Reduktion besagt daher nicht wie bei René Descartes ein Zurückgehen auf die Immanenz des Bewusstseins, die cogitatio, im Gegensatz zu einer objektiven Transzendenz, sondern die »Beschränkung auf die Sphäre der reinen Selbstgegebenheit« 20. Der Begriff der Selbstgebung taucht zunächst auf im Kontext der Widerlegung von Husserls Abbildtheorie (Bild-/Zeichentheorie) des Siehe Hua III/1, §§ 44, 46 und 49. Trotz Herleitung der Idee der Selbstevidenz aus der Cartesianischen Tradition verfolgte Husserl in seiner Phänomenologie nicht in aller Strenge einen Cartesianischen Weg; siehe auch Andrea Staiti: »Human Culture and The One Structure: On Luft’s Reading of the Late Husserl«, in: Comparative and Continental Philosophy 4.2 (2012), S. 317–30, hier S. 320. 18 Dan Zahavi: Intentionalität und Konstitution: Eine Einführung in Husserls Logische Untersuchungen, Kopenhagen 1992, S. 88. 19 Husserl schreibt: »›Reflexion‹ ist hier in einem erweiterten Sinne genommen, der nicht nur die Erfassung von Akten, sondern jede ›Rückwendung‹, bzw. Abwendung von der natürlichen Einstellungsrichtung auf das Objekt in sich befaßt. Z. B. würde dazu auch die Zuwendung zu den Noemata gehören, deren Mannigfaltigkeit das identische Ding zur Erscheinung bringt.« (Edmund Husserl: Ideen zur einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. v. Marly Biemel, Hua Bd. IV, Den Haag 1952, S. 5). 20 Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, hrsg. v. Walter Biemel, Hua Bd. II, Den Haag 1973, S. 60. 17

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Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung

Bewusstseins im zweiten Band (1. Teil) der Logischen Untersuchungen (1901). Selbstgebung stellt eine Art Kampfbegriff gegen eine Repräsentationstheorie des Bewusstseins dar, wie diese vor allem in der Tradition der Sinnesphysiologie von Helmholtz und der durch die empiristischen Erkenntnistheorien und Zeichentheorien Lockes, Berkeleys und Humes beeinflussten empirischen Psychologie Brentanos und seiner erkenntnistheoretischen Schule entwickelt wurden. 21 Im Besonderen steht der Terminus der Selbstgebung hier im Zusammenhang mit einer Phänomenologie der Wahrnehmung, denn die Bilderoder Zeichentheorie scheitert in Husserls Augen vor allem am Problem der Wahrnehmung. 22 Husserls erkenntnistheoretischer Standpunkt innerhalb dieser Debatte kann wie folgt zusammengefasst werden: Die Sachen sind nicht »außerhalb« des Bewusstseins einfach da und werden dann »im« Bewusstsein mittels eines Abbildes oder Zeichens repräsentiert und auf diese Weise quasi verdoppelt, sondern die Sachen geben sich selbst erst in und durch ihre Erscheinungen in Erlebnissen oder Akten des Bewusstseins. 23 Jede Intention ist darauf gerichtet, den Gegenstand selbst zu geben, »sie will zu ihm selbst hin – zu ihm selbst, das ist zu einer Anschauung, die ihn selbst gibt, die in sich Bewußtsein der Selbsthabe ist« 24. Die Selbstgebung der Wahrnehmung ist eine Gegenwärtigung im Gegensatz zur Vergegenwärtigung des Gemeinten durch Zeichen, Bilder oder Symbole: »Die Wahrnehmung, als Präsentation, faßt den darstellenden Inhalt so,

Siehe Rang: »Repräsentation und Selbstgegebenheit«, S. 105 f. Hua XIX/1, S. 164 f. 23 Husserl führt in Die Idee der Phänomenologie (1907) aus, »daß es eigentlich gar keinen Sinn hat von Sachen zu sprechen, die einfach da sind und eben nur geschaut werden brauchen, sondern dieses ›einfach dasein‹ das sind gewisse Erlebnisse […] und in ihnen sind nicht die Sachen etwa wie in einer Hülse oder einem Gefäß, sondern in ihnen konstituieren sich die Sachen, die reell in ihnen gar nicht zu finden sind. ›Gegebensein der Sachen‹, das ist sich so und so in solchen Phänomenen darstellen (vorgestellt sein). Und dabei sind nicht etwa die Sachen dann noch einmal für sich da und ›schicken in das Bewußtsein ihre Repräsentanten hinein‹. Dergleichen kann uns nicht einfallen innerhalb der Sphäre der phänomenologischen Reduktion, sondern die Sachen sind und sind in der Erscheinung und vermöge der Erscheinung selbst gegeben; sie sind oder gelten von der Erscheinung zwar als individuell abtrennbar, sofern es nicht auf diese einzelne Erscheinung (Gegebenheitsbewußtsein) ankommt, aber essentiell, dem Wesen nach, unabtrennbar« (Hua II, S. 12). 24 Edmund Husserl: Analysen zur passiven Syntesis. Aus Forschungs- und Vorlesungsmanuskripten 1918–1926, hrsg. v. Margot Fleischer, Hua Bd. XI, Den Haag 1966, S. 83. 21 22

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daß mit und in ihm der Gegenstand als selbst gegeben erscheint.« 25 Für Husserl ist die Wahrnehmung daher gegenüber anderen Bewusstseinsformen ausgezeichnet. In der Selbstgebung der Wahrnehmung sind das anschaulich Gegebene und das gegenständlich Gemeinte »identisch«, jenes gibt sich »nicht als sein bloßer Repräsentant, sondern als es selbst im absoluten Sinne« 26. In den Ideen 1 hat Edmund Husserl die originäre Anschauung als Selbstgegebenheit des Gegenstandes zum »Prinzip aller Prinzipien« und zur einzig gültigen »Rechtsquelle der Erkenntnis« 27 der Phänomenologie erhoben. Diese bildet zudem das Hauptkriterium von Evidenz und Wahrheit. Der »Urmodus der Anschauung« ist für Husserl die Wahrnehmung als Gegenwärtigung, da sie den Gegenstand »in Uroriginalität, das ist im Modus der Selbstgegenwart gebe. 28 In der Wahrnehmung schaut das Bewusstsein den Gegenstand selbst an im Gegensatz zu einem bloßen Meinen oder gegenüber symbolischen Vorstellungsarten: »Das Raumding, das wir sehen, ist bei all seiner Transzendenz Wahrgenommenes, in seiner Leibhaftigkeit bewußtseinsmäßig Gegebenes. Es ist nicht statt seiner ein Bild oder Zeichen gegeben. Man unterschiebe nicht dem Wahrnehmen ein Zeichen- oder Bildbewußtsein. Zwischen Wahrnehmung einerseits und bildlich-symbolischer und signitiv-symbolischer Vorstellung andererseits ist ein unüberbrückbarer Wesensunterschied.« »In den unmittelbar anschauenden Akten schauen wir ein ›Selbst‹ an; es bauen sich auf ihren Auffassungen nicht Auffassungen höherer Stufe, es ist also nichts bewußt, wofür das Angeschaute als ›Zeichen‹ oder ›Bild‹ fungieren könnte. Und eben darum heißt es unmittelbar angeschaut als ›selbst‹.« 29

Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band, zweiter Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, hrsg. v. Ursula Panzer, Hua Bd. XIX/2, Denn Haag/Boston/Lancaster 1984, S. 613. 26 Hua XIX/2, S. 647. 27 Hua III/1, S. 51. 28 Hua VI, S. 107 sowie Edmund Husserl: Formale und Transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, hrsg. v. Paul Janssen, Hua Bd. XVII, Den Haag 1974, S. 166. 29 Hua III/1, S. 90; Vgl. Auch Hua XVII, S. 166 f.; Hua XI, S. 3, S. 65–71. Der Vorzug, den Husserl in diesem Kontext der Wahrnehmung gegenüber der Phantasie gibt, steht nicht im Widerspruch dazu, dass Husserl in den Ideen 1 die Phantasievorstellung oder Fiktion als »Lebenselement der Phänomenologie« (Hua III/1, S. 148) bezeichnet. Was in der Fiktion zur Wahrnehmung kommt, ist nicht der sinnliche, räumlich-zeitliche Gegenstand, sondern der Gegenstand als Phantasievorstellung. 25

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Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung

In Abgrenzung zur Phantasie oder Erinnerung ist in der Wahrnehmung das Ding als »leibhaftiges« gegeben: »Die Dingwahrnehmung […] gegenwärtigt, sie erfaßt ein Selbst in seiner leibhaftigen Gegenwart.« 30 Alle äußere Wahrnehmung hat aufgrund ihrer Perspektivität und ihres Abgeschattetseins im Gegensatz zur Imagination einen relativen und fragmentarischen Charakter. »Der Gegenstand ist nicht wirklich gegeben, er ist nämlich nicht voll und ganz als derjenige gegeben, welcher er selbst ist.« 31 Im Gegensatz zur Zufälligkeit der äußeren Wahrnehmung ist die immanente Anschauung vollständig und »absolut gebend« 32. Die äußere Wahrnehmung hingegen ist, wie Husserl in den Analysen zur passiven Synthesis ausführt, »eine beständige Prätention etwas zu leisten, was sie ihrem eignen Wesen nach zu leisten außerstande ist« 33. Dasjenige, was die Wahrnehmung prätendiert, ist die Selbstgebung des Gemeinten. 34 Denn, »da mit jeder [Erscheinungsweise] die Wahrnehmung doch prätendiert, den Gegenstand leibhaft zu geben, so prätendiert sie in der Tat beständig mehr, als sie ihrem eigenen Wesen nach leisten kann« 35. Nicht also deshalb, weil ein Gegenstand im Gegensatz zur signifikativen, uneigentlichen Wahrnehmung sinnlich wahrgenommen wird, ist er selbstgegeben, sondern aufgrund eines gewissen anschaulichen »Mehr« einer jeden äußeren Wahrnehmung, der über das aktuell Wahrgenommene wesensmäßig hinausweist und den Horizont seiner Erfüllung anzeigt. Jede Wahrnehmung ist »auf ein An-sichSein bezogen«, das »den Überschuß des Gemeinten an Sinnmomenten über das jeweils Gegebene bezeichnet.« 36 Diese Differenz zwischen Prätention und Erfüllung kann in der fortschreitenden Wahrnehmung stetig abgebaut werden bis zur vollständigen Selbstgebung. Dasselbe gilt prinzipiell auch für den Akt der Wiedererinnerung: Hua III/1, S. 90 f. Hua XIX/2, S. 589. 32 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, Erster Teil, Entwürfe zur Umarbeitung der VI. Logischen Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Untersuchungen (Sommer 1913), hrsg. v. Ulrich Melle, Husserliana (Hua) Bd. XX/1, Dordrecht/Boston/London 2002, S. 153: »Wir nennen immanente Intuitionen absolut gebend. Im ausgezeichneten Sinn absolut gebend, nämlich zugleich leibhaft gebend, sind die immanenten Perzeptionen.« 33 Hua XI, S. 3. 34 Siehe Rang: »Repräsentation und Selbstgegebenheit«, S. 115 f. 35 Hua XI, S. 11. 36 Rang: »Repräsentation und Selbstgegebenheit«, S. 124. 30 31

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»Denn Bewußtsein ist nicht nur, sondern es ist in Form der Selbstgebung, einer beständigen originalen Selbstgebung in Form der Wahrnehmung und einer Selbstgebung in Form reproduktiver Erinnerung.« 37 Ziel der Phänomenologie sei es daher, wie Jean-Luc Marion formuliert, »das Phänomen mit dem Ding an sich zusammenfallen zu lassen, das Phänomen an sich erscheinen zu lassen« 38. Marion verfolgt den Ansatz, die Reduktionen nicht nur auf das Erscheinen des Gegenständlichen zu beziehen, wie im Falle Husserls, oder das Sein der Seiendheit (Heidegger), sondern in noch radikalerer Weise auf das »Gegebene an sich« 39. Mit einer Reduktion auf das Gegebensein statt auf die Sphäre des »reinen« oder »transzendentalen« Bewusstseins ist zugleich eine Wende vom Subjekt hin zu dem, was sich gibt, verbunden. Dadurch kann ein neues phänomenologisches Untersuchungsgebiet eröffnet werden, innerhalb dessen diejenigen Phänomene in den Blick kommen können, die sich bisher nicht zeigten oder einer weiteren Untersuchung widersetzten. Hierzu gehören beispielsweise nach Marion das »Sich« des Gebens und die so genannten »gesättigten« oder »paradoxen« Phänomene (siehe 4.). Eine Errungenschaft der Phänomenologie ist es, den Begriff der Erfahrung in seiner Korrelation zum Strukturmoment der Evidenz als methodisch-philosophischen Grundbegriff der Philosophie in neuartiger Weise bestimmt und als konstituierenden Erkenntnisweg zu den Wesensstrukturen der Phänomene detailliert ausgewiesen zu haben. Husserl und die Phänomenologie erheben damit die Erfahrung zu einer voraussetzungslosen und damit nicht dogmatischen philosophischen und wissenschaftlichen Methode, die ganz im Dienste einer Wesenserkenntnis (Wesensschau) der Phänomene steht. Der Begriff der Erfahrung wird zwar in methodisch strengem, seiner Reichweite nach aber umfassenden Sinne verstanden, weder eingeschränkt auf die innere oder äußere, sinnliche Erfahrung wie bei Kant 40 oder das subjektive Erlebnis bzw. die Selbsterfahrung, noch auf rein sprachliche oder – wie im Falle Hegels – begriffliche ErfahHua XI, S. 203. Marion: Gegeben sei, S. 14. 39 Marion: Gegeben sei, S. 14; siehe auch ebd. S. 80 f. Marion kommt in Bezug auf Husserl und Heideggers Ansatz zu dem Schluss: »Der eine wie der andere hat Kenntnis von Gegebenheit, ohne sie als solche in ihrem [Eigen-]Recht anzuerkennen« (ebd. S. 80). 40 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 2 ff.; B 147. 37 38

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Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung

rung. Die Phänomenologie setzt damit dem sensualistisch eingeengten Erfahrungsbegriff eines extremen oder gemäßigten Empirismus Hume’scher Prägung 41 oder im Sinne Kants »den notwendig erweiterten Erfahrungsbegriff der originär gebenden Anschauung« 42 entgegen. Daher ist Erfahrung im phänomenologischen Sinne immer zugleich mehr als Erfahrung im engeren, empiristischen Sinne. Der »empiristische« Erfahrungsbegriff ist bezogen auf die sinnliche Erfahrung der »matters of fact« 43 oder »Natursachen« 44, der daher, so Husserl, ein »schlechter Intuitionismus« 45 sei. Diese Art der Erfahrung könne nur Singularitäten, keine Allgemeinheiten zur Selbstgegebenheit bringen. 46 Das phänomenologische Erfahrungsbewusstsein hingegen geht aufgrund des prätendierenden Charakters der Wahrnehmung über das aktuell Wahrgenommene hinaus und schließt, darüber hinaus, sämtliche Weisen intentionaler Beziehungen zwischen dem Bewusstsein und einem Gegenstand ein. Husserl knüpft auch in seiner Erkenntnistheorie nicht an den von Hume und Kant vorgegebenen Weg an, Erkenntnis als Resultat einer Synthese von Anschauung, Wahrnehmung und Begriff zu verstehen, sondern an Descartes und seine Frage nach der Wahrheit und Gewissheit der Wirklichkeit der Außenwelt. 47 Auch das phänomenologische Prinzip der Erfahrung wird im Anschluss an Descartes clara et disctincta perceptio zurückgebunden an das Kriterium der Evidenz, die damit einen phänomenologischen Schlüsselbegriff darstellt. Diese rechtfertigt ein methodisches Vorgehen, das auf einem Erfahrungsbegriff basiert, der im weitesten Sinne auch die Reflektion umfasst und beispielsweise das ›Sehen‹ logisch-mathematischer Dinge (Sehen a priori), das ›Sehen‹ der Dinge im Raum sowie das ›Sehen‹ umgreift, welches Grundlage der Naturwissenschaften ist. Evidenz besagt im Siehe Husserls Zusatz mit der Überschrift »Über einige prinzipielle Gebrechen des Empirismus«, in: Hua XVIII, S. 94 f. Husserl zeigt hier die inneren Widersprüche einer Theorie, die sich einzig über mittelbare Erfahrung zu rechtfertigen versucht. Dieser Ansatz, so Husserl, führe zu einem unendlichen Regress, der prinzipiell jeder Form von Skeptizismus innewohne. 42 Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen SS 1925, hrsg. v. Walter Biemel, Hua Bd. IX, Den Haag 1968, S. 300. 43 Hua III/1, S. 6. 44 Hua III/1, S. 42. 45 Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/4). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte, hrsg. v. Rudolf Böhm, Hua Bd. VII, Den Haag 1956, S. 171. 46 Hua III/1, S. 44. 47 Vgl. Rang: »Repräsentation und Selbstgegebenheit«, S. 135. 41

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Sinne Descartes zugleich die absolute Zweifellosigkeit und »vollkommen einsichtige Gewissheit« 48 des Gegebenen, wie diese beispielsweise für die Sphäre von Mathematik und Logik gilt. Jede Erfahrung, so lässt sich mit Husserl sagen, die erweitert und vertieft ist durch die Struktur der Evidenz, zeigt Apodiktizität an. Husserl formuliert diesen Sachverhalt in seinen Pariser Vorlesungen (1929): »Jeder seiende Gegenstand ist Gegenstand eines Universums möglicher Erfahrungen, wobei wir nur den Erfahrungsbegriff weiten müssen zum breitesten Begriff, dem der richtig verstandenen Evidenz. Jedem möglichen Gegenstand entspricht ein mögliches solches System.« 49 In ähnlicher Weise schreibt Husserl in den Cartesianischen Meditationen: »Erfahrung im gemeinen Sinne ist eine besondere Evidenz« und »Evidenz überhaupt […] ist Erfahrung in einem weitesten, und doch wesensmäßig einheitlichen Sinne.« 50 Alle wissenschaftliche und philosophische Theorie muss in der Evidenz gegründet sein. Gemäß Husserls Maxime, dass die Methode »der Natur der zu erforschenden Sachen, nicht aber unseren Vorurteilen und Vorbildern« 51 zu folgen habe, wird in der Phänomenologie nicht eine Weise möglicher Erfahrung und korrelierend ein methodischer Zugang zu den Dingen gleichermaßen auf alle Gegenstandsbereiche angewandt, sondern jeder gegenständlichen Region korreliert eine dieser eigentümliche Erfahrung. Der Erfahrungsbegriff gewinnt zudem, anders als bei Hegel, die Bedeutungskomponente einer außersprachlichen und außerbegrifflichen Sinnbildung und kann daher in neuartiger Weise zu einer philosophischen Methode der Erkenntnis werden. 52 Die phänomenologische Erfahrung lässt sich mit László Tengelyi ganz allgemein als eine Sinnbildung verstehen, die nicht primär von einem analytisch-diskursiven Bewusstseinsprozess herrührt, jedoch vom Bewusstsein fassbar ist. 53

Edmund Husserl: Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1916–1920, hrsg. v. Hanne Jacobs, Hua Materialienband (Mat.) IX, Dordrecht/Heidelberg/New York u. a. 2012, S. 273. 49 Hua I, S. 25. 50 Hua I, S. 93. 51 Edmund Husserl: Aufsätze und Vorträge, 1911–1921, mit ergänzenden Texten, hrsg. v. Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Hua Bd. XXV, Den Haag 1986, S. 26. 52 Zum Begriff des Sinnes und der Erfahrung in der Phänomenologie vgl. László Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern, Dordrecht 2007, S. 5–20. 53 Vgl. Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck, S. XI. 48

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Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung

3.

Selbstgegebenheit in der generativen Phänomenologie (Anthony J. Steinbock)

Die Phänomenologie ist keine philosophische Disziplin in derselben Weise wie zum Beispiel Metaphysik, Ontologie oder Ethik. Bei der phänomenologischen Methode handelt es sich auch nicht um eine Art Technik oder einen rationalen Diskurs, die – wenn sie einmal entwickelt und erlernt wurden – in gleichförmiger Weise auf die unterschiedlichen Gegenstandsgebiete angewendet werden können. Im Gegenteil, erst durch bestimmte Zugangswege können allererst neue Gegenstandregionen eröffnet werden. In der Phänomenologie, wie diese uns in Husserls zu Lebzeiten veröffentlichten Werken vorliegt, können vor allem die statische oder konstitutive und genetische Methode unterschieden werden. Letztere hat Husserl maßgeblich zwischen 1917 und 1921 ausgearbeitet. 54 Der Phänomenologe entwickelte die genannten Verfahren – gemäß der Maxime, dass die »Sachen selbst« den Forscher leiten mögen – im Prozess des Forschens selbst und gelangte zu ihnen durch das Beschreiben und Analysieren verschiedener Strukturen der jeweiligen Felder der phänomenalen Welt und des Bewusstseins. 55 In der statischen Phänomenologie werden verschiedene Arten von Erlebnissen, ihre spezifischen Weisen der Gegebenheit und ihre essentiellen Strukturen in einem bestimmten Zeitpunkt beschrieben. Die genetische Phänomenologie ist Thema vor allem in den Vorlesungen aus den 20er-Jahren, veröffentlicht als Analysen zur passiven Synthesis (Hua XI) und Zur Phänomenologie der Intersubjektivität (Hua XIII, XIV und XV). Hier unterscheidet und erforscht Husserl die dynamischen Prozesse, wie sich die Erlebnisse herausbilSo schreibt Husserl in einem Brief vom 29. Juni 1918 an den Neukantianer Paul Natorp, der maßgeblichen Einfluss auf Husserls Entwicklung hin zur genetischen Phänomenologie hatte, dass er den »statischen Platonismus überwunden« und »die Idee der transzendentalen Genesis« in der Phänomenologie eingesetzt habe. Siehe Edmund Husserl: Hua Dokumente: Briefwechsel, hrsg. v. Karl Schuhmann, Bd. V: Die Neukantianer, Den Haag 1994, S. 137. Allerdings lassen sich bereits vor 1917 schon Merkmale genetischer Philosophie bei Husserl ausmachen, wenn er diese auch nicht eigens und als solche explizit gemacht hat. 55 Siehe Anthony J. Steinbock: Home and Beyond: Generative Phenomenology after Husserl, Evanston IL 1995, S. 7. In analoger Weise betont auch Heidegger in § 7 von Sein und Zeit, dass die Phänomenologie weder ein »Standpunkt« noch eine »Richtung« sei, sondern für Heidegger zeigt der Name »Phänomenologie« hauptsächlich einen »Methodenbegriff« an (Heidegger: Sein und Zeit, S. 27). 54

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den (konstituieren) beispielsweise auf der Basis einer zeitlichen Struktur des Bewusstseins, der Passivität, Affektivität, Assoziation, Motivation, des Unbewussten oder der Gesetze der Assoziation. 56 Die genetische Phänomenologie betrachtet die »Geschichte«, das Werden einer »Erkenntniseinheit«, seine »immanente Teleologie«: »Und was die Sache selbst ist«, so Husserl, »das tritt in Evidenz nach allen Seiten seines Wesens erst hervor in seiner Geschichte, die die Einheiten und ihre Momente zur Abhebung bringt, indem sie die konstituierenden Mannigfaltigkeiten in Bewegung setzt.« 57 Das Thema der genetischen Phänomenologie betrifft zudem die monadische Individuation und das Werden der Monade. 58 In Edmund Husserls Nachlass findet sich außer der statischen und genetischen Methode eine weitere phänomenologische Dimension, die sich mit dem Begriff der »Generativität« bezeichnen lässt. In seinem Buch Home and Beyond. Generative Phenomenology after Husserl (1995, dt.: 2000) entwickelt Anthony J. Steinbock auf der Grundlage von Husserls späten Texten aus dem Nachlass (1930–37) über die von ihm selbst ausgearbeitete statische und genetische Phänomenologie hinaus eine »transzendentalphänomenologische Philosophie« der sozialen Welt nach Husserl, die »nicht-fundierend« 59 ist. »Nicht-fundierend« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es Phänomene gibt – wie diejenigen der sozialen Welt –, die nicht auf die Strukturen des Bewusstseins und eine egologische Subjektivität zurückgeführt werden können. Husserls Forschungsmanuskripte, in denen vor allem der Themenkomplex Heimwelt/Fremdwelt zur Sprache kommt bilden in Home and Beyond die Grundlage für eine »generative Phänomenologie«, mit der zugleich die methodischen Voraussetzungen geschaffen werden, unter denen im Anschluss in besonderer Weise sogenannte »vertikale« Gegebenheiten – wie beispielsweise die religiöse Dimension der Erfahrung, die moralische Sphäre, die leibliche und ökologische Dimension der Erfahrung – aufgewiesen werden können (siehe 3.). Die Wendung »nach Husserl« Siehe Andrea Sebastiano Staiti: Husserl’s transcendental phenomenology, Cambridge (u. a.) 2014, S. 129; siehe auch Anthony J. Steinbock: »Husserl’s Static and Genetic Phenomenology: Translator’s Introduction to Two Essays«, in: Continental Philosophy Review 31 (1998), S. 127–34. 57 Hua V, Beil. 1, S. 129. 58 Siehe Steinbock: »Husserl’s Static and Genetic Phenomenology«, S. 131. 59 Anthony J. Steinbock: Grenzüberschreitungen: Generative Phänomenologie nach Husserl, übers. v. Tanja Stähler, Freiburg i. Br. (u. a.) 2003, S. 27. 56

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(»after Husserl«) ist hier in doppeltem Sinne zu verstehen: Sie verweist zum einen auf eine Methode, die an Husserls Phänomenologie orientiert ist und sich in dessen Sinne versteht – auch wenn Husserl selbst nie explizit von einer »generativen Phänomenologie« gesprochen hat. Zum anderen verweist die Formulierung »nach Husserl« auf eine Forschung im zeitlichen Anschluss an den Begründer der Phänomenologie, die das soziale und geschichtliche Werden der Phänomenologie, deren »Generativität«, einbezieht. Unter »Generativität« oder »generativ« versteht Steinbock im Besonderen sowohl »den Prozeß des Werdens – also den Prozeß des generativen Hervorbringens – als auch einen Prozeß, der über die Generationen hinweg auftritt – also insbesondere den Prozeß des ›geschichtlichen‹ und sozialen Werdens, der geologisch beschrieben wird« 60. Generativität kann also als das Wesen des Geschichtlichen aufgefasst werden. Steinbock unterscheidet terminologisch die »generative« von der »Generativen Phänomenologie«: Erstere (mit kleinem »g«) beschäftigt sich mit generativen Phänomenen, zu denen beispielsweise Geburt und Tod, kulturelle Traditionen, sprachliche und normative Phänomene, Rituale und insbesondere die Phänomene von Heimwelt und Fremdwelt gehören. 61 Letztere (mit großem »G«) adressiert das Problem der »Generativität«, zu der im weitesten Sinne das intersubjektive/soziale und geschichtliche »Werden« gehören, das die generativen Phänomene hervorbringt. 62 Dabei geht es nicht darum, die statische, genetische und generative Phänomenologie miteinander konkurrieren zu lassen und einer Methode den Vorrang gegenüber einer anderen zu geben. Vielmehr kann jede Zugangsweise spezifische Phänomenbereiche oder bestimmte Schichten ein und desselben Phänomens freilegen, die den anderen Zugangswegen jeweils verschlossen bleiben. Die Weise, wie sich etwas gibt, korreliert in der Phänomenologie der Weise, wie wir uns ihm zuwenden. So werden Steinbock: Grenzüberschreitungen, S. 28. Einen konzisen Überblick über die Idee einer generativen/Generativen Phänomenologie und die methodische Konsequenz von Home and Beyond (1995) zu Moral Emotions (2014) gibt ein Interview, das Iulian Apostolescu mit Anthony J. Steinbock geführt hat. Siehe Iulian Apostolescu: »The Phenomenologist’s Task: Generativity, History, Lifeworld. Interview with Professor Anthony J. Steinbock (Southern Illinois University at Carbondale)«, in: The Yearbook on History and Interpretation of Phenomenology 3: New Generative Aspects in Contemporary Phenomenology (2015), S. 13–26, hier S. 15. 62 Siehe Steinbock: Grenzüberschreitungen, S. 394. 60 61

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die »Sachen« beispielsweise durch eine statische Methode statisch gegeben, in genetischer Methode genetisch. 63 Die Konsequenz ist, dass die auf eine bestimmte Weise gegebenen Phänomene nicht auf eine andere Weise beschrieben werden können. 64 Traditionellerweise liegen die genannten generativen Phänomene an den sogenannten »Grenzen« der Phänomenalität, in der generativen Phänomenologie können diese Grenzphänomene jedoch selbst zur Gegebenheit kommen. Es handelt sich in der Beziehung zwischen Generativität und generativen Phänomenen nicht um ein Fundierungsverhältnis, sondern um eine wechselseitige Ko-Konstitution, die nicht eingeschränkt auf einen Akt des Bewusstseins verstanden werden darf. Husserl hat die Enthaltung des Phänomenologen hinsichtlich seiner natürlichen und wissenschaftlichen Vorurteile den Gegenstand betreffend eigens als methodische Schritte der epoché und Reduktion ausgearbeitet. 65 Die epoché und die (transzendentale) Reduktion bezeichnet Husserl auch als das »Eingangstor des nie betretenen Reiches der ›Mütter der Erkenntnis‹« 66, das zugleich den Weg zur Phänomenologie eröffnet. Um die »Sachen selbst« zu erforschen, sei es notwendig, alle bisherigen Vormeinungen der natürlichen Einstellung – das heißt des natürlichen Lebens und der Wissenschaften – »mit dem Index der Fraglichkeit zu versehen« 67 und sich von den Phänomenen selbst belehren zu lassen. »Ihr Sein, ihre Geltung bleibt dahingestellt« 68, heißt es in Husserls Vorlesung von 1907. Es handelt sich hier um eine Urteilsenthaltung, die Husserl auch »Ausschaltung« und »Einklammerung« 69 nennt. Ein neues Interesse am Subjektiven wird gestiftet durch Zurückführung des Gegebenen auf Bewusstseinszusammenhänge. Schrittweise phänomenologische »Reduktionen« führen schließlich auf das »transzen-

Siehe Steinbock: Grenzüberschreitungen, S. 395. Steinbock: Grenzüberschreitungen, S. 396. 65 Siehe Hua III/1, S. 61–66; vgl. auch Elisabeth Ströker: Das Problem der Epoché in der Phänomenologie Edmund Husserls, in: Elisabeth Ströker: Phänomenologische Studien, Frankfurt a. M. 1987, S. 35–53. 66 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. Walter Biemel, Hua Bd. VI, Den Haag 1969, S. 156; vgl. auch S. 266. 67 Hua II, S. 29. 68 Hua II, S. 29. 69 Hua III/1, S. 64. 63 64

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dental gereinigte Bewußtsein und seine Wesenskorrelate« 70. Auch in der generativen Phänomenologie geht es darum, eine methodische Enthaltung zu üben, so dass die Phänomene hervorleuchten können in ihrer Selbstgegebenheit. 71 Charakteristikum der Generativität ist es, dass die generative Phänomenologie und mit ihr der Phänomenologe selbst in diese hineingestellt sind. Was bedeutet es dann, die Phänomene aus der Perspektive eines »›uninteressierten‹ Betrachters« 72 oder Zuschauers zu beschreiben, wie Husserl diese als die spezifisch phänomenologische Einstellung in der Krisis-Schrift beschrieben hat? Die auszuschaltenden Vorurteile betreffen vor allem diejenigen des eigenen Selbst in der Begegnung mit den Phänomenen, das Interesse, das suspendiert wird, ist vor allem das Eigeninteresse an der Welt und den Dingen. 73 Wenn der Phänomenologe dieses dahinstellt, »einklammert«, bewirkt diese Haltung eine »Offenheit« und »Empfänglichkeit« (»openness« und »dis-position« 74) den Dingen gegenüber, die wiederum motiviert wird von der möglichen Selbstgegebenheit der Dinge, der »Sachen selbst«. Bei der Einklammerung des Eigeninteresses an der Welt handelt es sich nicht nur um einen rationalen Akt, sondern die Selbstenthaltung ist im Falle der Mystiker »durchlebt« 75, beispielsweise in einer Haltung der Demut, die Meister Eckhart auch als »innere Armut« bezeichnet. Die Generativität als eidetisches Phänomen ist zwar »absolut« – das heißt auch irreduzibel auf die Strukturen und das Sein des Bewusstseins, wie diese in der statischen Phänomenologie zur Sprache kommen –, jedoch nicht »universal«, sondern spezifisch für die Kultur und Geschichte der abrahamitischen bzw. griechischen Tradition. 76

Hua III/1, S. 7. Vgl. Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 4. 72 Siehe Hua VI, S. 178. 73 Siehe Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 4. 74 Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 4. 75 Steinbock beschreibt den Prozess des »Einklammerns« des eigenen Selbstes als notwendige Voraussetzung, um die vertikale Dimension der Erfahrung freizusetzen: »This disposition of the self, however, is not merely an intellectual exercise, for such a divestment of self is lived through« (Phenomenology and Mysticism, S. 31). 76 Apostolescu: »The Phenomenologist’s Task«, S. 16. 70 71

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4.

Zur Phänomenologie vertikaler Erfahrungen

Als eine Entdeckung phänomenologischen Denkens wurde in 1. und 2. dargelegt, dass dem phänomenologisierenden Bewusstsein nicht nur »etwas« gegeben sei, oder dass es eine Evidenz von »etwas« gebe, sondern dass es vielfältige Weisen der Gegebenheit und Evidenz gibt, die nicht eingeschränkt sind auf (im gewöhnlichen Sinne verstandene) empirische oder intellektuelle Gegenstände. Diese mannigfachen Weisen der Gegebenheit erfordern eine radikale Bereitschaft auf Seiten des Betrachters oder des Phänomenologen, gerade auch für diejenigen Phänomene offen zu sein, die dem bisherigen Typus der Erfahrung und korrelativ dem Typus ihres Gegebenseins widersprechen. Diese Gegenständlichkeiten, die nicht einer vorgegebenen Weise der Anschauung und keinem zuvor entworfenen Begriff entsprechen – in Marions Terminologie handelt es sich hier um die sogenannten »gesättigten« oder »paradoxen« Phänomene 77 –, werden gewöhnlich an den »Grenzen« der phänomenologischen Gegebenheit lokalisiert. 78 In der philosophischen Tradition im Allgemeinen, aber auch innerhalb der Husserl’schen Phänomenologie, wurde einer Weise der Gegebenheit der Vorrang gegeben, wie diese – quasi als ihr Urmodell – vor allem bei Gegenständen der Wahrnehmung (Präsentation) im Gegensatz zu repräsentativen Akten wie der Wiedererinnerung, Phantasievorstellung, Antizipation etc. vorliegt. Die Wahrnehmung besitzt ihren eigenen Charakter der Evidenz. Es darf jedoch daraus nicht die Konsequenz gezogen werden, das Gebiet möglicher Forschung von vornherein derart einzuschränken, dass alle Weisen möglichen Gegebenseins von Phänomenen am Evidenzcharakter der Wahrnehmung gemessen würden. Charakteristisch für die Wahrnehmung ist, dass es vom Wahrnehmenden, seinem jeweiligen Fokus der Aufmerksamkeit, seiner Aktivität abhängt, in welchem Aspekt und mit welcher Fülle das Gegenständliche jeweils zur Erscheinung kommt. Phänomenologisch ausgedrückt, hat das Wahrgenommene einen »Erscheinungskern« mit einem peripheren Verweisungskern, der dem Betrachter zuruft: Marion: Gegeben sei, insbes. S. 279–391. Marion unterscheidet fünf Arten von »gesättigten Phänomenen«: das »Ereignis«, das »Idol«, den »Leib«, die »Ikone« und als umgreifendes Phänomen die »Offenbarung« (ebd.). 78 Vgl. Anthony J. Steinbock: »Limit-Phenona and the Liminality of experience«, in: Alter: Revue de phenomenologie 6 (1998), S. 276–296. 77

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»Es gibt hier noch Weiteres zu sehen, dreh mich doch nach allen Seiten, durchlaufe mich dabei mit dem Blick, tritt näher heran, öffne mich, zerteile mich. Immer von neuem vollziehe Umblick und allseitige Wendung. So wirst du mich kennenlernen nach allem, was ich bin, all meinen oberflächlichen Eigenschaften, meinen inneren sinnlichen Eigenschaften usw.« 79

Die Präsentation ist der Weise eigen, wie vor allem sinnliche und intellektuelle Gegenstände gegeben sind. 80 Charakteristisch für die Präsentation ist ein subjektiver Anteil, durch den die Phänomene als Wahrgenommene »hervorgebracht«, zur Erscheinung gebracht werden, die umgekehrt abhängig sind von einem Vermögen, das Steinbock als »power of provocation« 81 bezeichnet. Dieses Charakteristikum des (aktiven) »Hervorbringens« auf Seiten des Subjekts trifft im Prinzip außer auf die Wahrnehmung in modifizierter Weise auch auf die Erinnerung, die Imagination, die Antizipation etc. zu. Religiöse Phänomene werden ihrem ureigenen Wesen nach jedoch nicht in der Weise gegeben, wie beispielsweise sinnliche oder intellektuelle Gegenstände präsentiert (wahrgenommen, erinnert, imaginiert, antizipiert) werden; sie können damit nicht auf diese Form der Gegebenheit reduziert werden. Daher scheinen beispielsweise religionsphilosophische Versuche, die Grenzen der Präsentation derart zu erweitern, dass auch religiöse Phänomene einbezogen werden können, aus phänomenologischer Sicht unzureichend. Aus einem ähnlichen Grund muss auch ein Ansatz unzulänglich bleiben, der die Vielfalt der Religionen oder religiöser Phänomene empirisch beschreibt und zusammenstellt, da in diesem Fall die phänomenologische Frage nach der Weise, wie das Göttliche oder das Heilige gegeben sind, in methodischer Hinsicht keine Rolle spielt. 82 Doch ohne eine Aufweisung des Wie ihres Gegebenseins, wozu z. B. ihre mannigfaltigen Konstitutionsbedingungen gehören, können aus phänomenologischer Perspektive religiöse Phänomene nicht in ihrer Fülle und ihrem eigenen Charakter der Evidenz zur Anschauung kommen. Ein anderer, phänomenologischer Zugang zu religiösen Phänomenen wäre es hingegen, die Sphäre der Gegebenheit über die Präsentation hinaus auf

Hua XI, S. 5. Vgl. Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 7. 81 Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 7. 82 Als ein frühes Beispiel für einen solchen Ansatz ist zu nennen: William James: The Varieties of Religious Experience: A Study in Human Nature, London 1902. 79 80

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prinzipiell andere Weisen der Evidenz zu erweitern und diese einer phänomenologischen Untersuchung zugänglich zu machen. Aufgrund der Korrelation von Erfahrung (im erweiterten Sinne) und Gegebenheit kann in der Phänomenologie alles zu einem Gegenstand der Erfahrung werden, insoweit dieser überhaupt gegeben sein kann. Zu diesen anderen, über den Modus der Präsentation hinausgehenden Weisen der Gegebenheit gehören die religiöse Dimension der Erfahrung (die Erfahrungen des »Heiligen« 83), die moralische Dimension (die Erfahrungen der oder des Anderen als »Person« und die Erfahrung des Selbst als »Person«) sowie kulturelle Hervorbringungen, insofern letztere nicht als bloßer Gegenstand der Präsentation fungieren, sondern – in Steinbocks Terminologie – als »Ikonen« (»icons«) das »Heilige« 84 manifestieren. Die Sphäre des »Heiligen«, aber auch die Dimension der Gefühle können in ihrer Fülle und ihrem Wesen nach nicht erschlossen werden mit einem rationalen Stil der Evidenz. Es wäre jedoch falsch, deshalb diesen Dimensionen ihre spezifisch philosophische Relevanz abzusprechen und sie ins Gebiet der »Theologie« oder »Psychologie« zu verweisen oder ins bloß Subjektive zu verlegen. Den genannten Phänomenen entsprechen vielmehr ihre eigenen, nicht-rationalen Weisen der Gegebenheit, durch deren phänomenologische Aufweisung zuvor verschlossene Erfahrungsdimensionen offengelegt und allererst freigesetzt werden können. Die Husserl-Schülerin Gerda Walther (1897–1977) widmete sich als eine Art Vorreiterin den mystischen Erfahrungen in dezidiert phänomenologischer Methode. Statt von psychologistischen oder empiristischen Vorurteilen über die religiösen und mystischen Phänomene auszugehen, ging es Walther im Anschluss an Husserl darum, die phänomenologische epoché zu üben und die mystischen Phänomene »vorurteilslos ins Auge [zu] fassen, genauso, wie es sich uns im Erleben derer, die mystische Erlebnisse gehabt haben, darstellt« 85. Mystische Phänomene stellen Walther zufolge eine Art »Urphänomen« dar, das eine ureigene Weise der Gegebenheit aufweist, die sich nicht auf anderes zurückführen oder aus anderem ableiten lässt. Das »Urphänomen« der Mystik nennt Walther auch »Ur-

Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 5. Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 15. 85 Gerda Walther: Phänomenologie der Mystik, Freiburg i. Br./Olten 1923. Neuauflage in erweiterter Fassung 1955, S. 21. 83 84

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gegebenheit« 86 in Analogie zur Gegebenheit der schlichten sinnlichen Erfahrung. Aus phänomenologischer Perspektive kann prinzipiell jede Gegenständlichkeit einer Aufweisung zugänglich gemacht werden, insoweit diese überhaupt gegeben werden kann. Wenn ich aktiv einen Gegenstand intendiere – zum Beispiel meinen Blick auf den Baum in meinem Garten richte oder mich an den gestrigen Anruf eines Freundes erinnere –, so erlebe oder erfahre ich den Gegenstand in der Wahrnehmung oder Erinnerung. Anderen Weisen der Gegebenheit und der Evidenz korrelieren prinzipiell andere Modi der Erfahrung, die weniger auf einem aktiven Hervorbringen oder Intendieren von Seiten des Subjektes beruhen als auf einer spezifischen Haltung, in der die Erfahrungen und Gegebenheiten sich von sich selbst her zeigen und somit sich geben können. 87 Solche Phänomene, deren Selbstgegebenheit qualitativ einen grundsätzlich anderen Zugang erfordern, nennt Steinbock »vertikale« Phänomene, für deren Gegebenwerden auf Seiten des Subjekts die »Evokation« 88 spezifisch ist. Der Begriff der Evokation bedeutet in diesem Fall, wie Steinbock ausführt, eine offene, wachende Haltung des »Hervorlockens« (»eliciting« 89), in der sich die Erfahrung von sich selbst her und gleichsam aus freien Stücken einstellen kann. Husserl unterscheidet ihrem Wesen nach verschiedene Haltungen oder Einstellungen, die das Dasein in seiner Beziehung zur Welt einnehmen kann: die natürliche gegenüber einer phänomenologischen Einstellung, die naturalistische gegenüber einer personalistischen Einstellung sowie die theoretische gegenüber einer willensmäßigen Einstellung. 90 Vertikalität lässt sich nicht unter eine der Walther: Phänomenologie der Mystik, S. 21; Husserl sieht, Walthers Schilderungen zufolge, in den mystischen Erfahrungen jedoch keine Objekte und Wirklichkeiten, sondern »ideale Möglichkeiten«; mystische Erfahrungen seien Ausdruck vom »Erleben der Mystiker« und deren »Liebesglut« (Walther: Phänomenologie der Mystik, S. 17). 87 In ähnlicher Weise legt auch Marion in seiner Phänomenologie des Gegebenseins in Anlehnung an Husserls Vorlesungen zur Idee der Phänomenologie das Schwergewicht nicht auf den vom Subjekt her konstituierten Gegenstand, die hervorgebrachte Gegebenheit, sondern vor allem auf das Sich des Gebens eines Gegebenen (siehe Marion: Gegeben sei, S. 119 f.). 88 Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 5–7. 89 Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 8. 90 Siehe Hua III/1, insbes. §§ 27–31, 47–50; Hua IV, S. 139–143; Zu Husserls Einstellungslehre und insbesondere zur Unterscheidung zwischen theoretischer und willens86

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Haltungen subsumieren, die Husserl in seiner Einstellungslehre explizit unterschieden hat, sondern bezeichnet eine neue, spezifische Art der »Einstellung« des Menschen, deren Gegenbegriff die Horizontalität darstellt. Der Begriff der Vertikalität der Erfahrung verweist auf eine »dynamische« Ausrichtung des Selbst – sei es in religiöser, moralischer oder leiblicher Hinsicht – hin zu etwas »Höherem« oder zu »neuen Höhen«: »Verticality is the vector of mystery and reverence; horizontality is what is in principle within reach, graspable, controllable.« 91 Der Begriff der Vertikalität ist gegenüber dem traditionellen Begriff der Transzendenz von Vorteil, da letzterer – ähnlich wie der Terminus der »Idee«, die Husserl durch das »terminologisch unverbrauchte Eidos« 92 ersetzt – mit philosophischen und religiösen Vorurteilen behaftet ist, wozu beispielsweise die Gegenüberstellung der Transzendenz zur Immanenz gehört. 93 Drei Bespiele mystischer Erfahrungen aus der abrahamitischen Tradition wie die der christlichen Mystikerin Theresa von Avila, des jüdischen Mystikers Rabbi Dov Baer (Dow Bär von Mesritsch) und des Sufi Ruzbihan Baqli können als »Leitfäden« dienen, um die verschiedenen Weisen, wie sich das »Heilige« gibt, aufzuzeigen und die eidetische Struktur »vertikaler« Erfahrungen freizulegen. Diese können, statt beispielsweise von der »Erfahrung Gottes« zu sprechen – was die Gefahr metaphysischer Äquivokation zur Folge hätte –, zunächst vorurteilsfrei als »Epiphanie« (»epiphany«) 94 bezeichnet werden. Vertikale Weisen der Gegebenheit korrelieren nicht nur der religiösen Erfahrung, sondern können prinzipiell auch in anderen Seinsgebieten erfahren werden. Dies wird ermöglicht, wenn durch eine bestimmte Zugangsart des phänomenologisierenden Ich sich die jeweiligen Phänomene in ihrer eigenen Evidenz geben können und nicht auf ihren präsentierenden (horizontalen), gegenständlichen Charakter reduziert oder beispielsweise psychologistisch umgedeutet werden. Zur Evidenz vertikaler Phänomene gehört neben ihrem epiphanischen Charakter, in Analogie zu den präsentierenden Akten und ihren Stufen der Evidenz, ein entsprechendes System von Modalitämäßiger Einstellung siehe u. a. Andrea Sebastiano Staiti: Husserl’s transcendental phenomenology, Cambridge u. a. 2014, S. 97–109. 91 Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 13. 92 Hua III/1, S. 8. 93 Siehe Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 13. 94 Zum Evidenzcharakter der Epiphanie siehe Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 2, 5, 149–166.

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Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung

ten, zu denen u. a. auch mögliche Täuschungen und Illusionen zählen. 95 Eine Weise, wie sich vertikale Phänomene zeigen, ein Charakteristikum ihrer Evidenz, wäre beispielsweise, dass diese Gegebenheiten auf Seiten des Betrachters »Scheu« oder »Ehrfurcht« und erst als deren Konsequenz »Staunen« 96 hervorrufen. Anderen Weisen der Vertikalität würden die »Manifestation« im Bereich kultureller Hervorbringungen, die »Offenbarung« der menschlichen Person, die »Enthüllung« der »Erde« (nicht des bloßen »Planeten«) sowie das »Sich-Zeigen« des »elementarischen Seins« 97 entsprechen. Zur Vertikalität gehört auch die Sphäre der sogenannten »moralischen Gefühle« (»moral emotions«) 98 wie Stolz, Scham, Schuld, Hoffnung, Verzweiflung, Vertrauen und Liebe. Diese sind im Gegensatz zu bloßen Gefühlen oder Affekten, die den Menschen in psycho-physischer Hinsicht betreffen, der Person eigen und sowohl inter-personal als auch inter-Personal orientiert. 99 Husserl unterscheidet in der 6. Logischen Untersuchung objektivierende, das heißt wahrnehmend setzende oder urteilende Akte, von den nicht-objektivierenden, wie den wertenden, wollenden und emotionalen Akten. Letztere sind in ersteren fundiert: »Jedes intentionale Erlebnis ist entweder ein objektivierender Akt oder hat einen solchen zur ›Grundlage‹, d. h. er hat in diesem letzteren Falle einen objektivierenden Akt notwendig als Bestandstück in sich, dessen Gesamtmaterie zugleich, und zwar individuell identisch seine Gesamtmaterie ist.« 100 Charakteristikum objektivierender Akte ist, dass der Gegenstand in der Weise einer Präsentation gegeben. Gefühle sind nach Husserl in Vorstellungen fundiert. 101 Mit Steinbock ließen sich kritisch an Husserl folgende Fragen stellen: Sind die moralischen Gefühle als solche stets fundiert in wahrnehmend setzenden oder urteiSiehe Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 116–147. Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 14. 97 Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 5, 16. 98 Anthony J. Steinbock: Moral Emotions: Reclaiming the Evidence of the Heart (= Northwestern University Studies in Phenomenology and Existential Philosophy), Bloomington IN 2014. 99 Siehe Steinbock: Moral Emotions, S. 14, 16. 100 Hua XIX/1, S. 514; siehe auch Hua XIX/2, S. 674 f.: »Jeder schlichte Wahrnehmungsakt kann nun aber […] als Grundakt von neuen, ihn bald einschließenden, bald nur voraussetzenden Akten fungieren, die in ihrer neuen Bewußtseinsweise zugleich ein neues, das ursprüngliche wesentlich voraussetzendes Objektivitätsbewußsein zeitigen.« Vgl. auch Hua III/1, §§ 93–94. 101 Siehe Hua XIX/1, S. 403. 95 96

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Iris Hennigfeld

lenden Akten? Lassen sich die Gefühle auf dieselbe Weise der Intentionalität zurückführen wie Gegenstände der Wahrnehmung oder intellektuelle Gegenstände? 102 Muss jede Transzendentalphänomenologie notwendig als eine Philosophie der Fundierung verstanden werden? Und können die Welt, der andere Mensch wegfallen, ohne dass die Integrität des Subjekts dadurch angegriffen würde? 103 Husserl hatte in seinen Zeitanalysen den Seinssinn der Welt vom zeitigenden Bewusstsein her gedeutet und das Ich als identischen Pol aller Erlebnisse verstanden. Dieses ist für Husserl in gewissem Sinne überzeitlich, es ist nicht Seiendes wie anderes Seiendes, also kein »Gegenstand«, sondern »Urstand für alle Gegenständlichkeit« 104. Das zeitigende Bewusstsein nennt Husserl in seinen späten Zeituntersuchungen auch das »Urphänomen der lebendigen Gegenwart« 105. Er fasst dieses so auf, dass das Bewusstsein sich selbst als »Fluss« konstituiert und somit die Quelle aller Zeitlichkeit darstellt. 106 An dieser Stelle sei als Antwort auf die gestellten Fragen nur angedeutet, dass ein derartiges Fundierungsverhältnis, demgemäß aller Seinssinn der Welt in der Subjektivität verortet ist, dann die Gefahr von Aporien zur Folge hat, wenn es um die phänomenologische Aufklärung der Wahrnehmung sowie der Erkenntnis des Anderen geht – ein Problem, das Husserl vor allem in seiner 5. Cartesianischen Meditation 107 beschäftigt hat. Bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Anderen wäre es besser, in Anlehnung an Steinbocks Analysen von einer Ko-Fundierung oder Ko-Konstitution zu sprechen. 108 In Moral Emotions zeigt der Autor, dass die Struktur der moralischen Gefühle »nicht-fundiert« ist, sondern dass diese eine eigene phänomenologische »Ordnung« 109 aufweisen. Emotionale Akte, in denen der oder die Andere als Person gegeben ist, folgen nicht der noesis/noema-Struktur intentionaler Akte: Ähnlich Siehe Steinbock: Moral Emotions, S. 10. Vgl. Steinbock: Grenzüberschreitungen, S. 37 f. 104 Edmund Husserl: Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18), hrsg. v. Rudolf Bernet, Hua Bd. XXXIII, Dordrecht u. a. 2001, S. 277. 105 Edmund Husserl: Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934): Die C-Manuskripte, hrsg. v. Dieter Lohmar, Hua Materialienband VIII, Dordrecht 2006, S. 6. 106 Edmund Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917), hrsg. v. Rudolf Boehm, Husserliana (Hua) Bd. X, Den Haag 1966, S. 436. 107 Hua I, S. 121–177. 108 Vgl. Steinbock: Grenzüberschreitungen, S. 38. 109 Steinbock: Moral Emotions, S. 11. 102 103

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Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung

wie die vertikalen Phänomene im Bereich der religiösen Erfahrung ist auch die Person als Person »absolut« zu verstehen, das heißt sie kann auf keine andere Weise der Gegebenheit reduziert werden. 110 Gegenbewegungen zur vertikalen Ausrichtung des Daseins oder deren Negation haben einen Verlust der geistigen (spirituellen) Dimension menschlicher Erfahrung zur Folge, der mit Steinbock als »Idolatrie« (»idolatry«) 111 bezeichnet werden kann und sich beispielsweise in Formen der Unterdrückung, Vergegenständlichung oder Gewalt äußert. Diese Gegenbewegungen können phänomenologisch wiederum im Hinblick auf den Charakter ihres »Entzugs« (»withdrawal«), einer »Krisis« (Husserl) oder »Vergessenheit« (Heidegger) interpretiert werden. 112 Auch wenn mit dem Begriff der »Idolatrie« die Gefahr eines Missverständnisses verbunden ist – etwa im Sinne eines Antimodernismus oder Orthodoxismus –, wählt Steinbock bewusst diese religiöse Redeweise, um die vertikale Dimension der Erfahrung als eine radikale Gegenbewegung zur »Idolatrie« von dieser abzuheben. 113 Statt auf »lebensweltliche Dinge« oder »Objekte« sich zu richten, fragt die Phänomenologie »nach den Modi ihrer subjektiven Gegebenheitsweise«, d. h. nach dem Wie des Gegebenseins dieser Objekte. 114 Ein herausgehobenes Beispiel für eine konkrete Durchführung dieses in Husserls Krisis-Schrift formulierten phänomenologischen Prinzips gibt Phenomenology and Mysticism. Denn eine phänomenologische Erforschung der Zeugnisse der Mystiker in der Erste-Person-Perspektive legt Wesensmerkmale mystischer Erfahrung frei und eröffnet ein vertieftes Verständnis dafür, wie, d. h. in welchen vielfältigen Modi, das »Heilige« in der unmittelbaren Erfahrung gegeben sein kann. Die textliche Exegese macht deutlich, dass der allgemeine Evidenzcharakter mystischer Erfahrung sich als »Epiphanie« beschreiben lässt, doch dass die einzelnen Mystiker die unio mystica auf verschiedene Weisen erlebten: beispielsweise als »Licht« oder »Regen« (Theresa von Avila), »Vernichtung« 115 des Selbst (Ruzbihan Baqli) oder »Entwerdung« (Meister Eckhart). Der spezifische Charakter mystischer Erfahrungen führt zudem nicht nur zur Frage 110 111 112 113 114 115

Siehe Steinbock: Moral Emotions, S. 12. Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 1, 16 f.; S. 211–241. Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 17. Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 17. Hua VI, S. 161. Steinbock, Phenomenology and Mysticism, S. 167.

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nach dem Wie, sondern nach dem »Wer«, dem »Ich« oder dem »Selbst« dieser Erfahrung: Ist dieses »selbst-gründend« oder ist dem »Selbst« in der mystischen Erfahrung dieses von anderswoher gegeben? 116 Die Erfahrungen der Mystiker legen nahe, dass dieses nicht selbst-gründend ist, sondern dass das Selbst vielmehr von anderswoher »empfangen wird«, an und durch das »Heilige« oder »Gott« 117 gebunden ist und von dorther seine Individuation und Freiheit erhält.

116 117

Siehe Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 168. Steinbock: Phenomenology and Mysticism, S. 168 f.

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Siegfried Rombach (Freiburg im Breisgau)

Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart Phänomenologische Grundstrukturen der Selbst-Gebung als konstituierender Selbstvollzug existenzieller Freiheit

Für Friedrich Nietzsche (1844–1900) war das im Engadiner Hochtal gelegene Sils Maria Ort einzigartiger Inspirationen. Wie kaum ein anderer Philosoph wusste er um die prägende Kraft und Urquelle des Atmosphärischen auch und gerade für das Denken. Dabei ging es Nietzsche nicht um eine Intuition, die uns einen Zuwachs an Wissen vermittelt, sondern vielmehr um eine Intuition, die uns anregt sowohl zu neuem Denken als auch zu erneuertem Leben. So beginnt Nietzsche das Vorwort zum »Zweiten Stück« seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen, »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« (1874), mit einem Zitat aus einem Brief Goethes an Schiller: »Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne mein Tätigsein zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« 1

Ganz in diesem Sinne will auch das Denken und die Botschaft des Lese- und Lebemeisters Eckhart von Hochheim (1260–1328) uns nicht allein belehren und unser Wissen bereichern, sondern durch ein Umdenken zu einem neuen unmittelbaren Lebensvollzug führen. Um mit Goethe zu sprechen, hieße das: »mein Tätigsein« im Sinne meines innersten Lebensvollzugs »unmittelbar zu beleben.« Im Folgenden soll der anfängliche Versuch unternommen werden, das Geschehen der Selbst-Gebung bei Meister Eckhart als ein innerstes, unmittelbares »Tätigsein« auf der Basis einer eng begrenzten Textauswahl – problematisierend und verstehend zugleich – exemplarisch vorzustellen. Als begrifflich strukturierender Zugang zu Meister Eckharts Denken der Selbst-Gabe sollen uns in einem ersten Schritt allerelementarste Unterscheidungen aus der Phänomenologie Edmund Husserls (1859–1938) dienen. 1 Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hrsg.): Friedrich Nietzsche Werke III,1, Berlin u. a. 1972, S. 241.

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Siegfried Rombach

1.

Die Linearstruktur der Gabe

Wenn wir uns ganz allgemein der Frage zuwenden, wie geschieht Geben überhaupt, dann stellen sich vorab gemäß der begriffslogischen Struktur des Gebens drei weitere Fragen: 1. Wer gibt? Die Frage nach dem Geber oder dem Gebenden. 2. Wem wird gegeben? oder: Wer empfängt? Die Frage nach dem Empfänger bzw. dem Empfangenden. 3. Was wird gegeben? Die Frage nach dem Gegebenen oder der Gabe. Diesen drei Konstituenten des Gebens (Geber, Empfänger, Gabe) liegt die allgemein geläufige Subjekt-Objekt-Relation zu Grunde und zugleich damit das phänomenologische Konzept der Intentionalität. Das phänomenologische Konzept der Intentionalität geht aus von einer allen »subjektiven« Bewusstseinsvollzügen innewohnenden Bezogenheit auf ein »objektives«, d. h. gegenständliches Etwas, worauf sich eben unser Bewusstsein intentional ausrichtet. Als erkenntnistheoretisches Ideal kognitiver Bezogenheit des Bewusstseins auf ein gegenständliches Gegenüber gilt die Evidenz, worunter in der Phänomenologie Edmund Husserls das originär gebende Bewusstsein der »leibhaftigen Präsenz« empirischer Gegenstände oder des Nichtanders-sein-Könnens eines gegebenen allgemeinen Gegenstandes rein als solcher verstanden wird. 2 Diesen besonderen Gegebenheitsmodus der Evidenz nennt Husserl auch Selbstgegebenheit. Dem Bewusstsein gibt sich darin etwas rein als es selbst und von sich selbst her, wobei – nota bene – die Differenz zwischen Bewusstseinsvollzug und gegenständlichem Etwas, d. h. das von Husserl so genannte »Korrelations-Apriori« 3 von Gegebenheitsweise und Gegebenem im Sinne einer bewusstseinsimmanenten Transzendenz, mithin das Schema der Intentionalität, niemals aufgehoben wird. In der klassischen, transzendentalen Phänomenologie Husserls geht es letztlich darum, in jedem einzelnen Erkenntnisschritt die im Bewusstsein auftretenden Phänomene in ihrer Selbstgegebenheit zu erschauen und hin-

2 Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana (Hua) Bd. I, Den Haag 1973, S. 92 f. 3 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana (Hua) Bd. VI, Den Haag 1962, S. 169 Anm.

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Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart

sichtlich ihrer Leistungen für den Aufbau von Bewusstsein analysierend zu beschreiben. 4

2.1. Die linear-zirkuläre Struktur der Selbstgabe Wiederholen wir daher die drei eingangs angeführten Fragen zur Struktur des Gebens angesichts des spezifischen Phänomens der Selbstgebung, so resultieren in der Diktion der Husserl’schen Phänomenologie folgende Antwortmöglichkeiten: 1. Wer gibt? Der gegebene Gegenstand gibt sich als er selbst. 2. Wem wird gegeben? oder: Wer empfängt? Das Bewusstsein empfängt das gegenständlich Gegebene. 3. Was wird gegeben? Der gegebene Gegenstand rein als er selbst und als ein solcher wird gegeben. Es zeigt sich eine formale Identität zwischen den Antworten auf die erste und die dritte Frage, d. h. der Geber und das Gegebene sind in der Selbstgebung in gewisser Weise identisch, d. h. in der Selbstgebung gibt der Geber bzw. das Gebende sich selbst. Doch intentional-analytisch betrachtet unterscheidet sich der Geber im Prozess des Gebens immer auch von sich selbst als Gegebenem und zwar in sich selbst. Die so genannte »intentionale Differenz« bleibt trotz formaler Identität erhalten. Man könnte daher von einer Unterscheidung in der Ununterschiedenheit sprechen, wie sie denn auch in jeder »ichlichen« Reflexionsstruktur sich darbietet. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass die Ununterschiedenheit durch die Hebung auf eine neue Ebene der Reflexion erfolgt. So etwa bei Husserl auf die Ebene von Noesis und Noema. 5 Denn innerhalb der noetisch-noematischen Blickbahn auf ein Gegebenes kann zwischen der Gegebenheitsweise und dem Gegebenen selbst nicht mehr sinnvoll ontologisch unterschieden werden, weil hier erstens das Gegebene allein in seiner Gegebenheitsweise betrachtet wird, und zweitens weil beide Glieder der Intentionalstruktur auf die einheitliche Ebene des reinen Bewusstseins gehoben sind. Wir sehen hier eine linear-zirkuläre Struktur, die besagt, dass 4 Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserliana (Hua) Bd. III/1, Den Haag 1976, S. 197 f. 5 Vgl. Hua III/1, S. 202 ff.

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Siegfried Rombach

etwas sich selbst einem anderen gibt. Zirkulär ist die Struktur deswegen, weil sich das Gebende intentional auf sich selbst bezieht und in diesem Rückbezug auf sich selbst einem anderen gibt. Der darin gleichfalls enthaltene Bezug auf ein anderes seiner selbst kann als eine lineare intentionale Struktur bezeichnet werden.

2.2. Die vollständige Zirkelstruktur der Selbstgabe Gehen wir noch einen Schritt weiter und postulieren – vorerst rein formal – Folgendes: In der Selbstgebung gibt und empfängt etwas oder jemand sich selbst. Dies bedeutet – über die oben angezeigte, leicht einsehbare, formale, strukturelle Identität von Geber und Gegebenem hinaus – zugleich auch die Identität von Geber und Empfänger. Wobei auch hier wiederum in intentional-analytischer Perspektive gleichzeitig ein übergängliches, d. h. ein dynamisches oder prozessuales »Sich-in-sich-selbst-Unterscheiden« – hier allerdings von Geber und Empfänger – zu konstatieren ist. Gleichermaßen gilt auch hier, dass auf der Ebene von Noesis und Noema, d. h. der immanenten Transzendenz, zwischen Noesis und Noema im konstitutiven Prozess keine sinnvolle ontologische Unterscheidung getroffen werden kann. Übertragen wir diese formalen Schemata innerhalb unseres religionsphilosophischen Fragehorizonts auf das, was die christliche Theologie klassisch als Selbstoffenbarung oder Selbst-Gebung Gottes bezeichnet hat, so können wir formulieren: Gott gibt sich selbst als er selbst, d. h. Geber und Gegebenes fallen in eins zusammen. Eine Denkfigur also, die dem Schema der linear-zirkulären Selbstgabe entspricht. Mit Meister Eckhart können wir jedoch auch darüber noch hinausgehen und sagen, Gott als der Sich-selbst-Gebende gibt sich nicht nur selbst im Sinne des »Objekts« der Gabe, d. h. des Gegebenen, sondern Gott gibt sich diese Gabe auch selbst im Sinne des Empfängers der Gabe. 6 Das Wort »selbst« steht in diesem Kontext in drei-

Vgl. Niklaus Largier (Hrsg.): Meister Eckhart. Werke I, Frankfurt a. M. 1993, S. 183 (Pr. 16 A): »[…] was da empfängt, das ist hdasselbei, was da empfangen wird, denn es empfängt nichts als sich selbst. Dies ist schwierig. Wer dies versteht, dem ist genug gepredigt.«; vgl. dazu auch Largier: Werke I, S. 27,13 (Pr. 2): »[…] wo er Jesum wiedergebiert in Gottes väterliches Herz.«

6

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Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart

facher Bedeutung. Als Antwort auf die Fragen »Wer?«, »Wem?« und »Was?« können wir immer mit demselben »selbst« operieren. In dieser zunächst nur formal beschriebenen zirkulären Struktur der Selbst-Gebung zeigt sich eine klärungsbedürftige Selbstreferentialität im Geschehen der Selbst-Gebung. Handelt es sich hierbei etwa um eine absolute Identität, die sich in der »Selbst-Gebung« lediglich selbst reflektiert? Oder um eine im Grunde geschlossene, statische Struktur, die wir nur zur Ermöglichung unseres bewusstseinsmäßigen, kognitiven Nachvollzugs in ein prozesshaftes Nacheinander auseinanderzulegen, d. h. zu linearisieren gezwungen sind? Oder wäre etwa diese zirkuläre Struktur verkürzt mit dem dialektischen Prozess des Zu-sich-selbst-Kommens des absoluten Geistes im Hegel’schen Sinne zu deuten? Ferner mag uns auf den ersten Blick diese Zirkularität der Selbst-Gebung wie eine Absurdität anmuten. Denn wenn etwas sich sich selbst als es selbst gibt, dann gibt es sich doch etwas, was es ja schon ist oder hat, also nicht wirklich etwas Neues, Hinzukommendes oder Bereicherndes. Gleichsam als gäbe man jemandem etwas zu Eigentum, was zuvor schon zu dessen Eigentum zählte. Hier von einer Gabe sprechen zu wollen, scheint – prima vista – mit dem, was wir gemeinhin unter einer Gabe bzw. Geben verstehen, schlichtweg inkompatibel. Im Fortgang dieser Untersuchung soll nun gezeigt werden, wie diese These von der Zirkularität der Selbst-Gebung in Verbindung mit deren eigentümlichen Identitäts- und Differenzverhältnissen und mithin auch die mit der Selbstreferentialität einhergehenden Schwierigkeiten näher zu verstehen sind. Gehen wir zur Erläuterung dieser These auf die Textgrundlagen bei Meister Eckhart zurück.

3.

Die Grundlegung der zirkulären Selbstgabe bei Meister Eckhart

Im Mittelpunkt von Meister Eckharts zentraler Lehre von der Geburt Gottes »im Innersten der Seele« 7 steht gerade die Entfaltung dieser wechselseitigen Konstitution der korrelativen Konstituenten im Prozess der Selbst-Gebung als einer Selbstkonstitution durch oder ge7

Vgl. Largier: Werke I, S. 51 (Pr. 4); S. 131 (Pr. 10); S. 341 (Pr. 30) et alia.

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nauer als Selbstvollzug. Im Hinblick auf den sich selbst offenbarenden Gott sagt Eckhart: »Gott gebiert mich als sich und sich als mich.« 8 Gott war somit immer schon am Werke sofern er und ich existieren. Wir haben es hier also mit einem Geschehen von Ewigkeit her zu tun. Gleichwohl ist in Eckharts Lehre von der Gottesgeburt durchgängig immer auch die Rede vom Empfänglich-Werden für das, was immer schon sich selbst gibt, für das also, was immer schon (von Ewigkeit her 9) in unserem Innersten ankommt oder besser: sich ereignet und konstituiert, nämlich diese Geburt Gottes und zugleich die geistige Geburt meiner selbst in mir. Den eigentlich transformativen, also in Zeit und Raum Neues hervorbringenden Prozess sieht Meister Eckhart daher nicht in der Geburt oder Selbst-Gebung qua Inkarnation oder Schöpfung, die beide nach Eckhart von Ewigkeit her »ohne Unterlass« 10 mithin kontinuierlich geschehen und damit immer schon geschehen sind, sondern im Empfänglich-Werden des Menschen für diese immerzu sich vollziehende Geburt – und dies verstanden als eines ursprünglichen Freiheitsgeschehens. Das Empfänglich-Werden für die immer schon, ununterbrochen und immer neu geschehende Gottesgeburt scheint indessen kein rein (aktiver) kognitiver oder rein mentaler Vorgang zu sein. Um empfangen zu können im Sinne von Erkennen oder Verstehen, bedarf es zuvor oder besser »zeitgleich«, d. h. ohne Zeit oder außerhalb der Zeit, 11 einer gewissen existenziellen oder ontologischen Wandlung hin zum Empfänglich-Werden, letztlich im Sinne eines transformierten oder ständig transformierenden Seins. So hebt Meister Eckhart am Ende seiner berühmten »Armutspredigt« emphatisch hervor: »Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn, solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen (mhd.: niht verstân), denn dies ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar. Dass wir so leben mögen, dass wir es ewig erfahren, dazu helfe uns Gott. Amen.« 12

Largier: Werke I, S. 83 (Pr. 6 »Iusti vivent in aeternum«). Vgl. Largier: Werke I, S. 265 (Pr. 22); S. 292 (Pr. 25) et elia. 10 Vgl. Largier: Werke II, S. 121 (Pr. 75); Largier: Werke I, S. 15 (Pr. 1). 11 Vgl. Largier: Werke I, S. 403 (Pr. 37): »Diese Geburt geschieht nicht einmal im Jahr noch einmal im Monat noch einmal im Tage, sondern allzeit, das heißt oberhalb der Zeit in der Weite, wo weder Hier noch Nun ist […].« 12 Largier: Werke I, S. 563, 24 ff. (Pr. 52). 8 9

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Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart

Ähnliche Ausführungen Eckharts finden sich wiederum auch am Ende der nicht weniger bedeutenden so genannten »Bürgleinpredigt«: »Könntet ihr mit meinem Herzen erkennen, so verstündet ihr wohl, was ich sage, denn es ist wahr, und die Wahrheit sagt es selbst. […] Dass wir so ein Bürglein seien, in dem Jesus aufsteige und empfangen werde und ewig in uns bleibe in der Weise, wie ich’s gesagt habe, dazu helfe uns Gott. Amen.« 13

Eckhart stellt sonach deutlich heraus, dass es unmöglich sei, dasjenige, was »die Wahrheit selbst sagt«, zu verstehen, wenn wir dieser »Wahrheit nicht gleichen«. Und er hat dabei wohl dieselbe eine und einzige Wahrheit vor Augen, der es einerseits zu gleichen und die es andererseits zu verstehen gilt. Was aber bedeutet es, einer »Wahrheit zu gleichen«? Wie gelangen wir dahin, ohne sie vorab zu verstehen? Etwa durch spirituelle Erfahrungen, durch moralisch einwandfreien Lebenswandel, durch asketische Übungen oder durch Gnade? Darüber hinaus stellt sich weiterhin die Frage, auf welcher Ebene ereignet sich diese existenzielle Wandlung hin zu dem »Zustand«, den Eckhart mit dem Ausdruck »der Wahrheit gleichen« im Blick hat. Auf einer praktischen oder eher einer theoretisch-kognitiven Ebene? Und wenn wir schließlich dieser Wahrheit glichen, was käme dann durch das Verstehen derselben Wahrheit zu diesem »Gleichsein mit der Wahrheit« noch hinzu? Was bedeutet dann – über dieses »Gleichsein mit der Wahrheit« hinaus – noch das »Verstehen« der Wahrheit? Oder löst sich dieser Unterschied von »Gleichsein mit der Wahrheit« und »Verstehen der Wahrheit«, also von Sein und Erkennen, am Ende doch wieder auf, wenn wir denn nur erst einmal der Wahrheit glichen? Begegnet uns damit bei Meister Eckhart in einer gewandelten, nämlich auf das eigene Sein bezogenen, existenziellen Sichtweise die Grundeinsicht des Parmenides: »τό γὰρ ἀυτὸ νοεῖν ἐστιν τε καὶ εἷναι.« (»Denn dasselbe ist Denken und Sein.«) 14 wieder? In aller Deutlichkeit spricht Alois Maria Haas diesen klärungsbedürftigen – und aus meiner Sicht gleichfalls selbstreferentiellen – Zusammenhang zwischen »der Wahrheit gleichen« und »die Wahrheit verstehen« einmal so aus:

Largier: Werke I, S. 35,13 f. u. S. 37,8 ff. (Pr. 2) Hervorhebungen v. Verf. Walther Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker Bd. I. Zürich 1951, S. 231. Auch Thomas v. Aquin vertritt die Position der Identität von Sein und Erkennen in Gott, im Unterschied zu Eckhart allerdings ohne den Vorrang des Erkennens.

13 14

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»Das grundlegende hermeneutische Problem ist daher bei der Interpretation eckhartscher Texte die Frage: Genügt der Leser existenziell den Anforderungen des Textes? Hat er die ›Reinheit des Herzens‹, die Bereitschaft, den Logos ankommen zu lassen (denn Gleiches wird ja nur mit Gleichem erkannt, wie Eckhart immer wieder versichert)?« 15

Offen bleiben muss hier vorerst, ob es sich bei diesen von Haas so genannten »existenziellen Anforderungen« wie etwa der »Reinheit des Herzens« um ethisch-praktische Lebensvollzüge oder deren entsprechende Habitualisierung handelt. Oder ob Eckhart damit nicht doch eher spirituell-intellektuelle Transformationen, die in erster Linie den inneren Selbstbezug der Vernunft oder des Bewusstseins betreffen und erst in zweiter Linie deren daraus resultierende ethische Konsequenzen, im Blick hat. Und im Anschluss an Husserl könnte man fragen, inwieweit nicht auch ein Wandel in der »transzendentalen Haltung«, d. h. im ursprünglichen bewusstseinsmäßigen Vollzug des Grundverhältnisses des Menschen zur Welt und zum Sein überhaupt, noch vor aller »weltlichen Praxis« schon als ein »existenzieller Wandel«, d. h. als ein Wandel auf der Ebene »transzendentaler Erfahrung«, betrachtet werden kann. Husserl würde das m. E. insofern bejahen, als anhand seiner ausdrücklichen Selbstinterpretation der spezifisch phänomenologischen Erkenntnishaltung im Sinne »transzendentaler Erfahrung« und der damit einhergehenden transzendentalen Transformation des Bewusstseins der Philosophierende eine methodisch herbeigeführte, grundlegende Horizontveränderung durchläuft, die sich denn auch in Habitualitäten niederschlagen kann. 16 Eine horizontale Wandlung des Verstehens dergestalt, dass der neue Verständnishorizont existentiellen Charakter im Sinne einer gewandelten Haltung dem Sein, den Menschen und der Welt gegenüber annimmt, hinter die fortan nicht mehr zurückgegangen werden kann.

15 Alois Haas: Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, Freiburg/Schweiz 1971, S. 63 f. 16 Vgl. dazu: Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/24), Husserliana (Hua) Bd. VIII, Den Haag 1959, S. 69 ff.: »Drittes Kapitel: Eröffnung eines Feldes transzendentaler Erfahrung«.

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Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart

4.

Die zirkuläre Struktur der Selbst-Gebung in Eckharts Predigt 76

Was nun aber bedeutet es – gemäß Eckhart – »der Wahrheit zu gleichen«? Wenden wir uns diesbezüglich als zentraler Textgrundlage der in mittelhochdeutscher Sprache verfassten Predigt 76 zu. Diese trägt als Titel und Leitwort ein Zitat aus dem ersten Johannesbrief: »Sehet, welche Liebe uns Gott geschenkt hat, dass wir Gottes Kinder geheißen werden und sind.« (1 Joh. 3,1) Weil für Meister Eckhart Gott und Wahrheit identisch sind, 17 bedeutet für ihn »der Wahrheit gleichen« dasselbe wie »Gott gleichen«. Was aber besagt »Gott gleichen«? »Gott gleichen« heißt nichts anderes als: »Wir kommen in dasselbe Sein Gottes […]« 18, »[…] ohne allen Unterschied werden wir dasselbe Sein, hdieselbei Substanz und Natur, die er selber ist.« 19 »[…] ›und wir werden ihm gleich, das heißt dasselbe, was er ist, dasselbe Sein und Empfinden und Verstehen und ganz dasselbe, was er dann ist, wenn wir ihn sehen, wie er Gott ist‹ h1 Joh. 3,2i.« 20 »Wie haberi sind wir Gottes Kinder? ›Noch wissen wir es nicht, es ist uns noch nicht offenbar‹ h1 Joh. 3,2i. Nur soviel wissen wir davon, wie er sagt: ›Wir werden ihm gleich hseini‹. Es gibt gewisse Dinge, die uns dies in unseren Seelen verbergen und uns diese Erkenntnis verdecken.« 21

Zu diesen »Dingen«, die uns »diese Erkenntnis« bzw. dieses Verstehen »verdecken«, gehört zweifellos das auf Gegenstände gerichtete »äußere Erkennen« 22 nach dem oben angeführten Schema der linearen Intentionalität, das – so Eckhart – ein Erkennen »in Vorstellungsbildern und in Begriffen« 23 sei. Gemäß dem Schema der linearen Intentionalität wäre also das »äußere Erkennen« ein mittelbares Erkennen im Gegensatz zum unmittelbaren »inneren Erkennen«. Die »Vorstellungsbilder« und »Begriffe«, die die Wahrheit und – folgt Vgl. Largier: Werke I, S. 295,26 ff. (Pr. 26): »[…] denn Gott ist die Wahrheit, und alles, was in der Zeit ist, oder alles, was Gott je erschuf, das ist die Wahrheit nicht.«; vgl. dazu auch Largier: Werke I, S. 13 (Pr. 1): »Gott ist die Wahrheit und ein Licht in sich selbst.« 18 Largier: Werke II, S. 135 (Pr. 76). Im Folgenden zitiert: Pr. 76 und Seitenzahl. Sämtliche Hervorhebungen v. Verf. 19 Pr. 76, S. 131. 20 Pr. 76, S. 127. 21 Pr. 76, S. 129. 22 Pr. 76, S. 129,19. 23 Pr. 76, S. 129. 17

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man Eckhart – mithin auch Gott verdecken, sind nichts anderes als unsere gegenständlichen Intentionen, seien es sinnliche, bildhafte oder begriffliche Intentionen. Auf diesem Wege vermögen wir nach Eckhart gerade nicht zur Erkenntnis der Wahrheit bzw. zur Erkenntnis Gottes zu gelangen. Hier bekundet sich denn auch eine innere Kohärenz der Aussagen Eckharts. Denn wenn wir uns intentional erkennend auf einen Gegenstand »außer uns« beziehen, dann verbleiben wir immer innerhalb des dualistischen Subjekt-Objekt-Schemas, sei es auch in der Form einer bewusstseinsmäßigen immanenten Transzendenz, wie oben bereits im Zusammenhang der noematischen Intentionalität erwähnt wurde. Von einem nach Eckhart so genannten »inneren Erkennen« 24 im Sinne eines radikalen Gleichseins mit der Wahrheit – als dasselbe sein – könnte demnach auf diese intentionale Weise ganz unmöglich gesprochen werden. In den Prozess des Gleichseins mit Gott vermag der Mensch folglich nicht durch ein einseitiges intentionales Erkennen zu gelangen, sondern einzig und allein durch ein gegenseitiges Erkennen Gottes und des Menschen, bei dem sich dann die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt des Erkennens aufhebt. Dass dies in uns geschieht, bleibt – so der Gedanke Eckharts – einem Akt Gottes vorbehalten, der uns erkennen oder empfangen macht, und das als ein solches Geschehen selbst wiederum allererst entdeckt, verstanden oder in der Formulierung Eckharts »empfangen« werden muss. Eckhart führt dazu aus: »Man muss wissen, dass Gott zu erkennen und von Gott erkannt zu werden, […] der Sache nach eins ist. Darin erkennen wir Gott und sehen, dass er uns sehen und erkennen macht. […] so auch erkennen wir dadurch, dass wir erkannt werden und dass er h= Gotti uns sich erkennen macht.« 25

In diesem Zusammenspiel von Erkennen und Erkannt-Werden zeigt sich noch einmal ausgesprochen deutlich eine nahezu abgründige Selbstbezüglichkeit, nämlich die Folgende: dadurch, dass Gott den Menschen sich erkennen macht, erkennt Gott den Menschen und erkennt in eins damit der Mensch Gott. Zugleich aber erkennen beide – Gott und Mensch – auch sich selbst hinsichtlich dessen, was sie wirklich und im Grunde sind. Eckhart formuliert immer wieder: »Gottes 24 25

Pr. 76, S. 129,20. Pr. 76, S. 127.

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Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart

Sein und mein Sein sind ein Sein« 26. Was auf den ersten Blick wie eine Tautologie erscheint, erschließt sich in seinem tieferen Sinn jedoch erst durch einen Umschwung oder durch ein Umdenken (durch eine μετάνοια im buchstäblichen Sinne), nämlich durch den transformativen Umschlag vom gegenständlichen Denken und Verstehen von Sein in ein vollzughaftes Denken und Verstehen von Sein. Denn, was uns Gott als Gott hierbei erkennen macht, ist nicht ein gegenständliches Etwas, z. B. seine Wesenseigenschaften, nicht eine auf einen bestimmbaren substanziellen Inhalt reduzierbare, kategorische Erkenntnis Gottes, sei sie auch noch so sehr verallgemeinernd formalisiert, sondern, was Gott uns hier erkennen macht, ist nicht allein eine intellektuelle Einsicht als vielmehr das Hineingenommen-Werden in das Sein Gottes als das Erkennen selbst, und zwar als reine Vollzugsgestalt des Erkennens im Sinne eines ursprünglichen Lebensvollzugs. Insofern sich Gott als »Erkennen« zu erkennen gibt und uns zugleich damit unsere Möglichkeit des Erkennens überhaupt erst schenkt, vermögen auch wir Gott als Erkennen zu erkennen und sind dabei selbst im Vollzug des Erkennens wie Gott, nämlich schlicht: aktueller Vollzug des Erkennens. In einem solchen Erkennen, das sich aus dem objektivierenden Gegenstandsbezug herausgenommen und auf sich selbst zurückbezogen hat, indem es sich rein als solches erfährt und gibt, erfahren auch wir uns in unserem Sein als Erkennen. Das Erkennen des Menschen ist demgemäß durch und durch Gabe Gottes, der uns sich und uns in gleicherweise erkennen macht, d. h. zu erkennen gibt, während demgegenüber dieses Geben sich von der Seite des Menschen aus betrachtet als ein Gott-Empfangen und zugleich Sich-selbst-Empfangen darstellt. Man mag ein Empfangen dessen, was sich unentwegt gibt, theologisch als Gnade bezeichnen oder philosophisch als reines Ursprungsgeschehen. Wie auch immer – wir erlangen diesen Umschwung in das andersartige »innere Erkennen« jedenfalls nicht durch Übung oder spirituelle Erfahrung allein. Gemäß Eckhart bedarf es dazu im tiefsten Grunde der Seele einer gnadenhaften Gabe Gottes. Was Gott dabei gibt, ist dieser Umschwung in das »innere Erkennen«, in ein anderes Mich-Vollziehen. Jedoch gibt Gott uns dabei nichts gegenständlich Inhaltliches zu verVgl. Largier: Werke I, S. 81 (Pr. 6): »Ist denn mein Leben Gottes Sein, so muss Gottes Sein mein sein und Gottes Wesenheit meine Wesenheit, nicht weniger und nicht mehr.«

26

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stehen. Insofern diese Gabe immer Selbstgabe Gottes ist, erweist sich auch hier wieder die logische Konsistenz der Eckhart’schen Lehre. Denn Selbstgabe kann nie durch Übung oder durch ausgreifende Erfahrung vom Empfänger selbst herbeigeführt werden. Sie ereignet sich ihrem Wesen nach »ohne Warum« jenseits jeder raum-zeitlichen Kausalität 27 – ganz und gar unmittelbar aus sich selbst heraus als ein Ursprungsgeschehen. Eine Selbstgabe, die Ihre kausale Ursache beim Empfänger hätte, wäre keine Selbstgabe. Sie wäre im Grunde überhaupt keine Gabe, sondern ein ausgreifendes »Nehmen«. Selbstgabe hat somit keinen kausalen und zeitlichen Anfang und kein Ende. Sie geschieht ursprünglich rein aus sich selbst, d. h. als Freiheit. In einer späteren Textpassage von Predigt 76 geht Eckhart noch einmal ausdrücklicher in der Weise einer verdichteten Reflexion auf die wesenhafte Korrelationsstruktur der Vollzugsgestalt des Erkennens als Erkennen, d. h. Erkennen insofern (= inquantum) 28 es Erkennen ist, ein: »Gott macht uns sich selbst erkennen, und erkennend macht er uns sich selbst erkennen und sein Sein ist sein Erkennen, und es ist dasselbe, dass er mich erkennen macht und dass ich erkenne. Und darum ist sein Erkennen mein, so wie es ein und dasselbe ist: im Meister, dass er lehrt, und im Jünger, dass er gelehrt wird. Und da denn sein Erkennen mein ist und da seine Substanz sein Erkennen und seine Natur und sein Sein ist, so folgt daraus, dass sein Sein und seine Substanz und seine Natur mein sind. Und wenn denn seine Substanz, sein Sein und seine Natur mein sind, so bin ich der Sohn Gottes.« 29 27 Vgl. Pr. 76, S. 129,26: »[…] und dieses Erkennen ist h= geschiehti ohne Zeit und Raum […]«; vgl. Largier: Werke II, S. 439 (Pr. 41): »[…] so wie Gott ohne Warum wirkt und kein Warum kennt […].« 28 Zur eminenten Bedeutung des »inquantum-Prinzips« für die Eckhart-Interpretation siehe Bernard McGinn: The Mystical Thought of. The Man from Whom God Hid Nothing, New York 2001, S. 15 f. 29 Pr. 76, S. 131 ff. Predigt 76 wird auf die Jahre, 1311, 1316 oder 1322 datiert. Vgl. Largier: Werke II, S. 705. Die These »deus intelligere est« wird insbesondere auch in den drei Questiones Parisienses (1302/1303), (siehe dazu Kurt Ruh: Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1989, S. 63) und in den Predigten des Paradisus anime intelligentis, die zwischen 1303 und 1311 (Ruh: Meister Eckhart, S. 63) datiert werden, vertreten. Vgl. dazu die gleichfalls zentrale Predigt 6 »Iusti vivent in aeternum«, Largier: Werke I, S. 87: »So auch werden wir in Gott verwandelt, so dass wir ihn erkennen werden, wie er ist h1 Joh. 3,2i. [vgl. Einheitsübersetzung 1 Joh 3,2: »Wir wissen, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.«] Sankt Paulus sagt: So werden wir erkennen: recht ich ihn, wie er mich, nicht weniger und nicht mehr, schlechthin gleich h1 Kor.13,12i.« (vgl. Einheitsübersetzung 1 Kor 13,12: »Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch er-

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Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart

Der Grund also, weshalb wir Söhne oder Kinder Gottes und damit mit Gott gleich sind, liegt einzig und allein darin, dass wir dasselbe Sein haben wie der Sohn Gottes bzw. wie Gott. Insofern Gottes Sein Erkennen ist, sind wir dadurch, dass wir uns als Erkennen vollziehen, eins mit Gott und zwar eben in seinem Sein qua Erkennen. Die Einheit besteht also im gleichen Vollzug, im gleichen Geschehen oder Prozess, nämlich dem Erkennen, was Eckhart am Beispiel des Lehrens und Lernens als eines einheitlichen korrelativen Geschehens verdeutlichen will. Wie es keinen Lehrer ohne Schüler und keinen Schüler ohne Lehrer geben kann, sondern nur im Verhältnis der Korrelation, d. h. der wechselseitigen Konstitution, so auch in der Korrelation Vater und Sohn. Es handelt sich demgemäß bei der Selbst-Gebung als der Sohnesgeburt Gottes in mir um nichts geringeres als um die Einsicht in das, was wir immer schon sind, wie wir immer schon erkannt sind, letztlich um die Einsicht und damit den freien Mitvollzug dessen, was immer schon, »ohne Unterlass« wie Eckhart vielerorts sagt, in uns geschieht. Doch unterliegt dieses gnadenhafte »Uns-erkennen-Machen« und »Sich-zu-erkennen-Geben« Gottes einer wesenhaften Einschränkung. Eckhart stellt das auch unmissverständlich heraus, wenn er sagt: »Gott könnte nicht machen, dass ich der Sohn Gottes wäre, ohne dass ich das Sein des Sohnes Gottes hätte, so wenig, wie Gott machen könnte, dass ich weise wäre, ohne dass ich Weise-Sein hätte.« 30

Demnach vermag Gott durch seine Selbstoffenbarung als Selbstgabe keine äußerliche, gleichsam akzidentielle Transformation an uns zu vollbringen, die uns in das Gleich-Sein mit ihm überführt. Einmal schon deswegen nicht, weil es sich hier um das Wesenhafte, gewissermaßen Substanzielle und Konstitutive des Menschen als solchen handelt, das unmöglich äußerlich kausal verändert werden kann, ohne das Wesen des Menschen selbst zu verändern oder aufzuheben. Zum anderen aber auch deswegen nicht, weil wir durch den Umschwung nur zeitlich »werden«, erkennen oder verstehen, was wir ontologisch immer schon sind. Man kann dieses »Werden« daher besser als ein Entdecken oder in neuzeitlicher Terminologie auch als Bewusstwerkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.«). Hervorhebungen v. Verf. 30 Pr. 76, S. 127 f.

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dung bezeichnen. Darüber hinaus aber sehe ich noch einen dritten Grund für die Abwehr dieses sich nahelegenden kausalen Missverständnisses der Transformation darin, dass auch das göttliche Wirken im Reich des Substanziellen und Vernünftigen insoweit an gewisse Regeln gebunden bleiben muss, als dieses Reich des Substanziellen und Vernünftigen – um seiner Intelligibilität willen – sich selbst in innerer Kohärenz einstimmig entsprechen muss. Und das heißt in unserem Zusammenhang, dass das ungeschaffene Sein Gottes nicht dasselbe eigene Sein noch einmal in der Weise raum-zeitlicher Kausalität machen oder herstellen kann. Denn dann wäre dasselbe Sein geschaffen und ungeschaffen zugleich, was aufgrund seiner Widersprüchlichkeit alle Möglichkeiten vernünftigen Erkennens wieder zunichtemachen würde. Zum Verständnis dieses Zusammenhangs zeigt Eckhart auf, dass wir ein »vünkelîn der redelicheit« (Quint übersetzt mit »Fünklein der Erkenntnisfähigkeit«) 31 in uns tragen, welches oder in welchem sich dieses Sein Gottes immer schon in uns vollzieht, nun aber in diesem gnadenhaft ermöglichten Prozess des erweckenden Erkennens oder Verstehens gleichsam nur entdeckt oder freigelegt wird (Eckhart spricht vom »verborgen-sein« und »verdeckt-sein« dieser Wahrheit 32) und im Gefolge davon nun bewusst mitvollzogen wird. Viertens und letztens wäre als weiterer Grund für die Unmöglichkeit, dass das Sohn-Sein und das Erkennen oder Bewusstwerden des Sohn-Seins von Gott kausal hervorgebracht oder geschaffen werden könnten, die Freiheit zu nennen. Die Freiheit nämlich, welche dieses korrelationale Geschehen auf beiden Seiten sowohl der göttlichen wie auch der menschlichen durchherrscht. Freiheit kann ihrem eigenen inneren Wesen nach nicht einseitig von einem Geber einer Gabe gemacht, geschaffen, bewirkt oder sonst irgendwie hergestellt werden. Allenfalls kann sie als Gabe im Sinne einer Ermöglichung geschenkt, d. h. schlicht: ermöglicht werden. Denn damit es zu einem sich ereignenden Freiheitsgeschehen des Gebens kommt, bedarf es nicht allein des freien Gebens sondern ebenso des Annehmens der Gabe als eines freien, dem Geber nicht verfügbaren »Empfangens« im Sinne Eckharts, d. h. des Ergreifens 33 der Gabe und damit der Freiheit durch den Empfänger. 31 32 33

Pr. 76, S. 129,9. Pr. 76, S. 133. Es würde den Rahmen dieser rein strukturell angelegten Untersuchung sprengen,

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Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart

Voraussetzung dafür, dass etwas als Gabe angenommen oder empfangen zu werden vermag, ist erstens die Erkenntnis des Gegeben-Seins einer Gabe und zweitens die Empfänglichkeit, d. h. die Annahmebereitschaft für die Gabe. Nach Eckhart lässt der existenzielle Habitus der gnadenhaft vollendeten Gelassenheit und mehr noch der »Durchbuch in die Abgeschiedenheit« allererst das »Innerste der Seele« in seiner Ungeschaffenheit hervortreten und damit als Gegebenheit erkennbar werden. Doch wenn Eckhart von diesem »Innersten der Seele« spricht, nimmt er – wie bereits ausgeführt – zugleich auch immer wieder die Möglichkeit der begrifflichen oder gegenständlichen Erkennbarkeit dieses ungeschaffenen Innersten zurück. Das so genannte ungeschaffene »Fünkelein« in der Seele sei namenlos, mehr unbekannt als bekannt. 34 Es sei in keiner Weise bestimm- und unterscheidbar als ein Etwas, nicht einmal als ein »Ort« in der Seele 35, darin Gott sich gebiert. Es scheint demnach ein reines Nichts zu sein, ein »reines Nichts« jedoch nicht im Sinne des kreatürlichen Nichts, 36 also mithin – und das ganz im Gegensatz zum Kreatürlichen – nichts gegenständlich Bestimm- und Unterscheidbares. Und dieses »NichtEtwas«, auf das Eckhart nur deiktisch, d. h. hinzeigend, unseren Blick lenken will, erscheint als die Einheit der Selbst-Gebung Gottes und der Selbstgegebenheit unseres eigenen Seins und Wesens im Vollzug des verstehenden Erkennens. Dieses Denken und Verstehen von Sein als Vollzug und Geschehen, darin sich die dreifach gefaltete Struktur der Gabe in die Einheit des reinen Gebens fügt, findet somit seine Analogie sowohl im menschlichen Selbstbewusstsein als auch im an dieser Stelle auf den existenziellen Konnex von Empfangen und Geben tiefer einzugehen. Aber es scheint bei Meister Eckhart vollkommen klar zu sein, dass die Freiheit des Empfangenden nicht nur in der Annahme des Gegebenen, sondern darüber hinaus auch in der Weitergabe oder Hingabe des Empfangenen ihre letzte Begründung findet. Siehe dazu Largier: Werke I, S. 27 (Pr. 2): »Viele guten Gaben werden empfangen […], werden aber nicht […] mit dankbarem Lobe wieder eingeboren in Gott. Diese Gaben verderben und werden alle zunichte, so dass der Mensch nimmer seliger noch besser davon wird.« 34 Vgl. Largier: Werke I, S. 323 (Pr. 28). 35 Vgl. Largier: Werke I, S. 561 (Pr. 52): »So denn sagen wir, daß der Mensch so arm dastehen müsse, daß er keine Stätte sei noch habe, darin Gott wirken könne. Wo der Mensch hnochi Stätte hin sichi behält, da behält er hnochi Unterschiedenheit.« 36 Vgl. Largier: Werke I, S. 53 (Pr. 4): »Alle Kreaturen sind ein reines Nichts. Ich sage nicht, daß sie geringwertig oder überhaupt etwas seien: sie sind ein reines Nichts. Was kein Sein hat, das ist nichts. Alle Kreaturen hnuni haben kein Sein, denn ihr Sein hängt an der Gegenwart Gottes.«

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überzeitlichen inner-trinitarischen, ewigen Beziehungsgeschehen Gottes. Dass unser je eigenes, also unser personal eigenes, transzendentales Selbstbewusstsein jenseits seiner empirischen Erscheinung als »transzendentale Erfahrung« der eigenen personalen »Ichlichkeit« ein unvordenkliches Ursprungsphänomen darstellt, hat Edmund Husserl in seinen späten Analysen immer und immer wieder intentionalanalytisch reflektiert und dabei aufgezeigt, dass auch dieses personal-individuelle Ichbewusstsein, die von ihm so genannte monadische Individualität 37, phänomenologisch keinen Anfang und kein Ende haben kann. Dies insofern als der zeitlich konstituierte Erlebnisstrom des monadologisch verfassten Ich seinen zeitlichen Anfang und sein zeitliches Ende nicht selbst zeitlich konstituieren kann, weil dies notwendig zu einem infiniten Regress führen würde. In seinen wohl tiefgreifendsten Analysen zur Konstitution des inneren Zeitbewusstseins als dem Grund jedes ichlich verfassten Bewusstseinsstroms protokolliert Husserl seine letztmöglichen Reflexionen an der Grenzen begrifflicher Deskription einmal mit dem Satz: »Da steht einem also der Verstand still.« 38 Wir stoßen damit sowohl bei Eckhart als auch bei Husserl an eine Grenze unterscheidender Sprache und auch auf eine letzte Verborgenheit des Gegebenen, das wir nur als einen reinen Prozesses oder ein unmittelbares Geschehen er-leben, aber nicht begrifflich fassen können. Das Geheimnis unseres Selbst als Bild Gottes (n. b.: Bild nicht Abbild), des Personseins also, das durch das Denken des Menschen niemals vollständig intentional eingeholt, sondern nur existenziell vollzogen werden kann, scheint nur in einem »Abscheiden« von einem selbst- oder fremdkonstituierten, und das heißt immer intentional konstituierten Ich vor aller gegenständlichen Unterscheidung und Bestimmung offenbar und damit in einer anderen, nicht-intentionalen Weise gegeben werden zu können. So formuliert dementsprechend auch Michael Gabel in seinem Werk Von der Ursprünglichkeit der Gabe: »Weil wir mit Personen und personal geprägter Wirklichkeit zu tun haben, bleibt wegen der alles umfassenden Ungegenständlichkeit für ein von äußeren 37 Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil, Husserliana (Hua) Bd. XIV, Den Haag 1973, S. 34 ff. 38 Edmund Husserl: Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18), hrsg. v. R. Bernet und D. Lohmar, Dordrecht u. a. 2001, S. 27.

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Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart

gegenständlichen Horizonten her argumentierendes Denken am Ende – nichts.« 39

Wer also der differenzlosen, ungegenständlichen Wahrheit Gottes und seiner selbst gleichen will, wovon wir ausgegangen waren, muss selbst differenzlos werden (Identität von Wesen und Sein). Die Vokabeln der »Abgeschiedenheit« und »Gelassenheit« markieren bei Eckhart den Weg dorthin oder besser formuliert: die instantan erfolgende Vollzugsweise hierfür. Der Mensch muss in ein Erkennen oder Schauen hineinfinden oder sich hineinnehmen lassen, das sich vollzieht jenseits von Vergegenständlichung, jenseits von Kausalität sowie jenseits von Raum und Zeit, jenseits von Vielheit und damit letztlich jenseits von ichlich-empirischer Individualität. Mit Eckharts Worten zu reden, hieße das: »ohne Bild«, »ohne Warum«, ohne »Hier« und »Nun«. 40 In dieser Vollzugsweise – Eckhart nennt sie auch schlicht: mhd. »lebene« = Leben – seien »alle Dinge eins, alle Dinge miteinander alles und alles in allem ganz geeint.« 41

5.

Die Frage nach dem »Wie« des einheitlichen Selbstvollzugs

Nach alledem zeigt sich nunmehr: Der Tenor des Fragens liegt in Predigt 76 nicht so sehr in der Richtung auf das, was Offenbarung ist und was inhaltlich offenbart wird, und auch nicht darauf, ob Gott sich uns kontinuierlich offenbart und darin selbst gibt. Dies alles scheint Eckhart andernorts geklärt zu haben und wird gleichsam vorausgesetzt. Die diesbezüglichen Was-Fragen (essentia) und die Dass-Frage (existentia) spielen in dieser Predigt nur am Rande eine Rolle. Worum es Eckhart hier vielmehr geht und was ihn zu derart vielen Anläufen des Suchens immer neu antreibt, erweist sich als die Frage nach dem Wie des Geschehens. In besonderer Weise exponiert Eckhart demgemäß in Predigt 76 vielmals expressis verbis die »Wie-Frage«. Nachdem noch einmal auf die Frage: »Was heißt es ›Gottes-Sohn zu sein‹ ?« – wie an vielen anderen Stellen des Eckhart’schen Œuvres Michael Gabel: »Hingegebener Blick und Selbstgegebenheit«, in: Michael Gabel/ Hans Joas (Hrsg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg i. Br./München 2007, S. 207. 40 Pr. 76, S. 129. 41 Pr. 76, S. 129. 39

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auch – folgende eine und einzige Antwort gegeben wird: »[…] wir werden ihm gleich hseini, das heißt: dasselbe, was er ist, dasselbe Sein […]« 42, taucht nun im Anschluss daran bemerkenswert häufig ein Fragen nach der Modalität auf: »Wie geschieht ›Gott-gleichSein‹ ?« bzw. »Wie ist es, Gott zu sein?«. So führt Eckhart schon am Anfang von Predigt 76 an der gleichen Stelle weiter aus, was es denn darüber hinaus näherhin bedeute, dasselbe Sein zu haben wie Gott, nämlich: »dasselbe […] Empfinden und Verstehen und ganz dasselbe, was er dann ist, wenn ›wir ihn sehen, wie er Gott ist‹ h1 Joh. 3,2i.« 43 Schon hier wird deutlich, dass die Erkenntnis Gottes nicht in einem gegenständlichen, substantiellen »Was«, sondern im Mitvollzug des »Wie« seines ihm eigenen Seins begründet liegt. Und wenige Zeilen später taucht dann gleich zweimal in Folge die auf das Verstehen desselben Seins bezogene Frage auf – nun allerdings im Hinblick auf den Menschen: »Wie haberi sind wir Gottes Kinder? ›Noch wissen wir es nicht, es ist noch nicht offenbar‹ h1 Joh. 3,2i« 44. Und im Anschluss daran: »Wie haber nuni sind wir Söhne Gottes? Dadurch, dass wir ein Sein mit ihm haben.« 45 Zwar scheint hier die Wendung »Dadurch, dass […]« als Antwort auf die Frage: »Wie sind wir Söhne Gottes?« nahe zu legen, Eckhart ziele mit der Frage nach dem »Wie« auf ein kausales »Wodurch«. Doch bei genauerem Hinsehen führt Eckhart gerade an dieser Schlüsselstelle zur Vermeidung eben dieses Missverständnisses, es handele sich hierbei um eine kausale Verursachung, die Unterscheidung zwischen »innerem« und »äußerem Erkennen« ein, wovon oben bereits die Rede war. Wie dort ausgeführt, macht Eckhart mit dieser Unterscheidung deutlich, dass es in der Seinsdimension seiner Fragestellung, nämlich der nach dem »inneren Erkennen«, kein kausales Fundierungsverhältnis geben kann. Weitere Belegstellen für die Konzentration auf die »Wie-Frage« in Predigt 76 finden sich denn auch treffend im Kontext des Problems, wie es zu diesem Offenbar-Werden bzw. Gleich-Werden mit einem anderen »Wie« des Seinsvollzugs in mir kommen kann: »[…] durch das Haben desselben Seins werden wir ihm gleich, und wir sehen ihn,

42 43 44 45

Pr. 76, S. 127,30 f. Pr. 76, S. 127,31 ff. Pr. 76, S. 129,3 f. Pr. 76, S. 129,16.

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Selbst-Gebung und Selbstreferentialität des Verstehens bei Meister Eckhart

wie er Gott ist.« 46 »[…] dann hersti ist es offenbar, wenn wir ihn sehen, wie er Gott ist.« 47 Eckharts Fragen erstreckt sich im Zentrum von Predigt 76 denn auch hin bis zu dem, was wir neuzeitlich »Selbstbewusstsein« 48 nennen könnten, vielleicht aber besser als ein inneres Gewahren dessen, was sich in mir vollzieht, verstanden werden sollte. »Wie aber ist man der ›Sohn Gottes‹ oder wie weiß man es, dass man es sei […]?« 49 Kommen wir abschließend auf unsere zentrale Ursprungsfrage zurück, die sich aus Eckharts Diktum: »[…] solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen […]« 50 ergab und die da lautete: Was bedeutet es, oder besser: Wie kann es geschehen, dass wir der Wahrheit bzw. Gott gleichen und in dasselbe Sein Gottes und damit in das Verstehen von Eckharts Grundbotschaft gelangen? Es scheint dies die alles überragende Frage des Offenbar-Werdens und der Selbst-Gebung bei Meister Eckhart zu sein. Deutlich wurde bereits, dass das Gott-gleich-Werden bzw. der Wahrheit-gleich-Werden gerade nicht auf dem Wege irgendeiner begrifflich bestimmbaren Weise des Unterscheidens verstanden werden kann. Denn da Gott – wie Eckhart darlegt: »niemandem gleich ist, so müssen wir notgedrungen dahin kommen, dass wir nichts sind, auf dass wir in dasselbe Sein versetzt werden können, das er selbst ist. Wenn ich daher dahin komme, dass ich mich in nichts ›einbilde‹ und nichts in mich ›einbilde‹ und hallesi hinaustrage und hinauswerfe, was in mir ist, so kann ich in das bloße hreinei Sein Gottes versetzt werden, und das ist das reine Sein des Geistes. […] Und nachdem dies geschehen ist, ist nichts hmehri verborgen in Gott, das nicht ›offenbar‹ oder nicht mein würde. Dann werde ich weise, mächtig und alle Dinge, wie er, und ein und dasselbe mit ihm.« 51

Pr. 76, S. 131,22. Pr. 76, S. 131,28. 48 Vgl. dazu Kurt Flasch: »Die Intention Meister Eckharts«, in: Sprache und Begriff. Festschrift für Bruno Liebrucks, Meisenheim 1974, S. 317. Eckhart wolle »mit streng philosophischen Argumentationen die Selbstkonstitution des menschlichen Bewusstseins im Licht des göttlichen Logos, d. h. die Gottesgeburt darlegen.« 49 Pr. 76, S. 133,7 f. 50 Largier: Werke I, S. 563,25 f. (Pr. 52). 51 Pr. 76, S. 133,12–26. 46 47

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Und an späterer Stelle innerhalb Pr. 76 heißt es: »Wir werden ihm nicht gleich, wenn dieses »Nichts« nicht ausgetrieben wird, so dass wir alles werden, wie Gott ›alles in allem‹ h1 Kor. 15,28i ist.« 52 Es zeigt sich somit, dass die »existenzielle Anforderung« 53, auf dass wir mit der Wahrheit bzw. Gott eins zu werden vermögen, in ihrer Vollendungsgestalt eben keine rein ethische oder asketische Praxis meint, sondern in nichts anderem als der »Gelassenheit« oder »Abgeschiedenheit« im Sinne Eckharts liegt. Dass es sich bei dem, was Eckhart unter »Gelassenheit« und »Abgeschiedenheit« versteht, um Vollzüge »gnadenhafter Transformation der Seele in die Natur und das Leben Gottes« 54 handelt und nicht um psychisch induzierte Prozesse ethisch-asketischer Übungen, sei aufgrund der eindeutigen Forschungslage hier vorausgesetzt. Die oben kritisch angezeigte Selbstreferentialität im Prozess der Selbst-Gebung stellt sich somit als ein Widerfahrnis im einheitlichen Zusammenspiel von Gnade und Freiheit heraus. Es mag paradox klingen, vom Widerfahrnis der Freiheit zu sprechen. Doch insofern der Prozess der Befreiung mit dem Sich-empfänglich-Machen lediglich beginnt, so vollendet doch – obzwar von Anfang an wirksam – erst die Gnade diesen Befreiungsprozess des Menschen zur Freiheit seines ihm qua Erkennen zugeigneten gleichsam göttlichen Seins. Dass es sich bei einem Prozess der konstituierenden Einung in der Einheit notwendig um eine selbstreferentielle Dynamik handeln muss, insofern nämlich keine Unterscheidung gegenüber einem Außerhalb der Einung mehr gedacht werden kann, mag nach unserem oben angestellten Versuch des Verstehens vielleicht etwas begreiflicher geworden sein.

Pr. 76, S. 135,8–11. Vgl. Alois Haas: Nim din selbes war, Freiburg/Schweiz 1971, S. 63 f. 54 Markus Enders: Gelassenheit und Abgeschiedenheit. Studien zur Deutschen Mystik, Hamburg 2008, S. 149 ff. 52 53

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Amanda Viana de Sousa (Freiburg im Breisgau)

Die Selbstgabe des göttlichen Lebens in Meister Eckharts Metaphysik der Einheit

1.

Einführung

Die Auffassung von der Selbstgabe Gottes in Meister Eckharts Denken hat zwei Grundlagen: die Selbstgabe als Identität von Gabe und Geber und die Selbstgabe als ein selbstständiger Akt. Diesbezüglich wird der Terminus »Sich-Selbst-Geben Gottes« gebraucht. Die Radikalität dieses Gedankens kommt deutlich zum Ausdruck, wenn das Sich-Selbst-Geben Gottes als das Leben gedacht wird. Dies hat zur Folge, dass die Lebewesen wahrhaft lebendig sind, wenn sie das Leben unmittelbar von Gott empfangen. Daher weist Meister Eckhart auf die Seele hin, nicht als das Lebensprinzip des Leibes, sondern als das absolute Empfangen für das absolute Geben Gottes. Das absolute Geben Gottes kann sich erstens darin bekunden, dass es purum et plenum esse ist, zweitens darin, dass es folglich die Abgeschiedenheit und die Gelassenheit voraussetzt. Meister Eckhart geht noch weiter und denkt das Sich-Selbst-Geben Gottes als Leben, weil das Leben eine dynamische Einheit ist. Wie aber ist diese Interpretation zu verstehen und wie begründet er sie mit Blick auf seine Metaphysik der Einheit? Von dieser Fragestellung ausgehend gliedert sich der vorliegende Aufsatz in vier Teile: 1. Zunächst wird die Frage nach dem Sich-Selbst-Geben Gottes und dem Leben behandelt; 2. Dann soll gezeigt werden, wie sich das Leben Gottes einerseits von den Lebewesen unterscheidet und wie es andererseits dem Grund der Seele entspricht; 3. Danach erfolgt eine Diskussion über die Bedingungen für einen unmittelbaren Empfang der Selbstgabe des göttlichen Lebens; 4. Abschließend soll erläutert werden, in welchem Bezug die Selbstgabe des göttlichen Lebens zur Metaphysik der Einheit steht.

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Amanda Viana de Sousa

2.

Das Leben als das Sich-Selbst-Geben Gottes

Im Kontext des Sinngehalts der Selbstgabe in Meister Eckharts Predigten steht das Geben Gottes 1 als ein Ausdruck für sein Wirken. 2 Weil dieses Wirken auf das purum et plenum esse verweist, versteht es sich als Geben in seiner radikalsten Weise, als Sich-Selbst-Geben Gottes. Um dies aufzuzeigen, legt Meister Eckhart die ontologische Bestimmung Gottes und der Kreaturen dar: Zum einen kennzeichnet er Gott als den Seinsgeber, zum anderen die Kreatur als den Seinsempfänger. 3 Gott ist das Sein und sein Sein besteht darin, sich selbst zu geben. Die Kreatur ist Nichts, da sie geschaffen wird. Dass sie überhaupt ist, ist dem Sich-Geben Gottes geschuldet. 4 In Predigt 26 sagt Meister Eckhart, dass Gott »der Natur und des Wesens ist, dass er geben muss. Wer aber Gott dies rauben wollte, der Beziehungsweise die Gabe und die Gnade Gottes. Vgl. bei verschiedenen Anwendungen dieses Begriffs in Meister Eckhart: Deutsche Werke I (DW I), Bd. 24, Texte und Übersetzungen von Josef Quint, hrsg. und kommentiert von Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 2008 sowie in Meister Eckhart: Deutsche Werke II (DW II), Bd. 25, Texte und Übersetzungen Ernst Benz u. a., hrsg. und kommentiert von Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 2008: Pr. 2, DW I, S. 291; Pr. 26, DW I, S. 299, S. 303; Pr. 27, DW I, S. 305, S. 311, S. 313; Pr. 28, DW I, S. 319; Pr. 29, DWI, S. 327, S. 333; Pr. 31, DW I, S. 349, S. 353; Pr. 35, DW I, S. 379; Pr. 36b, DW I, S. 393; Pr. 37, DW I, S. 399, S. 401; Pr. 41, DW I, S. 437, S. 447; Pr. 43, DW I, S. 467; Pr. 44, DW I, S. 477; Pr. 47, DW I, S. 499, S. 501, S. 503; Pr. 48, DW I, S. 509; Pr. 49, DW I, S. 511, S. 513, S. 517, S. 519; Pr. 52, DW I, S. 563; Pr. 54ª, DW I, S. 573, S. 579; Pr. 59, DW I, S. 627, S. 631; Pr. 62, DW I, S. 655, S. 657, S. 659; Pr. 63, DW I, S. 667; Pr. 65, DW I, S. 675; Pr. 66, DW II, S. 15; Pr. 67, DW II, S. 27; Pr. 68, DW II, S. 37, S. 41; Pr. 69, DW II, S. 45; Pr. 71, DW II, S. 177; Pr. 72, DW II, S. 83; Pr. 75, DW II, S. 123; Pr. 79, DW II, S. 155/ 156; Pr. 80, DW II, S. 163–165; Pr. 8, DW II, S. 173, S. 175; Pr. 82, DW II, S. 185; Pr. 83, DW II, S. 191; Pr. 84, DW II, S. 199; Pr. 85, DW II, S. 205; Pr. 86, DW II, S. 211. 2 Vgl. Christine Büchner: Wie kann Gott in der Welt wirken? Überlegungen zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, Freiburg i. Br. (u. a.) 2010, S. 269. 3 Vgl. Christine Büchner: »Sein-Geben. Meister Eckharts Denken der Gott-Welt-Beziehung als Ansatzpunkt einer Ontologie des Gebens und Sich-Gebens«, in: Rolf Kühn/Sébastien Laoureux (Hrsg.): Meister Eckhart: Erkenntnis und Mystik des Lebens. Forschungsbeiträge der Lebensphänomenologie, Bd. 6, Freiburg i. Br./München 2008, S. 358–382, hier S. 360: »Die Schöpfung kann außerhalb Gottes (als sie selbst) nur sein, weil sie in ihm ist. Meister Eckhart sagt daher, jede Kreatur besitze ein duplex esse. Die eine Seite ihres Seins ist jene in Gott, in ihm ist der Kreatur volles, göttliches Sein geschenkt. Die andere Seite ihres Seins ist jene endlich bedingte Seite, die ihr eigentümlich ist, weil sie das Sein in Gott nicht besitzt, sondern es ihr gegeben wird von Gott, der als Seingeber vom Seinempfänger unterschieden ist.« 4 Vgl. Pr. 4, DW I, S. 53; Pr. 5a, DW I, S. 63; Pr. 5b, DW I, S. 73. Pr. 47, DW I, S. 499: »Das Edelste, das Gott in allen Kreaturen bewirkt, das ist Sein.« 1

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Die Selbstgabe des göttlichen Lebens

raubte ihm sein eigenes Sein und sein eigenes Leben.« 5 Das SichSelbst-Geben Gottes bezieht sich also auch auf sein Leben, einerseits ausgehend von der Einheit zwischen Sein und Leben 6, andererseits ausgehend vom Lebensverständnis Meister Eckharts. Nach einer Revision des Zusammenhangs zwischen dem göttlichen Lebens- und Gebensbegriff lassen sich folgende Thesen formulieren: 1. Das Leben entspricht dem Sich-Selbst-Geben Gottes als dem Akt des göttlichen Wirkens; 2. Dieser Akt hat mit der Vollkommenheit des göttlichen Erkennens zu tun; 3. Die Vollkommenheit des göttlichen Erkennens beschreibt die Dynamik der innertrinitarischen Einheit – das sich einander Geben der göttlichen Personen; 4. Dahingehend fällt das Leben und das Lebendigsein mit der innertrinitarischen Einheit zusammen; 5. So ist wahrhaftig lebendig nur, was ohne »dies und das«, ohne »Warum«, »Wo« und »Wann« ist. Zur Begründung dieser Thesen ist es vor allem erforderlich zu zeigen, was Meister Eckhart näherhin unter dem Leben versteht: »Lebendig ist nämlich das, dessen Bewegung von innen ist; was aber von außen bewegt wird, ist nicht lebendig. Ebenso hat (der Lebendige) dadurch, dass er lebendig ist, das Leben in sich selbst, er ist nicht von einem andern bewegt, ist frei und dank seiner selbst und wirkt um seiner selbst willen, wie Gott (vgl. Spr. 16,4).« 7

Die Bewegung von innen, die das Lebendige und das Leben allgemein charakterisiert, wird als Selbstbewegung bezeichnet, d. h. als Autonomie einer Bewegung, die ohne eine äußerliche und von der Wirkung verschiedene Ursache ist. Meister Eckhart vertritt die Ansicht, dass diese allgemeine Bestimmung des Lebens als ein Akt verstanden werden soll, der in seiner aktiven und passiven Entfaltung ein einziger ist, nämlich der Akt des Erkennens. Es geht um eine vollständige noetische Bewegung, die ausschließlich Gott eigen ist, da Gott qua seiner Substanz sich selbst erkennt. Demzufolge lebt nur Gott eigent-

Pr. 26, DW I, S. 303. Vgl. Pr. 59, DW I, S. 631: »Darum spricht er: ›Ich gebe ihnen das Leben‹, denn sein Sein ist sein Leben, gibt doch Gott sich selbst ganz und gar, denn er sagt: ›Ich gebe‹.« 7 Vgl. Meister Eckhart: Lateinische Werke, Bd. 3 (LW III), hrsg. u. übers. v. Karl Christ u. a., Stuttgart 1994: Ioh. n. 585, S. 512. 5 6

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lich, da sein Leben der innerliche Akt seiner vollkommenen Selbsterkenntnis ist. So behauptet Meister Eckhart, dass »Gottes Sein und Leben ein Erkennen ist und dass er ganz und gar aus sich erkennt. Und deshalb ist er das Leben.« 8 Da das Erkennen die Weise des göttlichen Wirkens ist, ist das Leben als Selbsterkenntnis die Verwirklichung des Wirkens Gottes, nämlich des Sich-Selbst-Geben Gottes. Diese Bezeichnung weist auf die Dynamik der göttlichen innertrinitarischen Einheit hin. Sie ist dynamisch, weil kein Teil dieser Einheit eine in sich verkapselte Einheit ist. Der Grund dafür besteht darin, dass Meister Eckhart Gott nicht als eine in sich verschlossene Abstraktion oder als ein impersonales Gesetz versteht, sondern als einen lebendigen Gott, der auf personale Weise Sich-Selbst gibt. Die göttliche Selbsterkenntnis charakterisiert die Beziehung zwischen dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist als ein fließendes Sich-einander-selbst-Geben. Zunächst bedeutet das Sich-Selbst-Geben für den Vater Sein und Leben. 9 Die Eigentümlichkeit des Vaters ist das Wirken, genauer gesagt, das Zeugen. Er zeugt seinen einzigen Sohn und in dieser Zeugung gibt er sich ihm, das heißt, gibt er ihm seine Natur und sein Sein, 10 mithin sein Leben. Der Sohn hat dasselbe Leben wie sein Vater und gibt sich wiederum ihm, indem er für den Vater lebt und dessen Leben offenbart. Der Sohn stellt das Leben als die Tatsache der väterlichen Selbstgabe, als den unaufhörlichen Akt der Selbsterkenntnis Gottes, dar. Da der Sohn als Gegenstand des Vaters das Leben ist und da Vater und Sohn wesentlich identisch sind, »wird auch der (Sohn), welcher ihn (den Gegenstand) als solchen erkennt, Leben sein: ›wie der Vater das Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich selbst zu haben (5,26)‹.« 11 Vater und Sohn geben sich einander in wahrer Liebe, 12 die »so lauter, so entblößt und so abgelöst« in sich selbst ist. 13 Für Meister

Vgl. Meister Eckhart: Lateinische Werke, Bd. 4 (LW IV), hrsg. u. übers. v. Ernst Benz u. a., Stuttgart 1987: Serm. LIV, n. 528, S. 445. 9 In Ioh. n. 341, LW III, S. 290. 10 Vgl. Pr. 27, DW I, S. 311; Pr. 29, DW I, S. 333; Pr. 49, DW I, S. 517; In Ioh. n. 585, LW III, S. 512. 11 In Ioh. n. 698, LW III, S. 613. 12 Vgl. Büchner: Wie kann Gott in der Welt wirken?, S. 266–268. 13 Pr. 27, DW I, S. 305: »Liebe im Lautersten, im Abgelösten, in sich selbst ist nichts anderes als Gott.« 8

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Die Selbstgabe des göttlichen Lebens

Eckhart ist diese Liebe der Heilige Geist. Dieser ist als Liebe das Band und die Hauchung, kurz gesagt: er ist die Verbindung zwischen Vater und Sohn und haucht von dieser Verbindung zu den Kreaturen. 14 Durch den Heiligen Geist gibt Gott sich immer als Liebe: Auf der einen Seite muss er sich immer geben, da er ein ewiger Akt ist. Auf der anderen Seite besteht keine Notwendigkeit für den Akt Gottes, weswegen er sich als Liebe gibt. 15 Außerdem ist Gott Liebe, »insofern als er mit seiner Liebe allen Kreaturen ihr Sein und ihr Leben schenkt und sie mit seiner Liebe erhält.« 16 Weiterhin behauptet Meister Eckhart, dass diese Liebe über der Zeit ist. 17 Grundsätzlich ist festzuhalten: Das Sich-einander-selbst-Geben des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes bezeichnet die göttliche Selbsterkenntnis als die Rückwendung Gottes zu sich selbst. Dementsprechend stellt sich die Frage, wie sich für Meister Eckhart die Selbstgabe des göttlichen Lebens hinsichtlich der Lebewesen denken lässt, die im nächsten Teil behandelt werden soll.

3.

Die Seele als das Prinzip des Lebens

Die Frage nach den Lebewesen betrifft die Seele. Meister Eckhart legt dar, dass »die Meister keinen Namen für die Seele finden können, sie nennen sie ›Seele‹, sofern sie dem Leibe Wesen gibt.« 18 Dieses Zitat deutet an, dass der Name »Seele« nicht deren eigenes Wesen ausdrückt, sondern die Gegebenheit, dass die Seele dem Leib Wesen gibt. Mit anderen Worten: Die Seele ist die Form und das Lebensprinzip des Leibes. 19 In dieser Konstellation wird sie bloß in ihrer Zusammensetzung mit dem Leib betrachtet. Gleichwohl ist Meister Eckharts Interesse nicht primär auf das »Geben« der Seele, sondern auf den

Vgl. Meister Eckhart: Lateinische Werke, Bd. 1,1, hrsg. v. Konrad Weiß, Stuttgart, 1964: Gen. II n. 3, S. 453; Pr. 47, DW I, S. 497. 15 In Gen. I n. 6, LW I, S. 189: »So also schuf (Gott) Himmel und Erde im Anfang, das heißt im Geist. Und das geht gegen jene, die behaupten, dass Gott die Dinge mit Naturnotwendigkeit schaffe und hervorbringe.« Vgl. Avicenna: Met. IX c. 4 (104 va 42–48). 16 Pr. 65, DW I, S. 675. 17 Pr. 29, DW I, S. 327: »In zeitlichen Dingen kann der Heilige Geist weder empfangen noch gegeben werden.« 18 Pr. 3, DW I, S. 41. 19 Vgl. Serm. LV n. 555, LW IV, S. 464–465; Predigt 83, DW II, S. 191. 14

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Ort, an dem die Seele Gott empfängt, gerichtet. 20 Denn die Seele gibt dem Leibe Leben, weil sie ihrerseits das Leben von Gott empfängt. 21 Um zu beweisen, dass ein Lebewesen dann wahrhaft lebt, wenn es das Leben unmittelbar von Gott empfängt, indem es von Gott erkannt wird, unterscheidet Meister Eckhart drei Stufen von Lebewesen und deren Lebensakten. So analysiert er den Akt der Selbstbewegung von Pflanzen, Tieren und Menschen, ebenso wie das Leben Gottes. Die Pflanzen und Tiere sind für Meister Eckhart durch einen naturhaften Beweggrund bestimmt, da sie am Leben der Vernunft nicht unmittelbar teilnehmen. Die Pflanzen gehen auf im »Sprießenlassen und […] Erzeugen«, die Tiere werden durch die Sinne geführt. Die Menschen werden als »lebende Seelen« verstanden, da sie vermittels des Erkennens den Zweck ihrer Bewegung bestimmen können. Demgegenüber sind sie vom Leibe begrenzt, und die Vollkommenheit ihres Erkennens ist von Gott abhängig. Infolgedessen sind das Leben und das Lebendigsein nur Gott eigen, da er geistig und sein Erkennen vollkommen selbstständig ist. Doch ist Gott nicht nur das Leben, sondern auch der Lebensatem: 22 Während die Lebewesen ihre Natur geben, aber nicht ihr eigenes Leben, gibt Gott alles, was zu ihm gehört, d. i. sein Sein und sein Leben, denn er gibt nicht weniger als sich selbst. 23 Das Leben kommt auch deshalb nur Gott zu, weil es ungeschaffen und unschaffbar ist. 24 Vom Standpunkt der Kreatürlichkeit (Kör-

Vgl. Meister Eckhart: Lateinische Werke, Bd. 2, hrsg. u. übers. v. Konrad Weiß u. a., Stuttgart 1964: Sap. n. 94, S. 428: »›Durch das nämlich ist die Seele Bild Gottes, wodurch sie für ihn empfänglich ist‹, wie Augustin sagt.«; vgl.; vgl. Augustin: Trin. XIV c. 8 (n. 11, PL 42, 104); Serm. XXIV n. 250, LW IV, S. 229: »[…] dass nach der Behauptung Platos die Seele unsterblich ist, da sie der Weisheit empfänglich ist. Um wieviel mehr (wird sie unsterblich sein), da sie Gottes empfänglich ist.« 21 Vgl. Pr. 37, DW I, S. 401: »So wie die Seele dem Leibe das Leben gibt, so gibt Gott der Seele das Leben.« 22 In Gen. I n. 184, LW I, S. 327. 23 Pr. 25, DW I, S. 291: »Als Erstes aber, das Gott je gibt, gibt er sich selbst. Und wenn du Gott hast, so hast du zu Gott hinzu alle Dinge. Ich habe zuweilen gesagt: Wer Gott hat und zu Gott hinzu alle Dinge, der hat nicht mehr als einer, der Gott allein hat«; Pr. 49, DW I, S. 517. 24 In Gen. I n. 112, LW I, S. 267: »Hierbei ist zu bemerken, dass das Lebendige als solches ungeschaffen und unschaffbar ist. Wo immer sich also Leben in solcher Reinheit und Einfachheit findet, dass es nur Leben, nicht aber sonst noch ein Sein ist, ist es ungeschaffen. Ziel der Erschaffung ist ja das Sein. Daher ist alles, was neben dem 20

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Die Selbstgabe des göttlichen Lebens

perlichkeit, Zeitlichkeit und Vielheit) 25 sind die Lebewesen nicht lebendig, weil sie unter einer Ursache außerhalb ihrer selbst stehen und weil der Lebensbegriff dem innerlichen Wirkgrund entspricht. So ist Meister Eckhart der Auffassung, dass »sich mit der Zeit [dasjenige] verändert« 26, was geworden ist. Was geworden ist, ist trotzdem im Geist, im Prinzip, Leben und Lebendigsein: »›Was geworden ist, in ihm‹ nicht gemacht oder geschaffen, sondern ›Leben‹ (Joh. 1,3.4); zum andern lebt nur Gott im eigentlichen Sinn, da er ja nicht von außen, sondern von innen, aus sich selbst bewegt wird.« 27 Hieraus geht hervor, dass das Leben zu der causa essentialis gehört. Die causa essentialis drückt die unmittelbare Beziehung zwischen dem principium und dem principiatum aus, 28 deren Beziehung die Einheit zwischen Erkennen und Sein ist: das Leben. Da das Leben das Sich-selbst-Erkennen Gottes beschreibt und da das Erkennen Gottes dessen eigenes Sein ist, ist das, was von Gott erkannt wird, was »im Prinzip« ist, lebendig: »Was im Geist ist, lebt mit dem Künstler.« 29 Und was nicht von Gott erkannt wird, lebt und ist überhaupt nicht, »[d]erart sind alle Gebrechen, Übel, Verderbnis und Mängel.« 30 Wenn also Meister Eckhart das Prinzip des Lebewesens thematisiert, geht er von der Seele aus, insofern sie Gott mit seinem Sein und Leben empfängt. Dazu spricht er von dem Grund der Seele, wo die Seele in Gott und Gott in der Seele ist. Die Frage nach dem Grund der Seele ist eine Frage nach der Identität, die ausgehend von der reinen Absolutheit 31 Gottes verstanden werden soll. In der Tat ist die Seele in Lebendigsein noch irgend ein Sein hat, gemacht und geschaffen, sofern es dieses Sein hat, nicht aber sofern es lebt.« 25 Vgl. Pr. 11 und Pr. 12, DW I. 26 In Ioh. n. 67, LW III, S. 56. 27 In Gen. I n. 112, LW I, S. 266: »Deswegen spricht die Schrift ihm häufig das Leben oder Lebendigsein als Eigentümlichkeit zu (vgl. Deut. 5,26; 1. Kön. 17, 26.36; Ps. 41,3).« 28 Vgl. In Gen. II n. 215, LW I, S. 691: »Daher bleibt das Hervorgehende im Hervorbringenden und mit dem Hervorbringenden in der Einheit seines Wesens, seiner Natur, seines Seins, Lebens, Denkens und dergleichen. Niemals entfernt es sich oder fällt es vom Einen ab noch unter das Eine, sondern das in einem solchen wirklichen Hervorgang Hervorgehende ist das Wesen des Hevorbringenden selbst innerhalb des Einen und im Einen und ist das Eine selbst; denn es geht von dem Hervorbringenden hervor, insofern das Hervorbringende das Eine ist.«; vgl. In Ioh. n. 343, LW III, S. 291–292. 29 In Ioh. n. 67, LW III, S. 56. 30 In Ioh. n. 91, LW III, S. 78. 31 Vgl. Pr. 67, DW II, S. 27: »[…] die reine ›Absolutheit‹ des freien (= reinen) Seins,

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Gott, 32 weil Gott eigentlich »im Allerinnersten« 33 ist. Die reine Absolutheit Gottes, die im Allerinnersten ist, entspricht dem Einen bzw. der Gottheit. Als Eines ist das Sein Gottes »abgesondert, abgelöst und geschieden« 34 von allen Bestimmungen, weil es ganz ununterschieden von allem ist. Um die Reinheit, die Verborgenheit, die Ruhe und die Unerkennbarkeit Gottes zu benennen, verwendet Meister Eckhart den Begriff Gottheit. Sie repräsentiert eine radikale Transzendenz, nicht nur weil sie im Allerinnersten ist, sondern auch weil ihr überhaupt kein Akt und folglich auch kein Leben zukommt. Dennoch ist sie nicht irgendeine andere Instanz außerhalb des Lebens, sondern dessen Urquelle als die Natur der innertrinitarischen Einheit. 35 Man darf auch nicht unerwähnt lassen, dass für Meister Eckhart das Eine und die Gottheit realiter zusammenfallen: Vom Begriff der Gottheit ausgehend, sucht Meister Eckhart die Reinheit des Seins zu begründen, durch welches Gott sich von der Vielheit unterscheidet. Mit dem Begriff des Einen wird die Fülle des Seins charakterisiert, durch welche Gott alles in der Gottheit, »im Innersten, im Lautersten« 36 umfasst. Dadurch gibt Gott sich selbst als Reinheit und Fülle. 37 Umgekehrt ist das reine und volle Sein die Bedingung, um sich selbst zu geben. Außerdem denkt Meister Eckhart das reine und volle Sein Gottes innerhalb der Identität zwischen Sein, Einem und Leben und faßt die göttliche Selbstgabe nicht im Sinne einer statischen Transzendenz. Es geht ihm um die dynamische Identität des göttlichen Seins, das alles transzendiert, weil es ganz immanent in allem ist, das als Eines sich selbst gibt und das als Leben zu sich zurückkehrt. das ohne ›Da‹ (= Ort) ist, wo es weder empfängt noch gibt: es ist vielmehr die reine Seinsheit, die alles Seins und aller Seinsheit beraubt ist. Dort erfasst sie Gott rein dem (göttlichen) Grunde nach, wo er über alles Sein hinaus ist.« 32 Vgl. Pr. 67, DW II, S. 23: »Wo die Seele ist, da ist Gott, denn die Seele ist in Gott.« 33 Pr. 69, DW II, S. 51. 34 Vgl. Pr. 20a, DW I, S. 225; Pr. 21, DW I, S. 245; Pr. 27, DW I, S. 305; Pr. 40, DW I, S. 429; Pr. 54a, DW I, S. 575; Pr. 67, DW II, S. 23; Pr. 69, DW II, S. 49–51. 35 Pr. 48, DW I, S. 509. 36 Pr. 38, DW I, S. 407. 37 Vgl. In Gen. I n. 174, LW I, S. 319: »Gott ruhe in allem Geschaffenen und dessen Erschaffung, damit wir lernen, dass Gott das reine, volle und einfache Sein und die einzige Quelle alles Seins, ob in der Seele drinnen oder außerhalb, ob in Kunst oder Natur.«; vgl. In Exod. n. 74, LW II, S. 76–77: »Er sagte aber: ›ich bin, der ich bin‹, weil er die Fülle des Seins und das volle Sein und nicht anderes als das lautere Sein ist.«

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Die Selbstgabe des göttlichen Lebens

In diesem Kontext liegt Meister Eckharts primäres Interesse darin aufzuweisen, wie das Leben Gottes sich vollzieht. Die Zusammensetzung zwischen Seele und Leibe steht hier nicht im Vordergrund. Da das Leben der Lebewesen nicht aus den Vermögen der Seele entspringt, wird bei Meister Eckhart das Prinzip des Lebens ausgehend vom Grund der Seele analysiert. Und was der Grund der Seele ist, ist nichts anderes als die Seele »im Prinzip«, und zwar die Selbstgabe des göttlichen Lebens. 38 Die Seele »im Prinzip« oder der Grund der Seele wird in bezug auf die Menschenseele betrachtet, sowohl weil der Mensch als »lebende Seele« oder Bild Gottes geschaffen ist, als auch weil das Sich-Selbst-Geben Gottes auf eine persönliche Weise geschieht. Christine Büchner 39 bemerkt diesbezüglich, dass das göttliche Sich-Selbst-Geben verborgen bleibt, weil Gott auf eine Reaktion oder eine Antwort des Menschen wartet, dessen Antwort ausschließlich im Grund der Seele möglich ist. Sie vertritt die These, dass nach Meister Eckhart Gott sich auf eine dynamische, persönliche und liebende Weise gibt und wartet, dass die Seele in ihrem Grund auch auf eine relationale Weise sich hingibt. Daraufhin kann die Seele die Vollkommenheit der Selbstgabe Gottes empfangen, solange sie sich Gott auch hingibt, nämlich solange sie ganz geistig und in ihrem Grund rein ist. 40 Die Bedingungen dafür sind die Gelassenheit und die Abgeschiedenheit.

4.

Das absolute Empfangen

Gelassenheit und Abgeschiedenheit sind keine Arten von Technik oder Methoden für ein bestimmtes Ziel. Sie benennen die apophatische Weise, um Gott unmittelbar zu empfangen, d. i. zu erkennen.

Vgl. Pr. 47, DW I, S. 503: »Alles, was Gott ihr gibt, das gibt er ihr in sich (= in Gott) aus zweierlei Gründen: Der eine ist der, dass, wenn er ihr irgend etwas außerhalb seiner gäbe, sie das verschmähen würde. Der zweite ist der, dass, weil er ihr in sich selbst (= in Gott) gibt, sie darum in dem Seinigen und nicht in dem Ihrigen empfangen und ertragen kann; denn das Seinige gehört ihr. Da er aus dem Ihrigen herausgebracht hat, muss das Seinige das Ihrige sein, und das Ihrige ist im eigentlichen Sinne das Seinige.« 39 Vgl. Büchner: Wie kann Gott in der Welt wirken?, S. 58, S. 88. 40 Pr. 85, DW II, S. 205. 38

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Da die Seele eine ratio inferior und eine ratio superior, ein sinnliches Erkenntnisvermögen und ein übersinnliches Erkenntnisvermögen hat, vollziehen die Gelassenheit und die Abgeschiedenheit sich mittels eines Rückgangs von der operatio animalis (die sinnliche Erkenntnis) zur operatio intellectualis (die geistige Erkenntnis) und von dieser zur operatio divina (die göttliche Erkenntnis). 41 Erik Panzig 42 stellt auf eine bemerkenswert Weise dar, dass, während die Gelassenheit ein Lassen im Hinblick auf die Vielheit, die kategorialen Bestimmungen von Raum und Zeit und das Sein »hoc et hoc« ausdrückt, die Abgeschiedenheit dem »wesenhaften Erkennen Gottes« 43 entspricht. Hiernach führt die Gelassenheit dazu, die sinnliche und geistige Erkenntnis zu lassen, insofern sogar diese letztere noch eine theoretische Spekulation der Seele darstellt. Die Abgeschiedenheit betrifft die Einheit des göttlichen und seelischen Erkennens ausgehend von der operatio divina, die nichts vom geschaffenen Sein an sich hat. Gelassenheit und Abgeschiedenheit charakterisieren die Rückkehr von der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit oder von der Vielheit zur Einheit, wo man unmittelbar in der Selbsterkenntnis Gottes ist. 44 Dies ist nicht eine Aufgabe der Vernunft als eines aktiven Vermögens. Deshalb muss die ratio inferior, die aktive und begrenzte Denkfähigkeit der Seele, zur ratio superior, dem Grund der Seele als dem Ort der leidenden oder rezeptiven Vernunft, verwandelt werden: »Dies ist die wesenhafte (seiende) Vernunft Gottes, die die lautere, reine Kraft intellectus ist, die die Meister ein ›Empfängliches‹ nennen.« 45 Hier ist ferner anzumerken, dass diese Vernunft das absolute Empfangen für das absolute Wirken/Geben Gottes bezeichnet. Meister Eckhart stellt dar, dass das göttliche Geben nach dem Empfangen bemessen werden muss; aber dieses Empfangen muss ohne »die Erwartung einer Ge-

Vgl. Benno Schmoldt: Die Deutsche Begriffssprache Meister Eckharts. Studien zur philosophischen Terminologie des Mittelhochdeutschen, Heidelberg 1954, S. 96. 42 Vgl. Erik Panzig: »Lateinische und deutsche Terminologie in der Theologie Meister Eckhart«, in: Meister Eckhart aus theologischer Sicht (= Meister Eckhart Jahrbuch 1), Stuttgart 2007, S. 157–166, hier S. 161–163; Markus Enders: Gelassenheit und Abgeschiedenheit – Studien zur Deutschen Mystik, Hamburg 2008. 43 Vgl. Theophora Schneider O.S.B.: Der intellektuelle Wortschatz Meister Eckharts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Sprachinhalts, Berlin 1935, S. 37; vgl. Schmoldt: Die Deutsche Begriffssprache Meister Eckharts, S. 96. 44 Vgl. Pr. 75, DW II, S. 123–125. 45 Pr. 67, DW II, S. 27. 41

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gengabe« 46 sein und ohne zu bedenken, ob es von Natur oder von Gnaden ist 47, da die Selbstgabe Gottes frei ist. Gott gibt sich selbst im Grund der Seele und wenn die Seele und Gott Eins sind, so lebt die Seele im Prinzip und ist das Prinzip des Lebens. Dementsprechend setzt die Selbstgabe des göttlichen Lebens die Reinheit des Empfangens voraus, erstens, weil das Sich-Selbst-Geben Gottes als reines Erkennen immer im Akt ist; zweitens, weil die Gelassenheit und die Abgeschiedenheit zur Einheit zwischen göttlichem Seinsgeber und kreatürlichem Seinsempfänger gemäß der dynamischen Einheit Gottes führen.

5.

Die dynamische Einheit Gottes

Meister Eckhart arbeitet die Selbstgabe des göttlichen Lebens im Rahmen seiner Metaphysik der Einheit heraus. Unter Einheit versteht er die Ununterschiedenheit Gottes, 48 die das Sein Gottes kennzeichnet, weshalb nichts von ihm unterschieden ist, da alles in Gott ist. Auch verdient Beachtung, dass die göttliche Ununterschiedenheit dynamisch ist, weshalb sie die Weise des Sich-Selbst-Gebens an einen anderen zum Ausdruck bringt. An dieser Stelle ist zu betonen, dass Gott sich selbst einem anderen gibt, der eigentlich nicht wesentlich verschieden von ihm selbst ist. Dieser »andere« ist sein anderes Selbst, 49 das sich als solches auf die gleiche Weise gibt. Allerdings beschreibt das Sich-Selbst-Geben Gottes die Rückwendung Gottes zu sich selbst: Gott gibt sich zu anderem, indem er zu sich zurückkehrt. Hier sei noch einmal hervorgehoben, dass dieser Akt die vollständige Selbsterkenntnis Gottes ist. Es geht um die Dynamik der Ununterschiedenheit als das Leben, wodurch das purum et plenum esse sich in einer unaufhörlichen Rückwendung zu sich selbst gibt und mithin ohne principium außerhalb seiner selbst ist.

Pr. 47, DW I, S. 499. Pr. 62, DW I, S. 657. 48 Vgl. das Kapitel »Non turbetur cor vestrum«, in: In Ioh. LW III, S. 477–506; vgl. Wouter Goris: Einheit als Prinzip und Ziel. Versuch über die Einheitsmetaphysik des Opus Tripartitum Meister Eckharts, Leiden u. a. 1997, S. 211. 49 Vgl. In Ioh. n. 162, LW III, S. 133: »[…] denn der Zeugende zeugt nicht bloß etwas Ähnliches, was zur Veränderung gehört, sondern zeugt sein anderes Selbst: ›ich und der Vater sind eins‹ (10,30).« 46 47

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Infolgedessen setzt die Selbstgabe des göttlichen Lebens Einheit voraus und führt alles zur Einheit. Deshalb spricht Meister Eckhart in diesem Sinne von einem »einzigen« Leben, das nicht unter Zeit und Raum fällt, das kein Ziel außerhalb seiner selbst hat und das ohne Warum ist. Man kann also letztlich zu dem Schluss kommen, dass die Selbstgabe des göttlichen Lebens genau in der Rückwendung des Einen zum Einen besteht.

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Karsten Koreck (Freiburg im Breisgau)

Selbstgebung Gottes und Theodizee Die Selbstgebung Gottes als theologische Antwort auf die empirische und existenziell motivierte Theodizeefrage

1.

Zur Differenzierung des Theodizeeproblems

Die Erfahrung von Leid und Übel gehört sicherlich zu den größten Herausforderungen für den Glauben an einen vollkommen guten und allmächtigen Gott. In prägnanter Weise wurde bereits von Epikur das Problem, vor dem die theistische Annahme steht und das seit Leibniz als Theodizeeproblem bezeichnet wird, wie folgt formuliert: 1 »Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig als auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?« 2

Als theoretisches Problem kann das Theodizeeproblem in zwei unterschiedlichen Varianten behandelt werden. Zum einen als logisches Widerspruchproblem (logical problem of evil) der Vereinbarkeit der drei folgenden Annahmen: »(1) Es gibt Übel in der Welt. (2) Gott existiert, und er ist vollkommen gut. (3) Gott existiert, und er ist allmächtig und allwissend.« 3

1 Vgl. Friedrich Hermanni: Metaphysik. Versuche über letzte Fragen, Tübingen 2011, S. 116. 2 Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente, übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon, München 1991, S. 136. 3 Hermanni: Metaphysik, S. 117.

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Diese Variante ergibt sich aus einem deduktiven Argument, 4 das die logische Widersprüchlichkeit der Annahmen (1)–(3) behauptet. Zum anderen als empirisch-probabilistisches Belegproblem (evidential problem of evil), 5 das die Folge eines induktiven Arguments 6 ist. Dieses bestreitet nicht die logische Konsistenz der Annahmen (1)– (3), sondern bewertet das theistische Bekenntnis aufgrund des empirischen Befundes der Übel als nicht-sinnvoll sowie die Existenz Gottes als unwahrscheinlich. 7 Von Theodizee-Lösungsansätzen, die theoretisch-argumentativ auf die behauptete Widersprüchlichkeit der Annahmen (1)–(3) bzw. auf die behauptete Unvernünftigkeit und Unwahrscheinlichkeit des Theismus reagieren, müssen praktisch orientierte Theodizee-Lösungsansätze unterschieden werden, die existenziell, pragmatisch, politisch oder pastoral konnotiert sind und zumeist eine intellektuelle Auseinandersetzung um die Vereinbarkeit von Zweckwidrigem 8 und Theismus ablehnen. 9 Richtig ist sicherlich, dass subjektive Leiderfahrungen durch eine rein theoretische Behandlung nicht adäquat erfasst werden, wie es ebenso richtig ist, dass der unmittelbar von Leid Betroffene nicht für theoretische Argumente zugänglich ist, sondern nach einer Beendigung der leiderzeugenden Faktoren verlangt. 10 Andererseits lässt sich aus der Tatsache, »daß Leiderfahrungen keine primär theoretischen Angelegenheiten sind, […] nicht der Schluß ziehen, daß auch

4 Vgl. Armin Kreiner: Gott im Leid. Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente, Freiburg i. Br. 2005, S. 17. 5 Vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 17 f.; vgl. zur Differenzierung des Theodizeeproblems auch Winfried Löffler: Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2013, S. 128 f. 6 Vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 18. 7 Vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 17–19. 8 Unter dem Begriff der Zweckwidrigkeit subsumiere ich sowohl moralische als auch natürliche Übel. 9 Vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 36 sowie Anm. 38, wonach mit James Wetzel: »Can Theodicy be Avoided? The Claim of Unredeemed Evil«, in: Michael L. Peterson: The Problem of Evil, Notre Dame 1992, S. 351–365, hier S. 351–354, das Proprium praktischer Theodizeeversuche durch die folgenden vier Merkmale bestimmt werden kann: »(i) Konzentration auf spezifische, historisch situierte Übel, (ii) Ersetzung eines abstrakten Gottesbegriffs durch den Glauben an einen leidenden Gott, (iii) Betonung der Überwindung des Übels statt einer Erklärung, (iv) Bewertung des ›Erfolgs‹ von Theodizeen anhand ihrer politischen und gesellschaftlichen Konsequenz.« 10 Vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 39.

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das Theodizee-Problem kein theoretisches darstellen kann«. 11 Der Vorwurf der Widersprüchlichkeit des Theismus »verfährt argumentativ und bedarf daher auch einer argumentativen Auseinandersetzung«. 12 Die Relevanz einer solchen argumentativen Auseinandersetzung wird vor allem dann verständlich, »wenn die atheistische Kritik in ihrer vollen Brisanz und Tragweite ernst genommen wird.« 13 So gesehen stellt eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Übel keine Anmaßung einer von einem extramundanen Standpunkt 14 aus vorgenommenen »Rechtfertigung Gottes seitens des Menschen« dar, sondern verfolgt vielmehr die Verantwortbarkeit und »Rechtfertigung des Glaubens an Gott« angesichts der Behauptung seiner Irrationalität und Widersprüchlichkeit. 15 Das theoretische Theodizeeproblem in seinen beiden Varianten als logisches Widerspruchsproblem und empirisch-probabilistisches Belegproblem kann darüber hinaus entsprechend der unterschiedlichen Perspektiven auf das Übel in drei Richtungen weiter ausdifferenziert und konkretisiert werden. 16 So könnte erstens eingewendet werden, dass sich »die Existenz der Übel überhaupt« mit der Annahme des Theismus logisch widerspruchsfrei nicht vereinbaren bzw. eine solche Annahme als unvernünftig oder unwahrscheinlich erscheinen lässt. In diesem Fall wird das Theodizeeproblem als Grundsatzproblem behandelt. 17 Zweitens könnte eingewendet werden, dass Kreiner: Gott im Leid, S. 39. Kreiner: Gott im Leid, S. 43. 13 Vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 39; vgl. hierzu z. B. John Leslie Mackie: Das Wunder des Theismus, Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Aus dem Englischen übersetzt von Rudolf Ginters, Stuttgart 1985, S. 240: »Das Problem des Übels […] ist wesentlich ein logisches Problem: Es stellt dem Theisten die Aufgabe, seine verschiedenen Überzeugungen zu klären und, wenn möglich, miteinander in Einklang zu bringen. Es ist kein naturwissenschaftliches Problem, das durch weitere Nachforschungen gelöst werden könnte, auch kein praktisches Problem, das sich durch einen Entschluß oder eine Handlung lösen ließe.«; vgl. auch Mackie: Das Wunder des Theismus, S. 251: »Zweifellos empfinden manche, die einen sehr starken Glauben haben, kein Bedürfnis nach einer Theodizee; dennoch ist sie gefordert, wenn ihre Auffassung und die des Theismus im allgemeinen rational verteidigt werden soll.« 14 Vgl. hierzu Kreiner: Gott im Leid, S. 21 f. Anm. 19: »Diese Gründe werden aber nicht gefunden, indem man sich auf Gottes Standpunkt stellt oder diesen für sich beansprucht, sondern indem man Vermutungen anstellt und diese kritisch überprüft.« 15 Vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 24. 16 Dieringer: Kants Lösung, S. 16. 17 Dieringer: Kants Lösung, S. 16 f. 11 12

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sich »die Existenz von übergroßem Ausmaß des Übels« mit der Annahme des Theismus logisch widerspruchsfrei nicht vereinbaren bzw. eine solche Annahme als unvernünftig oder unwahrscheinlich erscheinen lässt. In diesem Fall wird das Theodizeeproblem als Ausmaßproblem behandelt. 18 Oder aber es könnte drittens eingewendet werden, dass sich »die Existenz augenscheinlich sinnloser Übel« mit der Annahme des Theismus logisch widerspruchsfrei nicht vereinbaren bzw. eine solche Annahme als unvernünftig oder unwahrscheinlich erscheinen lässt. 19 In diesem Fall wird das Theodizeeproblem als Sinnproblem behandelt, das sich vor allem dann noch verschärft, wenn Gott als der »bestimmende Grund bzw. die direkte Ursache für schlechthin alle Ereignisse« gedacht wird. 20 Weder muss allerdings in der theistischen Konzeption Gott notwendig als die direkte und bewirkende Ursache schlechthin aller Ereignisse gedacht werden noch liegt es Vertretern einer Theodizee fern, die neuzeitliche Einsicht zu ignorieren, »daß der leiderzeugende Ereignisverlauf weitgehend durch innerweltliche Faktoren bestimmt wird, die entweder natürlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen oder durch menschliche Handlungen verursacht werden, die ihrerseits entweder wiederum natürlichen Kausalzusammenhängen unterliegen oder freien Entscheidungen entspringen«. 21

Wer nun aber von einer Theodizee erwartet, dass sie dazu im Stande ist, die spezifische oder individuelle Sinnhaftigkeit der auf innerweltliche Faktoren zurückführbaren Leiderfahrungen im Einzelnen und Konkreten aufzeigen zu können, erwartet zu viel. Denn weder kann eine Theodizee ein solches Wissen generieren noch hängt ein solches vom Gelingen derselben ab. 22 Von theologischer Relevanz ist daher nicht die Frage nach der spezifischen Sinnhaftigkeit »einzelner konkreter Leiderfahrungen« 23, sondern vielmehr die allgemeine Frage,

Dieringer: Kants Lösung, S. 17. Dieringer: Kants Lösung, S. 17. 20 Kreiner: Gott im Leid, S. 26; vgl. Dieringer: Kants Lösung, S. 17. 21 Kreiner: Gott im Leid, S. 26. Mit der Zurückführung der Übel auf innerweltliche Faktoren ist weder bereits ein Deismus behauptet, noch ein Wirken Gottes in der Welt widerlegt, der prinzipiell auch indirekt über innerweltliche Faktoren wirken könnte. 22 Vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 26. Womöglich kann allerdings eine Person für sich selbst eine spezifische oder individuelle Sinnhaftigkeit in einer konkreten Leiderfahrung finden. 23 Kreiner: Gott im Leid, S. 25. 18 19

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warum »Gott eine Welt erschaffen [hat], in der leiderzeugende Faktoren wirksam sind«, und warum Gott ihre autonome Wirksamkeit nicht verhindert. 24 Die vorliegende Abhandlung wird das Theodizeeproblem als logisches Widerspruchsproblem im Sinne eines Grundsatzproblems behandeln, das sich aus dem deduktiven Argument ergibt, und für seine Lösbarkeit im theistischen Sinne argumentieren. 25 Dagegen muss meines Erachtens das Theodizeeproblem als empirisch-probabilistisches Belegproblem – obgleich dem induktiven Argument Überzeugungskraft durch die Benennung möglichst plausibler Gründe für die Existenz der Übel abgerungen werden kann 26 – letztlich deshalb philosophisch offen bleiben, weil die Negierung der Realisierung einer logisch konsistenten Denkmöglichkeit eine Setzung ist, die philosophisch nicht widerlegt werden kann. Darüber hinaus wird zu zeigen sein, dass auf theologischer Ebene die Selbstgebung Gottes sowohl eine Antwort auf das philosophisch nicht lösbare empirische Theodizeeproblem sein kann als auch auf die individuell-existenzielle Auseinandersetzung mit dem Übel.

2.

Das Theodizeeproblem als logisches Widerspruchsproblem

2.1. Inkompatibilistische Positionen Während die kompatibilistische Position die logische Vereinbarkeit der Annahmen (1)–(3) für grundsätzlich möglich hält, nimmt die inkompatibilistische Position das Gegenteil an und bestreitet damit mindestens eine der Annahmen (1)–(3). 27 Will der Inkompatibilist trotz der behaupteten Widersprüchlichkeit dennoch nicht die atheistische Konsequenz ziehen, so hat er entweder die Möglichkeit, die Existenz der Übel zu leugnen, oder aber, trotz der Vernünftigkeit des Kreiner: Gott im Leid, S. 26 f. So auch Hermanni: Metaphysik, S. 116. 26 Vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 22. 27 Vgl. Hermanni: Metaphysik, S. 117. Die Begriffe des Kompatibilismus und Inkompatibilismus sind an dieser Stelle nicht zu verwechseln mit ihren Bedeutungen für die Debatte um die Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus bzw. um die Frage nach der Vereinbarkeit von göttlicher Allwissenheit und menschlicher Willensfreiheit. 24 25

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ontologischen Gottesbegriffs, Gottes Vollkommenheiten einzugrenzen. 28 Die Leugnung der Übel kann insofern keine Option sein, weil sich ansonsten die meisten Menschen täuschen würden. 29 Entweder sind die wahrnehmbaren Übel also tatsächlich als solche existent oder aber es ist ein Übel, »sie dafür zu halten«, womit sich folglich die Existenz der Übel nicht widerspruchsfrei bestreiten lässt. 30 So bleibt dem Inkompatibilisten nur die Möglichkeit einer Einschränkung der vollkommenen Güte Gottes oder dessen Allmacht. Beide Optionen unterlaufen zwar den Atheismus, lehnen aber den Theismus ab. 31 Im Falle einer Einschränkung der Güte Gottes müsste ein »interner Dualismus zwischen der Potenz der Güte und einer anderen ihr in Gott gegenüberstehenden Potenz« angenommen werden, im Falle einer Einschränkung der göttlichen Allmacht ein »externen Dualismus zwischen Gott und einer außer ihm bestehenden Macht«. 32 Verbunden mit einer Depotenzierung der Allmacht Gottes ist auch die Lehre von einem der Schöpfung gegenüber ohnmächtigen und leidenden Gott. 33 Richtig ist sicherlich, dass der christliche Gott kein apathischer Gott ist, der weder von seiner Zurückweisung durch den Menschen noch von dessen Freiheitsmissbrauch unberührt bleibt. Insofern im Theodizeekontext die Rede vom leidenden und ohnmächtigen Gott allerdings eine Auffassung zum Ausdruck bringt, wonach Gott handlungsunfähig und machtlos der Schöpfung gegenüber steht, ist sie kritikwürdig, mithin eine solche Modifikation der Allmacht Gottes letztlich trügerisch. Denn die Hoffnung nicht nur auf eine Anamnese der Opfer, sondern auch auf ein letztliches Gutsein der Schöpfung, auf die Durchsetzung von umfassender Gerechtigkeit und Versöhnung 34, vermag nur dann nicht von vornherein Vgl. Hermanni: Metaphysik, S. 118 f. Zum ontologischen Gottesbegriff vgl. Markus Enders: »Das Unübertreffliche im Verständnis der monotheistischen Weltreligionen – zur interreligiösen Relevanz des ›ontologischen Gottesbegriffs‹«, in: Thomas Jürgasch/Ahmad Milad Karimi u. a. (Hrsg.): Gegenwart der Einheit. Zum Begriff der Religion, Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages Bernhard Uhdes, Freiburg i. Br./ Berlin/Wien 2008, S. 205–238. 29 Vgl. Hermanni: Metaphysik, S. 118. 30 Hermanni: Metaphysik, S. 118. 31 Vgl. Hermanni: Metaphysik, S. 119. 32 Hermanni: Metaphysik, S. 119. 33 Vgl. Hermanni: Metaphysik, S. 121. 34 Die Möglichkeit einer psychologischen Erklärung von Religiosität trifft noch keine Aussagen über die tatsächliche Existenz Gottes. Zum anthropologischen Entste28

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aussichtslos zu sein, wenn sie auf einem theistischen bzw. ontologischen Gottesbegriff gründet. 35 In diesem Sinne formuliert Rahner zutreffend: »Um – einmal primitiv gesagt – aus meinem Dreck und Schlamassel und meiner Verzweiflung herauszukommen, nützt es mir doch nichts, wenn es Gott – um einmal grob zu sagen – genauso dreckig geht.« 36

2.2. Kompatibilistische Positionen 2.2.1. Die Philosophische Theodizee Die erste Möglichkeit einer argumentativen Entkräftung des deduktiven Einwands besteht in der Benennung von »möglichen bzw. widerspruchsfrei denkbaren« Gründen, die die Zulassung der Übel rechtfertigen könnten. 37 Solche Versuche einer Benennung von positiven Gründen, die dazu geeignet sind, die Konsistenz der theistischen Annahme angesichts der Existenz des Zweckwidrigen zu garantieren, verstehe ich im engeren Sinne als philosophische Theodizee. Diese Gründe können freilich immer nur als hypothetische

hungsgrund von Religion. Vgl. Bernhard Uhde: Gegenwart und Einheit. Versuch über Religion, Freiburg i. Br. 1982; Bernhard Uhde: »Fiat mihi secundum tuum verbum. Die Zurücknahme des menschlichen Willens als ein Prinzip der Weltreligionen. Ein religionsphilosophischer Entwurf«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 1 (2002), S. 87–98. 35 Zu den für die Realisierung des höchsten Guts notwendigen Gottesprädikaten vgl. z. B. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, KU § 86, B 413/ A 409 und Kant: Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, hrsg. v. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Leipzig 21830, S. 142–145. 36 Paul Imhof und Hubert Biallowons (Hrsg.): Karl Rahner im Gespräch, Bd. 1 (1964–1977), München 1982, S. 245 (zitiert nach Kreiner: Gott im Leid, S. 187). Johann Baptist Metz: »Theologie als Theodizee?«, in: Willi Oelmüller (Hrsg.): Theodizee – Gott vor Gericht, München 1990, S. 103–118, hier S. 116 f., sieht in der unter anderem von Barth, Jüngel, Bonhoeffer, Moltmann oder Balthasar vertretenen Lehre vom leidenden Gott eine »unangemessene Überbeantwortung bzw. Beruhigung der eschatologischen Rückfragen an Gott. […] Wieso ist die Rede vom leidenden Gott nicht doch nur eine sublime Verdoppelung menschlichen Leidens und menschlicher Ohnmacht? […] Schließlich habe ich mich immer wieder gefragt, ob bei der Rede vom leidenden Gott nicht so etwas wie eine heimliche Ästhetisierung des Leidens zur Geltung kommt.« 37 Kreiner: Gott im Leid, S. 22.

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Gründe behauptet werden, obgleich sie den Anspruch besitzen, auch die wirklichen Gründe Gottes sein zu können. 38 Entscheidet sich der Vertreter einer kompatibilistischen Position, der eine logische Widersprüchlichkeit der Annahmen (1)–(3) ablehnt und somit nicht zu einer Modifikation der Gottesprädikate gezwungen ist, für die Strategie einer philosophischen Theodizee, erfolgt dies auf Grundlage der Bestreitung der von inkompatibilistischer Seite aus implizit angenommenen Zusatzprämisse, der zufolge ein »vollkommen guter Gott […] jedes Übel verhindern [würde], das er verhindern könnte«. 39 Gegen diese Zusatzprämisse behauptet der Theodizeeverfechter nun, dass Gott unter der Voraussetzung seiner vollkommenen Güte nur dann jedes Übel verhindern würde, das er kraft seiner Allmacht verhindern könnte, wenn dem »keine moralisch hinreichenden Gründe« entgegenstünden, 40 womit der Theodizeeverfechter die Bestreitung dieser Zusatzprämisse auf den allgemeinen moralischen Grundsatz stützt, wonach die Zulassung von Übeln, die man verhindern könnte, dann legitim oder gar geboten ist, »wenn durch deren Verhinderung Güter verloren gingen, deren Wert den Unwert dieser Übel übersteigt«. 41 In Bezug auf einen moralischen und allmächtigen Gott muss ferner ein solcher Zusammenhang zwischen der Existenz der Übel und der Zulassung der Übel als Ermöglichung übergeordneter Güter, »logisch notwendig sein, sodass es logisch unmöglich wäre, diese Güter zu realisieren«, ohne die Möglichkeit von Zweckwidrigem zuzulassen. 42 Nur in einem solchen Fall hätte Gott einen »moralisch hinreichenden Grund, Übel nicht zu verhindern«, weil einem allmächtigen und allwissenden Gott definitionsgemäß »nichts logisch Unmögliches zugeschrieben werden kann«. 43 Gelingt es einer Theodizee, einen möglichen, übergeordneten Zweck für die Zulassung bzw. die notwendige Möglichkeit des Kreiner: Gott im Leid, S. 21, 34 und 78. Hermanni: Metaphysik, S. 121 f. 40 Hermanni: Metaphysik, S. 122. 41 Hermanni: Metaphysik, S. 122. Nach Kreiner: Gott im Leid, S. 225, ist aufgrund »des Prinzips der doppelten Wirkung […] eine an sich gute Handlung, die eine negative Konsequenz nach sich zieht, auch dann sittlich zu rechtfertigen, wenn (1) die negative Konsequenzen nicht direkt intendiert werden, wenn (2) das primäre Handlungsziel eine Wert darstellt, der nicht ohne Inkaufnahme der negativen Konsequenzen zu realisieren war, und wenn (3) der intrinsische Wert des Handlungsziels die negativen Konsequenzen überwiegt«. 42 Hermanni: Metaphysik, S. 122. 43 Hermanni: Metaphysik, S. 122. 38 39

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Zweckwidrigen zu formulieren, muss der deduktive Einwand gegen den Theismus als widerlegt gelten. 44 So diskutiert beispielsweise die in der analytischen Religionsphilosophie unter anderem von Richard Swinburne und Alvin Plantinga vertretene Free-Will-Defense sowie die auf ihr aufbauende und von John Hick begründete irenäische Soul-Making-Theodicy oder Person-Making-Theodicy die Werthaftigkeit der Willensfreiheit bzw. die Werthaftigkeit eines moralischen Reifungsprozesses als solche Güter, die die Zulassung zumindest der moralischen Übel moralisch rechtfertigen könnten. 45 Wenn auch meines Erachtens die notwendige Möglichkeit des moralischen Übels um der Möglichkeit der Freiheit und damit der Möglichkeit der Liebe willen die überzeugendste Antwort auf die Frage ist, warum ein allmächtiger und vollkommen guter Gott das moralische Übel 46 zulässt, so liegt der Bewertung der Freiheit als ein alles überragendes Gut, das auch den Unwert des faktisch existierenden Vgl. hierzu auch Alvin Plantinga: God, Freedom and Evil, New York, Nachdruck Grand Rapids 1977, S. 10 f., demzufolge der deduktive Einwand gegen den Theismus auch dann als widerlegt gelten muss, wenn der Mensch über die möglichen Gründe Gottes keine Aussage treffen kann. Auch wenn dies nicht vollends für den Theisten befriedigend sein kann, sieht Plantinga durchaus richtig, dass der Umstand, dass der Theist nicht weiß, warum Gott die Übel zulässt, noch nichts über die Rationalität der theistischen Annahme aussagt. Um die Irrationalität der theistischen Annahme gültig zu behaupten, müsste der Theismusgegner aufzeigen, dass es unmöglich ist, dass Gott gute moralische Gründe hat, die Übel zuzulassen. 45 Vgl. Hermanni: Das Böse und die Theodizee, S. 264. Zur Free-Will-Defense vgl. z. B. Plantinga: God, Freedom and Evil, S. 29–34; Alvin Plantinga: The Nature of Necessity, Oxford 1974, S. 164–193; Richard Swinburne: Die Existenz Gottes, Stuttgart 1987, S. 243–308; Richard Swinburne: »The Free Will Defence«, in: Marco Maria Olivetti (Hrsg.): Teodicea oggi? (= Archivio di Filosofia 56), Padova 1988, S. 585–596. Zur Soul-Making-Theodicy vgl. z. B. John Hick: Evil and the God of Love, London 3 1985, S. 382 f.: »Die zentrale Aufgabe der moralischen und spirituellen Entwicklung ist die Überwindung der Ichzentriertheit (egoity), die Transzendierung des individuellen Eigeninteresses (self-interest) in einem menschlichen Zusammenleben in Beziehung zu Gott. Wie das Wesen jeder Sünde die Selbstsucht ist, so ist ihr Gegenteil die Negation des um sich selbst kreisenden Ego. Ein Wachstum hinsichtlich dieser ›Selbstüberwindung‹ oder Befreiung vom Ego zeigt sich im Wachstum jener Liebe zu anderen, die das Wesen der Moralität darstellt. Die natürliche Ichzentriertheit so vollständig zu überwinden, daß man andere so wertschätzt wie sich selbst, ist nach christlichem Verständnis der Kern des moralischen Daseins.« (zitiert und übersetzt nach Kreiner: Gott im Leid, S. 238). 46 Schwieriger ist die Frage nach den möglichen Gründen für Sinnhaftigkeit der natürlichen Übeln, die hier nicht behandelt werden kann. 44

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moralischen Übels übersteigt, letztlich aber doch ein Werturteil zugrunde, das sich als Setzung philosophisch nicht weiter begründen lässt. Gleichwohl der deduktive Einwand mit dieser Setzung auf philosophischer Ebene als widerlegt gelten muss, gewinnt daher die Annahme, wonach die Freiheit des Menschen die notwendige Möglichkeit des moralischen Übels (und in der Folge das faktisch existierende moralische Übel) auch tatsächlich wert ist, erst auf theologischer Ebene ihr volles Gewicht, und zwar mit der positiven Zusage Gottes an seine Schöpfung. 47 2.2.2. Die Philosophische Verteidigung des Theismus Die zweite Möglichkeit, das deduktive Argument zu entkräften, besteht in der Strategie einer philosophischen Verteidigung des Theismus, deren Ziel nicht die Benennung positiver oder plausibler Gründe für die Existenz der Übel ist, sondern die Demonstration der logischen Inkonsistenz des Schlusses von der Existenz der Übel auf die Unmöglichkeit des Theismus. 48 Eine solche Strategie trägt dem Umstand Rechnung, dass bereits vor jeder Benennung von positiven Gründen die Rationalität der

Gen 1, 31 (EÜ): »Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.« Vgl. hierzu die Differenzierung von Volker Dieringer: Kants Lösung des Theodizeeproblems. Eine Rekonstruktion, Stuttgart 2009, S. 22–24, der dem Definitionsvorschlag von Michael L. Peterson: God and Evil. An Introduction to the Issues, Oxford 1998, S. 33, folgt, demzufolge eine philosophische Verteidigung des Theismus das Ziel verfolgt, die logische Inkonsistenz der Argumente gegen die Möglichkeit des Theismus aufzuzeigen, wogegen eine philosophische Theodizee das Ziel verfolgt, positive und plausible Gründe für die Existenz der Übel angesichts der Annahme des Theismus zu benennen. Ebenso Löffler: Einführung in die Religionsphilosophie, S. 129: »Soll nur die grundsätzliche vernünftige Vereinbarkeit der Existenz Gottes mit der Existenz des Übels begründet werden, so spricht man häufig von Verteidigungen des Theismus; sollen aber positive Gründe dafür angeführt werden, dass das Übel einen bestimmten Sinn oder Zweck hat, spricht man von Theodizeen.« Anders Plantinga: God, Freedom and Evil, S. 28, für den sich eine Verteidigung des Theismus gegenüber einer Theodizee darin unterscheidet, dass diese nur mögliche, nicht aber die tatsächlichen Gründe für die Zulassung der Übel anzugeben versucht. Gegen eine so verstandene Unterscheidung zwischen einer Verteidigung und einer Theodizee hat Kreiner: Gott im Leid, S. 21, eingewendet, dass der »Aufweis nur möglicher – im Sinne von widerspruchsfrei vorstellbarer – Motive […] nicht ausreichen [dürfte], den Vorwurf der Widersprüchlichkeit in einer zufriedenstellenden Weise auszuräumen. Dies gelingt nur in dem Maße, in dem diese möglichen Motive als wahre plausibel gemacht werden können.« 47 48

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theistischen Annahme zugestanden werden muss, wenn es gelänge, aufzuzeigen, dass die Erfahrung prinzipiell nicht dazu geeignet ist, um – ausgehend von ihr – die Annahme des Theismus zu verifizieren bzw. zu widerlegen. 49 Dies ist mit einem Argument möglich, das sowohl »die Vorgängigkeit des Wissens um Gottes Allmacht und Weisheit vor jeder spezifischen Welterfahrung« behauptet als auch »die Erfahrungsenthobenheit dieses Wissens, derzufolge weder positive Welterfahrung dieses Wissen beweisen, noch negative mit ihm wirklich konfligieren kann.« 50 So vermag eine von der Benennung positiver Gründe unabhängige, wie etwa von Leibniz oder Kant 51 philosophisch geleistete und auf einem Doppelargument beruhende Verteidigung des Theismus intellektuell einen deduktiven Einwänden standhaltenden Raum zu eröffnen, der die prinzipielle Möglichkeit zulässt, den Theismus trotz der Übel in der Welt konsistent denken zu können. In der Kantischen Terminologie geht Leibniz von einem durch die theoretisch-spekulative Vernunft gewonnen ontologischen Gottesbegriff aus, der Gott vor jeder Erfahrung als ein Wesen bezeichnet, welches »alle möglichen, d. h. widerspruchsfrei denkbaren, Seinsvollkommenheiten als verwirklichte in sich vereinigt«, zu denen klassischerweise auch die Prädikate der Macht, des Wissen und der Güte gerechnet werden. 52 Aus einer solchen Bestimmung Gottes leitet Leibniz konsequent »seine Regel oder sein Prinzip des Besten bzw., richtiger, Bestmöglichen für Gottes Handeln« ab. 53 Unter dieser Voraussetzung ergibt sich für Leibniz richtigerweise notwendig, dass die wirkliche Welt, trotz der in ihr enthaltenen Übel, die beste aller möglichen Welten sein muss, weil Gott andernfalls, insofern er nicht bestmöglich gehandelt hätte, auch nicht als schlechthin unübertrefflich gedacht werden könnte. 54 Steht die Moralität Gottes für Leibniz bereits vor der Erfahrung fest, immunisiert dieser zudem seinen GotJohannes Brachtendorf: »Kants Theodizeeaufsatz – Die Bedingungen des Gelingens philosophischer Theodizee«, in: Kant-Studien 93 (2002), S. 57–83, hier. S. 77. 50 Brachtendorf: »Kants Theodizee-Aufsatz«, S. 58. 51 Vgl. Brachtendorf: »Kants Theodizee-Aufsatz«, S. 58. 52 Markus Enders: »Gott und die Übel in dieser Welt. Zum Projekt einer philosophischen Rechtfertigung Gottes (Theodizee) bei Leibniz und Kant«, in: Jens Halfwassen u. a. (Hrsg.): Philosophie und Religion (= Heidelberger Forschungen 37), Heidelberg 2011, S. 121–153, hier S. 126. 53 Enders: »Gott und die Übel in dieser Welt«, S. 126 f. 54 Vgl. Enders: »Gott und die Übel in dieser Welt«, S. 126 f. 49

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tesbegriff mit einem erkenntnistheoretischen Argument gegen deduktive und induktive Einwände. 55 Kant gewährleistet die Erfahrungsvorgängigkeit und Erfahrungsenthobenheit seines Gottesbegriffs durch die praktische Vernunft. Diese sei durch ein moralphilosophisches Argument dazu berechtig, Gott zu postulieren, um »zumindest die Realisierbarkeit des Höchsten Guts« angesichts der durch Kants Kritizismus aufgetanen, prinzipiellen Kluft zwischen »Kausalität aus Freiheit und Kausalität aus Naturnotwendigkeit« denken zu können. 56 Unter der Voraussetzung der Gültigkeit seines moralphilosophischen Arguments zugunsten der Existenz Gottes, die freilich für Kant keine objektive Realität für sich zu beanspruchen vermag, muss Gott Kant zufolge – soll er Garant für die Realisierbarkeit des Höchsten Guts sein – als allmächtig, allwissend und moralisch vollkommen gedacht werden. 57 Folgerichtig muss auch für Kant die wirkliche Welt die beste aller möglichen Welten sein, 58 mithin die Existenz des Zweckwidrigen in der Welt grundsätzlich mit dem Theismus vereinbar sein. Darüber hinaus immunisiert auch Kant in seinem Theodizeeaufsatz den ohnehin schon erfahrungsvorgängigen Gottesbegriff mit einem erkenntnistheoretischen Argument gegen deduktive und induktive Einwände. 59 55 Leibniz: Theod. § 145: »Herr Bayle aber scheint ein bißchen zuviel zu verlangen, er will, man solle ihm im einzelnen zeigen, wie das Übel mit dem bestmöglichen Plan des Universums verbunden ist; das aber würde eine vollkommene Darstellung der Erscheinungen bedeuten, die wir nicht geben können und dazu auch gar nicht gezwungen sind […]« (Übersetzung: Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Artur Buchenau (= Philosophische Bibliothek 499), Hamburg 1996, S. 198). 56 Dieringer: Kants Lösung, S. 124. 57 Vgl. z. B. Kant: KU § 86, B 413/ A 409 und Kant: Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, S. 142 f. 58 Vgl. Kant: Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, S. 184: »Daß diese Welt, welche von Gott erschaffen worden, die beste unter allen möglichen Welten sey, erhellet aus folgendem Grunde. Wenn noch eine bessere Welt möglich wäre, als die Gott gewollt hat, so müßte auch noch ein besserer Wille möglich seyn, als der göttliche. Denn unstreitig ist doch derjenige Wille der bessere, der das bessere wählet. Ist noch ein besserer Wille möglich; so ist auch ein Wesen möglich, das diesen besseren Willen äußern könnte. Und dieses Wesen würde demnach vollkommener und besser seyn, als Gott. Das ist aber ein Widerspruch; denn in Gott ist omnitudo realitas.« 59 Vgl. Dieringer: Kants Lösung, S. 117; vgl. Immanuel Kant: »Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee«, in: Immanuel Kant: Werke ins sechs Bänden, Band VI, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 2011, S. 105–119, hier S. 106 Anm.: »Obgleich der eigentümliche Begriff einer Weisheit nur die Eigen-

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Selbstgebung Gottes und Theodizee

Eine philosophische Verteidigung des Theismus trägt zwar zunächst nicht zur Plausibilität der Existenz der Übel bei, dennoch garantiert sie im Falle des Erfolgs die widerspruchfrei denkbare Möglichkeit auf eine objektive Sinnhaftigkeit der Welt 60, in der Leiden und Tod nicht das letzte Wort haben müssen. Darüber hinaus muss eine philosophische Verteidigung des Theismus keineswegs notwendig mit einer reductio in mysterium der Übel einhergehen. Sie ist sowohl als Variante denkbar, in der die Annahmen (1)–(3) unaufgelöst nebeneinander aufrechterhalten werden, 61 als auch in der von Leibniz und Kant vertretenen Variante, in der an der prinzipiellen Möglichkeit der Erkennbarkeit der Motive Gottes festgehalten wird und damit auch an der Möglichkeit einer Plausibilisierung des verteidigten Theismus. 62 Insgesamt kann vor diesem Hintergrund einer Unterscheidung von philosophischer Theodizee und philosophischer Verteidigung des Theismus mit Dieringer festgehalten werden, dass der »Begriff einer philosophischen Verteidigung des Theismus […] weiter gefaßt [ist], als der Begriff einer philosophischen Theodizee. In einer Theodizee ist eine Verteidigung des Theismus implizit enthalten, während umgekehrt das Gelingen einer philosophischen Verteidigung des Theismus nicht davon abhängt, ob man eine philosophische Theodizee zu leisten imstande ist. Für den Nachweis der widerspruchsfreien Vereinbarkeit der theistischen Überzeugung von der Existenz eines allmächtigen und allgütigen Welturhebers mit schaft eines Willens vorstellt, zum höchsten Gut, als dem Endzweck aller Dinge zusammen zu stimmen; hingegen Kunst nur das Vermögen im Gebrauch der tauglichsten Mittel zu beliebigen Zwecken: so wird doch Kunst, wenn sie sich als eine solche beweiset, welche Ideen adäquat ist, deren Möglichkeit alle Einsicht der menschlichen Vernunft übersteigt (z. B. wenn Mittel und Zwecke wie in organischen Körpern einander wechselseitig hervorbringen), als eine göttliche Kunst, nicht unrecht auch mit dem Namen der Weisheit belegt werden können; doch, um die Begriffe nicht zu verwechseln, mit dem Namen einer Kunstweisheit des Welturhebers, zum Unterschiede von der moralischen Weisheit desselben.« 60 Unweigerlich steht der zur Reflektion fähige und damit nach der Welt als Ganzer ausgreifende Mensch vor der von Leibniz formulierten Frage: »Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts?« (Principes de la nature et de la grâce § 8). Gerade nach christlichem Verständnis ist das Wirkliche nicht nur ein unbefragbares Vorfindliches, ein Zufallsprodukt, das allein die Frage nach der möglichen Gestaltbarkeit des vorliegenden Materials zulässt. Vgl. hierzu z. B. Hans Urs von Balthasar: Theodramatik. Zweiter Band, Die Person des Spiels, Teil 1, Der Mensch in Gott, Einsiedeln 1976, S. 260. 61 Vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 46. 62 Zur Erkennbarkeit der Motive Gottes vgl. Kreiner: Gott im Leid, S. 66–78.

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der Erfahrung des Übels in unserer Welt ist es nicht zwingend erforderlich, daß man auch etwas über die Motive Gottes für die Zulassung des Übels sagen kann.« 63

Zugegeben kann diese theoretisch aufgezeigte, widerspruchsfrei denkbare Möglichkeit des Theismus durch existenziell motivierte Zweifel für den Einzelnen verblassen. Was die Hoffnung auf ein letztendliches Gutsein auf existenzieller Ebene dennoch virulent machen kann, ohne der Lösbarkeit des Theodizeeproblems auf philosophischer Ebene etwas hinzuzufügen, ist auf theologischer Ebene die Selbstgebung Gottes, die ein Prinzip für alle religiösen Erscheinungsformen ist, im Christentum aber ihre höchste Form findet. 64

3.

Theologische Perspektive – Die Selbstgebung Gottes

Dass Gott unter Zugrundenahme des ontologischen Gottesbegriffs all jene Prädikate zugesprochen werden müssen, die ihm im Sein vollkommener machen als ihr Nichtbesitz, ist eine Einsicht, zu der auch ohne die christliche Offenbarung gelangt werden kann. Was die christliche Offenbarung darüber hinaus in der Menschwerdung des präexistenten Logos zeigt, ist, dass zu den Seinsvollkommenheiten Gottes auch die personale Liebe gehört, verstanden als die Beziehungseinheit der wechselseitigen Selbsthingabe zweier Unterschiedener. Kann aus theologischer Perspektive schon die Schöpfung als ein freier Akt des Zurückweichens Gottes vor den Geschöpfen und damit als ein Akt der Liebe und des Verzichts verstanden werden, 65 so vielmehr noch die Menschwerdung Gottes als ein freier Akt größtmöglicher Selbstentäußerung, als Akt eines neidlosen und ungeschuldeten Sich-Hergebens und Sich-Verschenkens. 66 Entsprechend Dieringer: Kants Lösung, S. 24. Vgl. hierzu in diesem Band Markus Enders: »Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit. Zur universalen (phänomenologischen, ontologischen, personalen und religiösen) Bedeutung zweier reflexiver und personaler Gabe-Beziehungen«. 65 Vgl. Kurt Wolf: Philosophie der Gabe. Meditationen über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilosophie (= Ursprünge des Philosophierens 13), Stuttgart 2006, S. 28. 66 Vgl. Phil 2, 6–11 (EÜ): »Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum 63 64

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erschließt sich in der Menschwerdung Gottes zuallererst radikal das Verständnis Gottes als »ewige, sich selbst mitteilende« 67, sich hinschenkende Liebe und lebendiges Geben, womit Gott immanent als »zugleich Geber, ständiges Geben (in der Zeugung des ewigen ›Sohnes‹) und Wiedergeben im Heiligen Geiste der Güte ewiger Hingabe« gedacht werden kann. 68 Ist so der trinitarische Gott in sich Geben, der sich dann auch heilsökonomisch selbst zur Gabe macht, die Schöpfung und den Menschen umgreift und »in die trinitarische Bewegung des Sich-Gebens«, d. h. in sein Liebesgeschehen, hineinnimmt, 69 darf auch begründeterweise angenommen werden, dass bereits von vornherein »jedes mögliche Drama zwischen Gott und einer Welt immer schon miteinbeschlossen und überholt ist«. 70 Welt kann dann nur innerhalb der vom Heiligen Geist sowohl offengehaltenen wie überbrückten Differenz von Vater und Sohn ihren Ort haben«, 71 deren Grund insofern die Liebe sein muss, als dass die Selbstlosigkeit »der göttlichen Personen 72 als reiner Relationen im innergöttlichen Leben der Liebe« die Grundlage oder Möglichkeitsbedingung für das gesamte Handeln Gottes darstellt. 73 So kann auch die als solche interpretierTod, bis zum Tod am Kreuz.«; vgl. auch die Übersetzung von Joachim Gnilka: Der Philipperbrief/Der Philemonbrief, Ungekürzte Sonderausgabe (= Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2002, S. 111: »Der in der Daseinsweise Gottes sich befand hielt nicht gierig daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich selbst, Sklavendasein annehmend, ein Gleichbild der Menschen wurde er […].« 67 Hermann-Josef Röhrig: Art. »Kenosis«, in: LThk, Bd. 5, Freiburg i. Br. 2006, Sp. 1394–1898, hier Sp. 1397. 68 Wolf: Philosophie der Gabe, S. 26; vgl. hierzu Claude Bruaire: L’être et l’esprit, Paris 1983, S. 54, 139, 164 f., 177 f. 69 Veronika Hoffmann: Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg i. Br. 2013, S. 338. 70 Balthasar: Die Handlung, S. 304. 71 Balthasar: Die Handlung, S. 304. 72 Um Missverständnissen der Trinitätslehre vorzubeugen, wäre mit Karl Rahner: »Einzigkeit und Dreifaltigkeit im Gespräch mit dem Islam«, in: Schriften zur Theologie, Bd. 13, Einsiedeln 1978, S. 129–147, hier S. 138, zu überlegen, »ob nicht heute, ohne die Legitimität der traditionellen, kirchenamtlichen Sprachregelung, die von drei Personen in Gott redet, zu bestreiten, der Begriff von drei Hypostasen in Gott, also (etwas moderner formuliert der Begriff von drei Subsistenzweisen des einen Gottes in seiner einzigen Wesenheit) angemessener wäre«. 73 Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Band III, 2, Theologie, Teil 2, Neuer Bund, Einsiedeln 1969, S. 198; vgl. hierzu auch Hans Urs von Balthasar: Theodramatik. Dritter Band, Die Handlung, Einsiedeln 1980, S. 308: »Mit der Ur-Kenose sind die übrigen Kenosen Gottes in die Welt hinein grundsätzlich

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te Geschichte Gottes mit den Menschen konsequenterweise als bedingungslos freies und allein aus der Liebe sich vollziehendes Gabegeschehen verstanden werden, in dem die absolute Güte des göttlichen Willens aufscheint. 74 Entsprechend bedeutet dies für die Menschwerdung Gottes: Indem Gott selbst in eigener Person dem Menschen in Freiheit und um des Menschen willen mit allen Konsequenzen als Mensch begegnet, er sich in die Geschichte einer geschaffenen, räumlich-zeitlich verfassten und durch moralische Übel geprägten Welt einschreibt, 75 gibt Gott sich dem Menschen nicht nur in einer unüberbietbaren 76 Weise, sondern bezeugt ihn zugleich als ein »schlechthin bejahtes Gut« 77 sowie verleiht ihm das »volle Ewigkeitsgewicht«. 78 Im Akt der Selbstgebung versichert Gott in solidarischer Weise dem Menschen seine Liebe, der in der »Übernahme der Verletzlichkeit« 79, im Sich-Aussetzen des metaphysischen, physischen und moralischen Übels 80, letztlich im Kreuzesgeschehen, seine tiefste Dimen-

ermöglicht und bloße Folgerungen aus ihr: die erste ›Selbstbeschränkung‹ des dreieinigen Gottes aufgrund der den Geschöpfen geschenkten Freiheit, die zweite tiefere ›Selbstbeschränkung‹ desselben dreieinigen Gottes durch seinen Bund, der von Gottes Seite her von vornherein unauflöslich ist […], und die dritte nicht nur christologische, sondern gesamttrinitarische Kenose aufgrund der Menschwerdung des Sohnes allein, der nun seine von vornherein eucharistische Haltung im ›pro nobis‹ von Kreuz und Auferstehung für die Welt verdeutlicht.« 74 Vgl. Wolf: Philosophie der Gabe, S. 20; vgl. ferner Wolf: Philosophie der Gabe, S. 109 und Paul Ricœur: Lecture 3. Aux frontières de la philosophie, Paris 1994, S. 360 f. 75 Röhrig: Art. »Kenosis«, Sp. 1397 f. 76 Vgl. Rahner: »Einzigkeit und Dreifaltigkeit«, S. 139 f.: »Dieser eine und unbegreifliche Gott ist in einer unüberholbaren Weise geschichtlich dem Menschen in Jesus Christus nahe, der nicht irgendein Prophet in einer immer offenen Reihe von Propheten ist, sondern die endgültige und unüberholbare Selbstzusage dieses einen Gottes in der Geschichte.«; vgl. Rahner: »Einzigkeit und Dreifaltigkeit«, S. 141: »Bei der radikal verstandenen Selbstmitteilung Gottes an die Kreatur muß die Vermittlung selber Gott sein und kann keine kreatürliche Vermittlung bedeuten«, insofern eine geschöpfliche Vermittlung »einen Hinweis auf den immer fernbleibenden Gott in sich tragen würde […].« 77 Balthasar: Der Mensch in Gott, S. 261. 78 Balthasar: Die Handlung, S. 122 f. 79 Wolf: Philosophie der Gabe, S. 76; vgl. hierzu Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br./München 1992, S. 171–174. 80 Vgl. Balthasar: Herrlichkeit, S. 196: »Die Tradition des Westens wie des Ostens hat einhellig und schriftgemäß den Sinn der Menschwerdung als die Übernahme nicht der Kreatürlichkeit als solcher, sondern des konkreten Menschenschicksals […] bezeichnet.«

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sion erfährt. 81 Denn diese Perspektive ist es, aus der heraus die Liebe Gottes als eine Liebe offen gelegt wird, die mit allen Konsequenzen bis zum Ende geht, die bis in die äußerste Gottesferne reicht 82 und die den Menschen auch in Leiden und Tod nicht allein sein lässt. Warum nun aber die mit der Selbstgebung Gottes bezeugte Liebe zu den Menschen nur eine solche Liebe sein kann, die dem Menschen auch in Leiden und Tod gegenwärtig ist, ja diesen gar überwindet, sodass auf eine umfassende postmortale Gerechtigkeit und Versöhnung gehofft werden darf, kann nur mit einem zumindest kurzen Blick auf das Wesen der Liebe verstanden werden.

3.1. Das Wesen der Liebe Wesentlich für die Liebe ist mit Dietrich von Hildebrand zunächst, dass es sich bei ihr um eine Wertgegebenheit handelt, die als Fundament untrennbar mit einer individuellen Person als Subjekt verknüpft ist. 83 Immer gilt die Liebe einer bestimmten Person aufgrund ihrer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit und immer ist in der Liebe die gesamte Existenz und das ganze Sein dieser bestimmten Person thematisch. 84 Die geliebte Person ist dabei vom Liebenden als »objektiv liebenswert« und als in sich »wertvoll« angenommen und bejaht, 85 d. h. soll für den Liebenden unbedingt um seiner selbst wil-

Wolf: Philosophie der Gabe, S. 76; vgl. hierzu Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br./München 1992, S. 171–174. 82 Wolf: Philosophie der Gabe, S. 108; vgl. hierzu Ricœur: Lecture 3, S. 298 f.; vgl. auch Josef Ratzinger: Eschatologie – Tod und ewiges Leben (= Kleine katholische Dogmatik 9), Regensburg 1978, S. 84: »In Christus ist Gott selbst in den Bereich des Todes eingetreten und hat den Raum der Kommunikationslosigkeit zum Raum seiner Anwesenheit gemacht.« 83 Vgl. Dietrich von Hildebrand: Das Wesen der Liebe (= Gesammelte Werke 3), Regensburg 1971, S. 36. 84 Vgl. Hildebrand: Das Wesen der Liebe, S. 34. 85 Hildebrand: Das Wesen der Liebe, S. 33; vgl. auch Joseph Pieper: Über die Liebe (= Schriften 4), München 71992, S. 38 f.: »In jedem denkbaren Fall besagt Liebe soviel wie Gutheißen. Das ist zunächst ganz wörtlich zu nehmen. Jemanden […] lieben: heißt diesen Jemand […] gut nennen und, zu ihm gewendet sagen: Gut […], daß du auf der Welt bist.«; vgl. Pieper: Über die Liebe, S. 46 f.: »Was nämlich der Liebende, mit dem Blick auf die Geliebte, sagt und meint, ist nicht: Wie gut, daß du so bist (so klug, brauchbar, tüchtig, geschickt), sondern Gut, daß du da bist; wie wunderbar, daß es dich gibt.« 81

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len sein. 86 Eine derartige Bestimmung des Phänomens der Liebe einmal vorausgesetzt, muss auch die in der Inkarnation aufscheinende Liebe Gottes als eine Liebe verstanden werden, die »trotz ihrer Universalität, […] jedem einzelnen in einer persönlichsten, intimsten und bis zum letzten Zentrum der individuellen Existenz vordringenden Weise gilt«. 87 Wesentlich für alle Formen der Liebe ist mit Hildebrand ferner eine intentio unionis sowie eine intentio benevolentiae. Das Moment der intentio unionis erfasst die Sehnsucht eines jeden Liebenden nach einer »geistige[n] Einheit mit dem Geliebten«, die eine bloße Sehnsucht nach Gegenwart, d. h. ein bloßes Interesse nach dem Wissen um die Existenz des Geliebten, übersteigt. 88 Wenn Gott die Menschen liebt, so muss folglich auch in jedem einzelnen und individuellen Menschen »eine volle, dauernde, persönliche unio thematisch« sein, 89 womit der dieser als ein sich den Menschen zuwendender und hineilender Gott gedacht werden muss, der seinerseits die freiheitliche Erwiderung seiner Liebe erstrebt. 90 Das mit Hildebrand neben der intentio unionis ebenfalls für das Wesen der Liebe konstitutive Moment der intentio benevolentiae besteht »in der Sehnsucht, den anderen zu beglücken« und artikuliert das wirkliche Interesse am andauernden Glück des anderen, »an seinem Wohlergehen, an seinem Heil« und an seinem Schicksal. 91 Auch diese Intention des Wohlwollens muss für die Liebe Gottes zu den Menschen gelten, soll Liebe in Bezug auf Gott nicht etwas gänzlich anderes bedeuten als in Bezug auf den Menschen.

Vgl. Hildebrand: Das Wesen der Liebe, S. 31 f.: Liebe ist etwas anderes als ein »Hängen an etwas bloß subjektiv Befriedigendem«, d. h. an Gütern, »die im weitesten Sinne des Wortes angenehm sind ohne selbst Träger eines Wertes sein zu müssen«. 87 Hildebrand: Das Wesen der Liebe, S. 333. 88 Hildebrand: Das Wesen der Liebe, S. 77; hierzu vgl. auch Josef Seifert: Erkenntnis des Vollkommenen, Bonn 2010. 89 Hildebrand: Das Wesen der Liebe, S. 333. 90 Vgl. Hildebrand: Das Wesen der Liebe, S. 78. 91 Hildebrand: Das Wesen der Liebe, S. 78. 86

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3.2. Die Selbstgebung Gottes als Antwort auf die empirische und existenziell motivierte Theodizeefrage Die vorgenommenen Reflexionen über das Wesen der Liebe zeigen, dass, wenn Gott existiert und Gott die Liebe ist – was durch die Existenz der Übel nicht widerlegt werden kann – in seiner Liebe zu den Menschen, wie schon in jeder zwischenmenschlichen Liebe, »ein Ruf nach Ewigkeit« liegt, 92 d. h. ein Ruf nach größtmöglicher Nähe und immer fortwährender Gegenwart zum Geliebten sowie nach einem nichtabreißenden, immerwährenden und alle Grenzen überwindenden Fortbestand des Wohlwollens auch über den Tod hinaus. Denn unmöglich kann die einer jeder Liebe innewohnende »echte, endgültige Selbstübereignung an einen anderen Menschen […] durch dessen Tod […] zurückgenommen oder abgebrochen werden«. 93 Dieser der Liebe immanente Ruf nach Ewigkeit kann von menschlicher Seite nie eingelöst werden. 94 Nicht kann eine solche Vollendung der Liebe aber Gott verwehrt bleiben, dessen Allmacht nur durch die Gesetze der Logik begrenzt ist. Entsprechend kann es für den Menschen, der sich als ein von einem allmächtigen Gott aus Liebe gewolltes Wesen weiß, keine akzeptable Alternative sein, dass er »vom Gesetz des kosmischen Umlaufs verschlungen wird«, auch wenn er sich zugleich als ein Wesen bewusst ist, das am »biologischen Werden und Vergehen des ganzen kosmischen Lebens teilhat«. 95 Konkret weiß der Christ von einer in sie hineingenommenen umfassenderen Wirklichkeit 96 als die nur sinnlich wahrnehmbare Welt – 92 Ratzinger: Eschatologie, S. 134; vgl. auch Pieper: Über die Liebe, S. 43 f.: »Das berühmt gewordenen Anfängerlehrbuch des Thomas von Aquin also sagt: Das Erste, das ein Liebender ›will‹, ist, daß der Geliebte existiert oder lebt. ›Das Ich, das liebt, will vor allem die Existenz des Du‹.«; vgl. Gabriel Marcel: »Le mort de demain«, in: Trois pièces, Paris 1921, S. 161: »Jemanden lieben heißt sagen: du wirst nicht sterben« (zitiert nach Jörg Splett: Freiheits-Erfahrungen. Vergegenwärtigungen christlicher Antropo-Theologie, Frankfurt a. M. 1986, S. 227). 93 Balthasar: Theodramatik. Erster Band, Prolegomena, Einsiedeln 1973, S. 354, in Bezug auf Gabriel Marcel. 94 Ratzinger: Eschatologie, S. 134. 95 Balthasar: Die Handlung, S. 108; vgl. auch Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1984, S. 33: »Man kann vielleicht sagen: Nur die Liebe kann die Auferstehung glauben. Oder: Es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt.« 96 Ratzinger: Eschatologie, S. 81: »Gottesgemeinschaft ist stärker auch als der Zerfall des Leibes. Sie ist eigentliche Wirklichkeit, vor der alles andere, was sich noch so massiv als Wirklichkeit aufdrängt, als scheinhaft und nichtig durchschaubar wird.«

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und damit auch um die Möglichkeit auf die Durchsetzung einer umfassenden Gerechtigkeit – mit Blick auf die Auferstehung Jesu Christi. Mit ihr zeigt sich für den Christen geschichtlich, dass die Gottesgemeinschaft, die in der Liebe besteht, stärker ist, auch als alle natürlichen Grenzen. 97 In der in Kreuz und Auferstehung kulminierenden Selbstgebung Gottes 98 erkennt er, dass dort, wo eine Welt nicht »von der Liebe verlassen ist«, sie auch fortdauern und nicht im Tode versinken wird, mithin der biologische Tod des Menschen nicht seine vollkommene Vernichtung bedeuten muss. 99 Weil also »im gekreuzigten Christus die Liebe über den Tod hinaus aufgegangen ist, darum darf der Mensch hoffen«. 100 So ist aus theologischer Perspektive der Gott, »der in Christus selber stirbt« und die Liebe über den Tod hinaus bezeugt, »der Gott, der die Struktur der Liebe über alles Erwarten hinaus erfüllt und das Vertrauen rechtfertigt«. 101 Zugleich ist für den Christen der auferstandene Christus »die lebendige Gewißheit«, dass die Transzendierung auf objektive Sinnhaftigkeit, »ohne die die Welt absurd bleibt, nicht ins Leere stößt«. 102 Zwar vermag der sich als reine Liebe zu erkennen gebende, den Tod überwindende und das Menschenschicksal mittragende Gott 103 nicht die Gründe für die Zulassung der Übel einsichtig gemacht oder gar die Erfahrung des Zweckwidrigen in der Welt beseitigt haben, Ratzinger: Eschatologie, S. 81; vgl. zudem Ratzinger: Eschatologie, S. 133: »Die Materie als solche kann nicht der Konstanz-Faktor im Menschen sein: Sie ist während des irdischen Lebens in steter Umbildung begriffen. Insofern ist eine Dualität, die die Konstante von Variablen unterscheidet, unerläßlich. Die Unterscheidung zwischen Seele und Leib ist aus diesem Grund unverzichtbar. Aber diese Dualität ist in der christlichen Überlieferung immer konsequenter […] so bedacht worden, daß sie nichts vom Dualismus in sich trägt, sondern eben erst die Würde und die Einheit des Menschen zum Vorschein bringt.« 98 Vgl. Wolf: Philosophie der Gabe, S. 20. 99 Vgl. Gabriel Marcel: Gegenwart und Unsterblichkeit, Frankfurt a. M. 1961, S. 287. 100 Ratzinger: Eschatologie, S. 64. Die Hoffnung auf die Durchsetzung einer umfassenden Gerechtigkeit kann zwar auch allein aus der Vernunft begründet werden – so beispielsweise bei Kant – besitzt aber einen höheren Gewissheitsgrad, wenn diese Hoffnung zudem auf einem Glauben an eine geschichtlich greifbare Person bzw. Ereignis basiert. Wenn sich darüber hinaus Gott als der Garant für die Erfüllung der Hoffnung auf objektive Sinnhaftigkeit und umfassende Gerechtigkeit als die vollkomme Liebe bekannt macht, stellt dies gar eine Übererfüllung der menschlichen Hoffnung dar. 101 Ratzinger: Eschatologie, S. 87. 102 Ratzinger: Eschatologie, S. 175. 103 Vgl. Wolf: Philosophie der Gabe, S. 191. 97

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Selbstgebung Gottes und Theodizee

doch kann aber die als solche interpretierte heilsgeschichtliche Selbstgebung Gottes eine Antwort auf die existenziell motivierten Zweifel an der Existenz eines allmächtigen und vollkommen guten Gottes sein wie auch auf das empirisch-probabilistische Theodizeeproblem, insofern Kreuz und Auferstehung die Hoffnung schaffen, »daß Leid und Unheil nicht das letzte Wort über das menschliche Dasein haben, daß Gottes heilende und rettende Macht auch dort nicht an Grenzen stößt, wo nach menschlichem Ermessen alles aussichtlos erscheint«. 104 So weiß der Christ durch die Selbstgebung Gottes, dass er auch nicht in Leiden und Tod von Gott verlassen ist; er weiß, dass er die »Selbstenteignung, die ihm fortwährend widerfährt«, mit der »Grundgesinnung eines auf Liebe geschaffenen Wesens« verschmelzen kann, und er weiß »sich gerade im Vertrauen auf das nicht zu erzwingende Geschenk der Liebe unbedingt geborgen«. 105 In diesem Sinne hat die Selbstgebung Gottes vor allem das Potenzial, die auf philosophischer Ebene aufzeigbare Konsistenz der theistischen Annahme auf existenzieller Ebene zu ergänzen, indem sie die auf existenzieller Ebene vorfindbaren Zweifel am Theismus sowie an der Sinnhaftigkeit von Welt zur Ruhe verweisen kann. So füllt sie den intellektuell eröffneten Raum zugunsten der prinzipiell theoretischen Möglichkeit des Theismus inhaltlich aus, indem sie geschichtlich die Hoffnung begründet, die es allein dort geben kann, »wo es Liebe gibt«. 106

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Kreiner: Gott im Leid, S. 188. Ratzinger: Eschatologie, S. 87. Ratzinger: Eschatologie, S. 64.

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Frank Schlesinger (Freiburg im Breisgau)

Offenbarung als Re-entry Gottes Selbstgebung in Niklas Luhmanns systemtheoretischer Deutung von Offenbarung

1.

Einleitung: Selbstgebung in komplementären wissenschaftlichen Zugängen

Das Thema der Tagung »Selbst-Gebung und Selbst-Gegebenheit als religionswissenschaftlich, phänomenologisch, metaphysisch, soziologisch, indologisch, sinologisch, psychoanalytisch (C. G. Jung) und literarisch (H. Hesse) relevantes Prinzip« benennt zugleich die Herausforderung als auch den Ansporn, das Phänomen der Selbstgebung und der Selbstgegebenheit als relevantes Prinzip für verschiedene wissenschaftliche Zugangsweisen zu untersuchen: Herausforderung, weil es dabei zu vermeiden gilt, dieses Phänomen durch die Herangehensweise der jeweiligen Disziplin gleichsam in ein Prokrustesbett zu zwängen, aber auch Ansporn, weil es sowohl für das Verständnis der Selbstgebung als auch für die Methodik des wissenschaftlichen Ansatzes gewinnbringend sein kann, über die üblichen Grenzen hinauszublicken. Mit den Denkweisen der jeweiligen Zeit können religiöse Phänomene zeitgemäß ergründet werden, um allgemeine Strukturen herauszuarbeiten. Dennoch bedarf es einer gewissen Initialzündung, die es zumindest als plausibel erscheinen lässt, sich von der Warte der Systemtheorie Niklas Luhmanns aus mit dem Phänomen der Selbstgebung zu beschäftigen. Das Phänomen der Selbstgebung ist grundlegend für das Verständnis der Offenbarungskategorie in den Religionen, insbesondere im Christentum, in dem Gott in seiner Menschwerdung sich selbst den Menschen offenbart und mitteilt. Hier zeigt sich bereits eine möglicherweise plausible Deutung der Offenbarung Gottes als Selbstgebung und Selbstmitteilung. Niklas Luhmann bearbeitet in seiner umfassenden Systemtheorie religiöse Phänomene unter kommunikationstheoretischen Prämissen und ermöglicht darin einen eigenen Zugang zur christlichen Offenbarungs- und Trinitätstheologie. Schon die Begrifflichkeit Selbstgebung verweist auf den selbstrefe112 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Offenbarung als Re-entry Gottes

rentiellen Charakter (»Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« 1) und einen dynamisch-prozeduralen Grundzug unter dem Licht einer Gabe-Phänomenologie. Beides lässt eine Anwendbarkeit der Systemtheorie auf das monotheistische Offenbarungsverständnis, die christliche Trinitätslehre und das Phänomen der Selbstgebung vermuten, da bei Luhmann gerade die Selbstreferentialität autopoietischer Systeme, die als soziale Systeme aus Kommunikationen bestehen, von zentraler Bedeutung ist. 2 In den folgenden Ausführungen, die inhaltlich vor allem den soziologischen Beitrag zur genannten Tagung wiedergeben und deren Schlussfolgerungen eine Frucht aus der Abschlussdiskussion und den zahlreichen peripheren Gesprächen sind, werden Luhmanns Religionstheorie 3 und trinitätstheologische Reformulierungen der systemtheoretischen Deutung der Offenbarung 4 herangezogen, um den Versuch einer Definition der Selbstgebung zu unternehmen. Dabei soll vor allem die Selbstgebung im Fokus der Fragestellung stehen, da die eher statisch zu verstehenden Begriffe Selbstgegebenheit und Selbstgabe eine resultative Engführung bedeuten und aus dem dynamischvollzughaften Denken abgeleitet werden können; am Ende soll aber Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay »Zum Verständnis des Werkes«, hrsg. v. Liselotte Richter, Frankfurt a. M. 1984, S. 13. 2 Mit Autopoiesis bezeichnet Luhmann die operative Geschlossenheit von Systemen, deren Kommunikation nur systemintern stattfindet auf der Grundlage des systemspezifischen Codes. Systeme erhalten sich selbst und bringen sich kontinuierlich selbst hervor, indem sie ihre Systemoperationen aus ihren eigenen Elementen reproduzieren. 3 Diese Ausführungen stützen sich zur Darstellung von Luhmanns Religionstheorie vor allem auf Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 41991; Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1997; Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 51999; Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, hrsg. v. André Kieserling, Darmstadt 2002. 4 Vgl. Günter Thomas: »Die Unterscheidung der Trinität und die Einheit der Kontingenzformel Gott«, in: Soziale Systeme 7/1 (2001), S. 87–99; Bernd Oberdorfer: »›Der liebe Gott sieht alles‹ – und wir schauen ihm dabei zu. Theologische Randbemerkungen zu Luhmanns Bestimmung von Gott als ›Kontingenzformel‹«, in: Soziale Systeme 7/1 (2001), S. 71–86; Günter Thomas: »Kommunikation des Evangeliums – oder: Offenbarung als Reentry«, in: Günter Thomas/Andreas Schüle (Hrsg.): Luhmann und die Theologie, Darmstadt 2006, S. 15–32; Bernd Oberdorfer: »Kontingenzformel ›Gott‹. Der christliche Gottesgedanke unter systemtheoretischer Beobachtung – trinitätstheologisch beobachtet«, in: Günter Thomas/Andreas Schüle (Hrsg.): Luhmann und die Theologie, Darmstadt 2006, S. 107–115. 1

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Frank Schlesinger

ein Antwortversuch auf die Frage gegeben werden, in welchem Verhältnis die substanz- und relationsontologischen Zugänge zur Selbstgebung stehen. Zudem wird geklärt, ob – ausgehend vom Versuch einer Definition der Selbstgebung aus der Sicht der Systemtheorie – Selbstgebung als Phänomen sui generis verstanden werden muss, das keine Abstufungen oder niedrigere (Vor-)Formen zulässt, oder ob verschiedene defiziente Formen einer vollkommenen Hochform der Selbstgebung in Gradualität denkbar sind. Argumentativ werden dabei zunächst die Prämissen in der System- und Religionstheorie Luhmanns ausgehend von seiner Rezeption Husserls erläutert, um den nötigen theoretischen Hintergrund für die weitere Argumentation zu liefern (Kapitel 2). In einem weiteren Schritt wird der systemtheoretische Gottesbegriff in seiner Funktion, Evolution und den daraus zu schließenden affirmativen Gottesprädikationen dargelegt, denn das Gottesverständnis ist grundlegend für eine systemtheoretisch gewendete Deutung von Offenbarung (Kapitel 3). Davon ausgehend wird die Reformulierung der Offenbarung Gottes als Re-entry-Iteration erläutert, die zugleich als Selbstimplikation und Selbstgebung identifiziert werden kann und die eine mögliche Kongruenz mit dem Re-entry der Religion erkennen lässt. Die systemtheoretische Deutung der Offenbarung wird dann in der Christologie angewendet (Kapitel 4). Im abschließenden Kapitel sollen die Erkenntnisse aus dem Verlauf der Tagung einfließen, soweit sie relevant sind, um die vorliegende Fragestellung zu beantworten.

2.

Systemtheoretische Prämissen von Luhmanns Religionstheorie

2.1. Luhmanns Husserl-Rezeption Die Systemtheorie beruht auf phänomenologischen Voraussetzungen, weil es Luhmann darum geht, den gesellschaftlichen Phänomenen gerecht zu werden. Dass die »operative Theorieanlage Husserls für Luhmann stilbildend gewesen ist« 5, zeigt sich in Luhmanns Wen5 Armin Nassehi: Art. »Luhmann und Husserl«, in: Oliver Jahraus u. a. (Hrsg.): Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2012, S. 13–18, hier S. 13.

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Offenbarung als Re-entry Gottes

de hin zu einer operativen Theorieanlage, 6 der Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins zugrunde liegt. 7 Systeme werden »als operativ geschlossene Einheiten« 8 verstanden und stehen in unüberwindbarer Differenz zu anderen Systemen. Dabei kam für Luhmann der husserlsche Aufweis der Sinnform als einer Verweisungsform in selbstreferentiellen, noetisch-intentionalen Akten für seine Systemtheorie gelegen, Husserls traditionelle Lösungen des Weltproblems integrierte er in seine Theorie jedoch nicht: 9 »Wir gehen deshalb von einer phänomenologischen Beschreibung der Sinnerfahrung und des Sinn/Welt-Konstitutionszusammenhanges aus, gründen diese Beschreibung aber nicht auf die ihr vorausliegende Existenz eines extramundanen Subjekts […], sondern fassen sie als Selbstbeschreibung der Welt in der Welt.« 10

Luhmann reformuliert also phänomenologische Erkenntnisse – insbesondere jene über die Intentionalitätsstruktur des Bewusstseins – und integriert sie in seine Theorie sozialer Systeme, 11 sodass seinem »Paradigma der System und Umwelt-Differenz im sozialen System […] das Intentionalitätskonzept von Husserl zu Grunde gelegt« 12 wird. 2.1.1. Der husserlsche Horizontbegriff Luhmann setzt den Weltbegriff systemrelativ an als Horizontbegriff, 13 denn er konzipiert Intentionalität als das Setzen einer Differenz, deren Setzungsakt nur durch das Setzen einer weiteren Differenz im (infiniten) Regress zugänglich ist. Insofern Luhmann seine Theorie also mit einer Differenz beginnt, kann er diesen Setzungsakt auch theoretisch nicht einholen: Vgl. Nassehi: Art. »Luhmann und Husserl«, S. 13. – Zur Rezeption Luhmanns bei Husserl für seine operative Theorieanlage vgl. Armin Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Wiesbaden 22008. 7 Vgl. Nassehi: Art. »Luhmann und Husserl«, S. 15. 8 Nassehi: Art. »Luhmann und Husserl«, S. 17. 9 Vgl. Nassehi: Art. »Luhmann und Husserl«, S. 13. 10 Luhmann: Soziale Systeme, S. 105. 11 Vgl. Sven-Eric Knudsen: Luhmann und Husserl. Systemtheorie im Verhältnis zur Phänomenologie, Würzburg 2006, S. 113 f. 12 Knudsen: Luhmann und Husserl, S. 114. 13 Vgl. Nassehi: Art. »Luhmann und Husserl«, S. 13 f. und Knudsen: Luhmann und Husserl, S. 116. 6

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»Dabei ist […] mit Unbeobachtbarkeit nicht praktische Unzugänglichkeit gemeint, sondern dasjenige, was das Beobachten selbst unbeobachtbar macht. Und das ist immer ein Doppeltes: das Beobachten selbst und der unmarked state der Welt, aus dem heraus es das, was es bezeichnet, unterscheidet.« 14

Die Welt sei jedem System nur als Horizont der Rekursivität jeder seiner Operationen gegeben, denn die »Welt ist damit in jeder sinnhaften Aktualität mitgegeben; aber dies nur als Horizont, dem man sich nur durch Wahl eines Kontextes für spezifische Operationen nähern kann und der, wenn man dies tut, zurückweicht.« 15 Das Sinnmedium kann für Luhmann also nicht erkenntnistheoretisch eingeholt werden und seine Grenze hat die Form eines sich immer neu abzeichnenden Horizontes, keiner überschreitbaren Linie. So adaptiert er Husserls Erkenntnis, »daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, […] aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt« 16, und schlussfolgert, dass das originäre Gegebensein unter Mitgegebensein seiner Horizonte dann als Erkenntnisgrund gelten könne. 17 Luhmann interpretiert Husserl so, dass er »den ins Infinite laufenden Regreß des Beschreibens von Beschreibungen von Beschreibungen mit Hilfe des Subjektbegriffs« 18 stoppt und führt dann seine eigene Lösung an, »daß das Beschreiben des Beschreibens des Beschreibens als endlos rekursiver Prozeß begriffen werden muß. Damit erreicht man den Anschluß an das Diskussionsniveau der modernen Logik und Kybernetik selbstreferentieller Systeme.« 19 2.1.2. Husserls Erkenntnistheorie Husserls Erkenntnistheorie fußt auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Gegenstand, wie er intendiert ist (Noesis), und

Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, S. 35 f. Vgl. Niklas Luhmann: »Die Lebenswelt nach Rücksprache mit Phänomenologen«, in: Gerhard Preyer/Georg Peter/Alexander Ulfig (Hrsg.): Protosoziologie im Kontext. »Lebenswelt« und »System« in Philosophie und Soziologie, Frankfurt a. M. 1996, S. 268–289, hier S. 271. 16 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologien, Husserliana (Hua) Bd. III Den Haag 1950, S. 52. 17 Luhmann: »Die Lebenswelt nach Rücksprache mit Phänomenologen«, S. 270. 18 Luhmann: »Die Lebenswelt nach Rücksprache mit Phänomenologen«, S. 283. 19 Luhmann: »Die Lebenswelt nach Rücksprache mit Phänomenologen«, S. 284. 14 15

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dem Gegenstand, der intendiert ist (Noema). Mit dieser Reflexion darüber, was eigentlich die Beschreibungen, das Beschreibende, die Beschreibenden sind, beginnt für Husserl der Weg der transzendentalen Phänomenologie. Diese versteht sich als strenge Wissenschaft, indem sie in der Beschreibung der Beschreibung das entdecken will, was sich zeigt und was für das Subjekt evident ist. Mit Evidenz bezeichnet Husserl die intentionale Leistung der Selbstgebung des Bewusstseins: »Evidenz bezeichnet […] die intentionale Leistung der Selbstgebung. Genauer gesprochen ist sie die allgemeine ausgezeichnete Gestalt der ›Intentionalität‹, des ›Bewußtseins-von-etwas‹, in der das in ihr bewußte Gegenständliche in der Weise des Selbsterfaßten, Selbstgesehenen, des bewußtseinsmäßigen Beiihm-selbst-seins bewußt ist.« 20

In Luhmanns Systemtheorie trifft das husserlsche Korrelationsapriori Noesis – Noema mit dem systemtheoretischen Begriffspaar Selbstreferenz – Fremdreferenz zusammen. 21 Luhmann übernimmt damit die Enthaltsamkeit von der Seinsthesis und die Aufgabe der natürlichen Einstellung zur Welt.

2.2. Luhmanns Religionstheorie Der Kern der konstruktivistischen Denkweise in Luhmanns Epistemologie und Ontologie ist die Erkenntnis, dass jegliche Beobachtung die Handhabung einer Unterscheidung ist, bei der nur eine Seite des Unterschiedenen bezeichnet und so Gegenstand der Beobachtung wird; erst eine Beobachtung zweiter Ordnung sieht die Kontingenz der ersten Beobachtung und darum ist jede Sicht immer verbunden mit einer ihr entsprechenden Blindheit bezüglich der impliziten Anfangsunterscheidung, die nicht mitbeobachtet werden kann. Der Begriff des Re-entry bezeichnet das Antasten der Grenze der Unterscheidung in einer Beobachtung zweiter Ordnung, welche die Unterscheidung auf einer Seite des Unterschiedenen wiederholt. Diese Behandlung der Unterscheidung innerhalb des Systems kann zu Paradoxien führen (z. B.: Ist die Unterscheidung recht – unrecht über-

Edmund Husserl: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Husserliana (Hua) Bd. XVII, Den Haag 1974, S. 167. 21 Vgl. Knudsen: Luhmann und Husserl, S. 113. 20

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haupt rechtmäßig? Ist die Unterscheidung wahr – unwahr überhaupt wahr?), die dann über die Präferenz einer Seite gelöst werden. Religion thematisiert genau dieses Paradox, dass jedes System mit Sinn operiert, ohne diese kontingente Setzung selbst thematisieren zu können; sie bringt die Kontingenz von Sinn zum Ausdruck und nicht die individuelle Suche nach Kontingenzbewältigung oder moralischer Orientierung: »Es sind mithin auch keine Defekte, Sorgen, Unsicherheiten, die mit Religion kompensiert werden, sondern eine notwendige Bedingung jeder Festlegung – sei es im Erleben oder Handeln, sei es durch psychische oder durch soziale Systeme – auf etwas-und-nichts-anderes.« 22

Religion ist damit nicht mehr auf ein bloßes Kompensationsmodell für die Kontingenzen des Lebens und auf ihre Trostfunktion beschränkt, 23 sondern sie kompensiert die Unbeobachtbarkeit als notwendige Bedingung jeder Festlegung, weshalb Luhmann die Religion beim Begriff der Einheit und nicht der Differenz verortet: »Sinnformen werden als religiös erlebt, wenn ihr Sinn zurückverweist auf die Einheit der Differenz von beobachtbar und unbeobachtbar und dafür eine Form findet« 24. Es ist das genuine Potential der Religion, dass sie der Gesellschaft eine Form der Kommunikation über Kontingenz zur Verfügung stellt, indem sie die nur durch Unterscheidungen beobachtbare Welt dupliziert und mit der Leitdifferenz Immanenz – Transzendenz kommuniziert. Luhmann identifiziert die religionsspezifische Unterscheidung Immanenz – Transzendenz folgendermaßen: »Man kann dann auch sagen, daß eine Kommunikation immer dann religiös ist, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet. Dabei steht Immanenz für den positiven Wert, für den Wert, der Anschlußfähigkeit für psychische und kommunikative Operationen bereitstellt, und Transzendenz für den negativen Wert, von dem aus das, was geschieht, als kontingent gesehen werden kann.« 25

In der Theorie der binären Codierung liefert Luhmann eine Neubeschreibung religiöser Traditionselemente und eine Erklärung von Entstehung und Fixierung des spezifischen religiösen Codes, der weder die Ursache noch eine bloße Variable der weiteren semantischen Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, S. 36. Isolde Karle: Art. »Theologie«, in: Oliver Jahraus u. a. (Hrsg.): Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2012, S. 408–413. 24 Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, S. 35. 25 Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, S. 77. 22 23

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und sozialen Entwicklung der Religion ist. So leitet Luhmann von den Paradoxien der Beobachtung, die vom Code der Religion verarbeitet werden, über zu den Paradoxien der religiösen Kommunikation, die organisiert, dogmatisch fixiert und ritualisiert werden. Die Kommunikation schütze sich so selbst durch Formstrenge gegen Irritationen und reduziere in stereotypisierten Formen die eigene Kontingenz auf singuläre Notwendigkeiten. Unter dieser Warte ist Religion ein kulturelles Konzept, das sich im gesellschaftlichen Diskurs konstituiert. Die Systemtheorie macht auf die gemeinsamen Merkmale religiöser Kommunikationen aufmerksam und nimmt in der Abstraktion von den historischen Formen der Weltreligionen das religiöse Feld als deutlich ausdifferenziertes Gebilde wahr. Luhmanns Religionstheorie mag damit wohl gegenwärtig als eine der anspruchsvollsten Religionstheorien mit hohem Auflösungsvermögen gelten, denn der Code Transzendenz – Immanenz kann das Spektrum aller menschlichen Erfahrungen über die negativ konnotierten Kontingenzerfahrungen hinaus einer religiösen Deutung erschließen. 26

3.

Die Kontingenzformel Gott

3.1. Die Funktion der Kontingenzformel Der Gottesbegriff 27 ist die zentrale Chiffre aller theistischen Religionen; Luhmann beschreibt ihn als Kontingenzformel, die dem Religionssystem die Differenz als Einheit kommunikativ zugänglich macht. Die Einheit Gottes übergreife sämtliche Differenzen; sie verschließe sich gegen Kommunikation und ermögliche aber zugleich, die Inkommunikabilität zu kommunizieren. Mit dem Begriff Kontingenz bezeichnet Luhmann dabei alles Nicht-Notwendige und Nicht-Unmögliche. Eine Kontingenzformel absorbiere und überführe UnbeVgl. Karle: Art. »Theologie«, S. 411. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Niklas Luhmann: »Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu?«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Wiesbaden 42009, S. 241–249; Oberdorfer: »Kontingenzformel ›Gott‹«, S. 108–110; Andrea NickelSchwäbisch: Wo bleibt Gott? Eine theologische Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Münster 2004; Rainer Dahnelt: Funktion und Gottesbegriff. Der Einfluss der Religionssoziologie auf die Theologie am Beispiel von Niklas Luhmann und Falk Wagner, Leipzig 2009. 26 27

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stimmbarkeit in Bestimmbarkeit und unterdrücke dabei als Inklusions- und Exklusionskriterium andere Möglichkeiten, wodurch der systemspezifische Sinn fixiert und der Beliebigkeit entzogen werde. Luhmann identifiziert verschiedene Formen dieser Chiffre (Geheimnis, Paradoxie, externe Analyse), die er auf die jeweiligen Paradoxien der Beobachtung und Kommunikation gründet und die im Folgenden dargelegt werden.

3.2. Die evolutionäre Sequenz des Gottesbegriffs Für Luhmann gibt es eine rekonstruierbare evolutionäre Sequenz der Möglichkeiten von Gott zu reden, je nach den Leitvorstellungen, deren Plausibilität von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängt: 28 (1) In tribal-segmentären, archaischen Gesellschaften herrscht das Schema vertraut – unvertraut vor, das in der Form des Geheimnisses aufgelöst wird. (2) In stratifikatorischen Hochkulturen entstehen durch hierarchische Differenzierung unterschiedliche Perspektiven auf das Geheimnis, die über die Außenperspektive der Beobachtung Gottes integriert werden und zur Form des Paradoxes führen. (3) Funktional ausdifferenzierte Gesellschaften bedienen sich der externen funktionalen Analyse und übertragen göttliche Funktionen und Attribute auf autonome Systeme, die funktionale Äquivalente zum Gottesbegriff ausbilden. 29 Im Folgenden sollen nun diese drei Ausprägungen des Gottesbegriffs näher erläutert werden. 3.2.1. Die tribal-segmentäre, archaische Gesellschaft: Geheimnis Die archaische Gesellschaft ist bestimmt von Kolokalität, Kopräsenz und Aktualität ihrer Operationen und legt ihnen das Schema vertraut – unvertraut zugrunde. 30 Diese Gesellschaften arbeiten vor allem noch mit relativen (räumlich verstandenen) Transzendenzen, denn laut Luhmann »müssen wir davon ausgehen, dass sich ein Begriff absoluter Transzendenz erst unter bestimmten historischen Bedingungen als Produkt theologischer Rationalisierung ausbilden Vgl. Nickel-Schwäbisch: Wo bleibt Gott?, S. 29. Vgl. Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, S. 168. 30 Vgl. Nickel-Schwäbisch: Wo bleibt Gott?, S. 36; Mircea Eliade: Die Schöpfungsmythen. Mit einem Vorwort von Mircea Eliade, Düsseldorf 2002. 28 29

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kann.« 31 Die jeweilige Grenze der Systeme Stamm, Sippe oder Dorf ist die Grenze des Fremden, ein unmarkierter grenzenloser Raum des Chaos (unmarked space), der beängstigt und darum in einen Kosmos (marked space) umgestaltet werden muss. 32 Durch die Schöpfung als distinctio und indicatio 33 wird Struktur geschaffen und in der kultischen Anrufung wird die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit und Überwindung der Trennung artikuliert. Wie die Grenze zur Umwelt ist auch die Rede vom Göttlichen in diesem Kontext ambivalent geprägt als mysterium tremendum et fascinosum. In diesem Stadium manifestriert sich Religion vor allem im Umgang mit dem Unvertrauten durch Aussonderung im Vertrauten als Geheimnis. Diese Realpräsenz und Inkarnation der Differenz im vertrauten Umfeld gelingt durch Mythen, Riten (als körperliche Vollzüge des Mythos 34) und Symbole: »Er [der Mythos] thematisiert nichts anderes als die Differenz von vertrauter und unvertrauter Welt, und dies in einer semantischen Form, die aus Wiederholung entsteht und auf Wiederholung angelegt ist. Ort und Zeit, hier und jetzt, Bedingungen und vertraute Umstände des Menschenlebens werden gegen das ganz andere abgegrenzt. […] Mit der Erfindung von Symbolen beginnt bereits ein Substitutionsprozeß an genau dieser Funktionsstelle. Der Mythos wird, da vorgefunden, als symbolisch interpretiert und schließlich durch freiere Symbolbildung abgelöst.« 35

Infolgedessen kommt es auch zur Unterbindung von Kommunikationsmöglichkeiten durch Tabus; »sie markieren im Vertrauten […] die Grenze zum Unvertrauten.« 36 Durch die Bindung an besondere Plätze, Zeiten und Personen wird die religiöse Kommunikation künstlich beschränkt und mit sozialer Sanktionierung verbunden. 37 In ausdifferenzierteren segmentären Gesellschaften ermöglicht die Rollendifferenzierung Priester – Laie bereits eine Beobachtung der Beobachtung, denn der Laie kann den Umgang des Priesters mit der Grenze zum Fremden beobachten, ohne selbst damit in Berührung zu Christoph Kleine: »Niklas Luhmann und die Religionswissenschaft: Geht das zusammen?«, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 24, Nr. 1 (2016), S. 47–82, hier S. 61. 32 Vgl. Nickel-Schwäbisch: Wo bleibt Gott?, S. 38. 33 Vgl. Nickel-Schwäbisch: Wo bleibt Gott?, S. 39. 34 Vgl. Nickel-Schwäbisch: Wo bleibt Gott?, S. 42. 35 Luhmann: »Die Lebenswelt nach Rücksprache mit Phänomenologen«, S. 275. 36 Luhmann: »Die Lebenswelt nach Rücksprache mit Phänomenologen«, S. 276. 37 Vgl. Nickel-Schwäbisch: Wo bleibt Gott?, S. 41. 31

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kommen; 38 hinzu kommen noch Verschriftlichungstendenzen, welche die Unwiederholbarkeit der Ereignisse garantieren: 39 »Durch diese Umsetzung von mündlichen Zeugnissen in Schrift wird eine Tradition erzeugt, wird das Ereignis dekontextiert und rekontextiert, nämlich eingebracht in Erzählungen […]. Die Buchreligion sperrt sich gegen eine rituelle, eine kultische Wiederholung solcher Ereignisse. Sie wiederholt sich selber – als Schrift.« 40

3.2.2. Die stratifikatorische Hochkultur: Paradoxie Durch eine voranschreitende hierarchische Differenzierung entsteht eine soziale Asymmetrie der Schichten mit dem Verlust sozialer Einheit. Es gibt nun unterschiedliche Perspektiven auf das Geheimnis, die als Paradox kommuniziert werden. Daraus ergibt sich die soziokulturelle Notwendigkeit einer universalen Außenperspektive, von der sich alle in gleicher Weise beobachtet fühlen und die prinzipiell unverfügbar ist: »Es gibt keine heiligen Plätze, Orte, Bilder mit privilegierter Gottesnähe. Die Differenz von sakral und profan wird zumindest theologisch überwunden und dem Volksglauben überlassen« 41. Der personale Beobachtergott des ausgeprägten Monotheismus ist nun die universale personale Adresse sozialer Kommunikation 42 und die eine Beobachtung Gottes (als Genitivus subjectivus und objectivus) garantiert die Integration der Gesellschaft. Neues Selektionskriterium ist die vermittelte Beobachtbarkeit durch Gottes Selbstoffenbarung: »Das Dogma der Offenbarung dient als koordinierte Generalisierung. Es kombiniert (1) eine universell verwendbare Autorschaft (Gott) mit (2) relativ verweisungsoffenen, deutungsfähigen Inhalten, deren Rationalität und Interpretierbarkeit gleichwohl garantiert ist, und (3) mit dem wirklichem Erscheinen einer Möglichkeit in der Form, (4) eines besonderen historischen Ereignisses, das als ein besonderes (5) unmittelbare Evidenz hat und das als ein historischVgl. Nickel-Schwäbisch: Wo bleibt Gott?, S. 43. Niklas Luhmann: »Das Medium der Religion. Eine soziologische Betrachtung über Gott und die Seelen«, in: Soziale Systeme 6 (2000), S. 39–53, hier S. 43. 40 Luhmann: »Das Medium der Religion«, S. 44. 41 Niklas Luhmann: »Die Unterscheidung Gottes«, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Wiesbaden 42009, S. 250–268, hier S. 261. 42 Vgl. Nickel-Schwäbisch: Wo bleibt Gott?, S. 50. 38 39

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einmaliges (6) der variierenden Disposition durch die je gegenwärtige Gesellschaft entzogen ist, vielmehr allein einer theologischen Dogmenverwaltung unterliegt.« 43

Eine zirkuläre Argumentationsstruktur ist dabei dem Glaubens inhärent: Offenbarung offenbart sich selbst, indem sie sich auf ihr Erscheinen in der Welt bezieht. 44 3.2.3. Die funktional ausdifferenzierte, moderne Gesellschaft: externe funktionale Analyse Durch die zunehmende Differenzierung in verschiedenen Teilsystemen und die Übertragung göttlicher Funktionen und Attribute auf die Gesellschaft selbst gerät diese in eine Integrationskrise. Autonome Funktionssysteme bilden deshalb God-terms aus, die als funktionale Äquivalente zum Gottesbegriff fungieren, wodurch die Fremdreferenz auf Gott entfällt. 45 Luhmanns Säkularisierungsbegriff fasst diesen Prozess zusammen: »In einer funktional differenzierten Gesellschaft muss jedes System die Inklusion selbständig und in Bezug auf seine jeweilige Funktion regeln, das heißt für alle nicht-religiösen Funktionssysteme: ohne religiöse Begründung. Säkularisierung ist damit nicht mit einem Funktionsverlust der Religion gleichzusetzen« 46.

3.3. Zusammenfassung: Luhmanns Beobachter-Gott Luhmann konstituiert Gott im monotheistischen Verständnis als Beobachter-Gott, der die Fähigkeit hat, alles zu beobachten. »Mit dieser Universalität des Alles-Beobachters ist zugleich klargestellt, daß er der Einzige ist, und daß weder Engel noch Menschen ihn zureichend beobachten können.« 47 Gottes Beobachtung unterscheide nicht zwischen Selbst- und Fremdreferenz; in ihr würden Differenz und Einheit gleichzeitig realisiert. Sie habe somit auch keinen blinden Fleck Luhmann: Funktion der Religion, S. 170. Vgl. Luhmann: Funktion der Religion, S. 173; Nickel-Schwäbisch: Wo bleibt Gott?, S. 55. 45 Vgl. Nickel-Schwäbisch: Wo bleibt Gott?, S. 81–86; Kleine: »Niklas Luhmann und die Religionswissenschaft«, S. 52 f. 46 Karle: Art. »Theologie«, S. 411. 47 Luhmann: »Das Medium der Religion«, S. 45. 43 44

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und beobachte perspektivlos alles gleichzeitig und in Gänze; darum bezeichnet Luhmann die transzendente Person als selbst-transparent, die immanente Person hingegen als selbst-intransparent. 48 Die Unbeobachtbarkeit Gottes sei für den Menschen aufgrund Gottes absoluter Differenz zu allen Differenzierungen der Welt ein Paradox, denn die »Beobachtung dieses Beobachters ist also nur im Eingeständnis ihrer Unmöglichkeit, nur als docta ignorantia möglich« 49. Dieses Paradox löst die Religion nach Luhmanns Ansicht durch eine limitierte Selbstoffenbarung Gottes, die Distanzierung vom Teufel als dem ersten (illegitimen) Beobachter Gottes und die Mystik. 50 Daraus resultieren typische Umgangsweisen mit der Beobachtung des Unbeobachtbaren: negative Theologie, heiliges Schweigen, wirre Rede, Mystik als unmittelbares Sehen des eigenen Gesehen-Seins. 51 Die obigen Ausführungen zeigen, dass Luhmanns BeobachterGott und das daraus hervorgehende Offenbarungsverständnis eher dem Gottesbild des klassischen Theismus im 17. und 18. Jahrhundert entspricht, da er auf Traditionen der philosophischen Gotteslehre zurückgreift, die Gott als jenseits jeglicher Unterscheidung denken und woraus auch seine trinitätstheologische Leerstelle resultiert. 52 Die Entfaltung der trinitätstheologischen Überlegungen des 20. Jahrhunderts und die systemtheoretische Reformulierung der Offenbarung können als Reaktion auf den Plausibilitätsverlust und die Krise des metaphysischen Gottesverständnisses, die Luhmann der christlichen Religion attestiert, verstanden werden. 53

4.

Die Selbstgebung Gottes im Re-entry

4.1. Theologie im Anschluss an Luhmann Der Theologe Günter Thomas wendet sich gegen Luhmanns Konzeption eines »differenzlosen und damit metaphysischen Beobachtergottes« 54 und bezieht sich auf trinitätstheologische Konzepte, die sich 48 49 50 51 52 53 54

Vgl. Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, S. 159. Luhmann: »Das Medium der Religion«, S. 45. Vgl. Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, S. 167. Vgl. Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, S. 163. Vgl. Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 22. Vgl. Oberdorfer: »›Der liebe Gott sieht alles‹«, S. 83 f. Thomas: »Die Unterscheidung der Trinität«, S. 98.

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ausbildeten, um auf die Krise des metaphysischen Beobachtergottes zu reagieren und ihren Religionscode konstruktiv weiterzuentwickeln. 55 »Die Präsenz Gottes in der Immanenz wird dabei positiv akzentuiert und nicht als Tragik betrachtet, wie bei Luhmann, der die Unmöglichkeit, von der Seite der Immanenz auf die Seite der Transzendenz zu gelangen, als Problem markiert. Thomas will die einfache Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz durch eine systemtheoretische Reformulierung der Offenbarung als Re-entry […] ablösen.« 56

Für einen Theorieentwurf, der sich am trinitarischen Gottesverständnis orientiert, ist nicht die Einheitstiftung, sondern die Differenzmarkierung der Zielpunkt der Kontingenzformel Gott; diese Differenz in Gott hat auch Folgen für die Verhältnisbestimmung von Immanenz und Transzendenz in der Reformulierung des Offenbarungsverständnisses.

4.2. Die Re-entry-Iteration Der Kosmos der Religion entfaltet sich im Spannungsfeld der religiösen Grundunterscheidung: Die religiöse Spannung zwischen der Unterscheidung von Gott und Welt (Finitum non capax infiniti) und Gottes selbstgewählter Präsenz in der Welt (Finitum capax infiniti) 57 wird im Raum der Immanenz von der Seite der Transzendenz her gelöst. Dabei muss die menschliche von der göttlichen Unterscheidungspraxis abgegrenzt werden. Der klassische Codegebrauch sozialer Systeme vollzieht das Re-entry und die dazugehörige Präferenz auf derselben Seite der Unterscheidung. Hingegen der religiöse Codegebrauch (Abb. 1) kann sein Re-entry nur auf der Seite der Immanenz vollziehen, präferiert aber die transzendente Seite seiner Leitdifferenz. 58 Vgl. Günter Thomas: »Die Unterscheidung der Trinität«, S. 98. Karle: Art. »Theologie«, S. 412. 57 Vgl. Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 24. 58 Zu Abb. 1 und Abb. 2 vgl. die Darstellungen bei Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 27 f., die für diesen Beitrag herangezogen und abgewandelt wurden. Der äußere Kreis markiert die Leitdifferenz des jeweiligen Systems, die durch das Reentry auf der Seite der Immanenz wiederholt wird (innerer Kreis). Die durch Fettdruck ausgezeichneten Begriffe verweisen auf die präferierte Seite der Unterschiedung. 55 56

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Transzendenz Immanenz

T Re

I

- ent r y

Abb. 1: Das Re-entry der Religion

In kongruenter Entsprechung zeigt sich der göttliche Codegebrauch (Abb. 2): Die Selbstpräferenz Gottes und sein Re-entry auf Seite der Welt steht in Kongruenz mit dem religiösen Code 59. In der Offenbarung vollzieht Gott seine Re-entry-Iteration nicht auf seiner eigenen Seite, sondern impliziert sich selbst in das von ihm Unterschiedene. »Innerhalb des christlichen Codes ist ›Gott‹ also weder nur transzendent noch nur immanent, sondern kann auf beiden Seiten vorkommen« 60. Die Offenbarung ist somit eine Handlung Gottes, die dem Menschen unmöglich ist und die eine religiöse Antwort des Menschen erst ermöglicht.

Go� Welt

G W Re

- ent r y

Abb. 2: Das Re-entry der Offenbarung

Vgl. Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 28. Johann Ev. Hafner: »Der Himmel ist nicht Gott. Die Unterscheidung von erster und zweiter Transzendenz«, in: Stefan Schreiber/Stefan Siemons (Hrsg.): Das Jenseits. Perspektiven christlicher Theologie, Darmstadt 2003, S. 143–175, hier S. 173.

59 60

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Verschiedene Sphären der Welt können dabei zum Ort und medialen Substrat des göttlichen Re-entry werden, da die Offenbarung menschlich-kulturelle Gegebenheiten aufnimmt und diesen einen neuen Bedeutungsgehalt gibt (z. B. Geschichte, individuelle und soziale Erfahrungen, normative Texte). 61 Im Folgenden sollen drei Beispiele solcher präziser Verborgenheiten in der Immanenz mit der eben vorgestellten Codesemantik erschlossen werden. 4.2.1. Kosmogonisches Beispiel: Schöpfung Die Erschaffung des Kosmos ist der erste Schnitt der Unterscheidung Gottes von der Welt und des Wiedereintritts dieser Differenz in die Schöpfung selbst. Die biblischen Schöpfungsgeschichten entfalten die Schöpfung als Folge von ambivalenten Trennungsakten und der Überführung vom Chaos zum Kosmos. Die Ambivalenz zeigt sich darin, dass Gott einen umgrenzten und damit sicheren Lebensraum erschafft, aber die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit und Überwindung der Trennung zugleich in der Schöpfung bestehen bleibt. 62 Das Re-entry manifestiert sich in der Unterscheidung der Welt in Himmel und Erde: Der Himmel als Ort der Präsenz Gottes im unverfügbaren Bereich des Geschöpflichen ist in sich ambivalent und je nach Hinsicht Anzeichen von Gottes Nähe oder Ferne; er ist in seiner differenzmarkierten Präsenz als Geschöpf Gottes weder göttlich oder irdisch, sondern eben himmlisch: 63 »Die dogmatische Sprache der ersten Jahrhunderte hat die Zwischenstellung des Himmels durch den Begriff der invisibilitas eingefangen. Er transzendiert das empirisch Immanente, Gott aber transzendiert beide, das immanent Seiende und das transzendent Seiende.« 64

Darum sind Himmel und Erde »nicht mit (absoluter) Transzendenz und Immanenz zu identifizieren, beide stellen vielmehr Geschöpfe Gottes dar, wobei der Himmel einen weitgehend unzugänglichen und unverfügbaren Schöpfungsbereich symbolisiert« 65, in den sich die Herrschaftsbewegung Gottes erstreckt.

61 62 63 64 65

Vgl. Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 27. Vgl. das vorige Kapitel über segmentäre Gesellschaften. Vgl. Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 29. Hafner: »Der Himmel ist nicht Gott«, S. 172. Karle: Art. »Theologie«, S. 412.

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4.2.2. Räumliches Beispiel: Tempel Der Tempel ist ein Beispiel der räumlich begrenzten Einheit der Unterscheidung Himmel – Erde auf irdischer Seite, da er die Gleichzeitigkeit von Präsenz und Unfassbarkeit Gottes markiert – ein lokaler Berührpunkt zwischen Himmel und Erde. 66 Als weltimmanentes Reentry ist er zugleich eine kulturelle Erfindung des Menschen, die sich aber der grundsätzlichen göttlichen Ermöglichung der Wiederholung der Unterscheidung von Himmel und Erde verdankt. Die biblischen Beispiele der sich daraus entwickelnden Tempeltheologie sind zahlreich; hier sei nur an zwei Stellen verwiesen, die seine Funktion der Grenzmarkierung und Grenzüberschreitung für das Volk Israel besonders verdeutlichen: In 1 Kön 8,27 wird die paradoxale Struktur des Versuchs einer Handhabung der Unfassbarkeit Gottes aufgedeckt (»Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wie viel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe.«); in Jes 6,1 wird in einer Thronvision und quasi-himmlischen Szenerie auf vorgegebene Topoi der Tempeltheologie rekurriert, um gängige kultische Vorstellungen zu entgrenzen (»Er saß auf einem hohen und erhabenen Thron. Der Saum seines Gewandes füllte den Tempel aus.«). 4.2.3. Zeitliches Beispiel: Engel Engel sind Personalisierungen in der Immanenz ohne Dauerhaftigkeit, die nach Ausrichtung ihres Auftrags wieder verschwinden, 67 da sie eine auftragsgebundene Erscheinung und zeitlich personalisierte Wiederholung der Unterscheidung von Gott und Welt sind. 68 Als Selbstverendlichung und Konkretion der göttlichen Macht in personaler Rede machen sie Gottes Herrschaftsbewegung bestimmbar. 69 Diese Herrschaftsbewegung Gottes, die sich in den Engeln ausdrückt, ist selbst eine Offenbarung des Handelns Gottes. 70

Vgl. Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 29 f. Vgl. Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 30. 68 Vgl. Oliver Dürr: Der Engel Mächte. Systematisch-theologische Untersuchung. Angelologie, Stuttgart 2009, S. 286. 69 Vgl. Dürr: Der Engel Mächte, S. 287; Thomas Ruster: Von Menschen, Mächten und Gewalten. Eine Himmelslehre, Mainz 2005. 70 Vgl. Dürr: Der Engel Mächte, S. 284. 66 67

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Offenbarung als Re-entry Gottes

4.3. Die Selbstbeobachtung und die Selbstgebung Gottes Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass für Luhmann der Religionscode mit der Differenz Transzendenz – Immanenz arbeitet, »wobei Gott zugleich als Einheit dieser Differenz und als selbst differenzunbedürftig angenommen wird.« 71 Doch im Fall Gottes »liegt das Problem in der Selbstbeobachtung, die, da alles Beobachten ein Unterscheiden erfordert, einen Wiedereintritt des Beobachtens in den Beobachter, eine selbsterzeugte Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz zur Voraussetzung hat.« 72

Von Luhmann wird Gott demnach als Schöpfer verstanden, der sich im Schöpfungsakt von seiner Schöpfung selbst unterschieden habe und dies in der Trinität reflektiere. In der Erschaffung der Welt schaffe sich Gott seinen eigenen Möglichkeitshorizont, denn alles Mögliche sei in der Transzendenz immer schon enthalten und festgelegt. 73 Diese reine Selbstbeobachtung Gottes ist eine Form der Selbstreflexion und des Selbsterhalts (Selbsthabe) auf transzendenter Seite (Abb. 3); Selbstimplikation hingegen ist freie Selbstgebung Gottes auf immanenter Seite (Abb. 2).

Vater Sohn

V S G eis t Abb. 3: Das intertrinitarische Re-entry

Damit lässt sich die systemtheoretische Interpretation des Vollzugs des charakteristisch christlichen Re-entrys mit Günter Thomas wie folgt zusammenfassen: 71 72 73

Luhmann: »Das Medium der Religion«, S. 50. Luhmann: »Das Medium der Religion«, S. 47. Vgl. Luhmann: »Die Unterscheidung Gottes«, S. 256.

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»Der menschlichen Handlung (1) der Wiederholung der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz in der Immanenz ›entspricht‹ die göttliche Selbstimplikation (2), wodurch die menschliche Handlung zugleich als sich göttlicher Aktivität verdankende Passivität (3) bzw. als Erleben erfaßt werden kann. Während die Selbstbeobachtung Gottes ein Re-entry auf der göttlichen Seite vollziehen würde, setzt die Selbstimplikation auf die andere Seite der Unterscheidung. Ist die Selbstbeobachtung eine Form der Selbstreflexion und des Selbsterhalts, so ist die Selbstimplikation primär ›Selbstgabe‹.« 74

Auch wenn es für Luhmann eine systemtheoretisch inadäquate Problemlösungsstrategie darstellt, kann das christologisch-trinitarisches Gottesverständnis demnach als konsequente und reflektierte Entfaltung einer Kontingenzformel erklärt werden, die eine luhmannsche Reformulierung der christlichen Offenbarungstradition ermöglicht.

4.4. Das zentrale Christusereignis Aus christlicher Sicht ist das zentrale Christusereignis als dauerhaftes göttliches Re-entry das unüberbietbare Ziel aller Selbstimplikation, 75 das eine »risikoreiche Steigerung der Verfügbarkeit und Verwechselbarkeit« 76 bedeutet. Gott setzt sich der zeitlich verfügbaren Beobachtung und auch der Situation des Nicht-beobachten-Könnens aus und geht das Risiko ein, dass verschiedene Beobachtungen mit inkompatiblen Unterscheidungen auch zu Unglauben und einem Abbruch der Kommunikation – bis hin zum gewaltsamen Ende als victima und sacrificium – führen. Damit tritt Gott heraus aus der Macht der Unbeobachtbarkeit und setzt ihr in Christus die Ohnmacht der Beobachtbarkeit als Liebe entgegen: 77 »Die in Christus beobachtbare Einheit des Codes ist die risikobereite Liebe.« 78 Die Inkarnation wiederholt somit auf radikalste Weise die Einheit von Transzendenz und Immanenz in der Welt. Im Christusgeschehen bringt sich Gott den Menschen selbst in Erfahrung, da »Gott sich im Geschöpflichen nicht verbirgt, sondern

Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 28. Dürr: Der Engel Mächte, S. 287. 76 Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 30. 77 Vgl. Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 30; Oberdorfer: »Kontingenzformel ›Gott‹«, S. 113. 78 Thomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 31. 74 75

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er erscheint« 79. Die irdische Existenzform Gottes ist damit zugleich die Bestimmung seiner Transzendenz und bringt zum Vorschein, dass Gott durch person-distinkte Differenzierungen charakterisiert ist. 80 Das Dogma der vollen Gottheit des Heiligen Geistes dient dann im göttlichen Code der Verortung der Einheit in der Differenz und als Differenz von Vater und Sohn (Abb. 3).

5.

Fazit: Selbstgebung im Anschluss an Luhmann

Auch wenn die moderne Trinitätstheologie für Luhmann nur ein Versuch ist, die Funktion der Kontingenzformel Gott unter den Bedingungen einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft zu wahren, kann die These formuliert werden, dass die luhmannsche Kommunikationstheorie und speziell die Re-entry-Figur es erlauben, die Kommunikation der Offenbarung und die unverfügbare Gegenwart Gottes nachvollziehbar zu machen. Dabei entfaltet (1) die intra-systemische Dimension der Immanenz den Gottesbegriff als Kontingenzformel des sozialen Systems Religion; (2) die inter-systemische Dimension erklärt Offenbarung als kommunikatives Geschehen zwischen den Teilsystemen Gott und Mensch und deren Eintritt in das System Religion; (3) die intra-systemische Dimension der Transzendenz versteht Gott als in sich kommunikativ verfasste Entität, als Quasi-System, das selbst aus und in Kommunikation besteht. Selbstgebung kann ausgehend davon system- und differenztheoretisch definiert werden als die Selbstimplikation Gottes in der Immanenz, d. h. die Wiederholung der Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz in der Immanenz. Daraus ergibt sich die innergöttliche Entsprechung von Selbsthabe und Selbstgabe (von Selbstreflexion und Selbstimplikation), denn Gott kann die Unterscheidung Transzendenz – Immanenz nur in der Immanenz wiederholen, wenn sie seiner eigenen Differenz- und Einheitsstruktur entspricht. Die Selbstgebung ist zu verstehen als korrelatives Geschehen in Verbindung mit dem menschlichen Empfangen, da es sich um ein dialogisch-kommunikatives Prinzip handelt. Der freien göttlichen Entscheidung und Aktivität entspricht die sich dieser Aktivität verThomas: »Kommunikation des Evangeliums«, S. 31. Vgl. Gisbert Greshake: »Der Ursprung der Kommunikationsidee«, in: Communicatio Socialis 35/1 (2002), S. 5–26, hier S. 11.

79 80

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dankende empfängliche Passivität des Menschen in der Kongruenz zwischen göttlicher Gebung und menschlichem Empfangen. In ihrer Vollform ist Selbstgebung somit ein freiheitlich-personales Ursprungsgeschehen; sie ist vollzughaft-dynamisch und informativperformativ, da sie nur in ihrem Vollzug besteht und nie leer geschieht. Für eine wirkliche Reflexivität muss aber nicht nur die Identität des Gebers mit der Gabe und des Gebers mit dem Empfangenden vollzogen sein, sondern auch die des Gebers mit dem Vollzug des Gebens an sich. Die Zirkelstruktur der Selbstgebung lässt darum wie folgt formulieren: Der Geber selbst ist das Geben der sich selbst gegebenen Gabe seiner selbst, ist somit Selbstgebung in dreifachem Sinn. Nun ist an dieser Stelle noch die Frage zu klären, ob es sich bei den Offenbarungen in der christlich-jüdischen Tradition um graduelle Abstufungen der Selbstgebung handelt oder ob die Selbstgebung als Prinzip wesentlich nur in der beschriebenen Form verwirklicht ist. Der system- und kommunikationstheoretische Zugang liefert hier das nötige begriffliche Werkzeug, um Selbstgebung in der Gradualität der geschichtlichen Offenbarung denken zu können. Das nötige Unterscheidungskriterium für die graduellen Abstufungen ist der jeweilige Vermittlungsgrad, der letztendlich bestimmt, inwiefern die Vollform der Selbstgebung überhaupt realisiert ist. Die Vermittlung der Offenbarung kann verglichen werden mit sich stetig in ihrer Intensität verändernden Originaritätsstufen 81 im Sinne Husserls. Hier kann auch die scholastische Unterscheidung zwischen instrumentum separatum und instrumentum coniunctum ins Feld geführt werden: Gott kann sich in seiner Selbstgebung eines Vermittlungsmediums bedienen, mit dem er nicht identisch ist; die Vollform stellt aber die Identität dieser Selbstgebung mit der gewählten Vermittlungsform dar. Die Vollzughaftigkeit der Selbstgebung bewahrt den Unterschied zwischen dem Offenbarungsinhalt und einem wirklichen Hineingenommenwerden in die Offenbarung als etwas, das sich uns ereignet. Wenn man Selbstgebung strikt denkt, dann kann sie sachlogisch nur so erfolgen, dass das Gegenüber der Offenbarung in den Selbstvollzug hineingenommen wird; denn sonst hätte sich das Selbstgebende gar nicht in Gänze gegeben. Daraus ergibt sich eine Vgl. David Espinet/Frank Steffen: Art. »Originarität«, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.): Husserl-Lexikon, Darmstadt 2009, S. 220–223, hier S. 222.

81

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komplementäre Verhältnisbestimmung zwischen einem relationsund substanzontologischen Verständnis. Das Selbst ist nur, wenn es sich permanent vollzieht, und ein Vollzug ohne etwas, das sich vollzieht, ist nicht denkbar. Weil Selbstgebung Substanz im Vollzug ist, darf der substanzontologische Ansatz somit nicht gegen einen relationsontologischen Ansatz ausgespielt werden.

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II. Religiöse Erscheinungsbereiche des Phänomens der Selbstgebung

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Riku Yokoyama (Hitotsubashi-Universität Tokyo/ JSPS Research Fellow)

Offenbarung und Glückseligkeit bei Max Scheler 1

1.

Einleitung

Max Scheler, der heute als Begründer der philosophischen Anthropologie bekannt ist, wandte Husserls Phänomenologie erstmals auf die Ethik an. In Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/16) und Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass (1913) analysiert er phänomenologisch das emotionale, werthafte Leben des Menschen, auf das Kants formalistische Ethik nicht eingeht, und setzt den Begriff der Liebe ins Zentrum der Ethik. Während seine Ethik von Dietrich von Hildebrand, dem Kirchenlehrer des 20. Jahrhunderts, aus der katholisch-philosophischen Richtung weiterentwickelt wurde, konzipierte Scheler in der Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionsphilosophie ebenfalls eine Religionsphänomenologie. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts entzog der in der Bibel dokumentierten Offenbarung deren Begründungskraft, sodass das Christentum einer Rechtfertigung bedurfte. Eine mögliche Rechtfertigung war die Natürliche Theologie, die die Religion auf die menschliche allgemeine Vernunft zu begründen und sie rational und ethisch zu verstehen versuchte. In Über Religion (1799) sah Schleiermacher hingegen den Grund der Religion im individuellen inneren Erlebnis der Anschauung und des Gefühls. Während die Natürliche Theologie schon am Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung verlor, bildete Schleiermachers Ansatz ein modernes Verständnis der Religion als subjektives Erlebnis gegenüber dem traditionellen Verständnis der Religion als Glauben an die objektive Offenbarung in der Bibel. 2 Für Scheler, This work was supported by JSPS KAKENHI Grant Nummer 16J04646, Hitotsubashi International Fellow Program Outband Grant, and ETH Zurich Young Researchers Exchange Programme between Japan and Switzerland 2016. 2 Vgl. Kurt Novack: Schleiermacher und die Frühromantik, Göttingen 1986, S. 224; 1

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der zur Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert lebte, birgt Schleiermachers Ansatz aber die Gefahr eines Subjektivismus, der die Religion auf einen bloßen psychischen Zustand des Subjekts zurückführt. Eine solche reduktionistische Tendenz findet sich auch in der damals von Edwin Diller Starback, William James und Siegmund Freud etablierten Religionspsychologie. Eine andere und in dieser Zeit vorherrschende Form des Subjektivismus ist die Lebensphilosophie bei Simmel, nach der die Religion eine bloße Äußerung des Lebens ist. Schelers Religionsphänomenologie versucht dagegen zu zeigen, dass gerade im Erlebnis des Subjekts eine objektive Offenbarung, d. h. eine Selbstgebung des Göttlichen vorliegt. Schleiermacher gründet die Religion auf das innere Erlebnis der Anschauung und des Gefühls und grenzt sie damit von Metaphysik und Moral strikt ab. Die davon ausgehende Modernisierung der Religion stellt daher nichts anderes als eine Individualisierung der Religion dar, die mit der Säkularisierung einhergeht. Der vorliegende Aufsatz zielt darauf ab, Schelers Religionsphänomenologie nicht als Reaktion von traditioneller Seite auf dieses moderne Verständnis von Religion zu verstehen, sondern als Versuch einer Neuinterpretation von Religion, d. h. zu zeigen, dass Scheler nicht nur die Möglichkeit der Offenbarung im Erlebnis untersucht, sondern dass er damit eine Versöhnung der Religion mit der Metaphysik und Moral im Erlebnis anstrebt. Im Folgenden soll zuerst Schelers phänomenologische Analyse des religiösen Erlebnisses und der in ihm geschehenden Offenbarung des Göttlichen betrachtet werden (1). Seine Religionsphänomenologie soll dann mit seiner Ethik verbunden werden, in der er eine Rangordnung der Werte konzipiert und an oberster Stelle den Wert des Göttlichen als des Heiligen verortet. Dazu muss zunächst seine Theorie des Wertgefühls allgemein dargestellt werden (2). Darauf aufbauend soll schließlich seine Theorie der Werthierarchie betrachtet werden, um aufzuzeigen, dass die Glückseligkeit als Wertgefühl des Heiligen ein metaphysisches Gefühl darstellt, in dem die Welt des Ganzen als »bejaht« erschlossen ist, womit dieses Gefühl deshalb auch ein moralisches Gefühl darstellt, in dem jedes Glück als Vollzug jeder Wertintention zwar nicht normativ, aber ideal »bejaht«, d. h. anerkannt wird (3). Hidetaka Fukasawa: »The Discourse on Religious Experience and the Decontextualization: On Friedrich Schleiermacher’s Über die Religion«, in: Hitotsubahi Bulletin of Social Sciences 7 (2015), S. 97–124, hier S. 103.

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Offenbarung und Glückseligkeit bei Max Scheler

2.

Das religiöse Erlebnis und die Offenbarung des Göttlichen

In Über Religion (1799) hebt Schleiermacher das Wesen der Religion, es von Metaphysik und Moral strikt abgrenzend, als innere »unmittelbare Erfahrungen« der Anschauung und des Gefühls hervor: »Sie [d. h. Religion] begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkühr des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum.« 3 »Anschauung ist und bleibt immer etwas einzelnes, abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen, ist schon wieder nicht das Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens. So die Religion; bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen.« 4

In Der christliche Glaube (1821/22) legt Schleiermacher die Anschauung des Universums ferner als »schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl« aus. 5 Scheler stimmt Schleiermacher darin zu, die Selbstständigkeit der Religion gegenüber der Moral und der Wissenschaft bzw. Philosophie im Erlebnis zu untersuchen, er kritisiert jedoch sein Verständnis vom Erlebnis, nach dem man das Universum unmittelbar anschauen, aber sich auf das Göttliche nur sekundär kausal – weder intentional noch kognitiv – beziehen kann. 6 Schleiermacher behauptet überdies, dass Gott »nicht die Angel und Hauptstücke der Religion sei[en]« und »der Glaube, ›kein Gott, keine Religion‹ gar nicht statt finden kann«: 7 »Gott ist nicht Alles in der Religion sondern Eins, und das Universum ist mehr.« 8 Scheler kriti3 Friedrich D. E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (= Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe I. Abt. Bd. 2), Berlin/New York 1984, S. 211. 4 Schleiermacher: Über die Religion, S. 215. 5 Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (= Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe I. Abt. Bd. 13,1), Berlin/New York 2003, S. 19–40. 6 Max Scheler: »Problem der Religion. Zur religiösen Erneuerung«, in: Max Scheler: Vom Ewigen im Menschen (= Max Scheler Gesammelte Werke 5), Bern 1954, S. 279– 280. 7 Schleiermacher: Über die Religion, S. 243. 8 Schleiermacher: Über die Religion, S. 247.

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siert ferner, dass Schleiermacher – und auch Rudolf Ottos Religionsphänomenologie – das Gefühl nur als psychischen Zustand auffasst und es völlig der Vernunft gegenüberstellt, sodass das religiöse Erlebnis als irrational betrachtet wird. Das Gefühl hat nach Scheler aber nicht nur den Aspekt des Zustandes, sondern auch den Aspekt des intentionalen Akts, der sich kognitiv bzw. evaluativ – im Fall des religiösen Erlebnisses – auf einen heiligen Gegenstand beziehen kann. 9 Somit ist das religiöse Erlebnis emotional, aber nicht irrational, sondern intentional und insofern auch kognitiv bzw. evaluativ. Die intentionale Beziehung zum heiligen Gegenstand selbst ist aber nach Scheler noch nicht die Offenbarung des Göttlichen, die eher den Prozess zu der Erkenntnis darstellt, dass das Heilige der »Geist« sein muss. 10 Diesen Prozess beschreibt Scheler phänomenologisch als ein Drama im menschlichen Inneren: »Es ist wie ein unerhörtes geheimnisvolles Drama in den tiefsten Tiefen der Seele, dadurch sich die religiöse Erkenntnis auswirkt, daß das heilige Ens a se geistiger Natur, ›Geist‹ sein müsse. Der Mensch muß klar und lebendig – bis in jede Wahrnehmung, in jedes Fühlen der Welt hinein, in jede Aktion an der Welt oder an irgendeinem ihrer Gegenstände – seine, seines Ichs und seines Bewußtseins vollendete Gleichgültigkeit für das Dasein der Welt und seine ganze Geistesohnmacht gegenüber ihrer Fülle – ja gegenüber jedem Element ihrer Fülle – gewahren. […] Aber mit diesem Bewußtsein der ›vollendeten Gleichgültigkeit‹ seines und seinesgleichen ›Denkens‹ für Bestand und Artung der Dinge muß doch innigst verknüpft sein die unmittelbare Schau des Wesensbezugs jedes möglichen Gegenstandseins und Daseins überhaupt auf eine Sache vom Wesen des Geistes überhaupt. Mag sich ›dieser‹ und ›jener‹ Akt nur zufällig mit ›diesem‹ oder ›jenem‹ Gegenstande begegnen: das Band zwischen dem Wesen des intentionalen Akts und dem Wesen des daseienden Gegenstandes (resp. Widerstandes, Wertes) ist ein ewiges unzerreißbares Wesensband. […] diese ewige Würde und Erhabenheit des Geistes lebendig zu empfinden und sie lebendig zu empfinden in und mit der unsagbaren Gebrechlichkeit, Hinfälligkeit, Labilität des menschlichen daseienden Geistes als des uns allein bekannten unmittelbar gegebenen Beispiels einer Sache vom Wesen des Geistes überhaupt: das ist der zweite Akt jenes geheimnisvollen Dramas, in dem sich die religiöse Erkenntnis Gottes als Geist vollzieht. Der dritte und letzte ist der Akt der Beilegung des Wesensattributes ›Geist‹ an das uns vorher schon gewisse heilige Ens a se und das Erlebnis des Hereinleuchtens (Offenbarwerdens) der unendlichen Vernunft in alle rechte Aktbetätigung der endlichen Vernunft, resp. der Ideen und Werte samt ihrer Ord9 10

Scheler: »Problem der Religion«, S. 282–283. Scheler: »Problem der Religion«, S. 181.

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nung, die als Korrelate vor dem Akt der unendlichen Vernunft stehen, in die Gegenstände der Welt und ihr Bedeuten.« 11

Phänomenologisch ist nicht nur das religiöse, sondern jedes geistige Erlebnis die intentionale Korrelation zwischen dem intendierenden Akt des menschlichen Geistes (Noesis) und dem intendierten Gegenstand (Noema). Der Gegenstand, der vom menschlichen Geist unabhängig ist, insofern er auf ihn nicht reduziert werden kann, ist nach Scheler zugleich vom göttlichen Geist abhängig, insofern sein Sein in ihm fundiert ist. 12 Der religiöse Akt des menschlichen Geistes bezieht sich deshalb nicht nur intentional auf den Gegenstand, sondern auch auf die diese intentionale Beziehung schöpferisch fundierende MetaBeziehung zwischen dem göttlichen Geist und dem Sein dieses Gegenstandes d. h. zugleich dem Sein des Gegenstandes überhaupt, weil der göttliche Geist nicht nur das Sein dieses oder jenes, sondern des Gegenstandes überhaupt fundiert. Scheler formuliert es als »die unmittelbare Schau des Wesensbezugs jedes möglichen Gegenstandseins und Daseins überhaupt auf eine Sache vom Wesen des Geistes überhaupt«. Diese Anschauung setzt aber voraus, dass der menschliche Geist, vor allem in der intentionalen Beziehung zum heiligen Gegenstand, »seine, seines Ichs und seines Bewußtseins vollendete Gleichgültigkeit für das Dasein der Welt und seine ganze Geistesohnmacht gegenüber ihrer Fülle« gewahren muss. Erst durch diese Demut und Ehrfurcht 13 wird dem menschlichen Geist der schöpferische Geist des Göttlichen offenbart. Diese Dynamik der Offenbarung kann man folgendermaßen charakterisieren: (1) Die Intention des religiösen Akts des menschlichen Geistes transzendiert die Welt überhaupt als das Ganze einschließlich des menschlichen Geistes und richtet sich auf den sie schöpferisch fundierenden Geist des Göttlichen. 14 (2) Insofern kann diese Intention nur durch das Göttliche erfüllt werden, und nicht durch endliche Güter, sodass das religiöse Erlebnis nicht auf ein anderes Begehren oder Bedürfnis des Menschen zurückgeht. 15 (3) Die Erfüllung der Intention setzt deshalb eine Antwort als Offenbarung des Göttlichen voraus 16 und der menschliche 11 12 13 14 15 16

Scheler: »Problem der Religion«, S. 183–185. Scheler: »Problem der Religion«, S. 181. Scheler: »Problem der Religion«, S. 183. Scheler: »Problem der Religion«, S. 245. Scheler: »Problem der Religion«, S. 245. Scheler: »Problem der Religion«, S. 248.

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Geist kann dazu nur die Ohnmacht und Gleichgültigkeit seines Ichs und Bewusstseins gewahren und sich herabsetzen. Damit wird deutlich, dass die phänomenologische Methode der Epoché, die nach Husserl eigentlich die Setzung der Realität der Welt überhaupt zurückhaltend »einklammert« und alles Seiende auf das Phänomen im Bewusstsein reduziert, für Scheler eher eine »Einklammerung« des unbedeutenden Ichs und Bewusstseins des menschlichen Geistes bedeutet, 17 um den die Welt schöpferisch fundierenden Geist des Göttlichen selbst sich offenbaren zu lassen. Die Phänomenologie wird bei Scheler zur Ethik als Tugendlehre von Demut und Ehrfurcht. 18

3.

Das emotionale Erlebnis als Wertgefühl

Insofern für Scheler die Offenbarung des Göttlichen darin besteht, zu erkennen, dass das Heilige der schöpferische Geist ist, muss das Göttliche personal sein. Schelers Religionsphänomenologie dreht sich damit um das Christentum, obwohl er anderenorts auch das nichtchristliche, nicht-personale Göttliche und dessen Offenbarung als »natürliche Offenbarung« phänomenologisch betrachtet. In diesem Punkt nähert sich seine Religionsphänomenologie Ernst Troeltschs Theologie an, die die Wahrheit der anderen Religionen historisch einräumt, aber doch die relative Absolutheit des Christentums vertritt. 19 Auch Schelers letzte Kritik an Schleiermacher liegt darin, dass bei diesem das Erlebnis des »Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit« nicht »einen personalen Gott als notwendiges Korrelat« hat. 20 Abgesehen davon, ob man einen solchen relativen Absolutismus des Christentums heute noch religionswissenschaftlich geltend machen kann, soll hier eher betrachtet werden, wie Scheler im Zusammenhang mit der Offenbarung eine Versöhnung der Religion mit Metaphysik und Moral sucht. Es geht dabei um den Aspekt der Erlösung in

17 Vgl. Max Scheler: »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, in: Max Scheler: Späte Schriften (= Max Scheler Gesammelte Werke 9), Bern 1976, S. 7–72, hier S. 42–43. 18 Vgl. dazu auch Max Scheler: »Zur Rehabilitierung der Tugend«, in: Max Scheler: Vom Umsturz der Werte (= Max Scheler Gesammelte Werke 3), Bern 1955, S. 13–32. 19 Vgl. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen 1912, S. 149–150. 20 Scheler: »Problem der Religion«, S. 285.

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Offenbarung und Glückseligkeit bei Max Scheler

der Offenbarung, den Scheler in seiner Ethik in Beziehung zum Heiligen ausführlich analysiert. In Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/16) konzipiert Scheler eine Rangordnung der Werte und verortet an oberster Stelle den Wert des Göttlichen als des Heiligen. Um aber seine Theorie der Werthierarchie und den Wert des Heiligen zu verstehen, soll in diesem Abschnitt zunächst seine Theorie des Wertgefühls erklärt werden. Nach Kant erfolgt die Erkenntnis erst in Urteilen, in denen die aus der Sinnlichkeit stammenden Anschauungen mit den Begriffen der Vernunft synthetisch verbunden werden. Unter diesem erkenntnistheoretischen Schema untersucht Schleiermacher das Wesen der Religion in »unmittelbaren Erfahrungen« der Anschauung und des Gefühls in Gegenüberstellung zur Vernunft, sodass er diese Erfahrungen nicht adäquat zur Erkenntnis bringen kann. Denn Kant formuliert: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe [der Vernunft] sind blind«. 21 Phänomenologisch erfolgt die Erkenntnis jedoch bereits in der Anschauung als Wahrnehmung. Die Wahrnehmung ist nach Scheler nicht derjenige Prozess, in dem sensuelle, elementare Eindrücke oder Empfindungen als Stoffe zur Erkenntnis gegeben werden, die erst mit den Begriffen der Vernunft verbunden und als sinnvolle Einheit konstruiert werden können. Scheler lehnt einen solchen sensualistisch-elementaristischen Ansatz ab, den er Kants Erkenntnistheorie zuschreibt. Gegeben ist nach Scheler eher ein sinnvolles Ganzes, das nicht von der Vernunft des Subjekts begrifflich konstruiert, sondern im Objekt unmittelbar wahrgenommen wird. Parallel zu dieser Wahrnehmung sieht Scheler das Gefühl als Wertgefühl, und zwar als »Wertnehmung« 22 an. Dabei kann man denken, dass die Wahrnehmung die kognitive Basis des Gefühls als »Wertnehmung« bildet: Nur weil man z. B. die Fänge des Hundes wahrnimmt, kann man sich vor ihm emotional fürchten und ihn auch evaluativ als gefährlich auffassen. 23 Die Besonderheit der Position Schelers besteht hingegen im Versuch, eher die emotionale »Wertnehmung« als Fundament der Wahrnehmung zu erklären. Scheler bezeichnet »die Werte als Urphänomene zur GegebenKant Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (= Philosophische Bibliothek 37a), Hamburg 1965, S. 95 (A51/B75). 22 Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (= Max Scheler Gesammelte Werke 2), Bern/München 1980, S. 206. 23 Vgl. Sabine A. Döring: »Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute«, in: Sabine A. Döring (Hrsg.): Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 2009, S. 433. 21

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heit«: 24 Denn alltäglich nehmen wir den Gegenstand nicht nur kognitiv als sinnvolles Ganzes, sondern auch schon evaluativ als wertvolles Gut wahr. Nach Scheler ist jedes Gut zuerst in dessen besonderer »Wertnuance« affektiv gegeben, die »zur Struktur des Gutes als eines Ganzen« gehört: 25 Wenn man z. B. ein Kunstwerk genießt, ist einem schon sein sinnvolles Ganzes in seiner schönen Wertnuance affektiv vorgegeben, bevor man das Kunstwerk deutlich und detailliert erfasst: Die »Wertnuance eines Gegenstandes [ist] das Primärste, was uns von ihm zugeht« und »sein Wert bringt ihn gleichsam voran; er ist der erste ›Bote‹ seiner besonderen Natur. Wo er [d. h. der Gegenstand] selbst noch undeutlich und unklar ist, kann jener deutlich und klar sein.« 26 Die Werte sind das »›Medium‹, in dem er [d. h. der Gegenstand] erst seinen Bildinhalt oder seine (begriffliche) Bedeutung voll entwickelt.« 27 Das sinnvolle Ganze des Gegenstandes ist laut Scheler also in der Wertnuance vorgegeben, was dann ermöglicht, jeden Teil dieses Gegenstandes ausführlich wahrzunehmen oder ihn nicht als wertvolles Gut, sondern als wertneutrales Ding wahrzunehmen. Damit kann man die Werte bei Scheler als Perspektive zur Wahrnehmung interpretieren, wobei es beachtenswert ist, dass diese Perspektive nicht zur Seite des Subjekts, sondern zur Seite des Gegenstandes selbst gehört. Das Gefühl als »Wertnehmung« bedeutet deshalb, dem Gegenstand eine Perspektive zu dessen Wahrnehmung zu entnehmen. Die Werte bilden aber nicht nur die Perspektive zur Wahrnehmung und Erkenntnis, sondern sie können auch zur Handlung motivieren. »Erlebt wirksam oder motivierend aber sind auch die Werte als Werte, die Güter als Güter – nicht also bloß die Dinge. Sie ›ziehen an‹ und ›stoßen ab‹.« 28 Eine schöne Landschaft lässt uns z. B. stehen bleiben, oder schönes Wetter verleitet uns, nach draußen zu gehen. Die Werte haben also für Scheler einen Aufforderungscharakter. Das ursprüngliche Bedürfnis, das vom Wert motiviert wird, nennt er das »Streben«, das sich unmittelbar auf ein Ziel wie »stehen bleiben« oder »nach draußen gehen« richtet. 29 Wenn das Ziel aber als Zweck Scheler: Der Formalismus, S. 256; vgl. dazu auch Guido Cusinato: Person und Selbsttranszendenz, Würzburg 2012, S. 137–142. 25 Scheler: Der Formalismus, S. 42. 26 Scheler: Der Formalismus, S. 40. 27 Scheler: Der Formalismus, S. 40. 28 Scheler: Der Formalismus, S. 253. 29 Vgl. Scheler: Der Formalismus, S. 55–56. 24

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Offenbarung und Glückseligkeit bei Max Scheler

bewusst vorgestellt und gesetzt wird und sich damit dem »Ich« gegenüberstellt, wird das Bedürfnis zum »Wollen«. 30 Die schöne Landschaft kann z. B. nicht nur das Streben, stehen zu bleiben, sondern auch das Wollen motivieren, eine solch schöne Landschaft zu erhalten oder auch an einem anderen Ort nachzubilden. Dabei ist uns der Wert des Schönen als etwas zu Realisierendes, und zwar in der Form des so »Seinsollens« gegeben. 31 Von diesem »Seinsollen« wird dann sekundär eine den Wert realisierende, konkrete Handlung gewollt und andere, konkurrierende Wollen und Streben werden ausgeschlossen. 32 Damit kommt das Wollen in der Form des »Tunsollens« zum Bewusstsein. Scheler bezeichnet das erstere Sollen als »ideales Sollen« und das letztere als »Pflichtsollen«. 33 Um die gewollte Handlung zu realisieren, werden ferner mögliche Widerstände berücksichtigt und die »Absicht« und der »Vorsatz« zur Handlung ausgemacht. Erst darauf aufbauend fällt die Entscheidung zur Handlung. 34 Nun wird es deutlich, dass man im Gefühl als »Wertnehmung« dem Gegenstand dessen Wert als Perspektive zur Wahrnehmung und Erkenntnis entnimmt und damit zugleich zur den Wert realisierenden Handlung motiviert wird. Im Zusammenhang mit dieser Motivierung entsteht nicht nur das Wollen sondern auch das »Sollen«. Dem wertrealisierenden Wollen und der wollenden Person spricht Scheler weiterhin das »Gute« zu. 35 Damit verbindet Scheler die Werte mit der Normativität (»sollen« oder »gut«). Allerdings ist dies nicht die moralische, sondern die prudentielle Normativität zum Glück, um eine Wertintention zu realisieren und dadurch ein gelingendes Leben, sei es auf der individuellen, sei es auf der kollektiven Ebene, zu führen. Im Hinblick auf das Glück soll dann im nächsten Abschnitt Schelers Theorie der Werthierarchie betrachtet werden, in der er den Begriff des Heiligen und das Erlebnis der Erlösung behandelt.

30 31 32 33 34 35

Scheler: Der Formalismus, S. 60, S. 139. Scheler: Der Formalismus, S. 53–54. Scheler: Der Formalismus, S. 141. Scheler: Der Formalismus, S. 194. Scheler: Der Formalismus, S. 157–159. Scheler: Der Formalismus, S. 47.

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Riku Yokoyama

4.

Glückseligkeit und das Heilige

Es gibt verschiedene Werte, die Scheler in vier »Wertmodalitäten« klassifiziert: So ist von der leibrelativen Modalität des sinnlich Angenehmen und Unangenehmen, zur der auch die technischen Werte des Nützlichen und Schädlichen gehören, die auf den Lebensvollzug als solchen bezogene vitale Modalität des Edlen und Gemeinen, des Tüchtigen und Schlechten, zu unterscheiden. Von diesen beiden Modalitäten unterscheidet Scheler weiter die vom Lebensvollzug losgelöste, rein geistige Modalität des Wahren, des Schönen und des Rechten. Von dieser geistigen Modalität unterscheidet Scheler noch einmal die religiöse Modalität des Heiligen. 36 Da das Fühlen eines Werts bedeutet, eine Perspektive zur Wahrnehmung und Erkenntnis einzunehmen und zur Handlung der Realisierung des Werts motiviert zu werden, führt das Fühlen der verschiedene Werte zu verschiedenen Werterlebnissen: Das Fühlen des schönen Werts des Kunstwerks bringt uns zum ästhetischen Erlebnis, während das Fühlen des heiligen Werts desselben Kunstwerks uns zum religiösen Erlebnis leitet. Die Verschiedenheit der Werte stellt in diesem Sinn das Erlebnisspektrum des Menschen dar. Beachtenswert ist dabei, dass Scheler dieses Spektrum vertikal als Werthierarchie konzipiert: Ihm zufolge gibt es eine apriorische Rangordnung der Werte, die der leibvital-geistigen Verfassung des Menschen entspricht. Die unterste Ebene der Rangordnung ist die leibrelative Wertmodalität des sinnlichen Angenehmen und Unangenehmen, darüber steht die auf den Lebensvollzug bezogene vitale Wertmodalität, dann die vom Lebensvollzug losgelöste, rein geistige Wertmodalität, und schließlich als oberste Ebene die religiöse Wertmodalität des Heiligen. 37 Mit diesem anthropologischen Konzept der Werthierarchie versucht Scheler gegen Utilitarismus und Lebensphilosophie, die alle Werte auf die leib-sinnliche oder vitale Modalität reduzieren, die Selbstständigkeit der geistigen Wertmodalität zu rechtfertigen. Worin liegt aber dann der Unterschied zwischen der geistigen und der religiösen Modalität? 38 Es geht dabei um das Glückliche. Das Gefühl

Scheler: Der Formalismus, S. 122–126. Scheler: Der Formalismus, S. 104–117; vgl. dazu auch Manfred S. Frings: »Der Ordo Amoris bei Max Scheler«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 20 (1966), S. 57–76, hier S. 61–62. 38 Vgl. Michael Gabel: »Das Heilige in Schelers Systematik der Wertrangordnung«, 36 37

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Offenbarung und Glückseligkeit bei Max Scheler

als »Wertnehmung« führt zum Werterlebnis, in dem unsere Wertintention erfüllt wird und wir dadurch eine Befriedigung erlangen. Die Befriedigung durch das Werterlebnis stellt für Scheler das Glückliche dar, das aber der Utilitarismus einseitig mit der sinnlichen Lust gleichsetzt. Dieser hedonistischen Ansicht entgegen zeigt Scheler Unterschiede in der Tiefe der Befriedigung und damit verschiedene Arten des Glücklichen auf. Die Befriedigung z. B. als Wohlgefühl durch das vitale Werterlebnis ist tiefer als die Befriedigung von Lust durch das leib-sinnliche Werterlebnis, während die Befriedigung als Glücksgefühl durch das geistige Werterlebnis noch tiefer ist. Am tiefsten ist aber die Glückseligkeit durch das heilige Werterlebnis. 39 Das Heilige ist nach Scheler ein Wert, wie ihn z. B. ein sakrales Objekt hat. Dieser Wert ist der »Bote«, aber nicht nur in dem Sinne, dass in der Wertnuance des Heiligen z. B. das Ganze des sakralen Objekts vorgegeben ist, sondern auch in dem Sinne, dass in dieser Wertnuance über das sakrale Objekt hinaus auch das Ganze des Selbstseins und der Welt als bejaht fühlend gegeben ist. Das ein solches Werterlebnis leitende Gefühl ist nach Scheler die Glückseligkeit: »Wir können nicht im selben Sinne ›über etwas‹ verzweifelt und ›über etwas‹ selig sein wie über etwas froh und unfroh, glücklich und unglücklich usw. […] [Die Glückseligkeit und Verzweiflung] erfüllen gleichsam vom Kern der Person her das Ganze unser Existenz und unserer ›Welt‹. […] Wie in der Verzweiflung ein emotionales ›Nein!‹ im Kern unserer Personexistenz und unserer Welt steckt – ohne daß die ›Person‹ dabei auch nur Reflexionsobjekt ist –, so in der ›Seligkeit‹ – der tiefsten Schicht des Glückgefühls – ein emotionales ›Ja!‹. Es ist der sittliche Wert des Personseins selbst, dessen Korrelate sie zu bilden scheinen. Darum sind sie auch die metaphysischen und religiösen Selbstgefühle katexochen. […] es sind eben Sein und Selbstwert der Person selbst, welche das ›Fundament‹ von Seligkeit und Verzweiflung bilden.« 40

Über den einzelnen Gegenstand hinausgehend erfüllt das Wertgefühl der Verzweiflung und Glückseligkeit »das Ganze unser Existenz und unser Welt«, allerdings geschieht die Erfüllung »vom Kern der Person her«. Das ist die Fortsetzung der im ersten Abschnitt betrachteten Offenbarung: Im religiösen Erlebnis transzendiert der menschliche Geist das Ganze seiner Existenz und Welt und richtet sich meta-in-

in: Gerhard Pfafferott (Hrsg.): Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, S. 111–128, hier S. 120–121. 39 Scheler: Der Formalismus, S. 107, S. 334. 40 Max Scheler: Der Formalismus, S. 344–345.

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tentional auf den sie schöpferisch fundierenden Geist des Göttlichen. Indem der menschliche Geist dann mit seiner Demut und Ehrfurcht diesen schöpferischen, personalen Geist in sich als Person aufnimmt, erfüllt die Glückseligkeit »gleichsam vom Kern der Person her das Ganze unserer Existenz und unserer ›Welt‹.« Unsere Existenz und Welt werden zwar zunächst transzendiert, sodann aber wieder mit einem ›Ja!‹ erschlossen. Wenn hingegen die Aufnahme des göttlichen Geistes scheitert, werden unsere Existenz und Welt wiederum mit einem ›Nein!‹ in der Verzweiflung erschlossen. Das religiöse Erlebnis der Glückseligkeit ist deshalb ein metaphysisches Erlebnis, in dem das Ganze der Welt und des Selbstseins als bejaht erschlossen ist. In der Glückseligkeit ist die Welt aber, anders als in der Stimmung der Angst bei Heidegger, nicht als »unheimlich« erschlossen 41 und man muss, anders als bei Nietzsche, zu seiner Existenz und seinem Leben nicht selbst »Ja« sagen. 42 Denn in der Glückseligkeit ist einem seine Welt und seine Existenz als vertraut und schon bejaht erschlossen. Das Moment des »Ja« in der Glückseligkeit bedeutet eine Erlösung, die unserem Selbstsein und unser Welt Sinn und Wert verleiht: »[E]s sind eben Sein und Selbstwert der Person selbst, welche das ›Fundament‹ von Seligkeit und Verzweiflung bilden«. Durch diesen sinn- und wertgebenden Erlösungscharakter zeichnet sich die Glückseligkeit gegenüber anderen Formen des Glücklichen aus. Beispielsweise können das sinnliche Glück als Lust oder das vitale Glück als Wohlbefinden keinen Sinn und Wert des Selbstseins und der Welt geben. 43 Scheler versteht die Glückseligkeit als Hintergrundgefühl, wobei wir im Vordergrund verschiedene andere Gefühle haben können. Vordergründig ist man bei einer Taufe erfreut über die Geburt seines Kindes oder bei einer Beerdigung traurig über den Tod eines geliebten Menschen, aber im Hintergrund ist man auch erfüllt von einer Glückseligkeit, in der man sein Leben und die Welt trotz allem als bejaht und damit als sinn- und wertvoll fühlt. 44 Die Bejahung des Ganzen »unser Existenz und unserer ›Welt‹« Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2006, S. 188–189. Vgl. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (= Kritische Studienausgabe 4), München 1999, S. 31, Friedrich Nietzsche: Ecce Homo (= Kritische Studienausgabe 6), München 1999, S. 335. 43 Vgl. Susan Wolf: »Glück und Sinn: Zwei Aspekte des guten Lebens«, in: Holmer Steinfath (Hrsg.): Was ist ein gutes Leben?, Frankfurt a. M. 1998, S. 167–195, hier S. 174–175. 44 Vgl. Scheler: Der Formalismus, S. 334, Anm. 1. 41 42

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Offenbarung und Glückseligkeit bei Max Scheler

in der Glückseligkeit stellt aber zugleich auch die Bejahung des Sinnes und Werts der anderen dar, da hier das Ganze bejaht wird, sodass hier jede Wertintention und jedes Werterlebnis und das dadurch realisierte, glückliche Leben der anderen nicht normativ, aber ideal bejaht, d. h. anerkannt ist. Damit ist die Glückseligkeit nicht nur ein religiös-metaphysisches Gefühl, sondern auch ein moralisches Gefühl im Sinne der Bejahung und Anerkennung des Werts und Glücks der anderen.

5.

Schluss

Auf Schleiermachers Ansatz, der das Wesen der Religion von Metaphysik und Moral strikt abgrenzt, indem er es als inneres Erlebnis der Anschauung und Gefühl des Universums hervorhebt, basiert das moderne Verständnis der Religion als subjektives Erlebnis gegenüber dem traditionellen Verständnis der Religion als Glauben an die objektive Offenbarung in der Bibel. Schelers Religionsphänomenologie beschäftigt sich hingegen damit, den dynamischen Prozess der Offenbarung, d. h. der Selbstgebung des Göttlichen im Erlebnis des Subjekts phänomenologisch zu verdeutlichen. Scheler zufolge besteht die Offenbarung in einem Prozess der Erkenntnis, dass das Göttliche der schöpferische, personale Geist ist. In diesem Sinne hat der vorliegende Aufsatz gezeigt, dass Scheler die Phänomenologie als Tugendlehre der Demut und Ehrfurcht versteht: Während Husserl unter der phänomenologischen Methode der Epoché eine zurückhaltende »Einklammerung« der Setzung der Realität der Welt überhaupt versteht und damit Epoché als eine Reduktion des auf der Welt Seienden auf das Phänomen im Bewusstsein, versteht Scheler darunter eher eine zurückhaltende »Einklammerung« des unbedeutenden Ichs und Bewusstseins, die den die Welt schöpferisch fundierenden Geist des Göttlichen vor uns offenbar werden lässt. Der vorliegende Aufsatz hat ferner Schelers Religionsphänomenologie mit seiner Ethik vom Wertgefühl verbunden und damit den Aspekt der Erlösung in der Offenbarung verdeutlicht. Scheler zufolge ist der Wert ein »Bote«, der als »Wertnuance« des Gegenstandes dessen Ganzes im Wertfühlen zur Gegebenheit bringt. In der heiligen »Wertnuance« ist aber über den einzelnen Gegenstand hinaus das Ganze »unser Existenz und unser Welt« als bejaht emotional erschlossen. Dieses Wertgefühl ist Glückseligkeit, die nach der Offen149 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Riku Yokoyama

barung des Göttlichen als schöpferischer, personaler Geist vom Kern der menschlichen Person her das Ganze unser Existenz und unser Welt als bejaht erschließend erfüllt. Die Glückseligkeit ist deshalb ein Gefühl der Erlösung, deren Bejahung uns den Sinn und Wert unserer Existenz und unser Welt verleiht und zugleich auch den Sinn und Wert der anderen anerkennt, da hier das Ganze bejaht wird. Damit ist die Glückseligkeit ein religiöses Gefühl im Sinne der Erlösung, aber auch ein metaphysisches Gefühl im Sinne der Erschließung des Ganzen unserer Existenz und unserer Welt und ferner ein moralisches Gefühl im Sinne der Anerkennung des Sinnes und Werts der anderen. Die Glückseligkeit ist darum die tiefste Form des Glücklichen. Daraus geht also hervor, dass Scheler gerade im religiösen Erlebnis nicht nur phänomenologisch eine Möglichkeit der Offenbarung des Göttlichen findet, sondern im Erlebnis der Glückseligkeit als Erlösungsgefühl der Offenbarung auch eine Versöhnung der Religion mit Metaphysik und Moral entdeckt.

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Sarah Eichner (Eichstätt)

Die Idee der Hierophanie bei Mircea Eliade

1.

Einleitung: Die Integralität von Eliades Werk

Wer sich mit dem Werk von Mircea Eliade (1907–1986) beschäftigt, wird sich relativ bald dessen bewusst, dass man dabei nicht nur mit dem umfangreichen Werk eines Religionswissenschaftlers, sondern insbesondere mit einem singulären Universum konfrontiert ist, in dem wissenschaftliches Forschen und künstlerisches Schaffen, analytisches Bemühen und religiöses Urvertrauen, empirische Beobachtungen und metaphysische Intuitionen auf eine überraschende Weise koexistieren und sich ergänzen. Nicht nur zahlreiche Bücher über indische Spiritualität, unzählige Aufsätze zu archaischen Religionen und eine allumfassende Geschichte der religiösen Ideen, sondern auch eine beträchtliche Anzahl von Tagebüchern (indisch, portugiesisch, französisch, amerikanisch), Romanen und autobiographischen Schriften bilden das imposante Gedankengut dieses rumänischen Autors, der in drei Sprachen schrieb, mehr als zehn kannte und die ganze Welt bereiste, um seine Botschaft eines neuen Humanismus (als Rettung des homo religiosus) anzukündigen. Auf den ersten Blick kommt dem Leser Eliades Produktion als vielfältig und sogar heterogen vor. Bei näherer Betrachtung findet man aber eine beeindruckende Kohärenz, und insbesondere Leitfäden, die verschiedene Register und Stile (von der wissenschaftlichen Sprache und über persönliche Bekenntnisse bis zur fiktiven Erzählung) durchziehen und zusammenhalten. Einer dieser Leitfäden ist die Idee der Hierophanie. Diese Idee artikuliert Eliades Projekt einer ›integralen Religionswissenschaft‹ 1, d. h. sie rechtfertigt seine religionsphänomenologische Methode und bestimmt seine Rehabilitierung der archaischen Ontologien als Schlüssel zum Verständnis Vgl. Mircea Eliade: »History of Religions and a New Humanism«, in: History of Religions 1 (Summer 1961), S. 1–8, insbesondere S. 7.

1

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der Krise der Moderne. Wichtiger noch: sie steht im Zentrum der Debatte um den Sinn der Fachdisziplin ›Religionsgeschichte‹, wie sie z. B. von dem Religionskomparatisten Raffaele Pettazzoni (demgegenüber Mircea Eliade hohe Bewunderung geäußert hat) vertreten wurde, 2 und bietet eine dezidierte und kontroverse Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit des Heiligen (sacré). Ich möchte auf diese Aspekte eingehen, indem ich mich fast ausschließlich auf die populärsten Aufsätze des religionswissenschaftlichen Werks Eliades konzentriere: Kosmos und Geschichte (1949), die Religionen und das Heilige (1949) und Das Heilige und das Profane (1965). Es ist (sind) m. E. (in) diese(n) Aufsätze(n), wo (in denen) man die Idee und Problematik der Hierophanie ganz deutlich nachverfolgen kann. Ergänzende Beobachtungen werde ich mit Hilfe einiger Themen des Buches Ewige Bilder und Sinnbilder (1959) und eines programmatischen Aufsatzes des späten Eliade, ›History of Religions and a New Humanism‹ (1961), formulieren.

2.

Zum Begriff der Hierophanie und dem Einbruch des Heiligen

Das Wort »Hierophanie« bedeutet – im wörtlichen Sinne – »Aufscheinen des Heiligen« und bildet einen Schlüsselbegriff in Eliades Denken. Wenn ich von der »Idee« der Hierophanie spreche, so meine ich etwas mehr als einen wissenschaftlichen Begriff, weil diese Idee auch die künstlerische Produktion Eliades kennzeichnet und seine existentielle Grundeinstellung zum Ausdruck bringt. Gerade diese Tatsache offenbart den problematischen Charakter dieser Idee, sofern für Eliade eine ›Idee‹ keineswegs etwas Abstraktes ist, sondern mit einem Erfahrungsgewebe individueller Art und archetypischer Herkunft zusammenhängt. Romane wie Jugend ohne Jugend, Mitternacht in Serampone und sein literarisches magnum opus Der verbotene Wald sind von der Überzeugung durchkreuzt, dass der Einbruch einer stärkeren, breiteren und tieferen Wirklichkeit (die er mit dem ›Heiligen‹ identifiziert) in die Alltagsrealität (oder die profane Sphäre) das Schicksal derjenigen Menschen vollkommen verändert, die diese Wirklichkeit wahrnehmen und Zeugnis davon Hierzu siehe Mircea Eliade/Raffaele Pettazzoni: L’histoire des religions a-t-elle un sens? Correspondance 1926–1959, Paris 1994.

2

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Die Idee der Hierophanie bei Mircea Eliade

(durch Riten, Mythen, Symbole, usw.) ablegen können. 3 Religiöse Werte (Eliade zufolge die einzigen Werte, die eine Menschengruppe zusammenhalten können) entstehen als Resultat dieses Einbruches, denn, wie er in Kosmos und Geschichte feststellt, »[innerweltliche] Gegenstände oder Handlungen gewinnen einen Wert und werden damit wirklich, weil sie auf die eine oder andere Weise einer Wirklichkeit teilhaftig sind, die über die Grenzen [der innerweltlichen Sphäre] hinausgreift«. 4 Religion hätte in diesem Sinne zweierlei Bedeutung: 1. Bewusstsein des ontologischen Einbruchs, d. h. der »Koinzidenz des Heiligen (oder der göttlichen Wirklichkeit) mit dem Profanen (oder der innerweltlichen Sphäre)«. 5 2. Herausbildung von Formen, die als permanente Erinnerung (d. h. Rückbindung) an das Heilige zu dessen Integration in der Sphäre des Profanen beitragen. Die erste Frage, die sich sofort aufdrängt, ist, ob (und wie) sich Eliades Idee der Hierophanie rechtfertigen lässt, denn der Einbruch des Heiligen wird nicht als Problem vorgelegt, sondern einfach als unleugbares Faktum angenommen. Für die Geisteswissenschaften war hingegen die Substantivierung des Adjektivs »heilig« immer ein Problem, und die These der meisten Religionswissenschaftler und -historiker heutzutage lautet, dass der nominalisierte Ausdruck »das Heilige« im Grunde genommen keine substantielle Realität besitzt, sondern eine Erfindung der Sozioanthropologen (in erster Linie: Émile Durkheims) darstellt. Durkheims Auffassung des Heiligen ist insofern wichtig, (als) dass sie eine soziologische – und methodologische – Grenze markiert: Beim Heiligen handelt es sich um eine besonders starke emotionale Erfahrung, aufgrund derer eine Menschengruppe das Gefühl der Präsenz von etwas bekommt, das über das Menschliche und Natürliche hinausgeht, und es ist eben diese Erfahrung, die das moralische Wesen der Menschen permanent unterstützt und erDie Tatsache, dass Eliades Romane fast ausschließlich autobiographischen Charakter haben, und dass er sich für einen Inhaltsroman und gegen die manieristischen Experimente eines Joyces oder eines Eliots geäußert hat, zeugt von seinem Glauben an ein existentielles Engagement des Künstlers mit der Frage des Heiligen als subjektivem Sinn-Erlebnis und Zeichen einer inneren Transformation. Für Eliades allgemeine Skepsis gegenüber der modernen Literatur, siehe Mircea Eliade: L’épreuve du labyrinthe: entretiens avec Claude-Henri Rocquet, Paris 2006, S. 191. Für Eliades Hermeneutik der Mythensehnsucht in der modernen Literatur (am Beispiel von Joyce und Eliot), siehe Edward Cronin: »Eliade, Joyce and the ›Nightmare of History‹«, in: Journal of the American Academy of Religion 50/3, Sept. 1982, S. 435–448. 4 Mircea Eliade: Kosmos und Geschichte, Frankfurt a. M. 1994, S. 16. 5 Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, Frankfurt a. M. 1998, S. 56. 3

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neuert. 6 Es gibt trotzdem in dieser Erfahrung schlicht und einfach nichts, was (das) sich jenseits des menschlichen Bereiches offenbart, außer dem affektiven Überschuss, aus dem eine religiöse Besetzung stattfindet und (womit) sich die Gruppe nicht mehr als ein Aggregat von Individuen betrachtet, sondern (sich als) eine organische und von einer anscheinend ›fremden Kraft‹ getragene Einheit spürt. Religion ist für Durkheim letztlich eine Hypostasierung der Gesellschaft, und das Heilige eine ins Übernatürliche mystifizierte Behauptung des organischen Gruppengefühls. Der Religionssoziologe interessiert sich deshalb für die sozialen Konfigurationen, von denen ausgehend die Delimitation zwischen heilig und profan zu Tage tritt, und analysiert zugleich die historischen Zeugnisreihen, die zu einer religiösen Aufwertung von Gegenständen, Handlungen, Orten, Schriften usw. beitragen. Durkheim schreibt aber dem Phänomen des Heiligen keinen besonderen, über die Sphäre des Sozialen hinausgehenden Wert zu.

3.

Die Erfahrungsdimension der Religionsphänomenologie

Die Tatsache, dass Eliade das Phänomen des Heiligen nicht als Konstruktion, sondern als Gegebenheit annimmt, bedeutet nicht, dass er davon keine Rechenschaft ablegt. In Wirklichkeit ist die Behauptung des Heiligen als einer intensivierten und über die Grenzen der innerweltlichen Sphäre hinausgehenden Wirklichkeit sehr eng mit Eliades religionsphänomenologischer Annäherung verbunden. Die Religionsphänomenologie könnte in diesem Sinne als ›transformative Hermeneutik‹ definiert werden, sofern der Religionswissenschaftler Eliades Überzeugung teilt, dass man in den schriftlichen Zeugnissen der archaischen Religionen nicht nur soziologische und historische, sondern auch existentielle Inhalte finden kann. Das Verstehen der existentiellen Situation des archaischen Menschen vollzieht sich nicht durch eine objektive Rekonstruktion der in den Zeugnissen vorhandenen Elementen, sondern vielmehr durch das subjektive Ergreifen der religiösen Erfahrungsebene, die hinter der Anhäufung von historischen Daten als wirkliche Sprache der Zeugnisse und echter Forschungsgegenstand des Religionswissenschaftlers waltet. 7 In der 6 Vgl. Émile Durkheim: Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 2008, S. 302. 7 Vgl. Eliade: »History of Religions and a New Humanism«, S. 4: »The scholar will

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Die Idee der Hierophanie bei Mircea Eliade

Linie von Rudolf Otto und Carl Gustav Jung misst Eliade der subjektiven Erfahrungsdimension (insbesondere in der Sache der Religion) einen trans-personalen Wert bei. 8 Religionsgeschichte ist für ihn nicht nur eine Wissensdisziplin, die nach außen (d. h. auf die Forschungsgegenstände von verschiedenen Epochen der Vergangenheit) gerichtet ist, sondern auch ein Weg zur Selbst-Erkenntnis, insofern das Verstehen des autonomen Werts der religiösen Erfahrung in anderen Kulturen eine Transformation beim Forscher selbst bewirkt. Dies kann für Eliade nur geschehen, wenn das Heilige eigentlich mehr beinhaltet als das, wovon die Überlieferung im Sinne von kodifizierten Glaubensinhalten zeugt. Wie er in einem der berühmten Interviews mit Claude-Henri Rocquet sagt: »Das Heilige impliziert nicht den Glauben an Gott, an Götter oder an Geister. Es ist, ich wiederhole es, die Erfahrung einer Wirklichkeit und die Quelle des Bewusstseins unseres In-der-Welt-Seins.« 9 Dass Eliade Termini wie Dasein, Existenz, und In-der-Welt-Sein neben seinem populär gewordenen Vokabular (Hierophanie, Kratophanie, Überwirklichkeit, axis mundi, illud tempus, usw.) verwendet, ist kein Zufall. Seine religionsgeschichtlichen und religionswissenschaftlichen Hauptideen wurden in dem Pariser Milieu der Nachkriegszeit entwickelt, wo er sich zunächst als Außenseiter gegenüber der philosophischen Hauptströmung des Existentialismus betrachtete und deren auffällige Symptomatik denunzierte: ein dem modernen Menschen angemessenes Denken zu sein – einem Menschen, der in den Abgrund des Nihilismus 10 und den Terror der Geschichte 11 aufgrund seiner Entfernung vom Heiligen zu stürzen verurteilt ist. Die ›existentielle‹ Dimension ist für Eliade nicht nur und keineswegs in erster Linie durch die Welthave passed beyond the stage of pure erudition – in other words, when after having collected, described and classified his documents, he will also make an effort to understand them on their own plane of reference.« 8 Im Gegensatz zu Rudolf Otto liefert er eine ganze Reihe von empirischen Quellen, durch welche die Spekulationen über das Heilige (wie im Fall Rudolf Ottos) plausibel gemacht werden können. Im Unterschied zu C. G. Jung fasst Eliade die Archetypen als Urbilder auf, die nicht nur im Unbewussten des Menschen als »patterns of behaviour« verankert sind, sondern einen überweltlichen Gehalt besitzen. Diese Urbilder sind gleichzeitig unausrottbare Konstanten des integralen Menschen (hierzu vgl. Mircea Eliade: Ewige Bilder und Sinnbilder: Über die magisch-religiöse Symbolik, Frankfurt a. M. 1988, S. 23). 9 Eliade: L’épreuve du labyrinthe, S. 176. 10 Vgl. Ciorans: Lehre vom Zerfall, 1949. 11 Vgl. Merleau-Pontys: Humanismus und Terror, 1947.

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geworfenheit (als Zeichen einer irreversiblen Endlichkeit) gekennzeichnet. Auf der tiefsten existentiellen Ebene offenbart sich der ›Sinn‹ als Erfahrungsinhalt, und dieser Sinn ist allumfassend, d. h. er hat zugleich Ursprungs- und Totalitätscharakter, er deckt die Vielheit menschlichen Weltbezgus und die Gesamtheit seines Handlungsund Erlebnisspektrums mit »sakramentale[r] Bedeutung« 12 auf. Die Erfahrung des Heiligen bildet gleichzeitig ein Tor zum Transpersonalen, und es ist letztlich die phänomenologische Annäherung, durch die man das Wesen des Phänomens zu ergreifen versucht und die Hierophanie in ihrem ganzen Umfang d. h. nicht nur als historisches Faktum, sondern insbesondere als lebendige Wirklichkeit zuganglich (zugänglich) wird.

4.

Das Ewige im Menschen. Zur Eliades Idee des ›homo religiosus‹

Die Hierophanie als Manifestation des Heiligen findet in der Welt statt. Ihrem Wirklichkeitsgehalt nach ist die Welt kein angemessenes Gefäß für den Einbruch des Heiligen. Das ist der Grund, warum die gegenständlichen Zeugnisse der Hierophanien fragmentarisch und ambivalent sind: Bäume, Tiere, Steine, Statuen, Denkmäler, Inschriften usw. Die Duplizität des Welterscheinens erklärt sich für Eliade ausgehend von einer menschlichen Situation, sofern der Mensch als endliches Wesen betrachtet wird. In dieser Situation ist der ontische Charakter der Welt zunächst Chiffre der konstitutiven Unvollkommenheit ihrer Erfahrungen; er bildet aber nicht die Totalität des menschlichen Erfahrungsbereiches. Sofern menschliche Existenz nicht nur weltgebunden, sondern auch symbolfähig und imaginationsreich ist, öffnet sich mitten in dem ontischen Milieu die Lichtung des Heiligen als Zeichen einer höheren (nicht ontisch und relativ sondern ontologisch und absolut) und erlebbaren Wirklichkeit. Die vertikale Metapher (höhere Wirklichkeit des Heiligen gegenüber dem niedrigen Seins- und Sinnbereich des Profanen) ist nicht so stark an die objektive Situation gebunden, sondern vielmehr an den eigentlichen Träger der hierophanischen Erfahrung: den homo religiosus. Die Reichweite dieses Begriffs bedarf einer besonderen BerücksichtiMircea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen, Band 1: Von der Steinzeit bis zu den Mysterien von Eleusis, Freiburg i. Br. 2002, S. 7.

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Die Idee der Hierophanie bei Mircea Eliade

gung, denn sie ändert die Bedeutung u. a. des Weltbegriffs. Der homo religiosus ist für Eliade ein »totaler Mensch«. 13 Dies bedeutet, dass die Grundbefindlichkeit seines In-der-Welt-Seins in einer besonderen Rückgebundenheit an eine Sinnquelle besteht. Welt ist für den archaischen Menschen (oder den homo religiosus) kósmos im strengen Sinne, d. h. allgemeine, durchstrukturierte und daseinsvervollkommnende Ordnung, und nur eine ›totale Disziplin‹ (Eliades Ideal einer Religionswissenschaft der Zukunft) kann der Erfahrung des totalen Menschen auf eine re-konstruktive und transformative Weise gerecht werden. Die Möglichkeit einer transformativen Dimension in der Ausübung der Reflexion über religiöse Phänomene ist für Eliade aus einer existentiellen Grundvoraussetzung garantiert: Das Heilige ist u. a. »ein Element der Struktur des Bewusstseins und nicht ein Stadium in der Geschichte dieses Bewusstseins« 14. Mit anderen Worten: Das Heilige wirkt letztlich unabhängig von zeitlichen und räumlichen Einschränkungen, die u. a. die hermeneutische Einstellung einer ›historischen Objektivität‹ (d. h. einer unendlichen und ständig ›falsifizierbaren‹ Annährung an den Kern des Phänomens) überhaupt bilden. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass sich der mystische Boden der Erfahrung ganz unabhängig von der Situiertheit des Einzelbewusstseins kundtut und konfiguriert, denn es gibt keine Erfahrung des Numinosen ohne das Element menschlichen Schauderns. 15 Trotzdem ist in der Dialektik des Heiligen die wichtigste Dimension eben nicht die (unvermeidlich zu berücksichtigende) horizontal-historische, sondern die (meistens übersehene) vertikal-transformative, d. h. die Dimension der Interkation zwischen dem Einzelbewusstsein und der archetypischen oder trans-personalen Größe, die in den Bewusstseinsbereich des Einzelnen als ganz Anderes hineinbricht, und die Integration dieses ganz Anderen (im Sinne von Strategien der Sinn-Findung und Sinn-Bewahrung) zeigt für Eliade eine trans-historische Invariante.

Eliade: »History of Religions and a New Humanism«, S. 7. Mircea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen, Band 1: Von der Steinzeit bis zu den Mysterien von Eleusis, Freiburg i. Br. 2002, S. 7. 15 Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Nördlingen 1979, insbesondere das dritte Kapitel: »Das Kreaturgefühl«, S. 8–12. 13 14

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Sarah Eichner

5.

Schlusswort: Entfremdung und Sehnsucht des modernen Menschen

Was bedeutet diese Transformation und wie ist sie überhaupt möglich in der ent-sakralisierten Welt unserer Modernität? An dieser Stelle zeigt sich Eliades These in ihrer ganzen Radikalität. In Das Heilige und das Profane schreibt er: »Für die Menschen, die ein religiöses Erlebnis haben, kann sich das ganze Natur als kosmische Sakralität offenbaren. Der Kosmos wird dann zur Hierophanie.« 16 Ausgehend von dieser Bemerkung können Heiliges und Profanes als zwei Seinsweisen betrachtet werden. Der Mensch der protohistorischen oder archaischen Gesellschaften erfährt das Heilige als eine absolute Offenbarung. Er ist rückgebunden an ein Ganzes, und dieses Ganze, wie ich zu zeigen versucht habe, ist seine Sinnquelle. Davon hängt u. a. das Gefühl der Einheit einer Gruppe ab, und zwar einer Einheit, die sich nicht nur in horizontaler Erstreckung, sondern auch in vertikaler Richtung vollzieht, beispielsweise im Gefühl der Totembrüder zu dem Totem des Clans, oder in der Gleichbenennung eines Kultverbands mit seiner Gottheit. 17 Die profane Seinsweise entspricht hingegen dem Menschen der modernen, industrialisierten Gesellschaften. Dieser Mensch ist im existentiellen Sinne ent-fremdet, d. h. getrennt von der ursprünglichen (und für ihn natürlichen) Sinnquelle, die aus der vollkommenen Selbstgegebenheit des Heiligen besteht. Dies ist auch der Grund, warum Eliades Einstellung zum Judentum und zum Christentum grundsätzlich ambivalent ist. Einerseits denkt er, dass die monotheistische These des Erscheinen Gottes in der Geschichte (Theophanie im strengen Sinne) die erste Stufe der Desakralisierung des Kosmos (d. h. der Hierophanie) bildet, da das einmalige und singuläre Erscheinen Gottes einen absoluten Vorrang über die verschiedenen und sich immer wiederholenden Manifestationen des Heiligen in den archaischen Religionen hat und den Kosmos von seinen ihm innewohnenden göttlichen Kräften entleert. 18 Andererseits Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religösen, Frankfurt a. M. 1984, S. 15. Hervorhebung von mir. 17 Hierzu siehe Geo Widengren: Religionsphänomenologie, Berlin 1969, S. 595. 18 Die Kehrseite der Sakralisierung der Geschichte ist für Eliade die Desakralisierung des Kosmos. Mit der Aufklärung und der sekulären Religionen (wie dem Marxismus) vollzieht sich für Eliade den letzten Schritt, nämlich die Ausrottung der religiösen Bestimmung der Menschheit und die völlig sekuläre Aufwertung der Geschichte (was das Gegenteil von einer Theophanie ist). 16

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Die Idee der Hierophanie bei Mircea Eliade

ist Eliade überzeugt, dass der moderne Mensch ein Abkömmling des homo religiosus ist und daher unter einer Sehnsucht nach dem Ursprung leidet. 19 Diese Sehnsucht kann nur durch die dem modernen Menschen vorhandenen und institutionell wirksame Religionen gestillt werden, denn (weil) eine Rückkehr zum Ursprung im kollektividentitären Sinne schlicht und einfach unmölgich ist: »Seit der Erfindung des Glaubens im jüdisch-christlichen Sinn des Wortes bleibt dem Menschen, der sich aus dem Reich der Archetypen und der Wiederholung gelöst hat, keine andere Verteidigung gegen den Schrecken (der Geschichte) mehr übrig als die Gottesidee.« 20

Eine interessante Frage, die im Rahmen dieses Aufsatzes nicht behandelt werden kann, ist jene der verkappten Mythologien des modernen Menschen. Diese bilden für Eliade ein degradiertes und grotesques Surrogat von den alten Mythen, deren Gründungsmacht auf kollektiver Ebene wirkten und den Menschen eine Grundidentität verliehen (hierzu vgl. Eliade: Das Heilige und das Profane, S. 176 f.). Hierzu vgl. auch oben, Fußnote 3. 20 Eliade: Kosmos und Geschichte, S. 175. 19

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Adrian Navigante (India-Europe Foundation for New Dialogues, Rom)

Die Lehre des avatāra: Selbst-Gebung und Gewalt in der Bhagavad Gītā

1.

Einleitung: avatāra und incarnatio

Es gibt zahlreiche Monographien, die auf die Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen dem hinduistischen Begriff des avatāra und dem christlichen Begriff der incarnatio hinweisen. Solche Versuche sollen uns nicht überraschen, denn der Fokus auf die Lehre des avatāra ist fast ausschließlich auf die berühmte Bhagavad Gītā (circa 200 v. Chr., im Folgenden zitiert als BhG) gelegt worden, wo von einem PersonGott die Rede ist, Kṛṣṇa, der anstelle des vedisch-upaniṣadischen brahman als höchstes Wesen und Herr der Welt(en) fungiert, und sich durch seine eigene Macht [yoga-māyayā] in einem Menschenleib [maṇusi tanu] 1 manifestiert [sambhū] 2. Als ›theistischer Teil‹ des großen Epos Mahābhārata, das im traditionellen Hinduismus als smṛti [das Erinnerte = die Tradition] und nicht als śruti [das Gehörte = die Offenbarung im strengen Sinne] gilt, erhebt die BhG den Anspruch auf eine erneute Offenbarungslehre und grenzt sich in diesem Sinne von der religiösen Sphäre des Veda ab. 3 Kein Epos in der indo-europäischen Tradition hat den Status der BhG erreicht: gleichBhG, 9.11. Für die Verfassung dieser Arbeit habe ich mich auf folgende Version des Textes gestützt: Śrimad Bhagavad Gītā (saṁskṛt eva hindī anuvād) mit Kommentar von Śaṅkarānanda Sarasvatī, Delhi 2008. Für spezifische Aspekte habe ich auf die deutsche Version von Michael von Brück, insbesondere wegen des Kommentars, zurückgegriffen: Bhagavad Gītā. Der Gesang des Erhabenen, Frankfurt a. M./Leipzig 2007. 2 BhG, 4.6–8. 3 Aus praktischen Gründen könnte man Wendy Donigers Gliederung des Hinduismus in drei periodische aber nicht im strengen Sinne chronologische Teile verwenden: 1. Vedische Periode, zu der die ganzen saṃhitā und die Brāhmaṇa-s gehören, 2. PostVedische Periode, welche grundsätzlich die upaniṣadische Literatur beinhaltet, und 3. Bhakti Periode, zu der sowohl bhakti Texte als auch tantrische āgama-s zählen (vgl. Wendy Doniger O’Flaherty: The Origins of Evil in Hindu Mythology, London 1976, S. 78–79). Die Bhagavad Gītā gehört eindeutig in die letzte Kategorie, selbst wenn sie 1

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Die Lehre des avatāra

zeitig eine Heilige Schrift, ein Erziehungswerkzeug und eine verdichtete Enzyklopädie des sanātana dharma zu sein. Das Singuläre an diesem Epos ist, dass es die Idee eines Herabkommens [ava-tṛ] Gottes in menschlicher Form beinhaltet. Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, ob der Gedanke eines avatāra, d. h. einer Offenbarung Gottes (Viṣṇu) im Sinne der Mensch-Werdung (in der Kṛṣṇa-Gestalt), nicht der christlichen Lehre der Inkarnation entspricht, wie sie insbesondere im Johannesevangelium zum Ausdruck kommt (und zwar 1, 14: kaí ho lógos sarx egéneto kaì eskênôsen en hêmis, »und der Logos wurde Fleisch, und er wohnte unter uns« und 6, 33: ho gar ártos tou theoû estin ho katabaínôn ek toû ouranoû, »denn das Brot Gottes 4 ist der Herabkommende aus dem Himmel«). Im Folgenden werde ich versuchen, eine negative Antwort auf diese Frage zu geben. Diese negative Antwort will gleichzeitig eine Rückfrage an die Analogien zwischen der BhG und dem NT stellen, die durch die phänomenologische Methode gezogen werden könnten. Die phänomenologische Methode ist reduktiv und hat die Wirkung eines Vergrößerungsglases. Man kann bestimmt dadurch eine ganze Reihe von präjudizierten Meinungen über den Gegenstand außer Kraft setzen. Abstrahiert man aber von dem Zusammenhang, den Entstehungsbedingungen, der Struktur und den Konsequenzen des untersuchten Phänomens, kann der hypertrophische Blick des Phänomenologen in eine verzerrte Perspektive umschlagen und Analogien zwischen Phänomenen feststellen, wo vielmehr Differenzen zu betonen sind. Gewiss könnte man einen der Hauptgedanken in der BhG (4.8.) im Sinne der christlichen Inkarnation (nach Johannes 1, 14) interpretieren: ātmanam sṛjami aham, wo das Verb sṛjami auf eine Gestaltung, eine Emanation oder (mit Michel Henry gesprochen) eine ›Ipseisierung‹ hinweist. Auch die Metapher des ›Brots des Lebens‹, die Jesus in Johannes 6, 33 verwendet, könnte in folgende Verse hineingelesen werden: bījam sarva-bhūtānām aham (7.10), wo das Nomen bīja, das auf einen transzendenten Kern hinweist, ursprünglich ›Samen‹ oder ›Korn‹ d. h. Nahrungsquelle aller Wesen

verschiedene Aspekte der vedischen und post-vedischen Periode wieder aufgreift und zusammenfasst. 4 Man darf nicht vergessen, dass Brot schon im Alten Testament ›Nahrung‹ im Sinne der ›Gabe Gottes‹ bedeutet (vgl. das hebräische læhæṃ, dessen Wurzel im Arabischen ›Fleisch‹ bedeutet), und die Entwicklung dieser spezifischen Bedeutung zur Selbstbezeichnung Jesu als »Brot des Lebens« (Joh 6, 35: egô eími ho ártos tês zoês).

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bedeutet. 5 Man könnte auch ausgehend von Kṛṣṇas Worten über den Sinn oder die Absicht des Herabkommens Gottes in die Welt eine auf den ersten Blick ganz und gar gerechtfertigte Parallele mit der christlichen Lehre der Inkarnation ziehen. In der BhG 4.7–8. bezieht sich Kṛṣṇa auf dharmasya glāni, einen »Niedergang des dharma« und sagt, dass er sich selbst in menschlicher Form schafft, um das dharma (die Weltordnung) 6 wiederherzustellen: dharmasamsthāpanārtha. Eine Parallele mit Johannes 3, 17 zu ziehen scheint unvermeidlich, wo Jesus als Ziel der Inkarnation ähnliche Worte wie Kṛṣṇa spricht: »damit die Welt(ordnung) durch ihn [den Sohn] gerettet wird«: hína sôthê ho kósmos di’ autoû. 7

2.

Die Bhagavad Gītā im Kontext, Selbst-Offenbarung und göttliche Gewalt

Betrachtet man aber die BhG in ihrem Kontext, ändert sich die Perspektive auf eine beträchtliche Weise. Unter ›Kontext‹ verstehe ich zunächst den Wert einer herausgehobenen Stelle der BhG in Verbindung mit anderen Stellen des Gesangs und weiterhin im Rahmen des gesamten Epos Mahābhārata. Wenn es auf die Frage des avatāra ankommt, muss man zunächst den kosmologischen Aspekt in Betracht ziehen und die kontextuelle Berücksichtigung bis auf die purāṇische Literatur ausweiten. Was die Frage der Offenbarung Gottes anbelangt, muss man im Falle der BhG auf einen wichtigen Aspekt der Mensch-Werdung Viṣṇus (als Kṛṣṇa) hinweisen: Die Erscheinungsmacht von Viṣṇu wird māyā genannt. Im Kontext der BhG bedeutet māyā keine kosmische Illusion wie z. B. in der Lehre des Advaita Vedānta. Kṛṣṇa als menschliche Gestalt Viṣṇus hat einen realontologischen Status und daher einen Einfluss auf die Situation (die Schlacht von Kurukṣetra: dem Feld der Kurus), in der sein Freund Vgl. BhG 7.9., wo folgende Ausdrücke benutzt werden: jīvanam sarva-bhūteṣu [das Lebensprinzip in allen Wesen] und tapaḥ tapasviṣu [die Glut der Asketen]. 6 Vgl. Michael von Brück: Bhagavad Gītā. Der Gesang des Erhabenen, Stellenkommentar S. 324. 7 Übrigens wird an der Stelle das Verb apostéllein verwendet (ho theós apésteilen ton huión: »Gott entsendete seinen Sohn«), dessen semantische Verwandtschaft mit sṛjami in BhG 4.8. nicht unwichtig ist. Der Verbstamm sṛj kann nicht nur ausströmen oder entspringen bedeuten, sondern auch außer sich werfen, ent-werfen, evtl. entsenden. 5

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Die Lehre des avatāra

Arjuna verwickelt ist. Trotzdem ist die Selbst-Offenbarung Viṣṇus in der Person Kṛṣṇa eine Art Schleier (sambhava 8 als »Manifestation« und gleichzeitig »Verschleierung«, vgl. BhG 4.6.) des Gottes, und dieser Schleier ist nichts anderes als die Teilnahme an der Relativität der Welt durch eine endliche, sterbliche Form. 9 Die wirkliche Offenbarung Kṛṣṇas zu Arjuna findet im 11. Kapitel statt, in dem Letzterem die Schau [cakṣu, vgl. BhG 11.8. 10] der göttlichen Form [divya rūpa] verliehen wird. Was Arjuna erblickt, kann er nicht verarbeiten: das ganze Universum [kṛtsnam jagat] in seinen mannigfaltigen Gestaltungen an einem Ort zusammengefasst: dem Leib des Gottes der Götter [deva-devasya śarīre]. Dieser Anblick ist gleichzeitig außerordentlich [adbhuta] und schrecklich [ugra], und Arjuna gibt zu: »Ich kann es überhaupt nicht fassen« [na prājānami, BhG 11.31.]. Wie die Szene beschrieben wird, handelt es sich um genau das Gegenteil vom Verklärungsereignis Jesu Christi auf dem Berg Tabor (nach außerbiblischer Überlieferung), von dem man in den drei synoptischen Evangelien lesen kann. 11 Man könnte sagen, dass Arjunas Vision der Gottheit vielmehr einer Offenbarung des Leviathan oder des Behemoth (vielmehr nach dem Vorbild der Gewaltsamkeit Yahwes im AT, zum Beispiel in seinem Bezug zu Hiob) gleichkommt, denn es ist keine Verklärung der grobstofflichen Form in Anspielung auf eine visio beatifica 12, sondern eine unbegrenzte (und daher furchtbar gewalttätige oder im archaischen Sinne: sakrale) Machtentfesselung. Kṛṣṇas Gewalt beschränkt sich nicht auf den vertikalen Einbruch der göttlichen Gestalt in die Sphäre der menschlichen Wahrnehmung. Sie ist auch im göttlichen Plan einbezogen d. h. mit der Handlung des Gottes sehr eng verbunden, lässt sich aber sehr schwer mit einer biblischen (insbesondere paulinischen) Idee von Gerechtigkeit 13 Wörtlich »das Zusammenkommen (von Gott und Mensch) im Werden«. Die BhG 4.6. spricht von adhiṣṭāya (verortet). 10 Die Bedeutung von cakṣu ist Vision oder Schau, vgl. den vedischen Stamm cak- = ›Erscheinen, Aufleuchten‹. 11 Vgl. Lk 9,28–36, Mk 9,2–9 und Mt 17,1–8. 12 Das heißt einer unmittelbaren Schau von Angesicht zu Angesicht [prósôpon pròs prósôpon, vgl. 1 Kor 13, 12] ohne Vermittlung eines Geschöpfes. 13 Eine Idee, die nach 2 Kor 5, 17 (Christus als neue Schöpfung) in einem eschatologischen Kontext steht und sehr eng mit der Erlösungsfrage zusammenhängt. Dikaiosynê (nach 2 Kor 5, 21) ist eigentlich der Bezug zum Christus, sofern Letzterer als sündenfrei zur Sünde wurde, damit die Menschheit von der Sünde erlöst wird (oder in Worten von Paulus: hina hêmeîs genômetha dikaiosyê theoû en autoû, »damit wir die Gerechtigkeit Gottes in ihm werden«). 8 9

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in Einklang bringen. Der oben zitierte Passus der BhG (4.7–8) über die Wiederherstellung des dharma muss in seinem eigenen Kontext interpretiert werden. Was bedeutet eigentlich dharmasya glāni [Niedergang des dharma]? Man sollte sich zunächst davor hüten, universalistische Werte auf diese besondere Stelle der BhG zu übertragen (wie es die modernen Interpretationen häufig machen). Der Terminus dharma weist auf etwas Festes (vgl. Lateinisch firmus) und trotzdem Dynamisches hin, eine Art Ordnung im Vollzug. Im Kontext der BhG ist dharma dasjenige, was den Gesamtbereich des Seienden zusammenhält aber gleichzeitig ein ganz und gar relativer Begriff. 14 Es gibt verschiedene dharma-s: großfamiliär [kuladharma], regional [deśadharma] und insbesondere varṇadharma, d. h. die Verhaltensregel, die für die vier Stände (brahmana-s, kṣatriya-s, vaiśyas und śūdra-s) vorgeschrieben sind. Und die Situation Arjunas, des Helden der BhG, ist das Verwickelt-Sein in einer dharma Kollision: Er muss (als kṣatriya und rājakumāra) gegen seine Verwandten kämpfen und sie eventuell auf dem Schlachtfeld von Kurukṣetra töten, aber er weiß, welche Schuld [sadoṣa] er wegen des Verstoßes gegen den kuladharma auf sich lädt. Er ist außerdem bestürzt [viṣādin] und von Mitgefühl [kṛpā] erfüllt, 15 wenn er kurz vor dem Beginn der Schlacht aus der damit zusammenhängenden Logik von Freund und Feind austritt und die Situation mit etwas Abstand betrachtet. Kṛṣṇa, Arjunas Wagenlenker und Lehrer, bringt ihm die Lehre von der Erfolglosigkeit des Nicht-Handelns bei: »kein Wesen vermag es, vom Handlungszusammenhang frei zu bleiben.« 16 Dieser Satz fasst eine komplexe Erweiterung der karma Lehre (im Sinne des Opfers) durch den aus der Sāṃkhya Philosophie stammenden prakṛti Begriff zusammen. Die ganze Natur (als natura naturans und natura naturata) wird in der BhG als selbsttätig, als ein Handlungszusammenhang aufgefasst, an dem alle Lebewesen teilhaben. 17 Natur und Opferhandlung stehen daher in einer Beziehung der Juxtaposition, sodass jedes Handeln zur Tätigkeit der prakṛti und das Opfer zum Teil der natürlichen (d. h. zur prakṛti Dynamik gehörenden) Tätigkeit der

Vgl. Michaels: Der Hinduismus, München 2006, S. 31. Vgl. BhG 1,7. 16 Na hi kaścit kṣaṇam api jātu tiṣṭhaty akarmakṛt (BhG 3,5) wörtlich: »keiner nicht einmal einen Augenblick lang bleibt der Akteur eines Nicht-Handelns.« 17 Ausführliches darüber bei Angelika Malinar: Rājavidyā, Das königliche Wissen um Herrschaft und Verzicht, Wiesbaden 1996, S. 156–160. 14 15

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Die Lehre des avatāra

Lebewesen 18 gehört. Das ist der Grund, warum in der BhG so etwas wie saṃnyāsa [Aufgeben, Entsagung und per extensionem NichtHandlung] zu keiner Erlösung führt und durch einen Handlungsmaßstab ersetzt wird, der nicht auf persönlichen Erfolg, sondern auf die Erhaltung der im Opferzusammenhang konstituierten Welt abzielt. 19 Dass Arjuna das Opferrad weiterdrehen muss, zeigt ganz deutlich, dass der Fürst als reichster und mächtigster Opferherr betrachtet wird. Er ist deshalb dafür prädestiniert, die Opfervollzüge zu garantieren. 20 Der höchste Opfervollzug im Rahmen der BhG ist nichts anderes als den Krieg zu führen.

3.

Mythischer und kosmologischer Hintergrund der avatāra-Lehre

Die Frage nach dem Krieg und der Teilnahme des Gottes daran (durch den avatāra) öffnet einen zweifelsohne breiteren Horizont. Ich werde im Folgenden zwei Axen (gleichzeitig) behandeln: den Konflikt zwischen deva-s und asura-s und die Lehre der Weltalter [yuga-s]. Diese zwei Axen bilden so etwas wie die Grundlagen des theistischen Hinduismus und spielen sogar in komplexen philosophischen Systemen (wo Theologie und Mythos nur am Rande hingezogen werden) eine entscheidende Rolle. Es gibt ein mythisches Motiv, das im Mahābhārata und der purāṇischen Literatur zum Ausdruck kommt und m. E. für ein angemessenes Verständnis der avatāra-Konzeption nicht außer Acht gelassen werden darf: den Mythos der unterdrückten Erde [bhūmi]. 21 Im Mahābhārata 12.202.7–20 erscheint die Erde als überfüllt mit Vgl. Malinar: Rājavidyā, S. 156. Vgl. lokasaṃgraha in BhG 3.20. Dieses ›Zusammenhalten‹ der Welt hat mit der westlichen Idee von Gerechtigkeit nichts zu tun, sondern vielmehr mit einer unpersönlichen und etwas a-moralischen Zusammenfügung, wie ich durch meine Analyse des breiteren Kontextes der BhG zu zeigen versuchen werde. 20 Hierzu siehe Malinar: Rājavidyā, S. 160. 21 Die Erde ist nur eine der drei Welten [triloka-s] in der vedischen Mythologie. Sie artikuliert den Konflikt zwischen Ordnung und Unordnung sofern die Menschen (als Erdbewohner) sowohl am Dämonischen als auch am Göttlichen teilnehmen. Im Atharvaveda ist die Erde mit dem Wasser als Urstoff der Schöpfung identifiziert (vgl. Atharvaveda 12.1.9.), was eine interessante Parallele zur kriegerischen Variante des ṛgvedischen Kosmogonie, Indras Drachentötung, darstellt. In dieser kosmogonischen Erzählung sind die Ur-Wässer [āpa-s] von Vṛtra unterdrückt. Hierzu vgl. z. B. Ṛgveda 18 19

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Dämonen. Wendy Doniger weist darauf hin, dass in den frühen Schichten des Mythos die Erde in Gefahr steht, in den Urwassern zu versinken 22 –ein Umstand, der ein archetypisches Muster kosmogonischer Erzählungen ins Spiel bringt. 23 Die Assoziation der Dämonen [asuras] mit einem unzusammenhängenden Zustand [apraketa] hat eine lange Geschichte, die u. a. auf die kosmogonischen Verse des Ṛgveda zurückgeführt werden kann. Diese Spannungslogik zwischen dem Zusammenhängenden [devaloka] und dem Unzusammenhängenden [asuraloka] hat sich nach der vedischen Zeit in Richtung einer sehr komplexen Kosmologie mit zyklischen Strukturen entwickelt. Der Zeitfaktor entfaltet die Polarität zwischen Ordnung und Unordnung im Sinne einer Sukzession von Schöpfungs- und Zerstörungsakten; 24 es handelt sich aber nicht in erster Linie um eine menschliche Zeit (Geschichtlichkeit und Existenz), sondern um einen kosmischen Rahmen, in dem sich der Mensch als Appendix (d. h. Zusatz oder Anhang, keine Grundlage) einschreibt. In diesem Sinne ist dharma (sowie seine vedische Entsprechung: ṛta) als kosmischer Oberbegriff nicht mit der Idee einer (Welt-)ordnung im Gegensatz zur Unordnung zu verbinden, sondern mit der Gesamtheit des Seienden (oder die Struktur und Dynamik des Universums), sofern diese Gesamtheit durch eine rhythmische (und unpersönliche) Logik beherrscht ist. Im Folgenden werde ich versuchen, diese Logik zunächst ausgehend von der purāṇischen Literatur darzustellen, um die kosmische Rolle des avatāra innerhalb der Mechanik der Weltalter darzustellen, denn es ist eben diese Rolle, welche einen ersten deutlichen Hinweis auf die intrinsische Beziehung zwischen göttlicher Intervention und Gewalt geben könnte. Bei einer Erklärung der hochkomplexen Lehre der Weltalter sollte man nicht von dem Begriff yuga anheben denn yuga ist eine Zeiteinheit, die sehr eng mit der sozio-kosmischen Struktur menschlichen Lebens verbunden ist. In der purāṇischen 2. 15.1–3, und die einleuchtende Behandlung dieses Themas bei Jean Varenne: Cosmogonies védiques, Paris 1982, S. 77–81. 22 O’Flaherty: The Origins of Evil in Hindu Mythology, S. 258; vgl. MhB 3.36–41 als Entsprechung zum Ṛgveda 10, 90. 23 Es reicht, an tiamat im babylonischen Epos Enuma Elish und an te’hom des AT zu denken. Im Ṛgveda 10.129, 1 wird von den tiefen Wassern die Rede, die apraketam [undifferenziert] sind. 24 In der völlig entfalteten Lehre besteht der Weltenlauf »aus dem Wechsel von Entfaltung [sarga, pratisarga] bzw. Schöpfung [sṛṣṭi] und Auflösung [pralaya]«, vorgestellt, wie Axel Michaels bemerkt, »als Tag und Nacht im hundertjährigen Leben des Gottes Brahmā« (Axel Michaels: Der Hinduismus, München 2006, S. 330).

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Die Lehre des avatāra

Kosmologie sind die Begriffe mahākalpa und kalpa viel wichtiger, denn sie bilden einen Maßstab für das Verständnis des göttlichen (nicht des menschlichen) Lebens. Ein kalpa, genannt auch ›Tag des Brahmā‹, hat eine Dauer von 1000 mahāyuga-s. Nur ein mahāyuga entspricht schon 4 320 000 menschlichen Jahren, d. h. ein kalpa entspräche 432 000 000 25. Wenn man feststellt, dass erst 36 000 kalpa-s ein mahākalpa machen, wird man sich der Ungeheuerlichkeit der kosmischen Skala (d. h. der Rhythmen des göttlichen Lebens) bewusst. Der Mensch ist angesichts solcher erhabenen Proportionen vollkommen unbedeutsam. Der mythische Gedanke, dass nach jedem kalpa der Gott schläft, drückt die Idee einer Auflösung [pralaya] der ganzen Manifestation [vyakta] aus. Schöpfung ist nach dieser Auffassung nicht einmalig, sondern ein sich ewig wiederholender Prozess in wechselseitiger Abhängigkeit von Vernichtung (oder Rückkehr zum nicht-manifesten Zustand) und Wiederaufbau. Wenn die Purāṇa-s das Stattfinden eines pralaya beschreiben, geben sie keinen Hinweis auf den dharma. Es handelt sich um einen Prozess physischer Natur, der die materielle Welt, die Welt der Manifestation, betrifft. 26 Der Konflikt zwischen Menschen und Göttern, die Frage nach der Beziehung von Gut und Böse, die Spannung zwischen Krieg und Frieden, sind vollkommen unwichtige Themen.

4.

Selbst-Offenbarung und Restitution des dharma, oder der Sinn des göttlichen Eingriffs für den Menschen

Die Situation ändert sich mit der Epik, wo nicht mehr der Begriff kalpa (und seine quantitative Ausweitung: mahākalpa), sondern ein neuer Maßstab, das Begriffspaar yuga–mahāyuga, im Zentrum steht. Dieses Begriffspaar ersetzt aber nicht das alte (kalpa-mahākalpa), sondern wird hinzugefügt, und diese Hinzufügung ist von mühsamen Versuchen begleitet, eine homogene Struktur aus dem Ganzen heraus zu zeigen. Der Fokus liegt aber nicht mehr auf den physikaHierzu interessante Überlegungen bei Madeleine Biardeau: Études de mythologie hindoue II, Bhakti et avatāra, S. 11–12, Luis González-Reimann: The Mahābhārata and the Yugas. India’s Great Epic Poem and the Hindu System of World Ages, Delhi 2010, S. 4–6, und Alain Daniélou: La fantaisie des dieux et l’aventure humaine, Paris 1996, S. 17–18. 26 Vgl. Madeleine Biardeau: Études de mythologie hindoue II, Bhakti et avatāra, Pondicherry 1994, S. 21. 25

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lisch-kosmischen Zyklen (oder göttlichen Rhythmen), sondern auf dem soziokosmischen Bereich, wo sich das Leben der Menschen entwickelt. 27 Das Mahābhārata assoziiert die Weltzerstörung mit Viṣṇu in der Gestalt von Hayagriva: yugānta sarvabhūtāni saṁkṣipya madhusūdana [»Am Ende des Yuga hast Du alle Wesen vernichtet, oh, Zerstörer des Madhu«] 28 und überträgt das Geschehen des pralaya auf die Struktur der yuga-s, wobei sich das (kosmische und unpersönliche) Geschehen in einen göttlichen Akt wandelt. Dieser Akt braucht aber eine Rechtfertigung. Warum greift der Gott in die Welt der Menschen ein? Die Antwort lautet: »Jedes Mal [yadā yadā], wenn der dharma geschwächt wird, manifestiert sich [sambhavati] der Allmächtige [prabhu], um den dharma wiederherzustellen [darmasamsthāpanārthāya].« 29 Diese Erklärung lässt keinen Zweifel daran, dass der Eingriff des avatāra nicht einmalig, sondern periodisch ist. Dieser Eingriff braucht aber ein Motiv, denn die Wiederherstellung des dharma beinhaltet – schon aus einem strukturellen Standpunkt – eine Gewaltentfesselung (d. h. die restaurative Aktion als das ZuEnde-Bringen der herrschenden Situation und gleichzeitig den Übergang zu einem neuen und besseren Zustand). Die epische Tradition wird daher versuchen, die Lehre der yuga-s in die Logik des periodischen Entstehens und Vergehens vom ganzen Kosmos einzugliedern, etwas, was nicht ohne Inkonsistenzen geschieht. Um die Schwächung Die Artikulation des Kosmischen mit dem Sozialen zeugt von einer besonderen, der westlichen Kultur (zumindest in ihrer modernen Ausprägung) diametral entgegengesetzten Weltanschauung. Davon hat schon Max Weber berichtet, wenn er sagt, im Hinduismus gebe es »keine universell gültige, sondern durchaus nur eine ständisch besonderte private und Sozialethik (Max Weber: »Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen II: Hinduismus und Buddhismus«, in: Religion und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2005, S. 684); all diese Werte wurden trotzdem durch den Begriff des dharma artikuliert – einem Begriff, der das Gesamtleben der Menschen in ihrem Verhältnis zu Göttern und Tieren auf ganz anderen Wegen als jener des Naturrechts und der Menschenrechte bestimmte (vgl. Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen II, S. 685). Dieser Aspekt markiert noch einen wichtigen Kontrast zur christlichen Lehre. 28 Mahābhārata, 12.37–38 (zitiert nach folgender Quelle: Mahābhārata with the Commentary of Nilakantha, Sanskrit only in seven volumes, Delhi 1998). Besonders zu bemerken ist die Tatsache, dass Hayagriva einen Pferdkopf hat d. h. halb tierische halb menschliche Gestalt besitzt und als avatāra gilt. In diesem Sinne ist das Herabkommen des Gottes nicht auf die menschliche Form eingeschränkt, sondern es gibt eine Evolution in der Erscheinung der avatāra von tierischen zu menschlichen Formen. Mehr darüber weiter unten. 29 BhG, 4.7–8. 27

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Die Lehre des avatāra

des dharma auf kosmischer Ebene zu rechtfertigen, ist eine Lehre von Weltaltern notwendig, in der eine Verfallsgeschichte oder eine Dekadenzlehre (vom kṛta yuga über das tretā und dvāpara hin zum kali yuga) 30 dargestellt wird. Die Dauer der Weltalter beziehen sich auf ein Würfelspiel 31 und sind nach den Namen der Würfelseiten vier (kṛta), drei (tretā), zwei (dvāpara) oder eins (kali) Auge benannt. Das ist eine Metapher des dharma, und schon der Anblick der Proportionen rechtfertigt den Eingriff Viṣṇus, dessen Modalität nichts anderes sein wird als der Zugriff auf den Krieg. Im Rahmen des Epos Mahābhārata ist der Krieg – im Gegensatz zum Würfelspiel – das positive Zeichen des kṣatradharma [d. h. der königlichen Ethik]. Das ist auch der Grund, warum der Krieg im Mahābhārata als eine Art kosmisches Opfer betrachtet wird: Er weist auf ein yugānta [Ende eines yuga] hin, markiert einen Übergang, der nicht anders geschehen kann als durch eine allgemeine Erschütterung und eine Zerstörung des bisher Vorhandenen. Man könnte daher sagen, dass die Lehre des avatāra in einem Kontext der göttlichen Rhythmen von Auflösung und Neuschöpfung eingeschrieben ist, in dem gesellschaftliche Konflikte in den Vordergrund kommen und – unvermeidlicherweise – kosmische Proportionen erhalten. Die Tatsache, dass der Eingriff des avatāra aus einem strukturellen Standpunkt an das Stattfinden eines pralaya angeglichen zu sein scheint, stellt viele Probleme dar. Gemäß den kosmischen Gesetzen der Purāṇa-s findet die Auflösung der manifesten Welt nach einem kalpa statt, d. h. nach einem mahāyuga. Die viṣṇnuitische Tradition hat trotzdem einen Kanon von avatāra-s 32 aufgebaut, deren Eingriffe Diese Begriffe existierten schon in der vedischen Zeit, sie bezeichneten aber nicht Weltperioden, sondern die menschliche Lebensdauer oder eine unbestimmte lange Zeitperiode (hierzu siehe González-Reimann: The Mahābhārata and the Yugas, S. 6–7 und 16). 31 Dieses Spiel ist etwas, was eine besondere Relevanz im Epos Mahābhārata hat, sofern das Würfelspiel als eine königliche Untugend oder ein Laster erscheint. Yudhiṣṭhira, der älteste Sohn vom König Pāṇḍu, wird sein eigenes Reich in einem Würfelspiel gegen Duryodhana verlieren, und diese Episode führt zum 13-jährigen Exil der Pāṇḍavas im Wald. Es ist kein Wunder, dass Duryodhana als die Inkarnation von Kali (einem Dämon, auch in Hinweis auf das letzte Yuga) erscheint. 32 Der Kanon hat einige Variationen je nach den Schriften, in denen er behandelt wird. Die Liste der daśāvatāra ist folgende: Matsya (der Fisch), Kūrma (die Schildkröte), Varāha (der Eber), Narasiṃha (Mann mit dem Löwenkopf), Vāmana (der Zwerg), Paraśurāma (Rāma mit der Axt), Rāma, Kṛṣṇa, Buddha und Kalki. Selbst wenn verschiedene Purāṇa-s dem Buddha eine spezifische Funktion (die Dämonen 30

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nicht nur den Übergang vom letzten Äon eines Zyklus (kaliyuga) zum ersten des nächsten (kṛtayuga) markieren, 33 sondern jeden Übergang innerhalb eines mahāyuga. Weder Rāma noch Kṛṣṇa gehören in unser Zeitalter (das kaliyuga, das nach purāṇischer Zeitrechnung im Jahr 3102 v. Christus begonnen haben sollte), sondern der Gang Rāmas [rāmāyaṇa] findet zwischen dem tretā und dem dvāpara yuga statt, und die große Geschichte der Bhārata-s [mahābhārata], in der die Rolle Kṛṣṇas zentral ist, markiert den Übergang vom dvāpara zum kali yuga. Die Existenz eines Bhaviṣya [zukünftigen] Purāṇa führt für einige Indologen eine apokalyptische und eschatologische Dimension in die Lehre des avatāra ein, insofern in dieser Schrift angekündigt wird, dass Kalki am Ende der Zeit kommen wird, um den Bösen zu bestrafen und den dharma zu restituieren. Eigentlich ist die Rede vom Ende der Zeit immer noch auf den Maßstab der yuga-s beschränkt, d. h. ›Ende der Zeit‹ wäre in diesem Sinne eine schlechte Übersetzung des Terminus yugānta, und Kalki unterscheidet sich von den vorherigen avatāra-s dadurch, dass er (nach der kosmischen Logik des pralaya) den Übergang zu einem neuen kṛtayuga markiert – etwas, das nicht einmalig ist, sondern (ganz im Gegensatz zur christlichen Vorstellung vom Ende der Zeit) ein kosmisches Muster bildet. 34

zu täuschen bzw. abzulenken: mohanārthaṃ dānavānāṃ (Brahmāṇḍa Purāṇa, Bhāgavatatātparya von Madhva, 1.3.28), ist die Einbeziehung Buddhas in den Kanon von avatāra-s umstritten, und da Kalki ein kommender avatāra ist, wäre der Kanon eigentlich auf acht Gottheiten zu beschränken. 33 Das ist schon an sich eine Verschiebung der Zeiteinheiten, wie man ausgehend vom Mahābhārata 3.188.64 (abhāvaḥ sarvabhūtānam yugānte sambhaviṣyati: »am Ende des yuga werden alle Wesen verschwinden«) feststellen kann. Es ist dabei nicht vom kalpa, sondern von yuga die Rede. 34 »At all crucial moments in the world’s history, he [Viṣṇnu] appears as a particular individuality who guides the evolution and destiny of the different orders of creation, of species and forms of life. Hence the story of his ›descents‹, of his ›incarnations‹, of his ›manifestations‹, is endless« (Alain Daniélou: »Viṣṇu the Pervader«, in: The Adyar Library Bulletin 17/3–4 (1956), S. 336–380, hier S. 339).

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Die Lehre des avatāra

5.

Schlusswort: Zur Wirkungsgeschichte der avatāra-Lehre, oder die Polarisierung von Krieg und Liebe

Alle Interventionen der avatāra-s in menschlicher Form 35 sind durch die (Tugend der) Kriegführung gekennzeichnet, und man könnte auch eine Steigerung der Intensität feststellen, beginnend mit dem Massaker der kṣatriya-s in den Händen von Paraśurāma 36 bis zur angekündigten Restauration des dharma durch den Ritter Kalki. Eine Analogie zwischen Kalki und der Wiederkunft Christi herzustellen, wäre in diesem Sinne nicht ganz zutreffend. Selbst wenn man mit ähnlichen archetypischen Motiven rechnen darf, sind nicht nur die Texte und Kontexte verschieden, sondern auch der mythische Kern, d. h. die Natur des göttlichen Eingriffs. Der Übergang von dem Kṛṣṇa der BhG, der schon für einige Indologen als machiavellische Figur definiert wurde, 37 zum letzten avatāra Kalki, der von neonazistischen Autoren wie dem chilenischen Diplomat und Schriftsteller Miguel Serrano mit Adolf Hitler identifiziert wurde, 38 zeigt eine Zunahme der Dramatizität, die mit den Taten des avatāra und die Konsequenzen dieser Taten (zumindest in dem Imaginären der interkulturellen Rezeption und insbesondere im Hinblick auf die Gewaltanwendung und -Rechtfertigung) verbunden ist. Man könnte die Wirkungsgeschichte der Lehre des avatāra im Westen – ganz schematisch – folgendermaßen zusammenfassen: 39 Ich berücksichtige fast ausschließlich die menschlichen avatāra-s, weil sie eine kohärente Einheit bilden. Die nicht-menschlichen Figuren sind z. B. in der śruti nicht als Inkarnationen Viṣṇus betrachtet. Auf der mythologischen Ebene ist aber eine Kontinuität gerechtfertigt, wie ich im Folgenden zu zeigen versuchen werde. 36 Die Geschichte dieses avatāra verleiht uns einige ganz deutliche Elemente der Gleichsetzung einer traditionellen Idee von dharma mit der brahmanischen Herrschaft. Der Fall von Paraśurāma ist insofern interessant, dass er ein Brahmane ist, der als Krieger lebt, um den dharma gegen die (mit den asura-s identifizierten) kṣatriya-s zu restituieren. Es ist aber im Rahmen dieses Exposé durchaus unmöglich, auf das hochkomplexe politische Problem der epischen Überlieferung einzugehen. Es genügt nur darauf hinzuweisen, dass das Paradigma der königlichen Herrschaft zu dem Zeitpunkt der epischen und purāṇischen Referenzen zu diesem Mythos in eine Krise geraten ist. 37 Z. B. von Michel Hulin in einem 2015 durchgeführten Interview für France Culture über die indischen Philosophie-Strömungen. 38 Siehe Miguel Serrano: Adolf Hitler. El Último Avatara, Bogotá 2010. 39 Das im Folgenden Ausgeführte ist nur ein symbolischer Hinweis auf die zwei Richtungen, die sich im westlichen Kulturraum (auch durch die aus Indien stammende Hermeneutik dieses Textes) herausgebildet haben, und die selbstverständlich die Un35

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Einerseits war die Rezeption von einer Mystik des Krieges charakterisiert, die insbesondere aus der BhG in Anlehnung an Passagen wie 18, 59 (»in Deinem falschen egoistischen Stolz sagst Du: Ich werde nicht kämpfen, doch täuschst Du Dich dabei. Deine Natur will Dich zum Kämpfen führen«) und 18,48 (wo Kṛṣṇa eine eindeutige Rechtfertigung des Kampfes liefert: »Alles, was der Mensch macht, ist mit Schuld behaftet, wie das Feuer mit Rauch«) abgeleitet wurde; andererseits hat die BhG Stoff für eine Philosophie der universalen Liebe geliefert, deren Ziel es war, durch eine dekontextualisierte Spiritualisierung der darin entwickelten Yoga-Lehre ein hinduistisches Neues Testament zu kreieren. Der bekannteste Vertreter der ersten Position war der deutsche Indologe Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962), dessen Interpretation der BhG als ›arische Metaphysik des Kampfes und der Tat‹ sich an den unvermeidlichen Schuldzusammenhang (nach 18,48) oder die »Tragik des Lebens« 40 anlehnt, um den Einsatz des ganzen Menschen für den Kampf in der Schlacht im Kontext des nationalsozialistischen Deutschlands (und im Einklang mit der kollektiven Ergriffenheit, die C. G. Jung furor teutonicus genannt hat 41) als höchste Tätigkeit zu feiern. Die zweite Position kannte eine viel längere Wirkungsgeschichte und hatte auch die Partikularität, das Werk eines indischen Gurus zu sein, der den Viṣṇuismus als universalisierbare Botschaft Indiens an die Welt (ähnlich wie der Neuvedānta mit dem brahmanischen Gedankengut gemacht hatte) betrachtete und dementsprechend handelte: Bhaktivedānta Swāmī Prabhupāda (1896–1977), der Gründer der Hare-Kṛṣṇa-Bewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika. B. S. Prabhupāda blendete die ganze Bedeutung und Relevanz des Krieges in der Lehre des avatāra vollkommen aus und spiritualisierte den Begriff karma yoga bis zu dem Punkt, an dem die Erlösungshandlung nach dem Vorbild der christlichen caritas und des upaniṣadischen saṃnyāsa-Ideals vollkommen neutralisiert wird und ihre ganze Dramatik im Kontext menschlicher umgänglichkeit ideologisch-politischer Motive (auch bei der sogenannten ›spirituellorientierten Rezeption‹ der BhG) zeigen. Selbst eine kurze Zusammenfassung des Schicksals dieses Textes im Westen sollte die Beiträge einiger Autoren einbeziehen (Sāvarkar, Āmbedkar, Gāndhī, Aurobindo, Yogānanda, et al), die im Rahmen dieses Aufsatzes unmöglich zu behandeln sind. 40 Jakob Wilhelm Hauer: Eine arische Metaphysik des Kampfes und der Tat. Die Bhagavadgītā in neuer Sicht, Stuttgart 1934, S. 17. 41 C. G. Jung: »Wotan«, in: Gesammelte Werke, Band 10: Zivilisation im Übergang, Solothurn/Düsseldorf 1995, S. 210.

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Die Lehre des avatāra

Interaktion verliert. Das Hauptmerkmal von J. W. Hauers ›neuer Sicht‹ 42 der BhG, nämlich die Bejahung der tragischen Tat (d. h. der Kriegerpflicht) ausgehend von einer völlig geklärten bzw. göttlich selbstlosen Gemütsstimmung, ist eigentlich nicht neu. Lokamānya Bāl Gaṅgādhar Ṭilak (1856–1920), der erste Vertreter der indischen Unabhängigkeitsbewegung hatte schon vor dem ersten Weltkrieg seine Bhagavad Gītā Rahasya während seiner Gefangenschaft in Mandalay, Burma, verfasst. In diesem Buch liest Ṭilak die BhG als eine Karma-Yoga Śāstra 43, wobei Karma Yoga nicht als eine selbstlose Handlung in Bezug auf Gott, sondern als eine Verhaltens- und Handlungsweise in der Welt anzusehen ist, die im Namen einer Rückbindung an die göttliche Schöpfungssouveränität (was einer Neudeutung des Terminus śāstra entspräche) selbst das System der allgemein etablierten und akzeptierten Gesetze überschreiten und durchbrechen kann. 44 Was B. S. Prabhupāda angeht, ist es weitgehend bekannt, dass sich hinter seiner in der Öffentlichkeit immer wieder betonten Verbindung mit dem spirituellen Reformator des Gauḍīya Vaiṣṇavism, Bhaktisiddhānta Sarasvatī (1874–1937), der Einfluss von Mahātmā Gāndhīs Gītā-Lektüre versteckt. Es war eben Gāndhī derjenige, der in seinen berühmten Essays on the Gita Arjunas Konflikt und Kṛṣṇas

Was schon im Untertitel seines Werkes angekündigt wird: Die Bhagavadgītā in neuer Sicht (vgl. oben, Fußnote 39). 43 Dies ist nicht nur durch die Tatsache belegt, dass der vollständige Titel des Buches Śrī Bhagavad Gītā Rahasya or Karma-Yoga Śāstra heißt, sondern auch durch Tilaks Anmerkungen zum Thema in seiner umfangreichen Einleitung zur Übersetzung, beispielsweise Folgende: »I was […] faced by the doubt as to why the Gītā, which was expounded in ordert o induce to fight […] should contain an exposition oft he manner in which release could be obtained by knowledge (jñāna) or by devotion (bhakti) […] I then got out of the clutches of the commentators, and was convinced that the original Gītā did not preach the philosophy of renunciation (nivṛtti), but of energism (karmayoga)« (B. G. Ṭilak: Śrī Bhagavad Gītā Rahasya or Karma-Yoga Śāstra, First Edition in two Parts, Volume I, 1924, S. xliii–xliv). 44 Ein relativ angemessener Bericht von diesem zentralen Aspekt wird vom Prof. M. M. Minan in seinem Buch über Tilaks Interpretation der arischen Ursprünge der Veden gegeben: »While in prison he [Tilak] wrote the famous ›Gita Rahasya‹ where he interpreted and justified lying, cheating and killing if necessary. He came to the conclusion that the true message of the Gita is selfless action in pursuit of dharma, for Loka Sangraha; that is for preservation of society. While Gandhiji was preaching that the essence of the Gita was ahimsa, Lokamanya established that violence is prescribed for the defense of dharma and destruction of unrighteousness, non-violence is not a creed for all times and in all contexts« (Tilak and the Aryan Origins. Are his Findings still Valid? Global Publishers 2011, S. 9). 42

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Anweisungen zum unausweichlichen Kampf sub specie interioritatis 45 interpretierte und daher das Nichtverletzungsgebot [ahimsā] als absoluten Wert und unberührbare Grundlage der Gītā-Philosophie (bis zu einer vollkommenen Umkehrung von Machtgeweben) erhob. Zwischen der völlig politisierten und der rein spiritualisierten GītāLektüre öffnet sich der Raum einer Reflexion über den konstitutiven Charakter der Gewalt in der Schöpfung in seine Beziehung zur göttlichen Selbst-Gebung – eine Reflexion, die noch weit entfernt davon ist, ihre philosophische Würde zu erreichen.

Dass Gāndhīs Anspruch das Persönliche mit dem Universalen (auf eine dem Christentum ähnliche Weise) verbindet, zeigt folgende Passage seines Buches über die Bhagavad Gītā ganz deutlich: »[…] why should I insist on reading the Gita myself? […] Because I have the necessary humility. I believe that we are all imperfect in one way or another. But I know well enough what dharma means, and have tried to follow it in my life. If I have somewhere deep in me the spirit of dharma and the loving devotion to God, I shall be able to kindle it in you« (M. K. Gandhi: The Bhagavad Gita, New Delhi 1980, S. 17).

45

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Thomas Reitzig (Freiburg im Breisgau)

»In welchen Erscheinungsformen lässt sich Selbst-Gebung als religiöses Prinzip im chinesischen Daoismus identifizieren?« 1.

Einführung

Das Phänomen einer Selbst-Gebung oder Selbst-Gegebenheit als religiöses Prinzip zu untersuchen, dürfte ohne Zweifel und möglicherweise über das rein Wissenschaftliche hinaus vor allem dann von nicht unerheblichem Interesse sein, wenn dieses Phänomen tatsächlich als Prinzip erkannt und damit für die untersuchte Religion oder sogar für »Religion« an sich als Wesensmerkmal beurteilt werden kann. Dieses in Bezug auf den chinesischen Daoismus zu tun, mag dann aber auch noch eine besondere Herausforderung darstellen, da man sich dazu von einer möglicherweise christlichen oder zumindest (mono)theistisch geprägten Denkvorstellung befreien muss, um zur Beantwortung der gestellten Frage die hierfür relevanten Phänomene des Daoismus unvoreingenommen und objektiv betrachten zu können, was mit dem folgenden Beitrag versucht werden soll. In diesem Sinne werden im Folgenden zunächst die hierfür relevanten Aspekte des Daoismus dargestellt, um anschließend die Problematik mit fünf einfach erscheinenden Fragen anzugehen, deren Bearbeitung dann insgesamt eine Antwort auf die im Titel gestellte Frage geben soll.

2.

Die Entwicklung und die verschiedenen Ausprägungen des Daoismus

Der historische Hintergrund für die Entstehung des Daoismus liegt in der Endphase der chinesischen »Zhou-Dynastie«, welche im Jahre 256 vor unserer Zeitrechnung untergegangen ist. Diese Zeit war durch Naturkatastrophen im Gebiet des heutigen China gekennzeichnet, welche jeweils als eine in Unordnung geratene Beziehung zwi175 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Thomas Reitzig

schen Himmel und Erde verstanden wurde. Der starke Drang nach einer Besserung der Situation und nach ordnender Orientierung führte zur Bildung diverser »Schulen«, wie unter anderem auch des Daoismus. 1 Als dessen geistige Grundlage gilt das Schriftwerk »Daodejing«, welches der Überlieferung nach von Lao Zi ungefähr im 6. Jahrhundert v. Chr. verfasst worden sein soll. 2 In der Folgezeit entstand auf der Grundlage dieses Werkes eine geistige Tradition mit dem »Dao« als Ausgangspunkt und Ursprung aller Wesen im Universum und des Universums selbst. 3 Es bringt die zwei Grundkategorien »Yin« und »Yang« hervor, aus denen alles Weitere entsteht. Das, als solches nicht erkennbare, aber immerwährende »Dao« wird außerdem auch als Prinzip für alles Sein und als Konzept für jedes Handeln, möglichst in Übereinstimmung mit den natürlichen Werten, verstanden. 4 Dieses Gedankenmodell wurde in der Folgezeit ständig weiter ausgebaut und entwickelte sich zu einer bedeutenden Tradition, die als »philosophischer Daoismus« bezeichnet wird und als solcher keinerlei religiöse Dimension für sich beansprucht, weswegen diese Ausgestaltung des Daoismus für die Beantwortung der im Titel gestellten Frage vernachlässigt werden kann. Allerdings entstand auf der geistigen Grundlage des »philosophischen Daoismus« eine weitere Ausgestaltung des Daoismus, welche als »religiöser Daoismus« bezeichnet wird und mit ihrem religiösen Anspruch für die zu beantwortende Frage sehr viel mehr relevant sein dürfte. Im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung waren im Gebiet des heutigen China Dürren, Überschwemmungen, Krankheiten und Epidemien häufige Erscheinungen, welche allgemein als dämonische Bestrafungen verstanden wurden. Vor diesem Hintergrund suchten die davon betroffenen Menschen Hilfe bei den verschiedensten Schamanen und Experten, die mit den unterschiedlichsten physischen und spirituellen Methoden versuchten, Heilung zu verschaffen. 5

1 Xinzhong Yao/Yanxia Zhao: Chinese Religion. A Contextual Approach, London/ New York 2010, S. 55 ff. 2 Florian C. Reiter: Taoismus zur Einführung, Hamburg 22003, S. 15 f. 3 Yi’e Wang: Daoism in China, Beijing 2004, S. 15. 4 Reiter: Taoismus, S. 75. 5 Florian C. Reiter: Religionen in China. Geschichte, Alltag, Kultur, München 2002, S. 85 f.

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Selbst-Gebung als religiöses Prinzip im chinesischen Daoismus

In dieser Situation und zu dieser Zeit praktizierte der Einsiedler Zhang Daoling seine eigenen Methoden zur Abhilfe von dem eingetretenen Unheil. Er verstand sich als Nachfolger von Lao Zi und hat auf der Grundlage des »Daodejing« verschiedene Riten, Meditationen und andere Techniken zur erbetenen Hilfe entwickelt. 6 Bei einer mit Gefolgsleuten unternommenen Wallfahrt, welche auf das Jahr 143 datiert wird, erschien dem Zhang Daoling nach Ankündigung durch einen himmlischen Boten der nun zu einem Gott aufgestiegene Lao Zi und übergab ihm »das Schwert, das üble Geister vernichtet, das wichtige Amt der Führung in den religiösen Dingen sowie die Methoden der erleuchtenden Einwirkung der Orthodoxie und Einheit« als die Amtsgewalt, welche die bis heute lebendige Tradition des »religiösen Daoismus« begründet und als deren Ursprung betrachtet wird. 7 In der Nachfolge von Zhang Daoling entstanden dann unterschiedliche Formen des »religiösen Daoismus« mit unterschiedlichen geistigen Orientierungen und Praktiken, die jedoch alle dasselbe Ziel verfolgten, nämlich durch gewisse Verhaltensweisen und Praktiken drohende Unordnung zu verhindern oder eingetretenen Not zumindest zu lindern. Im Verlauf der folgenden Jahrhunderte fanden aber alle Entwicklungen des »religiösen Daoismus« zueinander und »fusionierten«. Bestimmend blieb die Vorstellung, dass in der Nachfolge von Zhang Daoling jeweils ein »Himmelsmeister« (»Tien Shi«) ein Auserwählter ist, der vom Himmel Belehrungen empfängt und diese an die Gefolgsleute weitergibt. Hierzu erhält ein daoistischer Priester eine spezielle Ausbildung in deren Verlauf er so genannte »Register« mit grundsätzlich geheimem Inhalt empfängt. Angeblich erhalten diese Register, deren Teile auch als »Amulette« bezeichnet werden, Zahlen und Namen der himmlischen Beamten, die eine Schlüsselbedeutung für die Anrufungen haben, die wohlgemerkt nicht durch jedes Individuum erfolgen können, sondern die exklusive Angelegenheit eines daoistischen Priesters bedeuten. 8 Zum Inhalt des »religiösen Daoismus« und dessen Dogmatik ist anzumerken, dass in der Volksrepublik China Religion und Politik 6 Roman Malek: Das Tao des Himmels. Die religiöse Tradition Chinas, Freiburg i. Br. 2003, S. 94 f. 7 Reiter: Taoismus, S. 48, S. 44. 8 Reiter: Taoismus, S. 57 ff.

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nicht nur zusammenhängen, sondern Religion und religiöse Angelegenheiten auch als Mittel zur politischen Führung eingesetzt werden. 9 Hierzu wurde schon 1951 das »Staatliche Amt für religiöse Angelegenheiten« geschaffen, welches unverändert und wohl aktuell mehr denn je als »überwachendes« Verbindungsbüro zwischen der Regierung und den religiösen Vereinigungen fungiert 10. Auf diese Weise erfolgt eine ziemlich deutliche Einflussnahme und nicht zuletzt eine politisch beabsichtigte Kontrolle durch Regelungen und bestimmte Vorgaben (glaubens-)inhaltlicher sowie organisatorischer (u. a. genehmigungspflichtige Ernennung von Priestern) und ritueller Art (Genehmigung von Zeremonien, Feiern u. ä.), 11 was bei der Beurteilung von dogmatischen Einzelheiten und für das Verständnis von bestimmten Aspekten der Glaubensvorstellung nicht unberücksichtigt bleiben darf.

3.

WER kann im religiösen Daoismus Subjekt einer Selbst-Gebung sein?

Die gestellte Frage bezieht sich auf die Denkfigur der Selbst-Gebung und wohlgemerkt nicht auf die Vorstellung einer Selbst-Gegebenheit. Letztere hat einen eher resultativen, geschehenen Charakter, welcher die Frage nach einem Subjekt als dem Urheber weniger nahelegt, während diese Frage sich bei der Selbst-Gebung mit ihrem Charakter eines Vorgangs schon eher stellt und beantwortet werden können sollte. Da sich eine Selbst-Gebung im Zusammenhang mit einem religiösen Phänomen, wie dem religiösen Daoismus, auf den Ursprung des eben religiösen Inhaltes bezieht, stellt sich mit der Frage nach dem WER gleichzeitig die Frage nach einer transzendenten Dimension, in der das WER nur verortet werden kann. Im religiösen Daoismus gibt es durchaus eine Vorstellung von Göttern in einer Himmelsdimension, welche dem Erkenntnisvermögen entzogen und in diesem Sinne als transzendent angenommen werden kann. Diese so angenommene Himmelsdimension besteht jedoch aus einer großen Anzahl von hierarchisch klar gegliederten, einYao/Zhao: Chinese Religion, S. 138 ff. Malek: Das Tao, S. 197. 11 Yao/Zhao: Chinese Religion, S. 125 und S. 128. 9

10

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Selbst-Gebung als religiöses Prinzip im chinesischen Daoismus

zelnen Himmeln, in denen zahlreiche Götter wohnen. Diesen werden bestimmte Verantwortungen zugeordnet, welche in den unteren Stufen sehr »praxisrelevant« sind, wie etwa für den Küchengott und ähnliches. 12 Von allen diesen Gottheiten werden jedoch die Schöpfung der Welt und der Ursprung allen Seins nicht angenommen. Im religiösen Daoismus gibt es keine hierarchische Trennung zwischen einem transzendenten Himmel und der Erde, vielmehr bilden Himmel und Erde eine Einheit, 13 einen großen Zusammenhang, dem eine religiöse Qualität zukommt. 14 Diese manifestiert sich in der Überzeugung, dass es keine abstrakte Göttlichkeit gibt, sondern der Kosmos als Gottheit verstanden wird, 15 dem, wie schon oben erwähnt, das Dao als erste Ursache und schon immer vorhanden gedanklich zu Grunde liegt. 16 Dieses »unausprechliche«, gedanklich nicht erfassbare, apersonale Dao scheint damit die einzig denkbare Dimension für eine Selbst-Gebung im religiösen Daoismus zu sein, der auch inhaltlich die notwendige Legitimation zugedacht werden kann. 17 Wenn nun eine Selbst-Gebung als eine Willenskundgabe zu einem Besseren (in einem christlichen Verständnis »zum Heil«) eben mit einem Selbstgebungscharakter verstanden wird, stellt sich so die Frage, ob dieser kundgegebene Wille auch von einer nicht personal gedachten Dimension stammen kann. Es liegt eben keine Inkarnation als die vollkommenste Form der Selbst-Gebung vor und auch nicht ein weniger vollkommener Wille einer Gebung, sondern es scheint eher so, dass mit dem Daodejing und vor allem mit den (potentiell) erhaltenen Anweisungen ein Zugang zum Dao und so ein Verständnis im Sinne des Dao mitgeteilt wird. Damit handelt es sich weniger um eine (mit einem personal gedachten Willen) erfolgende SelbstGebung, sondern vielmehr um eine Selbst-Mitteilung im Sinne einer Selbst-Vermittlung, die auch durchaus apersonal vorgestellt werden kann. The Taoist Association of China: Taoism, Beijing 2002, S. 8. Wolfgang Bauer: »Prinzipien des chinesischen Humanismus«, in: Ruprecht Kurzrock (Hrsg.): China, Geschichte, Philosophie, Religion, Literatur, Technik, Berlin 1980, hier S. 50. 14 Florian C. Reiter: Religionen in China, Geschichte, Alltag, Kultur, München 2002, S. 82. 15 Reiter: Religionen, S. 98. 16 Wang: Daoism, S. 15. 17 The Taoist Association of China: Taoism, S. 12. 12 13

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Für eine so angenommene Selbst-Vermittlung gilt in gleicher Weise wie für eine Selbst-Gebung, dass der »Geber« und die Gabe derselben Identität sind. So gilt auch für beide Formen, dass von den glaubenden Empfängern kein Anspruch auf den Vorgang besteht, der Vorgang erfolgt ohne deren Beitrag und ohne deren Verdienst, wie in der christlichen Vorstellung etwa ein Akt aus Gnade. In gleicher Weise gilt auch, dass die Empfänger keinen Einfluss darauf haben, ob, wann und in welcher Weise eine Selbst-Gebung oder die so erkannte Selbst-Vermittlung erfolgt. Wenn man nun die im religiösen Daoismus so erkannte SelbstVermittlung als eine Form der Selbst-Gebung beurteilt, dann kann man durchaus auch das apersonal gedachte Dao als äquivalent zu dem Subjekt einer Selbst-Gebung betrachten und in diesem Sinne die eingangs gestellte Frage: »WER kann im religiösen Daoismus Subjekt einer Selbst-Gebung sein?« beantworten.

4.

WAS kann im religiösen Daoismus Gegenstand einer Selbst-Gebung sein?

Wie oben schon aufgezeigt, kann im religiösen Daoismus etwa die vollkommenste Form einer Selbst-Gebung, wie eine Inkarnation des Göttlichen, nicht festgestellt werden. Aber auch eine weniger vollkommene Form in Form einer als heilig erkannten Schrift oder ein Sich-Zeigen, in welcher Weise auch immer, liegt im religiösen Daoismus nicht vor. Stattdessen kann nur eine Selbst-Vermittlung des Dao erkannt werden, was im Folgenden noch genauer erkannt werden soll. Wie bereits dargelegt, waren der Auslöser für den bis heute existierenden religiösen Daoismus große menschliche Not durch Naturkatastrophen, welche als eine in Unordnung geratene Beziehung zwischen Himmel und Erde verstanden wurde, für die man mit starkem Drang nach Abhilfe strebte. 18 Anfangs versuchte man, dies mit Hilfe von Schamanen und durch wenig erfolgreiche Praktiken zu erreichen. Erst der erfolgreichere Zhang Daoling konnte mit dem richtigen Verständnis des von Lao Zi mit übernatürlicher Eingebung verfassten Daodejing und entsprechender Hinweise daraus Linderung verschaffen. Der Inhalt dieser Schrift wird seither als die Grundlage für ein 18

Yao/Zhao: Chinese Religion, S. 55.

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Selbst-Gebung als religiöses Prinzip im chinesischen Daoismus

Verständnis des Dao und als ein Aufzeigen des Weges betrachtet, auf welche Weise man in größtmöglicher Übereinstimmung mit dem Dao handelt und lebt. Mit diesem Verständnis liegt es nahe, das Entstehen des Daodejing und seine Existenz in unserer Welt als den Gegenstand einer Selbst-Vermittlung des Dao zu beurteilen. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang auch noch die Erscheinung des (zwischenzeitlich) göttlich gewordenen Lao Zi gegenüber dem Zhang Daoling zu betrachten. Bei diesem Ereignis erhielt Zhang Daoling nicht nur die Machtinsignien für eine religiöse Führung, sondern auch »die Methoden der erleuchtenden Einwirkung der Orthodoxie und Einheit«, wodurch er in die Lage versetzt wurde, die Methoden zur Bekehrung des Volkes einzusetzen. 19 Wie bereits beschrieben, werden diese Kenntnisse bis heute in der daoistischen Priesterschaft eingesetzt und weitergegeben, um mit ihrer Hilfe rituelle Handlungen richtig und mit Erfolg durchführen zu können. 20 Selbst wenn die seinerzeitige Erscheinung in ihren Einzelheiten vielleicht angezweifelt werden mag, so kann dieser Vorgang mit einer Vermittlung des Zuganges zum Dao schließlich auch durch Glauben als selbstgegeben angenommen werden und für eine positive Beantwortung der hier gestellten Frage ebenfalls herangezogen werden.

5.

WIE kann ein Angehöriger des religiösen Daoismus eine Selbst-Gebung erkennen?

Nachdem im religiösen Daoismus die vollkommenste Weise einer Selbst-Gebung in Form einer dann auch leicht wahrnehmbaren Inkarnation des Göttlichen nicht festgestellt werden kann und selbst mit der »gegebenen« Schrift des Daodejing im religiösen Daoismus die Selbst-Gebung mehr durch eine Selbst-Vermittlung erfolgt, mit der ein Verständnis des Dao und eine gewisse Erkenntnis »gegeben« wird, stellt sich die wohl berechtigte Frage, wie in einem solchen Fall diese Selbst-Gebung erkannt werden kann. Das Daodejing ist unstreitig die wesentliche Grundlage für den Glauben im religiösen Daoismus, es wird aber nicht angenommen, dass diese Schrift vom (apersonalen!) Dao »gegeben« wurde und des19 20

Reiter: Taoismus, S. 48. Reiter: Religionen in China, S. 132.

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halb analog so etwas wie einen gottgegebenen Charakter hat oder die Manifestation eines göttlichen Willens bedeutet. 21 Es besteht insofern keine Ähnlichkeit mit vergleichbaren Phänomenen in bekannten Religionen. Vielmehr beschäftigte sich Lao Zi, der Verfasser des Daodejing, als Ratgeber der Herrschenden schon früh mit der Bedeutung des Dao für die menschliche Herrschaft und für das menschliche Leben. Bei der Abfassung des Daodejing handelte er mit einer ihm zugeschriebenen außergewöhnlich großen Einsicht und Weisheit und wurde in der Vorstellung des religiösen Daoismus aufgrund seines Lebens in größter Übereinstimmung mit dem Dao vergöttlicht und ist in den Himmel aufgestiegen. 22 Seine Divinisierung erfolgte demnach aufgrund seiner Lebensführung und erst nach Abfassung des Daodejing, welches deshalb nicht etwa selbst als göttlich betrachtet wird, vielmehr kann sein Inhalt als eine »Selbst-Vermittlung« des Dao verstanden werden, die dem Lao Zi durch seine Geisteshaltung, durch seinen Lebenswandel und durch eine Art innere Öffnung zugänglich wurde. Dieses Verhalten und der so beschriebene Vorgang des Zugangs von Lao Zi zum Inhalt der Selbst-Vermittlung beleuchten möglicherweise einen wesentlichen Umstand, wenn nicht gar eine Voraussetzung, für eine vollständige und somit erfolgreiche Selbst-Gebung oder wie hier Selbst-Vermittlung. Wie bereits festgestellt, erfordert eine Selbst-Gebung einen »Gebenden« als Subjekt des Vorganges, der im Falle einer wie für die im religiösen Daoismus erkannte Form einer Selbst-Vermittlung auch apersonaler Natur sein kann. In gleicher Weise ist auch hier ein »Empfänger« für die »gegebene Gabe« erforderlich, um eine SelbstGebung vollständig werden zu lassen. Erst wenn derjenige, dem die Gebung gilt, auch in das Gebungsgeschehen »hineingenommen« wird, kann man von einer vollständigen und erfolgreichen SelbstGebung sprechen. Wenn aber der Empfänger auf den Vorgang einer solchen SelbstGebung, oder wie hier Selbst-Vermittlung, nicht nur keinen Anspruch, sondern auch keinen Einfluss, etwa in Bezug auf den Ort oder die Zeit des Vorganges nehmen kann, dann stellt sich die Frage, wie der entsprechende Empfänger sich in geeigneter Weise verhalten oder 21 22

Reiter: Taoismus, S. 61 und S. 55. Reiter: Taoismus, S. 15 f.

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Selbst-Gebung als religiöses Prinzip im chinesischen Daoismus

vorbereiten muss, um die Selbst-Vermittlung und deren Inhalt zu erkennen, zu verstehen und so dann wirklich auch empfangen zu können? Der Begründer des religiösen Daoismus, Zhang Daoling, verfolgte mit Lao Zi als Vorbild einen Lebensstil als Einsiedler, um sich mit einer richtigen Haltung, durch Askese und mit einer auch inneren Öffnung der Harmonie mit dem Dao in der besten Weise anzunähern. Wie geschildert, führte das zu einer Begegnung mit dem göttlich gewordene Lao Zi und dem so angenommenen Vorgang der Selbst-Vermittlung des Dao, den der so vorbereitete Zhang Daoling richtig erkennen konnte und verstanden hat. Mit einem solchen Verständnis für die Bedeutung des richtigen Lebenswandels entwickelte sich im religiösen Daoismus für die Nachfolger von Zhang Daoling eine ausgeprägte Selbstkultivierung mit den verschiedensten Ausprägungen, um für einen spirituellen Zugang zu den Sphären jenseits dieser Welt und damit für eine Erkenntnis des richtigen Weges im Einklang mit dem Dao zu jeder Zeit bereit und qualifiziert zu sein. 23 Die für eine vollständige Selbst-Gebung und ebenso auch für die hier festgestellte Selbst-Vermittlung notwendige und erfolgreiche Einbeziehung des Empfangenden eines solchen Vorganges scheint im religiösen Daoismus nicht nur bewusst erkannt, sondern wird auch in einer bewussten Weise berücksichtigt.

6.

WEM kann im religiösen Daoismus eine Selbst-Gebung gelten?

Für die Bedeutung einer Selbst-Gebung oder einer Selbst-Vermittlung im religiösen Daoismus ist es nicht unerheblich, zu klären, WEM die Selbst-Vermittlung überhaupt gilt, gelten kann oder für wen sie als solche erkennbar ist. Wenn mit der erkannten Selbst-Vermittlung grundlegende Inhalte, Anweisungen oder auch rituell wichtige Vorgaben für den Glauben und für das Leben im religiösen Daoismus vermittelt werden, dann liegt es nahe, dass diese Vermittlung allen Anhängern gilt und von diesen insgesamt erkannt und dann berücksichtigt werden.

23

Reiter: Taoismus, S. 128

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Thomas Reitzig

Stattdessen sind die seinerzeit dem Zhang Daoling vermittelten Kenntnisse und Anweisungen nur ihm vermittelt worden und in seiner Nachfolge immer nur an entsprechend ausgebildete Priester weitergegeben worden. Bis in die heutige Zeit ist es tatsächlich nur den Priestern im religiösen Daoismus möglich, mit den beschriebenen Registern in Glaubens- oder rituellen Angelegenheiten die Götter anzurufen und um Erleuchtung oder Beistand zu bitten, was dem einfachen (Glaubens-) Anhänger des religiösen Daoismus nicht möglich ist, weswegen die Gemeinschaft der Daoisten nur aus den daoistischen Priestern besteht und im Glauben alle anderen ansonsten eben nur Anhänger des religiösen Daoismus sind. 24 Die daoistische Vereinigung in China, das offizielle Organ des religiösen Daoismus, berichtet von mehr als 25.000 daoistischen Priestern in China und gibt an, dass die Anzahl der Anhänger des religiösen Daoismus enorm groß und nicht konkret erfasst ist. 25 Es muss also davon ausgegangen werden, dass im religiösen Daoismus eine dort erkannte Selbst-Vermittlung des Dao aufgrund einer schon langen Tradition potentiell nur den Priestern zugänglich ist, die sich entsprechend der daoistischen Überzeugung mit einer asketischen Lebensweise und einer bestimmten Lebensweise dafür qualifizieren. Ihre so erhaltenen Kenntnisse und Fähigkeiten, etwa für bestimmte Opferhandlungen mit der entsprechenden Anrufung, können dann allerdings von den gewöhnlichen Anhängern des religiösen Daoismus erbeten werden. Der Inhalt einer Selbst-Vermittlung des Dao erfolgt im religiösen Daoismus demnach zunächst nur einem kleinen, exklusiven Kreis und durch deren Weitergabe im Ergebnis allen Anhängern im Glauben.

7.

WARUM sollte im religiösen Daoismus eine Selbst-Gebung angenommen werden können?

Mit dieser letzten Frage zur Beurteilung, ob im religiösen Daoismus eine Selbst-Gebung als religiöses Prinzip identifiziert werden kann, soll geklärt werden, was der Zweck oder das Ziel einer Selbst-Gebung,

24 25

Reiter: Taoismus, S. 57 ff., S. 104. The Taoist Association of China: Taoism, S. 11.

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Selbst-Gebung als religiöses Prinzip im chinesischen Daoismus

im religiösen Daoismus als Selbst-Vermittlung erkannt, ist oder sein könnte. Die bereits beschriebene Ausgangslage für den religiösen Daoismus war die eingetretene Not individueller wie gesellschaftlicher Art, welche als die Folge einer in Unordnung geratene Beziehung zwischen Himmel und Erde verstanden wurde. Grundlage dieses Denkens war der bereits bestehende philosophische Daoismus mit der Überzeugung, dass das Dao als der Ursprung des ganzen Universums der einzige Ansatzpunkt für die ersehnte Hilfe sein musste. Allerdings war die Beziehung zum Dao unklar und es entstanden diverse »Schulen« und eine Hochphase für zahlreiche Schamanen mit ihren Praktiken, um die als verloren geglaubte Harmonie mit dem Dao wieder herzustellen. In diesem Szenario konnte Zhang Daoling mit seiner Überzeugung, inneren Haltung und Lebensweise viele Anhänger für sich gewinnen und bei einer Wallfahrt kam es dann zu dem als Selbst-Vermittlung des Dao angenommenen Vorgang. Im Glauben des so entstandenen religiösen Daoismus entstand erst durch diesen Vorgang die Erkenntnis, in welcher Lebensweise und in welcher Art des sozialen Miteinanders die von allen erstrebte Harmonie mit dem Dao entstehen kann und besteht und damit auch die Erkenntnis, wie die Entzweiung vom Dao, die durch das Ungleichgewicht entstanden ist, überwunden werden kann. Das Erreichen einer umfänglichen Harmonie, verstanden als die Herstellung des ursprünglichen Zustandes zwischen dem Dao und dem Kosmos, war und ist auch heute der Wunsch eines jeden Anhängers und Angehörigen des religiösen Daoismus. Nur auf diese Weise ist ein persönliches Wohlergehen und ein sozialer Friede möglich. 26 Das richtige Verständnis des Daodejing und die Kenntnisse eines daoistischen Priesters, wie sie in der Selbst-Vermittlung gegenüber dem Zhang Daoling aufgezeigt wurden, bilden im daoistischen Glauben dafür die unentbehrliche und auf keine andere Weise erhältliche Grundlage, womit das denkbare Ziel und der mögliche Zweck einer Selbst-Vermittlung im religiösen Daoismus angenommen werden kann. Neben dieser eher allgemeinen Beschreibung gibt es auch noch eine individuelle Dimension der Selbst-Vermittlung im religiösen

26

Philip Clart: Die Religionen Chinas, Göttingen 2009, S. 160 f.

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Daoismus mit einer konkreten Bedeutung für den einzelnen daoistischen Priester. Die an Zhang Daoling vermittelten Erkenntnisse bezogen sich auch auf die Harmonie im persönlichen Inneren und Anweisungen, wie ein Priester in immer besserer Weise die Übereinstimmung mit dem Dao erreichen kann und wie er den Weg zu einem Himmelsmeister erfolgreich gestalten kann, um im besten Falle sogar die angestrebte Unsterblichkeit zu erreichen, die dann eintritt, wenn er durch erfolgreiche Selbstkultivierung die völlige Harmonie mit dem Dao erreicht und divinisiert wird. 27 Im Verständnis des religiösen Daoismus ist dies nach Lao Zi bisher jedoch nur Zhang Daoling widerfahren. Es bleibt aber festzuhalten, dass im religiösen Daoismus auf diese Weise ein weiteres und nicht ein generelles, sondern ein sehr individuelles Ziel einer Selbst-Vermittlung angenommen werden kann.

8.

Zusammenfassung

Mit der Beantwortung aller im Verlauf dieses Beitrags gestellten Fragen wurde geklärt, dass eine transzendente Dimension auch mit einem apersonal gedachten Dao als Subjekt und damit als »Geber« einer Selbst-Gebung vorstellbar ist und eine erkannte »Selbst-Vermittlung« des Dao ebenfalls als Selbst-Gebung denkbar ist. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass der identifizierte Vorgang der Selbst-Vermittlung vom Empfänger der Vermittlung erkannt und angenommen wird, sodass mit der Selbst-Vermittlung des Dao im religiösen Daoismus ein vollständiger Vorgang einer Selbst-Gebung vorliegt. Wie in anderen Religionen wird auch im religiösen Daoismus mit einem spezifischen Glaubensinhalt nach Vollkommenheit und Glück gesucht, was andernorts mehr als »Heil« beschrieben und im religiösen Daoismus als Harmonie bezeichnet wird, wobei dies dort mehr als die Überwindung der Entzweiung und die Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit mit dem Dao verstanden wird. Die im religiösen Daoismus als Selbst-Gebung erkannte SelbstVermittlung des Dao mag dabei vielleicht nicht so direkt als einheits-

27

The Taoist Association of China: Taoism, S. 9.

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Selbst-Gebung als religiöses Prinzip im chinesischen Daoismus

stiftend erscheinen, aber auf der Grundlage des hier Erarbeiteten doch zumindest als einheitsermöglichend. Mit dieser religiösen Relevanz sollte die so beschriebene SelbstVermittlung tatsächlich als religiöses Prinzip im Sinne eines konstitutiven Bestimmungselementes für den religiösen Daoismus identifiziert werden können.

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III. Ein Beispiel für die psychoanalytische und die literaturwissenschaftliche Bedeutungsdimension von »Selbstgebung«

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Ullrich Glatthaar (Freiburg im Breisgau)

Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung und ihre Bedeutung für das Motiv der Selbstsuche und Selbstfindung im literarischen Werk Hermann Hesses 1.

Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung

1.1. Einführung – die zentralen Kernanliegen Carl Gustav Jung (1875–1961) gehört zusammen mit Alfred Adler und Sigmund Freud zu den drei wichtigsten Wegbereitern und Begründer der Tiefenpsychologie. Seine von ihm begründete psychologische Schule nannte er Analytische Psychologie, später auch Komplexe Psychologie. Jung gilt als einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten Selbst-Psychologie und ebenso als einer der einflussreichsten und bedeutendsten Psychologen des 20. Jahrhunderts. Bei Jung herrscht eine starke wechselseitige Verbindung zwischen Leben und Werk vor: 1 »Meine Werke können als Stationen meines Lebens angesehen werden; sie sind Ausdruck meiner inneren Entwicklung, denn die Beschäftigung mit den Inhalten des Unbewussten formt den Menschen und bewirkt seine Wandlung […]. Alle meine Schriften sind sozusagen Aufträge von innen her; sie entstanden unter einem schicksalhaften Zwang … und ich musste das sagen, was niemand hören will.« 2

Genau diese Auseinandersetzung mit den Inhalten des Unbewussten imponiert Jung schon in der Zeit seiner Studentenjahre. Dabei ist Vgl. Helmut E. Lück: »C. G. Jung – Analytische Psychologie, Typen der Persönlichkeit und die Archetypen«, in: Die psychologische Hintertreppe, Die bedeutenden Psychologinnen und Psychologen in Leben und Werk, Freiburg i. Br. 2016, S. 115 f. 2 C. G. Jung: Erinnerungen, Träume und Gedanken von C. G. Jung, hrsg. v. Aniela Jaffé, Zürich/Stuttgart 1962, S. 225; zitiert nach Lück: Die psychologische Hintertreppe, S. 115. – Jung über den autobiographischen Charakter seiner Schriften: »Mein Leben ist die Geschichte einer Selbstverwirklichung des Unbewussten.« (zitiert nach Gerhard Wehr: C. G. Jung, Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 139). 1

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Friedrich Nietzsche derjenige, durch den Jung entscheidende Impulse für sein Leben und Werk empfängt. Nietzsche hatte eine überaus starke Einwirkung auf den jungen Baseler Medizinstudenten. Nietzsches feinfühlige Fokussierung auf die unbewussten Seelenregungen im Menschen jenseits der Moral begeistern den Studenten Jung.3 So wird es in Jungs Lebenswerk um die nietzscheanische Gretchenfrage gehen: »Wie man wird, was man ist.« 4 Jung betont die Introversion, die Wendung nach innen, d. h., dass die äußere Welt unwesentlich und akzidentiell ist und nur das Innere des Menschen, gemeint ist das seelische Erleben, als substanzhaft und bestimmend für die Existenz des Menschen angesehen werden kann. Somit ist für Jung nur die psychologische Dimension und deren Wirkung die letztgültige Wahrheit für den Menschen: »Die Psyche ist existent, sie ist sogar die Existenz selber.« 5 Letztlich wollte Jung mit seinem Werk eine Antwort geben auf die letzten Fragen des Menschseins. Jungs Werk ist als ein fast schon religiöses Angebot zu verstehen, dem ureigenen menschlichen Bedürfnis nachzukommen, der Frage nach dem eigenen Lebenssinn nachzuspüren: 6 »Vielmehr geht es stets um den Fragenden selbst. Es geht um die Frage nach dem Woher und Wohin, nach dem Warum und Wozu menschlicher Existenz überhaupt. Es geht um die Zukunft und um die konkreten Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Damit kommen jene Dimensionen der Wirklichkeit in Sicht, die über die Bereiche der Zwecke und der Dinge ins Unbedingte hinausweisen.« 7

Einerseits stehen bei Jung der individuelle Charakter der Seele, die einzigartige Persönlichkeit und deren Entfaltung im Fokus, andererseits fragt er aber nach dem überindividuellen, objektiven Inhalt der individuellen Seele. Das Überindividuelle und Transpersonale spielt in Jungs Theorie eine maßgebliche Rolle und dominiert sein gesamtes Denken. Seine populärste Theorie vom kollektiven Unbewussten mit seinen Archetypen klingt hier bereits an. Diese archetypische DimenVgl. Wehr: C. G. Jung, S. 53. Insgesamt zur Thematik von Nietzsche als Tiefenpsychologe vgl. Friedrich Nietzsche: Du sollst der werden, der du bist! Psychologische Texte, hrsg. v. Gerhard Wehr, Stuttgart 2012. 5 C. G. Jung: Psychologie und Religion (1940), hrsg. v. Lorenz Jung, München 1991, S. 15. 6 Vgl. Wehr: C. G. Jung, S. 8 f. 7 Wehr: C. G. Jung, S. 9. 3 4

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Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung

sion im Leben eines jeden Menschen wahrzunehmen und für die seelische Entwicklung fruchtbar zu machen, ist ein wesentliches Kennzeichen Jung’scher Psychologie. 8 Jung scheut sich nicht davor bis an die Grenzen der Psyche zu gehen; dies tut er, um die menschliche Seele in ihrer Ganzheit auszuleuchten, denn das alles überstrahlende Thema und Ziel der Analytischen Psychologie im Sinne Jungs ist es, seelische Ganzheit zu erreichen. Diese kann nach Jung nur gelingen, indem der Mensch dazu befähigt wird, sich widersprechende und entgegengesetzte Aspekte der eigenen Persönlichkeit miteinander zu versöhnen und zu integrieren; es geht also um die Vereinigung der Gegensätze innerhalb der eigenen Psyche. Jung spricht hierbei vom mysterium coniunctionis. Dieser Weg zur seelischen Ganzheit ist ein lebenslanger Prozess der Reifung, den Jung mit dem Terminus der Individuation umschreibt; dieser Weg zur vollen Menschwerdung ist das zentrale Thema seiner Psychologie. 9 Der Jung’sche Ansatz muss letztlich unbegreiflich bleiben, wenn nicht das Grundaxiom seiner Analytischen Psychologie ständig mitgedacht wird: die Relation des Ichs zu seinem transzendenten Persönlichkeitskern, dem Selbst. Das Selbst als das principium individuationis ist das Proprium der Lehre Jungs und der alles entscheidende Faktor auf dem Pfad der Selbstwerdung. Das Selbst ist bei Jung der hermetische Punkt, um den alles kreist. 10 Jungs Theorien und Ideen sollen den Menschen zur Erkenntnis führen, dass die bewusste Persönlichkeit eben nicht die vollständige Persönlichkeit repräsentiert, sondern dass es daneben auch vielfältige unbewusste Facetten der Persönlichkeit gibt – Jung spricht hier von Komplexen –, die aber ebenso zur Ganzheit der Person gehören. Jung war davon überzeugt, dass alles Seelische zu einer Ganzheit drängt. Jung sah in der Erschließung des Unbewussten eine unendliche QuelVgl. Wehr: C. G. Jung, S. 9. Vgl. Wehr: C. G. Jung, S. 31. 10 Die Erfahrung der Ganzheit ist für Jung eine Art Gotteserfahrung, die Erfahrung des Archetyps des Selbst. So Uwe Wolff zur Jung’schen Apotheose des Selbst: »Dieses neue Zentrum nennt Jung im Gegensatz zum Ich das Selbst, und er deutet dieses Selbst als Gottesbild, ja die Gegenwart Gottes in der individuellen menschlichen Seele. Die Person hat somit eine neue Mitte bekommen, über die das Ich in keiner Weise verfügt, zu der es sich vielmehr passiv, dienend und empfangend verhält. So ist das Selbst der innere Gott, der Christus in nobis.« (Uwe Wolff: Hermann Hesse. Demian – Die Botschaft vom Selbst, Bonn 1979, S. 24). 8 9

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Ullrich Glatthaar

le der Selbsterkenntnis zur Erschließung immer neuer Aspekte der eigenen Person. Dabei ist die Entschlüsselung der archetypischen Botschaften und Motive des Unbewussten durch Symbole von zentraler Bedeutung. Jungs Lebenswerk besteht darin, dass er den Menschen ermutigt und dazu einlädt, den Gang in die Tiefe seiner Seele anzutreten, um die verborgene, zunächst nicht zugängliche, geheimnisvolle, unbewusst apriorische Wesensseite der eigenen Persönlichkeit kennenzulernen und zu integrieren. 11 Hier leuchtet bereits auf, was mit der Selbst-Gegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung gemeint ist. Das abschließende Zitat fasst summarisch das psychologische Anliegen und Bestreben des Tiefenpsychologen zusammen: »Der ›rationale Mensch‹ […] liefert allenfalls eine Teilbeschreibung des wirklichen Menschen. Menschen werden von psychischen Kräften getrieben und von Gedanken motiviert, die nicht auf rationalen Prozessen beruhen – sie unterliegen Bildern und Einflüssen jenseits dessen, was sich in der beobachtbaren Umwelt messen läßt. Das Bemühen um ein Verständnis dieser weniger rationalen Seite der menschlichen Natur führte Jung dazu, sein ganzes Leben darauf zu verwenden, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden zu erforschen, was menschliche Emotionen, Phantasien und das menschliche Verhalten formt und beeinflußt.« 12

1.2. Die Individuation als ein Weg der Verwirklichung der Selbst-Gegebenheit Das eigentliche Thema im Werk von C. G. Jung ist die Individuation. Dieser Terminus umfasst im Jung’schen Sinne den Prozess der Selbstwerdung des Menschen. Das Lebensziel eines jeden Mensch, das Aufgabe und Herausforderung zugleich darstellt, ist es die Ganzheit der individuellen Gesamtpersönlichkeit zu erreichen. Dies kann nur durch die Integration des Unbewussten gelingen. Jung spricht im Kontext des Individuationsweges stets vom Prozess der Gegensatzvereinigung, dem mysterium coniunctionis, und zielt dabei primär 13 Vgl. Wehr: C. G. Jung, S. 43–52. Murray Stein: Jungs Landkarte der Seele. Eine Einführung, Ulm 42011, S. 50 f. 13 Im Rahmen des Individuationsprozesses haben die Auseinandersetzung mit dem Schatten und die Syzygie (Anima/Animus) einen vorrangigen Stellenwert. Im weiteren Lebensverlauf geht es um die Integration vieler weiterer Facetten der unbewussten Persönlichkeit, die sich in Form von Archetypen des kollektiven Unbewuss11 12

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Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung

auf die Auseinandersetzung mit dem persönlichen Schatten 14 sowie auf die Konfrontation mit dem Seelenbild der Anima und des Animus 15 ab. Die Integration und letztliche Annahme dieser beiden zentralen Persönlichkeitsanteile der unbewussten Psyche ist sehr bedeutsam für den Individuationsweg. »Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und insofern wir unter Individuation unsere innerste, letzte und vergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden.« 16 Dabei ist die willentliche Bereitschaft des Ichs von Bedeutung, um die abgespaltenen Persönlichkeitsanteile der unbewussten Psyche bis zu einem gewissen Grad integrieren zu können. Die Neurose hat nach Jung ihre Ursache in der Verweigerung anstehender Entwicklungsaufgaben, was einem Abbruch des Dialogs mit dem Unbewussten entspricht. Die Erfahrung der psychischen Ganzheit beschreibt Jung als das »Auftauchen des Archetyps des Selbst« in der psychischen Struktur und im Bewusstsein. So liegt ten manifestieren und vor allem durch die Traumdeutung in einer Symbol- und Bildersprache ihren Ausdruck finden und so ins Bewusstsein gelangen. Jung beschrieb fünf grundlegenden Lebensphasen, die spezifischer archetypischer Kräfte bedürfen, wenn der Individuationsweg gelingen soll. Diese Lebensphasen sind: die Kindheit, die Adoleszenz, die Lebensmitte, die Lebenswende und schließlich die Annäherung an die Weisheit und den Tod (vgl. Gerhard Wehr: Selbsterfahrung durch C. G. Jung. Die Entdeckung des eigenen Ich, Augsburg 1993, S. 51–56). 14 Der Schatten bildet in der Analytischen Psychologie bei Jung den Gegenspieler zur Persona. Der nach außen gerichtete Aspekt des Ich-Bewusstseins nennt Jung die Persona. Die Persona dient der Anpassung an die Außenwelt im Sinne eines normgebundenen, sozialverträglichen Verhaltens. Jung bezeichnet die Persona auch als eine Art Maske, welche die wahre Natur des Individuums verdecken möchte. Dagegen setzt sich der Schatten, der Teil des individuellen Unbewussten ist, aus all jenen Aspekten, Neigungen und Eigenschaften eines Menschen zusammen, die mit den bewussten Identifikationen des Ichs als unvereinbar gelten. Zu Persona und Schatten vgl. Wolfgang Roth: C. G. Jung verstehen – Grundlagen der Analytischen Psychologie, Ostfildern 22011, S. 65–84. 15 Die beiden Archetypen der Anima (Mutterarchetypus) und des Animus (Vaterarchetypus) spielen als der jeweils gegengeschlechtliche unbewusste Seelenanteil eine entscheidende Rolle bei Jung. Die Anima ist in diesem Denkansatz dem Mann vorbehalten, der Animus der Frau. In den Produktionen des Unbewussten im Traum manifestieren sich derartige Anima- bzw. Animusbilder, ebenso treten sie hervor in der Projektion auf einen gegengeschlechtlichen Menschen. Die Auseinandersetzung mit dem gegengeschlechtlichen Archetypus wird in der Jung’schen Schule zu einer nahezu dogmatischen Grundvoraussetzung im Individuationsprozess, da diese beiden Archetypen das jeweilige unbewusste, jedoch zu integrierende gegengeschlechtliche Potential verkörpern (vgl. Roth: C. G. Jung verstehen, S. 123–155). 16 C. G. Jung: »Vom Werden der Persönlichkeit«, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, Olten 1972, S. 207.

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der letztliche Vollzug der Selbstwerdung nicht im Verfügungsbereich des empirischen Ichs. Das Ich wird bei Jung lediglich als Empfangsorgan (Empfänger der Gabe) gedacht, weil das Selbst (apriorische Selbst-Gegebenheit) die eigentliche psychische Energie darstellt, die nach Ganzheit strebt. 17 Es muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass der Begriff des Selbst gewisse Verständnisschwierigkeiten mit sich bringt, da er bei Jung nicht eindeutig definiert ist. Dennoch können zwei wichtige Wesensbestimmungen des Selbst angeführt werden: Einerseits stellt das Selbst den Gesamtumfang aller psychischen Phänomene dar; hier ist das Selbst die Totalität der gesamten Psyche. Andererseits meint Jung mit dem Selbst das transzendente Zentrum der Persönlichkeit. Jung erkannte, dass das Unbewusste ein Ziel verfolgt und eine finale Orientierung besitzt. Dieses Phänomen, dass in der unbewussten Psyche ein autonomer Antrieb tätig ist, der das gesamte seelische Potential zur Entfaltung und Vollendung führen möchte, beschreibt Jung mit der Anwesenheit des Archetyps des Selbst. Das Selbst ist gleichsam wie ein unbewusstes Sehnen und Verlangen, eine Kraft und Dynamik, die das seelische Wachstum hin zur Ganzheit bewirkt und ermöglicht. So kann die Funktion des Selbst damit beschrieben werden, dass es als inneres, leitendes Zentrum fungiert, das nicht mit dem Bewusstsein identisch ist und eine andauernde Ausweitung und Reife der Persönlichkeit anstrebt. 18 Des Weiteren denkt Jung seinen primären Archetyp des Selbst mit einer transzendenten Dimension. So kann Jungs Konzeption von der Transzendenz des Selbst folgendermaßen beschrieben werden: »Für Jung ist das Selbst transzendent, das heißt, es wird nicht durch den psychischen Bereich definiert und ist nicht in ihm enthalten, sondern liegt jenseits von ihm und definiert ihn seinerseits. […] Für Jung ist das Selbst paradoxerweise nicht ›man selbst‹. Es ist mehr als die eigene Subjektivität, und sein Wesen liegt jenseits des subjektiven Bereichs. Das Selbst bildet den Urgrund für die Gemeinschaft des Subjektes mit der Welt, mit den Grundelementen des Seins. Im Selbst sind Subjekt und Objekt, Ich und andere in einem gemeinsamen Struktur- und Energiefeld miteinander verbunden.« 19 17 Vgl. Stein: C. G. Jungs Landkarte der Seele, S. 201–231. – Jung verwendet sein ganzes Werk darauf, seine Theorie des Selbst immer wieder neu zu darzulegen, wenngleich die gedanklichen Ansätze zur Konzeption des Selbst alle schon seit etwa 1912 vorliegen. 18 Vgl. Roth: C. G. Jung verstehen, S. 180. 19 Stein: C. G. Jungs Landkarte der Seele, S. 181.

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Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung

Das Selbst ist somit der Jung’sche Einheitspunkt, der das Subjekt mit sich selbst und mit der Welt verbindet. Wenn Jung vom Selbst sprach, bezog er sich oft auch auf die göttliche Wirkung. Zudem bezeichnet Jung das Selbst als einen numinosen Faktor. Die Erfahrung von Archetypen ist für den Menschen stets mit dem Gefühl des Numinosen verbunden. Numinosität versetzt das Subjekt in den Zustand der Ergriffenheit und willenlosen Ergebenheit. 20 Letztlich war Jung von der persönlichen Erfahrung inspiriert, dass es eine lebendige Kommunikation zwischen dem Ich-Bewusstsein und dem Selbst geben müsse. Das transzendente Selbst kann im Bewusstsein realisiert werden, indem es Symbole der Ganzheit hervorbringt wie das Kreuz, den Kreis, das Quadrat und komplexe Mandala-Figuren. 21 Durch diesen Vorgang wird das Selbst zur empirischen Wirklichkeit innerhalb der Psyche und stellt sein apriorisches Vorhandensein unter Beweis. In der Begrifflichkeit des Dialogs oder der Kommunikation zwischen Ich-Bewusstsein und Selbst ist dann das Selbst wie eine innere Stimme, die für einen ganz bestimmten Wert eintritt; dieser Wert ist die Verwirklichung der jeweiligen inneren Bestimmung eines Menschen. Im Selbst liegt die höchste Form des Selbstbewusstseins, sozusagen die bestmögliche Version der eigenen Person (Ideal-Ich); Jung spricht hier von der Imago Dei, der Gottesebenbildlichkeit, die jeder Mensch besitzt. Das Selbst stellt somit ein Ideal-Ich im Unbewussten dar, das im Ich-Bewusstsein nach Verwirklichung strebt. Für die gesamte Lebensdauer und Lebensentwicklung ist der Archetyp des Selbst tätig. Auf dem Pfad der Selbstfindung ist der Archetyp des Selbst als principium individuationis der Garant dafür, alle Möglichkeiten der bewussten und unbewussten Persönlichkeit zu erkennen, zu integrieren und zu verwirklichen. Für Jung bot das Konzept des Selbst die

20 Den Begriff des Numinosen entlehnt Jung der vergleichenden Religionsphänomenologie Rudolf Ottos und seiner Schrift Das Heilige aus dem Jahr 1917. Jungs Begriff des Unbewussten wird so zu etwas Überwältigendem. Jung deutete so das Unbewusste zu einem empirisch erforschbaren Gott um. Denn Gott und das Unbewusste teilen die Gemeinsamkeit, dass sie den Menschen überwältigen. Jung ist der Auffassung, dass empirisch sowohl das Unbewusste als auch Gott im Begriff des Numinosen zusammenfließen, beide ermöglichen eine religiöse Erfahrung. Das Numinose ist das Unbekannte schlechthin (vgl. Brumlik: C. G. Jung zur Einführung, S. 64 f.). 21 Zur Erkennbarkeit und Symbolik des Selbst vgl. C. G. Jungs Werk Aion, das 1951 als umfangreiche Monographie über den Archetypus des Selbst mit dem Untertitel Beitrage zur Symbolik des Selbst erschien.

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bestmögliche Erklärung für die zentralen Geheimnisse der menschlichen Psyche. 22

1.3. Eine Wesensbestimmung der Selbst-Gegebenheit individueller Identität Unter Berücksichtigung der bisher dargestellten Inhalte der Jung’schen Lehre soll nun abschließend festgestellt werden, was die Selbst-Gegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung bedeutet. Der Terminus der Selbstgegebenheit impliziert, dass ein Ereignis in der Vergangenheit Auswirkungen hat auf die künftige Existenz eines Individuums und dessen Identität. Die individuelle Identität ist nach Jung abhängig von etwas Vorgegebenem. Der Mensch ist somit sich selbst aufgegeben. Will man die Selbstgegebenheit verorten, so ist sie nach Jung zweifelsohne in der menschlichen Psyche anzutreffen, genauer in der unbewussten Tiefenpsyche. Jungs Interesse gilt weniger dem individuellen Unbewussten, vielmehr steht das Postulat eines kollektiven Unbewussten im Mittelpunkt seiner Theorie: die Vorstellung von einer universalen, transpersonalen, unbewussten Seelen-Matrix der ganzen Menschheit, deren Inhalte ausschließlich durch Vererbung weitergegeben werden. Der Inhalt des kollektiven Unbewussten besteht nach Jung aus präexistenten Formen, den sogenannten Archetypen; sie bilden die Formalstruktur des Unbewussten. Archetypen sind also universell vorhandene Urbilder in der Seele aller Menschen, unabhängig von ihrer Geschichte und Kultur. Jung spricht auch vom »Apriori aller menschlichen Tätigkeiten, und das ist die angeborene und damit vorbewusste individuelle Struktur der Psyche« 23. Vgl. Stein: C. G. Jungs Landkarte der Seele, S. 199 f. C. G. Jung: »Über den Begriff des Archetypus (1938)«, in: Lorenz Jung (Hrsg.): C. G. Jung – Archetypen. München 32016, S. 98. – Jung betont ausdrücklich, dass es sich bei den Archetypen nicht um eine allgemeine Vorprägung handele, sondern eben um eine vorbewusste individuelle Struktur der Psyche. Somit ist die menschliche Individualität, der je individuelle Charakter eines Menschen, nach Jung bereits in den Archetypen angelegt, ebenso das spezifisch Menschliche; sie konstituieren die Gattung Mensch. Des Weiteren geht Jung davon aus, dass sich in den Archetypen alle bedeutsamen Lebensereignisse und elementarsten menschlichen Erfahrungen symbolisch wiederspiegeln. Da aber die menschlichen Grunderfahrungen nicht unbegrenzt sind, ist auch die Zahl der Archetypen begrenzt (vgl. Stein: C. G. Jungs Landkarte der Seele, S. 106–127).

22 23

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Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung

Es sind lebendige Bereitschaften und Formen, die instinktmäßig das gesamte Denken, Fühlen und Handeln des Menschen beeinflussen. Die Archetypen können als unbewusste Motivationsstrukturen menschlichen Handelns aufgefasst werden, da sie stets auf die gezielte Verwirklichung eines Zustandes drängen. Also nicht nur der besondere Archetyp des Selbst, welcher der Seele immer wieder zur Ganzheit verhilft, sondern eben alle Archetypen besitzen eine teleologische Ausrichtung. 24 Jung spricht im Kontext seiner Archetypen vom Apriori der Seele, einer Vorprägung der unbewussten Inhalte. Demnach bezeichnet die Selbst-Gegebenheit ein zunächst passives Moment, weil der Mensch keinen Einfluss nehmen kann auf seine vorgegebene psychische Konstitution. Ein Leben lang wird diese apriorische Urprägung der Tiefenseele, die sich aus archetypischen Elementen des kollektiven Unbewussten konstituiert, das Erleben der eigenen individuellen Identität entscheidend mitbestimmen. Die Selbst-Gegebenheit individueller Identität setzt sich nach Jung aus der Gesamtheit aller Persönlichkeitskomplexe zusammen, womit auch das Ich-Bewusstsein darin eingeschlossen ist. Dabei markiert das Ich-Bewusstsein nur einen kleinen Anteil der Selbst-Gegebenheit. Nur diese wenigen Inhalte sind bewusst und erkennbar. Das Ich-Bewusstsein als bewusster und zugänglicher Teil der Persönlichkeit ist gleichsam nur die Spitze eines Eisberges, dessen großer Rest, das Unbewusste, dem Menschen zunächst nicht zugänglich ist und nur durch die Vermittlung eines Mediums erkannt und damit dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden kann. Das Ich-Bewusstsein ist nach Jung ein Abkömmling des Unbewussten und gründet darauf. Wie kann aber das Meer des Unbewussten zugänglich gemacht werden, um die Komplexität der Tiefenseele und deren vielfältige Teilaspekte und Teilpersönlichkeiten bewusst zu machen? Gleichzeitig setzt sich aus diesen vielfältigen Facetten und Teilaspekten der unbewussten Psyche die jeweilige individuelle Identität eines Menschen zusammen. Jungs Schlüssel liegt in dem dynamischen Austausch, in der lebendigen Kommunikation zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten. Zwischen beiden Instanzen besteht ein korrelatives Verhältnis, d. h., nicht nur das Unbewusste hat Wirkung auf das Bewusste, sondern auch das Bewusste beeinflusst das Unbewusste. SoInsgesamt zur Thematik der Archetypen vgl. Roth: C. G. Jung verstehen, S. 95– 122.

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mit vollzieht sich die Selbst-Gegebenheit individueller Identität in einem ständigen Dialog zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten. Wie können aber die zunächst im Verborgenen liegenden Inhalte des kollektiven Unbewussten auf eine Bewusstseinsebene gehoben und die Archetypen entschlüsselt werden? Jung ist der Auffassung, dass der wichtigste Zugang zum Unbewussten im genauen Erfassen von Symbolen liegt. Für Jung drückt sich das Unbewusste vor allem in Form von Symbolen aus, die sich wiederum in Träumen manifestieren. Aus diesem Grund liegt ein Schwerpunkt in Jungs Analytischer Psychologie auf der symbolhaften und subjektstufigen Traumdeutung. Das heißt konkret, dass alle Elemente des Traumes als eigene Persönlichkeitsaspekte des Träumers angesehen werden können. Symbole haben also die Funktion mittels eines Traumes unbewusste Inhalte bewusst zu machen. Um den Code der Symbolsprache des Unbewussten zu entziffern, bedarf es bestimmter Ausdrucksformen. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Träumen und die Entschlüsselung der darin enthaltenen Symbole werden so zu zentralen Forderungen Jungs. 25 Von großer Wichtigkeit ist hierbei der Zusammenhang von Archetypus und Symbol. Archetypen als wesentliche Strukturelemente im kollektiven Unbewussten haben die bedeutsame Eigenschaft, Botschaften und Themen, für die sie stehen, in symbolhafter Darstellung dem Bewusstsein zugänglich zu machen. Grundlage für jedes Symbol ist somit ein unbewusster Archetypus, wobei die Form des Symbols aus der je individuellen Vorstellung hervorgeht, die das Bewusstsein sich erworben hat, d. h., derselbe Archetyp wird von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich symbolisiert. Das Symbol ist somit ein verbildlichter Archetyp. Der Individuationsweg ist nach Jung ohne die Bedeutung und Wirkung der Symbole nicht denkbar. 26 Kommt es zur Entschlüsselung des Unbewussten und damit zur Ermöglichung der Erkenntnis der unbewussten Inhalte, dann wird das bisher Unbekannte und Verborgene zur zugänglichen und erkennbaren Gabe. Die Ermöglichung der Integration der unbewussten Inhalte führt zu einer Steigerung der Selbsterkenntnis und eine Bewusstseinserweiterung vollzieht sich. Die noch unbekannte und unbewusste Persönlichkeitsstruktur ist nach Jung also prinzipiell erkennbar. Individuation nach Jung meint demnach den lebenslangen 25 26

Vgl. Roth: C. G. Jung verstehen, S. 84–94. Vgl. Roth: C. G. Jung verstehen, S. 159–163.

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Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung

Weg der Verwirklichung der Selbst-Gegebenheit durch die Übersetzung der unbewussten archetypischen Elemente ins Bewusstsein. Nur durch die Erschließung der archetypischen Dimension kann der Mensch seelisches Wachstum und seelische Ganzheit erreichen und das unendliche Potential der Seele verwirklichen. Durch den Jung’schen Individuationsweg kann sich der Mensch in seiner Selbst-Gegebenheit immer mehr in seiner individuellen Identität entfalten: er kann so immer mehr werden, was er ist und was er alles sein kann.

2.

Die Bedeutung der Analytischen Psychologie C. G. Jungs für das Motiv der Selbstwerdung im literarischen Werk Hermann Hesses

2.1. Hesses einflussreiche Begegnung mit der Psychoanalyse Die Epoche des Ersten Weltkrieges ist auch für Hermann Hesse (1877–1962) eine Zeit der äußeren und inneren Zerrüttung, denn er durchlebt in dieser Phase seines Lebens eine gewaltige Lebenskrise, erleidet einen Nervenzusammenbruch und erlebt sich psychisch labil und depressiv. Hesse sehnt sich nach einem Neuanfang. So unterzieht sich der Schriftsteller ab 1916 einer ausführlichen Psychoanalyse bei dem Jung-Schüler Joseph Bernhard Lang. Durch seinen Therapeuten lernt Hesse die noch junge Lehre des Schweizer Tiefenpsychologen C. G. Jung kennen. Die Therapie bei Lang bringt Hesse dazu, sich zum ersten Mal und über einen längeren Zeitraum mit sich selbst und seinem eigenen Seelenleben auseinanderzusetzen. Die Psychoanalyse wird für ihn so zur Schule unbedingter Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst. Hesse wird dem Ruf nach Authentizität, sich selbst und seinem seelischen Erleben gerecht zu werden, radikal folgen. Sein Leben und sein Werk vollzieht eine kolossale Metamorphose unter dem Stern der Individuation. Der Weg der Selbsterkenntnis – so weiß Hesse nun – führt in die Tiefen des Unbewussten. 27 »Wir wollen nämlich, wenigstens für ein einziges Mal, alle Werturteile weglassen und uns selber ansehen, so wie wir sind, oder wie die Äußerungen des Gunnar Decker: Hermann Hesse – Der Wanderer und sein Schatten, München 2012, S. 302–306.

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Unbewußten uns zeigen, ohne Moral, ohne Edelmut, ohne all den schönen Schein, in unseren Trieben und Wünschen, unseren Ängsten und Beschwerden.« 28

Ebenso beginnt Hesse mit der Lektüre der Analytischen Psychologie von C. G. Jung und studiert ausführlich dessen Schriften. Unter anderem liest Hesse 1916 Jungs damaliges Hauptwerk Wandlungen und Symbole der Libido. Auch Sigmund Freud liest Hesse mit großem Interesse. Im September 1917 kommt es sogar zur persönlichen Begegnung zwischen Hesse und Jung. Hesse ist sehr begeistert von Jungs Persönlichkeit und 1921 nimmt Hesse sogar mehrere psychoanalytische Sitzungen bei Jung. 29 Jungs Ideen sind aber für Hesse mehr als nur ein psychotherapeutisches Mittel für seine privaten Probleme; sie sind auch das neue konstitutive Element seiner Schreibkunst. Auf seine übliche eklektische Weise 30 entlehnte Hesse von Jung die zentralen Theorien für sein Werk. 31 28 Hermann Hesse: Tagebuch (1920), zitiert nach Gunnar Decker: Hermann Hesse – Der Wanderer und sein Schatten, S. 305. – Die meisten Autoren der literarischen Moderne um 1900, darunter auch Hermann Hesse, teilten nicht nur die durch die Psychoanalyse hervorgerufene Kritik an der bürgerlichen Moral des Kaiserreichs, sondern setzen sich auch intensiv mit den neuen tiefenpsychologischen Ideen auseinander. Der Einfluss der Psychoanalyse auf die Literatur wird schnell spürbar: Die Figuren werden vielschichtiger und spiegeln die Komplexität der menschlichen Psyche, wie es die neue Wissenschaft der Tiefenpsyche vorausgesagt hatte. Gerade von der von Freud und Jung entdeckten Symbolsprache des Traumes ließen sich viele Autoren anregen. Hesses Beispiel folgten unter anderem ab 1918 dann A. Döblin, später dann A. Zweig, H. Broch, R. Musil, R. M. Rilke, S. Dali und andere (vgl. Maria-Felicitas Herforth: »Zeitgeschichtlicher Hintergrund«, in: Erläuterungen zu Hermann Hesse. Demian, Hollfeld 2011, S. 17). 29 Im Mai 1921 äußert sich Hesse in einem Brief an Hans Reinhart sehr positiv über Jung und seine psychoanalytischen Sitzungen bei ihm: »Bei Jung erlebe ich zur Zeit, in einer schweren und oft kaum ertragbaren Lebenslage stehend, die Erschütterung der Analyse. Es geht bis aufs Blut und tut weh. Aber es fördert.« (Hermann Hesse: Gesammelte Werke, Bd. 1 (1895–1921), Frankfurt a. M. 1973, S. 473). 30 Vgl. Uwe Wolff: Hermann Hesse. Demian – Die Botschaft vom Selbst, Bonn 1979, S. 25: »Hesse war nie ein Theoretiker der Literatur, Philosophie und Mythologie, sondern ein Theorien Nachfühlender. Daher war er zeitlebens der Wanderer und Sucher in allen Gebieten der Mythologie und Religion. Da wo er meinte, sein eigenes inneres Seelenleben in Sprache ausgedrückt vorzufinden, verweilte er und verarbeitete das Gefundene in seinem Werk. In diesem Sinne müssen wir auch seine Begegnung mit der Jungschen Psychoanalyse verstehen.« 31 Vgl. Nadine Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch. Freuds und Jungs Psychoanalyse und ihr Einfluss auf die Romane »Demian«, »Siddhartha« und »Der Steppenwolf«, Marburg 2008, S. 12–15.

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So übernimmt Hesse die religionspsychologische Perspektive Jungs. Der Gottesbegriff wird bei Jung vollkommen in die Psyche hineinverlegt gemäß dem absolut psychologisierenden Gottesbild, das Hesse hier von Jung vorgestellt bekommt. Hesse kann durch Jungs Theorien, insbesondere durch den Archetypus des Selbst als die Anwesenheit des Göttlichen in der Tiefenseele, das religiöse Fundament seines Lebens und Denkens auf eine neue, zeitgemäße und faszinierende Weise deuten. Diese Neuinterpretation der Religion in Verbindung mit der menschlichen Psyche überträgt Hesse ab dem Demian 1917 in sein Werk. Jungs Religionspsychologie liefert Hesse die Grundlage und Legitimation für die zentrale Botschaft seiner mittleren und späten Dichtung, nämlich dass Selbsterfahrung und Gotteserfahrung letztlich identisch sind. Jung und Hesse bestätigen sich in ihrer gemeinsamen Überzeugung, dass Gott – oder besser: die göttliche Wirkung – ausschließlich im eigenen Innern erfahrbar wird. Die Tiefenpsyche wird so zum spezifischen Ort der Gottesoffenbarung. So konzentriert sich die geistige Nähe zwischen Jung und Hesse vor allem in der Zusammenschau von Psychologie und Religion, die Hesse folgendermaßen formuliert: »Und so will und kann die heutige Psychoanalyse im Grund kaum ein anderes Ziel haben als die Schaffung des Raumes in uns, in den wir Gottes Stimme hören können.« 32

2.2. Das Motiv der Selbstwerdung in drei ausgewählten Romanen Das erste große Werk, das Hesse zum Thema der Individuation entwirft, ist der Roman Demian, der 1917 verfasst und 1919 veröffentlicht wurde; er stellt eine inhaltliche Zäsur in Hesses Werk dar und unterscheidet sich grundlegend von allem, was Hesse zuvor geschrieben hat. Demian markiert damit eine neue inhaltliche Episode. Denselben inhaltlichen roten Faden des Motivs der Selbstwerdung verfolgen die indische Dichtung Siddhartha (1922), der Bekenntnisroman Der Steppenwolf (1927) sowie die im Mittelalter spielende Erzählung Narziß und Goldmund (1930). 33 So sollen nun im Folgen32 Hermann Hesse: Gesammelte Briefe, Erster Band 1895–1921, hrsg. v. Ursula und Volker Michels, Frankfurt a. M. 1973, S. 474. 33 Die Analyse dieses Romans wird weggelassen, um den vorgegebenen Rahmen dieses Aufsatzes nicht zu sprengen. So viel sei aber gesagt, dass das Grundthema dieses

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den die drei ausgewählten Romane jeweils inhaltlich skizziert und analysiert werden, wobei der Schwerpunkt auf der Fragestellung liegt, welche Bedeutung die Analytische Psychologie C. G. Jungs unter der besonderen Berücksichtigung des Motivs der Selbstwerdung dabei aufweist. 34 Hesse setzt mit diesen Romanen C. G. Jung und dessen Individuationsweg ein Denkmal; der Mythos der Menschwerdung wird hier literarisch inszeniert. 2.2.1. Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend (1919) – Selbstwerdung als ein Hören auf Gottes Stimme in uns »Unvergesslich ist die elektrisierende Wirkung, welche gleich nach dem Ersten Weltkrieg der ›Demian‹ jenes mysteriösen Sinclair hervorrief, eine Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und eine ganze Jugend, die wähnte, aus ihrer Mitte sei ihr ein Künder ihres tiefsten Lebens entstanden (während es schon ein Zweiundvierziger war, der ihnen gab, was sie brauchte), zu dankbarem Entzücken hinriß.« 35

Der 1919 erschienene Roman Demian wurde von den Zeitgenossen mit großer Begeisterung aufgenommen. Die aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrten, enttäuschten jungen Menschen, die nach einer neuen Sinngebung für ihr Leben suchten, fanden in Hesses Roman ihre eigenen Zweifel und Bedürfnisse zum Ausdruck gebracht. Der Roman ist eine einzige große Emanzipation des Geistes, der versucht sich vom traditionellen Glauben und Denken zu lösen. Das Alte muss weichen und dem Neuen Platz machen. Hesse offenbart mit Werkes (mit Jung gesprochen) das mysterium coniunctinis ist, das Geheimnis der Vereinigung der Gegensätze. Die zwei Protagonisten verkörpern die zwei Seelenpole des Menschen, eine Art dialektisches Prinzip, das sich schon in den beiden Namen Narziß (Vaterprinzip Animus) und Goldmund (Mutterprinzip Anima) wiederspiegelt. Der Geist-Trieb-Dualismus kann am Ende des Romans aufgelöst werden; es kommt zur Synthese und damit zu der Erkenntnis, dass jeder beide Pole in sich trägt; jeder Mensch ist Denker und Sinnenmensch zugleich. So kommt es hier zur Jung’schen Selbstwerdung durch die Integration des gegensätzlich Anderen. 34 Hesse bezeichnet die Selbstsuche im Sinne Jungs als Weg nach Innen; vgl. Joseph Mileck: Herman Hesse – Dichter, Sucher, Bekenner, Frankfurt a. M. 1987, S. 113: »Vom ›Demian‹ bis zu ›Narziß und Goldmund‹ hinterließ die Psychoanalyse ihren sichtbarsten Abdruck auf Hesses erzählendem Werk. […] Die Psychoanalyse war geradezu zu einer Denkweise geworden.« 35 Thomas Mann: Vorwort zur amerikanischen Ausgabe des Demian von 1948; zitiert nach Hermann Hesse/Thomas Mann: Briefwechsel, hrsg. v. Anni Carlsson und Volker Michels, Frankfurt a. M. 2003, S. 123. – Thomas Mann verglich die elektrisierende Wirkung des Romans mit jener von Goethes Werther.

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diesem Roman eine neue Art zu leben; die Vision eines erneuerten Menschentums nimmt darin Gestalt an. Diese neue Bestimmung des Menschen, die Hesse in seinem Roman formuliert, geht einher mit der Forderung nach einem neuen Gott, einer neuen Moral und einer neuen Welt. »Diese von Nietzsche beeinflusste Gesinnung fand ihren unmittelbaren Ausdruck im Demian.« 36 Hesse gestaltet mit dem Demian ein »religiöses Urerlebnis« 37. Die Suche nach der eigenen individuellen Identität und der religiöse Impuls, die Suche nach Gott, fallen zusammen. So wird die Suche nach dem eigenen Ich zur religiösen Suche nach Gott im eigenen Innern. Es wird das Leben des jungen Mannes Emil Sinclair in dessen Reifezeit beschrieben; so kann der Demian als Adoleszenz- oder Entwicklungsroman bezeichnet werden. Dieser liest sich wie ein persönliches Tagebuch, das letztlich vom Durchdringen zum wahren Kern der Persönlichkeit erzählt. Das Motiv der Suche im Demian wird aus dem Parzival und dessen Suche nach dem Heiligen Gral entnommen und bearbeitet. In Sinclairs Leben kann man das vorgegebene Muster des suchenden Parzival verfolgen, auch wenn sein Ziel letztlich das Finden der eigenen Identität ist. Hier ist der Gral völlig nach innen verlegt und vergeistigt, da er mit dem Jung’schen Selbst völlig identisch geworden ist. Nur wenige Romane des 20. Jahrhunderts haben die Identitätssuche so zentral in den Mittelpunkt gestellt wie Hesses Demian; es ist eine Autobiographie eines sich selbst Suchenden. 38 Auf dem Weg zu seiner Persönlichkeit hilft der ältere Max Demian immer wieder dem verunsicherten Emil Sincliar dabei, auf seine innere Stimme zu vertrauen und ihr letztlich zu folgen. Am Ende des Romans stellt sich heraus, dass es Max Demian in der Realität gar nicht gibt, sondern er eine Personifizierung des Jung’schen Selbst, also das Ideal-Ich von Sinclair ist. Er ist Sinclairs sokratisches Daimonion, seine innere Stimme, die ihn zu sich selbst führt. Somit ist Demian zugleich Vorbild und Ziel von Sinclairs Individuation. Demian klärt am Ende des Romans kurz vor seinem Tod sein Geheimnis auf und weist dem Freund Sinclair ein letztes Mal den Weg ins eigene Innere: 39 »Kleiner Sinclair, paß auf! Ich werde fortgehen müssen. Du Mileck: Hermann Hesse, S. 98 f. Hugo Ball: Hermann Hesse – Sein Leben und sein Werk (1927), Frankfurt a. M. 1977, S. 125. 38 Vgl. Theodore Ziolkowski: Der Schriftsteller Hermann Hesse, Frankfurt a. M. 1979, S. 61–68. 39 Vgl. Mileck: Hermann Hesse, S. 99. 36 37

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wirst mich vielleicht einmal wieder brauchen, gegen Kromer oder sonst. Du mußt dann in dich hinein hören, dann merkst du, daß ich in dir drinnen bin. Verstehst Du?« 40 In der symbolischen Vereinigung mit Demian nähert sich Sinclair dem Ziel seiner Entwicklung, so äußert Sinclair in den letzten Sätzen die Quintessenz des Romans: »Aber wenn ich manchmal den Schlüssel finde und ganz in mich selbst hinuntersteige, da wo im dunklen Spiegel die Schicksalsbilder schlummern, dann brauche ich mich nur über den schwarzen Spiegel zu neigen und sehe mein eigenes Bild, das nun ganz Ihm gleicht, Ihm meinen Freund und Führer.« 41

Das Ziel der Vereinigung Sinclairs mit Demian, seinem Alter ego, deutet sich bereits im Titel des Romans an: »Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend« trägt den Namen Demians, in dem sich das Ideal der allseitig entfalteten Persönlichkeit verkörpert. Der dichotomische Charakter der Romanwirklichkeit (moralisch-sittlich und sinnlichemotional) prägt entscheidend die gesamte Struktur des Romans. Die Erfahrung der Polaritäten im Innern konkretisiert sich in Sinclairs Dialogen mit jenen Einflussfiguren, die ihm einerseits wesensverwandt sind, ihn aber andererseits mit Impulsen konfrontieren, die einer verborgenen und verleugneten Seite seines Innern Ausdruck verleihen. So eröffnet eben der Umgang mit Demian immer zugleich den Blick auf die eigenen unentdeckten Möglichkeiten und Bedürfnisse; die Psychoanalyse scheint durch und es kommt zur Aufdeckung unbewusster Bedürfnisse und Prozesse. 42 Im 5. Kapitel (»Der Vogel kämpft sich aus dem Ei«) setzt bei Sinclair eine neue Stufe der seelischen Entwicklung ein; jetzt hat er die Spur zu seinem Selbst gefunden und es kommt zur endgültigen Vereinigung der inneren Gegensätze. Sinclairs seelisches Wachstum generiert sich aus der Berührung mit der gnostischen Gottheit AbraHermann Hesse: Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend (1919), Berlin 2012, S. 228. – Kromer personifiziert die Auseinandersetzung mit dem Schatten, dieser wird in den ersten drei Kapitel des Romans thematisiert als erster entscheidender Schritt auf dem Individuationsweg. In den ersten drei Kapiteln wird die Erfahrung der seelischen Polarität thematisiert, eine scheinbare Unvereinbarkeit zweier gegensätzlicher Seinsbereiche, unter deren Existenz der junge Sinclair leidet. So lautet z. B. das erste Kapitel des Romans »Zwei Welten«, in dem der Leib-Geist-Dualismus, Sinclairs erste innere Kämpfe zwischen Rationalem (Ich-Bewusstsein) und Irrationalem (individuelles und kollektives Unbewusstes) ausgetragen werden. 41 Hesse: Demian, S. 229. 42 Vgl. Helga Esselborn-Krumbiegel: »Demian«, in: Literaturwissen Hermann Hesse, Stuttgart 2005, S. 58 f. 40

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xas, die das Göttliche und das Teuflische in sich vereinigt. Auf einem Zettel liest Sinclair eine geheimnisvolle Botschaft von Demian, die ihn auf unerklärliche Weise erreicht: »Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.« 43 Sinclair vollzieht durch die Zuwendung und Anbetung des Abraxas einen Prozess der Verschmelzung zwischen seinem bewussten Leben und seiner unbewussten Ganzheit. Nun ist Sinclair imstande, die unangenehme und dunkle Seite des Lebens anzuerkennen und in sein Leben zu integrieren. Die religiöse Frage des richtigen Gottesbildes (Gott/Teufel; gut/böse) wird im Demian nun auf die psychische Konstitution (bewusst/unbewusst) übertragen. Der gnostische Gott Abraxas symbolisiert die zu erreichende seelische Ganzheit aus religiöser Sicht heraus. Abraxas wird im Demian vorgestellt als eine Erweiterung und Ergänzung des christlichen Gottesbildes; Abraxas beinhaltet dabei auch das Böse und Teuflische. Diese Erweiterung muss auch im psychischen Bereich stattfinden: So muss neben dem Guten und moralisch Tragbaren auch das Amoralische und Unangenehme als Teil der Psyche verstanden werden. Nur durch die Bejahung des Bösen und Integration des Schattens kann die menschliche Seele Vervollkommnung erfahren. Letztlich steht der Vogel, der nicht eingesperrt bleiben, sondern fliegen soll, für die Seele, die zu ihrer Ganzheit emporsteigen will; dafür war der Gott Abraxas ein geeignetes Bild. 44 Die zweite wichtige Begegnung im 5. Kapitel ist die Figur des Pistorius, der Sinclair in die Jung’sche Lehre des kollektiven Unbewussten mit seinen Archetypen einführt. Pistorius ist für Sinclair eine Art Psychoanalytiker und Führerfigur, die Sinclair auf seinem Weg zur inneren Ganzheit begleitet. Pistorius lehrt Sinclair den Zugang zu den Urbildern seiner Seele. Sinclair muss sich nun dieser Hermann Hesse: Demian, S. 127. – Die Gottheit Abraxas ist wahrscheinlich eine Erfindung des ägyptischen Gnostikers Basilides im 2. Jh. n. Chr. Durch Abraxas konnten die Gnostiker ihren radikalen Dualismus überwinden, der im Weltganzen wie im einzelnen Menschen herrscht. Die Gottheit Abraxas ist somit ein Symbol für die Zusammenführung des göttlichen und des teuflischen Prinzips. Hesse weiß von Basilides und dem Gott Abraxas nur durch die Lektüre von Jungs Schrift Septem Sermones ad Mortuos aus dem Jahr 1916. Jung veröffentlichte diese Schrift unter dem Namen des Basilides. Das Denken in Paradoxien war es, das Jung bei den Gnostikern angezogen hatte. Hesse fand in der Gottheit Abraxas letztlich eine Legitimation für die dunkle, triebhafte Seite seiner Psyche (vgl. Wolff: Hermann Hesse, S. 15–20). 44 Vgl. Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch, S. 54–57. 43

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neuen Herausforderung stellen und die überpersönlichen Teile seiner Psyche integrieren. Die Archetypen als vererbte kollektive Grundausstattung der menschlichen Psyche sind ein archaischer Urbesitz, der sich punktuell aktualisiert, aber schon immer da war: 45 »Wir ziehen die Grenzen unserer Persönlichkeit immer viel zu eng! Wir rechnen zu unserer Person immer bloß das, was wir als individuell unterschieden, als abweichend erkennen. Wir bestehen aber aus dem ganzen Bestand der Welt, jeder von uns, und ebenso wie unser Körper die Stammtafeln der Entwicklung bis zum Fisch und noch viel weiter zurück in sich trägt, so haben wir in der Seele alles, was je in Menschenseelen gelebt hat. Alle Götter und Teufel, […] alle sind mit in uns, sind da, als Möglichkeiten, als Wünsche, als Auswege.« 46

Pistorius hilft Sinclair ebenso dabei, die Traumbotschaften seines Unbewussten zu entschlüsseln, zu interpretieren und sie sich bewusst zu machen. Durch Gespräche dieser Art kämpft sich der »Vogel« Sinclair immer weiter aus dem Ei. Pistorius begleitet Sinclair auf seinem Individuationsweg; er ist einer der wichtigsten Garanten für Sinclairs Selbstwerdung. 47 Vollendet wird Sinclairs Selbstwerdung durch die Begegnung mit Frau Eva im 7. Kapitel. Frau Eva verkörpert die Frage nach Heimat und die Sehnsucht nach dem Ursprung. Sie ist eine göttliche Figur, eine Mutter-Göttin. In Frau Evas Gegenwart empfindet Sinclair innere Ganzheit und Einheit; sie kann als Jungs Mutterarchetypus der Anima gedeutet werden. Als Sinclairs Anima verkörpert Frau Eva die unbewussten weiblichen Züge seines Selbst. Mit der Figur der Frau Eva entspricht Hesse der von Jung geforderten Quaternität. 48 Sinclair erlebt in seinen Träumen die Vereinigung mit der Urmutter Eva: »Auch hatte ich Träume, in denen meine Vereinigung mit ihr sich auf neue gleichnishafte Arten vollzog. Sie war ein Meer, in das ich strömend mündete. Vgl. Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch, S. 46. Hesse: Demian, S. 146 f. 47 Vgl. Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch, S. 45–49. 48 Die männliche Dreifaltigkeit empfand Jung als Gottesbegriff unvollständig und erweiterte sie zur Quaternität mittels eines weiblichen Prinzips. Die Quaternität ist wiederum Symbol des Selbst, Jungs Gottesbegriff und Ausdruck der psychischen Ganzheit. Zur Apotheose der Frau Eva insgesamt vgl. Walter Jahnke: »Hesses ›Frau Eva‹ und die Maria der ›Geheimen Offenbarung‹ (1984)«, in: Volker Michels (Hrsg.): Materialien zu Hermann Hesses »Demian«. Zweiter Band, Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1997, S. 252–259. 45 46

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Sie war ein Stern, und ich selber war als Stern zu ihr unterwegs, und wir trafen uns und fühlten uns zueinander gezogen, blieben beisammen und drehten uns selig für alle Zeiten in nahen, tönenden Kreisen umeinander.« 49

In diesem Traum-Erlebnis symbolisiert Frau Eva das Jung’sche Selbst: Das Ich rotiert um das Selbst, wie die Erde um die Sonne. Das aus dem Zentrum gerückte Ich empfindet sich nun als Objekt eines übergeordneten Subjekts, dem Selbst. Dieser Vorgang der Individuation, Sinclairs Selbstwerdung als Höhepunkt des Romans durch die Vereinigung mit Frau Eva, stellt die psychische Ganzheit des Menschen her. 50 »Frau Eva ist für Sinclair alles und das All. Sie ist seine Jungsche Anima, die Seele, das Unbewußte, mit dem sein Bewußtes Rapport im Individuationsprozeß aufnehmen muß, und sie ist außerdem sein Ideal, die Selbstverwirklichung, die mit dem Sich-selbst-Leben kommen wird: Anima und Ideal werden Inspiration und Führerin, potentielle Geliebte und spirituelle Mutter. Und über das Selbst hinaus ist Frau Eva das Leben in seiner ganzen Fülle, Himmel und Erde, Gut und Böse, eine in die Wirklichkeit versetzte Magna Mater, die an die Tochter Zion der Offenbarung erinnert, und Ursprung und Bestimmung des Menschen ist.« 51

Die Verwirklichung des je eigenen individuellen Seelenkerns hat eine tiefe religiöse Dimension; es ist letztlich das Erleben der ganzheitlichen Persönlichkeit, eine tiefenpsychologische Transzendenzerfahrung. So vollzieht sich die Selbstwerdung in Hesses Roman Demian als ein Hören auf Gottes Stimme in uns. Darin wird sehr deutlich, dass Hesse die zutiefst religiöse Dimension der Ideen Jungs erkannte und in sein Werk übersetzte. Hesse hatte zu dieser Phase ein psychologisierendes Gottesbild, da der Gottesbegriff völlig im Jung’schen Selbst aufgegangen war. Der Demian ist ein Loblied auf das Streben des Menschen nach Selbstwerdung, ein Sich-Annähern an die ganzheitliche und einzigartige Individualität. Dieser Prozess der Individuation wurde für Hesse zu einem literarischen Werkzeug für die Darstellung des menschlichen Schicksals. Schicksal im Sinne des Demian bedeutet die Verwirklichung der je inneren Bestimmung, des göttlichen Seelenfunkens, des Ideal-Ichs. So bestätigt es Emil Sinclair, wenn er sich als Gerufener erlebt, der die Stimme des Selbst in sich

49 50 51

Hesse: Demian, S. 209. Vgl. Wolff: Hermann Hesse, S. 56. Mileck: Hermann Hesse, S. 99 f.

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hören kann: »Fest war nur eines: die Stimme in mir: das Traumbild.« 52 2.2.2. Siddhartha (1922) – Selbstwerdung durch persönliche Erfahrung Die allgemeine Orientierungslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte die Konjunktur der fernöstlichen Philosophie in Europa. Hesse rezensierte zwischen 1918 und 1925 viele Übersetzungen von Quellenwerken aus dem Chinesischen und Indischen, woraus deutlich ersichtlich wird, dass Hesse ein ausgezeichneter Kenner des fernöstlichen Denkens war. Der Grund dafür liegt darin, dass die Auseinandersetzung mit indischer und chinesischer Literatur und Philosophie Hesse bereits durch sein Elternhaus kennengelernt hatte. Erst zur Abfassungszeit des Siddhartha verdichtete sich Hesses Interesse an den fernöstlichen Weisheitslehren wieder; auch in diesem Kontext ist die Beziehung zu Jung entscheidend. 53 Gerade auch Hesses Lektüre des Tao-Te-King von Laotse, der heiligen Schrift der vor allem in China beheimateten Religion des Taoismus, hatte entscheidenden Einfluss auf den Roman. Ebenso fand im Siddhartha die Lebensgeschichte und Reden des historischen Buddha seinen literarischen Niederschlag. Anregungen für seine indische Dichtung dürfte Hesse außerdem in der indischen Bhagavadgita, in den hinduistischen Upanishaden sowie in den Gesprächen des chinesischen Philosophen Konfuzius gefunden haben. Im chinesischen und indischen Gedankengut erkannte Hesse Lösungsangebote für die geistige Krise Europas seiner Zeit. 54 Hesse: Demian, S. 112. Die verstärkte Auseinandersetzung Hesses mit dem fernöstlichen Denken beruht auf den psychoanalytischen Sitzungen bei C. G. Jung 1921. Jung war inspiriert von der chinesischen Philosophie des Taoismus. Yin und Yang sind hier zwei konträre kosmologische Grundprinzipien. Bei Jung ist das Yin-Yang-Zeichen ein sogenanntes vereinigendes Symbol. Es steht für Ganzheit und für die von jedem Individuum zu leistende Aufgabe, die Gegensätze in sich selbst zu vereinigen (vgl. Jolande Jacobi: Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk, Frankfurt a. M. 202003, S. 135–140). Hesse wurde also auch für seine indische Dichtung Siddhartha von Jung inspiriert, insbesondere durch die Berührung mit dem Taoismus, den Hesse erst durch Jung genauer kennenlernte. Viele Denkfiguren des Taoismus lassen sich gut mit dem System der Analytischen Philosophie Jungs in Einklang bringen. 54 Vgl. Maria-Felicitas Herforth: Erläuterungen zu Hermann Hesse – Siddhartha, Hollfeld 22009, S. 17–25. 52 53

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Das Thema des Siddhartha ist die Erkenntnis der Einheit aller Gegensätze durch den Protagonisten, die Lösung aller Konflikte in Welt und Leben in der mystischen Erfahrung des Tao, Atman und Om. Jung spricht hier von der numinosen Erfahrung des Selbst. Wie im Demian Emil Sinclair, so muss auch Siddhartha einen Individuationsprozess in einer ganzen Reihe von Lebensstationen und Lebensphasen durchlaufen, um dadurch innere Balance und Ganzheit zu finden. Siddhartha muss lernen, seine vielen neuen Erfahrungen und Eindrücke psychisch zu verarbeiten und gewinnbringend in sein Selbst zu integrieren. Die Quintessenz des Siddhartha lautet: Glaube nicht den Lehrern der Weisheit, denn Weisheit kann nur durch das eigene Leben und die eigene Erfahrung erworben werden. Der Roman dokumentiert somit Siddharthas Selbstwerdung durch das Medium der persönlichen Erfahrung. Siddhartha sucht eine Ganzheit, jedoch nicht allein eine innere Ganzheit wie Emil Sinclair, sondern die Gesamtheit der Welt. Dieses All-Eine will Siddhartha aber nicht durch die Befolgung vorgeschriebener Glaubensregeln finden, sondern über den Weg der unmittelbaren persönlichen Erfahrung. Siddhartha sehnt sich nach dem Atman seiner Seele: 55 »War denn nicht Atman in ihm, floß denn nicht in seinem eigenen Herzen der Urquell? Ihn mußte man finden, den Urquell im eigenen Ich, ihn mußte man zu eigen haben! Alles andere war Suchen, war Umweg, war Verirrung. So waren Siddharthas Gedanken, dies war sein Durst, dies sein Leiden.« 56

Auch das Traummotiv spielt, wie auch im Demian, wieder eine entscheidende Rolle. Im Sinne Jungs kündigen Botschaften und Bilder aus dem Unbewussten an, was die Seele ersehnt. Im 4. Kapitel (»Erwachen«) kündigt sich in einem Traum Siddharthas eine weitere Entwicklung an; die Welt der Sinnlichkeit erwartet ihn. Der Traum nimmt zugleich Siddharthas Leben bei der Kurtisane Kamala vorweg, das ihm ermöglichen wird, seine Begierden, Triebe und unbewussten erotischen Wünsche auszuleben und so seiner ganzheitlicheren Identität ein Stück näher zu kommen. In diesem Traum zeigt sich die Verbindung des weiblichen und männlichen Geschlechts. So werden Androgynität und die Jung’sche Anima-Animus-Lehre als zentraler Bestandteil des Individuationsweges thematisiert. 57

55 56 57

Vgl. Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch, S. 62 f. Hermann Hesse: Siddhartha. Eine indische Dichtung, Frankfurt a. M. 2002, S. 11 f. Vgl. Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch, S. 66 f.

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Im 9. Kapitel kommt es dann zur Begegnung mit dem Fährmann Vasudeva, dem Weisen. Er wird für Siddhartha ein Führer zum vollkommenen Selbst. Als Siddhartha zu Vasudeva geht und die Erlaubnis erhält, bei ihm bleiben zu dürfen, lernt er als erstes dessen wichtigste Eigenschaft kennen: das Zuhören. Als ihm Siddhartha sein ganzes Leben erzählt, hört Vasudeva auf ganz besondere Art und Weise zu. Indem Vasudeva nur zuhört und nicht spricht, versucht er Siddhartha so wenig wie möglich zu beeinflussen und ihn ganz er selbst sein zu lassen. Vasudeva versucht dem Suchenden Siddhartha klarzumachen, dass er die Erlösung von allen Leiden und Problemen nur in sich selbst finden kann. Für den Fährmann ist es unmöglich, sein intuitives Wissen in Worte zu fassen und weiterzugeben. Vasudeva hält sein Wissen, das aus den Tiefen der Seele kommt und auf der unmittelbaren Lebenserfahrung beruht, für nicht formulierbar. Die Figur des Fährmann Vasudeva charakterisiert den Archetypen des Weisen nach Jung, der einerseits Wissen, Erkenntnis, Überlegung, Weisheit, Klugheit und Intuition, andererseits aber auch Eigenschaften wie Wohlwollen und Hilfsbereitschaft darstellt. Vasudeva kann im Sinne Jungs aber auch als ein Symbol für das ganzheitliche Selbst angesehen werden. Siddhartha wird allmählich Vasudeva immer ähnlicher, was auf Siddharthas fortschreitenden Individuationsprozess hindeutet. 58 Am Ende des Buches gelangt Siddhartha, wie auch Emil Sinclair, an das Ziel seines Individuationsweges. Er hat nun zu sich selbst gefunden, indem er viele gegensätzliche Lebensphasen durchlief, wie z. B. die Askese der Samanas (2. Kapitel) im Gegensatz zum Lustleben bei Kamala und Kamaswami (5. und 6. Kapitel), die ihn dazu brachten die gegensätzliche Anteile seiner Tiefenpsyche zu akzeptieren und zu integrieren. Indem Siddhartha endgültig auf die Stimme des Flusses und später auf seine eigene innere Stimme hören lernt und sich von dieser leiten lässt, ist seine innere Vollkommenheit und damit seine Individuation, die Verwirklichung seiner individuellen und ganzheitlichen Identität, geschafft. Siddhartha kann nun sowohl die Vielfalt der Innenwelt seiner Psyche als auch alle äußeren Erscheinungsformen des Lebens zu einer Ganzheit verbinden; dieses Erkennen der Einheit allen Seins ist die eigentliche Weisheit und Kernbotschaft des Romans: 59 58 59

Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch, S. 76–79. Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch, S. 71.

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»Langsam blühte, langsam reifte in Siddhartha die Erkenntnis, das Wissen darum, was eigentlich Weisheit sei, was sein langes Suchens Ziel sei. Es war nichts als eine Bereitschaft der Seele, eine Fähigkeit, eine geheime Kunst, jeden Augenblick, mitten im Leben, den Gedanken der Einheit zu denken, die Einheit fühlen und einatmen zu können. Langsam blühte dies in ihm auf, strahlte ihm aus Vasudevas altem Kindergesicht wider: Harmonie, Wissen um die ewige Vollkommenheit der Welt, Lächeln, Einheit.« 60

2.2.3. Der Steppenwolf (1927) – Selbstwerdung durch psychologisches Bekenntnis Der Roman Der Steppenwolf 61 atmet den Zeitgeist der Goldenen Zwanziger. Diese Epoche der Weimarer Republik in Deutschland war geprägt von starken gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen. Die Gesellschaft technisierte und motorisierte sich. Der Sinnverlust durch den Ersten Weltkrieg sollte endlich neu gefüllt werden. Es herrschte eine gewisse Amerikanisierung des Kulturbetriebes, d. h., immer mehr Erzeugnisse, die nach amerikanischem Vorbild produziert wurden, fanden Anklang beim Publikum und ebneten den Weg in die Massenkultur. Neue Medien wie Rundfunk, Kino und Grammofon sowie neue Künste wie z. B. die Jazzmusik weckten bei vielen Zeitgenossen Ängste vor einem Kulturverfall. Der Protagonist Harry Haller im Steppenwolf verkörpert jene Ambivalenz gegenüber der modernen Massenkultur, wie sie während der Goldenen Zwanziger für viele Intellektuelle typisch war. So konzipierte Hesse den Steppenwolf unter anderem auch als ein Werk, das massiv Kritik übte an der anonymen Massengesellschaft, in der die politische, kulturelle und persönliche Zerrissenheit eine Grunderfahrung des modernen Individuums ist. Die Krise des Steppenwolfs Harry Haller, der in sich

Hesse: Siddhartha, S. 106. – Mit dem Begriff der Einheit, den Jung in seine Konzeption des Selbst integrierte, gab es einen gewissen Gleichklang im Denken und Fühlen bei Hesse und Jung; beide suchten nach der Einheit hinter den Gegensätzen, vor allem suchten sie nach einer Auflösung der psychischen Polaritäten. Der Einheitsbegriff ist es auch, der letztlich die große Affinität hervorrief, welche die fernöstlichen Weisheitslehren auf beide Denker ausübte. 61 Im Klappentext der Ausgabe Hermann Hesse: Der Steppenwolf, Frankfurt a. M. 1974, ist ein einführendes Statement von Kurt Pinthus zu lesen: »Ich lese den Steppenwolf, dies unbarmherzigste und seelenzerwühlendste aller Bekenntnisbücher, düsterer und wilderer als Rousseaus Confessions, die grausamste Geburtstagsfeier, die je ein Dichter selbst zelebrierte. Ein echt deutsches Buch, großartig und tiefsinnig, seelenkundig und aufrichtig.« 60

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neben der menschlichen Seele auch die tierisch-triebhafte Natur des Wolfes spürt, steht nicht nur für die Neurose eines Einzelnen, sondern für die Krankheit einer ganzen Zeitepoche. 62 Während der Entstehungszeit des Steppenwolfs befindet sich Hesse in einer schweren Lebenskrise: Seine zweite Ehe mit Ruth Wenger wird geschieden, er leidet unter vielen gesundheitlichen Problemen, die seine literarische Arbeit erschweren, sein psychischer Zustand ist labil und in Briefen kündigt Hesse häufig seinen baldigen Selbstmord an. Seine ausweglose und sinnentleerte Dichterexistenz entspricht dem Lebensgefühl seines Protagonisten Harry Haller. So ist Der Steppenwolf der literarischen Tradition der Bekenntnisliteratur zuzuordnen. Hesse bekennt unverschleiert, dass er selbst der Steppenwolf ist, dass er sich selbst als Außenseiter voller Weltekel und Selbstverachtung erlebt. Der Steppenwolf ist das mit Abstand düsterste Buch, das Hesse je verfasst hat; es ist bis an den Rand gefüllt mit Weltverachtung einerseits und Weltüberwindungsrausch andererseits. Dieses Werk Hesses, das vermutlich seine erfolgreichste literarische Arbeit darstellt, kann als Reflex einer selbstmörderischen Krise betrachtet werden, die keine Romandichtung mehr ist, sondern nietzscheanisches Bekenntnis, das sich in dionysischer Entgrenzung und im Rausch des schöpferischen Hervorbringens entlädt. Der Steppenwolf ist ein nietzscheanischer Geniestreich zur Rückgewinnung der Deutungshoheit über sich selbst und ein origineller Beitrag zur Theorie des Übermenschen. 63 Dieser analytische Entwicklungsroman stellt keine Entwicklung der Hauptfigur von Kindheit und Jugend bis zum Erreichen ihrer Bestimmung dar wie im Demian, sondern einen Ausschnitt aus dem Leben eines älteren Mannes in seinen 50er Jahren, der sich vom Bürgertum entfremdet hat. Hesse transportiert mit Harry Haller die Persona-Schatten-Problematik im Sinne Jungs in seinen Roman hinein. So versucht Haller einerseits sich mit seiner Persona der bürgerlichen Umgebung anzupassen, andererseits ist der Steppenwolf das einsame, unzivilisierte und instinktbehaftete Raubtier, als Hallers Jung’scher Schatten anzusehen, der ein lebendiger Teil der Persönlichkeit ist und sich nicht unterdrücken lässt. Hallers psychische Doppelnatur Vgl. Maria-Felicitas Herforth: Textanalyse und Interpretation zu Hermann Hesse – Der Steppenwolf, Hollfeld 2011, S. 16–21. 63 Vgl. Gunnar Decker: Hermann Hesse – Der Wanderer und sein Schatten, München 2012, S. 480–494. 62

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Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung

verursacht in ihm eine innere Zerrissenheit; die inneren Gegensätze spalten Hallers Selbst. Auch Haller muss, wie seine Vorgänger Sinclair und Siddhartha, den Weg der Jung’schen Individuation antreten, um schließlich seine psychische Ganzheit erfahren zu können. 64 Einen ersten Ansatz zur Lösung von Hallers Existenzproblematik bietet der Tractat vom Steppenwolf (Nur für Verrückte). Bei diesem Traktat handelt es sich um eine psychologische Studie über Hallers eigene Schicksalsproblematik, in der er selbst als Beispiel für die Steppenwölfe fungiert. Durch den Traktat kommt es also zu einer Objektivierung von Hallers Existenzproblem. Haller liest zu seinem Erstaunen eine Beschreibung seiner Person aus scheinbar objektivwissenschaftlicher Perspektive. Der erste Teil der Studie ist eine Persönlichkeitsanalyse des Steppenwolfs, die den Sachverhalt des ZweiSeelen-Problems veranschaulicht. Fast schon märchenhaft beginnt der Trakat: 65 »Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch ein Steppenwolf. Er hatte vieles von dem gelernt, was Menschen mit gutem Verstande lernen können, und war ein ziemlich kluger Mann. Was er aber nicht gelernt hatte, war dies: mit sich und seinem Leben zufrieden zu sein. Dies konnte er nicht, er war ein unzufriedener Mensch. Das kam wahrscheinlich daher, daß er im Grunde seines Herzens jederzeit wußte (oder zu wissen glaubte), daß er eigentlich kein Mensch, sondern ein Wolf aus der Steppe sei.« 66

Der zweite Teil des Traktats definiert das Bürgerliche und stellt das Verhältnis des Bürgertums zu den Steppenwölfen der Gesellschaft dar. Das Bürgerliche gilt dem anonymen Verfasser der Studie als ein Versuch, die Extreme und Gegensätze im Menschen auszugleichen. Das Bürgerliche verdirbt aber die Lebensintensität und kann gerade eben nicht dem entsprechen, was Menschsein bedeutet. Dennoch gedeiht das Bürgerliche in der Gesellschaft, da nur wenige sich zur Existenz des Steppenwolfs bekennen. Der dritte und abschließende Teil des Traktats thematisiert die Komplexität der menschlichen Tiefenpsyche und entlarvt den inneren Dualismus als Illusion: 67

Vgl. Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch, S. 89–94. Vgl. Maria-Felicitas Herforth: Textanalyse und Interpretation zu Hermann Hesse – Der Steppenwolf, Hollfeld 2011, S. 33. 66 Hesse: Der Steppenwolf, S. 54. 67 Vgl. Herforth: Textanalyse – Steppenwolf, S. 48 f. 64 65

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»Die Zweiteilung in Wolf und Mensch, in Trieb und Geist, durch welche Harry sich sein Schicksal verständlicher zu machen sucht, ist eine sehr grobe Vereinfachung, eine Vergewaltigung des Wirklichen zugunsten einer plausiblen, aber irrigen Erklärung der Widersprüche, welche dieser Mensch in sich vorfindet und die ihm die Quelle seiner nicht geringen Leiden zu sein scheinen. Harry findet in sich einen Menschen, das heißt eine Welt von Gedanken, Gefühlen, von Kultur, von gezähmter und sublimierter Natur, und er findet daneben in sich auch einen Wolf, das heißt eine dunkle Welt von Trieben, von Wildheit, Grausamkeit, von nicht sublimierter, roher Natur. […] Harry besteht aber nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus Tausenden. Sein Leben schwingt (wie jedes Menschen Leben) nicht bloß zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist, oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen Tausenden, zwischen unzählbaren Polpaaren.« 68

Da Haller eben nicht nur aus zwei inneren gegensätzlichen Seiten besteht, sondern aus unzähligen Gegensatzpaaren, wird die inhaltliche Analogie zu Jungs kollektivem Unbewussten offensichtlich. Harry Haller besteht innerlich aus einer Pluralität an Wesen, was auf den kollektiven Teil seiner Psyche verweist; er trägt wie »jeder einzelne Mensch die seelischen Dispositionen der gesamten Menschheit in sich« 69. Der Tractat vom Steppenwolf fordert von Haller, seine seelische Zersplitterung zu akzeptieren und auf eine Vereinigung der vielen Wesen in ihm hinzuarbeiten. Hallers Individuationsweg kann nur mit einer vereinigten Psyche gelingen, welche alle ihre Bestandteile annimmt. Mit dieser Erklärung entlässt der Traktat Harry auf seinen weiteren Weg zu sich selbst. 70 Höhepunkt und Endpunkt des Romans bildet das magische Theater, das den Bildersaal (Spiegelsaal) von Hallers Seele darstellt, die unendliche Vielfalt der in seiner Psyche vorhandenen Aspekte. Das magische Theater lässt Hallers unbewusste Wünsche, Ängste und Sehnsüchte lebendig und plastisch werden. Der Saxofonist und Genussmensch Pablo stellt neben Hermine (die weibliche Darstellung von Hallers Seele, also seine Jung’sche Anima) die zentrale Nebenfigur des Romans dar; er ist der Regisseur des magischen Theaters. Pablo ist ein Jung’scher Schatten von Haller, der die Dinge personifiziert, mit denen Haller bislang stets Schwierigkeiten hatte: Vergnügen, unbekümmerte Lebenslust und Humor. Im magischen Theater Hesse: Der Steppenwolf, S. 75 f. Günter Baumann: Hermann Hesses Erzählungen im Lichte der Psychologie C. G. Jungs, Freiburg i. Br. 1989, S. 201. 70 Vgl. Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch, Marburg 2008, S. 97. 68 69

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Die Selbstgegebenheit individueller Identität nach C. G. Jung

wird Pablo dann zum Herrscher über Hallers Unbewusstes. 71 »Nur in Ihrem eigenen Innern lebt jene andere Wirklichkeit, nach der Sie sich sehnen. Ich kann Ihnen nichts geben, was nicht in Ihnen selbst schon existiert, ich kann Ihnen keinen anderen Bildersaal öffnen als den Ihrer Seele.« 72 Ebenso spielt der Humor im magischen Theater eine zentrale Rolle; Hesse führt ihn ein als Bewältigung des Lebens. Haller wird durch das magische Theater dazu gebracht seinen charakteristischen und tödlichen Ernst zu überwinden. »Sie sind hier in einer Schule des Humors, Sie sollen lachen lernen. Nun, aller höhere Humor fängt damit an, dass man die eigene Person nicht mehr ernst nimmt.« 73 Der Humor soll Harry von seinem festgelegten Ich wegführen; er muss seinen Alltagsverstand aufgeben, weshalb der Eintritt in das magische Theater auch nur für Verrückte zulässig ist. Mit den Augen Jungs betrachtet steht das magische Theater für die Komplexität der Seele und veranschaulicht die theoretischen Ausführungen des Tractats vom Steppenwolf. Ebenso symbolisiert das magische Theater das Selbst, die psychische Ganzheit und Einheit, da es aus vielen Räumen und Türen (einzelnen Teilaspekten des Selbst) besteht und diese in sich vereinigt. 74 So resümiert Rudolf Probst den Roman als verzweifelte Beschreibung über den Verlust des Menschenwertes in der bürgerlichen Gesellschaft der Zwanziger Jahre, als letzten Schrei des Individuums in der modernen Massenkultur im Angesicht der Ewigkeit. Der Humor der Unsterblichen 75 ist die letzte Erlösung der Menschheit: »Insgesamt vermittelt Der Steppenwolf philosophisch reflektierte und psychologisch fundierte Einblicke in die Komplexität subjektiver Identität in der modernen Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts, der Krise dieser Identität und dem Versuch ihrer Überwindung durch den Humor in der Selbstironie der Unsterblichen.« 76 Herforth: Textanalyse zu Der Steppenwolf, S. 63–65. Hesse: Der Steppenwolf, S. 224. – Pablo kommt hier die Rolle eines psychoanalytischen Mentors zu, Pablo und seine Aura erinnern an die Pistorius-Figur im Demian. 73 Hesse: Der Steppenwolf, S. 227. 74 Vgl. Mechadani: Hermann Hesse auf der Couch, S. 110–113. 75 Haller begegnet im Roman Goethe und Mozart als Repräsentanten der sogenannten Unsterblichen. Das sind diejenigen, die gelernt haben, das Leben aus dem Blickwinkel der Ewigkeit zu betrachten. Sie erleben die Gegensätze ihrer Person nicht mehr als feindlich, sondern als eigentliche Wirklichkeit einer kosmischen Harmonie. (vgl. Herforth: Textanalyse zu Der Steppenwolf, S. 53). 76 Rudolf Probst: Tranformationen von Hesses Steppenwolf, Stuttgart 2005, S. 42. 71 72

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3.

Fazit

In der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs und der entsprechenden Umsetzung dieser tiefenpsychologischen Ansätze in der Literatur Hermann Hesses bleibt folgendes resultativ festzuhalten: Die Individuation kann vollzogen werden durch die Entschlüsselung der archetypischen Dimension des Unbewussten und deren Integration und Aufnahme ins Ich-Bewusstsein. Dem Archetyp des Selbst, der für Jung einen transzendenten Charakter hat, ist eine finale und teleologische Orientierung eingeschrieben und deshalb trägt er für die ganzheitliche seelische Entwicklung der individuellen Identität Sorge. 77 Je adäquater das vorgegebene individuelle Selbst in seiner Ganzheit in der Lebensgeschichte eines Menschen umgesetzt, d. h. erkannt und integriert wird, umso mehr kann die Selbstwerdung des Menschen gelingen. Der Aufgabecharakter der Selbst-Gegebenheit kann hier zweifelsohne verortet werden. Die Selbstwerdung setzt also die Selbst-Gegebenheit voraus; im Apriori der archetypischen Struktur des Unbewussten ist die Individualität des Menschen bereits grundgelegt. So soll nun abschließend aus anthropologischer Perspektive die Frage aufgeworfen werden, ob die Selbstgegebenheit individueller Identität substanzontologisch oder relationsontologisch zu denken und zu verstehen ist. Ist die apriorische Struktur der Psyche wie ein Samenkorn, in dem die gesamte individuelle Identität des Menschen schon angelegt ist und sich im Laufe des Lebens nur noch auswirkt, oder vollzieht sich erst im konkreten Lebensverlauf die Individuation des Menschen? Die Lösung dieser Fragestellung liegt wohl in der Komplementarität, also sowohl in der Substanz, als auch im Vollzug. Das kollektive Unbewusste ist einerseits in seiner apriorischen und vererbten Struktur substantiell vorgegeben, eine unendliche Potentialität, 78 andererseits ist durch das korrelative Verhältnis des Unbewussten mit dem Bewusstsein ununterbrochen etwas im Vollzug, d. h., durch die Bewusstwerdung der unbewussten Inhalte kommt es ständig zur Bewusstseinserweiterung und Steigerung der Selbst-

Passend dazu formuliert Hesse diese innere Führung des Selbst wie folgt: »Es ist so gut, das zu wissen: daß in uns drinnen einer ist, der alles weiß, alles besser macht als wir selber.« (Hesse: Demian, S. 120). 78 Jung war von der heraklitischen Betonung der Grenzenlosigkeit der menschlichen Seele überzeugt. 77

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erkenntnis. Der Individuationsweg, der als ein Prozess von der Selbst-Gegebenheit zur Selbstwerdung beschrieben werden kann, kann also am besten mit einer begrifflichen Synthese als Substanz im Vollzug erfasst werden. Die verborgene und unbewusste Potentialität der Seele wird so zur bewussten und verwirklichten Aktualität für die je eigene Identität. Wie alles Seiende ist auch alles Seelische im permanenten Vollzug, d. h., es vollzieht sich eine unendliche Transformation der archetypischen Inhalte, die im Individuationsprozess als Mosaiksteine der je individuellen Identität erkannt, integriert und verwirklicht werden. Die Selbstwerdung zur ganzheitlichen Persönlichkeit vollzieht sich so immer wieder neu ein Leben lang. Vom Demian bis zu Narziß und Goldmund, also in der Zeitspanne von 1916 bis 1930, war die Selbstwerdung das alles bestimmende Thema in Hesses Prosa. Die Berührung Hesses mit der Jung’schen Psychoanalyse war wie ein Balsam für sein zerteiltes Seelenleben, denn hier fand er mit Jung einen neuen Einheitspunkt – das Selbst – und einen Ausweg, um hinter allen seelischen Gegensätzen eine Einheit zu ahnen. Ob Hesse wirklich wie die Helden in seinen Romanen zur Erfahrung des Jung’schen Selbst gelangt ist, kann nicht eindeutig festgestellt werden, aber im Akt des Schreibens, im Fertigen seiner Kunst, antizipiert er die Erfahrung der seelischen Einheit, die Anwesenheit des inneren Gottes und das Einswerden mit der Urmutter – eine mystische Transzendenzerfahrung. Hesse hat diesen religiösspirituellen Reichtum des Individuationsweges bei Jung erkannt und für sich und sein Werk fruchtbar gemacht. Die Rezeption des Geheimnisses der Selbstwerdung nach Jung bereitete Hesses Werk einen zeitlosen Charakter. Der Schatz des Jung’schen Individuationsweges wurde durch Hesses Literatur für Millionen von Lesern auf der ganzen Welt erschlossen. Das Motiv der Selbstsuche und Selbstfindung ist heute wie vor hundert Jahren aktuell und trifft immer noch den Kern dessen, was überhaupt menschliches Leben ausmacht. Die literarische Umsetzung des Mythos der Menschwerdung bescherte Hesse Weltruhm und seinen Romanen einen Aufstieg zur Weltliteratur. »Wer Bestimmung hat, hört die Stimme des Innern, er ist bestimmt. […] Insofern jedes Individuum sein ihm eingeborenes Lebensgesetz hat, hat jeder die theoretische Möglichkeit, diesem Gesetz vor allen zu folgen und damit zur Persönlichkeit zu werden, das heißt Ganzheit zu erlangen.« 79 79 C. G. Jung: Vom Werden der Persönlichkeit, Gesammelte Werke, Bd. 17, hrsg. v. Lilly Merker-Jung/Elisabeth Rüf, Olten 1972, S. 200 f.

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In diesem Sinne ist der Mensch nach Jung und Hesse ein Gerufener seiner eigenen inneren Stimme. Den Ruf aus den Tiefen der Seele zu hören und danach zu handeln, dies ist die entscheidende Maxime beider Autoren.

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Epilog

Sils Maria – Rettung aus Todesgefahr Markus Enders Sils Maria, des Oberen Engadins Perle, zwischen türkis leuchtenden Seen und majestätisch aufragenden Felswänden gelegen, wie bist Du mir fortan so teuer! Wurde das Leben mir doch und das meiner Freunde am höchsten Deiner heiligen Berge neu uns geschenkt! Denn nachdem ich mit meinen Freunden von der Fuorcla Surlej, dem Sattel vor der Bernina-Gruppe gewaltiger Landschaft aus Eis und Schnee, gemeinsam bestiegen den Piz Murtel, den Vorposten des Corvatsch, suchte ich, wenig unterhalb seines Gipfels, in Sichtweite von zweien der Freunde den Einstieg in den alpinen Pfad zur oberen Bergbahnstation. Aber ein Schritt auf den Gletscher war schon zu viel: Verzweifelt bohrten in das messerscharfe Eis sich meine Finger, um zu verhindern die Katastrophe, abzurutschen auf dem Hang des Gletschers nach unten, wo eine wellige Piste er wurde und hätte zerfetzt meinen Körper. Doch das Eis zerschnitt meine Finger, die vergeblich sich festkrallen wollten, und gab keinen Halt:

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Epilog

So sauste im Sturzflug zum Entsetzen der Freunde auf dem Rücken des Gletschers ich dem Abgrund des Todes entgegen; doch bevor er mich hätte verschluckt, hielt mich eine den Gletscher seitlich begrenzende Wand eines mächtigen Felsens, auf die ich prallte, zum Glück mit den Wanderschuhen zuerst, zurück vor dem Verderben. Mit stark blutenden, weil vom scharfkantigen, ewigen Eis tief eingeschnittenen und abgeriebenen Fingern zwar, aber mit – trotz des Aufpralls – unversehrten Füßen und Beinen nahm auf ich den Weg, den beschwerlichen und gefährlichen, auf einer Felsenkette zwischen Gletscherzungen zurück in das Leben; inständig bittend für meine Freunde, denen entrissen ich war wider Willen und die unter dem Gipfel im ewigen Schnee nach dem gangbaren Weg zur Bergstation suchten; ihn hatte gesehen ich noch im Sturzflug und rief ihnen zu: »Nach links müsst ihr gehen, dort ist der Weg!« Immer wieder stammelten meine Lippen: »Bitte rette sie!«, während die Füße im Labyrinth großer, rutschiger Felsen oft drohten zu straucheln, weil die vor Blut triefenden Hände Hilfe und Halt ihnen nicht mehr zu geben vermochten. Wenn meine Kräfte schwanden, musste ich legen mich vor einen Felsen, um aufzufangen mit meinem Mund die vom Gestein herabfließenden Tropfen des Gletscherwassers und neue Kraft für die nächsten Schritte zu schöpfen. Denn meinen Rucksack zu öffnen und die lebenspendende Wasserflasche hervorzuholen – das konnte wegen der Wunden an meinen Händen ich leider nicht mehr. Alleine war ich und musste selber schaffen den Rückweg – in ständiger Suche nach der am besten gangbaren Route durch das schier endlos sich ziehende Band mächtiger Felsen. Hier und jetzt konnte mir helfen kein anderer Mensch.

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Epilog

Lange stieg so ich bergab, mit bald vom Blut verkrusteten Händen und manchmal auch taumelnd, wenn die Beine den Dienst fast versagten. Zusehends verengten sich meine Gedanken auf den einen: »Weiter!« und den anderen, mit dem ich machte mir Mut: »Du schaffst es!« Schon hatte die Zone des Gletschers ich hinter mir als das Klingeln des Handys in meinem Rucksack ich hörte. Zwar konnte ich annehmen nicht diesen Ruf, doch mit zwei noch unverletzt gebliebenen Fingern schaffte ich letztlich es doch, den Reißverschluss der Seitentasche meines Rucksacks zu öffnen, das Handy irgendwie auf den Boden zu legen und zurückzurufen den Anrufer mit dem Druck eines Fingers. Einer meiner Freunde von unserer Gruppe war es; sie hatten unverletzt alle erreicht die obere Bergstation und warteten dort auf eine Bergbahn, die abholen sie würde. Ich bat ihn: »Nehmt mich mit bei der mittleren Bergbahnstation! Dorthin will ich es schaffen.« Was für ein unbeschreiblicher Jubel in meinem Herzen! »Du, Herr, hast meine Freunde gerettet. Nie genug kann dafür ich danken Dir. Bitte, rette auch mich!« Neue Kraft verlieh mir diese Freude, und meine Zuversicht wuchs, dass wir wieder vereint sein könnten am Ende des Tages. Günstiger war auch geworden das Wetter und beflügelte meine Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang. Aber es schwanden spürbar auch meine Kräfte und mit jedem Schritt schmerzte mich mehr die gereizte Sehne unterhalb meines rechten Knies, je tiefer hinab ich stieg und je näher ich kam der Fuorcla. Langsamer wurden deshalb die Schritte und ich suchte mit noch mehr Bedacht den leichtesten Weg durch die Felsen und den kürzesten auch zu meinem rettenden Ziel. Kurz vor der Fuorcla kam mir entgegen der Hund ihrer Wirtin und seine Herrin bald zwanzig Meter dahinter. Sie rief mir entgegen: »Was machen Sie jetzt noch hier, zu dieser späten Stunde? 223 https://doi.org/10.5771/9783495817513 .

Epilog

Und wohin wollen jetzt noch Sie gehen?« »Verunglückt bin ich auf dem Gletscher und deshalb mit Blut ganz beschmiert; und ich will noch kommen zur mittleren Bergbahnstation.« »Aber jetzt fährt schon längst keine Bahn mehr, der Betrieb für heute ist schon lange beendet.« »Ja, ich weiß, aber es kommt noch eine Extra-Bahn von der Bergstation oben, die meine Freunde mitnimmt, sie warten auf mich bei der mittleren Bergbahnstation.« »Dann gehen Sie schnell weiter in Richtung dorthin, ich werde jemanden rufen, der kommt Ihnen entgegen mit einem Jeep.« »Danke!«, rief ich freudig ihr zu, und in froher Erwartung dieser Verheißung beschleunigten sich meine Schritte, zumal meine Schuhe nun erstmals seit langem einen festen Weg wieder unter sich hatten. Mit froher Zuversicht, dass wirklich nun nahet die Rettung eilte ich ihr mit möglichst großen Schritten entgegen. So kam schnell ich voran und hatte geschafft schon zwei Drittel des Wanderweges zur mittleren Bergbahnstation als ein Jeep zu mir kam und mich aufnahm. In barschem Ton fuhr der Fahrer mich an, nachdem ich mein Geschick auf dem Gletscher ihm hatte berichtet: »Wie können Sie nur ohne Steigeisen und Führer auf einen Gletscher sich wagen!« »Ich weiß«, gab kleinlaut ich zu, »das werde ich tun nicht noch einmal. Großes Glück im Unglück habe ich heute gehabt.« Schon warteten meine Freunde auf mich bei der mittleren Bergbahnstation, sichtlich beeindruckt von dem Anblick meiner blutbefleckten Kleider und blutverklebten Hände. Und so nahm noch ein glückliches Ende, was eine Hybris war.

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Epilog

Denn selbst sich zu begeben in das ewige Eis majestätischer Berge ist für uns sterbliche Menschen wie ein Schritt in den Abgrund des Todes. Wer vordringt dorthin, muss deshalb wissen, dass er betritt einen Bereich höchster Gefahr für unser hiesiges Leben. Denn die schnee- und eisbedeckten Giganten der Berge sind wie irdische Wahrzeichen der für uns Menschen unnahbaren Größe und Schönheit des Schöpfers. Wie keiner, der Sein Angesicht unverhüllt zu sehen gewürdigt, bleiben kann in diesem Leben, sondern zuvor gestorben sein muss, weil seine irdische Kraft diesen Anblick nicht zu ertragen vermag, so ist das ewige Eis, der Schmuck hoher Berge im Hause der Schöpfung, ein Gleichnis Seiner reinen und erhabenen Hoheit und deshalb eine lebensgefährliche Zone für uns. Wer sich fast schutzlos ihr nähert wie wir, begibt sich in höchste Gefahr. Denn die schneeweiße Region der erhabenen Gipfel ist zum Staunen und zum Bewundern uns nur gegeben. Diese Lektion durfte und sollte ich nachhaltig lernen; deshalb wurde mit heftigen Schmerzen und bleibenden Narben sie mir erteilt. Unsere Rettung haben wir letztlich Einem nur zu verdanken: Dem Erbarmen des Höchsten. Ihm gebührt unser Dank und mein Dank besonders, für das neue, das zweite Leben, das Er mir und uns hat gegeben.

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Index

Personenindex Berkeley 39

Laotse 210 Leibniz 91, 101–103 Locke 39 Luhmann 11, 29, 112–133

Descartes 38, 43 Freud 138, 191, 202

Marion 21 f., 24, 26, 34, 42, 50, 53, 75 Meister Eckhart 10, 29, 49, 57, 59–90

Gāndhī 172–174 Hegel 42, 44, 63 Heidegger 22, 24, 35, 42, 45, 57, 148 Henry 19, 25, 34, 161 Hildebrand 107 f., 137 Hume 39, 43 Husserl 10, 33–57, 59–61, 66, 74, 114–117, 132, 137, 142, 149 Kant 35, 42 f., 45, 93 f., 97, 101–103, 110, 137, 143 Kierkegaard 19, 113 Konfuzius 210

Nietzsche 59, 148, 192, 205, 214 Otto 140, 155, 157, 197 Schleiermacher 137–140, 142 f., 149 Steinbock 34 f., 36, 45–58 Theresa von Avila 54, 57 Ṭilak 173 Troeltsch 142

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Index

Sachindex Gabe 10 f., 17–22, 24 f., 27–32, 59–63, 69–74, 79 f., 82 f., 86–90, 104–106, 113, 117, 130–132, 161, 180, 182, 196, 200, 218 Gebung / Donation 18–22, 132

94, 104–108, 110, 121 f., 124, 128, 131 f., 142, 145, 147–151, 155–157, 160, 163, 165 f., 168, 174, 179–182, 185 f., 192–200, 205 f., 208 f., 124– 217, 219

Phänomen / Phänomenalität 10 f., 17, 21–26, 29, 34–36, 39, 42, 45–56, 60 f., 74, 108, 112–114, 142, 149, 154, 156 f., 161, 175, 178, 182, 196 Person / Personalität 10 f., 17, 20–29, 31 f., 34, 52 f., 55–57, 74, 81 f., 87,

Selbstgebung / Selbstgegebenheit 10 f., 13, 17–32, 37, 39–42, 59, 61– 64, 67, 71, 73, 77 f., 95, 104, 106 f., 110–114, 117, 129, 131–133, 138, 149, 160, 174 f., 178–184, 186

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Eichner, Sarah Zasiusstr. 48 79102 Freiburg

[email protected]

Enders, Markus Prof. Dr. Dr. Universität Freiburg AB Christliche Religionsphilosophie Platz der Universität 3 79098 Freiburg Glatthaar, Ullrich Richard-Wagner-Str. 46 72581 Dettingen / Erms Hennigfeld, Iris Unterwerkstr. 6 79115 Freiburg

Markus.Enders @theol.uni-freiburg.de

ullrich.glatthaar @bildungszentrum-pforzheim.de

[email protected]

Koreck, Karsten Robert-Koch-Straße 14 79106 Freiburg

Karsten.Koreck @theol.uni-freiburg.de

Navigante, Adrián Dr. [email protected] FIND (Fondazione India Europa di Nuovi Dialoghi) Colle Labirinto 24 I – 00039 Zagarolo (Roma) Italia

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Reitzig, Thomas E. A. Weissensteinweg 7 79837 St. Blasien Rombach, Siegfried Alte Zehntscheune Talvogtei 7 79199 Kirchzarten

[email protected]

[email protected]

Schlesinger, Frank Mühlenstr. 101 76275 Ettlingen

[email protected]

de Sousa, Amanda Viana Colombistr. 21-23 79098 Freiburg

[email protected]

Yokoyama, Riku 1-11-14-302 Motomachi Kiyose Tokyo 204-0021 Japan

[email protected]

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